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German Pages [460] Year 1997
bohlauStudienbücher
Georg G. Iggers
Deutsche Geschichtswissenschaft Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart
Böhlau Verlag Wien • Köln • Weimar
Autorisierte Ü b e r t r a g u n g aus d e m Englischen von Christian M . Barth
Die deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Iggers, G e o r g G . : Deutsche Geschichtswissenschaft : eine Kritik der traditionellen G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g von H e r d e r bis zur G e g e n w a r t / Georg G. Iggers. [Autoris. Übertr. aus d e m Engl, von C h r i s t i a n M . Barth]. Vom A u t o r d u r c h g e s . u n d erw. Ausg. - W i e n ; Köln ; W e i m a r : B ö h l a u , 1997 (Böhlau-Studienbuch) E i n h e i t s s a c h t . : T h e G e r m a n c o n c e p t i o n of h i s t o r y I S B N 3-205-98681-4
V o m A u t o r d u r c h g e s e h e n e u n d e r w e i t e r t e A u s g a b e d e r 1976 3 im Deutschen Taschenbuch Verlag G m b H & Co.KG erschienenen Auflage.
D a s W e r k ist u r h e b e r r e c h t l i c h g e s c h ü t z t . D i e d a d u r c h b e g r ü n d e t e n Rechte, insbesondere die der Ü b e r s e t z u n g , des Nachdruckes, der E n t n a h m e von A b b i l d u n g e n , der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ä h n l i c h e m W e g e u n d d e r S p e i c h e r u n g in D a t e n v e r a r b e i t u n g s a n l a g e n , bleiben, auch bei n u r auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 1968 W e s i e y a n University » T h e G e r m a n C o n c e p t i o n of History. T h e N a t i o n a l T r a d i t i o n o f H i s t o r i c a l T h o u g h t f r o m H e r d e r to t h e P r e s e n t «
© 1 9 9 7 by Böhlau Verlag G e s . m . b . H . und Co.KG., W i e n • Köln • W e i m a r G e d r u c k t auf u m w e l t f r e u n d l i c h e m , chlor- u n d säurefreiem Papier. Druck: Interpress, Budapest
INHALT
Vorwort zur Neuauflage von 1997 I Vorwort 7 I. Einführung 11 II. Die Wurzeln des deutschen Historismus 43 III. Das theoretische Fundament des deutschen Historismus I. Wilhelm von Humboldt 62 IV. Das theoretische Fundament des deutschen Historismus II. Leopold von Ranke 86 V. Der Gipfel des historischen Optimismus. Die »Preußische Schule« 120 VI. Die »Krise des Historismus« I. Die philosophische Kritik: Cohen, Dilthey, Windelband, Rickert, Weber 163 VII. Die »Krise des Historismus« II. Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke 227 VIII. Der Verfall der deutschen »Geschichtsidee«. Der Einfluß der beiden Weltkriege und des Totalitarismus auf das deutsche Geschichtsdenken .. 295 IX. Schlußbetrachtung 365 Literaturhinweise 387 Weitere Literaturhinweise (1997) 395 Nachwort zur deutschen Auflage von 1997 400 Register 444 Register zur Neuauflage von 1997 449
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G u t dreißig Jahre sind vergangen, seit ich das Manuskript dieses Buches abgeschlossen habe. Es entstand in den 1960er Jahren, als sich eine neue Generation deutscher Historiker zum ersten M a l an eine kritische Auseinandersetzung mit den weltanschaulichen und politischen Traditionen einer Geschichtswissenschaft wagte, die seit der kleindeutschen Nationalbewegung des neunzehnten Jahrhunderts das Fach Geschichte an den deutschen Hochschulen beherrscht hatte. Mein Interesse an dieser Auseinandersetzung war eng mit meiner eigenen Biographie verbunden. Als deutscher Jude, 1926 in Hamburg geboren, floh ich im Oktober 1938 knapp einen M o n a t vor der Reichspogromnacht in die U S A . Meine Verbindung zur deutschen Kultur brach aber keineswegs mit meiner Emigration ab. In meiner Jugend und meinem Studium beschäftigte ich mich intensiv mit deutscher Literatur, Philosophie, Sozialtheorien und der Geschichtsschreibung seit dem achtzehnten Jahrhundert. Mein Interesse an deutschen Themen wurde durch meine Frau verstärkt, die ich während meines Studiums kennenlernte, als sie in Germanistik promovierte, und die ähnlich wie ich im Oktober 1938 geflüchtet war, in ihrem Fall aus der Tschechoslowakei nach Kanada. Was mich bewegte, war die Frage, welche Verantwortung deutsche Geisteswissenschaftler, insbesondere die Historiker, an der verhängnisvollen Geschichte Deutschlands in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts trugen. Es wird an keiner Stelle in diesem Buch behauptet, daß die Geschichts- und Wissenschaftskonzeption der deutschen Historikerzunft zwangsläufig zum Nationalsozialismus führte, wohl aber die Frage aufgeworfen, wie es in Deutschland zu einer geistigen Entwicklung kommen konnte, die, obwohl sie sich an vielen Punkten vom Nationalsozialismus abgrenzte, ein geistiges und politisches Klima vorbereitete, das den Ubergang zum Nationalsozialismus möglich machte. A u f den folgenden Seiten möchte ich kurz darlegen, was ich heute anders sehe. Zunächst zum Titel: Ich habe »Deutsche Geschichtswissenschaft« nicht gewählt und war überrascht, als er, ohne daß ich um Rat gefragt worden war, plötzlich auf dem Buchdeckel der deutschen Ausgabe erschien. Der englische
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Vorwort zur Neuauflage von 1997
Titel »The German Conception of History« hat meinem Anliegen genauer entsprochen. Die Thematik, die ich im Blick hatte, war bescheidener als das, was der deutsche Titel versprach. Wie das Vorwort zur englischen Ausgabe von 1968 und der deutschen von 1971 betonte, war »das vorliegende Buch nicht in erster Linie als eine Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft gedacht«. Es sollte »vielmehr eine Interpretation und kritische Analyse der theoretischen Voraussetzungen und politischen Wertvorstellungen der deutschen Historiker geben, die in der vorherrschenden nationalen Tradition der Historiographie von Wilhelm von Humboldt und Leopold von Ranke bis zu Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter standen«. Das Buch enthielt keineswegs eine umfassende Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft. Daher blieben wichtige Historiker und Schriftsteller, die am Rande oder außerhalb dieser nationalen Tradition oder ihr kritisch gegenüberstanden, wie Jacob Burckhardt, Karl Marx, Lorenz von Stein, Kurt Breysig, Ricarda Huch, Emil Ludwig, Hedwig Hintze u. a., ganz bewußt ausgeklammert. Es gibt immer noch keine umfassende Geschichte des deutschsprachigen Geschichtsdenkens und der deutschsprachigen Geschichtsschreibung, die den vielen Denkern und Historikern (und im 20. Jahrhundert auch Historikerinnen), die in andere politische und methodische Richtungen gingen, Rechnung trägt. Bausteine zu einer solchen Geschichte sind die neun von Hans-Ulrich Wehler herausgegebenen Bände »Deutsche Historiker« (1971-1982). Ich bin der Meinung, daß der vorliegende Band auch heute durchaus noch seine Berechtigung hat, und zwar als historische Analyse einer Wissenschaftstradition, die eine wichtige Rolle in der Bildung des historischen und politischen Bewußtseins in Deutschland im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte. Jörn Rüsen und Friedrich Jaeger, wie auch Ulrich Muhlack, haben sie noch kürzlich als »maßgebende Denkform« dieser Periode beschrieben. Man mag das Buch heute kritisieren, weil es sich zu sehr auf die neuere und neueste Geschichte konzentriert, was zu Lasten der mittelalterlichen und der alten Geschichte geht, die doch im Geschichtsbewußtsein der deutschen Historikerschaft eine sehr wichtige Rolle eingenommen hatte. Ich war mir dessen schon damals bewußt, wie mein Vorwort von 1970 zeigt. Diese Einschränkung hatte jedoch ihre Berechtigung, da ich mich hauptsächlich mit der politischen
Vorwort zur Neuauflage von 1997
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Relevanz der deutschen Geschichtswissenschaft beschäftigte. Heute würde ich unter den Althistorikern T h e o d o r M o m m s e n und Ulrich von Willamowitz-Moellendorf, unter den Mediävisten Ernst Kantorowicz und Otto Brunner als Exponenten einer engen Verknüpfung wissenschaftlicher und politischer Sichtweisen einen größeren Platz einräumen. Die Grundthesen des Buches vertrete ich heute, nach über dreißig Jahren, noch immer. Nachdem die deutsche Ubersetzung erschienen war, schrieb mir T h o m a s Nipperdey einen kritischen Brief (15. 2. 1971), in dem er mir vorwarf, daß ich Wissenschaftsgeschichte als Ideologiekritik betrieben hätte, daß aber die Historiker, die ich in dem Buch behandelte, in erster Linie vom Standpunkt ihres wissenschaftlichen Beitrags gewürdigt werden müßten. Obwohl ich den wissenschaftlichen Wert der Arbeiten, die ich in diesem Buch behandle, keineswegs abspreche, bin ich doch der Ansicht, daß die politischen Anschauungen der Autoren ihre wissenschaftliche Arbeit gefärbt hatten. Ranke bestritt dies, Sybel und Treitschke waren stolz darauf. M a n kann die Arbeiten der in diesem Band versammelten Historiker nicht verstehen, ohne die enge Verflechtung ihrer Arbeit mit den weltanschaulichen und politischen Positionen, die sie einnahmen, zu berücksichtigen. Diese Verflechtung von Weltanschauung, Politik und Wissenschaft ist nicht nur ein Bestandteil der deutschen universitären Geschichtswissenschaft. Z u einem größeren oder kleineren Teil ist sie in jeder Geschichtsschreibung unvermeidbar. Geschichte wird immer, wie Gatterer in den 1770er Jahren schrieb, vom Gesichtspunkt des Historikers aus geschrieben. Max Weber betonte, daß die Fragen, die ein Forscher an das Objekt seiner Forschung stellt, ihre Wurzeln in den Normen des Forschers haben, jedoch keineswegs die Möglichkeit methodisch fundierten Wissens ausschließen. Die Geschichtswissenschaft der deutsch-preußischen Schule, die wir hier behandeln, war sicherlich nicht reine Ideologie, aber doch ausgesprochen ideologisch überlagert. Die drei Ideenkomplexe, die ich für diese Tradition als konstitutiv ansah, waren ihre Apotheose des Machtstaates, ihre Ablehnung allgemein verbindlicher Normen und ihre negative Haltung gegenüber begrifflich exaktem analytischen Denken. Soweit meine Ubereinstimmung mit dem Buch. Ich würde aber folgendes ändern, wenn ich das Buch heute neu schreiben würde. Vor allem wären drei Komplexe eingehender zu untersuchen:
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1. Wissenschaftliche Aspekte mit besonderer Konzentration auf das Werk der Historiker: So habe ich Rankes Geschichtsauffassung weitgehend anhand seiner programmatischen Äußerungen, z. B. in der »Historisch-Politischen Zeitschrift«, untersucht. Heute würde ich genauer auf die methodischen und konzeptionellen Voraussetzungen in Rankes großen historischen Synthesen, besonders in der Geschichte der römischen Päpste, der deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation und der französischen, englischen und preußischen Geschichte eingehen. Dasselbe würde sich für Theodor Mommsens »Römische Geschichte« lohnen. 2. Der soziale Kontext: Heute würde ich den sozialen Rahmen der Historiographie stärker betonen. 1969, ein Jahr nach meinem Buch, erschien Fritz Ringers Decline of the German Mandarins, das die deutschen Professoren als eine soziale Gruppe begriff, deren Bildungsideale in einer sich rasch ändernden modernen Gesellschaft zunehmend in Bedrängnis gerieten. Hinzu kommt das spezifisch protestantische Milieu, in dem sich diese Tradition entfaltet. Diese sozialen und religiösen Komponenten kommen in meiner Arbeit zu kurz. Bei allen hier besprochenen Historikern, von Ranke bis Meinecke und Gerhard Ritter, spielte protestantische Religiosität eine entscheidene Rolle, selbst bei Max Weber, der sich zwar von ihr distanzierte, aber sie dennoch ernst nahm. Es ist jedoch eine besondere lutherische Form des Protestantismus, die in der Obrigkeit die Verkörperung des göttlichen Willens sieht und anders als der Puritanismus den zivilen Widerstand verurteilt. Für Katholiken, besonders diejenigen, die sich nicht zum preußisch-deutschen Monarchismus bekannten, war in der Gemeinschaft der hier behandelten Historiker kein Platz, dasselbe gilt für Juden. Ich bin heute überrascht, daß ich mit kaum einem Wort den Antisemitismus erwähne, der bei fast all diesen Historiker präsent war, und wenn ich ihn erwähne, dann ganz am Rande wie bei Treitschke (S. 162) oder auch bei Meinecke, dessen Antisemitismus im Vergleich zu dem seiner Kollegen eher gemäßigt war. Dieser Antisemitismus bewegte sich zwischen einer religiös motivierten Variante, die es möglich machte, jemanden wie Hans Rothfels, der sich taufen ließ und sich vollkommen der deutsch-nationalen Ideologie verschrieb, zu akzeptieren, und einer völkischen, wie bei Treitschke und Schmoller, für die Menschen jüdischer Herkunft einen zersetzenden Geist verkör-
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perten, der sich nicht durch das Taufwasser wegwaschen ließ. So wurde auch Georg Simmel von ihnen als Jude betrachtet. 3. Der institutionelle Rahmen der deutschen Geschichtswissenschaft: Ich würde heute den institutionellen Rahmen, den eigentlichen Wissenschaftsbetrieb, mit seinen festen Regeln, seinen Ritualen, und seiner Rangordnung genauer untersuchen. Wolfgang Weber hat in seinem 1987 veröffentlichten »Priester der Clio« die Rekrutierungsmechanismen in der deutschen Historikerzunft von 1800 bis 1970 untersucht und gezeigt, wie eine relativ kleine Gruppe von Wissenschaftlern bestimmen konnte, wer in die Zunft aufgenommen würde. Diese Mechanismen garantierten einen hohen Grad an sozialer Homogenität und politischer Konformität. In vieler Hinsicht decken sich Wolfgang Webers und Fritz Ringers Analysen der sozialen Herkunft der Professoren aus dem protestantischen Bildungsbürgertum, wobei Weber sich nicht wie Ringer (und ich) auf die geistigen Spitzen beschränkt, sondern durch ein prosopographisches Verfahren alle Lehrstuhlinhaber im deutschen Sprachraum erfaßt. Es ist traurig, daß sich kein akademischer Verlag und keine wissenschaftliche Reihe, auch nicht die »Kritischen Studien«, entschlossen haben, diese eminent wichtige Arbeit zu veröffentlichen, so daß sie im Dissertationsverlag Peter Lang erscheinen mußte. Den deutschen Professoren, die Gegenstand der Studie sind, mag der ausgesprochen empirische Zugang, der leicht als positivistisch abgestempelt werden konnte, fremd gewesen sein. Aber gerade diese prosopographische Dichte von Informationen ermöglicht einen sachlichen Einblick in die Lebenswelt der Disziplin Geschichte. Ringers und Webers Analysen der deutschen Historikerschaft ergänzen in vielerlei Hinsicht die in meinem Buch vertretene Interpretation. Am Kern dieser Interpretation, nämlich der Rolle, die die hier behandelten Historiker im Widerstand gegen eine sich abzeichnende Demokratisierung von Politik und Gesellschaft einnahmen, halte ich auch heute noch fest. Jetzt zu jenen Abschnitten, die ich heute anders formulieren würde: Vielleicht war es nicht richtig, Herder im Untertitel des Buches so eng mit der Tradition zu identifizieren, die ich hier kritisch behandle. Im 2. Kapitel wird klar, wie Herder sich von dieser Tradition unterschieden hat. Herder bewegte sich in seinem ganzen Denken zwischen einer Bejahung und einer Kritik der Aufklärung. In seiner Betonung der Gleichwertigkeit aller
