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German Pages 358 [356] Year 2022
STUDIEN ÜBER DIE DEUTSCHE GESCHICHTSWISSENSCHAFT BAND I
DEUTSCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU B E R L I N SCHRIFTEN DES INSTITUTS FÜR GESCHICHTE R E I H E I: A L L G E M E I N E UND D E U T S C H E G E S C H I C H T E BAND 20
STUDIEN ÜBER DIE DEUTSCHE GESCHICHTSWISSENSCHAFT BAND I Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben
A K A D E M I E - V E R L A G • B E R L I N • 1969
Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben Herausgegeben von
JOACHIM STREISAND
Zweite, durchgesehene Auflage
AKADEMIE-VERLAG
BERLIN
1969
Die Redaktion des Bandes lag in den Händen von Hans Schleier
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3 — 4 Copyright 1969 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznuminrr: 202 • 100/235/69 Satz: VEB Werkdruck, 445 Gräfenhainichen Offsetdruck: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza Bestellnummer: 2083/1/20 • ES 14 A • 3 B 2
INHALT
Vorwort
7
Die klassische deutsche Philosophie und Dichtung und die Geschichtsschreibung Ernst Engelberg: Friedrich Schiller als Historiker
11
Joachim Streisand: Johann Gottlieb Fichte und die deutsche Geschichte
32
Joachim Streisand: Georg Wilhelm Friedrich Hegel und das Problem des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Deutschland
56
Die deutsche Geschichtsschreibung von der Spätaufklärung bis zum Vorabend der Revolution 184814g Gerhard Schilfert: August Ludwig von Schlözer
81
Karl Obermann: Heinrich Luden
93
Rigobert Günther: Barthold Georg Niebuhr
105
Karl Obermann: Die Begründung der Monumenta Germaniae Histórica und ihre Bedeutung
113
Uwe-Jens Heuer: Karl Friedrich Eichhorn und die historische Rechtsschule
121
Gerhard Schilfert: Friedrich Christoph Schlosser
136
Gerhard Schilfert/Hans Schleier: Georg Gottfried Gervinus als Historiker
148
Gerhard Schilfert: Wilhelm Zimmermann
170
Karl Obermann: Die deutschen Geschiehtsvereine des Vormärz . .
185
Die Begründung des historischen Materialismus Rugard-Otto Gropp: Die Begründung des historischen Materialismus — eine Revolution in der Geschichtswissenschaft
203
Die Revolution von 1848, 49 Karl Obermann: Die deutschen Historiker in der Revolution von 1848/49
219
6
Inhalt
Von der Niederlage der Revolution 184814g bis zur Reichseinigung von oben Gerhard Schilfert : Leopold von Ranke Hans Schleier: Die kleindeutsche Schule (Droysen, Sybel, Treitschke) Gottfried Koch: Der Streit zwischen Sybel und Ficker und die Einschätzung der mittelalterlichen Kaiserpolitik in der modernen Historiographie
241 271
311
Über das Geschichtsbild von Karl Marx und Friedrich Engels Heinz Heitzer : Über das Geschichtsbild von Karl Marx und Friedrich Engels
339
Autorenverzeichnis
355
Vorwort Die hier vorgelegten Studien sind aus verschiedenartigen Anlässen entstanden und daher nach Umfang und Themenstellung nicht gleichartig. Zusammengefaßt bilden sie aber doch den ersten Versuch, die Geschichte der neueren deutschen Geschichtsschreibung auf der Grundlage des historischen Materialismus darzustellen. Methodologisches Prinzip und gesellschaftliche Zielstellung dieses Versuches stimmen mit dem Prinzip und der Zielstellung überein, die uns bei der Erforschung der deutschen Geschichte überhaupt leiten: Ebenso wie wir bei der Beschäftigung mit der deutschen Geschichte davon ausgehen, daß die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung und des Klassenkampfes auch für die Geschichte unserer Nation gelten, gehen wir bei der Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft davon aus, daß es keinen „besonderen" Weg der geistigen Entwicklung Deutschlands gibt. Mit dieser Auffassung befinden wir uns in grundsätzlichem Gegensatz zu den einflußreichsten Historikern der Historiographie im imperialistischen Deutschland. So verschieden auch Dilthey, Meinecke und Srbik an Temperament, an individuellen Interessen und an persönlichem Stil gewesen sein mögen — gemeinsam ist ihren Darstellungen eben die Verabsolutierung gewisser Besonderheiten der deutschen Geistesgeschichte. In Wirklichkeit ist auch die Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft eine Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts, wobei dieser wissenschaftliche Fortschritt stets in engem Zusammenhang mit dem Kampf der Volksmassen um die Ablösung einer veralteten durch eine neue, höhere Gesellschaftsordnung stand. Ebenso wie die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft die Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung untersucht, um aus fundierter Einsicht richtig, das heißt heute: in Ubereinstimmung mit der sozialistischen Perspektive der ganzen deutschen Nation, handeln zu lehren, dient auch die Geschichte der Geschichtswissenschaft gesellschaftlichen Zielen. Die Pflege progressiver und nationaler wissenschaftlicher Traditionen ist keine Sache gemütvoller Andacht, sondern sie ist ein Teil des Kampfes für die Festigung unseres sozialistischen Staatswesens und für den Fortschritt in ganz Deutschland. Die wissenschaftliche Kritik reaktionärer Strömungen in der deutschen Geschichtsschreibung der Vergangenheit umgekehrt soll zum Kampf gegen die gegenwärtig in Westdeutschland herrschenden imperialistischen und militaristischen Ideologen beitragen.
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Vorwort
Diesem ersten Band, der die Entwicklung vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben behandelt, ist 1965 ein zweiter gefolgt, der die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung von der Reichseinigung von oben bis zur Befreiung Deutschlands vom Faschismus zum Inhalt hat. Eine Darstellung des Herausgebers über das Geschichtsdenken der Aufklärung reicht bis an die Schwelle der im ersten Band der Studien behandelten Periode. Januar 1967
J . Streisand
Die klassische deutsche Philosophie und Dichtung und die Geschichtsschreibung
Friedrich Schiller als Historiker Ernst Engelberg
Wer sich an Zeitgenossen oder Nachfahren Friedrich Schillers, die sich über dessen historische Schriften geäußert haben, in der Hoffnung wendet, in ihnen erste Wegweiser zu finden, der gerät unversehens in einen Irrgarten gegenteiliger Meinungen. Nach einer falschen Nachricht über Schillers Tod schrieb 1791 Jens Baggesen an Reinhold: „Daß der Schauspieldichter in ihm gestorben ist, kann ich vielleicht vergessen lernen, aber daß Deutschlands erster und vielleicht aller künftigen erster Geschichtsschreiber nicht mehr ist, das werde ich nie, nie verbluten." 1 Dagegen meinte Niebuhr, einer der frühen Meister der historischen Quellenkritik, daß die historischen Arbeiten Schillers „unbedingt nichtig" seien. Aber auch was den bewertenden Vergleich der historischen Schriften Schillers betrifft, so gehen die Urteile recht weit auseinander. Hermann Hettner betrachtet Schillers „Dreißigjährigen Krieg" als einen offenkundigen Abstieg gegenüber seiner „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung", während Eduard Fueter in seiner „Geschichte der neueren Historiographie" (1911) Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Krieges „sein historisches Meisterwerk" nennt. Die Liste der oft recht krausen und sich wunderlich widersprechenden Urteile könnten wir reichlich verlängern. Sie zwingen uns auf jeden Fall dazu, Schillers Werke selbst zu lesen und uns eine eigene Meinung über seine historiographische Leistung zu erarbeiten. Was fürs erste festgehalten werden muß, ist dieses: Schillers historiographisches Werk ist fragmentarisch geblieben. So hat Schiller seine Darstellung über den Abfall der Vereinigten Niederlande nur bis 1567 geführt, bis zu dem Jahr, da Alba seine Schreckensherrschaft in den Niederlanden auszuüben begann. Die große Zeit des niederländischen Freiheitskampfes finden wir in dem Werk, das 1788 erschien, überhaupt nicht gestaltet. Auch die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges ist derart proportioniert, daß die letzten dreizehn Jahre jenes für Deutschland so unglücklichen Geschehens derart abrißartig behandelt sind, daß auch hier von einem geschlossenen Werk füglich nicht gesprochen werden 1
Hettner, Hermann, Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert, hg. v. Ewald A. Boucke, 3. Buch, 2. Abschnitt, 7. Auflage, Braunschweig 1926. S. 116.
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Ernst Engelberg
kann. Wir empfinden es besonders schmerzlich, daß Schiller uns über den Westfälischen Frieden nichts sagt, außer einer recht rätselvollen, allzu diplomatischen Schlußbemerkung, mit der er vom Leser entschuldigend Abschied nimmt: Ein Abriß der Geschichte des Westfälischen Friedens, so schreibt er, könne mit der nötigen Kürze nicht gegeben werden, ohne „das interessanteste und charaktervolleste Werk der menschlichen Weisheit und Leidenschaft zum Skelett [zu] entstellen".2 Nähern wir uns weiter dem historiographischen Werk Schillers, dann müssen wir, um zu einem gerechten Urteil zu kommen, nicht allein und nicht einmal in erster Linie danach fragen, was es für seine Zeitgenossen bedeutete. Mit anderen Worten: Weis hat denn der werdende und schließlich in Jena zünftig installierte Professor der Geschichte Friedrich Schiller im Kreise jener Zeitgenossen, die seine Kollegen wurden, dargestellt? Hat er um seiner nackten Existenz willen einfach das ihm abverlangte Pflichtpensum des damals üblichen akademischen Gelehrtendaseins absolviert? Wir denken, daß uns allein schon die berühmt gewordene Philippika gegen den Brotgelehrten in seiner Jenenser Antrittsvorlesung aufmerken lassen sollte. Wir sprechen nicht von den damals sehr bekannten Historikern wie Schlözer und Spittler, die Schiller in seiner Vorrede zu seiner „Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande" ausdrücklich erwähnt; wir möchten nur auf jenen ebenso emsigen wie eitlen Handwerkler aufmerksam machen, den der Göttinger Geschichtsprofessor Pütter darstellte. Er war der Prototyp jenes Historikers, der in Deutschland damals vorherrschte - der Mann, der sich auf der Oberfläche der rein diplomatischen und juristischen Geschichte bewegte. Der große Aufklärer unter den deutschen Historikern, der sich bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gleichsam hinüberrettete, F. C. Schlosser, hat in seiner „Geschichte des 18. Jahrhunderts. . . " von diesem Pütter ein sehr amüsantes Konterfei überliefert. Pütter, so schrieb Schlosser, „wußte jede noch so kleine Tatsache der sogenannten Reichsgeschichte und kannte alle ihre Quellen, vom dicksten Folianten bis zu der für irgend einen Reichsritter auf einem Reichsdorfe über einen Punkt der Gerichtsbarkeit oder über Benutzung eines Waldes oder einer Weide geschriebenen Deduktion".3 Ein solcher Mann wie Pütter war von allen deutschen Fürsten, Reichsgrafen und Baronen, von großen und kleinen deutschen Staaten, von großen und kleinen deutschen Städten ebenso gesucht, wie von der aristokratischen Jugend in den Hörsälen. Schlosser fügte dieser Feststellung malitiös hinzu, daß die beiden nicht ganz dünnen Bände von Pütters Autobiographie besonders dazu bestimmt seien, dies alles dokumentarisch nachzuweisen. 2
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Schiller, Friedrich, Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, in: Friedrich Schiller, Ges. Werke in 8 Bdn., hg. u. eingel. v. Alexander Abusch, 2. Aufl., Berlin 1959, Bd. 7, S. 385. Schlosser, Friedrich Christoph, Geschichte des 18. Jahrhunderts und des 19. bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs. Mit besonderer Rücksicht auf geistige Bildung, Bd. 4, Heidelberg 1853, S. 222.
Friedrich Schiller als Historiker
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In Pütters Werken fehlte sozusagen nichts - außer was für eine lebendige Auffassung des Lebens und der Menschen notwendig ist.4 Dieses einzige war aber das Wesentliche bei der Darlegung der Geschichte. Und in hohem Maße besaß es ein anderer: Friedrich Schiller. Bei ihm weht uns von der ersten bis zur letzten Zeile seiner Darstellungen der lebendige Odem des geschichtlichen Geschehens entgegen; der denkende und handelnde Mensch steht in meisterhafter und plastischer Gestaltung vor uns. Keine der hier agierenden Personen bleibt uns gleichgültig. Wenn von der Geschichtsschreibung Schillers nur das allein festgestellt werden könnte, dann müßte sie in die Reihe der großen Meisterleistungen eingereiht werden. Doch müssen wir noch die Frage aufwerfen und beantworten: Welches war die Grundposition, von der aus Friedrich Schiller das geschichtliche Geschehen betrachtete? Welches waren die Grundwerte, mit denen er Personen und Ereignisse beurteilte? Wir wollen von dem Schiller, wie wir ihn als Dichter der „Räuber", des „Fiesco", des „Don Carlos", der „Kabale und Liebe" kennen, einmal absehen, vielmehr die sozialen und politischen Grundpositionen aus Schillers erstem und großem historiographischen Werk, der „Geschichte des Abfalls der Niederlande", selbst herauszuarbeiten versuchen. In diesem Bemühen macht uns allerdings die Tatsache einige Schwierigkeiten, daß dieses Werk Fragment geblieben ist, also jene Periode, in der das holländische Bürgertum zur wirklich führenden Kraft heranwächst, nicht behandelt ist. Aber es kann kein Zweifel bestehen, die Sympathien Schillers sind weder beim Absolutismus noch voll und ganz bei dem ständischen Adel, der sich im Geusenbund gegen die spanische Monarchie verbündet hat; sie sind nicht bei den Hochadligen wie Wilhelm von Oranien, am allerwenigsten bei Egmont; gegenüber den plebejischen Bilderstürmern hatte er ehrlichen Abscheu. Der habsburgische Absolutismus und der fast zu dessen Staatsreligion gewordene Katholizismus waren Schiller von ganzem Herzen zuwider. Volle Zuneigung und Achtung hatte Schiller nur für das reiche und kulturgesättigte Bürgertum. Mit warmen Interesse und in vollen Farben schildert Schiller die Industrie der holländischen Nation im Anfang des 16. Jahrhunderts, die damals zu ihrer höchsten Blüte reifte. „Der Acker- und Linnenbau", so führt er aus, „die Viehzucht, die Jagd und die Fischerei bereicherten den Landmann; Künste, Manufakturen und Handlung den Städter. Nicht lange, so sah man Produkte des flandrischen und brabantischen Fleißes in Arabien, Persien und Indien. Ihre Schiffe bedeckten den Ozean, und wir sehen sie im Schwarzen Meer mit den Genuesern um die Schutzherrlichkeit streiten."r> An anderer Stelle spricht Schiller davon, daß das Murren der Niederlande „die stolze und kräftige Stimme des Reichtums" gewesen sei.0 Und wenn er die Entstehung des Bundes des verarmten Adels Ebenda. 5
Schiller, Friedrich,
Geschichte des Abialls der Vereinigten Niederlande von der
Spanischen Regierung, in: Friedrich Schiller, Ges. Werke in 8 Bdn., a. a. O., Bd. 6, S. 222 (im folgenden zit.: Abfall der Niederlande). 6
Ebenda, S. 295.
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Ernst Engelberg
schildert, hebt er hervor, daß die protestantischen Kaufleute ihn finanzierten. Diese Adligen, auf welche die Kaufleute, wie Schiller wörtlich schreibt, „zu jeder andern Zeit vielleicht mit dem Stolze des Reichtums würden herabgeblickt haben, konnten ihnen nunmehr durch ihre Anzahl, ihre Herzhaftigkeit, ihren Kredit bei der Menge, durch ihren Groll gegen die Regierung, ja durch ihren Bettelstolz selbst und ihre Verzweifelung sehr gute Dienste leisten. Aus diesem Grunde ließen sie sich's auf das eifrigste angelegen sein, sich genau an sie anzuschließen, die Gesinnungen des Aufruhrs sorgfältig bei ihnen zu nähren, diese hohe Meinungen von ihrem Selbst in ihnen rege zu erhalten und, was das wichtigste war, durch eine wohl angebrachte Geldhilfe und schimmernde Versprechungen ihre Armut zu dingen." 7 So wird uns verständlich, daß Schiller mit seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande", wie er schon in den ersten Zeilen seiner Einleitung schrieb, ein schönes „Denkmal bürgerlicher Stärke" vor der Welt aufstellen wollte. In seiner Jenaer Antrittsrede spricht er davon, daß „in dem wohlthätigen Mittelstande, dem Schöpfer unsrer ganzen Kultur ein dauerhaftes Glück für die Menschheit heranreifen sollte." 8 Im übrigen beweisen Schillers Briefe jener Jahre, daß sich gerade durch seine Berührung mit dem Hofleben in Weimar sein bürgerliches Selbstbewußtsein sehr wohl gefestigt hat - so wenn er im März 1788 an Lotte von Lengenfeld, an seine spätere Frau, schrieb: „Ich habe nie glauben können, daß Sie, in der Hof--= und — = L u f t sich gefallen; . . . so eigenliebig bin ich, daß ich Personen, die mir teuer sind, gerne meine eigene Denkungsart unterschiebe." 9 Schiller hat in seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande" auch aufleuchten lassen, warum das Bürgertum gegenüber dem habsburgischen Absolutismus seine Forderungen nach rechtlicher Sicherheit und staatsbürgerlicher Freiheit unbeirrt aufrechterhielt. So sagte er: „Diesen blühenden Wohlstand hatten die Niederlande ebensosehr ihrer Freiheit als der natürlichen Lage ihres Landes zu danken. Schwankende Gesetze und die despotische Willkür eines räuberischen Fürsten würden alle Vorteile zernichtet haben, die eine günstige Natur in so reichlicher Fülle über sie ausgegossen hatte. Nur die unverletzbare Heiligkeit der Gesetze kann dem Bürger die Früchte seines Fleißes versichern und ihm jene glückliche Zuversicht einflößen, welche die Seele jeder Tätigkeit ist." 10 In geradezu hymnischen Sätzen läßt Schiller vor unseren Augen erstehen, wie „im Schöße des Überflusses und der Freiheit" alle edleren Künste in den Niederlanden reiften. Aber wenn wir auch den Zusammenhang zwischen bürgerlichen Interessen und bürgerlichen Freiheitsforderungen durch Schiller verstehen lernen, hat er auch 7 8
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Ebenda, S. 328 f. Derselbe, Was heißt -nd zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, in: Friedrich Schiller, ues. Werke in 8 Bdn., a. a. O., Bd. 6, S. 523. Schiller und Lotte. Ein Briefwechsel, hg. v. Alexander v. Gleichem-Rußwurm, Bd. i, Jena 1908, S. 3. Schiller an Lotte v. Lengenfeld am 15/21. 3. 1788. Schiller, Friedrich, Abfall der Niederlande, a. a. O., S. 224.
Friedrich Schiller als Historiker
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den Zusammenhang zwischen dem aufstrebenden Bürgertum und dem Protestantismus gesehen und dargestellt? Tatsächlich vermittelt er uns erstaunliche Einsichten. Wie selbstverständlich schreibt er: „Nichts ist natürlicher als der Ubergang bürgerlicher Freiheit in Gewissensfreiheit. Der Mensch oder das Volk, die durch eine glückliche Staatsverfassung mit Menschenwert einmal bekannt geworden, die das Gesetz, das über sie sprechen soll, einzusehen gewöhnt worden sind oder es auch selber erschaffen haben, deren Geist durch Tätigkeit aufgehellt, deren Gefühle durch Lebensgenuß aufgeschlossen, deren natürlicher Mut durch innere Sicherheit und Wohlstand erhoben worden, ein solches Volk und ein solcher Mensch werden sich schwerer als andre in die blinde Herrschaft eines dumpfen despotischen Glaubens ergeben und sich früher als andre wieder davon emporrichten."11 Partei ergreifend für das besitzende und gebildete Bürgertum, dessen religiöse Ideologie in der Form des Protestantismus er lebhaft bejahte, ohne sich für die lutherische oder kalvinistische Richtung im einzelnen zu erklären, war Schillers erklärter Feind der Absolutismus mit seinen Institutionen und ideologischen Verbrämungen, in Form der katholischen Kirche. Von dieser Sicht aus urteilt Schiller: „Die Geistlichkeit war von jeher eine Stütze der königlichen Macht und mußte es sein. Ihre goldne Zeit fiel immer in die Gefangenschaft des menschlichen Geistes, und wie jene sehen wir sie vom Blödsinn und von der Sinnlichkeit ernten."12 Schiller machte sich viel Mühe, in das absolutistische Staatsgetriebe, in die Gedankengänge und Seelenvorgänge seiner exponiertesten Repräsentanten und Verfechter hineinzuleuchten. Wir spüren, wie er von intellektueller Neugierde getrieben ist, sich und uns allen klarzumachen, wie die Feinde der bürgerlichen und damit, seiner Ansicht nach, auch der menschlichen Freiheit fühlten, dachten und insgeheim wie öffentlich handelten. Wir werden nicht mit soziologischen Schemen bekanntgemacht, sondern mit Unmenschen von Fleisch und Blut. Wir begreifen jetzt erst, warum es den antifeudalen und antiabsolutistischen Kämpfern für politischen und menschlichen Fortschritt so schwer fiel, zu siegen. Eine der Kanaillen großen Stils war der Kardinal Granvella. Mit all seinen Schlichen, all seinen Verbindungen, mit all seinem unmenschlichen Denken, seinem verwegenen Trotz gegenüber der Feindschaft, die ihn umgab, mit seiner teuflischen Intelligenz und seiner inneren Disziplin für eine verruchte Sache mit all dem werden wir durch Schiller bis ins einzelne vertraut gemacht. Erst dadurch wird uns die ganze Größe der Nation klar, die gegen diesen von Philipp II. eingesetzten Despoten unerbittlich und ohne Unterlaß kämpft. Erst dadurch wird uns das Triumphgefühl zuteil, mit dem die Niederlande die Nach11
12
Ebenda, S. 228. — Die Sympathie Schillers für das niederländische Bürgertum arbeitet auch heraus Sproemberg, Heinrich, Schiller und der Aufstand der Niederlande, in: Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte, Berlin 1959 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, hg. v. H. Sproemberg, H. Kretzschmar, E. Werner, Bd. 3). Schiller. Friedrich, Abfall der Niederlande, a. a. O., S. 239.
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Ernst Engelberg
rieht aufnahmen, daß Philipp II. seinen verhaßten Minister gehen ließ. So schrieb Schiller: „Granvella war gefallen, wie kein Günstling fällt — nicht, weil sein ephemerisches Glück verblüht war, nicht durch den dünnen Atem einer Laune er fiel durch der Eintracht wundervolle Kraft - durch die zürnende Stimme einer ganzen Nation."13 Schiller macht uns nahezu mit allen Methoden des Absolutismus vertraut, mit den lächerlichen wie mit den schrecklichen, beispielsweise der Inquisition, aber auch mit dem gefährlichen Scharfsinn in der Argumentation der feudalen Herrscher, mit der Virtuosität in der Behandlung der Menschen, so mit der verstellten Freundlichkeit, wie auch mit der scharfen, kalten, zupackenden und zuschlagenden Art, wenn für die Reaktionäre der Moment zum Handeln reif geworden war. Da fehlen dann auch bei Schiller keineswegs zynische Töne; man muß es lesen, wie Schiller die methodisch vorgehende Rache eines reaktionären Hauptmanns schildert: „Dem gemeinen Volk unter der Mannschaft wurde durch den Grafen von Aremberg sogleich das Urteil gesprochen; die dabei befindlichen Edelleute schickte er der Regentin zu, welche sieben von ihnen enthaupten ließ. Sieben andre von dem edelsten Geblüt, unter denen die Gebrüder Battenburg und einige Friesen sich befanden, alle noch in der Blüte der Jugend, wurden dem Herzog von Alba aufgespart, um den Antritt seiner Verwaltung sogleich durch eine Tat verherrlichen zu können, die seiner würdig wäre." 14 Schillers Haß und Abscheu gegenüber dem Absolutismus, insbesondere gegenüber den Habsburgem, kann nicht in den mindesten Zweifel gezogen werden. Aber wie sollte er bekämpft werden? Es muß uns schon aufhorchen lassen, wenn es bereits in dem historischen Rückblick unter anderem folgendermaßen heißt: „Die Reformation hatte den römischen Bischof zu der fehlenden Menschheit herabgezogen - eine rasende Bande, vom Hunger begeistert, will allen Unterschied der Stände vernichtet wissen."15 Wenn Schiller dann im vierten Buch die Bilderstürmerei in den Niederlanden behandelt, dann macht er aus seinem Abscheu gegenüber allem Plebejischen kein Hehl, er spricht vom „rasenden Gesindel"18, vom „schlammigten Schoß einer verworfenen Pöbelseele".17 Aber trotz aller antiplebejischer Haßausbrüche gibt uns Schiller einen tiefen Einblick in den Entstehungsprozeß und die asoziale Verwurzelung der bilderstürmerischen Exzesse. „Eine rohe zahlreiche Menge," so schildert Schiller, „zusammengeflossen aus dem untersten Pöbel, viehisch durch viehische Behandlung, von Mordbefehlen, die in jeder Stadt auf sie lauern, von Grenze zu Grenze herumgescheucht und bis zur Verzweiflung gehetzt, genötigt, ihre Andacht zu stehlen, ein allgemein geheiligtes Menschenrecht gleich einem Werke der 13
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Schillers Sämtliche Werke, Horenausgabe, hg. v. Conrad Höfer, Bd. 5, München und Leipzig o. J., S. 160. (Von Schiller in die Fassung von 1801 nicht wieder aufgenommen.) Schiller, Friedrich, Abfall der Niederlande, a. a. O., S. 431. Ebenda, S. 231. Ebenda, S. 375. Ebenda, S. 371 f.
Friedrich Schiller als Historiker
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Finsternis zu verheimlichen - vor ihren Augen vielleicht die stolz aufsteigenden Gotteshäuser der triumphierenden Kirche, wo ihre übermütigen Brüder in bequemer und üppiger Andacht sich pflegen; sie selbst herausgedrängt aus den Mauern, vielleicht durch die schwächere Anzahl herausgedrängt, hier im wilden Wald, unter brennender Mittagshitze, in schimpflicher Heimlichkeit, dem nämlichen Gott zu dienen - hinausgestoßen aus der bürgerlichen Gesellschaft in den Stand der Natur, und in einem schrecklichen Augenblick an die Rechte dieses Standes erinnert! Je überlegener ihre Zahl, desto unnatürlicher ist dieses Schicksal; mit Verwunderung nehmen sie es wahr. Freier Himmel, bereitliegende Waffen, Wahnsinn im Gehirne und im Herzen Erbitterung kommen dem Wink eines fanatischen Redners zu Hilfe; die Gelegenheit ruft, keine Verabredung ist nötig, wo alle Augen dasselbe sagen; der Entschluß ist geboren, noch ehe das Wort ausgesprochen wird; zu einer Untat bereit — keiner weiß es noch deutlich, zu welcher rennt dieser wütende Trupp auseinander. Der lachende Wohlstand der feindlichen Religion kränkt ihre Armut, die Pracht jener Tempel spricht ihrem landflüchtigen Glauben Hohn; jedes aufgestellte Kpeuz an den Landstraßen, jedes Heiligenbild, worauf sie stoßen, ist ein Siegesmal, das über sie errichtet ist, und jedes muß von ihren rächerischen Händen fallen. Fanatismus gibt dem Greuel seine Entstehung, aber niedrige Leidenschaften, denen sich hier reine reiche Befriedigung auftut, bringen ihn zur Vollendung."18 Bei allem großartigen Einfühlen in historisch bedeutsame Episoden, bei allem Herausarbeiten des sozialpsychologischen Kernproblems — der antiplebejische Haß Schillers ist nicht zu verkennen und nicht wegzudeuten. Aber war Schiller deshalb gegen jegliche revolutionäre Befreiungstat? Vertraute er ausschließlich auf das, was wir heute Revolution von oben nennen? Lehnte er die Revolution von unten stets und für immer ab? Allein schon jene berühmten und immer wieder zitierten Worte aus der Einleitung zur „Geschichte des Abfalls der Niederlande" sollten uns davor bewahren, Schiller als Gegner jeglicher revolutionärer Volksbewegung abzutun. Wir erinnern daran, daß Schiller die Begebenheit in den Niederlanden als ein Beispiel aufgefaßt wissen wollte, „wo die bedrängte Menschheit um ihre edelsten Rechte ringt, wo mit der guten Sache ungewöhnliche Kräfte sich paaren und die Hilfsmittel entschlossener Verzweifelung über die furchtbaren Künste der Tyrannei in ungleichem Wettkampf siegen".19 Für Schiller war groß und beruhigend der Gedanke, „daß ein herzhafter Widerstand auch den gestreckten Arm eines Despoten beugen, heldenmütige Beharrung seine schrecklichen Hilfsquellen endlich erschöpfen kann".20 Schließlich setzte er sich zum Ziel, in der Brust seines Lesers „ein fröhliches Gefühl seiner selbst zu erwecken und ein neues unverwerfliches Beispiel zu geben, was Menschen wagen dürfen für die gute Sache und ausrichten mögen durch Vereinigung" 21 Es mag sehr spitzfindig 18 Ebenda, S. 372. »» Ebenda, S. 197. 20
Ebenda.
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Ebenda.
2 Geschichtswissenschaft, Bd. I
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Ernst Engelberg
erscheinen, wenn wir aus einem Briefe Schillers an Crusius vom 25. Dezember 1800 hervorheben, daß Schiller für den bevorstehenden Neudruck seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande" über den Kolumnen zur Unken Hand des Lesers nicht etwa aus dem schon längst festgelegten und eingebürgerten Titel eine entsprechende Abkürzung wünschte, sondern die zwei Worte: „Niederländische Revolution". Aber hat am Ende der Schweizer Historiker Fueter doch recht, wenn er schreibt, daß Schillers berühmte Einleitung „ein schlimmes Stück phrasenhafter Revolutionsrhetorik" sei? 22 Ein Mann wie Fueter, der so formuliert, muß eigentlich unrecht haben, auch dann, wenn er im einzelnen dann und wann recht haben sollte. Wenn auch Schiller durchaus von dem Wunsch geleitet war, es mögen den Völkern aufgeklärte Monarchen vorstehen, und wenn er für die vereinigten Niederlande ausdrücklich hervorhob, daß kein Volk auf Erden leichter beherrscht werden könne durch einen verständigen Fürsten als das niederländische und keines schwerer durch einen Gaukler oder Tyrannen, so war er politisch nicht so naiv zu glauben, daß Reformen von oben ohne irgendeinen Druck von unten zu erreichen wären. Den Schlüssel zum Verständnis von'Schillers Haltung finden wir in jenen Abschnitten seines Buches, wo er sein zusammenfassendes Urteil über den „lobenswürdigen Bund" des vereinigten und, wie wir gesehen haben, von den reichen Kaufleuten finanzierten Adels gibt. „Einigkeit war seine Stärke; Mißtrauen und innere Zwietracht sein Untergang." 23 Dieses Motiv der Einigkeit unter den verschworenen Patrioten kehrt immer wieder. Darum sollten die berühmten Worte Attinghausens in „Wilhelm Teil", die ja leicht zur pseudopatriotischen Floskel herabsinken, ein stärkeres Gewicht und eine strengere demokratische Note erhalten. Aber trotz allem war der Vorwurf der Uneinigkeit, den er dem Geusenbund machte, nicht der entscheidende. Schiller fährt in seinen zusammenfassenden Bemerkungen über diesen Bund folgendermaßen fort: „Viele seltne und schöne Tugenden hat er ans Licht gebracht und entwickelt; aber ihm mangelten die zwo unentbehrlichsten von etilen, Mäßigung und Klugheit, ohne welche alle Unternehmungen umschlagen, alle Früchte des mühsamsten Fleißes verderben." 24 Schiller klagt darüber sehr lebhaft, „daß der verbundene Adel an dem Unsinn der Bilderstürmer einen nähern Anteil hatte oder nahm, als sich mit der Würde und Unschuld seines Zwecks vertrug, und viele unter ihm haben augenscheinlich ihre eigene gute Sache mit dem rasenden Beginnen dieser nichtswürdigen Rotte verwechselt." 25 Es zeichnet sich die Schiller eigene Vorstellung von einer antiabsolutistischen bürgerlichen Revolution ab. Er wünscht ein Bündnis zwischen besitzendem 22
Fueter, Eduard, Geschichte der Neueren Historiographie, München und Berlin 1911, S. 401. (Handbuch d. mittelalterl. u. neueren Gesch., hg. v. G. v. Below u. F. Meinecke, Abt. 1.) 23 Schiller, Friedrich, Abfall der Niederlande, a. a. O., S. 432. 24 Ebenda. 25 Ebenda.
Friedrich Schiller als Historiker
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Bürgertum und dem überkommenen Adel, wobei die Führung bei dem ersteren sein sollte. Adel und Bürgertum sollten die Führung in der patriotischen und freiheitlichen Volksbewegung behalten. Das können sie nur, wenn sie die Tugenden der Mäßigung und Klugheit üben. Nichts war Schiller wohl verhaßter, als wenn sich die zur Führung bestimmten bürgerlichen und adligen Kräfte in das Schlepptau spontaner Volksaufläufe und Volksaufstände begeben. Es war ihm zwar bewußt, daß Erscheinungen der Spontaneität in jeder Revolution unvermeidlich sind, aber er möchte sie doch möglichst zurückgedrängt wissen, gerade das Spontane, das Nichtbeherrschbare, läßt bei Schiller immer wieder die geheime Furcht, das Grauen vor der Revolution aufkommen. Er hob deshalb nicht allein das Rohe und Abstoßende in der Bilderstürmerei hervor, sondern auch die Tatsache, daß sie nicht „die Frucht eines überlegten Planes gewesen" sei, daß „diese wütende Tat in ihrer Entstehimg zu rasch, in ihrer Ausführung zu leidenschaftlich, zu ungeheuer erscheint, um nicht die Geburt des Augenblicks gewesen zu sein."26 Halten wir also fest: Schiller strebte an, daß Bürgertum und Adel in jeglichem Freiheitskampfe die Nation mit kluger und mäßigender Festigkeit zu führen verstehen. Nicht zuletzt deshalb verlangte er von den adligen und bürgerlichen Führungskräften Einigkeit unter sich, deren Geist auch auf die gesamte Nation ausstrahlen möge. Darum sagt er abschließend über den Geusenbund: „Durch diesen Bund wurden die Individuen einander nähergebracht und aus einer zaghaften Selbstsucht herausgerissen; durch ihn wurde ein wohltätiger Gemeingeist unter dem niederländischen Volk wieder gangbar, der unter dem bisherigen Drucke der Monarchie beinahe gänzlich erloschen war, und zwischen den getrennten Gliedern der Nation eine Vereinigung eingeleitet, deren Schwierigkeit allein Despoten so keck macht. Zwar verunglückte der Versuch, und die zu flüchtig geknüpften Bande lösten sich wieder; aber an mißlingenden Versuchen lernte die Nation das dauerhafte Band endlich finden, das der Vergänglichkeit trotzen sollte."*? Aber war denn die Vorstellung eines auf den Prinzipien der bürgerlichen und nationalen Freiheit beruhenden Bündnisses zwischen Bürgertum und Adel realistisch, gerade in Deutschland realistisch? Grundsätzlich ist vorab festzustellen, daß durch die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie im Schöße des Feudalismus, also durch den kapitalistischen Vormarsch im städtischen Gewerbe und in der ländlichen Agrarwirtschaft eine allmähliche Annäherung zwischen Adel und Bürgertum sowohl sozialökonomisch wie psychologisch möglich wird, wobei der Druck von unten wie auch der Druck von außen, also der Druck in Zeiten der nationalen Bedrohung, als politische Katalysatoren, als beschleunigende Elemente wirken. In der Tat waren die preußischen Reformen nach 1807 und die Vorbereitungen auf den Befreiungskrieg, die Friedrich Engels als den Beginn der bürgerlichen Revolution in Deutschland bezeichnete, ein Beispiel für eine Revolution von oben. 26 Ebenda, S. 371/372. 2«
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Ebenda, S. 433.
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Das Verhältnis von bürgerlichen Reformen von oben und Revolutionen von unten beschäftigte Friedrich Schiller immer wieder, auch wenn er für einige Jahre Politik und Revolution aus seinem Bewußtsein verdrängte - und zwar gerade deswegen, weil er sie durch den Gang der weltpolitischen Ereignisse nicht zu bewältigen verstand. Aber jetzt stehen wir immer noch im Jahre 1788, im Jahre des Erscheinens der von uns besprochenen „Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande".. Ein Jahr später, im Mai 1789, in jenem Monat, da gleichsam als Vorboten der Revolution die Generalstände in Paris zusammentraten, trat Schiller zum Leidwesen seines Freundes Körner in den Kreis der zünftigen Historiker ein. Am 26. Mai 178g hielt er in Jena im Griesbachschen Haus seine Antrittsvorlesung über ein eigentlich sehr konventionelles Thema: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Wir gehen hier auf seine teleologische Geschichtsauffassung, verbunden mit einer Art Kreislauftheorie, nicht weiter ein, auch wenn es nicht schwer ist, in einigen Exkursen innerhalb seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande" die gleichen geschichtsphilosophischen Auffassungen herauszufinden. Sie haben unserer Ansicht nach seine forscherischen Leistungen und seine weit bedeutendere Geschichtsschreibung kaum beeinflußt. Ja, Schiller ist unserer Ansicht nach selbst in der Theorie nicht konsequent. Ein echter Geschichtsteleologe muß leugnen, daß die Geschichte und die Menschen etwas grundsätzlich Neues hervorzubringen vermögen, gerade auch im Moralischen; alles ist doch nach ihnen zweckvoll von Anfang an vorher bestimmt; die Menschen haben danach nur das zu erkennen und zu realisieren, was von Anfang an der, Geschichte zugrunde gelegt werden sollte. Darin besteht ausschließlich die hohe Mission der Neuzeit. Schiller dagegen schließt seine Antrittsrede mit folgenden Worten: „Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt (Hervorhebung von mir - E. E.) an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beitrag zu legen, und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen."28 Den stärksten Eindruck, den Schillers Jenenser Antrittsrede vermittelt, bilden nicht seine Geschichtskonstruktionen, sondern sein noch ungebrochener Fortschrittsoptimismus, sein ebenso ungebrochener Glaube an die geschichtliche und moralische Mission seiner Gegenwart, an das 18. Jahrhundert, das er „unser menschliches Jahrhundert"29 nannte, sein Appellieren an den Menschen. Gerade das letztere haben wir bereits als ersten hervorstechenden Eindruck seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande* * erkannt. Gerade dadurch, daß er den Menschen in den Mittelpunkt seiner künstlerischen Darstellung der GeDerselbe, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, a. a. O., S. 53of. 29 Ebenda, S. 530. 28
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schichte stellte, hob er sich von der moralischen Engbrüstigkeit gelehrter Pedanten mit einem Schlage ab. Auch die Geschichtsschreibung war für ihn eine moralische Anstalt. So wandte er sich an seine Studenten: „Fruchtbar und weit umfassend ist das Gebiet der Geschichte; in ihrem Kreise liegt die ganze moralische Welt . . . Es ist keiner unter Ihnen allen, dem Geschichte nicht etwas wichtiges zu sagen hätte, alle noch so verschiedenen Bahnen Ihrer künftigen Bestimmung verknüpfen sich irgendwo mit demselben; aber Eine Bestimmung teilen Sie alle auf gleiche Weise miteinander, diejenige, welche Sie auf die Welt mitbrachten - sich als Menschen auszubilden — und zu dem Menschen eben redet die Geschichte." 30 Wir müssen unwillkürlich an Hölderlin denken, der einige Jahre später über die Deutschen zürnte, daß man dort nur Handwerker sehe, aber keine Menschen, daß der Deutsche doch immer in seinem Fache bleibe. Das meinte eigentlich auch Schiller, der sich nicht an den durch die Arbeitsteilung zerrissenen, in falscher fachmännischer Tüchtigkeit befangenen Menschen wendet, sondern den ganzen Menschen erfassen und bilden wollte. Darum verlangt er auch ein enges Bündnis zwischen Wissenschaft und Kunst und erklärt halb fordernd: „An griechischen und römischen Mustern mußte der niedergedrückte Geist nordischer Barbaren sich aufrichten und die Gelehrsamkeit einen Bund mit den Musen und Grazien schließen, wann sie einen Weg zu den Herzen finden und den Namen einer Menschenbildnerin sich verdienen wollte." 31 Das ist nichts anderes als das vorhin zitierte Leitmotiv. Und im Schlußsatz der Vorrede zur „Geschichte des Abfalls der Niederlande" sagt er noch deutlicher, „daß eine Geschichte historisch treu geschrieben sein kann, ohne darum eine Geduldprobe für den Leser zu sein" und „daß die Geschichte von einer verwandten Kunst etwas borgen kann, ohne deswegen notwendig zum Roman zu werden." 32 Hermann Hettner mag durchaus recht haben, wenn er Schillers Gedicht „Die Künstler", bereits im Sommer 1788 begonnen und am 4. Februar 1789 vollendet, in Zusammenhang mit Schillers Bemühungen bringt, Kunst und Wissenschaft miteinander zu vermählen. Der Menschheit Ideal ist nach Schiller erst erreicht, wenn sittliche und wissenschaftliche Kultur wieder volle Einheit sind. Und Schiller mahnt uns: „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, Bewahret siel Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich hebenI" 33 Wenige Monate nach Beginn seiner akademischen Tätigkeit in Jena nahm Schiller die „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges" in Angriff. Der Stoff lag ihm zwar schon seit 1786 am Herzen, aber jetzt wurde er durch den Verleger Göschen zur Arbeit angeregt und angetrieben, diese Geschichte für einen Damenalmanach zu schreiben. Was Schillers Grundansichten über die Entstehung und den Verlauf 3» Ebenda, S. 524. 3o Ebenda, S. 5 1 3 ! Schillers Sämtliche Werke, Horenausgabe, a. a. O., S. 36, Vorrede von 1788. 33 Schiller, Friedrich, Ges. Werke in 8 Bdn., a. a. O., Bd. 1, Gedichte, S. 181. 33
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dieses entsetzlichen Krieges anbelangt, so müssen wir dem Urteil eines Hermann Hettner und Franz Mehring folgen. Von vornherein wird die Religion als Ursache und Triebkraft des Krieges gesehen, was den Blick trüben muß. Schillers bürgerliches Klassenbewußtsein setzt sich hier in einseitige Parteinahme für den Protestantismus um. Die progressive Bedeutung der Reformation wird überbetont und Gustav Adolf als Glaubenskämpfer und Vertreter des Progressiven glorifiziert. Erst nachträglich wird erwähnt, daß der Held, der bei Lützen sank, nicht mehr der Wohltäter Deutschlands war, sondern daß der größte Dienst, den er der Freiheit des Deutschen Reiches noch erweisen konnte, in seinem Sterben lag.34 Schiller sah die Partikulargewalten als Träger der Freiheit, weil sie gegen Habsburg, den Verfechter der alten Religion, ankämpften. Darum wird auch das Bild der entsetzlichen Schmach und Erniedrigung Deutschlands nicht mit jener Eindringlichkeit gezeichnet, wie man es eigentlich von Schiller hätte erwarten können. Er war auch zu sehr von der Vorstellung befangen, daß Europa eine große Völkerfamilie bilde, als daß er den fürstlichen Verrat an Kaiser und Reich hätte vollständig begreifen und gebührend brandmarken können. Nur gelegentlich finden wir Sätze wie diesen: „Alle diese Wunden schmerzten um so mehr, wenn man sich erinnerte, daß es fremde Mächte waren, welche Deutschland ihrer Habsucht aufopferten und die Drangsale des Krieges vorsätzlich verlängerten, um ihre eigennützigen Zwecke zu erreichen. Damit Schweden sich bereichern und Eroberungen machen konnte, mußte Deutschland unter der Geißel des Krieges bluten; damit Richelieu in Frankreich notwendig blieb, durfte die Fackel der Zwietracht im Deutschen Reiche nicht erlöschen."35 In Schillers Dreißigjährigem Krieg sind die subjektiven Faktoren des Geschichtsverlaufs, die Momente des Zufalls, die Kabinettspolitik, die persönlichen Motive weit stärker betont als in seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande". Aber dennoch! Auch in diesem Werk zeigt sich auf Schritt und Tritt die Meisterhand des gestaltenden Geschichtsschreibers. Es ist schwer, der Versuchung zu widerstehen, ganze Partien aus der packenden Schilderung der Greuel des Krieges zu zitieren. Nur eine kurze Zusammenfassung sei wiedergegeben: „Alle Bande der Ordnung lösten in dieser langen Zerrüttung sich auf, die Achtung für Menschenrechte, die Furcht vor Gesetzen, die Reinheit der Sitten verlor sich, Treu und Glaube verfiel, indem die Stärke allein mit eisernem Zepter herrschte; üppig schössen unter dem Schirme der Anarchie und der Straflosigkeit alle Laster auf, und die Menschen verwilderten mit den Ländern. Kein Stand war dem Mutwillen zu ehrwürdig, kein fremdes Eigentum der Not und der Raubsucht heilig. Der Soldat (um das Elend jener Zeit in ein einziges Wort zu pressen), der Soldat herrschte, ..Z'36 Friedrich Schiller selbst hat den qualitativen Unterschied zwischen seiner „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges" einerseits und der „Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande" andererseits wohl gefühlt. In einem Brief an den Derselbe, Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, a. a. O., S. 278. 36 Ebenda, S. 336f. 36 Ebenda, S. 336.
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Buchhändler Crusius, den Verleger seines ersten Geschichtswerkes, schrieb er am 8. Oktober 1791: „Sie taten mir Unrecht, mein wertester Freund, wenn Sie glaubten, daß ich Sie einem andern nachgesetzt und durch Ubernehmung des historischen Kalenders die Niederländische Geschichte zurückgesetzt habe. Ein anderes ist eine Arbeit für Damen und die Modewelt, ein anderes ein Werk für die Nachwelt. Das letztere wird langsam reif, wenn das erstere leicht von der Feder fließt. In keinem Falle würde ich mit der Fortsetzung der Niederländischen Geschichte so geschwind haben hervortreten können, als Sie und vielleicht auch das Publikum wünschten." 37 Die „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges" war im weitesten Sinne des Wortes ein Kind der Not. Bei allem Interesse für den Stoff ging er an die Arbeit aus dem drängenden Bedürfnis heraus, in rascher Arbeit etwas zu verdienen. Aber der Briefwechsel Schillers sagt deutlich aus, wie die Arbeit ständig unterbrochen wurde, weil den Dichter Krankheit niederwarf. Bitter bedrückte ihn materielle Not. Der Schwerleidende brachte kaum die Mittel auf, um sich einen Pelz anzuschaffen, zu dem ihm der Arzt dringend riet. Schiller, einer der Größten unserer Kultur, war nicht einmal in der Lage, die Unkosten einer Reise nach Schwaben zu seinen Eltern zu bestreiten. Wie schwer ihm die Arbeit fiel, wie sehr sie ihn bedrückte - darüber durfte er seinem Verleger Göschen nichts verraten; ihm gegenüber spielt er den Munteren und berichtet zuversichtlich im Juni 1792: „Der Dreißigjährige Krieg geht jetzt schon frisch seinen Gang, und ich werde in der Mitte dieses Monats, meinem Versprechen und Ihrem Wunsche gemäß, pünktlich die erste Manuskriptlieferung einschicken."38 Wenig später aber schreibt er seinem Freund Körner: „Die Last des Dreißigjährigen Krieges liegt noch schwer auf mir und weil mich die Krämpfe auch redlich fortplagen, so weiß ich oft kaum wo aus noch ein." 39 Zur materiellen und gesundheitlichen Not gesellte sich zu jener Zeit, nicht weniger bedrückend, die moralische. Sie führte ihn von der Geschichtsschreibung weg. Worin bestand denn nun diese moralische Not? Schon im März 1792 bekannte er gegenüber Körner, daß er der Arbeit am Dreißigjährigen Krieg nicht über fünf Stunden des Tages widmen möchte. „Ganz besitzt sie mich nicht", fuhr er fort, „und meine besten Stunden werden auf etwas gescheiteres verwendet, was du 37
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Schillers Briefe, hg. u. m. Anmerk. versehen v. Fritz Jonas, Krit. Gesamtausgabe, Bd. 3, Stuttgart—Leipzig—Berlin—Wien o. J., S. 161. Schiller an Siegfried Lebrecht Crusius am 8. 10. 1791. — Für einen imperialistischen Historiker wie Theodor Schieder liegt der qualitative Höhepunkt natürlich umgekehrt. Er stempelt die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges vor allem deshalb zu dem bedeutendsten historischen Werk Schillers, weil dieser darin angeblich das „Unbegreifliche zum Standpunkt der Beurteilung" gemacht habe. (Schieder, Theodor, Schiller als Historiker, in: HZ, Bd. 190, H. 1, i960, S. 43). Schillers Briefe, a. a. O., S. 204. Schiller an Georg Göschen am 4. 6. 1792. Briefwechsel zwischen Schiller und Körner. Von 1784 bis zum Tode Schillers. Mit Einl. v. Ludwig Geiger, Stuttgart und Berlin o. J., Bd. 2, S. 241. Schiller an Gottfried Körner am 30. 7. 1792.
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mündlich erfahren sollst."40 Und dieses Gescheitere erweist sich als das Studium Kants. Was hat Schiller zu Kant getrieben? Es bleibt uns hier versagt, alle Seiten dieses geistigen Vorgangs zu verfolgen und zu beleuchten. Nur auf einen einzigen, unserer Ansicht nach allerdings sehr entscheidenden Gesichtspunkt möchten wir hier hinweisen. Ein echter Historiker muß ein zutiefst politischer Mensch sein, und das war auch Schiller unzweifelhaft, trotz vermeintlicher und auch wirklicher Resignation in Fragen der Politik während verschiedener Abschnitte seines Lebens. Wir haben Schiller in seiner Antrittsrede als einen fortschrittsoptimistischen und gegenwartsfreudigen Menschen in den Wochen der Vorphase der großen französischen Revolution kennengelernt; wir haben ihn kennengelernt als einen politischen Menschen, der alles vom Standpunkt der bürgerlichen Freiheitsforderungen und im Interesse der bürgerlichen Umgestaltung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse betrachtet. Dabei plagt ihn das Verhältnis zwischen den Problemen der Revolution von oben und der von unten. Solange die französische Revolution tatsächlich vom Bürgertum und einigen Teilen des übergelaufenen Adels geführt und die Volksbewegung im großen und ganzen von diesen großbürgerlich-adligen Führungskräften beherrscht wird, ist Schiller beruhigt und bejaht die Revolution. Immerhin schreibt er am 6. November 1792, also nach der Fertigstellung seiner „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges", zu einer geplanten Bearbeitung der Cromwellschen Revolution an Körner: „Es ist sehr interessant, gerade in der jetzigen Zeit ein gesundes Glaubensbekenntnis über Revolutionen abzulegen; und da es schlechterdings zum Vorteil der Revolutionsfeinde ausfallen muß, so können die Wahrheiten, die den Regierungen notwendig darin gesagt worden müssen, keinen gehässigen Eindruck machen."41 Aber Körner lehnte doch ab, weil ihm der Cromwell-Stoff doch zu verfänglich erschien. Noch im gleichen Monat November bekennt Schiller Gottfried Körner gegenüber, daß er den „Moniteur" lese und seitdem von den Franzosen mehr erwarte und setzt hinzu: „Wenn Du diese Zeitung nicht liest, so will ich sie Dir sehr empfohlen haben. Man hat darin alle Verhandlungen in der Nationalkonvention in Detail vor sich und lernt die Franzosen in ihrer Stärke und Schwäche kennen."42 Dieses intensive Verfolgen der revolutionären Ereignisse in Frankreich hinderte ihn nicht im mindesten, kaum drei Jahre später an den Komponisten und Schriftsteller Reichardt zu schreiben, es sei im buchstäblichsten Sinne wahr, daß er gar nicht in seinem Jahrhundert lebe, und mit unschuldigster Miene und schwäbischem Schlaumeiertum fügt Schiller hinzu: „Und ob ich gleich mir habe sagen lassen, daß in Frankreich eine Revolution vorgefallen, so ist dies so ohngefähr das wichtigste, was ich davon weiß."43 40 Ebenda, S. 226. Schiller an G. Körner am 15. 3. 1792. 41
Ebenda, S. 258. Schiller an G. Körner am 6. 11. 1792.
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Ebenda, S. 262. Schiller an G. Körner am 26. n . 1792.
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Schillers
Briefe,
a. a. O.,
Bd. 4, Stuttgart—Leipzig—Berlin—Wien
o. J. S. 218.
Schiller an Fritz Reichardt am 3. 8. 1795. A u c h Golo Mann schildert erstaun-
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Öfters schreiben Literaturhistoriker von der Enttäuschung Schillers über die französische Revolution. Wir möchten in Zweifel ziehen, ob dieser Ausdruck „Enttäuschung" der inneren und äußeren Situation Schillers von damals adäquat ist. Gewiß war im Mai 1789 in Schiller noch so etwas wie naiver Optimismus vorhanden, aber seine Vorstellung von einer bürgerlichen Revolution war nach einer Seite hin immer klar Umrissen, nämlich was seine Ablehnung alles Spontanen und Plebejischen in der Revolution betraf. Dieses Spontane und Plebejische mußte in Schillers Augen den letzten politischen und menschlichen Zielen der bürgerlichen Revolution abträglich sein. Von dieser Grundposition aus mußte Schiller vieles, was sich in der französischen Revolution ereignete, negieren. Wir denken, wir sollten in der Beurteilung von Schillers Haltung zum Ablauf der französischen Revolution sehr umsichtig zu Werke gehen. Auf keinen Fall scheint mir richtig zu sein, Schiller etwa als irrenden Spießbürger anzusehen, dem man nun einmal vieles verzeihen müsse, weil er im übrigen kein schlechter Poet gewesen sei. Was müssen wir also beachten? Fürs erste sollten wir uns hüten, aus allen Volksaufständen der französischen Revolution gleichsam ein heilig Wesen zu machen. In einem Brief vom 4. September 1870 beurteilt ein Mann, den niemand als Gegner der Revolution und des Plebejertums zu bezeichnen wagt, die Schreckensherrschaft der französischen Revolution in einer heute für unsere Ohren recht merkwürdig klingenden Art. Er schrieb damals, also am 4. September 1870, unmittelbar nach dem Sturz Napoleons III., folgendes: „Wir verstehn darunter (unter der Schreckensherrschaft — E. E.) die Herrschaft von Leuten, die Schrecken einflößen; umgekehrt, es ist die Herrschaft von Leuten, die selbst erschrocken sind. La terreur, das sind großenteils nutzlose Grausamkeiten, begangen von Leuten, die selbst Angst haben, zu ihrer Selbstberuhigung. Ich bin überzeugt, daß die Schuld der Schreckensherrschaft Anno 1793 fast ausschließlich auf den überängsteten, sich als Patrioten gebarenden Bourgeois, auf den kleinen hoäenscheißenden Spießbürger und auf den bei der terreur sein Geschäft machenden Lumpenmob fällt." 4/1 Der dies geschrieben hat, war - Friedrich Engels, und zwar an Karl Marx. Es liegt mir nun fern, diese Briefstelle von Friedrich Engels gleichsam zu kanonisieren und zu meinen, damit sei das Urteil über die französische Schreckensherrschaft ein für allemal gefällt. Aber wir sollten doch vorsichtiger sein in dem empörten oder meist bemitleidenden Verurteilen von Schillers Distanz zur französischen Revolution. Er hatte doch offensichtlich einigen Grund, über manche Ereignisse entsetzt zu sein. Wir wollen auch nicht übersehen, daß Friedrich Engels mit seinen Bemerkungen über die Schreckensherrschaft in der französischen Revolution das Problem der Spontaneität berührte, das die führenden Revolutionäre nicht beherrschten licherweise noch heute Schiller als einen seiner Zeit abgekehrten Denker.
(Mann,
Golo, Schiller als Historiker, in: Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 13. Jg., H. 12, 1959.) Marx/Engels, 4. 9. 1870.
Briefwechsel, Bd. 4, Berlin 1950, S. 453. F. Engels an K . Marx am
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Zu dem Großartigen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 gehörte auch die Tatsache, daß sie ideologisch, politisch und organisatorisch bis ins einzelne vorbereitet und beherrscht wurde. Deshalb kostete sie so wenig Opfer und ist auch von dieser Sicht her so tief menschlich. Doch zurück zu Schiller. Ein anderes, was wir beim Problem Schiller und die französische Revolution unbedingt beachten müssen, das ist eine exaktere Beurteilung seiner Stellung zu Ludwig X V I . Es ist selbstverständlich nicht zu bestreiten, daß er eine Schrift gegen seine Hinrichtung schreiben wollte. Aber ganz im Sinne seiner Meinung über die einzunehmende Grundhaltung in einer Schrift über die Cromwellsche Revolution, wo auch einige Wahrheiten über die feudalen Regierungen gesagt werden sollten, schrieb er am 21. Dezember 1792 wiederum an seinen Freund Körner: „Der Schriftsteller, der für die Sache des Königs öffentlich streitet, darf bei dieser Gelegenheit schon einige wichtige Wahrheiten mehr sagen als ein anderer und hat auch schon etwas mehr Credit. "/,r> Schiller hat also auch hier die Sache der bürgerlichen Freiheit nicht aufgegeben und sich keineswegs auf die Position eines konservativen Draufgängers begeben. Aber nun geschah bei der Abfassung der Verteidigungsschrift etwas höchst Merkwürdiges. Am 8. Februar 1793 setzt Schiller das Thema in seinem Briefwechsel mit Körner fort, und da schreibt er ihm: „Was sprichst Du zu den französischen Sachen? Ich habe wirklich eine Schrift für den König schon angefangen gehabt, aber es wurde mir nicht wohl darüber, und da liegt sie mir nun noch da." /,G Es wurde ihm nicht wohl dabei! Hier haben wii den eigentlichen Grund, warum die Hinrichtung Ludwigs der beabsichtigten Protestschrift zuvorkam. Kurz zusammengefaßt: Schiller wurde nicht fertig mit den Problemen der Revolution von unten, weil ihm die objektiven Verhältnisse in Deutschland und viele Erscheinungen in Frankreich nicht halfen, damit fertig zu werden. Schiller wurde aber auch nicht fertig mit den Problemen der Revolution von oben, weil der Gang der Ereignisse in Frankreich sie überholte und sie in Deutschland in einer Zeit, da der konterrevolutionäre Krieg gegen Frankreich bereits in Szene gesetzt war, erst recht nicht mehr aktuell wurden. Darum wandte sich Schiller von der eigentlichen Geschichtsschreibung ab, da sie ihm zu jener Zeit für die Sache der bürgerlichen Revolution nicht mehr nützlich schien. Ja, Schiller mußte sich fragen, ob überhaupt noch die Fragen der politischen Emanzipation angängig seien. Sollte man sich nicht vielmehr erstrangig nach der menschlichen Emanzipation fragen? Schiller bejahte diese letztere Frage, und das ist der tiefere Sinn seiner intensiven Beschäftigung mit Kant. Es ist nicht unseres Amtes, diese Problematik hier zu verfolgen, auch nicht, wie er sich von Kant wieder entfernte und zu einer neuen dramatischen Dichtung kam. Aber was uns als Historiker interessiert und interessieren muß, das ist die Frage, wie Schiller vom Politischen her (und eben nicht allein vom Ästhetischen) zu der ''•r' Briefwechsel zwischen Schiller und Körner, a. a. O., S. 266f. Schiller an G. Körner am 31. 12. 1792. ',B Ebenda, Bd. 3, Stuttgart u. Berlin o. J. S. 18. Schiller an G. Körner am 8. 2. 1793.
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erwähnten neuen Dramatik kam. Denn wir müssen hier Franz Mehring recht geben, wenn er sagte, daß Schiller auch als Dramatiker ein großer Historiker war. Zur großen dramatischen Schöpfung drängte es Schiller auch aus politischen Gründen, nachdem nämlich das politische Geschehen die nationale Frage in den Vordergrund gerückt hatte. Die französische Hegemonie und die - drohende Fremdherrschaft in ihrer drückendsten Form eröffneten die reale Perspektive einer bürgerlichen Revolution von oben, die sich mit einer Volksbewegung verbindet, der die herrschenden Kräfte allerdings in Ziel und Methode von vornherein Schranken weisen. Wann trat der Umschwung ein, der die deutschen Intellektuellen in direktem oder indirektem Zusammenhang mit Regungen im Volke politisch wieder aufgeschlossener machte? Wir denken, daß dieser Umschwung spätestens mit dem Jahre 1797 eintrat, als nämlich Österreich, wie Preußen 1795, im Vorfrieden von Leoben und schließlich im Frieden von Campo Formio in die Abtretung des Unken Rheinufers einwilligte. Um die nationale Demütigung zu vervollständigen, wurde auch noch festgelegt, daß Frankreich im Verein mit Rußland bei der Neuund Umgruppierung der deutschen Länder mitzusprechen, im Grunde genommen zu entscheiden, hatte. Die deutschen Intellektuellen waren aufs tiefste beunruhigt, und jeder große deutsche Dichter und Denker setzte sich damals auf die eine oder andere Weise mit der nationalen Krise auseinander. Die nationalbürgerlichen Regungen seit dem Frieden von Campo Formio, noch keineswegs aufeinander abgestimmt, jede auf eigene Art, oft noch tastend, sind dennoch unverkennbar und haben die nationale Bewegung wider die Fremdherrschaft nach 1807 vorbereitet. Es begann eigentlich mit Johann Wolfgang von Goethe! In den entscheidungsvollen Monaten zwischen dem Vorfrieden von Leoben im April 1797 und dem Frieden von Campo Formio im Oktober 1797 hat er sein volkstümliches und vaterländisches Epos „Hermann und Dorothea" beendet und es mit den Worten schließen lassen: „Und gedächte jeder wie ich, so stünde die Macht auf gegen die Macht, und wir erfreuten uns alle des Friedens." Goethes nationalbürgerlicher Trotz, der aus diesen Worten spricht, konnte nicht beruhigend wirken, auch wenn die Grundstimmung in „Hermann und Dorothea" antirevolutionär war. Und während das Goethesche Epos „Hermann und Dorothea" die deutsche Kleinstadtwelt gestaltete, idealisierte und nur von fern in den großen weit- und nationalpolitischen Zusammenhang stellte, führte Schillers Wallenstein-Trilogie, die in den Jahren 1797 und 1798 vollendet wurde, in die große Welt der politischen und militärischen Kämpfe und Entscheidungen einer bedeutsamen Epoche unserer Geschichte. 47 Schiller ging es um die moralisch-politische Erziehung der Deutschen, damit sie in einer Zeit, „da um der Menschheit große 47
Vgl. Mayer, Hans, Schiller und die Nation, in: Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Berlin, 1954, S. 112ff. (Beiträge zur Literaturwissenschaft, hg. v. W. Krauß u. H. Mayer, Bd. 2).
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Gegenstände, um Herrschaft und Freiheit" gerungen wurde, als Nation im Kreise der großen Völker bestehen könnten. Niemals war ihm die Würde und Größe der deutschen Nation gleichgültig; er sah beides im Streben nach dem humanistischen Ideal und in der Weltoffenheit. Dem Deutschen „ist das Höchste bestimmt, die Menschheit, die allgemeine, in sich zu vollenden und das Schönste, was bei allen Völkern blüht, in einem Kranze zu vereinen,"48 das schrieb Schiller in dem Liedentwurf „Deutsche Größe", der entweder nach dem Frieden von Campo Formio oder Lundville entstand. Und gerade die von ihm geforderte besondere Größe und Würde der Deutschen hielt er für die Voraussetzung ihrer politischen Zukunft: „Dem, der den Geist bildet, beherrscht, muß zuletzt die Herrschaft werden."49 Aber schrieb Schiller in jenen schicksalsschweren Jahren, von denen wir sprechen, nicht auch Worte tiefster politischer Resignation? Denken wir nur an das Gedicht „Der Antritt des neuen Jahrhunderts". Von dem gewaltigen weltpolitischen Gegensatz und Kampf zwischen Frankreich und England sprechend - „Aller Länder Freiheit zu verschlingen, schwingen sie den Dreizack und den Blitz", mutet uns der Schluß wie eine politische Weltflucht an: „Ach umsonst auf allen Länderkarten Spähst Du nach dem seligen Gebiet, Wo der Freiheit ewig grüner Garten, Wo der Menschheit schöne Jugend blüht. .. In des Herzens heilig stille Räume Mußt Du fliehen aus des Lebens Drang: Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, Und das Schöne blüht nur in Gesang."50 Die Resignation, die aus diesen Verszeilen spricht, konnte nur vorübergehend sein, weil sie von politischen Überlegungen und von einem ursprünglichen Handelnwollen ausging. Gerade dieses Gedicht zeugt in seinen Hauptteilen von einem politisch hellwachen Blick. Schiller wußte, was draußen in der Welt gespielt wurde und was so oft hinter den großen Worten der politischen Tagesparolen steckte. Weder diesseits noch jenseits des Rheins, weder auf dem Kontinent noch auf den britischen Inseln verspürte Schiller eine Kraft, der er sich vertrauensvoll hätte anschließen können. Er ließ sich auch nicht von der Zauberkraft Napoleonischen ieldhermtums und seinem revolutionär anmutenden Pathos hinreißen, wie es Beethoven vorübergehend geschah; dazu war er politisch zu klarblickend. Das politische Klügeln und das gesellschaftliche Klugreden mit Napoleon, wie dies Seine Exzellenz Wirklicher Geheimrat und Staatsminister Wolfgang von Goethe auf dem Erfurter Fürstentag tat, lag Schiller auch nicht; dazu fühlte er seiner Herkunft und seinem Temperament nach denn doch zu demokratisch. „Seiner freien Seele war der Hauch der Tyrannei durchaus zuwider", Schiller, Friedrich, Ges. Werke in 8 Bdn, a. a. O., Bd. l, S. 464. Ebenda, S. 462. so Ebenda, S. 414. 48
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so berichtete Karoline Schlegel und fuhr dann später fort: „Und wir hörten ihn sagen: .Wenn ich mich nur für ihn [Napoleon — E. E.] interessieren könnte! Alles ist ja sonst tot - aber ich vermag's nicht; dieser Charakter ist mir durchaus zuwider.'" 51 Es kann kein Zweifel bestehen: Bei Schiller wurde nach 1797 und besonders nach 1801 der patriotische (und darum im Kern auch antifeudal bleibende) Charakter seiner Dichtung immer unverkennbarer und gelangte zu höchster Wirkung. Alle gegenteiligen Behauptungen, auch von einem solch hervorragenden marxistischen Historiker wie Franz Mehring, entsprechen nicht den Tatsachen. Schillers Dramen, wie die Wallenstein-Trilogie (1797-1799), „Die Jungfrau von Orleans" (1802), „Wilhelm Teil" (1804), sind in ihrem unmittelbaren moralischpolitischen Einfluß - gerade auch auf die preußischen Offiziere - von der nationalen Widerstands- und Befreiungsbewegung nicht wegzudenken. Heinrich Heine zielte darauf ab, als er einmal sagte, daß Schillers Worte Taten wurden. Schiller stand als nationalpolitischer Erzieher des deutschen Volkes keineswegs einsam da, obwohl er weit herausragte. Friedrich Hölderlin, ein Schwabe wie Schiller, zürnend in seinem „Hyperion" über die staatsbürgerliche Herzensenge und Schwunglosigkeit der Deutschen, schrieb in den Jahren zwischen Campo Fornno und Lun6ville Vaterlandsgedichte von einzigartiger Empfindung und Schönheit der Sprache: „ O heilig Herz der Völker, o Vaterland!" Auch Wegbereiter und Weggenossen der deutschen Klassik, wie Wieland und Herder, haben die Deutschen zur nationalen Selbstbesinnung aufgerufen. Schließlich sei Hegel erwähnt, der in seiner Schrift über die Verfassung Deutschlands (1801/1802) nach einem Ausweg aus dem politischen Elend der Deutschen suchte. Im Zusammenhang mit der nationalpolitischen Dramatik Schillers müssen wir auch die Verhandlungen sehen, die er seit 1803 sehr ernsthaft führte, um nach Berlin zu kommen. Er sprach es in einem Brief vom Juni 1804 offen aus, es sei seine Bestimmung, „für eine größere Welt zu schreiben, meine dramatischen Arbeiten sollen auf sie wirken, und ich sehe mich hier in so engen, kleinen Verhältnissen, daß es ein Wunder ist, wie ich nur einigermaßen etwas leisten kann, das für die größere Welt ist." 52 In der Tat wurde im Sommer 1804 „Wilhelm Teil" in Berlin, wie Schiller selbst feststellte, „mit erstaunlicher Wirkung" aufgeführt. Es war ihm vielleicht auch nicht unbekannt geblieben, daß er schon damals zum Lieblingsdichter der entschiedensten Reformer und Patrioten geworden war. Die Aussichten auf eine Revolution von oben nahmen immer realere Gestalt an. Zugleich befestigten sich in Schiller seine Ansichten über Inhalt und Form einer Volksbewegung. In „Wilhelm Teil" handeln nicht mehr, wie bei den niederländischen Bilderstürmern, spontan zusammengerottete Haufen, sondern Bauern in einer vereinbarten Aktion der Gesamtheit. Mit dem Spontanen ist auch alles Rohe und Wider-Menschliche verschwunden. 51
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Schillers Gespräche. Berichte seiner Zeitgenossen über ihn, hg. v. Julius Petersen, 2. Auflage, Leipzig 1911, S. 389. Schiller, Friedrich, Briefe, ausgew. u. hg. v. Reinhard Buchwald, Leipzig 1945, S. 844. Schiller an v. Wolzogen am 16. 6. 1804.
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Der Gang der politischen Entwicklung hat Schiller geholfen, das ihn sowohl als Historiker wie als Dramatiker immer wieder bewegende Problem des Verhältnisses der Revolution von oben und der von unten einer Lösung näherzubringen. Darin liegt die beeindruckende Konsequenz seines Denkens, Schaffens und Handelns. Übersehen wir auch nicht, daß Schiller bei aller Distanz zu den konkreten Erscheinungen der französischen Revolution den großen Ideen von 1789 unwandelbar treu blieb. Als er das 1792 vom Konvent beschlossene französische Bürgerdiplom 1798 endlich erhielt, da schrieb er: „Die Ehre, die mir durch das erteilte französische Bürgerrecht widerfährt, kann ich durch nichts als meine Gesinnung verdienen, welche den Wahlspruch der Franken von Herzen adoptiert; und wenn unsere Mitbürger über dem Rhein diesem Wahlspruch immer gemäß handeln, so weiß ich keinen schönere» Titel, als einer der ihrigen zu sein."53 Und dieser Wahlspruch der Franken konnte nur die Losung: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" sein. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein — denken wir nur an das patriotische Schillerfest des Jahres 1859 ~ w a r das Gesamtwerk Schillers die repräsentative Manifestation des deutschen Nationalgefühls. Es war stellvertretend für die Sehnsucht der Deutschen nach nationaler Einheit, nach staatsbürgerlicher Freiheit, nach Gewissensfreiheit und Menschenwürde, gab Kraft und Zuversicht im Ringen um Einheit und Unabhängigkeit der Nation. Doch übersehen wir niemals, daß die Ideen der französischen Revolution, denen Schiller bis an sein Lebensende verhaftet blieb, über die bürgerlichen Klassenschranken hinauswiesen. Die verschiedenen Systeme des französischen Sozialismus, der eine der drei Quellen des wissenschaftlichen Sozialismus bildet, gingen stets von der Fragestellung aus, wie die großen Losungsworte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" am besten verwirklicht werden könnten. Und Schillers Suchen nach den Bedingungen der menschlichen Emanzipation - ein Suchen, das gleichfalls aus dem harten Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit entstanden war — wies gleichfalls unbewußt über die bürgerliche Gesellschaft hinaus. Die materialistische Geschichtsauffassung des wissenschaftlichen Sozialismus hat zwar die idealistischen Ausgangspunkte, die von der französischen Revolution her stammen, verlassen; aber sie ist und bleibt eine zutiefst humanistische und optimistische Lehre. Der Ausgangs- und Endpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung ist der Mensch - der Mensch in seiner produktiven Tätigkeit und seinen gesellschaftlichen Beziehungen. Die geschichtliche Entwicklung bedeutet, möge sie noch so sehr und immer durch Leiden, Opfer und Verbrechen gezeichnet sein, möge sie uns auch immer wieder zu einer unverschwärmten Nüchternheit zwingen, trotz allem Entfaltung der menschlichen Kräfte, Wachstum und Aufstieg der Menschheit. Das Bürgertum in seiner Gesamtheit hat späterhin seit dem Zeitalter des Imperialismus selbst das Ideal des bürgerlichen Gemeingeistes und seinen eigenen HumaSchillers Briefe, a. a. O., Bd. 5, Stuttgart-Leipzig-Berlin-Wien Schiller an Joachim Heinrich Campe am 2. 3. 1798.
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nismus schmählich mißachtet. Alles Hoffen auf eine bürgerliche Herrschaft der Freiheit und Demokratie hat sich spätestens seit Anbruch des Imperialismus als eine Illusion und gefährliche Narrheit erwiesen und wurde oft genug in den blutigen Orgien der Konterrevolution ertränkt. Der Imperialismus ist Reaktion auf der ganzen Linie, so wie der Feudalismus im 18. Jahrhundert. Heute hat nur die Arbeiterklasse Schillers ursprüngliche Impulse aufgenommen und ist dabei, sein humanistisches Sehnen und Streben unter neuen ideologischen Aspekten und sozialen Bedingungen zu verwirklichen.
Johann Gottlieb Fichte und die deutsche Geschichte* Joachim Streisand
Die „Zufälligen Gedanken in einer schlaflosen Nacht" 1 , eine programmatische Zusammenfassung seiner politischen Auffassungen, die Fichte mit 26 Jahren niederlegte, würde erst über ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung veröffentlicht. Sein Dialog „Der Patriotismus und sein Gegenteil"2 wurde bei der Veröffentlichung in den Gesammelten Werken durch Immanuel Hermann Fichte verstümmelt: er hielt es für opportun, einige konkrete Polemiken in den Werken seines Vaters dadurch zu mildern, daß er das Wort preußisch fortließ, wo Johann Gottlieb sich zum Beispiel gegen einen sogenannten preußischen Patriotismus gewendet hatte. 3 Die preußische Zensur hatte bereits bei der Veröffentlichung der „Reden an die deutsche Nation" erzwungen, daß die konkreten Bezugnahmen im Eingang der ersten Rede durch ein unbestimmtes „Irgendwo" ersetzt würden, so daß es unsinnig und unverständlich heißen mußte: „Irgendwo hat die Selbstsucht durch ihre vollständige Entwicklung sich selbst vernichtet"/* Das politische Testament Fichtes, sein „Entwurf zu einer politischen Schrift im Frühling 1813" ••>, blieb an versteckter Stelle in der Gesamtausgabe begraben und wurde von der Forschung lange kaum beachtet. Nimmt man hinzu, daß es seit Beginn der imperialistischen Epoche in der bürgerlichen deutschen Geisteswissenschaft Mode wurde, einen Einfluß Fichtes auf die bürgerlich-nationale Bewegung zu leugnen", und daß in der Philosophie* Überarbeitete Fassung des Aufsatzes des Verf. „ F i c h t e und die Geschichte der deutschen N a t i o n " , veröfftl. in: Wissen und Gewissen, Beiträge zum 200. Geburtstag Johann Gottlieb Fichtes. Hrsg. v o n Manfred Buhr. Berlin 1962. 1
Fichte, Johann Gottlieb, Briefwechsel, hg. v. Hans Schulz, B d . 1, Leipzig 1925, S. 10 f f .
2
Derselbe,
Nachgelassene
Werke,
hg.
v.
Immanuel
Hermann
Fichte,
Bd. 3,
Leipzig (1835), S. 221 ff. 3
So zum Beispiel in dem Satz, in dem Fichte im „dunkeln und verworrenen Begriff eines besondefn preußischen Patriotismus eine Ausgeburt der L ü g e und der ungeschickten Schmeichelei" sieht (ebenda, S. 233).