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Kulturen, einschließlich der außereuropäischen, unterschied er sich vom überzogenen Eurozentrismus und dem exklusiven Nationalismus, welcher der hier beschriebenen traditionellen Geschichtsauffassung zu eigen war. Auch die Verherrlichung des Staates lag Herder fern. In diesem Sinn beginnt die Tradition der Geschichtswissenschaft, mit der wir uns hier befassen, erst mit Ranke, obwohl dieser im Gegensatz zu seinen preußischdeutschen Nachfolgern an einer Einheit der romanischen und germanischen Völker und Staaten festhielt. Im 5. Kapitel über die »Preußische Schule« würde ich heute stärker die xenophobischen und antislawischen Aspekte ihres Denkens betonen. Auch würde ich dem Berliner Antisemitismusstreit, in dem Treitschke eine zentrale Rolle spielte, mehr als eine Zeile (S. 162) widmen. Ebenso würde ich auf die ambivalente Rolle der Historiker in dem Streit eingehen, der zur Distanzierung Droysens und Mommsens von Treitschke führte. Treitschke, der beim Übergang der preußischen Historiker von gemäßigten liberalen zu ultranationalistischen sozialkonservativen Positionen einflußreich war, wird in diesem Kapitel zu knapp behandelt. Kurz nach dem Erscheinen der deutschen Ausgabe dieses Buchs 1971 habe ich einen Artikel in der von H.-U. Wehler herausgegebenen Reihe »Deutsche Historiker« veröffentlicht, in der ich mich ausführlicher mit Treitschke auseinandersetze. Z u kurz kommt auch Theodor Mommsen, dessen politisches Engagement hervorgehoben wird, während die »Römische Geschichte« nur am Rande Erwähnung findet. Das 6. Kapitel über die »Krise des Historismus« in der philosophischen Diskussion der Jahrhundertwende würde ich heute anders schreiben. Vieles ist in den letzten Jahren über diese Krise geschrieben worden - Wittkau, Oexle, Bambach u. a. - allerdings immer ausgesprochen ideengeschichtlich. Auch in diesem Kapitel, mit Ausnahme des Abschnitts über Max Weber, wird die philosophische Diskussion zu sehr vom Zeitgeschehen isoliert. Die »Krise des Historismus« kann nicht - wie Troeltsch und in mancher Hinsicht auch Weber dies taten - als Teil eines Intellektualisierungsprozesses gesehen werden, ohne die konkreten Verhältnissen der sich wandelnden modernen Welt ausreichend zu berücksichtigen. Heute stellt sich mir allerdings die Frage, welche Bedeutung die in diesem Kapitel behandelten theoretischen Diskussionen tatsächlich für die Arbeit der Historiker hatten. Das Kapitel ist sicher berechtigt, insofern das Buch trotz seines deutschen Titels, sich nicht nur
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mit Geschichtswissenschaft, sondern auch mit Geschichtsdenken und -bewußtsein beschäftigt. Auch beriefen sich die Historiker auf Diltheys, Windelbands und Rickerts Unterscheidung zwischen den Methoden der verstehenden Geistes- und denen der analytischen Wissenschaften, um sich im Lamprecht-Streit von den angeblich positivistischen Ansätzen einer theoriegeleiteten Sozialgeschichte abzugrenzen. Weber war von großer Bedeutung für die Historismus-Diskussion, wurde aber von den Historikern nur am Rande wahrgenommen, auf sehr unterschiedlich Weise von G e o r g von Below und Eckart Kehr, ausgiebiger von Otto Hintze. Ernsthaft rezipiert wird er von den Historikern erst in den 1960er und 70er Jahren. D e n Marburgern, C o h e n und Natorp, wird in der Historismus-Diskussion wenig Aufmerksamkeit gewidmet, daher würde ich sie heute weglassen. Andererseits ist C o h e n ein interessantes Phänomen, der erste nicht getaufte jüdische Ordinarius für Philosophie, der sich zum liberalen Judentum und gleichzeitig zu aufklärerischen, demokratischen Werten bekannte, die er mit der prophetischen Ethik des Judentums verband. Aus heutiger Sicht erscheinen Nietzsche, Husserl und Heidegger von weitaus größerer Bedeutung für das damalige und das heutige Denken als Windelband oder Rickert. Husserl wird im Buch überhaupt nicht erwähnt, und Nietzsche und Heidegger werden nicht ausreichend behandelt. Das 8. Kapitel über die Geschichtsschreibung der Weimarer und der N S - Z e i t würde ich erweitern. Der Gegensatz zwischen den politischen und historischen Auffassungen der Gegner der Weimarer Republik und denen der sogenannten »Vernunftrepublikanern« sowie auch ihre Gemeinsamkeiten sind m. E. genügend ausgearbeitet worden. Auch richtig, aber zu kurz dargestellt sind die jüngeren Meinecke-Schüler, die neue Wege in Richtung auf eine kritische, sozialgeschichtliche Geschichtsforschung einschlugen und übrigens ohne Ausnahme 1933 in die Emigration gedrängt wurden. Das Kapitel beschränkt sich jedoch zu sehr auf die Historiker und vernachlässigt zentrale historische Ansätze in der Soziologie. Das gilt nicht nur für republikanische Denker wie Karl M a n n h e i m und M a x Horkheimer, sondern auch für bewußt rechts stehende Denker wie Hans Freyer. Es fehlen in dem Kapitel zwei wichtige Strömungen auf dem rechten Flügel der Geschichtsschreibung. Die erste ist die völkisch orientierte »Volksgeschichte«, die die etatistische und elitäre Grundannahmen der etablierten Fachhistori-
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ker in Frage stellte und in der die scharfen Grenzen zwischen der Disziplin Geschichte, der Ökonomie, Geographie, Soziologie und Volkskunde verwischt wurden. Willi Oberkrome und Winfried Schulze haben kürzlich die Bedeutung dieser Richtung für die Historiographie der NS-Zeit, aber auch für die Zeit nach 1945 hervorgehoben. Sie ziehen die Vorstellungen der etablierten Historiker über die Funktion und die Arbeitsweise der Wissenschaft radikal in Zweifel. Ähnliches gilt für den stark von Stefan George beeinflußten Ernst Kantorowicz, der in seiner Biographie Kaiser Friedrichs II., die er dem »Geheimen Deutschland« widmete und ohne einen Anmerkungs-Apparat veröffentlichte, die streng herkömmliche Unterscheidung zwischen Wissenschaft, Dichtung und Mythos in Frage stellte. Das 9. Kapitel »Schlußbetrachtung« habe ich in der 2. amerikanischen Ausgabe von 1983 weggelassen, und Gleiches dachte ich auch in diesem Neudruck zu tun. Der Böhlau-Verlag wollte jedoch die Einheit der ursprünglichen deutschen Ausgabe bewahren. Den ersten Teil der »Schlußbetrachtung« (S. 365-376), in dem ich mich mit den historistischen Grundanschauungen der Tradition theoretisch auseinandersetze, kann ich heute noch weitgehend vertreten. Den zweiten Teil (S. 376-386) würde ich heute grundsätzlich verändern. Ich ging in der »Schlußbetrachtung« davon aus, daß es im Gegensatz zu der Antinormativität des klassischen deutschen Historismus Normen gibt, die für die ganze Menschheit gültig sind, die Anerkennung der Würde jedes einzelnen Menschen und sein Recht auf Selbstbestimmung und Selbstentfaltung. Ich halte heute immer noch an diesen Werten fest, bin aber nicht mehr davon überzeugt, daß sie eine überzeitliche naturrechtliche Basis besitzen. Sie sind für mich heute primär eine Angelegenheit meiner ethischen und religiösen Uberzeugung. Auch habe ich heute die Zuversicht eingebüßt, daß die Welt sich auf diese Werte zubewegt. Ich bin heute weitaus weniger davon überzeugt, daß die Menschheit sich in Richtung auf eine vernünftige, menschlichere Gesellschaft hin bewegt. Kein Jahrhundert hat dermaßen viel beabsichtigte Unmenschlichkeit erlebt wie unser ausgehendes technisch-wissenschaftliches Jahrhundert. Was heute vom Fortschrittsgedanken übrigbleibt, ist sein ethischer Kern, daß das Ziel politischen Handelns eine Gesellschaft mündiger, gleichberechtigter, von physischer und geistiger Armut und Unterdrückung befreiter Menschen sei, die einander als mündige, gleichberechtigte Menschen behandeln und
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als solche behandelt werden. Dabei darf der Zweck nicht die Mittel heiligen, wie es in revolutionären Bewegungen und Regimen in diesem Jahrhundert vielfach geschehen ist. Das Buch betrachtet sich gleichzeitig als Bekenntnis und als Wissenschaft, Bekenntnis zu einer demokratischen und sozial gerechten Gesellschaft, Wissenschaft als Beitrag zu einem rationalen, kritischen Diskurs. Ich möchte Gerald Diesener und Matthias Middell vielmals für das Kolloquium danken, das sie nachträglich zu meinem 70. Geburtstag in Leipzig im März 1997 organisierten, um mir die Gelegenheit zu geben, dieses Vorwort und die Thesen meines Nachworts vorzustellen und Werner Berthold, Fritz Klein, Wolfgang Küttler und Hans Schleier für ihre Beiträge zu diesem Kolloquium. Ich bin auch Jürgen Kocka, Rudolf Vierhaus und Hans-Ulrich Wehler für die sorgfältige Lektüre und Kritik des Manuskripts meines Nachworts sehr dankbar.Tonja Schewe gebührt D a n k für das gründliche Lektorieren des Manuskripts. Ferner möchte ich auch dem Max-Planck-Institut für G e schichte in Göttingen, w o ich das Nachwort zu dieser Auflage schrieb und w o ich immer wieder Gast bin, vielmals danken. Göttingen, J u n i 1997
VORWORT
Trotz des großen Einflusses des deutschen Geschichtsdenkens und -forschens auf die weltweite Entwicklung, der Kulturwissenschaften wie auf die politischen und sozialen Vorstellungen in Deutschland ist in den letzten fünfzig Jahren keine zusammenfassende Darstellung der deutschen Historiographie oder des deutschen Geschichtsdenkens in englischer Sprache erschienen. In Deutschland sind zahlreiche Monographien über einzelne Historiker veröffentlicht worden, aber in neuerer Zeit auch nur zwei allgemeine Werke, deren jedes einen Standpunkt vertritt, der von dem Autor des vorliegenden Buches nicht geteilt wird. Das eine, betitelt >Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft < von Joachim Streisand herausgegeben. Wie diese beiden Darstellungen ist auch das vorliegende Buch nicht in erster Linie als eine Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft gedacht. Es will vielmehr eine Interpretation und kritische Analyse der theoretischen Voraussetzungen und politischen Wertvorstellungen der deutschen Historiker geben, die in der vorherrschenden nationalen Tradition der Historiographie von Wilhelm von Humboldt und Leopold von Ranke bis zu Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter standen. Rankes Ideal der absoluten wissenschaftlichen Objektivität erwies sich für jeden Historiker in der Tradition als unhaltbar; für viele war es nicht einmal erstrebenswert. Stattdessen blieb die Wissenschaftlichkeit dieser Historiker in enger Verflechtung mit einer Weltanschauung und einem politischen Wertsystem, die angesichts der sich verändernden geistigen und sozialen Bedingungen ihre Statik weitgehend beibehielten. Das Buch zeichnet die Auflösung der Tradition unter dem Aspekt ihrer eigenen inneren Widersprüche und unter dem Einfluß des politischen Geschehens nach. Es ist zu hoffen, daß meine Arbeit gerade in diesem Augenblick von Nutzen ist, da die deutschen Historiker nach
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Vorwort
den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit der gründlichen Überprüfung sowohl ihrer nationalen Geschichte wie der methodischen und philosophischen Voraussetzungen ihrer klassischen Vorgänger beschäftigt sind. Zudem erscheint es zu einem Zeitpunkt, zu dem die idealistischen Voraussetzungen der akademischen Historiographie nicht nur in Deutschland, sondern überall in der Welt immer stärker von den modernen Sozialwissenschaften herausgefordert werden. Da das Interesse des Buches in erster Linie der nationalen akademischen Tradition der Geschichtswissenschaft gilt, werden wichtige Historiker, die am Rande oder außerhalb dieser Tradition anzusiedeln sind - wie Jacob Burckhardt, Karl Lamprecht, Kurt Breysig, Franz Schnabel, und auch die marxistischen Historiker von Marx und Engels über Franz Mehring bis zu den heutigen DDR-Historikern nur beiläufig oder überhaupt nicht behandelt. Ebenso fehlen hier die Mediävisten, was eine vielleicht kritikwürdige Auslassung darstellt, weil an den deutschen Universitäten »mittlere« und »neuere« Geschichte stets zusammengehört haben. Mein eigentliches Augenmerk war auf die Bewertung der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts durch die deutschen Historiker gerichtet. Das vorliegende Buch ist ein Vorläufer eines größeren und noch unvollendeten Werkes über die Idee des Fortschritts, dessen doppelte Absicht es ist, die Rolle der Fortschritts- und Verfallsideen im modernen geschichtlichen und politischen Denken historisch darzustellen und sich theoretisch mit der Gültigkeit dieser Ideen auseinanderzusetzen. Ich danke der John Simon Guggenheim Memorial Foundation und der Rockefeller Foundation für ihre Unterstützung, die mich in die Lage versetzte, die Hauptarbeit für diese Untersuchung in Göttingen zu erledigen, sowie auch für die Hilfe seitens der Dillard University, der Roosevelt University und der Newberry Library. Dank Ferienzuschüssen der Forschungsstiftung an der State University of New York konnte ich Deutschland in den Sommern 1966, 1967 und 1969 erneut aufsuchen, wobei der Aufenthalt im Jahre 1969 dazu diente, den Einfluß der Sozialwissenschaften auf die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945 zu untersuchen. Ich konnte bei dieser Gelegenheit zudem meine Darstellung der jüngsten deutschen Historiographie für die deutsche Ubersetzung überarbeiten. Mein Dank gilt auch der Direktion und den Beamten der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen und der Newberry Library in Chicago
Vorwort
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für die Hilfsbereitschaft, mit der mir ihre vorzüglichen Bestände an deutscher Geschichtswissenschaft zur Verfügung gestellt wurden. Ich stehe in der Schuld zahlreicher Persönlichkeiten für ihren Rat und ihre Bemerkungen. V o r allem möchte ich meiner Frau für viele Anregungen und ihre Ermutigung danken. Die Professoren Manfred Schlenke, Louis Gottschalk, Harold T. Parker, Gerald Feldman, Gerhard Masur, Günter Birtsch und Donald Detwiler lasen das ganze Manuskript. Mein besonderer Dank gebührt Professor Feldmans ausführlichen und kritischen Hinweisen. Dieter Groh und Maarten Brands lasen die Einleitung, Jürgen Herbst das Humboldt-Kapitel, Ernst Schulin das Ranke-Kapitel, Peter Krausser den Abschnitt über Dilthey, Georg Kotowski und James L . Adams das Kapitel über Troeltsch und Meinecke. John L. Snell, Rudolf von Thadden, Gerhard Ritter, Eberhard Kessel, Dietrich Gerhard, K . D. Bracher, Maarten Brands, Bedfich Loewenstein, Werner Berthold, Pieter Geyl, George Kren, J ö r g Wollenberg, Ernst Hinrichs, Christoph Schröder, Klaus Epstein, Leonard Smith und Rudolf Wildenmann lasen und kommentierten Teile des 8. Kapitels. Mit Fritz Fischer, Werner Conze, Fritz Wagner, Geoffrey Barraclough, Hermann Heimpel, Hermann Wein, Reinhard Wittram, Eberhard Kolb, Hans Schleier, Günter Katsch, Rudolf Vierhaus, Hans-Ulrich Wehler, Hans Mommsen und Konrad von Moltke durfte ich Gespräche über Probleme der Untersuchung führen. Ich widme dieses Buch James Luther Adams, der mich während meines Studiums als erster an einige hier erörterte Probleme heranführte und der die ganzen Jahre über an meiner Arbeit Anteil genommen und mir oftmals wertvollen Rat gegeben hat. Die Widmung paßt, wie ich glaube, insofern besonders gut, weil sich bei James Luther Adams ebenso wie bei den hervorragendsten Männern, von denen in diesem Buch gehandelt wird, zu wissenschaftlicher Integrität die aktive Auseinandersetzung mit den großen politischen und ethischen Problemen unserer Zeit gesellt. Buffalo, New York Januar 1970