4
Fichte,
Johann Gottlieb, Sämtliche Werke, hg. v . Immanuel Hermann Fichte,
Bd. 7, Leipzig (1845), S. 264. 5
Ebenda, S. 546 ff.
s Charakteristisch dafür ist der A u f s a t z von Rudolf Körner „ D i e Wirkung der Reden Fichtes"
(Forschungen
zur brandenburgischen
und
preußischen
Geschichte,
B d . 40, München 1927, S. 65ff.), in dem zwar richtig nachgewiesen wird, daß der
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Geschichtsschreibung seine politischen Auffassungen fast völlig verschwiegen wurden, während er in der politischen Geschichte halb als Barde, halb als Biedermann erschien7, dann sind bereits die Haupttendenzen der Fichte-Legende umrissen. Die konkreten Stellungnahmen zu den politischen Ereignissen seiner Zeit sollten aus dem Werk des Philosophen herauseskamotiert werden, damit die Unbequemlichkeiten, die eine wirkliche Analyse seiner gesellschaftlichpolitischen Haltung für die herrschenden Ideologien mit sich gebracht hätten, aus der Welt geschafft wurden. Fichte und die deutsche Geschichte: das heißt einmal, die Aufmerksamkeit gerade auf diejenigen seiner Äußerungen zu richten, in denen er sich direkt mit den politischen Erscheinungen seiner Zeit und mit Ereignissen der deutschen Vergangenheit beschäftigt; das heißt aber auch, nachzuweisen, inwiefern sein Werk von den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Klassenkämpfen seiner Gegenwart bestimmt wurde und welchen gesellschaftlichen Bedürfnissen seine philosophischen, politischen und historischen Ansichten Ausdruck gaben. Christoph Wilhelm Hufeland, der berühmte Arzt und Freund Fichtes, bezeichnete die „Uberkraft" als das Hauptkennzeichen seiner Persönlichkeit. „Ich habe nur eine Leidenschaft, nur ein Bedürfnis, nur ein volles Gefühl meiner selbst, das: außer mir zu wirken, je mehr ich tue, je glücklicher scheine ich mir." 8 So richtig diese Feststellung, so echt jenes Selbstzeugnis ist: sie ändern nichts daran, daß Johann Gottlieb Fichte die bedeutendste Erscheinung des demokratischen Kleinbürgertums in Deutschland um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert war. Zu kleinbürgerlichen Zügen gehört, rein persönlich betrachtet, jene Unsicherheit, die in Prahlerei umschlägt9, gehört die Überempfmdlichkeit, mit der er etwa auf Schillers kritische Bemerkungen zu seinem Aufsatz für die „Hören" reagierte.10 Ausschlaggebend für diese Charakteristik sind aber vor allem seine politischen und historischen Auffassungen, in denen, wie bei sonst kaum einem Schriftsteller und Gelehrten der Zeit, die Wünsche und Forderungen des demokratischen Kleinbürgertums zum Ausdruck kamen. ,,In betreff ihres Inhalts an und für sich hat die Fichtesche Philosophie keine große Bedeutung", stellte Heinrich Heine Kreis der Zuhörer der „Reden an die deutsche Nation" nur klein war, daraus aber fälschlich abgeleitet wird, Fichtes Gedanken über die Notwendigkeit einer Reform und sein Aufruf zum Befreiungskampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft seien überhaupt kaum beachtet worden. 7 Nach Treitschke, Heinrich v., Deutsche Geschichte, Bd. 1, Neuausg. Leipzig 1927, S. 204, hätte Fichte gar, „ohne es zu wissen", „die mannhaften Tugenden des alten Preußen verherrlicht". 8 Fichte, J. G., Briefwechsel, Bd. 1, a. a. O., S. 62, an Johanna Rahn. * Vgl. etwa den Brief, in dem er am 20. Juni 1790 seinen Eltern mitteilt, er gedenke es „entweder sehr hoch zu bringen oder ganz zu verlieren" und sich dabei auf einen Professor, der sein Freund sei, beruft (Briefwechsel, Bd. 1, a. a. O., S. 103). w Ebenda, S. 474. 3
Geschichtswissenschaft, Bd. I
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in seiner „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" fest, um fortzufahren: „Sein ganzes Leben war ein beständiger Kampf.'' So werden wir im folgenden — im Gegensatz zur eingangs charakterisierten Fichte-Legende gerade von den konkreten politischen Stellungnahmen und Kämpfen Fichtes ausgehen, um eine Skizze seiner Persönlichkeit und seines Werkes zu geben, und es wird sich zeigen, daß auf diesem Wege und nur auf diesem Wege auch die Wurzeln seiner philosophischen Auffassungen zu finden sind. Ein Jahr vor dem Ende des Siebenjährigen Krieges geboren, stammte Fichtt-, wie viele der bedeutendsten Vertreter der Aufklärungsbewegung, aus Sachsen. Aber in dem Dorf Rammenau in der Oberlausitz war von der geistigen Entwicklung der Zeit sicherlich wenig zu spüren gewesen und gewiß am wenigsten in dem Hause des armen Leinenwebers Fichte. Johann Gottliebs einzige geistige Nahrung war zunächst die sonntägliche Predigt des Dorfpfarrers. Beim Gänsehüten auf dem Gemeindeanger pflegte er sie auswendig wiederzugeben. Ein Mäzen, der Freiherr von Miltitz, ließ ihn 1774 auf die Fürstenschule Pforta zur Ausbildung als Theologen geben. Dort aber erlebte er unmittelbar den Druck der tonangebenden Mitschüler aus wohlhabenden Familien. Ein Brief an den Vater zeigt, wie ihn eine gute Zensur erschreckt, weil sie zur Zahlung von Kuchen für die Kameraden verpflichtet, und in einem anderen Brief muß er die Aufforderung des Vaters, Strumpfbänder unter den Mitschülern zu verkaufen, ablehnen, da man ihm „entsetzlich aushöhnen würde". 11 Der Studiengang, den ihm sein adliger Gönner vorgeschrieben hatte, war Fichte bald verleidet. An der Universität Jena und später in Leipzig genügten ihm theologische Vorlesungen nicht mehr. Da sich seine Aufmerksamkeit auf die Jurisprudenz und die Philologie konzentrierte, strich ihm die Familie Miltitz alle Zuwendungen, so daß er auf das Stundengeben angewiesen war und schließlich das Studium abbrechen und - wie so viele deutsche Intellektuelle seiner Zeit - Hofmeister werden mußte. Seine philosophischen Anschauungen tendierten damals offenbar zum Spinozismus, während seine gesellschaftlichen Ansichten vor allem von Rousseau bestimmt waren. 1788 entstand das interessanteste Dokument seiner Frühperiode, die „Zufälligen Gedanken in einer schlaflosen Nacht", die von der Heuchelei in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern ihren Ausgang nahmen, sich aber schnell zu einer umfassenden Zeitkritik überhaupt erheben. Der Plan eines Buches wird entworfen, das „das ganze Verderben unserer Regierungen und unserer Sitten" 12 in der Form eines Reiseberichtes „aus den neu entdeckten südlichen Polarländern" schildern soll. Eine solche Einkleidung, wie sie in Frankreich auch von Montesquieu und Voltaire verwendet wurde, wie sie in Deutschland etwa in „Hans-Kiek-in-die-Welts-Reisen" von Rebmann als geeignete Form für die Gesellschaftskritik benutzt wurde, empfahl sich aus zwei Gründen: zum einen, weil sie einen gewissen Schutz vor Eingriffen der Zensur bot, zum " "
Ebenda, S. 2. Ebenda, S. 11.
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anderen, weil diese freiere Form ermöglichte, Wesentliches satirisch hervorzuheben und gleichzeitig dem Unterhaltungsbedürfnis eines Zeitalters, das demokratische Ideen im exotischen Milieu wiederzufinden hoffte, Rechnung trug. Die „Zufälligen Gedanken" setzen sich mit politischen Erscheinungen - dem Druck des Adels, der Verschwendung an den Höfen, der Ungerechtigkeit der Justiz - auseinander und schildern die ideologische Situation: den Verfolgungsgeist des Klerus, die „Vernachlässigung des allgemein Nützlichen" in der Wissenschaft und die „Frivolität" der Künste. Besonders scharf kritisiert Fichte die zeitgenössischen Erziehungsmethoden, vor allem die „Entnervung der höheren Stände." Aber auch auf Handel und Ackerbau richtet sich die Aufmerksamkeit: der Geldstolz der Kaufleute (ausdrücklich heißt es: „Modell der der Leipziger") einerseits und die „äußerste Verachtung" des Ackerbaus, das „Elend der Ackerbauer" werden andererseits kritisch skizziert. Es wurde bereits eingangs festgestellt, daß diese Notizen programmatischen Charakter haben. Alle Motive, die in Fichtes späteren politischen Schriften erschienen, sind mit einer Ausnahme hier bereits ausgeführt oder wenigstens angedeutet. Diese Ausnahme ist die Forderung nach der nationalen Einheit. Es hängt natürlich mit der Schwäche der demokratischen Bewegung zusammen, daß in dieser Arbeit, die im Jahr vor dem Ausbruch der französischen Revolution entstand, diese Seite der politischen Ansichten Fichtes noch nicht hervortrat. Daß diese Forderung erst später in das - im übrigen kaum veränderte — System der politischen Ideen Fichtes aufgenommen wurde, weist aber auch schon darauf hin, welchen sozialen Inhalt für ihn die nationale Frage hatte. Die Einheit des Werkes Fichtes besteht eben darin, daß alle die Momente einer Kritik der zeitgenössischen deutschen Zustände vom Standpunkt des demokratischen Kleinbürgertums, wie sie in den „Zufälligen Gedanken in einer schlaflosen Nacht" entwickelt worden waren, erhalten blieben. Wenn wir vier Perioden im Werke * Fichtes unterscheiden, so bildet den Maßstab der Periodisierung die Frage, welches dieser Momente jeweils in den Vordergrund trat. In der ersten Periode des Schaffens Fichtes, die bis zum Jahre 1794 reicht, bilden die beiden Schriften zur Verteidigung der französischen Revolution den Mittelpunkt. In diesen Schriften erhebt sich Fichte bis zur Forderung einer umfassenden demokratischen Umgestaltung der deutschen Verhältnisse, in der alle Motive aus den „Zufälligen Gedanken" von 1788 verwendet werden, ja noch mehr, in der diese Forderungen, ins Positive gewendet, der Begründung der Forderung nach Beseitigung der Herrschaft des Feudalismus, des Absolutismus und des Klerikalismus mit dem Ziel der Schaffung einer bürgerlichen Republik dienen. Diese Periode endet etwa zu der Zeit, da die französische Revolution mit dem Sturz der Jakobinerherrschaft abgeschlossen ist. Die zweite Periode findet Fichte (1794-1799) als Professor in Jena. Nach dem Scheitern der Hoffnung auf eine Umgestaltung in Deutschland steht jetzt im Mittelpunkt die Ausarbeitung der erkenntnistheoretischen, metaphysischen und staatsphilosophischen Begründung der Forderungen der kleinbürgerlichen 3*
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Demokratie, wenn auch ihre Verwirklichung in weitere Ferne gerückt ist. Diese Periode endet mit dem Atheismusstreit und der Vertreibung Fichtes aus Jena. Die dritte Periode (1800-1806) ist im ganzen eine Periode der Resignation. Seines Jenaer Lehrstuhls enthoben, findet Fichte in Berlin weder ein ihm angemessenes Wirkungsgebiet noch den Anschluß an einen größeren Kreis Gleichgesinnter. Die letzte Periode im Leben und Schaffen Fichtes (1806-1814) hat den Aufschwung der bürgerlich-nationalen Bewegung zur Grundlage, den die Zerschlagung des altpreußischen Feudalstaates durch die französischen Armeen im Kriege von 1806/1807 auslöste. Auch für Fichte war dies ein neuer Aufschwung: die bürgerlich-antifeudale Tendenz blieb erhalten, wurde aber weitergeführt zu der Einsicht, daß eine Verwirklichung des 1788 entworfenen Programms nur möglich sei, wenn die nationale Zersplitterung überwunden und die Unabhängigkeit Deutschlands gesichert sei. Eine demokratische Nationalerziehung soll der erste Schritt zur Verwirklichung des politischen Programms Fichtes sein. In dem „Entwurf zu einer politischen Schrift im Frühling 1 8 1 3 " wird dieses Programm noch einmal zusammengefaßt — eine Zusammenfassung, die man als Fichtes politisches Testament bezeichnen kann. Dieses Testament aber ist nichts anderes als die Erneuerung der 1788 in den „Zufälligen Gedanken" niedergelegten Forderungen auf einer neuen, höheren Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung. I. Fichte erlebte den Ausbruch der französischen Revolution in Zürich. Von 1788 bis 1790 war er dort als Hauslehrer tätig. Er lernte Lavater und durch diesen einen Schwiegersohn Klopstocks, den Beamten Hartmann Rahn kennen. Die Gemeinsamkeit der demokratischen Anschauungen wurde ein festes Band zwischen ihnen. Rahns Tochter Johanna, mit der sich Fichte bald verlobte, teilte diese Anschauungen. Nur im Briefwechsel zwischen Fichte und seiner Braut finden in dieser Zeit seine politischen Anschauungen einen unverhüllten Ausdruck. So berichtet er in einem Brief vom 5. September 1790 aus Leipzig über den sächsischen Bauernaufstand, der im August des Jahres so weite Gebiete ergriffen hatte, daß der feudale Verwaltungsapparat seine Funktionen teilweise nicht mehr ausüben konnte und daß für dessen Niederwerfung die Regierung etwa 5000 Mann aussandte: „Wie errietest Du, daß Sachsen Unruhen bevorstehen? Wirklich hat seit einigen Wochen das Feuer des Aufruhrs im stillen gelodert, und vorige Woche ist es in helle Flammen ausgeschlagen. In ganz Sachsen war vielleicht kein Ort ruhiger als Leipzig. Die Bauern wüteten gegen ihre Herrschaften. Und - siehe den Nationalcharakter! - einige Regimenter sind marschiert; einige billiger denkende Herrschaften haben etwas nachgegeben, und heute, da ich dieses schreibe, ist nach allen Nachrichten, alles ruhig . . . An eine Verbesserung von Grund auf ist jetzt noch nicht zu denken. Der Bauer, welcher allein dabei gewinnen könnte, ist dazu noch nicht aufgeklärt genug, ungeachtet er Schlözers „Staats-
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anzeiger" liest, und die höheren Stände alle können dabei nur verlieren. Es sind also nur Palliative, die den einstigen Ausbruch des Feuers mit doppelter Kraft nicht verhindern werden."13 Kurz darauf überwarf sich Fichte mit der Familie, für die er in Zürich Hauslehrerdienste verrichtete. Schon einmal hatte er sich gegen einen Freund des Hauses zur Wehr gesetzt, der „gegen seinen Stand, Verstand und Kenntnisse schneidende Verachtung gezeigt hatte". 14 Als schließlich die Familie anfing, die Bedienten gegeneinander auszuspielen, um in den Kindern das Gefühl sozialer Überlegenheit zu wecken, gab er seine Hofmeisterstelle auf und verließ Zürich. Auf der Suche nach einer neuen Stellung als Hauslehrer ging er zunächst nach Leipzig und lebte dort monatelang in bitterer Not, da keine Stelle zu finden war. In dieser Zeit traf er auf einen Studenten, der Unterricht in der Philosophie Kants nehmen wollte — einer Philosophie, die Fichte selbst bis dahin noch unbekannt war. Nach ihrem Studium beginnt seine Laufbahn als philosophischer Schriftsteller und politischer Publizist. In einem Brief aus dem November 179015 bezeichnet er das Ergebnis des Studiums der Philosophie Kants als eine Revolution seiner Denkart. Fichte wendet das Problem der Kantischen Philosophie sofort ins Soziale: er stimmt dem Versuch Kants, aus einer idealistischen Philosophie die Freiheit des menschlichen Willens zu begründen, deshalb zu, weil er aus dieser Lehre gesellschaftliche Konsequenzen ziehen zu können meint. „Es ist mir . . . sehr einleuchtend, daß aus dem . . . Satz der Notwendigkeit aller menschlichen Handlungen sehr schädliche Folgen für die Gesellschaft fließen, da das große Sittenverderben der sogenannten besseren Stände größtenteils aus dieser Quelle entsteht." Ja noch mehr: Fichte erklärt ausdrücklich, warum er die Philosophie Kants angenommen habe: „Da ich das außer mir nicht ändern konnte, so beschloß ich, das in mir zu verändern." Wenn Fichte in den „Zufälligen Gedanken" als Hauptkettenglied einer gesellschaftlichen Erneuerung die Erziehung betrachtet hatte, so schien ihm die Philosophie Kants jetzt die Begründung für diese Ansicht zu vermitteln. Zugleich meinte er, in der Philosophie Kants die Elemente eines metaphysischen Systems finden zu können, aus dem sich die Prinzipien aller Wissenschaften ableiten ließen. Den Versuch einer solchen Anwendung der Philosophie Kants bildete die „Kritik aller Offenbarung", zur Einführung bei Kant persönlich verfaßt und mit dessen Vermittlung 1792 anonym veröffentlicht. Zu dieser Zeit sah Fichte noch „in der französischen Revolution eine Bewegung, die den breiten Volksmassen kaum Nutzen bringt und eben daher wenig zweckvoll ist, und richtete seine ganze Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage des Volkes, die er in seinen politischen Bestrebungen letzthin immer im Auge hatte, auf Reformen von oben" 16 Im Ebenda, S. 129. " Ebenda, S. 15. 15 Ebenda, S. 142 f.18 Buhr, Manfred, Johann Gottlieb Fichte, in: Forschen und Wirken, Festschrift zur 150-Jahr-Feier der Humboldt-Universität Berlin 1810—1960, Bd. 1, Berlin i960, S. 46. 13
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Frühjahr 1793 nahmen die demokratischen Bewegungen in vielen deutschen Staaten einen neuen Aufschwung. In Frankreich war das Königtum gestürzt, und der Übergang der Macht an das demokratische Kleinbürgertum, das von den Jakobinern repräsentiert wurde, bereitete sich vor. Am 18. März rief der Rheinischdeutsche Nationalkonvent die Mainzer Republik, die erste demokratische Republik auf deutschem Boden, aus. Im April begann in den schlesischen Gebirgsdörfern der große Weberaufstand, der einige Wochen später durch einen Generalstreik in Breslau unterstützt wurde. Zu dieser Zeit begann Fichte sich noch gründlicher mit der französischen Revolution zu beschäftigen. Eindrücke aus seiner unmittelbaren Umgebung trugen dazu bei, seine Sympathien zu vertiefen. Er lebte zu dieser Zeit in Danzig, das mit dem am 23. Januar 1793 unterzeichneten preußisch-russischen Vertrag über die zweite Teilung Polens der preußischen Militärmonarchie zugestanden worden war. In Danzig bestanden keine Sympathien für den Hohenzollernstaat: während die Kaufleute eine Abschnürung des Handels befürchteten, schreckte die Werktätigen vor allem die Furcht, zum preußischen Heere eingezogen und in den Interventionskrieg der Feudalmonarchien gegen die französische Republik getrieben zu werden. (Als am 28. März, zu einer Zeit also, wo Fichte die Stadt bereits wieder verlassen hatte, die preußischen Truppen sich anschickten, in die Stadt einzurücken, wurde ihnen von den Stadtsoldaten, die unter anderem durch Matrosen und Handwerksgesellen unterstützt wurden, Widerstand geleistet, der erst nach einer regelrechten militärischen Attacke von den preußischen Truppen niedergeworfen wurde.) Die erste der beiden Revolutionsschriften Fichtes, im Frühjahr 1793 unter dem Eindruck dieser Stimmimg der Bevölkerung Danzigs verfaßt, trug den Titel „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten". In der Form war dies eine Ansprache an die Fürsten - tatsächlich aber ein entschiedener Angriff gegen Feudalismus und Absolutismus. Die historische Entwicklung erschien hier als Prozeß der „Verminderung unseres Elends und Erhöhung unserer Glückseligkeit"17. Wie dies Rousseau gelehrt hatte, wurde die Denkfreiheit als unveräußerliches Menschenrecht bezeichnet. Zu einer Zeit, als immer schärfere Maßnahmen zur Unterdrückung aller freiheitlichen Regungen getroffen wurden, verteidigte Fichte damit entschlossen die Freiheit der Verbreitung bürgerlicher Ideen. Die aktuelle Beziehung auf die französische Revolution ist noch stärker in der zweiten der beiden Revolutionsschriften des Jahres 1793, dem „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution". Sie nahm die „Untersuchungen über die französische Revolution" August Wilhelm Rehbergs zum Anlaß. Auch hier bildete die Lehre vom Gesellschaftsvertrag die Grundlage, um die französische Revolution zu verteidigen. Als Ziel des Gesellschaftsvertrages bezeichnete Fichte die „Kultur zur Freiheit" und leitete daraus die Rechtmäßigkeit revolutionärer Veränderungen von Staatsverfassungen ab, die diese Kultur zur Freiheit behindern. Fichte verteidigte nicht nur die Recht» Fichte, J. G., Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 6, Leipzig (1844) S. 6.
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mäßigkeit einer Revolution überhaupt, sondern darüber hinaus besonders entschieden die Abschaffung adliger und geistiger Privilegien in Frankreich. In diesem Zusammenhang trug er seine Auffassungen vom Ursprung des Feudalsystems vor. Seiner Ansicht nach hätte es bei den germanischen Völkerschaften keine adligen Vorrechte gegeben. „Der Eroberer teilte, wie er schuldig war, die Beute unter seine getreuen Waffenbrüder."18 Waffenbrüderschaft wurde also Grund des Lehnsbesitzes. Später hätte sich das Verhältnis umgekehrt: mit der Erblichkeit wurde Lehnsbesitz Grundlage der Waffenbrüderschaft, die die Lehnsleute dem König zu leisten hatten. Interessant ist an diesen Überlegungen natürlich nicht, ob Fichte den historischen Prozeß richtig wiedergegeben hat — wir werden sehen, daß gerade das Thema der Entstehung der Feudalordnung ihn immer wieder beschäftigt hat, wobei aus einem verhältnismäßig mageren Tatsachenmaterial immer neue Konstruktionen von ihm abgeleitet werden —, sondern die Gesamttendenz dieses Buches, die einer Anwendung der Vertragstheorie auf die Geschichte. Noch in einer anderen Beziehung wandte sich Fichte gegen herrschende gesellschaftliche Auffassungen: er kritisierte entschieden die Lehre vom europäischen Gleichgewicht, „den Abgrund der Geheimnisse der Politik". In dem „Beitrag" wies er nach, daß diese Lehre eine bloße Ideologie zur Rechtfertigung der Kabinettskriege der absoluten Fürsten geworden sei: „Jede uneingeschränkte Monarchie . . . strebt unaufhörlich nach der Universalmonarchie. Laßt uns diese Quelle verstopfen, so ist unser Übel aus dem Grunde gehoben. Wenn uns niemand mehr wird angreifen wollen, dann werden wir nicht mehr gerüstet zu sein brauchen; dann werden die schrecklichen Kriege und die noch schrecklichere stete Bereitschaft zum Kriege, die wir ertragen, um Kriege zu verhindern, nicht mehr nötig sein."19 Eng mit der Forderung nach Frieden wird verbunden die Forderung, daß allen das Lebensnotwendige zur Verfügung stehe. „Daß nicht essen solle, wer nicht arbeitet, fand Herr R. (Rehberg - J. S.) naiv: er erlaube uns, nicht weniger naiv zu finden, daß allein der, welcher arbeitet nicht essen, oder das Uneßbarste essen solle."20 Das ist eine Forderung, die weit über bloße Sympathie für bürgerlichdemokratische Ideen hinausgeht. Sie ist eine konkrete Anwendung des Gleichheitsideals Rousseaus auf die ökonomischen Verhältnisse - eine Anwendung, die Fichte, auch wenn er manche der in den „Beiträgen" niedergelegten Auffassungen später wieder aufgegeben hat21, doch stets weiter verfolgte. II. Es ist hier nicht der Ort, den subjektiven Idealismus der Fichteschen „Wissenschaftslehre" - jenes Systems, das Fichte in den folgenden Jahren konstruierte 20 Ebenda, S. 184. »8 Ebenda, S. 200. « Ebenda, S. 96. 21 Es darf aber nicht übersehen werden, daß er 1795 eine zweite unveränderte Auflage seines „Beitrags" veröffentlichte.
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im einzelnen zu charakterisieren. Aus dem bisher Gesagten dürfte aber bereits deutlich geworden sein, daß dieses System zunächst nicht als Versuch der Begründung einer neuen Erkenntnistheorie oder Metaphysik entstand, sondern primär die sozialphilosophischen, ethischen und politischen Auffassungen Fichtes begründen sollte. So war auch seine Berufung als Professor der Philosophie an die Universität Jena in mehrfacher Beziehung Angelegenheit der Politik. Schon bald nach seinem Regierungsantritt hatte Karl August begonnen, die Universität zu fördern. Von einer Vergrößerung der Studentenzahl erhoffte man nicht zuletzt, daß die Einkünfte der Bürger der Stadt, die damals von der Universität weitgehend abhängig waren, wachsen und sich damit auch ihr Steueraufkommen erhöhen würde. Die Übersiedlung Reinholds, der 1787 auf Vorschlag Wielands den philosophischen Lehrstuhl erhalten hatte, nach Kiel wurde zum Anlaß der Berufung Fichtes. Sein Name war dort bereits ein Begriff. Schon die Allgemeine Literaturzeitung hatte die „Kritik aller Offenbarung", die anonym erschienen und fast überall als Werk Kants betrachtet worden war, dem Königsberger Philosophen zugeschrieben, und Kant hatte in ihr bekanntgegeben, daß Fichte der Verfasser sei. Am Weimarer Hof gab es zunächst ernste politische Bedenken gegen diese Berufung. So fragte sich der in Universitätsangelegenheiten maßgebende Geheimrat Voigt, als er an Hufeland über den Plan einer Berufung Fichtes schrieb: „Ist er klug genug, seine demokratischen Phantasien (oder Phantastereien) zu mäßigen" (20. Dezember 1793), und er bat Hufeland: „Helfen Sie, daß er die Politik als eine danklose Spekulation beiseite läßt" (18. Mai 1794). Hufeland riet Fichte ausdrücklich, „die demokratische Partei nur in Rücksicht des Rechts und ganz in abstracto in Schutz"22 zu nehmen. Maßgebend bei der Überwindung dieser Bedenken dürfte die Rücksicht auf den erhöhten Glanz, den die Universität durch die Berufung Fichtes erhielt, gewesen sein. Tatsächlich brachten die Studenten dem neuen Philosophie-Professor nach seiner Ankunft im Mai 1794 Ovationen dar, und die Zahl der Einschreibungen wuchs in diesem Jahr wesentlich. Die Lehrtätigkeit, die Fichte im Sommer 1794 aufnahm, war für ihn ein Teil der Erziehung fortschrittlicher Intellektueller. Seine Vorlesungen „Uber die Bestimmung des Gelehrten" (1794) bezeichnen als die Aufgabe des Gelehrten, die „Aufsicht über den Fortgang des Menschengeschlechts" zu üben und diesen Fortgang zu befördern. Schon die Veröffentlichung dieser Vorlesungen sollte dazu dienen, Gerüchte über geheimnisvolle Umtriebe in seinen Kollegs zu widerlegen (so hieß es, Fichte habe vom Katheder aus erklärt, es werde in einigen Jahren in Deutschland keine Fürsten mehr geben). Weitere Zusammenstöße mit politischen Gegnern und neidischen Kollegen blieben nicht aus. Fichte wird sich öffentlich wohl nicht so deutlich geäußert haben wie in dem Brief an seine Frau, in dem er über Reiseeindrücke aus dem Rheinland berichtet: „Die Stimmung der Einwohner, deren Ländereien durch die Franzosen vernichtet sind, ist dennoch sehr zu ihrem Vorteile. Der gemeine Mann liebt sie; und wer nichts mehr hat, den 22
Fichte, J. G., Briefwechsel, Bd. 1, a. a. O., S. 320, Dezember 1793.
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ernähren sie; nur die privilegierten Stände sind wütend gegen sie. In Mainz und in Frankfurt wünscht man sie zurück. Alles ohne Ausnahme haßt die preußischen und österreichischen Völker und verachtet und verlacht sie und spottet ihrer schrecklichen Niederlagen."23 Da die demokratischen Anschauungen das Wesen seiner Philosophie bildeten, war es ihm natürlich nicht möglich, den Wünschen des Hofes entsprechend, die „demokratische Partei nur ganz in abstracto in Schutz zu nehmen". Im Gegenteil: die „Grundlage des Naturrechts" (1796) war in Wirklichkeit ein Versuch, die Ideale der kleinbürgerlichen Demokratie philosophisch zu begründen*. „Das Volk ist nie Rebell, und der Ausdruck Rebellion, von ihm gebraucht, ist die höchst« Ungereimtheit, die je gesagt worden ist, denn das Volk ist in der Tat und nach dem Recht die höchste Gewalt, über welche keine geht, die die Quelle aller anderen Gewalt, und die Gott allein verantwortlich ist." 24 Auch die Forderung „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen", die in den Revolutionsschriften proklamiert worden war, erhielt in der Lehre vom Gesellschaftsvertrag und vom Eigentum, das auf Arbeit beruht, ihre Begründung: „Der Vertrag lautet in dieser Rücksicht so: jeder von allen verspricht, alles ihm Mögliche zu tun, um durch die ihm zugestandenen Freiheiten und Gerechtsame leben zu können; dagegen verspricht die Gemeine im Namen aller einzelnen, ihm mehr abzutreten, wenn er dennoch nicht sollte leben können."25 Besonders interessant ist aber, daß das kleinbürgerlich-demokratische Ideal einer homogenen Gesellschaft kleiner Produzenten auch auf die äußeren Beziehungen der Staaten angewendet wurde. In der Rezension von Kants „Zum ewigen Frieden" (1795) versucht Fichte nachzuweisen, daß eine solche Gesellschaft auch den Frieden garantieren würde. „Durch das fortgesetzte Drängen der Stände und der Familien untereinander müssen sie (die Staaten—J. S.) endlich in ein Gleichgewicht des Besitzes kommen, bei welchem jeder sich erträglich befindet."26 Bald spitzten sich die Konflikte in Jena zu. Das Konsistorium bezeichnete die Tatsache, daß er — wie dies übrigens auch andere Professoren zu tun pflegten auch sonntags Vorlesungen hielt, als „intendierten Schritt gegen den öffentlichen Landesgottesdienst". Herzog Karl August griff schließlich persönlich ein und verhinderte dieses Mal noch, daß die feudale und klerikale Reaktion Fichte vertrieb. Einen weiteren schweren Konflikt veranlaßte Fichtes Versuch, die Studentenorganisation zu reformieren. Er förderte eine „Gesellschaft junger Männer", für die wahrscheinlich jene „Helvetische Gesellschaft" das Vorbild war, die unter Beteiligung des Schweizer Philosophen und Pädagogen Iselin 1761 begründet wurde und an deren Tagung im Mai 1789 Fichte teilgenommen hatte. Gleichzeitig bemühte er sich um die Auflösung der reaktionären Studentenorden, in denen er das Häupthindernis für das Eindringen bürgerlich-fortschrittlicher Ideen in die Studentenschaft sah. Wie dies in derartigen Fällen üblich ist, antworteten 23
Ebenda, S. 360, Fichte an seine Frau am 12. Mai 1794. Derselbe, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 3, Leipzig o. J., S. 182. 25 Ebenda, S. 215. 26 Derselbe, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 8, S. 435. 2
auch von Muratori beeinflußt, jenem großen italienischen Historiker des 18. Jahrhunderts, der die italienischen Geschichtsdenkmäler des Mittelalters herauszugeben begonnen hatte. Auch die deutsche klassische bürgerliche Philosophie, die ihren Höhepunkt mit Rankes Berliner Fakultätskollegen Hegel erreichte, blieb nicht ohne Bedeutung für die Herausarbeitung der kritischen Grundsätze Rankes, mochte Ranke auch in vielen wesentlichen Fragen im Gegensatz zu der Hegeischen idealistischen Dialektik stehen. Rankes quellenkritische Anstrengungen sind auch nicht zu verstehen, wenn man nicht seine starke Abneigung gegen die damals stark beachtete historische Romanliteratur nach Art Walter Scotts und der Romantiker in Betracht zieht. Viele seiner Äußerungen, so zum Beispiel, daß es nur auf die „nackte Wahrheit ohne allen Schmuck" 3 ankomme, sind vor allem aus dem Gegensatz zu den „Romanciers" heraus zu begreifen. Um das bei allen Vorarbeiten und Vorläufern beträchtliche Verdienst Rankes in quellenkritischer Hinsicht richtig einzuschätzen, ist es notwendig, sich eine Vorstellung darüber zu machen, wie schlecht es noch im dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts um die Quellenforschung stand. Kritisch bearbeitete Quelleneditionen, wie sie Muratori oder Mabillon vor allem an Urkunden vorgenommen hatten, waren vor Ranke eine Ausnahme. Im allgemeinen lagen zum Beispiel die mittelalterlichen Quellen zumeist in einer Fassung vor, die keineswegs vertrauenswürdig war. Die Textausgaben wimmelten von Fehlern, zwischen den ursprünglichen Nachrichten und späteren Zusätzen wurde gar nicht oder kaum unterschieden, sie waren an verschiedenen Stellen und in verschiedener Art gedruckt worden. Ranke konnte bei seinen Archivstudien ganz besonders anhand von solchen Quellen, die er erstmalig nach seinen kritisch-philologischen Methoden durchleuchtete und auswertete, den Wert seines wissenschaftlichen Vorgehens um so überzeugender nachweisen, als er sich von Anfang an bemühte, die Quellenkritik als eine „lehrbare" Wissenschaft zu betreiben. Dabei ging es ihm hauptsächlich darum, überall, wo dies möglich schien, aus den überlieferten Texten die tatsächlich zuverlässigsten Aussagen „herauszudestillieren". 5
Ranke, Leopold v., Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber, Leipzig 1824, 1. Abschn., S. 28. Vgl. S. 247f.
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Ranke war nicht der erste Historiker, der regelrechte Seminarübungen abhielt, aber er war der erste, der hinsichtlich der Quellenkritik in bisher nicht erlebtem Maße schulbildend wirkte. Während er sich in seinen Publikationen hauptsächlich der neueren Geschichte zuwandte, hat er in seiner Seminartätigkeit quellenkritische Übungen von mittelalterlichen Texten bevorzugt. Zweifellos hat das „Massenproblem" in der Quellensituation der neueren Geschichte auch Ranke beunruhigt, so daß er es aus didaktischen Gründen für nützlicher hielt, den Studenten seine kritischen Grundsätze an Hand der leichter überschaubaren und zugänglicheren Zeugnisse der mittelalterlichen Geschichte nahezubringen. Dabei spielen allerdings auch noch andere Gründe mit, wie der Wunsch Rankes, von den Auseinandersetzungen in der Gegenwart „verschont" zu bleiben. In seiner Seminarmethodik lehnte er sich anfangs an die Erfahrungen an, die er selbst als Student im philologischen Seminar der Leipziger Universität, vorzugsweise in den klassischen alten Sprachen, gesammelt hatte. Die Ausarbeitung der formal-quellenkritischen Methode durch Ranke war an bestimmte sozialökonomische Voraussetzungen geknüpft, ihre Anwendung ist jedoch nicht in allen ihren Bestandteilen als klassengebunden anzusehen. Ihre überwiegende, technisch-formale Seite gibt deshalb auch noch wenig Aufschluß über den Klassenstandpunkt Rankes. Dies gilt um so mehr, als er die Momente der „äußeren" Kritik bevorzugte, die sich mit der Entstehung und Datierung der Quellen und der Analyse ihrei Bestandteile auseinandersetzt. Sie hatten bei Ranke den Vorrang gegenüber denen der „inneren" Kritik, das heißt der Beschäftigung mit dem Autor, seinen Ansichten und dergleichen. Dies geschah nicht zuletzt, weil die „äußere" Kritik damals in einem viel höheren Grade von einem Lehrer an seine Schüler weitergegeben werden konnte als die „innere" Kritik. Es gibt bei Ranke Hinweise darauf, daß er seine quellenkritische Methode nicht als Selbstzweck auffaßte, sondern als Mittel zum Zweck. Dennoch war Ranke nicht unschuldig daran, daß bereits lange vor seinem Tode die Ansicht in der bürgerlichen Geschichtsschreibung Deutschlands vorherrschend wurde, die nach den quellenkritischen Grundsätzen Rankes bearbeiteten historischen Zeugnisse würden im wesentlichen bereits die Wissenschaftlichkeit der Historie garantieren. Die Entstehung dieser Auffassung ist nicht zuletzt daraus zu erklären, daß die quellenkritische Methode durch ihr unzweifelhaftes Verdienst, die historische Überlieferung von vielen Verfälschungen und Entstellungen befreit zuhaben, sich rasch Ruhm erwarb und überschätzt wurde. Rankes Ansichten wurden jedoch von Anfang an nicht unwidersprochen hingenommen. An der Berliner Universität trat vor allem der Historiker Heinrich Leo (17991878) der Hochschätzung der Rankeschen quellenkritischen Methode entgegen. Er verspottete Rankes „Kleinmalerei" der Geschichte, durch die diese zu einem „Spreuhaufen einzelner Data" 6 werde, der die „lebendige geistige Auffassung der Geschichte" ganz vermissen lasse. Leo stand damals unter dem starken Einfluß ü
Zit. nach M.autz, Kurt, Leo und Ranke, in: Deutsche Vierteljahrschrift für Literatur- und Geistesgeschichte, 27. Jg., 1953, H. 1, S. 234.
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Hegels, der immer wieder darauf hinwies, daß alles im einzelnen „Bekannte" noch längst nicht in seinem Zusammenhang „erkannt", das heißt in seinem Wesen begriffen ist. Sybel hat in seiner Gedächtnisrede auf Ranke behauptet, es sei dessen Absicht gewesen, „daß seine Schüler ihre wissenschaftlichen Gebäude niemals ohne festes Fundament aufführen, aber auch, daß sie nicht die Errichtung fester Kellergewölbe für die höchste Aufgabe ihres Berufes halten sollten" 7 . Nicht nur seine Epigonen, sondern bereits Ranke selbst verfiel jedoch mehr als einmal dem Irrtum, daß der sogenannte bloße Fakt eine letzte unableitbare Gewißheit bedeute und die Darlegung der Tatsachen das Hauptmerkmal der Wissenschaftlichkeit sei, wenn die Fakten nur kritisch gesichert seien. Bei Ranke wurde das richtige Wechselwirkungsverhältnis zwischen dem Allgemeinen und Besonderen der Geschichte stark zugunsten des zweiten abgewandelt. So war er zwar in der Lage, seine Schüler auf die Aufspürung und Analyse des Singiilären zu orientieren, rüstete sie jedoch nicht mit dem richtigen Kompaß aus, um sich in der Fülle des Details zurechtzufinden. Er gab ihnen nicht das Rüstzeug zur Deutung des geschichtlichen Gesamtprozesses, die der einzelnen Tatsache erst ihren wissenschaftlich erfaßbaren Sinn verleiht. Ranke meinte durch die Herstellung der „reinen" Quellen nach Abstreifung jeder Zutat und durch die lückenlose Analyse jeder Quelle das subjektive Element aus der Geschichtsschreibung ausscheiden zu können. Er hielt irrigerweise die von ihm über alles gestellte „Objektivität" für gewährleistet, wenn er nicht nur die Quellen, sondern auch die Art ihrer Benutzung nachprüfbar machte. Dabei übersah Ranke, daß auch das sogenannte unumstößliche Faktum, wenn es nicht in einep allgemeinen Zusammenhang hineingestellt wird, ein subjektives Element in der Geschichtsschreibung darstellt. Deshalb können das Sammeln solchen Tatsachenmaterials, die Auswahl und die damit zusammenhängenden Fragen keineswegs als „objektive" Grundlage der Geschichtsschreibung gelten. Zwar war Ranke durchaus nicht blind für das Vorhandensein subjektiver Elemente in der Geschichtsschreibung. Ersah diese Elemente zum einen in den „zufälligen und natürlichen Schranken des menschlichen Daseins", zum zweiten in der bewußten Stellungnahme zu den Erscheinungen, der kein Historiker ganz aus dem Wege gehen könne. Die „Objektivität" hielt Ranke in dem Falle für gegeben, wenn der Historiker gewissermaßen zu einem bloßen Sprachrohr des geschichtlichen Vorganges beziehungsweise der geschichtlichen Erkenntnis wird. 8 Ranke suchte also die Objektivität in einer ganz falschen Richtung. Er hielt sie durch das Streben nach einer genauen Kenntnis der Fakten, alio des „Oberflächenscheins" der Geschichte, wenigstens annäherungsweise für erreichbar. Ranke erkannte nicht, daß der richtige Weg zur Erkenntnis des wirklichen historischen Prozesses über die Enthüllung seiner Bewegungsgesetze führt. Der historische Empirismus Rankes, der vorgibt, die volle Vergegenwärtigung der Wahrheit durch eine „unparteiische" Auffassung erzielen zu können, ist also unter 7
8
Sybel, Heinrich v., Gedächtnisrede auf Leopold v. Ranke, in: HZ., Bd. 56, 1886, S. 476. Grillparzer verspottete diese Ansicht mit dem Vers: „Eure Geschichtsschreibung im letzten Ausdruck ist die Urkunde im Naturselbstdruck."
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dem Aspekt des heute erreichten Standes der Wissenschaft bestenfalls „vorwissenschaftlich", führt also den Geschichtsschreiber lediglich in den Vorhof der Wissenschaft, aber nicht in ihren ureigentlichen innersten Bezirk. Um die Geschichte, das heißt den Entwicklungsprozeß der menschlichen Gesellschaft in seiner Vielfalt zu begreifen, ist die Ausarbeitung und Anwendung einer generellen Theorie notwendig, die dem Studium der Quellen oder einzelner Fakten erst die richtige Grundlage gibt. Erst auf der Basis einer solchen Konzeption, wie sie der historische Materialismus bietet, kann die Geschichte den vollgültigen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit im Rahmen der Gesellschaftswissenschaften überhaupt erheben. Zum Wesen dieses historischen Empirismus Rankes gehört es, daß er angibt, sich jeglichen Urteils beziehungsweise jeder Wertung enthalten zu können, daß er den Anspruch erhebt, eine über den Parteien stehende oder, anders ausgedrückt, überklassenmäßige Position zu beziehen. In Wirklichkeit ist jedoch der Historiker - ebenso wie jeder andere Mensch - kein isoliertes Wesen, es sei denn in seiner eigenen Einbildung. Auch Ranke steht mehr oder weniger deutlich nachweisbar auf einem ähnlichen Standpunkt wie die im preußischen Junkerstaat herrschende Klasse. Dies zeigt sich in seiner Verehrung der Hohenzollerndynastie, vor allem Friedrichs II., und Rankes mit den Junkern in wesentlichen Fragen übereinstimmender Auffassung von der Rolle Preußens in Deutschland. Ranke war faktisch Verteidiger einer jahrhundertealten Ordnung, die sich auf die längste historische Überlieferung berufen konnte. Rankes Appell an die „Tatsachen", die angeblich für sich sprechen, erklärt sich vor allem daraus, daß er mit den traditionellen Tatbeständen, mit den herkömmlichen Verhältnissen in Preußen einverstanden war. Er glaubte daraus den Anspruch ableiten zu können, die Geschichte um ihrer selbst willen zu betreiben, das heißt,in seinen Augen, auch aus diesem Grunde „objektiv" zu sein. Da er trotz verschiedener, übrigens sehr zahmer ,,reformerischer" Ansichten im großen und ganzen für die Aufrechterhaltung der alten Zustände auch in der Gegenwart, ja für ihr „Hinüberretten" in die Zukunft war, vertrat er die Auffassung, daß man die Vergangenheit lediglich aus sich selbst heraus deuten müsse, daß man ihr überall mit der gleichen ehrfürchtigen Andacht entgegentreten müsse. Indem Rankein diesem Sinne zeigen wollte, „wie es eigentlich gewesen ist", bezog er faktisch eine Position zugunsten der alten und zuungunsten der neuen, werdenden, der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Es ist deshalb auch nicht erstaunlich, daß er in inhaltlichen Fragen der Geschichte und Politik in Abwehr zu der fortschrittlichen Ideologie - von den Aufklärern angefangen bis zu den Hegelianern - stand und - scheinbar im Gegensatz dazu - die quellenkritische Methode anwandte: Objektiv läuft die Verwendung dieser Methode durch Ranke darauf hinaus, die progressive Ideologie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, die zum Zwecke besserer Wirkung besonders geschärft wurden. Keineswegs zufällig fand die Rankesche „Objektivität" an den Grenzen der herrschenden Klasseninteressen Preußens ihr Ende. So bedachte er fortschrittliche, liberale und demokratische Bestrebungen in Vergangenheit und Gegenwart mit Werturteilen, die im wesentlichen vom Standpunkt der Reaktion aus gefällt
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waren, soweit er diese Tendenzen nicht als ausgesprochen „destruktiv" oder „undeutsch" völlig zu entwerten versuchte. Ranke steht beispielsweise in seiner ..Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation" ganz eindeutig auf dem Standpunkt der lutherischen Fürstenreformation und lehnt den Inhalt der Volksreformation Thomas Müntzers als angeblich nur zerstörendes Element ab. Eine ähnliche Stellung nahm er auch zu den Volksbewegungen der späteren neuzeitlichen Jahrhunderte ein, insbesondere zu denen während der Julirevolution und der Revolution von 1848 in Europa und zu den Befreiungskämpfen des Proletariats.« Besonders charakteristisch für die Tendenz Rankes, alles, was seinen klassengebundenen Vorstellungen nicht entsprach, als den deutschen Interessen zuwiderlaufend hinzustellen, ist seine Ansicht, daß die Ideen der Julirevolution von 1830 „Abstraktionen eines fremden Daseins" seien. Wer sich für diese Auffassungen einsetzte, war in Rankes Augen eine Art „deutscher Franzose". In ähnlichem Sinne meinte er auch, daß diejenigen1, die für parlamentarische Freiheiten eintraten, eigentlich nicht deutsch, sondern englisch dächten. Auch die Volksbewegungen zur Zeit des Bauernkrieges hielt Ranke für etwas, was angeblich dem „deutschen Wesen" ganz und gar nicht entspräche, ja, wie er sich ausdrückte, diesem „mit völliger Umkehr" drohe.10 Auf der anderen Seite billigte Ranke die Übernahme ausländischer Auffassungen, wenn diese nur seinem regressiven Standpunkt entsprachen. Dies gilt besonders für seine Auffassung von dem angeblich für Deutschland exemplarischen Charakter der englischen „Glorreichen Revolution". Sogar Rankes warmer Verehrer Alfred Dove konnte deshalb nicht umhin, in seinem Artikel in der „Allgemeinen Deutschen Biographie" Rankes „Englischer Geschichte" einen „verdeckten Beiklang politischer Beweiifühiung" 11 zuzuschreiben, wodurch er Rankes Objektivitätsstreben faktisch bloßstellte. Wie sehr Ranke dem Geist beziehungsweise richtiger dem reaktionären Ungeist der Restaurationsperiode und der „Heiligen Allianz" verschrieben war, zeigt auch die Tatsache, daß er die Karlsbader Beschlüsse von 1819, die zur Meinungsknebelung aller fortschrittlichen Kräfte führten, prinzipiell guthieß, wenn er auch ihre Beibehaltung auf die Dauer für nicht zweckmäßig erachtete. Besonders verhaßt war Ranke trotz aller gegenteiligen Behauptungen (auch des Münchener Historikers Walter Bußmann) die Idee der Volkssouveränität. Er hielt gewisse Zugeständnisse der Dynastien an diese Idee für unumgänglich, aber nur um die rechtsbürgerlichen Kreise von den fortschrittlich-demokratischen Kräften trennen zu können. Auch die Frage der deutschen Einheit, die damals im Mittelpunkt der Diskussion der fortschrittlich!l
Vgl. Schilfert, Gerhard, Die Behandlung der Rolle der Volksmassen und ihrer Führer durch L. v. Ranke, in: Forschen und Wirken. Festschrift zur 150-Jahrfeier der Humboldt-Universität, Berlin 1810—1960, Bd. 3, Berlin 1960, S. 127 ff. 10 Ranke, Leopold, v., Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Histor.kritische Gesamtausgabe der Deutschen Akademie. . . hg. v. P. Joachimsen, Bd. 2, München 1925, S. 176. 11 Dove, Alfred, L. v. Ranke, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 27, Leipzig 1888, S. 262.
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bürgerlichen Kräfte stand, sah Ranke vornehmlich unter dem Gesichtswinkel seiner prinzipiellen Ablehnung der Volkssouveränität. So sagt er geradezu: „Man möchte weinen, wenn man sieht, daß die Einheit des heiligen Reiches an den blutigen Irrwahn der Nationalsouveränität geknüpft wird." 1 2 Ranke blieb es zwar nicht verborgen, daß die fortschrittliche bürgerliche Bewegung seit 1815 mehr und mehr zum Vorkämpfer des deutschen Einheitsgedankens geworden war, aber er hielt diese Bewegung für fehlgeleitet durch „fremdländische abstrakte Theorien" und glaubte sich über bürgerlich-liberale, ja sogar gemäßigt-liberale Vorstellungen zur politischen Neugestaltung der deutschen Verhältnisse lustig machen zu dürfen. Nach Rankes Meinung war die Lösung der deutschen Einheitsfrage im Vormärz am besten auf dem Wege der unmittelbaren Anknüpfung an die politischen Einrichtungen des Reiches vor der französischen Revolution zu erreichen. Somit war Ranke keineswegs für einen Nationalstaat im Sinne des Bürgertums, sondern er hielt bis zu einem gewissen Grade die Aufsplitterung in einzelne Territorialstaaten für einmal geschichtlich gegeben und deshalb auch noch in der Gegenwart für zweckmäßig. Ranke meinte, es sei der historische Beruf Preußens, auch in der Einheitsfrage „eine gesetzliche organische Entwicklung des Alten in das Neue zu verwirklichen", also eine solche Entwicklung, in der die alten, im ancien régime herrschenden Klassen im wesentlichen das Heft in der Hand behielten und nur einige unumgängliche Zugeständnisse machten. Selbst ein so ausgesprochen Ranke verehrender, ja geradezu „neurankeanischer" Historiker wie Hermann Oncken muß zugeben, daß Rankes „Preußische Geschichte", die am Vorabend der Märzrevolution erschien, „dem Geiste der Zeit" entgegenstand. 13 Ganz im Gegensatz zu den fortschrittlichen Kräften vertrat Ranke die Auffassung, die besonders in diesem Werk unausgesprochen mitschwingt, daß in Deutschland im Unterschied zu Frankreich alles „Neue im Bunde mit den Fürsten vollbracht worden sei". Im Einklang mit dem Lobpreisen der Ranke besonders gemäßen Restaurationsperiode als eines angeblich „halkyonischen Zeitalters" u steht auch seine Stellungnahme zu den Freiheitsbewegungen der unterdrückten Völker seiner Zeit. Er stand diesen kühl, ja ablehnend gegenüber. Den Freiheitskampf des polnischen Volkes wagte er in einem Gespräch mit einem russischen Diplomaten im Haus Bettina von Arnims als „etwas Fluchwürdiges" zu bezeichnen. 15 Ranke hat zwar, in der ersten Periode seines Lebens, in der Regel lieber den Betrachter als den Mitgestalter der Politik gespielt. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, in der Zeit unmittelbar nach der Julirevolution von 1830 dem preußiZit. nach Voßler, Otto, Ranke und die Politik, in: Festschrift Peter Rassow zum 70. Geburtstag, hg. v. Karl Erich Born, Wiesbaden 1961, S. 245. 13 Oncken, Hermann, Leopold v. Ranke, in: Die Großen Deutschen, Neue Deutsche Biographie, hg. v. W. Andreas u. W. v. Scholz, Bd. 3, neue, völlig durchges. Aufl., Berlin 1942, S. 218. D. h. eines Zeitalters der „Windstille". t:> Zit. nach Kaegi, Werner, Chronica Mundi, Einsiedeln 1954, S. 73. 12
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sehen Staat und seinen Interessen seine Kräfte auch für mehr oder weniger direkte politische Ziele zur Verfügung zu stellen, die sich gegen die fortschrittlichen Bewegungen der damaligen Zeit, besonders in Auswirkung der Julirevolution, richteten. In diesem Sinne war Ranke mehrere Jahre als Redakteur der „Historisch-politischen Zeitschrift" (von 1831 bis 1836) tätig. Daß diese Tätigkeit mit einem Mißerfolg abschloß, liegt nicht im wesentlichen darein, daß er der extremen Reaktion nicht weit genug entgegenkam oder daß er als Redakteur ein mangelndes Geschick bewies. Der Hauptgrund ist vielmehr darin zu suchen, daß seine allgemeine Konzeption von der Rolle der bürgerlichen Bewegung in Deutschland dem Gang der Entwicklung ebensosehr zuwiderlief wie seine Ansichten in den einzelnen, von ihm verfaßten Aufsätzen der Zeitschrift. Ranke zeigte damit, daß er die Hauptfrage der deutschen Nation in dieser Periode, die bürgerliche Einigung Deutschlands, nicht erkannte. Die bürgerliche Revolution von 1848/49 fand Ranke völlig unvorbereitet. Bereits die ersten Wochen dieses gewaltigen revolutionären Geschehens setzten ihn — der sie nicht anders als mit den Augen des Hofhistoriographen sah - in eine panikartige Stimmung. Ranke glaubte zeitweilig, nachdem König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen den revolutionären Kräften nachgeben mußte, daß es nunmehr mit „aller Sittlichkeit", ja „mit aller Religion vorbei" 1 0 sei, er hielt sogar einen völligen Untergang der Kultur für möglich. In der Auffassung der Ursachen der Revolution unterschied er sich anfangs nicht allzuviel von jenen preußischen Konservativen, die die Revolution auf die angeblich zügel- und gewissenlose Demagogie ausländischer Agenten zurückführten, die mit doktrinären Schlagworten „den angeblich so königstreuen Sinn" des preußischen Volkes verdorben hätten. Ähnlich wie den Kreisen, denen die Bewohner Preußens immer nur als „Befehlsempfänger" galten, war auch Ranke die revolutionäre GesinnungderVolksmassen zunächst etwas völlig Unfaßbares. Sein erschüttertes Selbstbewußtsein richtete sich erst allmählich auf, und zwar besonders dadurch, daß er vom Hof zur Abfassung von politischen Denkschriften aufgfefordert wurde. Ranke äußerte sich selbst darüber folgendermaßen: „Zuweilen bin ich in ziemlich verzweifelten Augenblicken indirekt zu Rate gezogen worden, der damalige Flügeladjutant, spätere Feldmarschall Edwin v. Manteuffel bot sich zum Vermittler dar. Und wenigstens soviel habe ich vernommen, daß der König auf seinen Vortrag Rücksicht nahm und sich zu einer festen Haltung ermannte. Er faßte Vertrauen zu mir. "17 Am aufschlußreichsten ist Rankes politische Denkschrift vom Oktober 1848 t8, in der er sich über die Voraussetzungen zu einer dauerhaften Verfassung äußert, wie er sie sah. Besonders wichtig erschien es ihm, die Jugend im Sinne der Reaktion zu erziehen. Dazu schlug er unter anderem vor, die männliche arbeitende Bevölkerung auch nach Erfüllung der Wehrpflicht unter Kontrolle zu halten und in 16 Zit. nach Voßler, Otto, a. a. O., S. 245. 17 Ranke, Leopold v., SW, Bd. 53/54, S. 74. 18 Abgedruckt in: Ranke, Leopold v., SW, Bd., 49/50, Seite 597ff.
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Waffen zu üben, um sie nicht „der Agitation der Feinde aller Ordnung" in die Arme zu treiben. 19 Bei dieser Einstellung war es für Ranke fast selbstverständlich, daß er die Reaktionsperiode nach 1849 begrüßte. Schon in einem Entwurf vom 5. Dezember 1848 hatte er die Auflösung der preußischen Nationalversammlung mit militärischer Gewalt als eine positive Tat dargestellt, da die VeiSammlung angeblich den preußischen Namen herabgewürdigt habe. Die Hauptaufgabe einer preußischen Verfassung sah Ranke 1849 darin, daß „das konstitutionelle System auf eine solche Weise zu fixieren sei, daß es die schützenden Prinzipien festhält und sich von dem destruktiven auf immer absondert". 20 Unter destruktiven Prinzipien verstand Ranke, wie aus der gleichen Denkschrift hervorgeht, vor allem die bürgerliche Republik, die nach seiner Meinung „unter der Farbe des Blutes einherschreitend, alles mit Verderben bedroht". Rankes Vorurteile unterschieden sich also wenig von der des Durchschnittsreaktionärs jener Tage. Die Nichtbesitzenden sollten nach Rankes Auffassung nur in ganz geringem Maße politische Rechte erhalten, etwa so, „wie die römische Republik aus der ganzen Masse der Proletarier nur eine Centurie bildete von 193, welche zu stimmen hatte". 2 1 In dieser Hinsicht war Ranke ebensowenig originell wie in den Fragen des Wahlrechts. Das allgemeine Wahlrecht hielt Ranke überhaupt für „eine Erfindung der Franzosen", wie er noch in einem politischen Rückblick im Jahre 1871 schrieb.22 Auch Ranke mußte schließlich das, was selbst von der preußischen Reaktion als unumgänglich angesehen wurde, bestätigen. Er war gezwungen, zuzugeben, daß der Bourgeoisie ein Mindestmaß an politischen Rechten zugebilligt werden müßte, ja er wurde bis zu einem gewissen Grade ein Anhänger der preußischen Verfassung von 1850. Dies hielt ihn jedoch später nicht davon ab, Bismarck, mit dem er im übrigen in allen wesentlichen Fragen übereinstimmte, eines zu weit gehenden Entgegenkommens an den liberalen Kurs zu zeihen. Dies gilt insbesondere für die Periode des sogenannten Kulturkampfes. Als sich Bismarck aber später wieder mit den Konservativen aussöhnte, war auch Ranke wieder voll und ganz mit dem „eisernen Kanzler" einverstanden. Er hätte wahrscheinlich auch seinerseits Bismarck seines Einvernehmens versichert, wie es dieser kurz nach Rankes Tode seinen Angehörigen gegenüber ausdrücklich hervorhub. 23 Eine Gesamteinschätzung des politischen Verhaltens und der politischen Tätigkeit Rankes zeigt, daß er im Gegensatz zu den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus und den Politikern und Historikern, die auf dieser Grundlage arbeiten, Vgl. hierzu Schilfert, Gerhard, Sieg und Niederlage des demokratischen Wahlrechts in der deutschen Revolution 1848/49, Berlin 1952, S. 157. 20 Ranke, Leopold v., SW, Bd. 49/50, S. 610. 21 Derselbe, SW, Bd. 49/50, S. 558. 22 Derselbe, SW, Bd. 53/54, S. 626. - Für die Stellung Rankes zu den Wahlrechtsfragen vgl. auch G. Schilfert, Sieg u. Niederlage des demokrat. Wahlrechts, a. a. O., S. 1 5 6 - 1 5 8 . 19
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Vgl. Ranke, gedruckt.)
Otto v., L. v. Rankes Heimgang, Leipzig 1886, S. 36. (Als Manuskript
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nicht nur außerstande war, den Gang der Entwicklung in seinem Hauptverlauf vorauszusehen, sondern von diesem geradezu überrumpelt wurde, wie es sich bei dem Ausbruch der Märzrevolution von 1848 in peinlicher Weise offenbarte. Es ist kein Zufall, daß Ranke als Politiker ein Nachtrabpolitiker der rückständigsten Art war, der eigentlich immer nur das hinterher bestätigte beziehungsweise im Sinne der Reaktion zu beschönigen versuchte, was nun einmal nicht mehr zu ändern war. Diese „Einsicht post festum" steht in untrennbarem Zusammenhang mit dem , .schleichenden Empirismus'' Rankes, der als ausgesprochen atheoretischer Geschichtsschreiber nicht fähig war, den gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft hinein zu erkennen, ja auch nur zu erahnen. Von seinem rückwärtsgewandten Standort aus war die Ausarbeitung einer Theorie, die dem Historiker ermöglicht, nicht nur richtig die Vergangenheit zu erkennen, sondern sich auch in der Gegenwart richtig zu orientieren, nicht möglich. Dazu bedurfte es des Uberganges auf den Klassenstandpunkt des Proletariats, wie ihn Marx und Engels vollzogen, die von diesem Standpunkt aus die einzig wissenschaftliche Geschichtsauffassung entwickeln konnten. Zu welchen verkehrten Urteilen Ranke in seiner Auffassung gelangte, beweisen vor allen Dingen einzelne Äußerungen im Zusammenhang mit der Fortführung seiner Weltgeschichte, kurz vor seinem Tode. So meinte Ranke unter anderem, daß „eine Niederlage der revolutionären Kräfte zu erkennen sei" V i und befürchtete, diese revolutionären Kräfte — unter denen er vor allem die Arbeiterbewegung verstand — würden „die regelmäßige Fortentwicklung der Weltgeschichte'' unmöglich machen.25 Ja, er ging sogar so weit, anzunehmen, daß im Falle eines Sieges dieser Kräfte eine Weltgeschichte im objektiven Sinne unmöglich sein würde. Ranke vertrat also eine Ansicht, deren genaues Gegenteil richtig war. Die von ihm so verächtlich behandelten Volksmassen 2Ü waren es, die unter Führung der Arbeiterbewegung und ihrer Parteien gerade das Zeitalter herbeizuführen berufen waren, in dem die Menschen auf Grund der Erkenntnis der geschichtlichen Gesetzmäßigkeiten „die regelmäßige Fortentwicklung der Weltgeschichte" im Sinne des Übergangs der Menschen, wie Marx und Engels nachwiesen, von dem „Reich der Unfreiheit", der Ausbeutung, zum „Reich der Freiheit", das heißt der klassenlosen Gesellschaft, verwirklichen können. Im Gegensatz dazu sind die reaktionären Kräfte, denen Ranke allein die Aufgabe einer „regelmäßigen Fortentwicklung" der Weltgeschichte zuwies, zur endgültigen Niederlage verdammt und haben keinerlei Perspektive mehr. Aus dem Standpunkt Rankes ergab sich, daß er ein Gegner der Aufklärung und ein Anhänger der Romantik war, wie sich schon in seiner Jugend zeigt. Schon seit seiner Leipziger Studienzeit befand er sich in einer ständigen Auseinandersetzung mit den fortschrittlichen Auffassungen der Aufklärer, und so stand er auch zu den führenden Historikern des fortschrittlichen Bürgertums, wie Schlosser, Gervinus, Rotteck, Zimmermann, in scharfem Gegensatz. « Ranke, Leopold, v., SW, Bd. 51/52, S. 597. 20 Vgl. Anm. 9, S. 249. J5 Ebenda.
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Bereits seine programmatische Äußerung: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: So hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen" 27 , ist unmittelbar gegen die aufklärerische Geschichtsschreibung gerichtet. Diese Formulierung Rankes wendet sich einerseits gegen den unerbittlichen Rigorismus Schlossers, der die feudale Vergangenheit und Gegenwart mit den Waffen der moralischen Kritik bekämpfte, vor der Ranke sie schützen wollte, andererseits aber auch gegen den Pragmatismus der Aufklärung, die, wie zum Beispiel Gatterer, den Nutzen der Geschichte für das gesellschaftliche Handeln hervorhob. Rankes Bildungsweg stand unter dem starken Einfluß der reaktionären Ideologie der Romantik, deshalb gewann er auch schon früh ein enges Verhältnis zu den antirationalistischen, konterrevolutionären Ideologen wie Edmund Burke und Friedrich von Gentz. Von vornherein stellte sich Ranke auch in seiner universalhistorischen Auffassung auf die Seite der Romantiker und lehnte die Konzeption der Aufklärer von der Weltgeschichte ab. Das gleiche zeigt sich auch in seiner Stellungnahme zu rechtsgeschichtlichen Problemen. In der berühmten Kontroverse zwischen Thibaut und Savigny, die im Jahre 1814 begann, nahm er entschieden für Savigny Partei, so sehr er sich sonst in manchen Fragen der Geschichtsauffassung von ihm unterschied. Auch in seiner Auffassimg von dem „Mitgefühl", das der Historiker haben müsse, in seiner Konzeption vom, .historischen Verstehen'' und seiner Ansicht, daß es in der Geschichte nicht gesetzmäßig zugehen könne und deshalb auch keine Voraussicht möglich sei, berührte er sich eng mit solchen romantisch beeinflußten Gelehrten wie Jacob und Wilhelm Grimm, Schelling und anderen. Am stärksten treten Rankes enge Bindung an die Romantik und seine Ablehnung der Aufklärung in seiner Stellung zum Fortschrittsgedanken in Erscheinung. Auch hierin widerspiegelt sich, daß Ranke bei aller prinzipiellen Anerkennung der Position der reaktionären KlaSsen in gewisser Weise gezwungen war, bürgerlichen Auffassungen Raum zu geben. Dementsprechend ist seine Fortschrittsauffassung uneinheitlich und im einzelnen auch oft widersprüchlich. Die aufklärerische Konzeption von dem fortlaufenden Aufstieg der Menschheit zu immer höherer Gesittung, wie sie unter anderem in Lessings Werk „Die Erziehung des Menschengeschlechts" niedergelegt ist, hielt Ranke für „geschichtsfremd". Ein unbestreitbares „Fortschreiten" glaubte Ranke nur auf dem Gebiet der - wie er sagte „materiellen Interessen" annehmen zu können. Auch in allen Dingen, die sich auf die Erkenntnis und Beherrschung der Natur beziehen, meinte Ränke ein Fortschreiten feststellen zu können. Das gleiche gilt nach ihm auch für die äußere Verbreitung bestimmter Verhaltensweisen der Menschen. So hält Ranke zum Beispiel eine Besserung der Menschen in bezug auf das Zurückgehen solcher Laster wie der Trunksucht oder des Hanges zum Prügeln oder zur Faulheit für möglich. Auch die Expansion der „moralischen und religiösen Ideen", insbesondere des 27 Ranke, Leopold v., SW, Bd. 33/34, S. VII.
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Christentums, überhaupt der „Ideen der Menschheit" (worunter Ranke hauptsächlich die „christliche Humanität" versteht), ist nach seiner Ansicht ständig im Fortschreiten begriffen. Ranke sieht also eine quantitative Entwicklung in der Geschichte für möglich an, dagegen hält er einen qualitativen Fortschritt in dem Sinne, daß die Menschheit höhere Stufen moralischer Vervollkommnung erreichen kann, für unerreichbar. Da die höchsten religiösen und moralischen Ideen des Christentums für ihn absolute Werte sind, gibt es in dieser Hinsicht nach Ranke keine Höherwertigkeit und Überlegenheit einer Epoche über eine andere. Die Auffassung, daß eine spätere Generation die vorhergehenden in dieser Hinsicht übertreffen könne, hält er für ungeschichtlich, da nach seiner Meinung alle geschichtlichen Epochen oder Phänomene „gleich unmittelbar zu G o t t " sind. So sagt er ausdrücklich: „Vor Gott erscheinen alle Generationen der Menschheit als gleichberechtigt und so muß auch der Historiker die Sache ansehen". 28 Diese prinzipiell fortschrittsfeindliche Einstellung zeigt auch die Fragwürdigkeit des Rankeschen „Humanismus", da sie das Streben des Menschen nach Vervollkommnung entwertet. Die höchsten moralischen Ideen sind für Ranke - hierin zeigt er sich als echter Metaphysiker - etwas Zeitloses, genauso wie das von ihm postulierte höchste Wesen. Der ewige überweltliche Gott aber ist nach Rankes Ansicht als Schöpfer und Erhalter der Welt in der Lage, diese von ihren Anfängen an völlig zu überschauen und zu durchschauen und der Menschheit deshalb in allen Stufen ihres Seins prinzipiell den gleichen Wert zuzuerkennen. Mochte Rankes Denken, wie sich besonders auch in seiner Fortschrittsauffassung zeigt, metaphysisch bestimmt sein, so gibt es bei ihm doch einige Ansätze zum dialektischen Denken. Diese sind allerdings weit schwächer als bei Fichte, vondem er in seiner Anfangsperiode teilweise beeinflußt wurde. So ist sich Ranke zum Beispiel darüber klar, daß der Lauf der Geschichte nicht stets ein gleichförmiger ist, sondern daß es in seinem Verlauf gewisse Wendepunkte gibt. Dazu sagt er unter anderem: „Denn nicht mit der Länge der Zeit pflegen sich die Dinge neu zu gestalten, alles entspringt in den Momenten großer Krisen." 2 9 Von einer geistigen Nähe zu einer dialektischen Philosophie, und sei es auch nur in der Gestalt der mystifizierten idealistischen Dialektik Hegels, kann jedoch bei Ranke keine Rede sein. Ranke verkannte beziehungsweise unterschätzte überhaupt die Bedeutung des philosophischen Denkens für das Geschichtsdenken und sah nicht ihre enge Verbindung. Auch seine positiven philosophischen Kenntnisse dürfen nicht als allzuhoch veranschlagt werden. Wenn er auch teilweise von Fichte und manchen neueren Philosophen beeinflußt war, so begnügte er sich doch im wesentlichen mit der Philosophie der Antike, wie sie durch Aristoteles und Plato geschaffen worden war. Hegel hatte deshalb nicht ganz Unrecht 30 , wenn er Ranke als einen 28
29 30
Derselbe, Weltgeschichte, 9. Teil, 2. Abt., 3. Aufl., Leipzig, 1883, S. 4. Zit. nach Oncken, Hermann, Aus Rankes Frühzeit, Gotha 1922, S. 68. Vgl. Simon, Ernst, Ranke und Hegel, München 1928, S. 97 (Beiheft 15 der HZ).
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ganz „gewöhnlichen Historiker" bezeichnete. (Er hat ihn übrigens kaum erwähnt.) Die Gegner Rankes unter den Hegelianern ahnten sehr wohl, daß er sich nicht zuletzt deswegen, weil es ihm an philosophischem Blick mangelte, auf die Philologie stützte. Ihre Bedeutung für die Geschichtswissenschaft überschätzte er ebenso, wie ei die der Philosophie unterschätzte. Ranke wandte sich gegen die Hegeische Philosophie vor allem wegen ihres fortschrittlichen, aufbauenden Gehalts. Er kritisierte sie gewissermaßen nicht von „links", wie es später Marx tat, sondern von „rechts", indem er gerade ihren rationalen Kern, die Dialektik, als lediglich künstliche Konstruktion verwarf, die in der Geschichte nichts zu suchen habe. Wie wenig er die Bedeutung der Hegeischen Geschichtsphilosophie begriff, geht aus vielen seiner Äußerungen hervor. Besonders charakteristisch dafür ist seine Formulierung: „Wir sind weit davon entfernt, alle menschliche bildende Kraft auf ein paar Formeln bringen zu wollen."31 Dadurch bewies er, daß er unter dem Niveau des damaligen höchsten Standes der Philosophie blieb. Zweifellos enthält Rankes Kritik an Hegel auch manche richtigen Bemerkungen. So hatte Ranke Hegel gegenüber insofern das Richtige getroffen, wenn er meinte, daß die Geschichte „nicht die Einheit eines philosophischen Systems" haben könne. Diese Behauptung ist hinsichtlich der idealistischen Philosophie objektiv zutreffend. Andererseits hob Ranke selbst hervor, daß die Geschichte nicht ohne inneren Zusammenhang sei. Er hat aber diesen inneren Zusammenhang in seinen Werken keineswegs verifiziert und hat deshalb gerade in dieser Hinsicht nicht nur die Kritik Hegels, sondern auch anderer Historiker wie zum Beispiel Gervinus' herausgefordert. Es ist auch unrichtig, wenn Hermann Oncken die Meinung vertrat, daß sich in Rankes „Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation" „ein unvergleichliches Maß von innerer Durchdringung"32 gezeigt habe. Wenn man unter innerer Durchdringung", und diese Forderung muß auch an den Historiker gestellt werden, die Herausarbeitung der wesentlichen tieferen Zusammenhänge der geschichtlichen Entwicklung versteht, so hat Ranke dieser Forderung zweifellos nicht genügt. Im Gegenteil, indem Ranke nur zu oft den Geschichtslauf auf Zufälligkeiten oder „Kleinigkeiten und Lausereien"33 zurückführt, fiel er in manchem hinter die spätaufklärerischen Historiker zurück, die den Gedanken des Fortschritts als einen einheitlichen roten Faden durch die geschichtliche Entwicklung hindurchzuziehen versuchten. Das „Wenn" beziehungsweise der Konjunktiv spielen bei Ranke deshalb nicht zufällig eine Rolle, sondern treten mit innerer Notwendigkeit häufig bei ihm auf, da es ihm an einer Kenntnis der gesetzmäßigen Zusammenhänge der Geschichte fehlt. So meint beispielsweise Ranke, daß der Kampf zwischen dem königlichen und dem parlamentarischen Lager in der englischen Revolution, der auf die gesetzmäßig entstandene revolutionäre Situation in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts in England zurückzuführen ist, hätte geschlichtet werden können, wenn nicht beide Teile „in leidenschaftlicher Weise an 31 Ranke, Leopold v., SW, Bd. 51/52, S. 312. 32 Oncken, Hermann, Leopold von Ranke, a. a. O., S. 217. 33 Marx/Engels, Briefwechsel, Bd. 3, Berlin 1950, S. 228.
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ihren Rechten festgehalten hätten".^' 1 Zwar gibt es auch nach Ranke allgemeine Strömungen oder Richtungen, die ein Zeitalter bestimmen, aber diese widerspiegeln nicht die realen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte, sondern figurieren als „leitende Ideen eine Epoche". Diese sind im wesentlichen die herrschenden Ideen der Unterdrückerklassen. Damit stellte Ranke nicht nur die Dinge auf den Kopf, indem er die Ideen zum Motor der Geschichte macht, sondern reduziert sie außerdem noch auf die herrschenden Vorstellungen der Unterdrückerklassen. Nur diese waren für ihn einer Einbeziehung in den Kreis der wesentlichen Kräfte der Geschichte würdig, nur sie konnten nach ihm den Namen „vernünftiger Ideen" beanspruchen. Die Auffassungen der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen aber - wie die Lehren der Volksreformation Thomas Müntzers — waren für Ranke etwas Unheimliches und Elementares. So behauptet er von Müntzer: „ . . . e s war als hätte ihn in seiner letzten Stunde ein wilder Dämon beherrscht". 35 Unter den „Ideen" verstand Ranke gewisse unwandelbare Hauptideen, wie zum Beispiel moralische, aber auch solche, wie die „der nordischen Kreuzzüge", „der exklusiven Herrschaft des Islam", der „abendländischen", „nationalen" oder „orientalischen" oder sonstige Ideen. Auch solche Formulierungen wie der „Geist des Abendlandes" oder der Geist der „neuesten Jahrhunderte" sind in diesem Zusammenhang zu verstehen. Ranke verwandte als im wesentlichen gleichbedeutend mit diesem Begriff auch solche Ausdrücke wie „Systeme", „Motive", „innere Kräfte des lebendigen Geistes", „höhere Potenzen in der Geschichte", ..moralische Energien" und ähnliche Bezeichnungen. Die Ideen sind für Ranke „allgemeine, grundsätzliche, in mannigfaltigen Formen wiederkehrende Gedanken". Sie können jedoch nicht zusammengefaßt oder, wie er sich ausdrückt, „in letzter Instanz in einem Begriff summiert" werden.""' Ranke übersieht also, daß eine wichtige Funktion des Historikers darin bestehen muß, eine Synthese zu finden. Diese Unterschätzung der Synthese hängt mit Rankes Auffassung zusammen, daß die Ideen „in ihrer Reinheit" von den Menschen nicht zu erkennen, sondern nur zu erahnen seien (ebenso wie sich auch Gott nicht erkennen läßt). Ranke ist der Meinung, daß sogenannte einsichtige Menschen die Ideen, soweit sie für ihr praktisches Leben von Bedeutung sind, mit einfachem Denken erfassen können. So meint er: „Die Einsichtigen aller Zeiten wußten, was gut und groß, was erlaubt und recht ist, was Fortschritt und Verfall ist. In großen Zügen ist es in die menschliche Brust geschrieben." 37 Die Frage nach dem Ursprung der Ideen wird also bei Ranke nicht vom Standpunkt der Wissenschaft, sondern des Glaubens, das heißt in einem christlich-religiösen Sinne beantwortet. Alle Ideen hängen bei ihm von der obersten Idee, also von Gott ab. Die herrschenden Gedanken und Tendenzen sind für Ranke Ausdruck 34 35
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Ranke, Leopold v., Weltgeschichte, 9. TeU, 2. Abt., a. a. O., S. 213. Derselbe, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 2, a. a. O., S. 171. Derselbe, Weltgeschichte, 9 .Teil, 2. Abt. a. a. O., S. 7. Derselbe, SW, Bd. 49/50, S. 9. Geschichtswissenschaft, Bd. I
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der höchsten göttlichen Idee, die alleswaltend den Menschen überall und alle Zeit regiert. :t8 Ranke meint, daß jede einzelne Tat von Gott zeugt und daß die Menschen in den entscheidenden Augenblicken Gottes Finger sehen müssen, am meisten im Zusammenhang der Geschichte. Da Ranke also den Ursprung der Ideen in den jenseitigen, der Wissenschaft unzugänglichen Bereichen sieht, kennt er auch keine Möglichkeit der wissenschaftlichen Synthese, der wissenschaftlichen Erfassung des Sinns der gesamten Geschichte durch den Menschen, da dies Gott vorbehalten ist. Der Mensch kann nach Ranke nur, wie er sich in einem Brief ausdrückte, versuchen, „diese heiligen Hieroglyphen" zu enthüllen, „auch so dienen wir Gott", so meint er, auch „so sind wir Priester". 3 0 So ist Rankes Geschichtsauffassung letzten Endes an etwas Absolutes im theistischen Sinne gebunden. Gottes Wirken nachzuspüren, um ihn zu verehren, das ist der tiefste Sinn der Rankeschen Geschichtsschreibung, mochte auch dieser Gedanke in seiner späteren Zeit nicht mehr so unmittelbar in seiner Geschichtsschreibung in Erscheinung treten und dia unmittelbare Berufung auf Gott - vor allem in seinen späteren Werken - seltener werden. Dies kann auch darauf zurückgeführt werden, daß die Beschäftigung mit der Geschichte diese Jenseitsorientierung je länger, desto weniger bestätigte. Die Ideen haben bei Ranke ein Doppelgesicht: Einmal blicken sie gewissermaßen „nach oben", zu Gott, in dem sie ihren tianszendenten Ursprung haben, andererseits schauen sie gewissermaßen auf die Erde, in deren geschichtlicher Entwicklung sie wirksam sind. Soweit die Hauptideen höheren Rang beanspruchen, können sie, weil mehr oder weniger mit dem göttlichen Wirken verbunden, nur „erahnt", „erfühlt" werden; es stehen hier also nicht die eigentlichen Erkenntnismittel der Wissenschaft, sondern die „Intuition" im Vordergrund. Nur soweit sich die Ideen auf niedrigerer Stufe manifestieren, sind sie von den Menschen direkt erfaßbar, „mit den Mitteln des einfachen Denkens"'' 0 zu begreifen. Bei der Untersuchung der Frage, in welchem Verhältnis die Rankeschen Ideen zu der historischen Wirklichkeit stehen, muß deshalb von dieser realgeistigen Natur, wie Ranke selbst sagt, ausgegangen werden. 41 Nach seiner Auffassung ist der tiefere Sinn der Ideen, da göttlichen Ursprungs, für die Menschen unableitbar. Rankes „allgemeine Tendenzen" lösen sich, genauer betrachtet, in lauter einzelne beziehungsweise besondere Züge auf und stellen kein echtes „Allgemeines" im Sinne der Kategorienlehre des historischen Materialismus dar. Dennoch läßt sich nicht bestreiten, daß sie, wenn auch stark verzerrt, bisweilen in einem gewissen Grade als eine ideologische Widerspiegelung realer geschichtlicher Vorgänge anzusehen sind. Dies gilt zum Beispiel für „die Tendenz der Befreiung von den
Baethgen, Friedrich, Zur geistigen Entwicklungsgeschichte Rankes in seiner Frühzeit, in: Deutschland und Europa. Festschrift für H. Rothfels, Düsseldorf 1951. S. 353•1!l Ranke, Leopold v., Zur eigenen Lebensgeschichte, Leipzig 1890, S. 89. /' Die Bevorzugung der „Haupt- und Staatsaktionen" kann deshalb nicht allein, wie Ranke meinte, daraus erklärt werden, daß die Akten so gut wie gar nichts über andere geschichtliche Gegenstände enthalten. Sie ist vor allem das Resultat seiner prinzipiellen Anschauung, nach der dei Staat der Gedanke Gottes selbst ist. Im engsten Zusammenhang mit dem Bevorzugen derjenigen Akten, die im staatlichen, besonders diplomatischen Geschäftsverkehr erwachsen sind, steht auch Rankes Überschätzung der Rolle der Außenpolitik. (Die Rankes Konzeption treffend wiedergebende Formulierung „Primat derAußenpolitik" stammt allerdings nicht von ihm, sondern wurde später erst von Dilthey gegeben.) Die auswärtigen Beziehungen, besonders dje Auseinandersetzungen der Staaten untereinander, das heißt die Versuche der herrschenden Klassen, ihre Territorien auf Kosten der Territorien anderer zu erweitern, standen bei Ranke im Vordergrund seines geschichtlichen Interesses. Dies war auch der Hauptgrund, warum er archivalische Quellen, die über innerpolitische Auseinandersetzungen oder Klassenkämpfe im Inneren der Länder berichteten, vernachlässigte. „Das Maß der Unabhängigkeit", so verkündete Ranke in dem „Politischen Gespräch", „gibt einem Staat seine Stellung in der Welt. Es legt ihm zugleich die Notwendigkeit auf, alle inneren Verhältnisse zu dem Zwecke einzurichten sich zu behaupten." 55 Dementsprechend waren für Ranke im Gegensatz zu der historischen Wirklichkeit die außenpolitischen Ereignisse stets die entscheidenden, so sehr er im übrigen auch an der Wechselwirkung der inneren und äußeren Faktoren nicht vorbeigehen konnte. So hielt er die außenpolitischen Niederlagen des ancien- régimes in Frankreich für bedeutsamer für den Ausbruch der französischen Revolution als die Tätigkeit des „dritten Standes". 52
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Vgl. Schilfert, Gerhard, Die Behandlung der Rolle der Volksmassen. . . a. a. O., S. H 3 f f . Vgl .Gebhardt, Bruno, Handbuch der deutschen Geschichte, hg. v. H. Grundmann, Bd. 2, 8. Aufl., Stuttgart 1955, S. 377. Scherr, Johannes, Allgemeine Geschichte der Literatur, Bd. 2, 5. Aufl., Leipzig 1875, S. 284/285. Ranke, Leopold, v., Politisches Gespräch, a . a . O . , S. 793. vgl. auch Heffter, Heinrich, Vom Primat der Außenpolitik, in: HZ., Bd. 1 7 1 , 1 9 5 1 , S. 2.