Georg G . Iggers
I. E I N F Ü H R U N G
In kaum einem anderen Land haben moderne Historiker sich bei ihrer Tätigkeit derart bewußt von einer bestimmten Geschichtsauffassung lenken lassen wie im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts, obwohl die Historiker - ausgenommen in der Zeit der Hitler-Diktatur - unter Bedingungen arbeiten konnten, die frei waren von der totalitären Gängelei des Geistes. V o n einer beherrschenden Tradition der deutschen Geschichtsschreibung kann man mit wesentlich größerer Berechtigung sprechen als von einer solchen in Frankreich, England oder Amerika. Diese Tradition, wie breit sie auch in ihren einzelnen Äußerungen gefächert sein mochte, besaß aufgrund ihrer Herkunft von der Philosophie des deutschen Idealismus eine beachtliche Einheitlichkeit. Einer ihrer Begründer war Leopold von Ranke, doch er war keineswegs der einzige. Vielleicht ebenso wichtig für die Übertragung der Philosophie des deutschen Idealismus auf die historische Forschung und von noch größerer Bedeutung für die deutschen Historiker in der Mitte des 19. Jahrhunderts war Wilhelm von Humboldt. Was der Tradition ihre hervorstechenden Merkmale verlieh, "war nicht etwa die kritische Analyse der Quellen, die so eng mit dem Namen Ranke verknüpft ist. Die kritische Methode und das Ideal sachlicher Genauigkeit waren nicht auf Ranke und die deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts beschränkt. Beides war von einer früheren Generation von Historikern, Alt- und Neuphilologen und Bibelwissenschaftlern entwickelt worden; zudem wurde beides bald von Historikern anderer Länder übernommen, die unter einem völlig anderen Blickwinkel schrieben. Die kritische Methode wurde zum selbstverständlichen Handwerkszeug jedes redlich bemühten Historikers in der ganzen Welt. Was die zur Hauptströmung der deutschen Geschichtswissenschaft gehörigen Werke auszeichnete, war vielmehr ihre grundlegende theoretische Auffassung vom Wesen der Geschichte und der politischen Macht. Diese Geschichtsanschauung war gleichermaßen für die historische Forschungsarbeit wie für die Wahl der Themen durch die Historiker ausschlaggebend. Sie lenkte ihr Augen-
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Einführung
merk größtenteils auf die Konflikte zwischen den großen Mächten und bestimmte ihre Arbeitsmethoden, nämlich die fast ausschließliche Beschäftigung mit amtlichem Aktenmaterial und - damit verbunden - die Vernachlässigung der Sozialund Wirtschaftsgeschichte, der soziologischen Methoden und der Statistik. Sie verlieh den Werken dieser Historiker auch eine politische Färbung, wenn auch nicht im engen Sinn einer Parteizugehörigkeit (denn innerhalb der breiten Tradition gibt es ebenso Konservative wie Liberale und Demokraten in jeglicher Schattierung), so doch durch die zentrale Rolle, die sie dem Staat zuschrieben, und durch ihr Vertrauen in sein segensreiches Wirken. Gewiß gab es bedeutende Denker, die sich dieser Tradition nicht zuordnen lassen, Historiker wie Jacob Burckhardt, Julius von Ficker, Ignaz von Döllinger, Max Lehmann und Franz Schnabel, und Philosophen wie Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche. Andere Gelehrte, wie Lorenz von Stein und Karl Lamprecht, standen in ihrem Bemühen, die Rolle der großen sozialen und wirtschaftlichen Kräfte in der Geschichte aufzudecken, schon an den Grenzen der Tradition. Dennoch wurden die philosophischen Voraussetzungen dieser Tradition nicht nur von der Mehrzahl der deutschen Historiker, sondern auch von Gelehrten anderer Disziplinen übernommen. Die Philosophie und Methodologie des Historismus durchdrang die gesamten deutschen Human- und Kulturwissenschaften, so daß Sprach- und Literaturwissenschaft, Staatswissenschaft, Kunstwissenschaft, Jurisprudenz, Philosophie und Theologie zu historisch ausgerichteten Disziplinen wurden. Der Historismus ist ein allzu vieldeutiger Begriff, als daß man ihn ohne sorgfältige Abgrenzung benützen könnte1. Er 1 Brich Rothacker verfolgt in: Das Wort »Historismus«, in: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 16 (i960) S. 3-6 den Gebrauch des Begriffs im Deutschen bis ins späte 18. Jahrhundert zurück. Weitverbreitet war er jedoch erst nach 1880 und erhielt unterschiedliche und oftmals widersprüchliche Bedeutungen. Karl Werner gebrauchte 1879 den Begriff in seinem Buch über Giambattista Vico; er bezeichnete damit Vicos Ansicht, der menschliche Geist kenne keine andere Realität als die Geschichte, da der Mensch die Geschichte mache. Carl Menger und Adolf Wagner polemisierten gegen den »Historismus« der wirtschaftsgeschichtlichen Methode Gustav Schmollers. Rudolf Eisler setzte in: Wörterbuch der philosophischen Begriffe I, Berlin 1910, S. 490 den »Historismus« mit Hegelianismus gleich. Der Begriff »storicismo«, wie ihn Crocc gebraucht, besitzt noch hegelsche Prägung. Insgesamt aber wird dem Begriff ein anti-hegelianischer Akzent in der diesbezüglichen deutschen Literatur gegeben. Die deutsche Historische Schule mit ihrer Betonung der Verschiedenheit und Individualität wird als ein Ausdruck des Historismus interpretiert, die im Gegensatz zu den hegelianischen Bemühungen steht, in der geschichtlichen Entwicklung einen einheitlichen logischen Prozeß zu suchcn. Troeltschs und Meineckcs Anwendung des Begriffs haben den Gebrauch im Deutschen erheblich beeinflußt. (Siehe z. und 7. Kapitel.) Somit hat der Begriff zwei verschiedene, aber nicht völlig entgegengesetzte Ideen gekennzeichnet: a. ein Philosophen!
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wird im zweiten Kapitel ausführlich erörtert. Wenn hier von Historismus gesprochen wird, so bezieht sich das auf die Hauptströmung der deutschen Geschichtswissenschaft und des Geschichtsdenkens, wie sie in der deutschen Geschichtsschreibung, in den Kulturwissenschaften und im politischen Denken Deutschlands von der Zeit Wilhelm von Humboldts und Leopold von Rankes bis in die nahe Vergangenheit vorgeherrscht hat. Es muß allerdings betont werden, daß der Historismus als eine geistige Bewegung nicht auf Deutschland beschränkt war, sondern seit dem 18. Jahrhundert das geistige Europa insgesamt beherrschte 2 . Der Kern des Historismus liegt in der Voraussetzung, daß zwischen den Erscheinungen der Natur und denen der Kultur ein Wesensunterschied besteht, der für die Sozial- und Kulturwissenschaften eine prinzipiell andere Methode als für die Naturwissenschaften erfordert. Demnach ist die Natur der Schauplatz ewig wiederkehrender Erscheinungen, die sich ihrer Zwecke nicht bewußt sind; die Geschichte dagegen setzt sich aus einmaligen und unwiederholbaren menschlichen Handlungen zusammen, die von Wille und Absicht erfüllt sind. Die Welt des Menschen befindet sich in einem Zustand unaufhörlichen Fließens, obschon es darin stabile Zentren gibt (Persönlichkeiten, Institutionen, Nationen, Epochen), deren jedes eine innere Struktur, einen bestimmten Charakter aufweist und die sich alle gemäß den ihnen innewohnenden Entwicklungsgesetzen ständig verändern. Nur mittels der Geschichte läßt sich also alles Menschliche verstehen. Eine unveränderliche Natur des Menschen gibt es nicht; der Charakter jedes Menschen enthüllt sich erst durch seine Entwicklung. Die abstrakten, klassifizierenden Methoden der Naturwissenschaft sind deswegen ungeeignet für den Zugang zum Verständnis der Welt des relativ jüngeren Datums, wonach jegliche Existenz geschichtlich, die Geschichte also ein Strom ist, in dem sich der Mensch befindet, des weiteren aber die wachsende Erkenntnis der geschichtlichen Beschaffenheit aller menschlichen Ideen, Ideale und Institutionen zu einer Bedrohung des gesamten Wertekosmos führt; b. eine ältere, optimistischere Tradition des Geschichtsdenkens, die den geschichtlichen Charakter aller Erkenntnisse und Werte anerkennt, in der Geschichte jedoch den Ausdruck wirklichen Werts und göttlichen Willens sieht. - Zur Erörterung der Begrifisbedeutung siehe Karl Heussi, Die Krise des Historismus, Tübingen 1932, insbes. S. 1 - 2 1 ; Friedrich Engel-Janosi, The Growth of German Historicism, Baltimore 1944; Dwight E . Lee u. Robert N. Beck, The Meaning of »Historicism«, in: American Historical Review 59 (1953/14) S. 568-377; Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1936; Pietro Rossi, Storia e Storicismo nella Filosofia Contemporanea, Milano i960 (worin eine Unterscheidung zwischen deutschem und italienischem Historismus versucht wird); Waldemar Besson, Historismus, in: Geschichte. Das Fischer-Lexikon 24, Frankfurt 1961, S. 1 0 2 - 1 1 6 ; Calvin G . Rand, T w o Meanings of Historicism in the Writings of Dilthey, Troeltsch, and Meinecke,in: Journal of the History of Ideas 25 (1964) S. 503-518. 1
Siehe Carlo Antoni, L o Storicismo, Torino 1957.
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Menschen. Die Geschichte verlangt Methoden, die berücksichtigen, daß der Historiker wirklichen Personen und Gemeinschaften gegenübersteht, die einmal gelebt und unverwechselbare Eigenschaften besessen haben; das setzt von Seiten der Historiker intuitives Verstehen voraus. Diese Methoden müssen berücksichtigen, daß nicht nur der Forschungsgegenstand, sondern auch der Historiker selbst sich im Strom der Zeit befindet; die Methoden, womit er objektive Erkenntnis zu erwerben trachtet, sind ebenfalls zeitgebunden. Friedrich Meinecke, Emst Troeltsch und andere haben zwar anerkannt, daß diese geschichtliche Sehweise die Folge weitverästelter Strömungen im europäischen Denken des 17. und 18. Jahrhunderts war, bestanden jedoch darauf, daß der Historismus in Deutschland seine höchste Vollendung erreicht habe. Der Historismus befreite das neuzeitliche Denken von der zweitausendjährigen Herrschaft der Lehre vom Naturrecht; die Weltauffassung, die von zeitlosen, absolut gültigen Wahrheiten und von deren Übereinstimmung mit der überall herrschenden vernünftigen Ordnung sprach, wurde durch das Verständnis der Fülle und Vielfältigkeit der geschichtlichen Erfahrungen des Menschen ersetzt. Diese Erkenntnis begründete nach der Ansicht Meineckes Deutschlands größten Beitrag zum westlichen Denken seit der Reformation und »die höchste bisher erreichte Stufe in dem Verständnis menschlicher Dinge« 3 . Allerdings hätten sich, wie Troeltsch und Meinecke feststellten, im westeuropäischen Denken Bestandteile naturrechtlicher Auffassungen bis ins 19. und 20. Jahrhundert erhalten4. Diese Abweichung in den philosophischen Anschauungen beruhte nach ihrer Darstellung letztlich auf dem tiefen Unterschied der kulturellen und politischen Entwicklung in Deutschland und in »Westeuropa« seit der Französischen Revolution. Die Gegenüberstellung von deutschem Historismus und westlichem Naturrecht entwirft jedoch zweifellos ein ver-zerrtes Bild von der wirklichen geistigen Situation im 19. und 20. Jahrhundert. Der Bruch mit dem Denkschema des Naturrechts, den Troeltsch und Meinecke für Deutschland konstatierten, ereignete sich genauso in Westeuropa. Auch hier gingen Romantik und die Reaktion wider die Französische Revolution mit einem neu erwachten Interesse an der Geschichte einher. Zudem hina Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus. Werke (künftig abgekürzt W) III, München 196;, S. 4. * Vgl. dazu Ernst Troeltsch, Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik (verfaßt 1922), in: Deutscher Geist und Westeuropa, Hrsg. Hans Baron, Tübingen 1923, insbes. S. 5 ff.
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terließ der Einfluß deutscher Literatur, Philosophie und Geschichtsforschung tiefe Spuren in Frankreich, England und anderswo5. Die Beziehung zwischen Geschichte und politischem Denken wurde in ganz Europa umgestülpt. Der Historiker bezog die Prinzipien vernünftiger Politik nicht länger aus der Staatsphilosophie, wie etwa in der Aufklärung, sondern der Staatsphilosoph wandte sich seinerseits der Geschichte zu. Nicht nur konservative Autoren wie Burke und Carlyle, sondern auch liberale Schriftsteller wie Constant, Thierry, Michelet, Macaulay und Acton suchten die Ursprünge der französischen oder englischen Freiheit viel eher in der fernen nationalen Vergangenheit als in den Menschenrechten8. Sogar die positivistische Soziologie eines Auguste Comte oder Herbert Spencer, die von späteren deutschen Kritikern geradezu als die Antithese zum deutschen Historismus angesehen wurde, beschrieb die Gesellschaft mit Begriffen aus der Sphäre der historischen Entwicklung. Freilich ist es auch eine unbezweifelbare Wahrheit, daß der Historismus in Deutschland seine entschiedenste Ausformung erfahren hat. Darin spiegelt sich fraglos die besondere Rolle wider, die er im politischen Denken Deutschlands gespielt hat. Der Historismus war nämlich keineswegs eine rein geistige Erscheinung ohne politische Akzente, wie Meinecke angesichts seiner Desillusionierung durch die deutsche Politik in den Jahren nach 1933 behauptet hat7, sondern von Anfang an mit politisch wirksamen Ideen verquickt8. Carlo Antoni hat gezeigt, wie eng die Ausbreitung der historischen Sehweise im 18. Jahrhundert mit dem Bemühen politischer Denker verknüpft war, territoriale Rechte und Privilegien gegen den Anspruch des zentralistischen aufgeklärten Staates zu verteidigen. Dies traf vor allem auf Gebiete wie die schweizerischen Kantone und die deutschen Kleinstaaten zu, wo die moderne Staatsbürokratie sich noch kein festes Fundament verschafft • Siehe Klaus Dockhorn, Die Staatsphilosophie des englischen Idealismus, Bochum 1937; den., Der deutsche Historismus in England. Hin Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 19 jo; den., Deutscher Geist und angelsächsische Geistesgeschichte. Ein Versuch zur Deutung ihres Verhältnisses, Göttingen 19J4; vgl. auch Jürgen Herbst, The German Historical School in American Scholarship, Ithaca 1965. ' Vgl. Antoni, a.a.O. 1 Vgl. Friedrich Meinecke, Straßburg/Freiburg/Berlin 1901-1919. Erinnerungen, Stuttgart 1949, S. 191 ff. 1 Siehe M. C. Brands, Historisme als Ideologie. Het »Onpolitieke« en »Anti-NonnatieTc« Element in de duitse Geschiedswetenschap, Assen 196].