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Auch Rankes Auffassung vom Kriege ist von dieser Seite her zu verstehen. Ranke war der Auffassung, daß die Siege der großen Staaten, die für ihn ja der Ausdruck der Ideen Gottes waren, sich darauf zurückführen lassen, daß „die wahre moralische Energie" sich durchsetzte. Ranke bejahte - in dieser Hinsicht Hegel ähnlich - den Kampf und den Krieg im Interesse der herrschenden Klassen als Mittel staatlicher Neu- und Umbildung, das heißt zur Begründung beziehungsweise Festigung der Macht der Ausbeuterklassen nach außen und innen. Er verwarf jedoch den Kampf der Unterdrückten um ihre Rechte als einen Bürgerkrieg, den er als etwas Unmoralisches ansah. Der Lehre vom „Primat der Außenpolitik" entsprang folgerichtig auch die Auffassung, daß jeder Staat seine inneren Verhältnisse bereits im Frieden notwendigerweise so einrichten müsse, wie es die Kriegsführung erforderlich machte. Ranke sah seine „Weltgeschichte", die bei seinem Tode noch nicht abgeschlossen war, gewissermaßen als die Quintessenz seines gesamten Schaffens an. Grundlegende Gedanken dazufindensich bereits in den Vorträgen, die Ranke in Berchtesgaden 1854 vor König Maximilian II. von Bayern gehalten hatte. (Diese sind später unter dem Titel „Epochen der Geschichte" veröffentlicht worden.) Schon in der Frühzeit seines Schaffens betonte Ranke, daß es „den größten Reiz . . . für ihn habe, den Gang der menschlichen Entwicklung, die Idee der Weltgeschichte aufzusuchen".56 Trotz seines umfangreichen Schaffens und seiner weitgehenden Kenntnisse über den Geschichtsverlauf kann man jedoch nicht sagen, daß Ranke in seiner Weltgeschichte, die er an seinem Lebensabend im Jahre 1879 endlich zu schreiben anfing, diese Konzeption konsequent verfolgt hat. Er ist auch in seiner Weltgeschichte nicht über seine bereits im Jahre 1832 geäußerte Ansicht hinausgekommen, daß sich die Idee der Menschheit in den verschiedenen Völkern ausdrücke. Der weltgeschichtliche Zusammenhang erschöpft sich deshalb bei Ranke im wesentlichen darin, die Verflechtungen der Geschichte der einzelnen Länder nachzuweisen, die Schnittpunkte der Beziehungen zwischen ihnen aufzuzeigen. Seiner weltgeschichtlichen Darstellung liegt im wesentlichen die Auffassung zugrunde, daß eine Behandlung der historischen Begegnungen der Völker bereits den Hauptinhalt der Weltgeschichte ausmache. In seinem Manuskript: „Die Idee der Universalhistorie", das wahrscheinlich aus dem Jahre 1831 stammt, wandte sich Ranke gegen alle Versuche, allgemeine Ideen der Weltgeschichte zu konstruieren. Er war der Meinung, daß man aus den besonderen Vorgängen die Anschauung des Gesamtverlaufs der Weltgeschichte schöpfen könnte. Zwar gibt es auch nach Ranke eine gewisse Kontinuität der weltgeschichtlichen Entwicklung, aber man vermißt einen erweislichen tieferen Zusammenhang in seiner Weltgeschichte, selbst wenn man Rankes eigenen, der Ideenlehre entnommenen Maßstab anlegt. Wenn Ranke in seiner Weltgeschichte sagte, daß er „den Gang der großen Begebenheit feststellen wollte, welcher alle Völker verbindet und beherrscht" 57 , so 66 87
Zit. nach Ranke, Leopold v., Geschichte und Politik, hg. von Hans Hofmann, Leipzig o. J., S. X X X I I . Ranke, Leopold v„ Weltgeschichte, Bd. 1, Leipzig 1881, Vorrede, S. 2.
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trifft dies in eigentlichem Sinne nur auf Mittel- und Westeuropa, um mit den Worten Rankes zu sprechen, auf die „Geschichte der germanischen und romanischen Völker" zu. Die anderen Völker, wie die Völker Osteuropas, Süd- und Ostasiens, des größten Teiles von Afrika und großer Teile von Amerika,bleiben völlig außer Betracht oder - soweit sie in der Weltgeschichte erwähnt sind — stehen sie neben der Darstellung der Geschichte der germanisch-romanischen Völker. Dies fällt namentlich bei der Geschichte des russischen Volkes auf, die Ranke als Bestandteil der Geschichte des Ostens ansah, zu der er von der Geschichte Westeuropas und Mitteleuropas aus nur einzelne Verbindungslinien zog. Wesentliche Berührungspunkte gestand Ranke nur dem Komplex der christlichen Völker Europas germanisch-romanischer Herkunft zu, die für ihn als Ganzes gleichsam einen Block bildeten. Hier wird besonders offensichtlich, wie Rankes Jugenderlebnis der alteuropäischen Lebens- und Geistesformen und ihrer Zusammengehörigkeit bestimmend auf seine weltgeschichtliche Konzeption einwirkte. Als Ahnherr des heutigen historischen Europazentrismus blieb er zwar auch nicht blind gegenüber den Gegensätzen, die das Gefüge der europäischen Staaten selbst (in dem eben genannten engeren Sinne) gefährdeten, aber im großen und ganzen sah er diese Gegensätze als geringfügig an im Verhältnis zu den Staaten des Ostens oder der überseeischen Länder. Er bezog sich immer wieder auf die Gemeinsamkeiten des „mittelländisch-europäischen Kulturkreises", die seiner Meinung nach ein genügend starkes Bindemittel darstellten, um alle europäischen Zwistigkeiten jeweils wieder zu überbrücken. (Hier liegt auch ein wichtiger Ansatzpunkt, an dem die sogenannte Rankegesellschaft im heutigen Westzonenstaat anknüpft.) Während die deutsche imperialistische Geschichtsideologie vor 1945 sich mehr an die Konzeption Fichtes anlehnte, der die Deutschen als „Urvolk" der neueren Geschichte ansah, schwören die heutigen Abendlandtheoretiker unter den westdeutschen Historikern mehr auf Ranke, obwohl sie dessen Optimismus — vor allem hinsichtlich der Rolle der Nationalstaaten und der nationalen Souveränität - völlig über Bord geworfen haben. Sie versuchen daher Ranke gewissermaßen „nach rückwärts zu interpretieren", indem sie seine Auffassung von der Bedeutung der nationalen Souveränität wegzuwischen .oder abzuschwächen versuchen, da sie diese nationale Souveränität im Interesse besonders des westdeutschen und USAImperialismus im Dienste der NATO preisgeben wollen. Charakteristisch für Rankes weltgeschichtliche Konzeption, die in dieser Hinsicht hinter die spätaufklärerische Geschichtsschreibung zurückfällt, ist auch seine Unterschätzung der Rolle der Weltwirtschaft und des Weltverkehrs. Etwas Ahnliches gilt auch für seine Ansicht, daß die Urgeschichte als schriftlos nichts mit der Geschichte zu tun habe. Dadurch verdunkelte sich Ranke selbst die Einsicht in den tatsächlichen Entwicklungsgang der Weltgeschichte, wie sie manche spätaufklärerischen Historiker, zum Beispiel Schlözer,— wenigstens teilweise — bereits besaßen. Welche übertriebene Bedeutung Ranke dem Kriterium des Vorhandenseins schriftlicher Quellen zuschrieb, zeigt die Tatsache, daß er die Geschichte des alten Indien und des alten China „mehr der Naturgeschichte" zurechnete. Während für die spätaufklärerischen deutschen Geschichtsschreiber wie Schlözer die Welt am
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Hoangho und am Indus prinzipiell der Geschichte des alten Europa nicht nachstand, kann bei Ranke davon keine Rede sein. Deshalb hat Rankes Weltgeschichte zwar vielfach anregend gewirkt, aber nicht zu einer verbesserten universalhistorischen Synthese angeregt. Rankes universalhistorische Konzeption förderte lediglich die Abfassung von „Weltgeschichten", die zwar nicht immer dem Rankeschen Gliederungsprinzip huldigten, die jedoch in der Regel die Geschichte der einzelnen Völker mehr oder weniger unverbunden nebeneinander darstellten mit der Ausnahme der Geschichte West- und Mitteleuropas. Rankes Weltgeschichte wurde der Prototyp ausgesprochen europazentrischer Geschichtswerke. Ranke hat seine Ubungstätigkeit im Fach Geschichte ganz im Sinne des Statuts des Berliner philologischen Seminars von 1812 aufgefaßt, in dem es hieß, daß den Studierenden eine solche Ausbildung zu verschaffen sei, daß künftig durch sie „diese Studien erhalten, fortgepflanzt und erweitert werden können".58 Aber er ging noch weit darüber hinaus. Er forderte von jedem Mitglied des Seminars von vornherein hohe Leistungen als Ergebnis selbständiger Untersuchungs- und Forschungstätigkeit. Nach seiner Berufung nach Berlin 1825 pflegte Ranke - zunächst noch nicht regelmäßig - einen kleineren Kreis von jüngeren Historikern und Studenten um sich zu versammeln, mit denen er mittelalterliche Themen behandelte, die ihm für die Schärfung, des kritischen Denkens geeignet erschienen. Zu den Themen, die er dort seit 1833 ständig in Übungen in seiner Wohnung meist einmal wöchentlich behandeln ließ, gehören „Die Ratsbücher Heinrichs VII.", „Kaiser Otto IV. und Kaiser Friedrich II." und andere, die später in der Ausgabe der Acta Henrici VII. (1839) durch den Entdecker der Ratsbücher, Franz von Dönniges, und in dem Fragment „Kaiser Otto IV. und Kaiser Friedrich II." von Otto Abel ihren Niederschlag gefunden haben. Die meisten Arbeiten aber, die Ranke in seinem Seminar anfertigen ließ, wurden später in dem Gemeinschaftswerk der „Jahrbücher des deutschen Reiches unter den sächsischen Kaisern" von der Historischen Kommission der Bayrischen Akademie der Wissenschaften publiziert. Alle diese Arbeiten standen im engsten Zusammenhang mit den Aufgaben der „Monumenta Germaniae Histórica", an denen viele Teilnehmer des Rankeschen Seminars maßgeblich mitgewirkt haben. Dies gilt besonders für Rankes Schüler Rudolf Köpke (1813-1870), der sich besondere Verdienste um die Herausgabe der Reihe „Scriptores" der „Monumenta" erworben hat. Auch Georg Waitz, der jahrelang die Arbeiten an den „Monumenta" leitete, hat später die Methoden seines Lehrers Ranke mit solchem Erfolg an die Göttinger Universität verpflanzt, daß dort die meisten führenden mittelalterlichen Historiker, die vor 1914 in Deutschland wirkten, teilweise oder ganz ihre Ausbildung erhalten hatten. Die Schülerzahl von Georg Waitz, dem Ranke einst geweissagt hatte, er werde der „Muratori der deutschen Geschichte" werden, übertraf übrigens die Rankes noch um ein beträchtliches. 88 Vgl. auch: Engel, Josef, Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, in: HZ., Bd. 189, 1959, S. 330/31.
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Zu weiteren bedeutenden Schülern Rankes zählen Friedrich Wilhelm Giesebrecht (1814-1889), Siegfried Hirsch (1816-1860), Heinrich v. Sybel (1817-1895), Jacob Burckhardt (1818-1897), Wilhelm Wattenbach (1819-1897), Philipp Jaffé (1819-1870), Ernst Ludwig Dtimmler (1830-1902), Alfred Dove (1844-1916). Vor allem waren es Waitz, Köpke, Jaffé und Giesebrecht, sowie Sybel und Burckhardt, die in ihrer eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit die Methoden ihres Lehrers Ranke auf ihre eigene Weise weiterentwickelten, so Waitz in bezug auf die Verfassungsgeschichte, Jaffé in den sogenannten mittelalterlichen Hilfswissenschaften. Wenn diese Historiker später auch auseinandergehen sollten, sie bekannten sich fast alle — mochte es sich um einen Neuhistoriker wie Heinrich von Sybel oder den mittelalterlichen Verfassungshistoriker Georg Waitz handeln - zur Rankeschen Schule. Dies trifft vor allem auf die beiden letztgenannten zu, die im Jahre 1876 zur gleichen Zeit als Mitglieder in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurden. Durch die Rankesche Seminartätigkeit, durch das wachsende Ansehen seiner Schule wurden seine Grundsätze, die nach Waitz „auf die Herstellung zuverlässiger Texte, die Prüfung der Echtheit, die Unterscheidung des Selbständigen und A b geleiteten als notwendige Grundlage aller weiteren historischen Forschung abzielten" 59 , nicht nur in Deutschland, sondern auch darüber hinaus verbreitet, so in den USA besonders durch Bancroft und in England vor allem durch Freeman. Auf die Wirkungen dieser Tätigkeit ist es auch zurückzuführen, daß Ranke in den späteren Jahrzehnten des Lebens an allen wesentlichen Vorhaben zur Schaffung neuer Kommissionen oder Einrichtungen in der Geschichtswissenschaft maßgeblich beteiligt war. Dies gilt im besonderen für die Arbeiten der bayrischen und der preußischen Akademie der Wissenschaften. Im Jahre 1877 entwarf Ranke - auf dem Höhepunkt seines Ruhmes stehend - sogar Statuten einer allgemeinen „Deutschen Akademie", die die Forschungen auf geschichtlichem Gebiet in allen Ländern Deutschlands zusammenfassen sollte. Er wollte dieser Einrichtung besonders die Arbeiten an der „Monumenta Germaniae Histórica" und an der „Geschichte der Wissenschaften in Deutschland" übertragen. Daß dieses Werk nicht zur Ausführung gelangte, hatte seine inneren Gründe, vor allem darin, daß Ranke, der nicht im Bunde mit der fortschrittlichsten Richtung in der Wissenschaft stand, schon allein aus diesem Grunde nicht in der Lage war, leitende Gesichtspunkte auszuarbeiten, die als geistige Klammer für ein derartiges Unternehmen wirken konnten. Die Erarbeitung einer Gesamtkonzeption für eine derartige historische Fachakademie konnte nur in enger Verbindung mit den fortschrittlichsten Kräften der Nation erfolgen. Die Führung dieser Kräfte aber ging in der Spätzeit Rankes bereits an die Arbeiterbewegung über, deren größte Theoretiker, Marx und Engels, mit der materialistischen Geschichtsauffassung das wahrhaft wissenschaftliche Rüstzeug für den Historiker geschaffen hatten. Von diesem Standpunkt aus war Friedrich Engels in der Lage, das treffende Urteil zu fällen, daß der „alte 89
Zit. nach Brandi, Karl, Mittlere und neuere Geschichte, in: Aus 50 Jahren deutscher Wissenschaft, hg. v. Gustav Abb, Jena 1930, S. 175.
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theoretisch-rücksichtslose Geist" in der deutschen Wissenschaft „verschwunden"1'10 sei. Mit besonderem Recht konnte dies von der Geschichte behauptet werden. Es waren gerade die „Rankeepigonen", die die Gefahren heraufbeschworen, die der Historiker Pflugk-Harttung in einem im Jahre 1888 veröffentlichten Artikel „Gefahren in der Geschichtswissenschaft" ansprach. Es war die Kehrseite der schulbildenden Wirkung der kritisch-philologischen Methode, wenn Pflugk-Harttung mit Recht feststellte: „Hatte man früher über hohe unlösbare Fragen gestritten, so kämpfte man jetzt um niedere, die nicht selten ebenso ungelöst blieben". 01 Durch den Mangel an Synthese beziehungsweise an Anleitung zur richtigen historischen Synthese, die für die Rankesche Schule in einem hohen Grade charakteristisch ist, haben viele Historiker, die Ranke nachfolgten, ein anschauliches Beispiel für eine „Stoffhuberei" geboten, die der Tübinger Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer so geistreich verspottete. Durch diese Überschätzung der Stoffsammlung trat eine Hypertrophie an analysierenden Arbeiten in der Geschichtswissenschaft ein. Die kritische Methode wurde immer mehr zum Selbstzweck, wozu Ranke bereits den Grund gelegt hatte. In Verbindung damit gingen das Bewußtsein für den großen Zusammenhang in den geschichtlichen Geschehnissen und der Blick für das Wesentliche verloren, so daß schließlich jede Detailschilderung, sofern sie nur die kritischen Regeln Rankes befolgte, an sich schon für eine wertvolle Leistung galt. In diesem Sinne muß die Feststellung Sybels in seiner Gedächtnisrede auf Ranke: „Für die kritische Erforschung und Feststellung des geschichtlichen Tatbestandes hat Rankes Lehrweise in Deutschland geradezu epochemachend gewirkt" ergänzt beziehungsweise korrigiert werden. Es steht zweifellos mit dem Mangel an theoretischem Gehalt der Rankeschen Geschichtsschreibung in Zusammenhang - ein Mangel, der bei seinen geistigen Nachfahren besonders in der Epoche des Imperialismus in immer erschreckenderer Weise zutage trat - , daß er zwar in formal-methodischer Beziehung eine große Schülerschaft hatte, aber nicht im historisch-politischen Sinne. In letzterer Hinsicht machte er zumeist in negativer Weise Schule. Dies gilt zum Beispiel für seine abwertende Stellungnahme zu den Volksbewegungen und zu der Rolle der Volksmassen in der Geschichte. Diejenigen seiner Schüler, die wie Sybel als ausgesprochen politische Historiker wirkten, haben ihre Konzeption im wesentlichen nicht von Ranke bezogen, sondern von dem typischen Nationalliberalismus der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, dem Ranke zwar nicht völlig fernstand, dessen Ansichten er jedoch überwiegend nicht teilte;. Es ist auch kein Zufall, daß die meisten der bedeutenden Schüler Rankes - mit Ausnahme Sybels und Burckhardts - sich der mittelalterlichen Geschichte zuwandten. Hier konnten ß0
Engels, Friedrich,
L u d w i g Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen
Philosophie, in: Marx/Engels, Ausgew. Schriften in 2 Bdn., Berlin 1952, S. 374. 01
Pflugk-Harttung, Julius
v., Gefahren in der Geschichtswissenschaft, in: Die Grenz-
boten, 3. Quartal, 1888, S. 3äoff. — Angef. auch b. Fricke, Dieter, Zur Militarisierung des deutschen Geisteslebens im Wilhelminischen Kaiserreich. Der Fall Leo Arons, in: Z f G , H . 5, i960, S. 1079. 65
Sybel, Heinrich v., Gedächtnisrede auf Leopold von Ranke, a. a. O., S. 459.
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sie die besondere Stärke entfalten, zu der sie die Rankesche Schule vor allem befähigt hatte. Einer besonderen Erwähnung bedarf das Verhältnis zwischen Ranke und Burckhardt. Es ist zweifellos irreführend, wenn Hermann Oncken meinte, daß „Jacob Burckhardt der nächste Geistesverwandte Rankes im Reiche der historischen Muse"63 sei. Zweifellos gab es vieles, was beide Männer miteinander verband, insbesondere ihre Feindschaft gegen die Volksbewegungen. Auf der anderen Seite nahm Burckhardt im Unterschied zu Ranke eine durchaus nicht zustimmende Haltung zum preußischen Staat ein, dessen Militarismus er als Schweizer Bürger ablehnte. Den - wenn auch gedämpften - Optimismus Rankes, der die Hoffnung auf „eine regelmäßige Fortentwicklung der Weltgeschichte" hegte, lehnte der Baseler ab. Dies gilt besonders für Rankes Auffassung von dem Vorrang des Staates vor der Kultur. Es ist deshalb auch nicht erstaunlich, daß Burckhardt die Berufung auf den frei gewordenen Lehrstuhl Rankes nach Berlin im Jahre 1872 ablehnte. Burckhardt machte in einer anderen Weise Schule als Ranke. Auf ihn beriefen sich später — insbesondere im imperialistischen Deutschland — die sogenannten Kulturhistoriker. Auch diese (wie Gothein, Steinhausen Goetz) nahmen jedoch im Unterschied zu den Anhängern Rankes unter den imperialistischen deutschen Historikern, den „Jungrankeanern" (dieser Ausdruck findet sich zum ersten Male bei Karl Lamprecht), eine liberalere beziehungsweise liberalisierende Haltung ein. Rankes Einfluß war bis in die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein in der deutschen Geschichtsschreibung vorwiegend. Als jedoch der Kampf um die Einheit Deutschlands in sein entscheidendes Stadium eintrat, wurde seine Geltung durch die kleindeutsch-borussische Schule eines Droysen, Sybel und Treitschke zurückgedrängt. Der letzte war es auch, der - nach der Ablehnung Burckhardts 1874 auf Rankes Berliner Lehrstuhl berufen wurde. Nach der Durchführung der Revolution von oben im Zuge der Einigung Deutschlands 1871, insbesondere aber im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, der Periode des Übergangs zum Imperialismus in Deutschland, machte sich der Einfluß Rankes erneut geltend, zunächst an der Berliner Universität. Während sich die bürgerlich-positivistische Richtung in Berlin keine größere Geltung zu verschaffen vermochte, fand die Nachfolge Rankes in der Hauptstadt PreußenDeutschlands, unter den Bedingungen des beginnenden Imperialismus einen günstigen Boden vor. Der Rückgriff auf Ranke kann auch aus den verstärkten antimaterialistischen Tendenzen erklärt werden, die ein Grundzug der werdenden imperialistischen Ideologie waren. So wurde der bei Ranke vorhandene romantische Zug seiner Geschichtsschreibung bei manchen „Jungrankeanern" noch ins Mystische übersteigert. Ranke war in manchem von den feudal-reaktionären Ideologien der Romantik in weit höherem Maße beeinflußt als die kleindeutschen beziehungsweise neupreußischen Historiker, die bei allem Zusammengehen mit dem Junkertum in Preußen doch nicht so dem Restaurationsregime verhaftet waren wie Ranke. 8:1
Oncken,
Hermann,
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Besonders deutlich ist dieser Übergang von der kleindeutschen Richtung zu den , Jungrankeanem" bei Erich Mareks (1861-1938), der nach den treffenden Worten Delbrücks „die Betrachtung aus dem Sybelschen Licht und der Sybelschen Auffassung in die Rankesche" überleitete. 64 Auch Max Lenz (1850-1932), ordentlicher Professor in Berlin von 1880 bis 1914, berief sich in methodischer Hinsicht auf die „Universalität" und „Objektivität" Rankes, obwohl er eigentlich ein Schüler Sybels war. Für Lenz ist typisch, daß er Rankes Anschauungen von der Objektivität noch idealisierte. Ranke war für ihn der größte aller Historiker. Er sah nicht die Grenzen der „europazentrischen" Auffassung Rankes, die einem wirklichen Universalismus widerspricht. Ebenso hielt Lenz Rankes Enthobenheit von den parteipolitischen Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden Klassen bereits für ein Zeichen von „Objektivität", ohne sich der Klassenbedingtheit sowohl Rankes als auch seiner eigenen Auffassungen bewußt zu sein, die eine objektive Erkenntnis nicht zuließen. Wie imaginär diese „Objektivität", dieses Idol einer sogenannten „reinen", von aller Politik „freien Wissenschaft" von Lenz und den anderen Jungrankeanem einschließlich Meineckes und Onckens ist, zeigte sich einmal an ihrem Unvermögen, den Marxismus und die Arbeiterbewegung historisch zu beurteilen, zum anderen darin, die Epoche des Imperialismus richtig zu verstehen. Den ersten Weltkrieg und seinen Ausgang haben sie weitaus mehr beklagt als historisch analysiert. Warum das „Ranke-Epigonentum" sich dazu berufen fühlte, Rankes Auffassung als eine für die Bestrebungen des deutschen Imperialismus besonders brauchbare historische Konzeption hinzustellen, geht mit besonderer Deutlichkeit aus dem Aufsatz von Ludwig Dehio: „Ranke und der deutsche Imperialismus" hervor. 65 Am Beispiel von Max Lenz führt Dehio aus, warum und wie die Ansichten Rankes über die europäische Politik und ihre geschichtliche Verwurzelung auch als angeblich noch für die Zeit nach 1900 gültig erklärt wurden. Was Dehio jedoch nicht sieht, ist, daß durch diese Berufung auf Ranke die besondere Gefährlichkeit und Aggressivität des deutschen Imperialismus getarnt wurde. Die Apologeten des deutschen Imperialismus wollten den anderen Großmächten suggerieren, daß es sich bei den Aspirationen des kaiserlichen Deutschland um Bestrebungen zur Herstellung beziehungsweise zur Aufrechterhaltung des europäischen Gleichgewichts handelte, die ganz den alten Traditionen des Kontinents entsprächen. Da Dehio selbst auf dem Klassenstandpunkt der imperialistischen Bourgeoisie steht, läßt er auch ganz außer acht, daß der Rückgriff auf Ranke -ganz zu schweigen von seiner antidemokratischen und antisozialistischen Funktion — den Niedergang der spätbürgerlichen Historiographie verschleiern sollte. Eine wesentliche Rolle spielte dabei auch der Versuch einer „ethischen" Rechtfertigung der Politik des deutschen Reiches, da Ranke den Glauben hegte, daß dem Staat ein höheres sittliches Prinzip innewohne. 64
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Delbrück, Hans, Rezension zu: Kaiser Wilhelm I. Von E. Mareks, in: Preuß. Jahrbücher, Bd. 91, Berlin 1898, S. 139. Vgl. Dehio, Ludwig, Ranke und der deutsche Imperalismus, in: HZ., Bd. 170,
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Nach dem Zusammenbruch des Hitlerfaschismus im 2. Weltkrieg verlor das Vorbild des Rankeschen Schaffens weitgehend seine Anziehungskraft. An seine Stelle trat jetzt mehr und mehr Jacob Burckhardt. Typisch dafür ist ein Vortrag Friedrich Meineckes von 1948 über „Ranke und Burckhardt" 66 , mit der Fragestellung: Wird uns und den nach uns historisch Forschenden nicht Burckhardt am Ende wichtiger werden als Ranke? Meinecke beantwortete diese Frage damit, daß er Burckhardt eine tiefere und stärkere Einsicht in das geschichtliche Wesen zuschreibt, infolgedessen habe dieser auch das Kommende bestimmter und sicherer voraussehen können als Ranke. Der düstere Aspekt des völlig perspektivelosen deutschen Imperialismus, wie er sich Meinecke 1948 darbot, veranlaßte ihn zu der Feststellung, daß Burckhardts Pessimismus heute angebrachter sei als der Rankesche Optimismus, sowohl was die Rolle des Staates als auch die weitere Entwicklung der Weltgeschichte anbetrifft. 67 Meinecke rechnete es faktisch Burckhardt als Verdienst zu, daß er das, was er vom Standpunkt der bourgeoisen Reaktion als „Barbarei" bezeichnet, deutlicher habe heraufziehen sehen als Ranke. Besonders bezeichnend sind Meineckes Ausführungen darüber, daß „dieser verbissene Feind moderner Demokratie" (Meinecke meint damit Burckhardt — G. S.) unserer heutigen demokratischen Aera wieder näher gerückt ist als Ranke. Dies heißt nichts anderes, als daß Ranke weniger zur Begründung eines enragierten Antikommunismus geeignet erscheint als Burckhardt. Auch heute noch - zu Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts - gibt es unter den westdeutschen Historikern Stimmen, die Burckhardts Pessimismus als aktueller ansehen als den Glauben Rankes an den „normalen Gang der Weltgeschichte", zum Beispiel der Dahlemer Historiker Walter Bußmann. Aber im großen und ganzen ist die Zeit Rankes beziehungsweise die Periode eines , ,Neurankeanismus" in zweiter Auflage wieder im Kommen. Dies ist keineswegs ein Zufall, sondern zeigt, daß sich die Ideologen des wiedererstandenen westdeutschen Imperialismus durchaus darüber im klaren sind, warum eine Neuauflage des Jungrankeanertums zur historischen „Begründung" seiner Machtansprüche und aggressiven Pläne benötigt wird. Besonders deutlich tritt dies in der Gründung und in der Tätigkeit der sogenannten Rankegesellschaft in Erscheinung, die sich bezeichnenderweise in ihrem Untertitel „Vereinigimg für Geschichte im öffentlichen Leben" nennt. Aufschlußreich für die von dieser Gesellschaft verfolgten Tendenzen ist die Konferenz, die sie im Herbst 1954 an der „Ostdeutschen Akademie" in Lüneburg unter dem Titel: „Probleme des deutschen Geschichtsbildes" veranstaltete. Zwei Bestrebungen standen im Vordergrund: Erstens der Versuch, die aggressiven preußisch-militaristischen und imperialistischen Kräfte reinzuwaschen und gleichzeitig von den Nazis, die angeblich nur aus Bayern und Österreich kamen, ab0,1
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Meinecke, Friedrich, Ranke und Burckhardt. Ein Vortrag gehalten in der Deutschen Akademie d. Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1948, S. 4. Ähnlich meinte auch Theodor Schieder 1950: „Burckhardt kommt unserem Bedürfnis, unserer Verwirrung. . . zu begegnen, zunächst mehr entgegen." Schieder, Theodor, Das historische Weltbild Rankes, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 1. Jg., H. 3, Stuttgart 1950, S. 192.
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Gerhard Schilfert
zugrenzen. Zweitens derVersuch, mit Hilfe der Theologie die sogenannte Geschichtsmüdigkeit zu tiberwinden. (Hier ist die Berufung auf Ranke am deutlichsten.) Zu diesemZweck soll die Geschichte mehr als bisher im Sinne Rankes unter religiös-christlichem Aspekt gesehen werden. Wie bereits aus diesen Beispielen hervorgeht, dient die Berufung auf Ranke also dazu, die aggressiven imperialistischen Kräfte nicht nur zu rehabilitieren, sondern ihre menschenfeindlichen Bestrebungen mit dem Heiligenschein eines religiös-verbrämten antikommunistischen Kreuzfahrertums zu verhüllen.68 Es ist kein Zufall, daß in dem Bonner klerikal-militaristischen Obrigkeitsstaat in dieser Weise an die negativsten Seiten des Rankeschen Werkes angeknüpft wird. Die Historiker der Deutschen Demokratischen Republik sind dagegen auf der Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung in der Lage, genau zu bestimmen, was an dem Erbe Rankes von bleibender Bedeutung ist und welche Züge seines Schaffens nicht zu den positiven Traditionen der deutschen Geschichtsschreibung gehören. Ranke hat unerläßliche formal-technische Methoden für eine wissenschaftliche Bearbeitung aller geschichtlichen Probleme entwickelt, konnte aber selbst die Geschichte noch nicht wahrhaft wissenschaftlich betreiben, wie dies vom Standpunkt der jetzigen Entwicklung der Geschichtswissenschaft auf der Grundlage des historischen Materialismus aus nicht nur möglich, sondern auch unumgänglich ist. Für die zukünftige Rolle der Geschichtswissenschaft nach Rankes Tod, insbesondere für ihre erzieherische Funktion als Zweig der Gesellschaftswissenschaft,war es jedoch verhängnisvoll, daß die kritisch-philologischen Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Geschichtsschreibung nicht vom fortschrittlichen, sondern vom reaktionären Klassenstandpunkt aus zuerst entwickelt und eingeführt wurden. Dadurch wurde der Anschein hervorgerufen, als ob es notwendigerweise eine tiefere Beziehung zwischen diesem Klassenstandpunkt und der Ausarbeitung der an sich klassenindifferenten Arbeitstechnik der kritisch-philologischen Methode gäbe. In Wirklichkeit war, wie wir gezeigt zu haben glauben, die Ausarbeitung der Grundsätze dieser Methode nur auf Grund der damals fortschrittlich-bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung möglich. Daß diese Methode jedoch in dem kapitalistischen Deutschland bis heute im Interesse der reaktionären Klassen verwandt wurde, und dies in Westdeutschland auch noch heute geschieht, hat sie in den Augen der jungen fortschrittlichen, besonders der marxistischleninistischen deutschen Geschichtswissenschaft zeitweilig verdächtig gemacht. Um so mehr ist es zu begrüßen, daß alle Historiker der DDR darum bemüht sind, die positiven Errungenschaften der kritisch-philologischen Methode für die Lösung der Aufgaben, die der Geschichtswissenschaft bei der Vollendung des sozialistischen Aufbaus gestellt sind, fruchtbar zu machen. 08 Bezeichnend dafür ist folgende Äußerung des derzeitigen Herausgebers der „HistorischenZeitschrift": „Auch nur bei einer oberflächlichen Lektüre Rankescher Werke dämmert dem Leser eine Ahnung auf, daß hier der Stoff . . . aber sogleich nur die Zeichenschrift einer Welt höherer Ordnung ist. An dieser Stelle beginnt heute unser Interesse an Leopold von Ranke." (Hervorhebung von mir — G. S.) So Theodor Schieder in: Das historische Weltbild L. v. Rankes, a. a. O., S. 139. Auch Hans Rothfels steht diesen Auffassungen nicht fern.
Die kleindeutsche Schule (Droysen, Sybel, Treitschke) Hans Schleier
Die kleindeutschen Historiker bildeten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die herrschende Schule der bürgerlichen deutschen Geschichtsschreibung. In den fünfziger und sechziger Jahren griffen sie maßgeblich in die politischen Auseinandersetzungen für die nationale Einigung Deutschlands unter der Führung Preußens ein; seit 1871 galten sie als die offiziöse historische Schule Preußen-Deutschlands; und erst mit dem Übergang zum Imperialismus und die dadurch bedingte Zuspitzung der Klassengegensätze und der Widersprüche im Innern wie nach außen wurde diese Schule durch andere reaktionäre bürgerliche Richtungen abgelöst. Der Name kleindeutsche oder preußisch-deutsche Historiker kennzeichnet ihre politische Haltung in der Reichsgründungszeit und ihre einseitige historiographische Verherrlichung des Preußentums. Als politische Historiker werden im engeren Sinne diejenigen, freilich die einflußreichsten, bezeichnet, die sich relativ offen zu den politischen oder, wie sie es auch ausdrücken, ethischen Aufgaben jeder Geschichtsschreibung bekannten. Während Friedrich Christoph Dahlmann (1785-1860) noch mehr ein Bindeglied vom konstitutionellen Liberalismus zur preußisch-deutschen Schule darstellt, sind als ihre namhaftesten und einflußreichsten Vertreter zu nennen: Ludwig Häusser (1818-1867), Max Duncker (1811-1886), Adolf Schmidt (1812-1887), Hermann Baumgarten (1825-1893), Bernhard Erdmannsdörffer (1833-1901), vor allem aber Johann Gustav Droysen (1808-1884), Heinrich von Sybel (1817 bis 1895) und Heinrich von Treitschke (1834-1896). Johann Gustav Droysen wurde 1808 in Treptow als Sohn eines Garnisonspredigers geboren, der mit dem Kreis um Blücher in engem Kontakt stand. Schon das Elternhaus richtete seine Erziehung auf Luthertum und Preußentum aus, die zeitlebens für ihn bestimmend blieben. Von 1826 an studierte Droysen in Berlin. Zu seinen einflußreichsten Lehrern gehörten Boeckh und Hegel. 1833 habilitierte er sich in Berlin und erhielt dort 1835 eine außerordentliche Professur. Seine ersten Arbeiten galten der Antike, der Übersetzung der Werke des Aeschylus (2 Bände, 1832) und der Komödien des Aristophanes (3 Bände, 1836—38). 1833 erschien die Geschichte Alexanders des Großen (Fortsetzung mit der Geschichte des Hellenismus, 1836, 1843), in der er im Militärstaat Makedonien und seiner Einigung der griechischen Kleinstaaten das Vorbild für die nationale Einigung Deutschlands erblickte. Mit dem Antritt der Professur in Kiel (1840) verlagerten sich die Studien Droysens immer mehr auf die neue Geschichte (Vorlesungen über die Freiheitskriege, 2 Bände,
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Hans Schleier
1846). Zugleich begann er sich aktiv an den politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit zu beteiligen, zunächst in Schleswig-Holstein, dann in der Revolution von 1848 als Mitglied des führenden Professorenkreises der Paulskirche. Seit 1850 wirkte er in Jena, von 1859 bis zu seinem Tode in Berlin. Trotz der Enttäuschung Droysens über Preußens Haltung 1848/50 prägte sich bei ihm in den fünfziger Jahren die Machtstaatsidee immer stärker aus. Er wurde zum erbitterten Gegner der Demokratie und des Linksliberalismus, aber auch der Kreuzzeitungspartei. Das letztere hinderte ihn freilich nicht, aus dem „Grafen York" (2 Bände, 1851/52), einem der galligsten Junker, wie Mehring sagte1, einen Vorkämpfer für die nationalstaatliche Einigung zu machen. Sein Hauptwerk war die „Geschichte der preußischen Politik" (ab 1855, bis zu seinem Tode 14 Bände, die bis 1756 führten). Parteipolitisch stand er auf dem äußersten rechten Flügel der Liberalen. Er gehörte dem Kreis um die altliberalen „Preußischen Jahrbücher" an. Seit 1864 wurde seine Anerkennung für Bismarck immer vorbehaltloser. In den letzten Jahrzehnten seines Lebens leitete Droysen eine Reihe von Aktenpublikationen aus den preußischen Archiven, die die borussische Legende stützen sollten. 1884 verstarb er in Berlin. Heinrich von Sybel ist unter den preußisch-deutschen Historikern am engsten mit der Großbourgeoisie verbunden. Im Unterschied zu dem oft abstrakt-idealistischen Gepräge bei anderen bürgerlichen Ideologen tritt in Sybels Schriften das Bewußtsein dieses Zusammenhanges klar hervor, ein Bewußtsein, zu dem Herkunft und Entwicklungsgang gleichermaßen beigetragen haben. Sybel wurde 1817 in Düsseldorf als Sohn eines vermögenden Juristen und preußischen Verwaltungsbeamten, eines Aktionärs und Rittergutsbesitzers, geboren. Durch seinen Vater kam der junge Sybel mit dem Kreis der Hansemann, Camphausen, Mevissen, also der Welt der preußisch-gesinnten, gemäßigt-liberalen rheinischen Großbourgeoisie, in enge Berührung. Bei seinem Studium in Berlin wurden der Rechtshistoriker Savigny und Ranke, zu dessen engeren Schülern er gehörte, seine einflußreichsten Lehrer. Daneben übten die Werke Niebuhrs und des antirevolutionären Burke großen historischpolitischen Einfluß auf ihn aus. Seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten (Dissertation 1838, Geschichte des ersten Kreuzzuges, 1841, Die Entstehung des deutschen Königtums, 1844) blieben ganz im Bereiche des Mittelalters und der Rankeschen Methodik. Nach der Habilitation (1840) und der außerordentlichen Professur in Bonn (1844) übernahm Sybel 1845 eine Professur in Marburg. Bald in die Klassenkämpfe der rheinischen Bourgeoisie hineingezogen, bekämpfte er publizistisch den stockreaktionären Adel und den Klerikalismus (mit Gildemeister; Der heilige Rock zu Trier, 1844). Die Schrift „Die politischen Parteien der Rheinprovinz" 2 (1847) ist außerordentlich aufschlußreich für die großbürgerliche 1
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Mehring, Franz, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 1, Berlin 1960, S. 566. (Ges. Schriften, Bd. 1, hg. v. Th. Höhle, H. Koch, J. Schleifstein.) S. auch den Beitrag von Karl Obermann, Die deutschen Historiker in der Revolution von 1848/49, in diesem Band, S. 224.
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Klassenposition Sybels. Er verlangte für das Kapitalvermögen nach seinem ökonomischen Siegeszug endlich auch den ihm gebührenden politischen Einfluß - einen Einfluß, den er durch Reformen von oben erwartete. Klar wurde die Zwischenposition der Bourgeoisie zwischen Feudalismus und Proletariat bezeichnet und gegen den drohend heranwachsenden vierten Stand die feste Front der besitzenden Klassen in enger Anlehnung an den preußischen Staat gefordert. 1848 finden wir Sybel als Rechtsliberalen im Frankfurter Vorparlament und 1850 im Erfurter Parlament als Fürsprecher der Unionsverfassung. Die Erfahrungen des Revolutionsjahres 1848 spiegeln sich in Sybels antifeudalen wie antidemokratischen Werken der fünfziger Jahre wider (Die christlich-germanische Staatslehre, 1851, Geschichte der Revolutionszeit von 1879 bis 1900, ab 1853). 1856 wurde Sybel nach München berufen, wo er bis 1861 eine rege organisatorische und politisch-wissenschaftliche Wirksamkeit entfaltete (als Sekretär der Historischen Kommission). 1859 gründete er hier die „Historische Zeitschrift", fortan das erste Organ bürgerlicher Geschichtsschreibung und von ihrem Herausgeber ganz im Sinne der preußisch-deutschen Schule gelenkt. »Seit 1861 an der Bonner Universität, wirkte er von 1862 bis 1864 im Preußischen Abgeordnetenhaus als einer der Führer des oppositionellen linken Zentrums im Verfassungskonflikt. Im Konstituierenden Reichstag 1867 stand er schon auf dem äußersten rechten Flügel der Liberalen als enger Anhänger Bismarcks. Noch einmal im Abgeordnetenhause (1874-1880), agierte er besonders eifrig und wenig wählerisch als Kulturkämpfer. 1875 ging Sybel nach Berlin, wohin man ihn als Direktor der preußischen Staatsarchive berufen hatte. Hier entfaltete er in den nächsten zwanzig Jahren eine so umfassende und weitreichende organisatorisch-wissenschaftliche Tätigkeit, daß er geradezu zum leitenden Kopf der kleindeutschen Schule wurde. Sichtbarster Ausdruck für seine Stellung war, daß man ihn nach Rankes Tode (1886) zu dessen Nachfolger als Vorsitzenden der Historischen Kommission wählte. Sein letztes umfangreiches Werk „Die Begründung des Deutschen Reiches" (ab 1889) blieb bei seinem Tode (1895) unvollendet. Noch ungleich mehr politische Natur als in Sybel steckte in Heinrich von Treitschke, dem tönendsten und publizistisch nachhaltigsten Vertreter der kleindeutschen Schule. Geboren 1834, wuchs er in Dresden in der beschränkten Atmosphäre einer später auch zu Hofe gehenden Offiziersfamilie von streng konservativ-partikularistischer und religiöser Gesinnung auf. Schon in j ungen Jahren löste sich der junge Treitschke mehr und mehr von dieser Welt und formte seine politischen Auffassungen entscheidend während seiner Studienzeit in Bonn (ab 1851). Vor allem die Vorlesungen Dahlmanns hatten angesichts der nationalen Zerrissenheit Deutschlands die nachhaltigste Wirkung auf ihn. Sie brachten ihm die enge Verbindung von Politik und Geschichte in rechtsliberaler Version nahe und bestärkten seine Hinwendung zu Preußen. Von großem Einfluß erwies sich auch das Studium der Werke kleindeutscher Ideologen wie Mommsen und Gneist, der Vulgärökonomen Knies und Roscher, der „Realpolitik" Rochaus. 18
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H a n s Schleier
Nach der Habilitation (1858, Die Gesellschaftswissenschaft) begann Treitschke 1859 in Leipzig unter großem Zulauf seine Vorlesungen. Ihres propreußischen Gehalts wegen erhielt er nicht in Sachsen, sondern im badischen Freiburg eine außerordentliche Professur (1863). Treitschke gehörte zu den frühesten und erfolgreichsten Autoren der „Preußischen Jahrbücher". In ihnen veröffentlichte er zu Beginn der sechziger Jahre verschied Nne, von liberalen Gedanken getragene Essays (Die Grundlagen der englischel Freiheit, Milton, Das Selfgovernment, Die Freiheit, Fichte). Im Mittelpunkt dieser im ganzen fortschrittlichen Aufsätze Stand, auch wenn sie zum Teil englische Geschichte behandelten, die Frage der nationalen Einigung und der bürgerlichen Monarchie. Im Verfassungskonflikt noch in Opposition zur preußischen Regierung, war er seit 1864 Bismarckianer. 1866 ging er nach Berlin, um mit Wehrenpfennig die Redaktion der „Preußischen Jahrbücher" zu übernehmen, die er dann bis 1889 geleitet hat. 1866 Professor in Kiel, 1867 in Heidelberg, wurde er 1874 nach Berlin berufen, um hier den Kreis der militanten politischen Historiker zu verstärken. Mit Zustimmung Bismarcks ließ er sich 1871 in den Reichstag wählen, dem er bis 1879 auf der äußersten Rechten der Nationalliberalen, dann bis 1884 als Unabhängiger angehörte. Ohne Rücksicht auf seine Fraktionszugehörigkeit folgte er in allen entscheidenden Fragen den Wendungen der Bismarckschen Diplomatie und unterstützte sie publizistisch. Ideologisch verkörperte Treitschke so sehr das Bismarck-Reich, daß ihn Alfred Dove förmlich zum „Propheten unseres Reichs" 3 erheben konnte. Seit 1879 erschienen fünf Bände seines Hauptwerkes der „Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert". Die Übernahme der „Historischen Zeitschrift" nach Sybels Tode konnte sich nicht mehr entscheidend auswirken, da Treitschke schon kurz darauf (1896) verstarb. Zu diesen führenden Vorkämpfern der preußisch-deutschen Schule kommen ihre Schüler und Mitläufer, die ein weitverzweigtes Netz über die deutschen Universitäten und geschichtswissenschaftlichen Institutionen knüpften. Kleindeutsch im weiteren Sinne, ohne sich, zur politischen Geschichtsschreibung zu bekennen, waren auch engere Rankeschüler wie Georg Waitz (1813-1886) und Wilhelm Giesebrecht (1814—1889) gesinnt. Theodor Mommsen (1817-1903) gehört zwar in seiner Geschichtsschreibung weitgehend zu den kleindeutschen Historikern, steht aber dennoch am Rande der Schule. Mommsen bekämpfte nach 1871 als Linksliberaler manche Seiten des preußisch-deutschen Bonapartismus und Militarismus. Sein Wirken weist daher in starkem Maße positive Tendenzen auf. Die preußisch-deutsche Schule fand eine Reihe gewichtiger Mitstreiter in den angrenzenden Disziplinen, die ihren politisch-ideologischen Einfluß vervielfältigten: So der Nationalökonom und Kathedersozialist Gustav Schmoller mit dem Kreis um seine Zeitschriften und dem Verein für Sozialpolitik - die Juristen Rudolf 3
Dove, Alfred,
Der Prophet unseres Reichs, zuerst 1871 in der Wochenschrift
„ I m neuen R e i c h " , wieder abgedruckt in: Ausgew. Schriftchen vornehml. histor. Inhalts, Leipzig 1898.
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von Gncist und Ludwig Aegidi - der Begründer der „Preußischen Jahrbücher" Rudolf Haym und sein Nachfolger in der Redaktion Wilhelm Wehrenpfennig der Kulturhistoriker Gustav Freytag (politisch nach 1866 keineswegs bismarckfromm), der Leiter der „Grenzboten" und der Zeitschrift „Im neuen Reich". Die preußisch-deutschen Historiker waren ihrem Klassenstandpunkt nach Wortführer der deutschen Großbourgeoisie und in derem Sinne Verfechter des Klassenkompromisses mit dem Adel und der preußischen Krone. Sie verkörperten die Erfahrungen der Bourgeoisie mit dem Revolutionsjahr 1830, mit dem sozialen Wachstum des europäischen Proletariats in den vierzig« Jahren, vor allem aber mit dem „tollen Jahr 48". In der Revolution 1848 gehörten die kleindeutschen Historiker zu dem führenden Professorenkreis der Frankfurter Nationalversammlung, der die bundesstaatliche Einigung Deutschlands durch Reformen von oben unter Abwürgung der Volksbewegung erstrebte. Die antidemokratische, antirevolutionäre Gesinnung wurde zu einem entscheidenden Grundzug ihrer Geschichtsauffassung., .Und wie die Bourgeois sangen, so pfiffen die Professoren" \ sagte Friedrich Engels zu Recht. DieHaltung der kleindeutschen Historiker mußte daher ebenfalls widersprüchlich und zwiespältig sein. Fortschrittlich waren ihr Eintreten für die nationale Einigung Deutschlands, ihr Angehen gegen Feudalismus und Legitimismus, die Wahrung und Vertretung der bourgeoisen Interessen gegen das Junkertum. Aus Furcht vor dem Proletariat führten sie aber keinen konsequenten Kampf gegen die Reaktion, strebten vielmehr nach einem Zusammengehen mit dem reaktionären Preußentum und dem volksfeindlichen preußischen Militarismus. Gegen die demokratischen Kräfte schien ihnen der preußische Staat den nötigen Schutz nach unten zu gewähren. Sie agierten als beredte Anwälte der staatlichen Macht, wobei sie der Bourgeoisie unablässig Preußens „deutschen Beruf" auch für die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise einhämmerten. Die auf der Grundlage dieser Position betriebene Geschichtsbaumeisterei mußte um so wirksamer und gefährlicher werden, weil darin eine Reihe progressiver Tendenzen enthalten war, die mit reaktionären Gedanken zu einem angeblich untrennbaren Geschichtsbild verwoben wurden. In dieser Grundlinie stimmten die preußisch-deutschen Historiker bei allen Unterschieden im einzelnen und ihrer speziellen Arbeitsgebiete überein. Die breitangelegten und schulemachenden historischen Werke der Häusser, Droysen, Max Duncker, Sybel und Mommsen prägten in den fünfziger Jahren die preußisch-deutsche Geschichtsauffassung. 5 Die Notwendigkeit des großbürgerEngels, Friedrich, Gewalt u. Ökonomie bei der Herstellung des neuen Deutschen Reiches, in: Über die Gewaltstheorie, Gewalt und Ökonomie. . ., Berlin 1946, S. 29. Hierzu s. auch Engelberg, Ernst, Deutschland von 1849—1871, Berlin 1959, S. i f f . , und zum Charakter des Bismarck-Reiches S. 247fr. (Lehrbuch der deutschen Geschichte, 7. Beitrag.) 5
L . Häusser: Deutsche Geschichte v o m Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des Deutschen Bundes (ab 1854); J. G. Droysen: Graf Y o r k (1851/52) und Geschichte der preußischen Politik (ab 1855); H. v. S y b e l : Geschichte der R e volutionszeit (ab 1853); Th. Mommsen: Römische Geschichte (ab 1854) u. a.
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lich-junkerlichen Kompromisses und des Nationalstaates, die Preußenlegende wurden zu Schwerpunkten der pragmatischen und ganz zeitbedingten Geschichtsauffassung. Selbst das scheinbar entlegene Gebiet der Antike hatte zur Bekräftigung ihrer politischen Gedanken zu dienen. Doch verlagerte sich der Forschungsschwerpunkt der kleindeutschen Schule eindeutig auf die neue Geschichte. Immerhin haben diese Werke das Verdienst, die Notwendigkeit der nationalstaatlichen Einigung Deutschlands und das unaufhaltsame Vordringen der kapitalistischen Produktionsweise aufgezeigt und in breiteren Schichten popularisiert zu haben. Die kleindeutschen Historiker führten Absolutismus, Legitimismus und Partikularismus ad absurdum. In der muffigen Reaktionsperiode forderten sie in gemäßigt liberalem Sinne von den feudalen Kräften die Umwandlung des feudalbürokratischen in einen modernen bürgerlichen Staat. In diesen Grenzen — bei einer zwiespältigen, antidemokratischen Konzeption im ganzen — gelang ihnen in den genannten Arbeiten eine Reihe positiver Leistungen. Als wohl wichtigstes Beispiel mag hier Svbel dienen. Die Revolution von 1848 und die in ihr zutage tretenden Klassenverhältnisse bildeten für Sybel den Anstoß für sein Hauptwerk „Die Geschichte der Revolutionszeit von 1789 bis 1800" (18531879). Eine geplante Broschüre „für das Volk", die das sogenannte Recht des Eigentums gegen kommunistische Tendenzen verteidigen sollte, führte von Studien über 1848 zu 1789 und zu der fünfbändigen Revolutionsgeschichte.ü Der sozialpolitische Kern des Werkes bestand in der Apologetik des Eigentums. Der Revolutionsbegriff Sybels, der sich gegen die bisherigen feudalen wie demokratischen und frühliberalen Auffassungen zugleich richtete, entsprach der widersprüchlichen Klassenposition der Bourgeoisie nach 1848 und wurde rückwirkend und verallgemeinernd auf 1789 übertragen. Sybel sah in den Revolutionen ein von vornherein zwiespältiges Mittel, da sie die Volksmassen entfesselten, die von Anbeginn Gesellschaft und Eigentum bedrohten. Die Revolutionen waren für Sybel also nicht der notwendige Übergangsprozeß von einer Gesellschaftsordnung zur anderen, sondern eine, am besten durch Reformen von oben zu vermeidende politische Gewaltkur. Freilich mußte er die manchmal unumgängliche Notwendigkeit solcher Revolutionen zugestehen, aber er bezeichnete es als Aufgabe der besitzenden Klassen und ihrer Politiker, die notwendigen Reformen schnell durchzuführen und durch „eiserne Energie" nach unten die Revolution sobald als möglich abzuschließen. Eine besondere Rolle als Schutzwall kam hierbei der Krone zu, eine Aufgabe, die zu lösen die Bourbonen sich aber 1789 als unfähig erwiesen hätten. Während Sybel die „bleibenden Schöpfungen" in der Überwindung des Feudalismus und der freien Bahn für die kapitalistische Gesellschaft erblickte und Lobeshymnen auf das „System der freien Konkurrenz" 7 sang, verdammte er die demo6
Sybel, H. v., Pariser Studien, in: Vorträge und Abhandlungen. Mit einer biogr. Einleitung von C. Varrentrapp, München und Leipzig 1897, S. 362 ff. (Histor. Bibliothek, hg. HZ, Bd. 3.) ' Derselbe, Geschichte der Revolutionszeit von 1789 bis 1800, B d . i , 4. Auflage (Neue Ausgabe), Frankfurt a. M. 1882, S. 237, 2 i 2 f .
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kratische Weiterführung der bürgerlichen Revolution. Die Ereignisse nach dem Sturze der Feuillants und des Königtums schilderte Sybel des langen und breiten als Chaos und Schreckensherrschaft sich gegenseitig bekämpfender Demagogen, womit er bewußt wieder hinter die Erkenntnisse der liberalen französischen Revolutionshistoriker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückging. Die revolutionären und egalitären Grundlagen Frankreichs, die durch Napoleon I. gefestigt worden seien, stellte er als Ursache für die politische und soziale Gefährdung des Landes und für seine weiteren Revolutionen hin. Seinen Revolutionsbegriff illustrierte Sybel mit der Darstellung wirtschaftlicher und sozialer Zustände, ohne daß dadurch die klassenmäßigen Zusammenhänge zu den Ereignissen und Persönlichkeiten durchgehend aufgedeckt worden wären. Die sozialökonomischen Zusammenhänge gingen Sybel mit dem Fortschreiten der Revolution, bei ihm ein fortschreitendes Chaos, immer mehr verloren. Breiten Umfang nahm die Behandlung der außenpolitischen Folgen der Revolution ein. Dieses Geschehen wurde erstmals mit den Vorgängen im Innern Frankreichs verknüpft. Jedoch erwies sich Sybel als streitbarer und einseitiger Advokat der Preußenlegende. Wenn Erich Mareks der Revolutionsgeschichte nachrühmte, sie habe den Götzen der Revolution zertrümmert8, so zeigt das zwar die politisch-ideologische Bedeutung, die Sybels Werk in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann, ist aber nur eine Umschreibung für die Tatsache, daß Sybel im Sinne der herrschenden Klassen eine neue antidemokratische Legende geschaffen hat. Die Tradition dieser ,,Götzenzertrümmerung" lebt trotz der zahlreichen Arbeiten fortschrittlicher französischer und deutscher Historiker bis heute in der westdeutschen Historiographiegeschichte fort. 9 In den Kampf um die Schaffung des deutschen Nationalstaates griffen die kleindeutschen Historiker nicht nur als Geschichtsschreiber, sondern auch als Politiker (Baumgarten und Max Duncker zeitweise direkt im preußischen Staatsdienste), Parlamentarier (Max Duncker, Droysen, Häusser, Sybel), namentlich aber als Publizisten wirkungsvoll ein. Bei allen taktischen Verschiedenheiten untereinander während der Neuen Ära und der Zeit des Verfassungskonflikts hielten sie an dem antirevolutionären Weg der nationalen Einigung unter der Führung Preußens fest, auch als sie zeitweilig in rechtsliberaler Opposition zu Bismarck standen. In der ideologischen Vorbereitung und der späteren einseitigen Verherrlichung dieses antidemokratischen Weges liegt ihre historisch verhängnisvolle Rolle. Sie haben gerade die volksfeindlichen und militaristischen Züge der Reichseinigung als besonderen Segen für die deutsche Nation gepriesen. Bedeutet die „Revolution von oben" zwar insgesamt einen historischen Fortschritt, so trug sie doch einen zwiespältigen Charakter. Das muß erst recht von der bereits in dieser Periode 8 IJ
Mareks, Erich, H. v. Sybel, in: Männer und Zeiten, Bd. 1, Hamburg 1 9 1 1 , S. 259. Z. B. Sieburg, Heinz-Otto, Deutschland und Frankreich in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, Bd. 2, Wiesbaden 1958, S. 2$8i.; Srbik, Heinrich Ritter v„ Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. 1, München und Salzburg 1950, S. 382 f.
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äußerst zwiespältigen Geschichtsideologie der politischen Historiker gesagt werden. Der lauthals geführte politische, ökonomische und ideologische Kampf zwischen Preußen und Österreich um die Hegemonie in Deutschland verdeckte weitgehend das Ringen um den demokratischen oder antidemokratischen Weg zur Lösung der nationalen Frage. Die Überlegenheit der kleindeutschen Historiker über ihre großdeutschen Widersacher in der in diesen Jahren ausgetragenen politisch-wissenschaftlichen Fehde10 hat eine Reihe sehr realer gesellschaftlich-politischer Ursachen. Die preußisch-deutschen Historiker waren nicht nur durch die größere bürgerlich-nationale Zugkraft ihrer Ideologie überlegen, die den objektiv noch fortschrittlichen kapitalistischen Produktionsverhältnissen entsprach, sondern dahinter winkten durch Preußen und die Großbourgeoisie auch größerer materieller Anreiz und schnellere Förderung auf mannigfache Art. In diesen bewegten Jahren wuchs sich Sybels Kritik an Giesebrechts Geschichte der deutschen Kaiserzeit (Uber die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit, 1859, Die deutsche Nation und das Kaiserreich, 1862) zu einer heftigen Polemik mit dem großdeutschen Historiker Julius Ficker aus.11 Hinter dem sogenannten Mittelalterstreit standen die Frage nach der historischen Rolle Österreichs und Preußens in Deutschland und der historisch-politische Anspruch auf die Hegemonie in Deutschland. Noch lange beeinflußte Sybel auch späterhin die militanten Ideologen mit seiner These, anstelle der falschen Stoßrichtung des mittelalterlichen Kaisertums nach dem Süden wäre der „Zug nach dem Osten" die wahre nationale Politik gewesen. Die Fehde, die seit der Gründung der HZ (1859) jahrzehntelang in ihren Spalten gegen die großdeutsche Geschichtsschreibung ausgetragen wurde, erhielt gleich zu Beginn durch die Neue Aera in Preußen, vor allem aber die durch den italienischösterreichischen Konflikt wieder akute Frage des deutschen Nationalstaates höchste Aktualität. Die kleindeutschen Historiker betrieben die Unterstützung Preußens durch eine breite liberale Bewegung in ganz Deutschland, wobei sie sich von einem Nationalkrieg ohne selbständige Volksbewegung die Einigung unter Preußens Führung erhofften. Es bereitete den politischen Historikern einige Schwierigkeiten, in Bismarck das während des Verfassungskonflikts sehnsüchtig berufene „große Genie" zuerkennen, das in der Lage war, den gordischen Knoten in der nationalen Frage in ihrem Sinne zu durchhauen. Zunächst standen sie während des Verfassungskonfliktes in Opposition zur Regierung, obwohl sie die Heeresreform grundsätzlich bejahten. Sybel als einer der Wortführer des linken Zentrums im Preußischen Abgeordnetenhause 10
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Z. B. Sybel gegen J. Ficker, H. Hüffer und A. v. Vivenot; O. Klopp gegen L. Häusser und J. G. Droysen; die HZ und die „Preußischen Jahrbücher" kontra die „Historisch-politischen Blätter". Zu den Hauptstreitpunkten zählten: die Rolle des Kaisertums im Mittelalter, die Reformationszeit, Friedrich II. von Preußen, die Kriege der Revolutionszeit. S. auch den Beitrag von Gottfried Koch, Der Streit zwischen Sybel und Ficker. . ., in diesem Band, S. 311 ff.
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oder Baumgarten und Treitschke standen taktisch weiter links als die altliberalen Droysen, Max Duncker oder Haym. Treitschke überwarf sich mit Haym wegen der lahmen Haltung der „Preußischen Jahrbücher" und nahm in einem impulsiven Artikel in den „Grenzboten" (Das Schweigen der Presse in Preußen, 1863) auch öffentlich scharf gegen Bismarck Stellung. Doch die Sybel und Treitschke verfolgten dabei nach wie vor das Klassenbündnis und das Zusammengehen mit der Krone durch Vereinbarungen. Erst nach Bismarcks Erfolgen in Schleswig-Holstein gaben die kleindeutschen Historiker diese Opposition auf - Sybel schied schon Anfang 1864 aus dem Parlament. Schrittweise, beginnend mit der Anerkennung seiner Außenpolitik, näherten sie sich Bismarck, als sie erfaßten, daß er mit seinen Mitteln die nationale Einigung durchführte. In den folgenden Jahren entwickelten sie sich fast allesamt zu eifrigen Bismarckianern sans phrase, die es sich zur wichtigsten politischen Aufgabe stellten, der Masse 0 Treitschke, H. v., Parlamentarische Erfahrungen der jüngsten Jahre (1886), in: Histor. u. polit. Aufsätze, Bd. 3, a. a. O., S. 637.
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Es ist nach dieser Sachlage erklärlich, daß das viel erörterte staatstheoretische Ideal der kleindeutschen Schule, die konstitutionelle Monarchie, nichts anderes als ein verbrämter Scheinkonstitutionalismus sein konnte. Eine solche konstitutionelle Monarchie stellten die preußisch-deutschen Historiker als höhere Stufe beziehungsweise als die allein dem deutschen Nationalcharakter gemäße Staatsform der Republik und der Demokratie gegenüber und arbeiteten insbesondere ihren aristokratischen, antiplebejischen Charakter heraus, auf dem Höhe und Blüte eines „Kulturstaates" beruhen sollten. Darauf fußte auch die Ansicht der politischen Historiker, die Volksmassen in möglichst weitem Umfange von der demokratischen Betätigung im Staate auszuschließen. Ihre Vorstellungen von der Selbstverwaltung, die die organische Ergänzung des monarchischen Regiments darstellen sollte, waren streng aristokratisch und schlössen die Masse der Bürger - ohne Besitz und Bildung - von einer Teilnahme aus. In der Wahlrechtsfrage wandten sie sich zeitlebens gegen das allgemeine Wahlrecht, das Bismarck in Deutschland eingeführt hatte. Dies geschah nicht so sehr wie bei der Masse der Liberalen aus einer antibismarckischen Einstellung und aus Furcht vor dem anfangs sehr zweischneidigen Mittel in Bismarcks Hand, sondern vor allem aus einer antidemokratischen Gesinnung heraus, die sich bis auf die Revolutionsjahre zurückverfolgen läßt. Ein weiteres äußerst wichtiges Ziel der preußisch-deutschen Historiker bestand darin, den modernen Militarismus in seiner politischen Funktion und seiner nationalen Bedeutung zu verfälschen. Sie machten das preußisch-deutsche Heer aus einem antinationalen Instrument in der Hand der reaktionärsten Teile der herrschenden Klasse nach einem Ausspruch Treitschkes zum „allerrealsten und wirksamsten Band der nationalen Einheit". 5 1 Hier handelte es sich natürlich, dem Geiste der militanten Ideologen entsprechend, um die Einheit des Untertanengeistes. Treitschke, wie immer am plumpsten, hat das auch direkt ausgesprochen, indem er das Hauptgewicht auf die „sittliche K r a f t des Heeres" legte und die allgemeine Wehrpflicht die „eigentümliche, notwendige Fortsetzung des Schulwesens" nannte. 5 2 Zugleich erhoben die politischen Historiker Lobgesänge auf die Einzigartigkeit, die Auserwähltheit des deutschen Volkes und stempelten den deutschen Soldaten zum friedfertigsten und zum kriegstüchtigsten der Welt. Von diesen Tiraden war nur noch ein Schritt zu dem ebenso geflügelten wie verhängnisvollen Bismarck-Wort: Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt. Kadavergehorsam und Überheblichkeit waren wichtige Bestandteile der geistigen Rüstkammer des Militarismus. Das von Treitschke geprägte Wort „Männer machen Geschichte" umfaßt einen Zentralgedanken in der Geschichtsauffassung der kleindeutschen Schule. Die politisch-ideologische Grundlage für diese Anschauung war die Elitetheorie, das s» Derselbe, 52
Politik, Bd. 2, a. a. O., S. 356.
Ebenda, S. 404. Derselbe,
Das constitutionelle Königtum, a. a. O., S. 479.
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heißt die Klassendifferenzierung der Gesellschaft und die Bevorrechtung einer kleinen Schicht. Herausragende Persönlichkeiten und Staatsmänner sollten die eigentliche bewegende Kraft der Geschichte sein. Zwar angewiesen auf gewisse Zeitgebundenheiten oder Ideen, wurden die Helden aus dem bestimmenden gesellschaftlichen Sein herausgelöst und ihm als unabhängige, schöpferische, geschichtemachende Kraft gegenübergestellt. Dieser Voluntarismus negierte die entscheidende Rolle der Volksmassen in der Geschichte und endete in der politischen Forderung, sie auch fernerhin von den Regierungsgeschäften und dem politischen Handeln fernzuhalten. Die Verachtung der Volksmassen - Treitschke sprach mehrmals beifällig von einem „gewissen zynischen Zug der Menschenverachtung" bei „allen großen politischen Denkern" r,:t -- muß aber im Zusammenhang mit der Revolutionsfurcht und der Angst vor den Aktionen der Massen gesehen werden. Daher fälschte man diese Aktionen der Volksmassen von einer geschichtemachenden Tat zu sinnlosen Ausbrüchen roher Leidenschaften und zum Aufbegehren aus materieller Not und schilderte ihre Führer als Demagogen oder utopisch-besessene Fanatiker. Statt die Lage der Volksmassen, die gesellschaftlichen Zustände, die materiellen Bedingungen der Produktion zu untersuchen, konzentrierte sich die preußisch-deutsche Schule einseitig auf die sogenannte politische Geschichte. Die bis zur pathetischen Heldenverehrung gesteigerte Theorie von den großen Männern hatte zugleich die von Treitschke offen bekundete Aufgabe, die Massen davon abzuhalten, sich ihrer Kraft bewußt zu werden. Treitschke hat denn auch die reaktionären politischen Zustände Preußen-Deutschlands dadurch rechtfertigen wollen, daß er die Staatsform der Monarchie, die am besten die „natürliche Ordnung der Dinge" 5 '* verkörpere, ausdrücklich auf den bewußten Willen der großen Männer bezog. Unverkennbar beschleunigte die Reichseinigung Bismarcks den Zug zum Subjektivismus in der bürgerlichen Historiographie und verstärkte die Tendenz von der entscheidenden Rolle der Persönlichkeiten in den Schriften der preußisch-deutschen Historiker. Die Vorstellungen von der eigenschöpferischen Willenskraft des Individuums liefen natürlich der Suche nach den historischen Gesetzmäßigkeiten, ihren Ursachen und Triebkräften, das heißt der primären Rolle des materiellen gesellschaftlichen Seins, zuwider. In der Tat haben sich die kleindeutschen Historiker nie ernstlich um diese entscheidenden methodologischen Grundlagen einer Geschichtswissenschaft bemüht. Wo sie dennoch von historischen Gesetzen oder auch von historischen Notwendigkeiten sprachen, ist dieser Begriff nicht klar definiert, sondern eklektisch gebraucht, um irgendwelche Thesen ihres Geschichtsbildes zu stützen. Später haben Droysen und Treitschke die nach ihrer Auffassung überhaupt nur spärlich vorhandenen historischen Gesetze in die Sphäre der Ethik verwiesen und ihre Erkennbarkeit irrationalistisch weitgehend eingeschränkt und sub53 Derselbe, Politik, Bd. 2, a. a. O., S. 545. Derselbe, u. polit. Aufsätze, Bd. 4, Leipzig 1897, S. 259. 5< Derselbe,
Samuel Puicndorf, in: Histor.
Politik, Bd. 2, a. a. O., S. 62. Auch S. 59fr.
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jektiviert. Während die bürgerliche Historiographie in ihrer aufsteigenden Phase den, wenn auch idealistisch gefaßten historischen Gesetzen nachzugehen versuchte, erlosch das Interesse daran seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für die BourgeoisIdeologen. Der gleiche Prozeß vollzog sich mit dem Fortschrittsgedanken. Die selbstbewußte Spätaufklärung verband ihn in ihrem antifeudalen Kampfe noch mit Abstraktionen über den Aufschwung und die zukünftige Entwicklung der Menschheit. Bei den kleindeutschen Historikern finden wir nur noch einen liberalen Fortschrittsoptimismus, der sich angesichts des Aufschwungs der kapitalistischen Produktionsweise der modernen nationalstaatlichen Entwicklung auch in Deutschland gewiß ist. Jedoch wird der Begriff des Fortschritts in vulgärem Sinne benutzt zur Charakterisierung sich wandelnder Ideen und politischer Erscheinungen, ohne zu ihren klassenmäßigen Ursachen vorzudringen. E r verflacht teilweise zum Kontinuitätsgedanken. Der Begriff diente sowohl zur Sanktionierung wirklich fortschrittlicher Tendenzen, bei Treitschke besonders aber auch nach 1 8 7 1 zur Verherrlichung reaktionärer Bestrebungen (der Reaktionspolitik der achtziger Jahre, Flottenund Weltpolitik und so weiter). Das Deutsche Reich erhielt gewissermaßen den Charakter eines Endpunktes, von dem aus jeder wirkliche Fortschritt - letzten Endes auf die sozialistische Gesellschaft - in ein Zurücksinken ins Chaos umgedeutet wurde. Droysen und Treitschke schränkten in späteren Jahren ihren Fortschrittsgedanken auch begrifflich ein, wenn auch mit unterschiedlichen Motiven. Ein weiterer Kernpunkt der preußisch-deutschen Geschichtsideologie ist mit dem Machtstaatsgedanken gegeben, durch den die Staatsräson gleichsam als eigenständiges Wesen und als höchste nationale Daseinsform herausgestellt werden sollte. Dabei begriffen die politischen Historiker den Machtstaat ganz bewußt nach innen wie nach außen. Das leuchtende Vorbild verkörperte selbstverständlich Preußen-Deutschland. In Anlehnimg an Ranke gingen sie dabei vom „Primat der Außenpolitik" aus, wie später Dilthey in bezug auf Ranke formulierte. Selbst in der Zeit größter innenpolitischer Spannungen — während des Verfassungskonfliktes — bejahten sie—um nur ein Beispiel zu nennen — die Heeresreform aus machtstaatlichen Erwägungen. Der Machtstaatsgedanke hat auch die Aufgabe, von dem Untertanen die Hingabe an ein anonymes Ganzes bis zur Aufopferung seines Lebens zu verlangen und als das höchste sittliche Gut der Menschheit zu preisen. Seit 1 8 7 1 gehörten Machtstaatsidee und Chauvinismus aufs engste zusammen. In der Argumentation verfuhren die kleindeutschen Historiker noch keineswegs einheitlich, teilweise verkoppelte man die Staatsräson mit der Idee des liberalen Verfassungsstaates, behielt diese gewissermaßen als bloße theoretische Verbrämung bei, um unbekümmert davon in den historischen Arbeiten zu urteilen (Sybel). Ein Treitschke dagegen machte ausdrücklich einen Unterschied zwischen Privat und Staatsmoral. Dem Staatsmanne empfahl er zur Erhaltung der Macht, der höchsten „sittlichen" Pflicht, alle Mittel, auch diejenigen, die das „Tugendkosakentum'' nicht billigen könne. 55 Weil die politischen Historiker die Machtstaatsidee, die ss Ebenda, Bd. 1, S. 92. Vgl. auch den § 3, S. 87 fr.