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hatte9. Nach der Auffassung Antonis kann der Historismus als allgemeine Bezeichnung für eine über ganz Europa verbreitete »Reaktion und Rebellion der nationalen Traditionen gegen die französische Vernunftphilosophie und die Aufklärung« gelten, die in der Anwendung einer abstrahierend-mathematischen Denkweise auf die Bereiche von Kultur und Politik zutage getreten waren 10 . Jedoch nur in Deutschland wurde der Streit zwischen nationalen Überlieferungen und französischen Ideen derart intensiv ausgefochten; hier fehlte das Erbe einer großen Literatur, wie es England, Spanien und Italien besaßen. Die literarische Erneuerung des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Deutschland war auf eine von den Vorbildern des französischen Klassizismus freie Nationalliteratur ausgerichtet; ihr Streben war viel zielbewußter als das irgendeiner anderen romantischen Bewegung. Ausschlaggebend war jedoch, daß der politische Nationalismus Deutschlands aus dem Kampf gegen die Vorherrschaft Frankreichs nach den Revolutionskriegen und den Siegen Napoleons erwuchs; dieser Kampf verstärkte noch die antiaufklärerische Haltung der deutschen Staatstheorien. Das geschichtliche Denken, das hier erörtert werden soll, war eine Frucht der nationalen Erneuerung Deutschlands und der Befreiungskriege. Die liberalen Historiker, die dieser Richtung angehörten, suchten ihren Liberalismus von dem Geist abzuleiten, der die großen Verwaltungsreformer beseelt hatte. Männer wie Stein, Humboldt, Gneisenau und Scharnhorst wollten durch Erlasse von oben eine funktionierende, modernisierte Monarchie schaffen, die fähig war, die menschlichen Kraftquellen der Nation in Fluß zu bringen, und in der Lage, die Bedingungen entstehen zu lassen, unter denen persönliche Freiheit, rechtliche Sicherheit und eine gewisse Anteilnahme des Volkes an der Staatsführung sich mit der Achtung vor den überkommenen Autoritäten vertrugen. Der Geist von 1813 verkörperte für sie ein ausgewogeneres deutsches Gegenstück zu den Ideen von 1789. Laut ihrer Befürchtung ebneten die radikalen Gleichheitsforderungen der Französischen Revolution und deren Ablehnung jeglicher Tradition den Weg zu einer systematischen Tyrannei des Staates über den Menschen, wie sie unter Robespierre und Napoleon bestanden hatte. Drei Ideenkomplexe besitzen zentrale Bedeutung für die ' Siehe Carlo Antoni, Der Kampf wider die Vernunft, Stuttgart 1 9 J 1 . Carlo Antoni, L o Storicismo, S. 20.
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theoretische Grundlegung der deutschen Geschichtswissenschaft; es handelt sich um eine Lehre vom Staat, eine Philosophie der Werte und eine Theorie der Erkenntnis. Keine dieser Auffassungen ist ausschließlich der deutschen Historiographie eigen, doch haben alle drei im deutschen Geschichtsdenken eine extreme Zuspitzung erfahren 11 .
1. Der Staat als Selbstzweck und die Auffassung vom Machtstaat
Der Historismus - sei es in Deutschland oder anderswo - sah den Staat als das Ergebnis geschichtlicher Kräfte an. Ob in Deutschland, in England oder Frankreich - die an der Kultur interessierte Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts, wie sie Voltaire oder Gibbon gepflegt hatten, wich dem aufs Nationale beschränkten, politisch bestimmten Interesse für die Vergangenheit. Die deutschen Historiker jedoch blickten auf eine von der französischen oder englischen völlig verschiedene Überlieferung zurück. Allerdings verkörperten weder das Heilige Römische Reich noch die Überbleibsel der mittelalterlichen Genossenschaftsformen ihr Ideal; Vorbild war für sie eher der aufgeklärte Obrigkeitsstaat, wie er sich in der hohenzollernschen Monarchie während der preußischen Reform darstellte. Ihre Staatsauffassung war demnach sowohl aristokratisch als auch bürokratisch gefärbt; als gesellschaftlicher Pfeiler galt ihnen außerdem das gebildete und begüterte Bürgertum. Der Staat ist für die deutschen Historiker weder die Nation im Sinn Michelets, noch ist er in der Geschichte der parlamentarischen Institutionen nach dem Vorbild Englands verkörpert. Ungleich schärfer als ihre französischen und englischen Kollegen unterscheiden sie zwischen Regierenden und Regierten - so etwa Ranke: »Wie wir auch Staat und Gesellschaft definieren mögen, so bleibt immer ein Gegensatz zwischen der Masse der Regierten und der kleinen Zahl der Regierenden.« 12 Im Gegensatz zu der utilitaristischen Auffassung vom Staat als einer Einrichtung zu Nutz und Frommen seiner Bewohner 11
V g l . dazu B r a n d s , a . a . O . L e o p o l d v o n R a n k e , D a s politische Gespräch, i n : Sämtliche Werke (künftig abgekürzt S W ) 49/50, Leipzig 1887, S . 3 1 8 . 13
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malt die deutsche Geschichtswissenschaft begeistert das idealistische Bild vom Staat als »Individuum«, als Selbstzweck, gelenkt von dem ihm innewohnenden Lebensgesetz. Den Staaten eignet, wie Ranke konstatiert, mehr als eine empirische Existenz; jeder von ihnen verkörpert ein höheres, geistiges Prinzip, was besagt, daß »auch die Staaten ihren Ursprung von Gott herleiten... Es würde lächerlich sein, sie für eben so viele Sicherheitsanstalten für die Individuen, die sich zusammengetan, etwa für ihr Privateigentum, zu erklären.«13
2. Antinormativität Mit der Auffassung vom Staat als Individuum und Selbstzweck ist eine bestimmte Wertphilosophie eng verknüpft. Vom Begriff her muß jede Form des Historismus die Gebundenheit der Werte an konkrete historische Situationen zugestehen. Die hier erörterte Richtung des Historismus geht jedoch einen Schritt weiter, indem sie annimmt, daß alles, was geschichtlich ist, bereits an sich einen Wert darstellt. Keine Persönlichkeit, keine Institution, keine geschichtliche Tat kann mit Maßstäben gemessen werden, die von außen an die jeweilige Situation herangetragen werden; für die Beurteilung sind vielmehr die jeweils inhärenten Werte zuständig. Demnach gibt es keine rational begründeten Wertmaßstäbe, die auf die Vielfalt menschlicher Einrichtungen anwendbar sind. Vielmehr sind alle Werte kulturabhängig, alle Kulturgrößen hinwiederum Ausdruck des göttlichen Willens und damit Verkörperungen echter Werte. Im Bereich politischer Wertmaßstäbe ist damit der Boden für eine ethisch fundierte Staatslehre bereitet. Während Machiavelli das Streben nach Macht mit amoralischen Begriffen zu erfassen suchte, erhob es der deutsche Historismus zu einem ethischen Prinzip. Es muß die wichtigste Aufgabe des Staates sein, wie Ranke anmerkt, den höchsten Grad der Unabhängigkeit und der Stärke unter den konkurrierenden Mächten der Welt zu erreichen, so daß er in der Lage ist, die ihm innewohnenden Tendenzen voll zu entfalten. Diesem Ziel müssen alle innerstaatlichen Angelegenheiten untergeordnet werden 14 . " Ebd., S. 328. " Vgl. ebd.
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Die Kritiker der Lehre von der Staatsräson übersehen, wie Meinecke erklärt, daß »das Sittliche überhaupt neben seiner universalen auch eine individuell bestimmte Seite hat und daß von dieser Seite her auch die scheinbare Unmoral des staatlichen Machtegoismus sittlich gerechtfertigt werden kann. Denn unsittlich kann nicht sein, was aus der tiefsten individuellen Natur eines Wesens stammt.« 15 Der Staat kann kein Unrecht auf sich laden, wenn er seine eigenen höheren Interessen wahrnimmt (die im allgemeinen in machtpolitischen Begriffen verdeutlicht werden), da er bei der Verfolgung dieser Interessen hohe ethische Ziele anstrebt. Nur in einem starken Staat, so versichern Humboldt und Droysen, sind Freiheit, Gesetzlichkeit und kulturelle Blüte gewährleistet. Der Staat ist also nicht bloße Macht, sondern die institutionelle Verkörperung der Sittlichkeit. Niemals sind internationale Konflikte nur ein Machtkampf, sondern darüber hinaus ein Widerstreit sittlicher Prinzipien. Ranke stimmt mit Hegel darin überein, daß ein militärischer Sieg im allgemeinen den Sieg höherer sittlicher Kräfte bedeutet 16 . Nun ist die Identifizierung nationaler Macht mit Freiheit und Kultur keineswegs auf den deutschen Historismus beschränkt. Der deutschen Richtung geht jedoch das im Nationalismus des 19. Jahrhunderts in Italien, Frankreich, Amerika und England sehr häufige Bemühen um die Gleichsetzung der nationalen Bestrebungen mit menschheitlichen Idealen völlig ab 17 . Seit Ranke betonen deutsche Historiker die Unübertragbarkeit politischer Einrichtungen. Deutschland kann von Frankreich kaum etwas lernen; es muß vielmehr danach streben, die in seiner eigenen Überlieferung vorhandenen Einzelformen zur vollen Entfaltung zu bringen. Jeder Staat ist einmalig und verkörpert einen Geist und eine Sittlichkeit, die einzig und unnachahmlich sind. Der deutsche Nationalismus ist deswegen ungleich stärker auf die Geschichte ausgerichtet und steht jeder Idee, kraft der die politisch oder ethnisch verstandene Nation über sich hinauswachsen könnte, viel ferner 18 . Noch im 18. Jahrhundert hatte der Historismus eines Johann Gottfried Herder in kühner Bewußtheit die Vielfalt mensch11
Friedrich Meinecke. Weltbürgertum und Nationalstaat. W V , München 1969, S. 83. " Vgl. Ranke, a . a . O . , S. 327. Vgl. Antoni, L o Storicimus, S. 15 f.; Hans Kohn, Wege und Irrwege. Vom Geist des deutschen Bürgertums, Düsseldorf 1962, S. 15. " Vgl. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Uber die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1959. 17
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licher Werte erfaßt; im 19. Jahrhundert entwickelte er sich unaufhaltsam zu einer Verneinung der universalen menschlichen Güter 1 9 .
3. Ablehnung des begrifflichen Denkens
Ebenso wird in der Erkenntnistheorie der Bruch mit dem naturrechtlichen Glauben an die prinzipielle Vernünftigkeit der menschlichen Existenz weit entschiedener vollzogen als bei anderen Formen des Historismus. Die Einmaligkeit geschichtlicher Größen schränkt die Anwendbarkeit rationaler Methoden in der Erforschung gesellschaftlicher und kultureller Phänomene ein. Spontaneität und Dynamik des Lebens lassen sich nicht auf einen Generalnenner bringen. Seit Humboldt und Schleiermacher haben deutsche Historiker und Kulturwissenschaftler auf die recht begrenzte Gültigkeit von Begriffen und Systemen in Geschichts- und Kulturwissenschaften, den »Geisteswissenschaften«, verwiesen 20 . Die Begrifflichkeit entzieht nach ihrer Ansicht der geschichtlichen Wirklichkeit das Moment des Lebendigen. Die Geschichte als der Spielraum menschlicher Willensentscheidungen erfordere »Verstehen«, das aber nur möglich wird, wenn wir uns in das einmalige Wesen des jeweiligen historischen Gegenstandes hineinversetzen. Das geschieht nicht mittels abstrakten Denkens, sondern durch unmittelbare Begegnung mit dem Gegenstand, den wir verstehen wollen, und durch »Anschauung« seiner Wesenhaftigkeit, die von begrifflichen Beschränkungen frei ist. Humboldt, Ranke und Dilthey stimmen darin überein, daß jegliches geschichtliche Verstehen ein Element der »Ahnung« erfordere. Wenn die Vertreter des deutschen Historismus die abstrahierende Vernunft ablehnen, so bedeutet das keineswegs, daß sie alle rationalen Züge aus der wissenschaftlichen Forschung verbannen wollen. Wir werden im Gegenteil sehen, daß der Historismus in erster Linie eine wissenschaftliche Bemühung um das rationale Verstehen menschlicher Wirklichkeit ist. Indem er von der Erkenntnis der emotionalen Wurzeln mensch" Vgl. Antoni, a.a.O., S. 69fr. 10 Vgl. Joachim Wach, Das Verstehen, j Bde.,Tübingen 1926-1935; Erich Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 1920.