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ganz der kapitalistischen Ellenbogenmoral der Praxis entsprach, mit ethischen Floskeln umrankt haben, preist die westdeutsche Historiographiegeschichte im allgemeinen noch immer das höhere Ideal des Kulturstaates, zu dem die Staatsräson emporgeführt habe. Ein Kulturstaat im Sinne der preußisch-deutschen Schule, mit dem Ausschluß der Volksmassen von allen Kulturgütern und ihrer Beschränkung auf die Sphäre des Schweißes und niederer Genüsse, kann jedoch nicht mehr als eine Farce sein. Die geschichtstheoretischen Anschauungen der kleindeutschen Historiker haben ihre ideologischen Ausgangspunkte vor allem beim gemäßigten Liberalismus, der die bürgerlich-nationale Bewegung von 1806/15 fortführte, sich aber seit 1830 bewußt von der bürgerlichen Demokratie trennte. Aber auch von der romantischen Schule, dem Produkt der Restaurationsepoche, übernahmen sie gewisse reaktionäre Züge einer organischen Geschichtsbetrachtung und besonders die Frontrichtung gegen die Aufklärung und die demokratischen Ideen von 1789. Ihr Verhältnis zur Klassik wurde von der sogenannten Geistesgeschichte bis heute zu einem wesentlichen Pfeiler einer wenigstens teilweisen Ehrenrettung ausgenutzt. Doch zeigt sich gerade hieran der theoretische Niedergang der bürgerlichen Geschichtsideologie. Von dem im ganzen fortschrittlichen Gedankengut der Klassik haben sie gerade einzelne reaktionäre Tendenzen herausgegriffen, fortgeführt und damit den Gesamtcharakter der Klassik verfälscht. Treitschkes Stellung zu Hegel beweist das schlagend.56 Der eklektische und äußerst widerspruchsvolle Charakter ihrer Geschichtsideologie ist die Auswirkung der ausreifenden kapitalistischen Klassenverhältnisse in Deutschland, ihrer Zweifrontenstellung. Mit Ausnahme Droysens (Historik) brachte sie keine systematische und umfassende Darlegung ihrer Geschichtsauffassung mehr zuwege. In ihren Darstellungen herrschte ein bewußt atheoretischer, unphilosophischer Zug. Im Vordergrund stand die pragmatische Geschichtsschreibung. Die politische Schule führte einen verhängnisvollen Kampf gegen die fortschrittlichen demokratischen Traditionen des Bürgertums, und sie trägt nicht wenig Schuld, daß diese wertvollen Traditionen im Bewußtsein ihrer eigenen und der folgenden Zeit weitgehend erstickt wurden. Vornehmlich dem Rationalismus und der Aufklärung, die in der Lehre vom Naturrecht und der Volkssouveränität ihren konsequenten Ausdruck fanden, galten in ihren Schriften immer wieder die Anwürfe. Wenn die kleindeutschen Historiker auch vom Liberalismus ausgingen, so muß dieser bei ihnen von vornherein als „liberalkonservativei" Klassen kompromißgedanke verstanden werden. Von dieser Position aus haben sie auch die frühliberalen südwestdeutschen Historiker, wie Schlosser, Rotteck, \Velcker, und seit den fünfziger Jahren auch Gervinus mit wachsender Erbitterung bekämpft, da ihre Werke dem Übergang der Bourgeoisie zum preußischen Militarismus im Wege ständen. 50 Derselbe, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, B d . 3, 3. Aufl., Leipzig 1889, S. 7 1 5 ff-
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Weitaus engere politische und methodologische Verbindungsfäden liefen dagegen charakteristischerweise von dem konservativen Ranke zu den preußisch-deutschen Historikern, als diese zum Teil selbst und die spätere bürgerliche Historiographiegeschichte glauben machen wollen. Sybel als Schüler Rankes und vor allem die jüngeren Vertreter der kleindeutschen Schule verbanden Rankes Forschungsmethodc mit der politischen Geschichtsschreibung. Methodologisch standen die Kleindeutschen mit Ranke trotz einer Reihe von Unterschieden im gleichen Lager der durch das reaktionäre Bündnis vereinten Ausbeuterklassen. In wichtigen Fragen (zum Beispiel Preußentum, Monarchie, Machtstaat, Primat der Außenpolitik, politische Geschichte) knüpften sie an ihn an. Dazu kam nach 1871 ftoch die politische Wiederannäherung. Daher ist auch von der preußisch-deutschen Schule zu den Neurankeanern eine gewisse Kontinuität gegeben. Bis in die fünfziger Jahre reicht die Abwehr der kleindeutschen Schule gegen westeuropäische positivistischeliinflüsse auf die Geschichtsschreibung zurück. Am hellhörigsten gegen die.,materialistisch-radikalen"Tenden?en erwies sich Droysen, der diese Richtung nicht nur als eine entscheidende methodologische, sondern ausdrücklich auch als eine politische Gefahr von links empfand. Mit seinen Schriften und seiner ständig wiederholten Vorlesung über „Historik" (seit 1857) 5 7 begann er einen planmäßigen Kampf gegen den Positivismus. Droysen verteidigte in der „Historik" die politische als ethische Geschichtsschreibung, die Machtstaatsidee gegen den westeuropäischen Liberalismus. Er richtete seine subjektivistisch-irrationalistische Methodologie gegen den gefürchteten Einfluß der Naturwissenschaften und das positivistische Streben nach Erkenntnis gewisser Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte. Droysen konstruierte einen prinzipiellen Gegensatz zwischen Natur und Geschichte und stellte der historischen Welt der Anomalien die Natur mit ihren Analogien gegenüber. Die Geschichte faßte er als „Kosmos der sittlichen Welt" mit den sich ständig verändernden sittlichen Ideen auf. Von diesen abhängig und diese verändernd, wirkten die Willenskräfte, das „freie" Handeln des einzelnen zugleich als bewegende Kräfte der Geschichte. Droysen gab freilich keine Definitionen der sittlichen Ideen, und hinter der moralischen Pflicht der Historie verbarg sich, auf eine idealistische Formel gebracht, die politische Übergangsposition der preußisch-deutschen Schule. Der Erkenntnisprozeß des Historikers sollte sich nach Droysens subjektivistischirrationalistischer Deutung auf das sogenannte „Verstehen" der Geschehnisse und Persönlichkeiten beschränken, während die höheren Zusammenhänge überhaupt in den Bereich der göttlichen Welt gehörten. Mit seiner Abwendung vom klassischen Idealismus und seiner Philosophie des „Verstehens" bildete Droysen 57
20
Die Historik las er ab 1857 insgesamt achtzehnmal. Ein „Grundriß der Historik" erschien 1858 und bis 1882 noch dreimal, die ausgearbeitete Vorlesung gab R . Hübner 1 9 3 7 a u s dem Nachlaß heraus. Jetzt: Droysen, J. G., Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. v. R . Hübner, 4. Aufl., München i960 (s. Vorwort. Hg., S. X). Geschichtswissenschaft, Bd. I
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einen Ubergang zu dem bis aufs Äußerste getriebenen geschichtstheoretischen Subjektivismus der Dilthey, Windelband und Rickert. Nicht von ungefähr erwachte seit den zwanziger Jahren das Interesse der bürgerlichen Historiographiegeschichte an Droysens Historik. Der geschichtliche Denker Droysen sollte nach Meinecke den Geschichtsschreiber überragen.58 Die bahnbrechende Rolle des Methodologen und Ethikers Droysen stand auch nach 1945 fast ausschließlich im Mittelpunkt verschiedener Untersuchungen.59 Seine heute unpassende politische und preußisch-deutsche Geschichtsauffassung soll damit ebenso wie die Frage nach seiner nationalen Rolle in den Hintergrund gedrängt werden. Droysen fand in der westdeutschen Historiographie charakteristischerweise von allen kleindeutschen Historikern die größte Beachtung. Die stärkste Wirkimg erreichte der Positivismus in Deutschland mit Karl Lamprecht, auch wenn dieser eine direkte Beziehung zum Positivismus ableugnete.60 Eine sich auf ökonomische Geschichtsfaktoren und gewisse kausalhistorische Gesetzmäßigkeiten stützende Geschichtsauffassung mußte zu Beginn der neunziger Jahre angesichts der veränderten und zugespitzten sozialen Situation als doppelt bedrohlich und gefährlich für die besitzenden Klassen erscheinen. Nach dem Sturz Bismarcks, dem Fall des Sozialistengesetzes und dem ungeheuren politischen und ideologischen Aufschwung der deutschen Sozialdemokratie in diesen Jahren (Erfurter Programm) waren die politischen Historiker für Tendenzen, die sie als kollektivistische oder materialistische Geschichtsbetrachtung ansahen, besonders empfindlich. Von der noch lebenden alten Garde dieser Schule hat Sybel vom Hintergrund aus, gestützt auf seine Schüler, Archivare und die HZ, die ersten Attacken gegen Lamprecht persönlich gelenkt (Belows Kritik der ersten drei Bände von Lamprechts Deutscher Geschichte, HZ 1893). Treitschke hat sich in den neunziger Jahren wiederholt gegen die Kulturgeschichte alsErsatz für die politische Geschichte ausgesprochen, zuletzt noch kurz vor seinem Tode in der Nachfolge Sybels in der Leitung der HZ (Die Aufgabe des Geschichtsschreibers, 1895). Jedoch erst die jüngere Generation der preußisch-deutschen Schule unter der Aegide Meineckes und Belows hat Lamprecht endgültig aus der vollgültigen bürgerlichen Methodo58
69
60
Meinecke, Friedrich, Droysens Historik, in: Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, 2. Aufl., Leipzig 1933, S. 39. Zwei der letzten mit weiteren Literaturhinweisen sind: Ottnad, Bernd, Mensch und Geschichte bei J . G. Droysen, phil. Diss. Freiburg 1952, und Frank, Jürgen, Die Geschichtsauffassung J . G. Droysens und ihre geistesgeschichtlichen Grundlagen, phil. Diss. West-Berlin 1950 (MS). Auch die beiden Aufsätze von O. F. Anderle und R. Wittram in dem der bürgerlichen Methodologie gewidmeten Heft der HZ (Bd. 185, H. 1, 1958) kamen auf Droysen zu sprechen. Vgl. hierzu Markov, Walter, Zur Krise der deutschen Geschichtsschreibung, in: Sinn und Form, 2. Jahr, H. 2, 1950, S. 130ff., und Engelberg, Ernst, Zum Methodenstreit um Karl Lamprecht, in: Karl-Marx-Universität Leipzig 1409 bis 1959. Beiträge zur Universitätsgeschichte. Red. E. Engelberg, G. Seifert, R. Weber, H. Wussing, Bd. 2, Leipzig 1959.
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logie weggebissen. Noch heute rühmt Theodor Schieder das „Verdienst" Meineckes, die HZ nach Sybels Tode vor einer Übernahme durch Lamprecht bewahrt zu haben.61 Wie schon in München in seiner Stellung in der Historischen Kommission, so sammelte Sybel in Berlin, freilich in ungleich größerem Maßstab, einen Arbeitsstab von Schülern und Gefolgsleuten um sich (M. Lehmann, A. Naud£, C. Varrentrapp, P. Bailleu, R. Arnold, O. Krauske, F. Meinecke und andere), die er wirksam im Interesse der preußisch-deutschen Schule einzusetzen vermochte. Auch mit seinen Schülern an anderen Universitäten wußte er in Verbindung zu bleiben. Droysen verstand es ebenfalls stets, einen Kreis von Schülern (unter anderen B. Erdmannsdörffer, R. Koser, 0. Hintze) um sich zu scharen und sie, vor allem in späteren Zeiten, in seinem Sinne auf die preußisch-deutsche Geschichte zu lenken. Während Droysen und Sybel sich stets mit einem Kreis von Mitarbeitern zu umgeben wußten, konnte der taube Treitschke keine Seminare und Übungen abhalten. Deswegen aber von einem Außenseitertum Treitschkes in dem akademischen Lehrbetrieb zu sprechen, ist verfehlt, denn die Dietrich Schäfer, Georg von Below, Theodor Schiemann und andere wirkten politisch und historiographisch ganz als seine geistigen. Nachfahren. In der Ubergangsperiode zum Imperialismus vollzog sich die allmähliche Ablösung der kleindeutschen Schule. Die Veränderungen in der ökonomischen Basis, die Zuspitzung der Klassenverhältnisse stellte die bürgerlichen Ideologen vor eine Reihe neuer Tatsachen und Schwierigkeiten, deren Apologetik man mit vorgeblich mehr oder weniger neuen Mitteln erreichen wollte. Die Zuspitzung der gesellschaftlichen Widersprüche führte auch zur Verschärfung der Widersprüche in der Ideologie, die in der bürgerlichen Geschichtsschreibung ein akutes Krisenbewußtsein hervorriefen. Die Krise der bürgerlichen Historiographie ist also vornehmlich politischen Ursprungs und in dem ökonomisch-gesellschaftlichen Umschichtungsprozeß zu suchen, der auch die besitzenden Klassen in starkem Maße ergriff und bewegte, pie kleindeutsche Schule war auf traditionelle Art den neuen komplizierten Bedingungen nicht mehr gewachsen. Außerdem hatte die Preußenlegende mit den achtziger Jahren einen Punkt erreicht, von dem Mehring sagte: „Die Orgien der preußischen Geschichtsklitterung hatten in Treitschke und seinen Schülern einen Gipfel erklommen, der unmittelbar ins Reich der Narrheit reichte und die preußisch-reaktionären Interessen ernsthaft gefährdete." 62 Die Sybel und Treitschke widersetzten sich mit Vehemenz gegen jegliche Versuche, die Preußenlegende elastischer zu machen und mit dem Nymbus gesicherter Fakten und Wahrheiten zu umgeben (Streit Baumgarten - Treitschke 1882/83, Delbrück Treitschke 1889, Max Lehmann - Naude und Sybel 1892/93). Neue Interessen der herrschenden Klassen bewirkten jedoch, daß man sich allmählich, zum Teil versteckt und keineswegs mit schroffem Bruch, zumeist unter Berufung 61
62
ao*
Schieder, HZ, Bd. Mehring, a. a. O.,
Theodor, Die deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der HZ, in: 189, 1959, S. 14. Franz, Deutsche Geschichte (Karl Lamprecht), in: Ges. Werke, Bd. 5, S. 456.
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auf die historische Schule und vor allem auf Ranke, von den Ergebnissen und der Methode der „klassischen" kleindeutschen Schule abwandte. Doch bleibt festzuhalten, daß bis zum ersten Weltkrieg die preußisch-deutsche Schule weiterhin durch eine Reihe äußerst militanter Historiker fortgesetzt wurde, die zur herrschenden Clique in engem Kontakt standen und politisch einflußreich hervortraten. Hier sind in erster Linie Georg von Below, Dietrich Schäfer, Theodor Schiemann, Eduard Meyer zu nennen, nicht zu reden von den zahlreichen zweit und drittrangigen Gefolgsleuten. Die bürgerliche Historiographiegeschichte hat mit großem Aplomb die Überwindung der preußisch-deutschen Schule sozusagen von innen heraus abgehandelt®3, die angebliche Bedeutung dieses Vorgangs für das nationale Geschichtsbild und die Geschichte, als Wissenschaft gepriesen. Doch schon Mehring hat seinerzeit erkannt, daß dabei keinesfalls die Preußenlegende als Ganzes abgelegt wurde 6'', viel weniger handelte es sich um grundsätzlich neue methodologische Fragestellungen. Die nun eintretende Ranke-Renaissance|führte zum Verzicht, an der politischen Aufgabenstellung des Historikers weiter offen festzuhalten. Statt dessen proklamierte man unter Berufung auf Ranke die angebliche Objektivität und Unparteilichkeit als das vermeintliche Ziel der Geschichtsschreibung. Unter dem Deckmantel des Rankeschen Universalismus ließen sich aber auch die imperialistischen Begehren nach einer Weltpolitik umfassender und zugleich verhüllter deklarieren als bisher. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlangten Dilthey, Windelband und Rickert Einfluß auf die Geschichtsphilosophie. Mit ihnen begann eine neue Stufe subjektivistischer und irrationalistischer Geschichtsbetrachtung mit dem reaktionären politisch-wissenschaftlichen Ziel, aus der Geschichte den Fortschrittsgedanken, die Gesetzmäßigkeiten und die objektiven Erkenntnismöglichkeiten vollständig zu verdrängen. Auch diese Flucht aus der relativ offenen politischen Historie in die scheinbaren Gipfel geschichtswissenschaftlicher Methodologie bildete eine Antwort auf den Marxismus, auf seine logische und historische Gewalt. Die politische und geschichtswissenschaftliche Wirkung der kleindeutschen Schule war außerordentlich. Ihr maßgeblicher Einfluß in der Reichsgründungszeit ist ein markantes Beispiel für die Bedeutung der Ideologie in den Klassenkämpfen. Nicht minder wirksam war ihre Tätigkeit nach 1871. Spielten die preußisch-deutschen Historiker bis zu diesem Zeitpunkt jedoch eine, wenn auch sehr zwiespältige B3
04
Z. B. Srbik, Heinrich Ritter v., Geist u. Geschichte . . ., Bd. 2, München und Salzburg, 1951, der dem angeblichen „Wiedergewinn [des]wissenschaftlichen Ebenmaßes" ein eigenes Kapitel widmet. Mehring, Franz, Die Lessing-Legende. Zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen Literatur, Berlin 1953 (Bücherei des MarxismusLeninismus, Bd. 25), S. 29: „Indem sie die friderizianische Legende zwar von den größten Albernheiten säubern, aber im Kern doch nicht preisgeben wollen, übersehen sie, daß sich dies .abscheuliche Gebäude von Unsinn* (Mehring zitiert hier einen Lessingschen Satz, H. S.) nicht neu unterbauen läßt, ohne daß es ihnen Über dem Kopfe zusammenbricht."
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fortschrittliche und nationale Rolle, so bekam ihre Geschichtsauffassung von da ab einen eindeutig antinationalen, reaktionären Charakter. Sie haben viel zur Verbreitung der militaristischen Ideologie im kaiserlichen Deutschland beigetragen. Als maßgebliche offiziöse Schule erstreckte sich ihr Einfluß weit über den Rahmen der Fachwissenschaft hinaus, auf die „Bildungselite" derZeit (Studenten vieler Fachrichtungen, Studienräte, Offiziere und Beamte) und maßgebliche Zeitschriften (aus denen wieder die Zeitungen nachschrieben) bis in weite Schichten der Bevölkerung. Die Flut der populärhistorischen Werke für die sogenannte gebildete Welt, ein großer Teil der gängigen bürgerlichen Literatur und Kunst bauten ganz auf dem von ihnen gegebenen Geschichtsbild auf. Rund vierzig Jahre wirkten die politischen Historiker als herrschende Schule in der bürgerlichen Geschichtsschreibung. Ihre Schüler erklommen für lange Jahre eine große Zahl der deutschen Universitätslehrstühle und saßen auch in den anderen geschichtswissenschaftlichen Institutionen. In Reaktion auf das Proletariat und auf die bürgerlich-demokratischen Revolutionen schufeil sie ein für Jahrzehnte verbindliches antidemokratisches Geschichtsbild auf der Grundlage des Klassenkompromisses zwischen Großbourgeoisie und Preußentum. Als Schule galten sie schon Ende des 19. Jahrhunderts für überholt; doch lebte ihre Geschichtsauffassung in vielen Einzelheiten, den neuen Gegebenheiten angepaßt, in der bürgerlichen Historiographie fort (Nationalstaat, Machtstaatsgedanke, Militarismus, Männer machen Geschichte und so weiter), da die Kontinuität der kapitalistischen Klassenverhältnisse erhalten blieb. Etwa seit 1949/50 hat sich die westdeutsche Historiographiegeschichte wieder in stärkerem Maße den kleindeutschen Historikern zugewandt. Nachdem diese aus verständlichen Gründen einige Jahre gemieden wurden, setzte die erneute Beschäftigung mit ihnen mit dem Beginn einer neuen, reaktionären Phase in der politischen Entwicklung Westdeutschlands ein. Es sind denn auch die Kreise um die reaktionären und konservativen Historiker Hans Joachim Schoeps und S. A. Kaehler, die sich der preußisch-deutschen Schule vornehmlich widmeten. Die Grundlinie dieser Abhandlungen ist nicht ohne aktuelle politisch-historische Bedeutung. Es ist kein Zufall, daß die westdeutschen Arbeiten die Wirksamkeit der politischen Historiker nur bis zum Jahre 1871 behandeln und ihre antinationale und militaristische Rolle in den späteren Jahren übergehen oder wenigstens bagatellisieren. Außerdem werden - natürlich mit einigen unvermeidlichen Abstrichen - fast durchgängig die reaktionären Anschauungen dieser Schule durch die Bezugnahme auf ihre sogenannte ethische Ausgangsposition verfälscht. Von der gewissen Sonderstellung eines Droysen als Vorläufer der modernen irrationalistischen Verstehenslehre war schon die Rede. Nicht zuletzt benutzen aber die westdeutschen Historiker die Rolle der kleindeutschen Historiker während der Bismarckschen Reichseinigung dazu, die „Frage nach den Möglichkeiten einer Alternative zur Geschichte der Reichsgründung" negativ zu beantworten, wie dies Walter Bußmann stellvertretend für diese Kreise in einem Artikel in der „Historischen Zeitschrift" vollführte. Mit der Schluß-
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folgerung, daß die Nationalliberalen entsprechend der „historischen Konstellation" gehandelt hätten, eliminiert Bußmann die objektiv vorhandene Möglichkeit einer demokratischen Einigung Deutschlands aus der deutschen Geschichte und verwandelt den verhängnisvollen Verrat der Bourgeoisie an der bürgerlichdemokratischen Revolution und ihre Hinwendung zum preußischen Militarismus in das Schicksal „einer säkularen Entwicklung" 65 . Heute, wo in Deutschland Arbeiterklasse und Monopolbourgeoisie einander in entscheidender Auseinandersetzung gegenüberstehen, müssen der erneuten Fortsetzung einer alten Legende und dem auch aus ihr abgeleiteten Führungsanspruch der überlebten imperialistischen Kräfte die tönernen Füße entzogen werden. 65
Bußmann, Walter, Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: HZ, Bd. 186, H. 3, 1958, S. 527, 556.
Der Streit zwischen Sybel und Ficker und die Einschätzung der mittelalterlichen Kaiserpolitik in der modernen Historiographie Gottfried
Koch
Das Problem der Einschätzung der mittelalterlichen Kaiserpolitik hat die deutsche Historiographie seit dem 18. Jahrhundert besonders beschäftigt; die einschlägige Literatur hierüber ist heute fast unübersehbar geworden. Es handelt sich hier durchaus um keine zufällige Erscheinung, bildet doch die Einschätzung der Kaiserpolitik, die Frage nach „Universalstaat" oder „Nationalstaat", ein politisches Zentralproblem der deutschen nationalstaatlichen Entwicklung, das je nach der gesellschaftlich-politischen Stellung der einzelnen Historiker verschieden beantwortet wurde. Die Behandlung dieses Problems von marxistischer Seite ist gegenwärtig besonders wichtig, weil die westdeutsche Geschichtsschreibung heute entsprechend dem sozialen Auftrag des deutschen Imperialismus im Fahrwasser der Europa- und Abendlandidee segelt und die Nationalstaatsidee über Bord geworfen hat. Für diese Tendenzen sucht man unter anderem im mittelalterlichen Imperium eine pseudohistorische Untermauerung In der Einschätzung der mittelaltexlichen Kaiserpolitik durch die bürgerliche Historiographie lassen sich seit dem 18. Jahrhundert im wesentlichen drei Etappen unterscheiden: Erstens vom 18. Jahrhundert bis zur Revolution 1848/49; zweitens von 1848/49 bis zur Vollendung der Revolution von oben im Jahre 1871 ; drittens von 1871 bis zur Gegenwart. In jeder dieser Etappen spiegelr die jeweiligen Auffassungen über das mittelalterliche Kaisertum die allgemeine politisch-ideologische Grundhaltung der Historiker wider. 1 1
E s soll an dieser Stelle ausdrücklich betont werden, daß es nicht A u f g a b e der vorliegenden Ausführungen sein kann, zu diesen komplizierten Fragen eine endgültige Einschätzung zu geben. Das ist bei der bisherigen Vernachlässigung der Behandlung der mittelalterlichen Kaiserpolitik durch die marxistische Historiographie auch unmöglich. Dieser Aufsatz will vor allem über die bisherige Kontroverse informieren, eine marxistische Einschätzung einzelner Fragen versuchen und auf die Aufgabenstellung hinweisen. Ausführlicher zur Frage der Kaiserpolitik im allgemeinen habe ich Stellung genommen in meinem A u f s a t z : „ D i e mittelalterliche Kaiserpolitik im Spiegel der bürgerlichen deutschen Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts," in Z f G , H . 8, 1962, S. 1837—1870; auf ihn sei auch für zusätzliche Literaturhinweise verwiesen.
Gottfried Koch
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I.
Die bürgerlich-nationale Geschichtsschreibung in Deutschland, die sich mit dem „langsamen Emporkriechen" des deutschen Bürgertums seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte 2 , mußte zwangsläufig zum Problem der Kaiserpolitik als einer wichtigen Frage der deutschen historischen Entwicklung Stellung nehmen. Die bürgerlich-nationale Geschichtsschreibung stand bis 1848 im Zusammenhang mit dem Kampf der antifeudalen Bewegimg für nationale Einheit und demokratische Rechte. Von dieser Position aus nahm sie eine kritische Haltung zur Universalpolitik des mittelalterlichen Kaisertums ein. Es sei hier etwa an Friedrich Christoph Schlosser, Karl von Rotteck-und Georg Gottfried Gervinus erinnert. Ungeachtet gewisser Unterschiede im einzelnen betrachtete man das Kaisertum und seine Italienpolitik als hemmend für die nationalstaatliche Entwicklung Deutschlands, als Unglück für das deutsche Volk. Die Klassenposition dieser Historiker kommt besonders darin zum Ausdruck, daß ihre ganze Sympathie dem mittelalterlichen Städtebürgertum gehörte. So nahmen sie durchgängig Partei für die-oberitalienischen Kommunen, die sich gegen die Bedrückung und Aussaugung durch Friedrich Barbarossa zur Wehr setzten. Besondere Beachtung verdient ihre Bemerkung, daß ein Bündnis zwischen Städtebürgertum und Königtum der deutschen Entwicklung eine andere Richtung gegeben hätte. 3 Eine ähnliche Position wie die deutsche ältere liberale Historiographie nahm die Geschichtsschreibung des italienischen Risorgimento (1822-1848/49) in bezug auf das mittelalterliche Kaisertum ein. Italien war neben Deutschland das Hauptland des mittelalterlichen Imperiums. Die Risorgimento-Geschichtsschreibung, die die Einheit Italiens und seine Befreiung von österreichischer Fremdherrschaft auf ihre Fahnen geschrieben hatte, mußte das mittelalterliche Kaisertum, dessen Erben die Habsburger waren, zwangsläufig ablehnen. 4 Die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft sollte besonders das positive Erbe der älteren liberalen deutschen Historiographie und ihre bürgerlich-pro2
3
Vgl. Streisand, Joachim, Progressive Traditionen und reaktionäre Anachronismen in der deutschen Geschichtswissenschaft, in: ZfG, 9. Jg., H. 8, 1961, S. 1779t. Vgl. Schieblich, Walter, Die Auffassung des mittelalterlichen Kaisertums in der deutschen Geschichtsschreibung von Leibniz bis Giesebrecht, Berlin 193.2, S. 38—76 u. Ebert, Günter, Das Mittelalter in der deutschen älteren liberalen Historiographie, phil. Diss. Jena 1958, (MS) bes. S. 269f. u. passim. Vgl. Matheis, Franziska, Das mittelalterliche Kaisertum in der Geschichtsschreibung des italienischen Risorgimento, phil. Diss. Heidelberg 1944, (MS) bes. S. 91 ff., 261 ff. Bezeichnend auch im Hinblick auf die Einschätzung des Kaisertums ist der Ausspruch von Vinzenzo Gioberti: „L'infortunio degli Italiani nacque dai forestieri" (das Unglück der Italiener kommt von den Fremden, ebenda, S. 47). Auclj die Risorgimento-Historiker messen der Entwicklung der städtischen Kommunen als einem wesentlichen Schritt zur „italienischen Nationalität" besondere Bedeutung bei. Damit wurde dem Kaisertum jedes Daseinsrecht abgesprochen.
Der Streit zwischen Sybel und Ficker
313
gressive Mittelalterauffassung kritisch nutzen und in gewisser Weise an sie anknüpfen. Bereits an dieser Stelle sei bemerkt, daß unseres Erachtens in der Tat die objektiven Auswirkungen der Kaiserpolitik auf die deutsche und italienische nationalstaatliche Entwicklung negativ waren und sich in verhängnisvoller Weise ausgewirkt haben. Im Gegensatz zu dieser positiven Linie der deutschen Historiographie des 18. und 19. Jahrhunderts hat die Romantik als Ideologie der feudalen Restauration ihre positiven Leistungen sollen nicht bestritten werden - die universale Kaiseridee des Mittelalters verherrlicht. Charakteristisch hierfür ist eine Bemerkung von Friedrich Schlegel. Er bezeichnete das Kaisertum des Mittelalters als eine moralische Autorität, die die Individualität der einzelnen Nationen nicht beeinträchtigt habe. In ihm habe sich die geistige Einheit des Abendlandes ausgedrückt.5 Es ist kein Zufall, daß diese Ansichten fast wörtlich in der gegenwärtigen westdeutschen Historiographie wiederkehren, denn in der romantischen Staatswissenschaft finden wir eine ideengeschichtliche Wurzel der katholisch-restaurativen Abendlandidee, die heute zur Tarnung der aggressiven Ziele des deutschen Imperialismus benutzt wird. 6 Zu dieser Auffassung über das Kaisertum wird man einwenden müssen, daß dieses weniger eine moralische als vielmehr eine sehr realpolitische Größe war, die die Entwicklung der einzelnen Nationen mehr gehemmt als gefördert hat. Ausgehend von der Romantik, und auch teilweise von Ranke 7 beeinflußt, gelangte dann Wilhelm Giesebrecht (1814-1889) besonders in den ersten Bänden seiner „Geschichte der deutschen Kaiserzeit" (i855ff.), die zum Ausgangspunkt der Kontroverse zwischen Sybel und Ficker wurden, zu einer unrealistischen Verklärung des mittelalterlichen Kaisertums und seiner Aggressionspolitik gegenüber anderen Völkern. So schrieb er in der Einleitung zum ersten Band des Werkes: „Überdies ist die Kaiserzeit die Periode, in der unser Volk, durch Einheit stark, zu seiner höchsten Machtentfaltung gedieh, wo es nicht allein frei über sein eigenes Schicksal verfügte, sondern auch anderen Völkern gebot, wo der deutsche Mann am meisten in der Welt galt und der deutsche Name den vollsten Klang hatte." Es muß jedoch gesagt werden, daß Giesebrecht besonders vom dritten Band ab zu 15
B
7
Schlegel, Friedrich, Philosophische Vorlesungen aus den Jahren 1804—06, hg. v. Windischmann, Bd. 2, 1836, S. 3 8 3 0 . Vgl. Stern, Leo, Die klerikal-imperialistische Abendlandideologie im Dienste des deutschen Imperialismus, in: ZfG, 10. Jg., H. 2. 1962, S. 291. Ranke hat, ausgehend von der Bedeutung, die er der „Einheit der germanischromanischen Völker" für die weltgeschichtliche Entwicklung beimaß, die universalistische Politik des Kaisertums verteidigt. Auf der durch Karl den Großen bewirkten Zusammenfassung Galliens, Germaniens und Italiens beruhte nach ihm die geheiligte Verbindung der Völker des Abendlandes. Vgl. Gollwitzer, Heinz, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrh., München 1 9 5 1 , S. 276. Dieser sog. Europäismus Rankes hat in der späten bürgerlichen Geschichtsschreibung einen bedeutenden Einfluß ausgeübt. Vgl. Stern, Leo, a. a. O., S. 292 ff.
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Gottfried K o c h
einer kritischeren Meinung gegenüber dem Kaisertum kam. Das Werk hat auch als erste zusammenfassende Geschichte des Hochmittelalters auf neuer Quellengrundlage bleibende Verdienste. II. Die Hauptaufgabe der Periode von 1849 bis 1871 war die Schaffung der nationalen Einheit auf der Basis kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Auch in der Ideologie wurde der Kampf um die verschiedenen Wege der Einigung geführt, wobei der demokratische Weg einer Revolution von unten in der offiziellen Geschichtsschreibung kaum Anhänger fand. In der Historiographie dominierten die kleindeutschen Historiker, die sich für eine Einigung Deutschlands Unter der Führung Preußens einsetzten. Ihre Hauptvertreter waren Droysen, Sybel, Treitschke und Mommsen. In ihren Arbeiten fand der Kompromiß zwischen der Großbourgeoisie und der preußischen feudalabsolutistischen Reaktion seinen ideologischen Ausdruck. Sie spielten in dem Maße bis 1870 eine fortschrittliche Rolle, wie die Einigung von oben selbst fortschrittlich war. „Sie bildeten somit bis 1870 die letzte bürgerliche historiographische Schule, die sich von einem relativ fortschrittlichen Ziel leiten ließ." 8 Dagegen hatte die katholisch-habsburgisch orientierte großdeutsche Richtung, deren Vorbild das österreichische Kaiserreich war, nicht entfernt die gleiche Wirkung. Gegenüber der den relativen Fortschritt verkörpernden preußischen Schule waren ihre Ziele reaktionär und dienten keiner progressiven Lösung der Hauptaufgabe der Periode von 1849 bis 1871. Ihre Klassengrundlage war weitaus schmaler und uneinheitlicher als die der Kleindeutschen. Einer der bedeutendsten großdeutschen Historiker, vielleicht der bedeutendste, war Julius Ficker. Da er die berühmte Kontroverse mit Heinrich von Sybel 9 über das mittelalterliche Kaisertum ausfocht, auf die hier näher einzugehen ist, seien einige biographische Daten über ihn genannt. Julius Ficker wurde 182-6 in Paderborn in Westfalen geboren und stammt aus einer Familie, deren Vermögen aus Grundbesitz bestand. Das katholisch-antipreußisch und rückständig-agrarisch orientierte Paderborner Milieu war von wesentlichem Einfluß auf Fickers spätere Entwicklung. Schon während seiner Studienzeit in Münster und Bonn beschäftigt er sich vorwiegend mit der mittelalterlichen Reichsgeschichte, vornehmlich der Stauferzeit. Während der Debatten in der Frankfurter Nationalversammlung trug er am 22. und 29. März 1849 sei11 Tagebuch ein, ihm scheine die Zukunft „nur in dem mitteleuropäischen Kaisertum verwirklicht werden zu können", aber „kein Kaiser geschmiedet durch schwarz8
Über die Periode 1849—1871 vgl.
Engelberg,
Ernst,
Deutschland von 1849 bis
1871, Berlin 1959, bes. S. 4, S. n o f . ; Zitat S. i n . (Lehrbuch der deutschen Geschichte, 7. Beitrag.) 9
Über Sybel vgl. den Beitrag v. Hans Schleier, Die kleindeutsche Schule, in diesem Band, S. 271 ff.
Der Streit zwischen Sybel und Ficker
315
weiße Ränke, durch preußische Kniffe" l0 , könne sie verkörpern. Nach einer kurzen Tätigkeit als Privatdozent in Bonn wurde er 1852 auf Grund seiner katholischgroßdeutschen Haltung durch Vermittlung des österreichischen Unterrichtsministers, Graf Leo Thun, als Professor an die Universität Innsbruck berufen, wo er bis zu seinem Tode im Jahre 1902 wirkte. Fickers Verdienste bestehen einerseits in seinem Beitrag zur Weiterentwicklung der Urkundenmethodik; in Verbindung mit Theodor von Sickel in Wien dehnte er die philologisch-kritische Methode auch auf die Urkunden aus. 11 Andererseits sind seine Arbeiten zur deutschen und italienischen Rechts- und Reichsgeschichte wegen ihrer Einzeluntersuchungen und der Fülle des Faktenmaterials noch heute beachtenswert. '- Nach dem Tode J. F. Böhmers (1863) übernahm Ficker die Leitung der Herausgabe der berühmten Regesta Imperii, die dann für die Mediävistik unentbehrlich wurden. Die genannten Forschungsrichtungen spiegeln sich dann auch in seiner Innsbrucker historischen Schule wider. 13 Ficker war — obwohl mehr Forscher als Publizist und Politiker — ein treuer Anhänger des reaktionären österreichischen Vielvölkerstaates und des habsburgischen Kaisertums. So nahm er zum Beispiel freiwillig als Leutnant am Krieg von 1866 teil. Am klarsten kommt seine politisch-ideologische und wissenschaftliche Grundhaltung in seiner bekannten Kontroverse mit Sybel zum Ausdruck. Dieser Streit mit Sybel ist ohne den Hintergrund des österreichisch-italienischen Krieges von 1859 und das Heranreifen einer revolutionären Situation nicht zu verstehen. Ficker unterstützte damals den reaktionären Traum eines mitteleuropäischen Reiches, der von Österreich propagiert wurde. Besonders die habsburgisch orientierte „Augsburger Allgemeine Zeitung" versuchte das grundsätzliche Festhalten «o Die ausführlichste Darstellung vom Leben und W e r k Julius Fickers ist das Buch von Jung, Julius, Julius Ficker (1826—1902). Ein Beitrag zur deutschen Gelehrtengeschichte, Innsbruck 1907, passim. Zitate S. 77f. Vgl. neuerdings auch: österreichisches Biographisches Lexikon, hg. v. Santifaller, Leo, Bd. 1, 1957, S. 309f.; u. Srbik, Heinrich Ritter v., Geist und Geschichte v o m deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, B d . 1, München-Salzburg 1950, S. 308. 11
Vgl. Ficker, Julius,
Beiträge zur Urkundenlehre, 2 Bde., Innsbruck 1877/78.
12
Hauptwerke: Vom Reichsfürstenstande. Bd. 1. Innsbruck 1861 Bd. 2, 1—3wurde von P. Puntschart 1911—23 aus dem Nachlaß herausgegeben. Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens, 4 Bde., Innsbruck 1868—74; Neudruck: Aalen 1961. Untersuchungen zur Erbenfolge der ostgermanischen Rechte, 5 Bde., Innsbruck 1891—1901; Bd. 6 wurde aus dem Nachlaß von H. v. Voltelini herausgegeben.
13
Aus seiner Innsbrucker hilfswissenschaftlichen Schule sind mit hervorgegangen: Engelbert Mühlbacher (1843—1903), Emil von Ottenthai (1855—1931), Oswald Redlich (1858—1944), die dann alle an der Spitze des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung in Wien standen. A u s seiner rechtsgeschichtlichen Schule seien genannt: Anton Nissl (1852—1890), Otto v. Zallinger (1856—1933), Paul Puntschart (1867—1945) und Hans von Voltelini (1862-1938).
3i6
Gottfried K o c h
an den oberitalienischen Provinzen als notwendig darzustellen.1/1 Fickers Übereinstimmung mit den österreichischen Plänen zeigt am klarsten die Tatsache, daß sich kein anderer als Julius Fröbel sehr für seine Schriften interessierte t5 ( dessen reaktionäre antinationalstaatliche, österreichisch-großdeutsch-mitteleuropäische Konzeption bekannt ist. Er hat einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Entwicklung der katholisch-restaurativen Europaidee des ig. Jahrhunderts geleistet. So gesehen ist es auch nicht verwundeilich, daß man mit dem Wiederaufleben dieser Ideen in der imperialistischen deutschen Geschichtsschreibung bis in die westdeutsche Gegenwart bei der Behandlung des Kaisertums immer wieder auf Fickers Auffassungen zurückgriff und zurückgreift. Der Kleindeutsche Sybel, im Gegensatz zu Ficker aus der rheinischen Großbourgeoisie stammend, wandte sich gegen die reaktionäre, ultramontane Politik Österreichs. Sybel war damals Professor in München und Ratgeber des bayrischen Königs und hatte sich gegen die gerade in Süddeutschland einflußreiche österreichische Propaganda zur Wehr zu setzen. 16 Entscheidend ist jedoch, daß er dabei von preußischen Hegemonieinteressen bestimmt wurde. So muß betont werden: Beide Historiker, sowohl der Großdeutsche Ficker als auch der Kleindeutsche Sybe , nahmen trotz aller Differenzpunkte einen undemokratischen, nationalistisch-dynastischen Standpunkt ein. Ein besonderes Kennzeichen ihrer Methode war es, in wissenschaftlich unhaltbarer Weise ihre Vorstellungen von den politischen und nationalen Problemen ihrer Zeit in die Vergangenheit, besonders in das Mittelalter, hineinzuprojizieren, um so ihre politischen Schlußfolgerungen pseudohistorisch zu untermauern. Ficker hoffte durch diesen „Hinweis auf die große Vergangenheit den Blick zu schärfen und den Willen zu stärken für die Lösung der Aufgaben, welche unserer Nation noch harren" (S. 22). 17 Im Gegensatz zu Sybel wollte er „das Unglück der Nation" nicht aus der Gründung, sondern aus dem Verfall des mittelalterlichen Imperiums herleiten. „Wir glauben", so schrieb er, „daß in dem deutschen Kaiserreiche, wie es einst gewesen, noch immer wesentlich die Richtung vorgezeichnet ist, in welcher auch jetzt die Aufgaben unserer Nation zu suchen sind'' 14
Bekanntlich sprach sich Friedrich Engels 1859 für den Eintritt Preußens in den Krieg aus. E r wies nach, daß es in jenen Monaten für das deutsche Volk in erster Linie darum ging, sich gegen den gefährlichen äußeren Feind der deutschen Einheit zu wehren, ohne daß jedoch die Lombardei und Venedig ein Teil eines geeinten Deutschlands werden sollten. Vgl. Engelberg, Ernst, a. a. O., S. 89ff.