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liehen Handelns ausgeht, strebt er nach dem Aufbau eines logischen Systems, das die irrationalen Aspekte des menschlichen Lebens in Betracht zieht. Derselbe tiefe Glaube an die letzte Einheit des Lebens in Gott, der für das politische und ethische Denken des Historismus bestimmend ist, kennzeichnet auch seine Erkenntnistheorie. Von Humboldt bis Meinecke sind sich die deutschen Historiker dessen bewußt, daß sich jegliche historische Tätigkeit innerhalb eines historischen Denksystems abspielt; dennoch sind sie davon überzeugt, daß wissenschaftliche Forschung zu objektiver Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit führt. Das führt zur Professionalisierung der historischen Forschung und zur Entwicklung von Richtlinien für ein kritisches Studium. Die deutsche Geschichtswissenschaft hat in der Praxis niemals auf das begriffliche Denken verzichtet. Der von ihr benutzte Staatsbegriff ist wesentlich statischer als bei den außerhalb dieser Schule stehenden Historikern, die weit mehr die kulturellen Unterschiede berücksichtigen. Die deutschen Historiker vermochten auch nicht der Werturteile zu entraten und - wie Ranke verlangte in einem Maße zum Sprachrohr der Geschichte zu werden, das ihre Theorie verlangte. Sie schlössen dogmatisch die Möglichkeit einer allgemeinen Menschennatur, die rationaler Erfahrung zugänglich ist, aus, indem sie darauf bestanden, Geschichte sei das Reich des Einmaligen. Die vergleichende Untersuchung der Kulturen und die Analyse gleichbleibender Strukturmerkmale der Gesellschaften wurdet) stark vernachlässigt. Hierin besteht ein deutlicher Unterschied zu westlichen (Fustel de Coulanges, Alexis de Tocqueville, Lord Acton, Frederick Turner) oder auch deutschen (Lorenz von Stein, Marx und Engels, Karl Lamprecht, Max Weber, Otto Hintze) Bemühungen, die Erkenntnis der Vielfältigkeit der Institutionen mit der Suche nach den gleichbleibenden oder typisch wiederkehrenden Elementen im geschichtlichen Wandel und nach den Regeln der Entwicklung zu verbinden. Diese philosophischen Vorstellungen von der Geschichte sollten die deutsche Geschichtswissenschaft länger als ein Jahrhundert beherrschen. Wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird, reichen ihre Wurzeln in den kosmopolitischen, kulturgeschichtlich ausgerichteten Historismus des 18. Jahrhunderts hinein und bis zum klassischen Humanitätsideal eines Herder, Goethe und Kant. Ihre nationalistische und machtpolitische Akzentuierung entstand unter dem Druck der napoleonischen
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Eroberung; die Woge der Begeisterung während der Befreiungskriege ließ sie zu einem Bestandteil des nationalen Erbgutes werden. Sie gingen völlig im politischen Glaubensbekenntnis einer Generation auf, die in den Jahrzehnten der Restauration gegen die Kräfte des Absolutismus für nationale Einheit stritt und die liberalen Einrichtungen von den fremden Ideen aus Frankreich reinigte, um sie deutscher Überlieferung einzuverleiben. Unter den konservativen Historikern gewannen diese philosophischen Vorstellungen dank der Tätigkeit Rankes als Historiker, Publizist und Lehrer noch an Gewicht. Im ausgehenden Vormärz wandte sich eine eher liberale Generation junger Historiker, die Rankes konservativer Einstellung skeptisch gegenüberstand und für die führende Rolle Preußens bei der deutschen Einigung eintrat, zu Humboldt, Fichte und Hegel zurück, um sich von dort anregen zu lassen. Das Scheitern der Revolution von 1848 überzeugte dieselben Historiker vom Vorrang staatlichen Handelns und vom sittlichen Recht politischer Macht. Das Jahr 1871 schien ihnen Höhepunkt und Rechtfertigung der geschichtlichen Entwicklung zu sein. Der deutsche Nationalismus war eine untrennbare Verbindung mit der »deutschen« Idee von Geschichte eingegangen, die sich ihrerseits nun ebenso eng mit der Bismarckschen Lösung der deutschen Frage verschwisterte. Konservative wie Liberale und in gewissem Umfang sogar Demokraten hingen demselben Geschichtsmythos an. Deutschlands Eintritt in die Weltpolitik verlieh den Historikern die feste Überzeugung, Rankes Konzeption der Großmächte lasse sich auf die Weltbühne übertragen. Der Erste Weltkrieg vereinte die Mehrzahl der Historiker, ob links, ob rechts, in einer Front; sie verteidigten die »deutsche Geschichtsidee« heftig gegen die »westliche Naturrechtsideologie«. Die deutschen Historiker lebten so in ihrer eigenen Welt, die inmitten der gewaltigen Umwälzungen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts erstaunlich unverändert blieb. Ihr Denken zehrte weitgehend von der glorreichen Zeit der Befreiungskriege. Den grundlegenden Wandlungen in Gesellschaft und Wirtschaft infolge der Industrialisierung schenkten sie wenig Beachtung. Für sie ereignete sich die Geschichte in erster Linie im Wechselspiel der Großmächte; diplomatische und staatspolitische Dokumente blieben weiterhin die wichtigsten Quellen für die historische Forschung. Wenn Historiker das Hervortreten der Masse als eine politische Größe aner-
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kannten, wie es etwa Heinrich von Sybel in seinem Werk über die Französische Revolution tat, dann gaben sie doch nicht ihre Voraussetzung auf, daß seit der Herausbildung des neuzeitlichen absolutistischen Staates die Prinzipien der internationalen Politik und der Kriegführung im wesentlichen dieselben geblieben seien. Auf die Soziologie sah man mit Mißtrauen. Sogar die bedeutende wirtschaftsgeschichtliche Schule, die Gustav Schmoller begründete, ordnete die Wirtschaft den politischen und vor allem machtpolitischen Faktoren unter. Desgleichen erblickte um die Jahrhundertwende der Kreis der Gesellschafts- und Staatsreformer um Friedrich Naumann, zu dem solch bedeutende Männer wie Max Weber, Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke gehörten, in einer expansiven Außenpolitik die beste Lösung der inneren sozialen und wirtschaftlichen Probleme einer Industriegesellschaft. Ihr Eintreten für die Demokratisierung des Regierungssystems erfolgte vornehmlich deswegen, weil sie darin ein Mittel zur Festigung der Nation im internationalen Machtkampf sahen. Trotz ihrer Ablehnung der klassischen Fortschrittsidee verharrten deutsche Historiker und Sozialphilosophen bei ihrer eindeutig optimistischen Beurteilung der Zukunft der modernen Welt, und das zu einem Zeitpunkt, als sich den liberalen Geistern westlicher Länder der Eindruck einer Kulturkrise aufgedrängt hatte. Die Warnungen Burckhardts und Nietzsches fanden zwar Widerhall bei vielen jungen Deutschen, trafen aber bei den führenden deutschen Historikern auf taube Ohren. Mit ganz wenigen Ausnahmen vermochten 1914 die deutschen Historiker und Sozialphilosophen den völlig veränderten Charakter der Kriegführung und der internationalen Verhältnisse nicht zu begreifen. Sie waren Gefangene einer Idee. Diese Idee war im 19. Jahrhundert verwurzelt, bestimmte aber ihre Einschätzung der politischen Wirklichkeit im 20. Jahrhundert. Erst die Katastrophen des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs führten hier eine Änderung herbei. Das vorliegende Buch hat sich zwei Ziele gesteckt, ein historisches und ein theoretisches. Es zeichnet zunächst Auftreten, Wandel und Niedergang der Hauptströmung des deutschen Geschichtsdenkens und der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung von Wilhelm von Humboldt und Leopold von Ranke bis zu Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter nach. Die Abhandlung beruht auf der Voraussetzung, daß diese
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Denkhaltung in einer festen Tradition ihren Niederschlag gefunden hat. Im Geist dieser Tradition soll versucht werden, diese Denkhaltung als einmaliges Geschehen im Verlauf der Ideengeschichte darzustellen. Es liegt nicht in der Absicht des Buches, eine erschöpfende Geschichte des deutschen Geschichtsdenkens im 19. und 20. Jahrhundert zu geben; vielmehr will es das Grundgerüst der Tradition aufdecken und das Für und Wider innerhalb dieses Rahmens nachzeichnen. Insoweit die Tradition auf Geisteswissenschaftler und politische Theoretiker übergriff, sind nicht nur Historiker, sondern notwendigerweise auch andere Denker zu behandeln, die eine entscheidende Rolle dabei spielten. Andererseits jedoch handelt diese Studie bewußt dem Geist des deutschen Historismus zuwider, indem sie nicht nur zu verstehen, sondern auch zu urteilen sich bemüht. Sie lehnt die Grundregel des Historismus ab, wonach jede historische Individualität einzig und allein mit den ihr innewohnenden Maßstäben beurteilt werden darf; vielmehr verfährt sie gemäß der antihistoristischen Voraussetzung, daß es logische und ethische Grundsätze gibt, die für die gesamte Menschheit gültig sind. Ein Hauptzweck des Buches ist die Analyse der theoretischen Fundamente der deutschen historistischen Tradition. Es sucht zwei Typen grundlegender Widersprüche innerhalb dieses Denkgerüsts herauszuarbeiten, die zur Zerstörung der Tradition führten. Auf dem philosophischen Sektor erblickt es diesen Widerspruch in dem Versuch des Historismus, einen positiven Glauben an eine sinnvolle Weltordnung auf geschichtlichem Relativismus zu begründen. Die frühen Vertreter der deutschen historistischen Tradition waren noch von dem tiefen Glauben an die Existenz einer moralischen Weltordnung, an Wert und Würde des Menschen und an die Möglichkeit eines objektiven Verstehens von Geschichte und Wirklichkeit erfüllt. Wie bereits dargelegt wurde, beteuerten sie gleichzeitig, daß jeder Wert einmalig und geschichtsgebunden, jede Philosophie national und jedes Verstehen individuell sei. Die radikale Verschiedenheit der Einzelmenschen und der menschlichen Kulturen stand für sie fest. Was sie vor ethischem und erkenntnistheoretischem Relativismus bewahrte, war ihr tiefer Glaube an eine metaphysische Wirklichkeit jenseits der geschichtlichen Welt. Ihre Überzeugung lief darauf hinaus, daß die verschiedenen Kulturen nur die mannigfaltigen Aspekte jener Wirklichkeit widerspiegelten.
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Viele, darunter Ranke und die Mehrzahl der preußischen Historiker, blieben einer lutherischen Religiosität verbunden, der in ihrem Optimismus jegliches tiefere Verständnis für die Neigung politischer Institutionen zum Machtmißbrauch zu fehlen schien. Andere, die in der idealistischen Tradition Deutschlands standen, betrachteten die Geschichte als Vollzug eines großen, vernünftigen Prozesses. Das im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmende Übergewicht der Naturwissenschaften vermochte diesen Glauben nicht zu zerstören. Grundlegend für den deutschen Idealismus und den optimistischen Historismus war nicht die Auffassung, daß die Wirklichkeit Idee sei, sondern daß die Welt einen sinnvollen Prozeß darstelle. Auch die philosophische Diskussion der Neukantianer über das Wesen der Geschichte und der geschichtlichen Erkenntnis erschütterte diesen Glauben eigentlich nicht (am wenigsten unter den Historikern), selbst wenn sie gewisse Zweifel aufkommen ließ 21 . Erst die umwälzenden Ereignisse des 20. Jahrhunderts bereiteten den Boden für eine ernsthafte, weitgespannte Uberprüfung der Grundlagen des Historismus. Ein zweites, allgemeineres Problem, das uns beschäftigen wird, ist die Beziehung zwischen Historismus und politischer Ideologie. Besonders interessant ist die Frage, inwieweit dem Historismus entstammende Anschauungen sich mit liberalen und demokratischen Theoremen vertrugen. Obzwar eine Bewegung gegen aufklärerische Gedanken, war der deutsche Historismus dennoch keineswegs eine derart entschiedene Reaktion auf den politischen Liberalismus, wie oft behauptet worden ist. Der Historismus besaß, wie zu zeigen sein wird, seinen konservativen Flügel, den Ranke, später Treitschke, Below, Mareks und andere vertraten. Der weitaus größte Teil der Historiker, die in der nationalen Tradition standen, erachtete sich jedoch als liberal. Zweifelsohne verliefen die Hauptströmungen des deutschen Liberalismus im 19. und 20. Jahrhundert innerhalb der Grenzen des nationalen Historismus. Trotzdem war der Historismus der liberalen deutschen Historiker auf dem Feld der gesellschaftlichen und politischen Ideen von tiefgehender Widersprüchlichkeit gekennzeichnet. Ihre engbrüstige Staatsvorstellung, deren Maßstab die preußische Monarchie der Restaurationszeit war, hinderte sie daran, die in der Geschichte wirksamen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte richtig einzuschätzen. 21
Siehe 6. Kapitel.
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Die Geschichtsschreibung behielt in Deutschland viel länger als in westlichen Ländern einen aristokratischen Charakter. Geschichte blieb (mit wenigen bemerkenswerten Ausnahmen) bis zu Meineckes Werk >Weltbürgertum und Nationalstaat < überwiegend Geschichte in einem engen politischen Sinn, die von den Handlungen der Staatsmänner, der Feldherren und der Diplomaten berichtete und dabei fast völlig den Rahmen der Institutionen und der materiellen Grundlagen wegließ, innerhalb deren die Entscheidungen eben dieser Männer gefällt worden waren. Obwohl Meinecke auf die politische Relevanz der Ideen hinwies, kreiste seine Ideengeschichte ausschließlich um die geistigen Biographien großer Persönlichkeiten und ignorierte bewußt den gesellschaftlichen Standort, an dem sich die politischen Ideen entwickelten und auswirkten. Auch die eigentümliche Synthese von Freiheit und Autorität, worauf die deutschen Historiker abzielten, war weder überzeugend noch dauerhaft. Die Vertreter des deutschen Historismus lehnten die Naturrechtslehre ab. Wie schon erwähnt, forderten sie, daß der Staat weder durch von außen an ihn herangetragene ethische Normen noch durch utilitaristische Vorstellungen von Freiheit und Wohlfahrt seiner Bürger beurteilt werden dürfe, sondern daß sein Kurs stets von seinen machtpolitischen Interessen bestimmt werden und deswegen der Anspruch der Außenpolitik über den der Innenpolitik triumphieren müsse. Im Gegensatz zur klassischen Theorie des Gesellschaftsvertrags verwiesen sie (wahrscheinlich zu Recht) darauf, daß die Freiheit nur durch den Staat und innerhalb seiner Sphäre erlangt würde. Allerdings glaubten sie auch, daß die von ihnen erstrebten Freiheiten, die sich im wesentlichen mit den von Liberalen allgemein geforderten Rechten der Person deckten (Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und parlamentarische Institutionen, um die öffentliche Meinung an politischen Entscheidungen teilnehmen zu lassen), innerhalb des Systems des überkommenen Staates verwirklicht werden könnten. Sie huldigten der Ansicht, die Monarchie der Hohenzollern mit ihren aristokratischen und autoritären Zügen und ihrer einzigartigen Beamtenmoral bilde ein solideres Bollwerk für die Verteidigung der individuellen Freiheiten und der rechtlichen Sicherheit als eine Demokrat e, in der die Politik eher den Schwankungen der öffentlichen Meinung als den Erfordernissen der Staatsräson unterworfen sei. Deshalb schwebte ihnen als Ziel ein Rechtsstaat vor, der sich am besten in einer konstitutionellen Monar-
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chie verwirklichen ließ, die zwar Organe der Volksvertretung vorsah, der Exekutive aber wichtige Prärogativen vorbehielt, vor allem in Fragen der Außenpolitik und des Heeres, das parlamentarischer Kontrolle entzogen sein sollte. Eine solche Meinung vertraten sogar noch Kritiker des wilhelminischen Staates wie Friedrich Meinecke, Ernst Troeltsch, Max Weber, Hans Delbrück und Friedrich Naumann; sie wollten die Massen durch soziale Reformen und ein demokratisches Stimmrecht fester an die Monarchie binden. Die politische Überzeugung des Historismus basierte auf einem metaphysischen Optimismus, der im Rückblick unglaublich naiv erscheint. Die deutschen Historiker wiesen gern darauf hin, daß sie das Wesen und Wirken der Macht weit schärfer begriffen hätten als ihre westeuropäischen Gegenspieler, die der naturrechtlichen Tradition enger verhaftet geblieben waren; ebenso entspräche die deutsche Freiheitsidee weit mehr dem sozialen Charakter der Freiheit in einem industriellen Zeitalter und ihrer Beziehung zum gesamten gesellschaftlichen und politischen Leben einer Nation. Einen für alle Nationen gültigen Begriff der Freiheit gebe es nicht, führte Ernst Troeltsch in einer Kriegsschrift über >Die deutsche Idee von der Freiheit < aus. Der Begriff der politischen Freiheit hat sich, wie alle politischen Begriffe, vielmehr aus dem geistigen und politischen Leben einer Nation insgesamt entwickelt. Im Gegensatz dazu haften »die Ideen von 1789« in puncto Freiheit »am isolierten Individuum und seiner überall gleichen Vernunft« 22 . Im Vertrauen auf den Sinn des geschichtlichen Prozesses betrachteten deutsche Historiker und Staatsdenker von Wilhelm von Humboldt bis zu Friedrich Meinecke - beinahe ein Jahrhundert später - den Staat als eine ethische Einrichtung, deren Interessen auf lange Sicht mit Freiheit und Sittlichkeit harmonierten. Als der Glaube an die göttliche Zweckbestimmung des gesellschaftlichen Daseins mit der wachsenden Säkularisierung der Ideen im 19. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalismus dahinschwand, verloren die philosophischen Fundamente für den Glauben des Historismus an die Harmonie von Macht und Sittlichkeit ihre Glaubwürdigkeit. Der Begriff des Rechtsstaates, wie ihn liberale Rechtsphilosophen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, etwa Hans Kelsen, entwickelten, war grundsätzlich verschieden von der klassi" Trodtsch, Die Idceo von 1914, a.a.O., S. 49.
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sehen liberalen Auffassung der Regierung durch »gesetztes und verkündetes Recht«, wie es beispielsweise John Locke formuliert hatte. Für Rechtspositivisten wie Kelsen kam es darauf an, daß der Staat sich an gesetztes Recht hielt und eine private Lebenssphäre respektierte, doch die Frage nach dem gerechten oder ungerechten Inhalt der Gesetze wurde bedeutungslos. Der klassische Liberalismus hat den Zweck des Staates darin gesehen, »die Würde des Menschen und die Autonomie des Individuums zu bewahren, Werte zu verwirklichen, die in der Humanität des Individuums begründet sind«. Für die deutschen Fürsprecher des Rechtsstaates im ausgehenden 19. Jahrhundert »verkörperten Verfahren und Verordnung die Gerechtigkeit als Rechtskriterium« 23 . Die ethischen Einschränkungen der staatlichen Macht wurden so beseitigt. Obwohl die meisten Historiker dem idealistischen Erbe des 19. Jahrhunderts treu blieben, bedeutete Treitschkes unverblümte Aussage über den Staat als pure Macht, zusammen mit verschiedenen weiteren Äußerungen zur »biologischen Ethik der Gewalt«, wie Meinecke sie genannt hat, in gewissem Sinne die logische Konsequenz aus den theoretischen Prämissen des Historismus. Der Historismus rühmte sich seiner Offenheit für die geschichtliche Wirklichkeit. Für ihre Bewunderer bestand die Größe und Bedeutung der klassischen deutschen Geschichtsschreibung in ihrer gänzlichen Befreiung von Ideologien. Meinecke glaubte, mit dem deutschen Historismus sei die höchste Ebene des Verstehens menschlicher Gegebenheiten erreicht, weil durch ihn das Geschichtsdenken von normativen Begriffen gelöst wurde. Stattdessen suche er die geschichtliche Wirklichkeit in ihren lebenden Individualitäten zu ergreifen, ohne sie in die Zwangsjacke der Begriffe zu stecken. Trotzdem eigneten dem deutschen Historismus als einer Geschichtsphilosophie viele Merkmale einer Ideologie. Weit entfernt davon, jede historische Situation aus den ihr eigenen Bedingungen heraus verstehen zu wollen, luden die Historiker der traditionellen deutschen Linie dieselbe Sünde auf sich, deren sie die westeuropäischen Wissenschaftler bezichtigten: sie stülpten Begriffe bzw. Normen über die geschichtliche Realität. Vielleicht ist es eine unausweichliche Tatsache, daß der Historiker die Geschichte von einem Standort aus angeht, der die Prägung seiner Persönlichkeit und der gesellschaftlich-kulturellen Um13 John H. Hallowell, The Decline of Liberalism as an Ideology with Particular Refercnce to German Politico-Legal Thought, Berkeley 1943, S. 19.
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weit, in der er schreibt, widerspiegelt. Was den deutschen Historismus bezeichnete, war eben die Unbeweglichkeit dieses Standorts, die Weigerung seiner Vertreter, ihre zeitgebundenen politischen und sozialen Begriffe und Normen aus historischem Blickwinkel zu sehen. Jedoch auch in einem viel engeren politischen Sinn fungierte der Historismus auf vielfache Weise als eine Ideologie. Der Historismus war, wie oben bereits gesagt wurde, eng mit der politischen und gesellschaftlichen Anschauung einer Klasse, des Bildungsbürgertums der Akademiker, verknüpft. Ohne irgendwie die Unvoreingenommenheit und Uberparteilichkeit zu erreichen, die Ranke als Ideal der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung proklamierte, waren die deutschen Historiker von Ranke bis Meinecke und Ritter zutiefst politisch engagiert. Bewußt (und in mancher Hinsicht unbewußt) lieferte der Historismus das theoretische Fundament für die während des 19. Jahrhunderts herrschenden politischen und sozialen Zustände in Preußen und Deutschland. Es steckt ein beachtliches Quantum Wahrheit in der Bemerkung des Marxisten Georg Lukacs, daß »das Axiom der deutschen Geschichtsschreibung : >Männer machen die Geschichte < . . . nur die historisch-methodologische Kehrseite« des preußischbürokratischen Absolutismus ist24. So scheint der Widerspruch in der historischen Auffassung von Freiheit und Moral die Widersprüche in der gesellschaftlichen und politischen Struktur Deutschlands selbst widerzuspiegeln. Eine Abhandlung über deutsche Geschichtsschreibung kann deshalb weder die Analyse der theoretischen Grundbegriffe der deutschen Historiker ganz außer acht lassen noch die Klärung des institutionellen Gerüsts, innerhalb dessen im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts gedracht und geschrieben wurde. Keineswegs soll aber eine Sozialgeschichte der Ideen versucht werden. Über das Verhältnis der Ideen zur Gesellschaft in Deutschland gibt es bereits eine ausführliche Literatur. Viele dieser Studien kreisen um das Problem der politischen und kulturellen Divergenz Deutschlands vom Westen - ein Problem, das im Mittelpunkt fast jeder bedeutenden Erforschung des deutschen Bewußtseins seit dem Ersten Weltkrieg steht. Es besteht weitgehende Übereinstimmung quer durch diese Literatur, die von unterschiedlichen Standpunkten aus ge" Georg Lukics, Die Zerstörung der Vernunft. Berlin 1954, S. 49.
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schrieben wurde, ob es sich nun um Historiker, Sozialphilosophen und Kukurkritiker handelt, die der deutschen Tradition angehören, um solche, die einen Weg zu liberal-demokratischen Vorstellungen und Einrichtungen suchen, oder um Marxisten. Im allgemeinen sind sie sich einig, daß Deutschland in das Zeitalter der demokratischen Massengesellschaft und der modernen Industrie mit aristokratischen Elementen und Vorstellungen eintrat, die ungleich besser erhalten waren als in den westeuropäischen Ländern oder gar in den USA. Marxistische und nichtmarxistische Historiker verweisen gleichermaßen auf die Bedeutung, die dem Niedergang des Bürgertums nach dem 16. Jahrhundert zukommt, von dem Hajo Holborn sagt, es sei »in mancher Hinsicht . . . in der deutschen Geschichte ein bürgerlicheres . . . als das achtzehnte«25. In Deutschland gab es keine großen bürgerlichen Handelsoder Finanzdynastien, die in Frankreich, in Großbritannien oder in den Niederlanden einen gewissen politischen Einfluß besaßen. Die Manufakturen, die mit dem Merkantilismus aufkamen, befanden sich in weit größerem Umfang als in Westeuropa in der Hand des Staates. Handwerker und kleine Händler, die durchaus noch vorkapitalistischen, zunftmäßigen Vorstellungen verhaftet waren, spielten in der städtischen Bürgerschaft eine einflußreichere Rolle als in Westeuropa. Andererseits blieb den adligen Grundbesitzern ihre beherrschende gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung in den absolutistischen Territorialstaaten im allgemeinen erhalten. Wie auch anderswo in Europa setzte sich die bürokratisch-absolutistische Zentralisierung in den deutschen Fürstentümern des 17. und 18. Jahrhunderts durch. Der offene Zwist zwischen Adel und Monarchie jedoch - und hier liegt der Unterschied der in Frankreich in den Kämpfen der Fronde oder in Böhmen und Mähren im Winterkrieg zum Ausbruch kam, fand in Preußen nicht statt; dort wurde zwischen Adel und Krone ein politischer Kompromiß geschlossen. Während im 16. und frühen 17. Jahrhundert der Handel in den westlichen Gebieten Deutschlands zurückging, erlebte der u Hajo Holborn, Der deutsche Idealismus in sozialgeschichtlicher Bedeutung, in: Historische Zeitschrift (künftig abgekürzt HZ) 174 (1952) S. 364. Hinsichtlich anderer Darstellungen der divergenten deutschen Entwicklung siehe Troeltsch, a. a. O.; Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1950; Lukics, a.a.O.; Leonard Krieger, The German Idea of Freedom, Boston 1937: Hans Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience, i 6 6 0 - 1 8 1 H a r v a r d 1958; Plessner, a.a.O.; Gerhard Ritter, Das deutsche Problem, München 1962.
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grundbesitaende Adel Ostelbiern, die »Junker«, eine wirtschaftliche Blüte, womit eine Festigung der grundherrschaftlichen Rechte verbunden war - und dies zu einer Zeit, als sich das feudalistische System in Westeuropa in der Auflösung befand. Diese Entwicklung, ob in Mecklenburg, in Pommern oder im ostelbischen Preußen, führte zum Erstarken eines aristokratischen Ständestaates, in dem der Landadel seine ineinander verflochtenen Positionen verteidigte, die Wirtschaft, Politik und Gesellschaft beherrschten. Der Dreißigjährige Krieg führte eine Wende herbei. Der wirtschaftliche Niedergang der Junker lief parallel zum Aufstieg der fürstlichen Macht. In Preußen büßte der Adel wie auch sonst in Europa seine politische Bedeutung ein, wurde jedoch in seinen sozialen Vorrechten bestätigt, was ihn in die Lage setzte, die örtliche Obrigkeit weiterhin zu kontrollieren und sich die grundherrschaftlichen Privilegien in viel größerem Umfang zu erhalten als in Frankreich. Die ostelbischen Städte dagegen verloren die meisten Rechte und wurden beinahe restlos der hohenzollerischen Bürokratie unterstellt. Wo den Landesherren bei der Ausweitung ihrer Macht geringerer Erfolg beschieden war als in Preußen (etwa in Sachsen oder Braunschweig), bestanden für den ganzen Staat oder für die einzelnen Bezirke - Landtage weiter, in denen der Adel eine führende Rolle spielte. Leonard Krieger hat festgestellt, daß die Hohenzollern »viel weiter über die übliche Arbeitsteilung zwischen politischer Machtausübung und sozialer Privilegierung, wodurch der Adel in das aristokratische Militärsystem und die zivile Staatsverwaltung eingegliedert wurde«, hinausgingen als die Bourbonen oder die Habsburger 26 . Obschon in zunehmendem Maße die Leistung anstelle der Geburt zur Voraussetzung für Amt und Beförderung wurde, blieb der Adel in der preußischen Bürokratie doch in größerem Umfang tonangebend als in Frankreich oder Österreich. Friedrich II. legte darauf sogar besonderen Wert; ein neuer Beamtenadel, der zum Teil aus dem Bürgertum hervorging, wurde durch Heiraten mit dem alten ostelbischen Adel verschmolzen und zum Erwerb von Rittergütern angespornt. Auf politischer Ebene klangen die aufklärerischen Forderungen nach gesellschaftlicher Neugliederung in den deutschen Staaten wesentlich anders als in Frankreich. Der preußische Adel, der in die bürokratische Hierarchie eingegliedert und " Krieger, a . a . O . , S. 13.
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seiner sozialen Vorrechte sicher war, focht in viel geringerem Ausmaß als seine französischen Standesgenossen die zentralistische Ausrichtung der Monarchie an. Auch das Gerichtswesen bot dem königlichen Absolutismus in Preußen niemals Einhalt wie die Parlamente in Frankreich. Freilich ging das Reförmstreben dahin, die Verwaltung von willkürlichen Eingriffen des Königs freizuhalten und eine auf Gesetz und anerkannter Vorschrift fundierte Ordnung aufzubauen. Auch im Bürgertum verfügten die akademisch gebildeten Beamten, die Universitätsprofessoren, die Gymnasiallehrer und die Geistlichen, über einen größeren Einfluß auf das öffentliche Leben und einen relativ höheren gesellschaftlichen Stand als die entsprechenden Schichten in den stärker kaufmännisch bestimmten Städten Westeuropas. Eine Strömung, die gesellschaftliche Umwälzungen forderte, gab es nicht, sondern nur Bestrebungen, die auf Reformen innerhalb der bisherigen Gesellschaftsordnung ausgingen. Die Literatur der deutschen Aufklärung ist durchwegs erfüllt von Forderungen nach persönlicher Freiheit, geistiger und religiöser Toleranz, korrekter Durchführung der Gesetze und wirtschaftlicher Freizügigkeit. Freiheit ist viel eher ein Begriff für persönliche, geistige Selbstentfaltung als für politisches Mitwirken. Hajo Holborn hat festgestellt: »Die gesamte geistige Bewegung des deutschen 18. Jahrhunderts hat beinahe ausschließlich die Erziehung des individuellen Menschen zum Ziele gehabt und ihr alle politischen Forderungen untergeordnet.«47 Der Staat wurde als eine gute Einrichtung angesehen, in der auf vielerlei Weise bereits die aufklärerischen Ideale erreicht worden waren, als ein Rahmen, innerhalb dessen die volle Entwicklung von Persönlichkeit und Kultur vor sich gehen konnte28. Deshalb ließ sich auch die Definition der Freiheit durch den jungen Wilhelm von Humboldt als »die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen«29 mit seiner späteren Aussage, daß nur in einer starken Nation die Entfaltung der Freiheit möglich sei, in Einklang bringen. Die anfängliche Begeisterung, mit der viele Deutsche die " Holborn, a.arO., S. 365. " Hinsichtlich der positiven Haltung der deutschen Aufklärung zum Staat siehe Wilhelm Dilthey, Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung, in: Gesammelte Schriften (künftig abgekürzt G S ) I I I , Berlin 1927, S. 81-205. " Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, in: Gesammelte Schriften (künftig abgekürzt G S ) I , Hrsg. Albert Leitzmann, Berlin 1903, S. 106.