15
Jung, Julius,
a. a. O., S. 308, 349. Über
Fröbel
vgl. z. B .
Gollwitzer,
Heinz,
a. a. O., S. 385 ff. 16
Vgl. Ferres, Martin,
Heinrich v. Sybels Stellung zu den politischen Vorgängen
1859—1862, Berlin 1930, S. 17ff. Sybel verfaßte damals selbst u. a. eine anonyme Flugschrift: „ D i e Fälschung der guten Sache durch die Augsburger Allgemeine Zeitung", Frankfurt/M. 1859. Für die Angriffe gegen S y b e l ist folgender Satz bezeichnend, der im „Katholischen
Volkskalender
für 1860"
(erschienen
im
Oktober 1859) stand r „ F ü h r e uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns v o n dem Sybel, A m e n " (Ferres, a. a. O., S. 22.). "
Vgl. Anm. 18.
Der Streit zwischen Sybel und Ficker
317
(S. 156). 17 Er sprach sich auch 1862 gegen einen Zerfall der Habsburger Monarchie und die Bildung eines deutschen Nationalstaates aus. Der kaiserliche österreichische Vielvölkerstaat sei der Garant der nationalen und universalen Interessen Deutschlands. Der Kleindeutsche Sybel, von hohenzollemschen Interessen gelenkt, meinte dagegen, die Kaiserpolitik habe die Interessen der Nation stets geschädigt (S. 161). 17 So zog er eine entgegengesetzte Konsequenz: „Weil mir alle Vergangenheit die kaiserliche Politik als das Grab unserer Nationalwohlfahrt gezeigt hat, ziehe ich das .kleine Deutschland' von fünfundzwanzig Millionen dem großen ,Deutsch-Ungarn-Slawenlande' von siebzig vor" (S. 166). 17 Diese politisch-ideologische Begrenztheit der Standpunkte von Ficker und Sybel mußte dann auch ihren sachlichen Einsichten in bezug auf die Beurteilung des mittelalterlichen Kaisertums Grenzen setzen. Die Kontroverse begann, als Sybel in der gespannten Situation des Jahres 1S59, am 28. November, 18 Tage nach dem Frieden von Zürich, in dem Österreich die Lombardei abtreten mußte, anläßlich des Geburtstages Maximilians II. von Bayern eine Festrede „Über die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit" hielt. Diese Rede löste dann jenen Streit mit Ficker aus (1859-1862), in dem er selbst noch einmal ausführlich - diesmal schon von seiner neuen Wirkungsstätte Bonn aus - das Wort ergriff und Ficker zwei Gegenschriften verfaßte. 18 Sybel ging in seiner Rede von den bis dahin erschienenen beiden Bänden des bereits erwähnten Werkes von Wilhelm Giesebrecht aus, dessen „Auffassung des alten Kaisertums als einer echt nationalen Gewalt, als des wahren Ausdrucks der nationalen Einheit" (S. 8) er vom kleindeutsch-preußischen Standpunkt aus kritisierte. In diesem Sinne forderte er ein schärferes politisches Urteil. Dagegen verwahrte sich Ficker. Im Verlauf des Streites versuchten beide Historiker nun, ihre kleindeutschen beziehungsweise großdeutschen Auffassungen am Geschichtsverlauf vor allem bis zum Ende der Stauferzeit zu exemplifizieren, wobei sie sich im wesentlichen auf die politische Geschichte konzentrierten und ideologische Ausdrucksformen, wie die Reichsidee, weniger berührten. Die Kontroverse begann über den Charakter des Karolingerreiches und die Gründung des deutschen Staates. Allerdings stimmten beide darin überein, daß das Fortbestehen des Karolingerreiches für die spätere Entwicklung der deutschen Nation nicht wünschenswert gewesen wäre (S. 297), eine Auffassung, der man zunächst einmal voll und ganz zustimmen muß. 18
Schneider, Friedrich,
Universalstaat oder Nationalstaat, Macht und Ende des
Ersten deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich von Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, Innsbruck
1941. D a die
Streitschriften aus Platzgründen hier nicht in ihrer chronologischen
Abfolge
behandelt werden können, seien sie hier genannt. Aus den Seitenzahlen im T e x t , die sich alle auf die Ausgabe von Schneider beziehen, ist dann die jeweilige Schrift zu ersehen. S y b e l : Über die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit, Festrede am 28. 11. 1859, S. 3—18; Ficker: Das deutsche Kaiserreich in seinen
universalen
und
nationalen
Beziehungen. Vorlesungen,
gehalten
am
318
Gottfried Koch
Sybel fällte über die Kaiserpolitik Karls des Großen ein vernichtendes Urteil: „Die Kaiserkrönung brachte der fränkischen und weiterhin der deutschen Monarchie eine doppelte, verhängnisvolle Mitgift zu: das Trachten nach unbeschränkter Weltherrschaft und die Vorstellung einer religiösen, der päpstlichen analogen Weihe" (S. 176). Dagegen geht Ficker davon aus, daß ein christliches Universalreich den Anschauungen und Bedürfnissen der Karolingerzeit aufs vollkommenste entsprach (S. 37). Er verweist d4bei auf diese Tendenz in Byzanz, im Bereich des Islams und schließlich auf die römische Tradition im Westen und die christliche Kirche. Dieser vorhandene Universalismus ist unseres Erachtens nicht zu leugnen. Ficker untersucht dann die Ursachen, warum dieses Reich trotzdem zerfallen ist. Er sieht sie einesteils in einer rein rechtsgeschichtlichen Kategorie, im Erbrecht, das gleiche Teilungen zuließ, andererseits im Partikularismus der weltlichen Großen und dem Selbständigkeitsstreben der Stämme (S. 47f.). Sowohl Sybel als auch Ficker sahen nicht, daß die maßgeblichen Ursachen für den Zerfall des Karolingerreiches vor allem sozial-ökonomischer Natur waren. Das Reich war eine nicht stabile militärisch-administrative Gemeinschaft, die weder eine einheitliche ökonomische noch ethnische Basis besaß. 19 Bei der Entstehung des deutschen Staates unter Heinrich I. mißt Sybel dem „national"-ethnischen Faktor einen zu bedeutenden Einfluß zu. Wenn er meint, die Gleichartigkeit und Zusammengehörigkeit der einzelnen Stämme war größer als das, was sie trennte (S. 186), so wird man dem noch zustimmen können. Es ist jedoch nationalistisch überspitzt, im 9. und 10. Jahrhundert schon von einem Nationalstaat zu sprechen. Auch wird die Rolle Heinrichs I., des „kleindeutschen Musterkönigs", von Sybel überschätzt, wenn er meint, es habe für diesen „keine andere Richtschnur seines Wirkens als den nationalen Gedanken im besten Sinne gegeben" (S. 188). Zwar vertrat das Königtum objektiv „die sich bildende Nation gegenüber der Zersplitterung in rebellische Vasallenstaaten" 2°, doch kann man hier nicht von einem bewußten Handeln sprechen. Auch lagen Heinrich I. universale Gedanken durchaus nicht fern. 21 Deshalb soll seine progressive Bedeutung nicht unterschätzt werden. Ficker polemisiert heftig gegen die bei Sybel anklingende Auffassung, im 9. Jahrhundert in irgendwelchen nationalen Bestrebungen den Grund für die Zersetzung des Karolingerreiches zu sehen (S. 40 ff.). Das Fehlen von nationalen SchriftFerdinandeum zu Innsbruck 1861, S. 21—158; Sybel: Die Deutsche Nation und das Kaiserreich. Eine historisch-politische Abhandlung, 1862, S. 161—260; Ficker: Deutsches Königtum und Kaisertum. Zur Entgegnung auf die Abhandlung Heinrichs von Sybel: Die Deutsche Nation und das Kaiserreich, 1862, S. 271—365. 19 Geschichte des Mittelalters, hg. v. Kosminski, J. A./Skaskin, S. O., Bd. 1, Berlin 1958, S. 108 f. 20 Engels, Friedrich, Der Zerfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie, in: Marx/Engels, Über Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung, Bd. 1, Berlin 1961, S. 163. 21 Holtzmann, Robert, Geschichte der sächsischen Kaiserzeit, 3. Aufl., München 1955. S. 69.
Der Streit zwischen Sybel und Ficker
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sprachen sei der deutlichste Beweis dafür gewesen, daß diese Tendenzen nicht vorhanden gewesen waren. Ficker muß sich aber dann im Hinblick auf die Entstehung des deutschen Staates die Frage stellen: „Wie ist dieses Entstehen eines wesentlich nationalen Staatswesens zu erklären, obwohl wir nationale Tendenzen für jene Zeiten verneinten?" (S. 52). Die Triebfedern für die Entstehung des deutschen Reiches basierten seiner Meinung nach auf mehr politischen und verfassungsrechtlichen Faktoren: Erstens auf der Notwendigkeit der Verteidigung gegen die Normannen, Slawen und Magyaren; zweitens auf der längeren tatsächlichen Einigimg unter dem gleichen Herrscher, was vor allem durch Erbrecht und Gewalt ermöglicht wurde; drittens auf den Interessen des hohen Klerus. Ficker stimmt mit Sybel darin überein, Heinrich I. als den eigentlichen Gründer des deutschen Reiches anzusehen (S. 54; 61). Die Standpunkte von Ficker und Sybel sind symptomatisch für die bürgerliche Forschung über die Entstehung des deutschen Staates. Sie spiegeln so recht ihre Begrenztheit wider. Seit der Romantik bis zu der bekannten Kontroverse zwischen Teilenbach und Lintzel22 über die Entstehung des deutschen Reiches gibt es zwei Tendenzen in der bürgerlichen Geschichtsschreibung: entweder man geht von einer nationalistischen Position aus und schreibt dem Wirken „völkischer Kräfte", dem deutschen Volksbewußtsein, die entscheidende Bedeutimg bei der deutschen Staatsentstehung zu, oder man eliminiert diese Faktoren möglichst ganz und sieht sie als bloße Folge der staatlichdynastischen Entwicklung an.23 Auf Grund ihrer Klassenposition waren beide Richtungen der bürgerlichen Geschichtsschreibung ebenso wie Ficker und Sybel nicht in der Lage, die wirklich entscheidenden Ursachen und Triebkräfte für die Herausbildung des frühfeudalen deutschen Staates zu erkennen. Der Prozeß der Staatsentstehung vollzog sich auf der Grundlage der revolutionären Entwicklung des Ubergangs von der Sklavenhaltergesellschaft zum Feudalismus. Die Ursachen waren vor allem sozial-ökonomische Vorgänge und lagen im Klassenkampf zwischen den entstehenden beiden Grundklassen, Feudalherren und feudalabhängigen Bauern, begründet.24 Die Notwendigkeit einer starken Zentralgewalt ergab sich unter anderem aus dem Bestreben, den Feudalisierungsprozeß abzuschließen; ebenso waren die Expansionsbestrebungen der deutschen Feudalherren und - wie Ficker richtig feststellte - die äußere Bedrohung Ursachen für den Prozeß der Entstehung eines einheitlichen Staates. 22
23
24
Ein Teil der Arbeiten ist wieder abgedruckt in der von Hellmut Kämpf herausgegebenen Aufsatzsammlung: Die Entstehung des deutschen Reiches, Darmstadt 1956 (Wege der Forschung, 1). Zu diesen Problemen liegt eine neue marxistische Arbeit vor: Bartmuß, Hans Joachim, Zur Entstehung des deutschen Staates im Mittelalter, phil. Diss. Halle 1962 (MS), bes. S. 17ff. Vgl. Müller-Mertens, Eckhard, Das Zeitalter der Ottonen, Berlin 1955, S. 27fr.; u. die Besprechung des Buches von Hühns, Erik, in: ZfG, 4. Jg., H. 2, 1956, S. 389s., bes. S. 394f., wo auch auf das noch zu behandelnde Problem der Ethnogenese des deutschen Volkes hingewiesen wird.
320
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Es ist kein Zufall, daß die Version Fickers, die Leugnung des ethnisch-,.nationalen" Moments bei der deutschen Staatsentstehung, zurZeit in der gegenwärtigen bürgerlichen Historiographie dominiert. Hier steht die Europaidee im Hintergrund. Auch bei den deutschen Stämmen wird der ethnische Faktor übrigens weitgehend geleugnet. 25 Andererseits gibt es auch vereinzelte nationalistische Stimmen. So datiert K . G. Hugelmann 20 schon ab 919 das Bestehen eines deutschen Nationalstaates, das heißt, er verwendet einen Begriff, von dem man erst im 19. Jahrhundert sprechen kann. Die marxistische Historiographie hat sich scharf von nationalistischen Zügen abzugrenzen. Wir dürfen jedoch andererseits auch nicht in den kosmopolitischen Fehler verfallen und übersehen, daß sich in dieser Zeit, in der unter Heinrich I. und Otto I. der Prozeß der Entstehung des Staates in Deutschland zum Abschluß kam, die ersten Keim- und Vorformen von Nationen herausbildeten, auf deren Grundlage sich dann in der Neuzeit die moderne deutsche Nation entwickelte. Diesen Problemen, auf die auch Engels hingewiesen hat 2 7 , sollte die marxistische Mediävistik stärker als bisher nachgehen. Den heftigsten Streitpunkt zwischen den beiden Forschern bildete die Einschätzung des Kaisertums seit Otto I. Ficker schreibt: „Dieses Heilige Römische Reich Deutscher Nation war weder ein Weltreich, noch ein Nationalreich; aber es war eine Staatsbildung, geeigneter wie mir scheint, als irgend eine andere, um gleichzeitig der Lösung nationaler wie universaler Aufgaben gerecht werden zu können, eine Staatsbildung, welche sich naturwüchsig aus den besonderen Bedürfnissen jener Zeit entwickelt hat, deren Zerfall eine Lücke in den Verhältnissen unseres Weltteils ließ, welche nie vielleicht sich fühlbarer machte als gerade in unseren Tagen" (S. 69; Hervorhebung von mir — G. K.). Im gemeinsamen Interesse des Abendlandes sei dieses Universalreich notwendig gewesen (S. 78), das „Schutz gegen äußeren Angriff und Aufrechterhaltung der inneren Ordnung" (S. 70) bot. Es habe die nationalen Interessen der Völker - weder des eigenen noch der fremden — keinesfalls geschädigt, die nationale Sonderentwicklung nicht gehemmt (S. 81; 89; 300). Ficker schreibt dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation also eine schicksalhafte Rolle in der Weltgeschichte zu. Am klarsten ist seine Position aus 25
Es handelt sich vor allem um die Arbeiten von Steinbach, Franz, Deutsche Sprache und deutsche Geschichte, in: Rheinische Vierteljahresblätter, Bd. 17, 1957, S. 332ff.; Aubin, Hermann, Ursprung und ältester Begriff von Westfalen, in: Der Raum Westfalen, Bd. 2, Münster 1955, S. 3ff.; Petri, Franz, Stamm und Land im frühmittelalterlichen Nordwesten und neuer historischer Forschung, in: Westfälische Forschungen, Bd. 8, 1955. — Vgl. Sproemberg, Heinrich, La naissance d'un Etat allemand au Moyen Age, in: Le Moyen Age, Bd. 64, Nr. 3, 1958, S. 213-248, S. 2i9ff.
2(i
Hugelmann, Karl Gottfried, Stämme, Nation und Nationalstaat im deutschen Mittelalter, Stuttgart 1955, S. 505 t. Engels, Friedrich, a. a. O., S. 162 f. Für diese Hinweise danke ich Herrn Prof. Ernst Engelberg, Berlin.
27
Der Streit zwischen Sybel und Ficker
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seiner Einschätzung der kaiserlichen Italienpolitik ersichtlich, die in der Kontroverse mit Sybel auch einen besonderen Platz einnahm. Ficker ist einer der Begründer der These, daß der Erwerb des Kaisertums durch Otto I. und seine Italienpolitik eine politische Notwendigkeit für den Bestand und den Ausbau des deutschen Staates gewesen seien. Er glaubte, daß der Besitz Italiens notwendig gewesen wäre, um das Eindringen anderer fremder Mächte zu verhindern und um vor allem das Papsttum zu beherrschen. Außerdem habe schon Otto I. die süddeutschen Herzogtümer an einem selbständigen Eingreifen in Italien hindern müssen. Diese Ansichten wurden dann in der modernen bürgerlichen Historiographie vorherrschend.28 Unter den Historikern der jüngsten Zeit bildete Martin Lintzel eine Ausnahme. An seinen Auffassungen sollte die marxistische Historiographie, die hier vor einer großen Forschungsaufgabe steht, anknüpfen. Lintzel wies mit Recht darauf hin, daß die Italienpolitik Ottos auf keiner staatlichen Notwendigkeit beruhte, sondern eine Aggression war, die zwar zur Zeit Ottos noch Vorteile brachte, aber unter den Staufern in die Katastrophe führte. Weder Lintzel noch Ficker und Sybel haben jedoch die eigentlichen Ursachen der ottonischen Italienpolitik herausarbeiten können, da sie zu stark das Primat der Außenpolitik betonten. Man muß jedoch von einer Analyse der frühfeudalen innerdeutschen Verhältnisse ausgehen. Die Ursachen dieser aggressiven Politik lagen vor allem in der innenpolitischen Struktur des zur Expansion drängenden frühfeudalen Staates begründet. Gegenüber Italien nahm Ficker einen nationalistisch-undemokratischen Standpunkt ein. Er meinte,, ,daß die Nation, so hohe Begabung ihr in anderen Richtungen nicht abzusprechen ist, doch politischen Aufgaben nicht gewachsen war, daß es ihr an staatenbildender Befähigung fehlte" (S. 73). Aus dieser Feststellung, die er vor allem auf psychologische Ursachen, wie Mangel an Gemeinsinn, zurückführt, ergibt sich für Ficker geradezu „die Notwendigkeit einer Fremdherrschaft" jenseits der Alpen (S. 77). Seine nächste Schlußfolgerung ist dann nicht überraschend. Er meint nämlich, daß nur „vom König der Deutschen eine genügende Lösung der italienischen Frage zu erwarten" gewesen sei: „Von allen politischen Gestaltungen, welche Italien im Laufe der Zeiten erhielt, war doch die Kaiserherrschaft diejenige, welche den Interessen des Landes am meisten entsprach, seine Einheit am besten zusammenhielt, ohne die Mannigfaltigkeit zu ertöten, es gegen außen schützte, im 28
Vgl. Lintzel, Martin, Die Kaiserpolitik Ottos des Großen, in: Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Berlin 1961, S. 1 7 5 s . — Lintzel faßte diese angebliche politische Notwendigkeit der Kaiser- und Italienpolitik für die Existenz und Zukunft des deutschen Reiches in fünf Punkten zusammen, die bei den einzelnen Historikern seit Ficker immer wieder auftauchen; die Italienpolitik sei notwendig gewesen: 1. zur Herrschaft über die deutsche Kirche, 2. wegen der Ostpolitik, 3. wegen der Hegemonie in Europa, 4. zur Sicherung der süddeutschen Stämme, 5. zur außenpolitischen Sicherung des Reiches. Lintzel vermag überzeugend nachzuweisen, daß diese Notwendigkeiten nicht bestanden. Der angebliche Zwang der Tradition, der in der späteren Forschung stärker in den Vordergrund tritt, spielte bei der realpolitischen Einstellung von Ficker und Sybel kaum eine Rolle.
ai Gachicht»wissemchaft, Bd. I
322
Gottfried Koch
Innern ordnete" (S. 77; 85). Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich die Risorgimento-Geschichtsschreibung mit Recht gegen solche Behauptungen auf das schärfste verwahrte, ohne daß übrigens der Ficker-Sybel-Streit selbst einen nennenswerten Einfluß auf die italienische Historiographie ausgeübt hätte. Uberhaupt steht das Problem der Kaiserpolitik nicht mehr im Mittelpunkt ihres Interesses. Zwar lehnt auch R. Morghen Fickers Behauptung ab, den Italienern staatsbildende Fähigkeiten abzusprechen, doch spricht er selbst von einer tiefen Notwendigkeit der deutschen Italienpolitik.29 Hier ist die Frontstellung, wie man sie bei den Historikern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachten konnte, verschwunden. Ohne daß in diesem Rahmen näher auf diese komplizierten Probleme eingegangen werden kann, muß doch folgendes betont werden: Insgesamt gesehen übte das Kaisertum eine hemmende Wirkimg auf die italienische nationalstaatliche Entwicklung aus, vor allem auf Grund der Tatsache, daß das Bestehen eines selbständigen zentralen Königtums unmöglich gemacht und der Ausbau des eigenen italienischen Staates verhindert wurde.30 Dabei soll auch die andere Seite nicht übersehen werden: Für den italienischen Feudaladel stellte die feudale Anarchie den Idealzustand dar. Er war deshalb gegen ein starkes einheimisches Königtum. Auch die immer wieder aufflackernde Opposition gegen die deutsche Herrschaft war nicht von „italienischen", sondern von rein partikularistischen Interessen bestimmt.31 In den anderen westeuropäischen Ländern hat sich jedoch trotz dieser grundsätzlich ähnlichen Situation das einheimische Königtum auf die Dauer durchsetzen können. In Italien wurde dieses vom Kaisertum beseitigt und so die zentralstaatliche Entwicklung gehindert. Diese objektive Tatsache wird von deranFicker anknüpfenden gegenwärtigen westdeutschen Geschichtsschreibung geleugnet. Ja, 29
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Morghen, Raffaello, La missione dell' Impero e la „Italienische Kaiserpolitik" negli storici della Germania medioevale, in: Archivio Storico Italiano, XCIII, 1 > 1935» S. 101—123, bes. S. 1 0 4 ! , i i 7 f f . Die Arbeit der deutsch-italienischen Historikerkommission steht gegenwärtig auch im Zeichen der „Europäischen Integration". Die Kaiserkrönung Karls des Großen wird als „enge Bindung Italiens an das Abendland" gewertet. Man muß allerdings zugeben: Daß es nach dem Zusammenbruch der Staufer „keine das Ganze repräsentierenden Kräfte" in Italien gab, sei sicher „durch die jahrhundertlange Herrschaft des deutschen Kaisers" mitbedingt gewesen. Vgl.: 1000 Jahre deutsch-italienische Beziehungen, Braunschweig i960, S. 8, 11 (Schriften des internat. Schulbuch-Instituts, Bd. 5). Dante, der bekanntlich ein Anhänger des Kaisertums war, hat nicht die Konzeption eines gesamtitalienischen Nationalstaates vertreten, sondern an der herkömmlichen Auffassung des „regnum Italicum" als Glied des Reiches festgehalten. Allerdings war sein Bild des Kaisertums stark von italienisch-römischen Zügen bestimmt. Vgl. Löwe, Heinz, Dante und das Kaisertum, in: HZ, Bd. 190, i960, S. 532. Vgl. Graf, Gerhard, Die weltlichen Widerstände in Reichsitalien gegen die Herrschaft der Ottonen und der ersten Salier (951—1056). Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-italienischen Beziehungen im Mittelalter und zur Entstehung des italienischen Nationalgefühls. Erlangen 1936, bes. S. 100 ff.
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man geht heute sogar noch über Ficker hinaus und behauptet, daß das Imperium sogar wesentlichen Anteil an der Entwicklung der Nationalstaaten gehabt habe. 32 Sybel meint, Otto I. habe „eine theokratisch gefärbte Weltmonarchie einem nationalen deutschen Königtum" vorgezogen (S. 15). Man kann ihm im Grunde die Berechtigung seiner Feststellung, daß seitdem die Kräfte der Nation „für einen stets lockenden und stets täuschenden Machtschimmer im Süden der Alpen vergeudet" wurden, nicht absprechen. Es besteht unseres Erachtens kein Zweifel, daß die mit dem Kaisertitel belastete deutsche Zentralgewalt auf die Dauer durch diese Politik immer wieder von ihren innenpolitischen Aufgaben abgelenkt wurde, was zur Stärkung der Partikulargewalten und zu ihrem schließlichen Siege beitrug. Auch Sybel dringt jedoch bis zu den eigentlichen Ursachen der Italienpolitik nicht vor; er spricht nur von „monarchischer Herrschbegier" (S. 176), ohne die Beziehung zu den sozialen Verhältnissen des Frühfeudalismus herzustellen. Bezüglich der italienischen Entwicklung kommt er zu Schlußfolgerungen, die wir in ihrer Grundtendenz nur unterstreichen können. So meint er, seit dem Eingreifen Karls des Großen seien „die Zersplitterung und politische Anarchie Italiens" für ein Jahrtausend besiegelt gewesen (S. 176), wenn — so fügen wir hinzu — sie auch nicht allein darauf zurückzuführen sind. Fickers Darlegungen kann Sybel mit dem Hinweis auf die politischen Hintergründe zurückweisen: „Es ist, wie man sie sieht, genau dieselbe Theorie, womit in unseren Tagen die ultramontane und reaktionäre Presse die Fortdauer der österreichischen und klerikalen Mißregierung in Italien verteidigt" (S. 196). Dagegen wird die aggressive Ostpolitik von dem kleindeutschen Historiker lebhaft verteidigt; sie habe den eigentlichen nationalen Interessen entsprochen und sei durch die Italienzüge leider vernachlässigt worden (S. 194; 204). Diese Auffassung haben dann in der imperialistischen Epoche G. v. Below und F. Kern 33 wieder vertreten. Es setzte sich jedoch die Ansicht von R. Holtzmann und A. Brackmann durch, daß die Italienpolitik durch die Beherrschung des Papsttums geradezu eine Voraussetzung für die Missions- und Eroberungspolitik im Osten gewesen sei.3'1 Trotz dieser Differenzen sind sich die streitenden Parteien also in der Grundfrage Vgl. Holtzmann, Walter, Imperium und Nationen, in: Relazioni del X. Congresso internazionale di Scienze Storiche, Bd. 3, Florenz 1955, S. 273—303, S. 302 f. — Bezüglich der italienischen Entwicklung nahm schon Fritz Rörig eine ähnliche Stellung ein. Nur „durch den Zusammenbruch des staufischen Imperiums wurden Italien und Deutschland um ihre staatliche Einigung betrogen"; vgl.: Rörig, Fritz, Mittelalterliches Kaisertum und die Wende der europäischen Ordnung (1197), in: Das Reich und Europa, Leipzig 1941, S. 48. •)3 Below, Georg v.. Die italienische Kaiserpolitik des deutschen Mittelalters mit besonderem Hinblick auf die Politik Friedrich Barbarossas, München und Berlin 1927, S. 65f. u. passim; Kern, Fritz, Der deutsche Staat und die Politik des Römerzuges, in: Aus Politik u. Geschichte. Gedächtnisschrift f. G. v. Below, Berlin 1928, S. 45 fr. 32
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Holtzmann, Robert, a. a. O., S. 193; Brackmann, Albert, Die Ostpolitik Ottos des Großen, in: Gesammelte Aufsätze, Weimar 1941, S. 140ff.
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durchaus einig, nämlich der positiven Bewertung der aggressiven Ostexpansion, die die bürgerliche Geschichtsschreibung bis zur Gegenwart als große „Kulturleistung" verherrlicht. Auf dieser Basis einigte man sich wieder. Für Sybel stand die Frage im Mittelpunkt, „welche Folgen die Kaiserpolitik für das deutsche Reich gehabt hat" (S. 202). Wir stimmen im wesentlichen mit seiner Meinung überein, daß sich ihre verhängnisvollen Rückwirkungen auf die innere Staatsstruktur schon in der Ottonenzeit offenbarten. Es ist allerdings stark übertrieben, wenn Sybel und sein Schüler W. Maurenbrecher35 im Liudolfinischen Aufstand (953-955) „geradezu die Äußerung einer im kleindeutschen Sinne wirkenden nationalen Opposition gegen das Eingreifen jenseits der Alpen" gesehen haben. Immerhin vertritt ein Fachmann wie M. Lintzel die Ansicht, daß Liudolf und Konrad der Röte mit der Italienpolitik Ottos sicherlich nicht ganz einverstanden gewesen sind, allerdings nicht aus nationalen, sondern aus eigensüchtigen Motiven heraus. '10 Letzteres muß man sicher auch bei der nach Sybels Meinung angeblich nationale Ziele verfolgenden Politik Heinrichs des Löwen betonen. Nach Sybel habe es nämlich im Gegensatz zur Kaiserpolitik die Linie einer nationalen Politik von Heinrich I. über Liudolf bis zu Heinrich dem Löwen gegeben (S. 18). Heinrich der Löwe war bekanntlich ein Exponent der aggressiven Ostpolitik, die den nationalen Interessen ebensowenig diente wie die Italienpolitik. Ficker meinte, daß die Kaiserpolitik nicht nur im Einklang mit den Interessen der Nation gestanden, sondern sogar deren innere Entwicklung positiv beeinflußt habe. Dem Kaisertum sei es gelungen, die deutschen Stämme zu vereinen: „Aus dem Anrecht auf die Kaiserkrone, aus der Herrschaft über fremde Gebiete, welche nicht Sache der einzelnen Stämme, sondern der ganzen Nation waren. . ." (S. 126), hätte sich das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit gestärkt (S. 312). Hier kommt die undemokratische außenpolitische Position Fickers besonders klar zum Ausdruck, sieht er doch in der Herrschaft „über fremde Gebiete" eine Bedingung für eine positive eigene nationale Entwicklung. Dazu habe das Kaisertum alle äußeren Einwirkungen ferngehalten, die die nationale Entwicklung in den Anfängen hätten bedrohen können. Vor allem seien so ein eventuelles französisches Kaisertum und dessen Ausdehnungsbestrebungen verhindert worden (S. 115 ff.). Die spätere Historiographie ist auf dieser Linie weitergeschritten. So schrieb A. Hofmeister im Jahre 1923, die deutsche Nation sei nicht denkbar „ohne den mächtigen und lebensvollen Staat unserer Kaiser des Mittelalters". 37 Ein Blick auf die Katastrophe am Ende der Stauferzeit und die entgegengesetzte Entwicklung in Frankreich dürfte uns eines besseren belehren! Wir haben gegenüber dieser nationalistischen Position schon betont, daß die Kaiserpolitik keine positiven, sondern auf die Dauer verhängnisvolle Auswirkungen für die deutsche Entwicklung hatte. 35
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Maurenbrecher, Wilhelm, Die Kaiserpolitik Ottos I., in: HZ, Bd. 5, 1861, bes. S. 139. Dagegen vor allem Holtzmann, Robert, a. a. O., S. 194f. Lintzel, Martin, a. a. O., S. i97f., Zitat ebenda. Hofmeister, Adolf, Die nationale Bedeutung der mittelalterlichen Kaiserpolitik, Greifswald 1923, S. 6 (Greifswalder Universitätsreden, 10).
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Ein anderes von den beiden Forschern umstrittenes Problem war die Frage, inwieweit das mittelalterliche Kaisertum Weltherrschaftstendenzen vertreten habe. Sybel sprach von einet theokratisch gefärbten Weltmonarchie; er sah in dem Imperium nichts anderes „als das von vornherein ganz unbestimmte Gebiet, in welchem es dem jedesmaligen Kaiser gelingt, seine Ansprüche auf Weltherrschaft zur Geltung zu bringen" (S. 18; 308). Diese „Richtung auf schrankenlose Weltherrschaft" (S. 14) sei schon von Otto I. vertreten worden. Ficker kam der historischen Wahrheit näher, indem er eine Trennung zwischen dem eigentlichen territorial begrenzten mittelalterlichen Imperium und der weltumfassenden Kaiseridee vollzog. Er gab zwar zu, daß bei einzelnen Herrschern, zum Beispiel Heinrich VI., eine Weltherrschaftstendenz im Mittelalter vorhanden war, doch sei dieser Irrweg kein Bewertungsmaßstab, denn das Kaisertum sei „nicht zu beurteilen nach den Gedanken, welche man hier und dort ihm unterlegte, sondern nach seinem tatsächlichen jahrhundertelang andauernden Bestände, welcher uns durchaus das Bild eines zu fest geschlossenen, scharf bestimmten Grenzen ausgewachsenen Staatskörpers bietet" (S. 86). In der Tat ist zu unterscheiden zwischen der weiten Verbreitung dieser Weltherrschaftsideologie besonders in dem Jahrhundert von 1150 bis 1250 in bestimmten Gebieten (Rom) und Personenkreisen (Dichter, Juristen) und der Funktion, die sie in der auswärtigen Politik der Kaiser ausübte. Man wird heute sagen können, daß sie hier niemals den Charakter einer politischen Grundkonzeption annahm, aber als diplomatische Waffe oder als propagandistisches Mittel durchaus eine aktive politische Rolle spielen konnte. Wenn auch das Ziel der staufischen Politik keine Weltherrschaft war, so kann man doch die vom staufischen Hofe in Europa vertretenen überheblich-aggressiven Tendenzen nicht aus den Quellen hinweginterpretieren, wie das gegenwärtig von Kirfel im Zeichen der „europäischen Integration" versucht wurde.38 Man muß auch betonen, daß der Kaisertitel und die mit ihm teilweise verbundene Weltherrschaftsidee unter den Ottonen nicht die Rechtsgrundlage für den Erwerb von Italien abgaben und nicht letztlich entscheidend waren. Die tatsächliche Hegemonie, die Otto schon in Europa hatte, ist nicht mit einer sich angeblich aus der Kaiserwürde ergebenden Hegemonie zu verwechseln.39 „Die reale Ubermacht des deutschen Königtums, nicht die ideale Bedeutung der Kaiserkrone, hat hier wie dort den Ausschlag gegeben" (Ficker, S. 304). Das bedeutet nicht, daß der Kaisertitel diese tatsächliche Hegemonie dann nicht sanktionierte und legitimierte und die weitere Entwicklung beeinflußte. Endlich hatte man auf die Entwicklung in der Stauferzeit und die Ursachen der Katastrophe Mitte des 13. Jahrhunderts einzugehen. Sybel mußte feststellen: „Deutschland aber als politischer Organismus betrachtet, trat aus seiner .Kaiserzeit' in völligem Bankerott hervor. Es gab noch den Namen 38
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Kirfel, Hans Joachim, Weltherrschaftsidee und Bündnispolitik. Untersuchungen zur auswärtigen Politik der Staufer, Bonn 1959 (Bonner historische Forschungen, 12). Vgl. Lintzel. Martin, a. a. O., S. 2 1 1 f.
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eines Reiches, aber eine wirksame Staatsgewalt existierte nicht mehr"(S. 222). Wir kennen bereits seine überspitzte Auffassung, daß das Reich den Keim notwendigen Zerfalls von vornherein in sich getragen habe. Der entscheidende Wendepunkt in dieser Richtung ist für ihn dann der Ausgang des Investiturstreites. Die Ursache für seine gerade in Deutschland so verhängnisvolle Wirkung sah Sybel darin, daß der deutsche König auch der Italien beherrschende Kaiser war, dessen Interessengegensätze mit dem Papst viel bedeutender sein mußten als die der anderen europäischen Könige (S. 3i2ff.). Dieser Gesichtspunkt ist durchaus anzuerkennen. Man muß jedoch hervorheben, daß hier in erster Linie noch andere Gründe wirksam waren, wie die besondere Stellung der Kirche und die gefestigte Position der größeren Feudalherren in Deutschland. Entscheidend ist, daß die Entwicklung nach dem Investiturstreit von Sybel zweifellos zu negativ eingeschätzt wird. Das betrifft besonders die Hohenstaufen: „Aber nichts ist gewisser, als daß die deutsche Monarchie schon zu ihrer Zeit ein wesenloses Schemen, ihr kaiserliches Streben von Deutschland hinweggewandt und jeder große Fortschritt unserer Nation in jener Zeit von ihreF Kaiserpolitik völlig unabhängig war" (S. 215). Sybel gelangt so besonders zu einer Fehleinschätzung'1" des großen Gegenspielers Heinrichs des Löwen, Friedrichs I.,,Er war nur nach dem Namen nach ein deutscher König, in Wahrheit aber nichts weiter als der Führer einer möglichst starken Fürstenpartei" (S. 216). Es ist jedoch nicht zu leugnen, daß es in den letzten Jahren Friedrich Barbarossas noch einmal zu einer relativen Stabilisierung der Zentralgewalt gekommen ist. Wenn die hergebrachte Kaiserpolitik aufgegeben worden wäre, wäre von hier aus vielleicht noch eine gedeihliche Entwicklung auf der Linie der Stärkung des deutschen Königtums möglich gewesen. Vor allem wäre der weitere Ausbau des Reichsgutes eine Hauptaufgabe gewesen. Andererseits darf man auch die schwankenden Machtgrundlagen Friedrichs I. nicht übersehen, wie das dann Ficker getan hat. Wenn sich auch beide Historiker über die Ursachen, die dann zum Herrschaftssystem Friedrichs II. führten, nicht einig waren, so stimmten doch ihre Urteile über dessen Charakter im wesentlichen überein. Mit Recht stellte man fest: „Hätte damals Kaiser Friedrich II. gesiegt, so wäre seine Herrschaft eher alles andere, sizilisch, italisch, sarazenisch, nur nicht deutsch gewesen" (Sybel, S. 237). In der Einschätzung der Entwicklung, die zum Niedergang des Kaisertums und zur Zerrüttung der deutschen Zentralgewalt führte, nahm Ficker einen entgegengesetzten Standpunkt ein, den er selbst formulierte: „weil das Kaiserreich gefallen ist, ist auch das deutsche Königreich gefallen; dagegen umgekehrt der Gegner: weil jenes bestanden hat, ist dieses gefallen" (S. 313). Bekanntlich sah der Großdeutsche Ficker das Kaisertum auch in seiner Gegenwart als Mittel zur Lösung der nationalen Frage an. Hätte das Kaisertum seine gesunden Grundlagen nicht verlassen, so meinte er, so hätte es „fort und fort bis auf unsere Tage" gedauert (S.96; 40
Vgl. etwa Hampe, Karl, Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer, 10. Aufl. bearb. v. Baethgen, F., Heidelberg 1949, S. 149f.
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110). Das entscheidende Moment für den Zerfall des Kaisertums sah er in dem Erwerb des sizilischcn Königreiches. „Bis jetzt haben wir keinerlei Veranlassung gefunden", so antwortet er Sybel, „von der Ansicht abzugehen, daß das nationale deutsche Staatswesen nicht verfallen ist, weil das Kaiserreich bestand, sondern weil dieses zerfiel; und daß auch das Kaiserreich zerfallen ist, nicht weil seine innere Gestaltung in ihrer Weiterentwicklung notwendig zu solchem Ausgang hätte führen müssen, sondern weil durch die ihm selbst fremden Beziehungen seines Herrscherhauses zu Sizilien unter dem Einfluß ungünstiger Wechselfälle die bisherigen Grundlagen der deutschen Kaiserherrschaft verlassen wurden; für diese wird der schließlich traurige Erfolg einer auf Sizilien sich stützenden Kaiserpolitik nicht