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ersten gemäßigten Phasen der Französischen Revolution begrüßt hatten, verflüchtigte sich bald angesichts des jakobinischen Schreckensregiments und verwandelte sich unter dem Eindruck der französischen Besetzung westdeutscher Gebiete und des wachsenden napoleonischen Herrschaftssystems in heftige Feindseligkeit. Viele Anliegen der deutschen Liberalen wurden in den Jahren nach 1806 durch die von Stein, Hardenberg, Scharnhorst und Humboldt in Preußen eingeleiteten Reformen erfüllt. In vieler Hinsicht gemahnten diese Reformen an jene, die zwischen 1789 und 1791 in Frankreich durchgeführt wurden. Es wurde ein größeres Maß an wirtschaftlicher Freiheit gewährt, das Vorrecht der Gilden und Zünfte abgeschafft, die Leibeigenschaft der Bauern aufgehoben. Die Verwaltungsstruktur wurde vereinfacht. Mit der klaren Absicht, die Bürger dem Staat enger zu verbinden, wurde eine kommunale Selbstverwaltung eingeführt, die allmähliche Errichtung von Landtagen für die Provinzen und die Gesamtmonarchie angekündigt und ein Heer geschaffen, das aus allgemeiner Wehrpflicht hervorging. Gleichzeitig ließen die Reformen die Autorität des Königs ebenso unangetastet wie die zentrale Stellung des Adels in der Bürokratie. Hans Rosenberg nimmt sogar an, daß die Reformzeit den Sieg des »bürokratischen Absolutismus« über die »monarchische Aristokratie« bedeutet. Was in Preußen stattfand, war eine »Revolution von oben«. Der Anstoß zu den preußischen Reformen von 1807 kam wie der zu den französischen von 1788 und 1789 von Seiten der Ministerialbürokratie. In einer akuten Krise suchte diese Bürokratie den Staat nach rationalen Gesichtspunkten neu zu ordnen, indem sie die am ärgsten antiquierten Privilegien des Adels angriff. Damit endet jedoch die Ähnlichkeit. Wie Rosenberg feststellt, wurde in Frankreich der Widerstand des Adels gegen die Beschneidung seiner Vorrechte und die Neuordnung der Regierung »durch die politische Emanzipation des Dritten Standes gebrochen. In Preußen aber blieb all die wirren und verwirrenden Jahre der Reform hindurch der Kampf um die Vorherrschaft fast ausschließlich die innere Angelegenheit der oberen Zehntausend.« 30 Der Kampf gegen die napoleonische Herrschaft verwischte die Grethen zwischen den Ergebnissen, die auf die liberalen Reformen, und denen, die auf den erwachenden Nationalismus zurückzuführen waren. Die Reformen der adligen Bürokraten M
Rosenberg, a.a.O., S. 204.
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waren weit davon entfernt, den Weg zu einer radikaleren Volksrevolution vorzubereiten; sie bewirkten vielmehr eine breite Unterstützung der hohenzollerischen Monarchie durch die mittleren und niederen Klassen im Kampf für eine vermeintlich nationale Sache und gegen fremden Absolutismus. Überdies wurden dadurch die ideologischen Unterschiede zwischen dem preußischen Liberalismus und dem Erbe der Französischen Revolution vertieft. Die Befreiungskriege ließen den Mythos des Geistes von 1813 entstehen, den die preußisch orientierten Historiker von Droysen bis Meinecke stets beschworen und der im Mittelpunkt der traditionellen Glaubenssätze des deutschen Historismus stand. Von diesem Blickwinkel aus bedeutete die reformierte preußische Monarchie einen Höhepunkt in der Geschichte der menschlichen Freiheit, nämlich eine Gesellschaft, in der das Individuum völlig frei, gleichzeitig aber in ein gemeinschaftliches Ganzes eingegliedert war. Hierin bestand der Kern des deutschen Begriffs der Freiheit, der Ideen von 1813, die deutsche Historiker dem atomistischen Gesellschaftsbild, das den Ideen von 1789 angeblich eigen war, scharf entgegenhielten. Obwohl die liberalen Erwartungen in der Restaurationszeit, die nach 1815 und verstärkt nach 1819 begann, enttäuscht wurden, brach zwischen dem deutschen Bürgertum und dem preußischen Staat kein tiefer Graben auf. In der Literatur des Jungen Deutschland und in den philosophischen und theologischen Schriften der Linkshegelianer fand zwar ein demokratischer Radikalismus seinen Ausdruck, aber seine Ideen waren auf eine relativ geringe Zahl von Intellektuellen, die nicht zur akademischen Hierarchie gehörten, und auf ein paar Handwerker beschränkt. Zudem wanderten viele Anhänger radikaler Ideen aus. Die liberalen Kritiker der politischen Zustände in Preußen, sowohl in Preußen selbst als in zunehmendem Maße im übrigen Deutschland, hielten noch immer die preußische Monarchie für fähig, zu den Idealen von 1813 zurückzukehren und die Aufgabe zu vollenden, einen liberalen, mit deutscher Uberlieferung übereinstimmenden Nationalstaat zu schaffen. Tatsächlich blieben die grundlegenden Reformen der Ära Stein in Kraft. Der Beamtenstaat bewahrte ein gut Teil mehr Unabhängigkeit von königlicher Willkür, als es im 18. Jahrhundert der Fall gewesen war. Städtische Selbstverwaltung, Bauernbefreiung und wirtschaftliche Freiheit blieben
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erhalten. In letzterem Punkt wurde mit dem Zollverein sogar eine Erweiterung erreicht. Keine Erfolge erzielten die Liberalen dagegen mit ihren Forderungen, allmählich einen konstitutionellen Staat aufzubauen, die willkürlichen Beschränkungen der persönlichen Freiheit - besonders die Zensur - zu beenden und die nationale Einigung voranzutreiben. Für eine parlamentarische Monarchie, wie sie bereits in England bestand, traten nur wenige der liberalen Historiker im Vormärz ein. Männer wie Dahlmann und Droysen, die in der »klassischen« liberalen Gruppe der Frankfurter Nationalversammlung 1848 tonangebend waren, wollten sogar die Prärogativen einer konstitutionellen Monarchie und einer Bürokratie festigen, die repräsentative Institutionen zu Rate zog, ohne ganz von ihnen kontrolliert zu sein, und die die bürgerlichen Rechte achtete, ohne sie ausdrücklich durch Gesetze zu garantieren. Die Frage mag offen bleiben, ob die parlamentarische Regierung 1848 in Deutschland oder 1862 in Preußen schon im vorhinein zum Scheitern verurteilt war. Die im Aufschwung begriffene Industrialisierung und die weit übertriebene Furcht vor einer Revolution des Vierten Standes, die durch die Ereignisse der Jahre 1792, 1830 und 1848 in Frankreich und die vereinzelten Arbeiterunruhen der 1840er Jahre in Deutschland geschürt wurde, trugen zweifellos zur Scheu des liberalen Bürgertums vor revolutionären Schritten bei. Die Frankfurter Aufstände von 1848 - nach dem Waffenstillstand von Malmö - hatten unterstrichen, in welchem Ausmaß die deutschen Liberalen glaubten, auf die preußischen Waffen als ein Bollwerk wider die radikale Linke angewiesen zu sein. Die Geschehnisse in Böhmen, Posen und Schleswig offenbarten, wie sehr die Liberalen von der preußischen und österreichischen Militärmacht bei der Erfüllung ihrer nationalen Wünsche abhängig waren. Der Triumph Bismarcks über die preußischen Liberalen in der Zeit von 1862 bis 1867 führte zu einer Aussöhnung großer Teile des bürgerlichen Liberalismus mit der Monarchie, die nun die wirtschaftlichen, nationalen und viele der politischen Bestrebungen der preußischen Liberalen verwirklichte. Oberflächlich gesehen waren die Ideale von 1813, der konstitutionelle, nationale Rechtsstaat mit repräsentativen Institutionen, erreicht worden. »Die Synthese, die Bismarck nach 1871 erzielte«, faßt Hans Rosenberg zusammen, »bedeutete Frieden, große nationale Geltung, einen fast spektakulären,
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langfristigen materiellen Aufschwung, eine sehr fähige und angesehene Regierung mit einer tiefen Achtung vor Gesetz und Ordnung, ein beträchtliches Maß an persönlichen Rechten, an bürgerlichen Freiheiten, an sozialer Sicherheit und ein blühendes geistiges und künstlerisches Leben für das deutsche Volk.«31 Unter den preußisch orientierten Historikern erkannten nur wenige, wie etwa Hermann Baumgarten und Theodor Mommsen, allmählich die dünne Fassade von liberalen und demokratischen Einrichtungen am Gebäude einer Gesellschaft, in der die politische Macht im Zeitalter der Industrialisierung in den Händen einer Elite ruhte, die obrigkeitlichen, militärischen, bürokratischen und autoritären Traditionen verhaftet war. Wie Theodor Mommsen richtig sah, verhinderten die autoritäre Struktur des deutschen Staates, die unvollständige Durchführung des parlamentarischen Prinzips, die Gültigkeit militärischer und adliger Gehorsamsvorstellungen das Aufkommen eines politischen Verantwortungsbewußtseins im deutschen Volk - und das zu einer Zeit, als das Hervortreten politischer Massenbewegungen innerhalb des konstitutionellen Gerüsts des Bismarckstaates den verantwortlichen Staatsbürger immer notwendiger werden ließ. Im Gegensatz zu west- und nordeuropäischen Ländern hielten in Deutschland der politische Einfluß und das gesellschaftliche Ansehen des Gutsherrenund Offiziersadels in einer Epoche an, in der die Industrialisierung samt den sie begleitenden sozialen Folgen schon viel weiter als in westlichen Ländern - etwa in Frankreich - vorangeschritten war. Zweifellos erstarrte der Historismus in einer seit seiner klassischen Begründung relativ unveränderten Form, weil der politisch-soziale Rahmen, aus dem er erstanden war und den er verteidigt hatte, in wichtigen Aspekten ziemlich unverändert geblieben war. In der Unfähigkeit der deutschen Geschichtswissenschaft, aus der veränderten gesellschaftlichen und geistigen Wirklichkeit die Konsequenzen zu ziehen, spiegelte sich die soziale Stellung der Historikerzunft selbst wider. Seit dem späten 18. Jahrhundert war die historische Wissenschaft in Deutschland an den Universitäten konzentriert. Für das übrige Europa und die Vereinigten Staaten traf dies erst im Lauf des 19. Jahrhunderts zu. Oft wurde schon darauf hingewiesen, daß der Historiker ein Staatsbeamter war. Allerdings ist es fraglich, ob diese Stellung seine Möglichkeiten der Meinungsäußerung ein•1Ebd.,S. j32f.
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engte. Eckart Kehr, ein scharfer Kritiker des deutschen Historismus und des preußischen Staates, hat sogar hervorgehoben, daß der Beamtenstatus dem Universitätsprofessor weitgehenden Schutz vor politischem Druck verschaffte32. Bis zu Bismarcks Kompromiß mit den Liberalen (1867) standen die meisten national gesinnten Historiker dem politischen Status quo ablehnend gegenüber. Vielleicht noch ausschlaggebender für die Unfähigkeit der Historiker, ihre wissenschaftlichen Methoden und politischen Vorstellungen einer Überprüfung zu unterziehen, war der Umstand, daß die Historiker sich selbst als dem Bildungsbürgertum zugehörig betrachteten. Sie waren weitgehend mit den Bestrebungen dieser Schicht einverstanden33. Daher teilten sie 1848 die Sehnsucht nach Liberalisierung und nationaler Einigung, aber auch die Furcht vor einer sozialen Umwälzung, die auf eine radikale Infragestellung der bisherigen Ordnung hätte folgen können. Ebenso bekämpften sie mit wenigen Ausnahmen Bismarcks anmaßende Politik während der preußischen Verfassungskrise von 1862 bis 1867, waren dann mit dem sie abschließenden Kompromiß einverstanden und sahen ihre liberalen und nationalen Wünsche im Deutschen Reich größtenteils erfüllt. Mitbestimmend für die stockende Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft war auch die Art und Weise, in der der akademische Nachwuchs herangezogen wurde. Seit der Gründung der Berliner Universität 1810 fand im deutschen Universitätswesen keine tiefergehende Reform mehr statt. Erst in den letzten Jahren sind derartige Reformbestrebungen, ohne allerdings zunächst viel Erfolg zu zeitigen, unternommen worden. Die akademischen Lehrer bildeten eine in sich abgeschlossene Kaste. Dem Ordinarius stand nicht nur eine sehr weitreichende Aufsicht über die Lehr- und Forschungstätigkeit der ihm nachgeordneten Dozenten zu, er konnte auch im Bunde mit seinen Kollegen den Zugang zum Beruf blokkieren. Der mühselige Prozeß der Habilitation, wodurch ein Kandidat, der unter der Schirmherrschaft eines Ordinarius seine Habilitationsschrift angefertigt hatte, als Universitätslehrer zugelassen wurde, verhinderte, besonders seit 1871, den " Siehe Eckart Kehr, Neuere deutsche Geschichtsschreibung, in: Der Primat der Innenpolitik, Hrsg. Hins-Ulrich Wehler, Berlin 1965, S. zj4f. " Vgl.ebd.;dara auch Walter Bußmann, Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: HZ 186 (1968) S. ; 17-557-
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Aufstieg von Historikern, deren Vorstellungen oder Herkunft dem Professorenstand nicht entsprachen. Jene Männer, die mit den Glaubenssätzen des Historismus brachen, wie Karl Lamprecht, oder die ihnen gegenüber zu tiefer Skepsis neigten, wie Friedrich Meinecke in seinen späteren Jahren, waren im allgemeinen längst selbst Ordinarien, ehe sie das wagten. Leute mit reformerischen Vorstellungen waren entweder keine Historiker von Beruf, wie etwa Erich Eyck, oder sie hatten schon in jungen Jahren eine Dozentur erworben, wie etwa Arthur Rosenberg. Fast niemals wurden sie auf einen Lehrstuhl berufen; meist wurde ihre Karriere abgebremst, wie im Fall von Veit Valentin. Nach 1945 blieb das System der Habilitation im wesentlichen erhalten, der Historismus selbst wurde allerdings einer kritischen Überprüfung unterzogen. Die Schaffung neuer Lehrstühle, besonders in den Grenzgebieten der Geschichte, der Politischen Wissenschaft und der Zeitgeschichte, die den geistigen und ideologischen Überlieferungen der zünftigen Geschichtswissenschaft weniger verpflichtet waren, hat zum erstenmal einer größeren Anzahl von Historikern, die der nationalen deutschen Geschichtsschreibung kritisch gegenüberstehen, die Universitätslaufbahn ermöglicht. Deswegen ist es kaum verwunderlich, daß die im deutschen Idealismus verwurzelten theoretischen Voraussetzungen, auf denen der Historismus beruhte, auch dann noch eine Rolle in der deutschen politischen Geschichtsschreibung spielten, als sie bereits preisgegeben oder schließlich von philosophischer und geisteswissenschaftlicher Seite ernsthaft in Frage gestellt worden waren. Das philosophisch-staatstheoretische Fundament des klassischen Historismus war vor dem Ersten Weltkrieg wirkungsvoll untergraben worden (s. 6. Kapitel). Die welterschütternden Ereignisse des 20. Jahrhunderts waren nötig, um die fast ausschließliche Vorherrschaft des klassischen Historismus über die an den Universitäten betriebene deutsche Geschichtswissenschaft zu beenden (s. 8. Kapitel). Als politische Theorie hatte der Historismus trotz seiner Ablehnung der rationalistischen Auffassung von der Wirklichkeit, die dem naturrechtlichen Denken eigen ist, die politische Freiheit nicht abgelehnt. Er ging vielmehr davon aus, daß die liberalen Forderungen nach persönlicher Freiheit, demokratischer Mitwirkung und rechtlicher Sicherheit innerhalb des überkommenen autoritären Obrigkeitsstaates durchgesetzt werden könnten. Was die Philosophie der Werte anbelangte,
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befand sich der Historismus in einer ähnlichen Kompromißstellung zwischen offensichtlichen Gegenpolen. Er verneinte die Möglichkeit einer rationalen Ethik, die Möglichkeit von Rechten und Werten, die nicht an eine bestimmte geschichtliche Situation gebunden sind, sondern einer allen Menschen gemeinsamen Natur entspringen. Die Wertlehre des klassischen deutschen Historismus unterschied sich dennoch grundlegend von den Äußerungen späterer Vertreter eines philosophischen Irrationalismus. Diese politischen Dezisionisten der 1920er Jahre (etwa Carl Schmitt, Martin Heidegger, Ernst Jünger*4) reduzierten alle politischen Wertbegriffe auf subjektive Entscheidungen oder biologische Reaktionen in einem nationalen Kampf ums Dasein. Der klassische Historismus bestand niemals darauf, daß die Welt ohne vernünftige oder ethische Zielsetzung sei, sondern er legte dar, daß die Offenbarungen der individuellen Spontaneität, des Willens und des Irrationalen eine allem zugrundeliegende sittliche Ordnung bezeugten. Dieser Glaube setzte die Existenz eines Gottes voraus, der in jedem Augenblick aktiv in die Geschichte eingriff, indem er das geheimnisvolle Gleichgewicht schuf, das jede eigenständige Monade in das eine Ganze einordnete. Das Aufkommen einer naturalistischen Weltanschauung im 19. Jahrhundert, das mit der Technisierung des Lebens einherging, beraubte diesen Glauben allmählich seiner Überzeugungskraft. Das im 19. Jahrhundert erfolgte Eindringen soziologischer und psychologischer Forschung in das System des Historismus trug zum Abbau der idealistischen Voraussetzungen bei. Durch die Erforschung jeder Institution, jeder Idee, jeden Ideals als einer einmaligen Gegebenheit, die an eine bestimmte geschichtliche und kulturelle Umwelt gebunden ist, ebnete der Historismus den Weg zur Relativierung aller Werte. Das führte ferner dazu, daß die Geisteswissenschaften sich wie die Naturwissenschaften als »wertfreie Wissenschaften« verstanden wissen wollten, die Werte als kulturelle Erscheinungen ohne irgendeine immanente oder transzendente Wertbezogenheit untersuchten. Die »Krise des Historismus«, von der Troeltsch sprach, bezog sich auf die zunehmende Einsicht von Gesellschaftskritikern und Philosophen, daß die rigorose Anwendung der historischen Methode letztlich die Aufhebung jeglicher sicheren Erkenntnis vom Menschen bedeute sowie die Relativierung aller bleiben" Vgl. 8. Kapitel.
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den Werte - ein offensichtlich unausweichliches Dilemma, das sich aus der menschlichen Unfähigkeit ergab, im Strom der Geschichte einen festen Standort zu finden. Wenn die Schule des Historismus ihre Stellung in der deutschen Geschichtsschreibung - im Gegensatz zu den Sozialwissenschaften - bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg weitgehend behaupten konnte, so spiegelte sich darin zweifellos nicht nur die tiefreichende emotionale Bindung der Historiker an die Tradition des deutschen Idealismus wider, sondern auch die an den preußischen Staat. Wer im 20. Jahrhundert mit der Untersuchung der Gesellschaft befaßt war, sah sich dem Trümmerfeld der idealistischen Überlieferung gegenüber. Die Historiker lebten allerdings in einer politischen Wirklichkeit, in der sich ein beträchtliches Maß an überkommenen Ordnungen erhalten hatte. Der Erste Weltkrieg veranlaßte Friedrich Meinecke, die optimistischen Vorstellungen von der Harmonie von Macht und Moral einer Überprüfung zu unterziehen. Walter Goetz verlangte in den 1920er Jahren eine gründliche Auseinandersetzung mit den politischen Voraussetzungen der deutschen Geschichtswissenschaft. Otto Hintze wollte die auf das Thema »Staat« konzentrierte deutsche Geschichtsschreibung breiter anlegen und mit vergleichenden und soziologischen Akzenten versehen. Der Mehrzahl der deutschen Historiker schienen Niederlage und Kriegsschuldfrage jedoch nur ein Ansporn zu sein, von neuem die Politik Bismarcks und die Berechtigung der geistigen Tradition Deutschlands zu verteidigen. Die Erfahrung des Nationalsozialismus, der von deutschen Historikern unterschiedlich sowohl als Negation wie auch als radikale Konsequenz dieser Tradition gedeutet wurde, zwang allerdings die deutsche Geschichtswissenschaft zum überwiegenden Teil dazu, erstmals die über eine Epoche hinweg festgehaltene Verknüpfung von Freiheit und autoritärem Staat in Frage zu stellen. Durch den Zweiten Weltkrieg wurden in weitem Maß auch die historischen Strukturen zerstört, innerhalb deren sich der Historismus herausgebildet hatte. Der Staat Bismarcks brach auseinander, Preußen löste sich als politische Einheit auf, die ostelbischen Gebiete gingen Deutschland entweder ganz verloren oder wurden einer tiefgreifenden sozialen Umwandlung unterworfen. Die neue internationale Lage gestattete es Deutschland nicht mehr, eine Rolle als Großmacht zu spielen. Im Ostteil Deutschlands diente die Geschichtsschreibung
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einem neuen autoritären Staate, der auf einem völlig anderen ideologischen Fundament beruht. Im Westteil Deutschlands war es - vor allem in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Krieg - angesichts der nun entstandenen historischen Konstellation das Anliegen sowohl der demokratischen als auch der konservativ gesinnten Historiker, die politischen Interessen Deutschlands mit denen der westlichen Demokratien gleichzusetzen. Der ideologische Unterschied zwischen Deutschland und Westeuropa ist infolge der politischen Annäherung zusammengeschrumpft. Zweifelsohne haben die Enttäuschung über die Vergangenheit, das Wirtschaftswunder, die Entstehung einer Konsumgesellschaft und die Stabilität des parlamentarischen Systems in der Bundesrepublik dazu beigetragen, eine den Realitäten der modernen Massengesellschaft eher angepaßte Haltung zu festigen. Wenn auch ältere Formen des historischen Denkens und der geschichtswissenschaftlichen Forschung in Deutschland weiter existieren, so haben doch die traumatische Erfahrung von Nazi-Diktatur und militärischer Niederlage und die weniger traumatische Umwandlung der deutschen Wirklichkeit in der Nachkriegszeit zu einer Bewußtseinskrise unter den deutschen Historikern und zu einer Überprüfung der traditionellen methodischen Vorstellungen und der politischen Werteskala geführt. Das vorliegende Buch setzt mit der Trennung des deutschen Geschichtsdenkens von den Hauptströmungen des europäischen Denkens an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ein und schließt mit einem gedämpft hoffnungsvollen Akzent angesichts seiner weitgehenden Rückkehr zu den im Westen allgemein geltenden Vorstellungen. Der letzte Teil des 8. Kapitels wird das Ausmaß abzuschätzen suchen, in dem eine Revision der grundlegenden historischen Anschauungen in Deutschland seit 1945 stattgefunden hat. Die Situation der deutschen Geschichtswissenschaft ist viel zu komplex, um sie auf einen Generalnenner zu bringen; die klassische Tradition der Historie ist noch bis heute recht lebendig geblieben. Erstmals haben jedoch beachtlich viele Historiker aus einer der Demokratie verpflichteten Haltung heraus ihre Werke - besonders über die jüngste Vergangenheit - geschrieben. Ebenso hat zum erstenmal eine größere Anzahl von Historikern versucht, sich mit den Problemen der technisierten Massengesellschaft auseinanderzusetzen und die Methoden des Historikers mit denen des Politologen und des Soziologen in Einklang zu bringen.
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Eine Rückkehr zu den westlichen Denktraditionen bedeutet in der Mitte des 20. Jahrhunderts keineswegs mehr eine Rückkehr zum Naturrechtsdenken der Aufklärung. Das Bild des »Westens«, wie es die deutschen Historiker vor allem seit dem Ersten Weltkrieg (vgl. Troeltsch) entwarfen, war hoffnungslos veraltet und ließ außer acht, in welchem Ausmaß die Romantik, der Fortschritt der Naturwissenschaften, die Mechanisierung von Leben und Denken im 19. Jahrhundert das aufklärerische Erbe zersetzt hatten. Auf verschiedenen Wegen waren die Hauptlinien sowohl des deutschen wie des übrigen europäischen Denkens auf nahe beieinanderliegende Punkte zugelaufen. Der historische Relativismus blieb nicht auf Deutschland beschränkt. Im modernen Denken spiegelte sich häufig das tiefe Bewußtsein der scheinbaren moralischen Sinnlosigkeit der Welt, des Irrationalen im Menschen und der Absurdität der Geschichte. Die historische Vernunft war miteinbezogen in die Zerstörung des Glaubens an die Vernünftigkeit und Zweckgerichtetheit des menschlichen Geschehens. Wenn auch das Buch den Historismus historisch, als eine geistige Strömung, behandelt, versucht der erste Teil des Schlußkapitels doch, sich mit der Kritik des Historismus und Relativismus am Naturrecht theoretisch auseinanderzusetzen. Mit Vorsicht wird das Problem aufgeworfen, ob es nicht gewisse Elemente in der aufklärerischen Idee von einem gleichbleibenden vernünftigen Wesensbestandteil des Menschen und der Geschichte gibt, die diese Kritik überleben und ein gewisses Maß an Wertgültigkeit und Bedeutung im historischen und politischen Denken behalten.
I I . D I E W U R Z E L N DES D E U T S C H E N
HISTORISMUS
V O M KOSMOPOLITISCHEN UND KULTURBEZOGENEN NATIONALISMUS H E R D E R S ZUM STAATSBEZOGENEN N A T I O N A L I S M U S DER BEFREIUNGSKRIEGE
Schon die Bestimmung eines ungefähren Datums für den Beginn des Historismus bereitet Schwierigkeiten. Versteht man unter Historismus eine geschichtswissenschaftliche Methode, die das Vergangene, »wie es eigentlich gewesen«, heraufzubeschwören und die einmaligen Züge der geschichtlichen Situation wieder zu ergreifen sucht, dann zählt ein großer Teil der von einem weltlichen Standpunkt aus geschriebenen erzählenden Geschichtsschreibung seit dem klassischen Altertum der Zielsetzung nach zum Historismus. Die Vorstellung von der grundsätzlichen Verschiedenheit der historischen Forschung mit ihrem Interesse für Einzelheiten und Individualitäten und der verallgemeinernden und klassifizierenden Methode der Naturwissenschaften war lange vor dem 18. Jahrhundert durchaus vertraut. Bereits bei Aristoteles findet sich die Bemerkung, daß historische Feststellungen sich mehr mit dem »Einzelnen« als mit dem »Allgemeinen« befassen 1 . Die Grundlinien der historischen Methode waren im 18. Jahrhundert voll ausgeprägt und wurden sogar von den Rationalisten anerkannt. Seit dem Humanismus hatte die Wissenschaft, vor allem in den Benediktinerklöstern und an den Akademien des 17. und 18. Jahrhunderts, Maßstäbe für die kritische Durchleuchtung der Quellen ausgebildet. E s gab allerdings noch keine selbstverständliche Tradition der kritischen Forschung; die großen »pragmatischen« Historiker der Aufklärung - wie Voltaire und Gibbon - zogen die Konstruktion großartiger Synthesen einer stichhaltigen Belegsammlung vor. Die Schulgelehrten begnügten sich andererseits damit, Tatsachen aufzuhäufen, wobei sie der Kontinuität und Entwicklung der Institutionen kaum Beachtung schenkten2. Die ge1 Aristoteles, Poetik, Kapitel 9. Vgl. dazu: »Darum ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Denn die Dichtung redet eher vom Allgemeinen, die Geschichtsschreibung Tom Besonderen.« (Zit. nach: Aristoteles, Von der Dichtkunst, in: Werke II. Übers, von Olof Gigon, Zürich 1950, S. 405.) 1 Vgl. Andreas Kraus, Vernunft und Geschichte. Die Bedeutung der deutschen Akademien für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im späten 18. Jahrhundert, Freiburg/Br. 1965;
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treue Wiedererweckung der historischen Individualität steht aber keineswegs im Widerspruch zum naturrechtlichen Denken. Etwas zu »verstehen« bedeutet noch nicht, daß man es »gutheißt« oder »anerkennt«. Es ist möglich, das Bild eines Individuums in seiner Individualität mit den ihm eigentümlichen Werten nachzuzeichnen und es dennoch mit Maßstäben von »richtig« und »falsch« zu beurteilen, die an weit mehr Menschen angelegt werden können. Wenn wir jedoch, wie Friedrich Meinecke, den Historismus nicht nur als eine geschichtswissenschaftliche Methode verstehen, sondern als eine umfassende Lebensphilosophie, die jegliche gesellschaftliche Realität als einen geschichtlichen Strom sieht, in dem kein Moment dem andern vergleichbar ist, und die voraussetzt, daß Wertmaßstäbe und logische Kategorien ebenfalls völlig in den Fluß der Geschichte eingetaucht sind, dann handelt es sich um eine Schöpfung des 18. Jahrhunderts. Genauer: es handelt sich um die deutsche Reaktion auf bestimmte aufklärerische Gedankengänge, insbesondere die Naturrechtslehre. Die beiden ersten großen theoretischen Darlegungen des Historismus im 18. Jahrhundert sind wohl >Die neue Wissenschaft von Giambattista Vico, erstmals 1725 erschienen3, und >Auch eine Philosophie der Geschichte < von Johann Gottfried Herder aus dem Jahre 1774 4 . Vico hatte bereits betont, daß das Studium der gesellschaftlichen Realität grundsätzlich andere Methoden erfordere als die Naturwissenschaften, da die Gesellschaft nicht wie die Natur auf die »fühllose Bewegung der Körper« zurückgeführt werden könne; sie bestehe vielmehr aus den bewußten Handlungen und Entschlüssen der Individuen, die sich im Strom der Zeit ereigneten. Die Menschen und die gesellschaftlichen Gebilde könnten nur vom historischen Standpunkt aus begriffen werden. Es muß festgehalten werden, daß Vicos Beschäftigung mit der Geschichte nicht Selbstzweck war. Ihm blieb die Geschichte der Menschheit noch ein Schlüssel zu allgemeingültigen Erkenntnissen über eben diese Menschheit; die totale Verschiedenheit der Menschen ersah er daraus nicht. Jede historische Epoche Herben Butterfield, Man on His Past. The Study of the History of Historical Scholarship, Cambridge 1955. 8 Giambattista Vico. Principi di una scienza nuova... 1725 (abgeändert 1730 und 1744); s. die deutsche (gekürzte) Ubersetzung der Passung von 1744: >Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker«, Reinbek 1966. * Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, in: Sämtliche Werke (künftig abgekürzt SW) V. Hrsg. Bernhard Suphan, Berlin 1891, S. 475-594.
V o m Nationalismus Herders zum Nationalismus der Befreiungskriege
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nimmt ihren Platz in den wiederkehrenden Zyklen (»corso« und »ricorso«) ein, aus denen die nach oben führende Spirale der Geschichte besteht. Nur in Herders Frühwerk von 1774 wird der Historismus in seiner radikalsten Form vertreten, nämlich die Auffassung, daß jedes Zeitalter in den ihm innewohnenden Wertbegriffen gesehen werden muß - daß es also weder Fortschritt noch Niedergang in der Geschichte gibt, sondern nur werthaltige Verschiedenheit. Wir haben uns im Einführungskapitel bemüht, eine spezifisch in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert vorherrschende Tradition der Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie von weiterreichenden geistigen Strömungen im übrigen Europa, die auch als eine Art von Historismus aufgefaßt werden können, zu unterscheiden. Es soll nun nicht versucht werden, die Ursprünge des Historismus als eines europäischen Phänomens aufzudecken; dieses Kapitel beschränkt sich auf die bescheidenere Aufgabe, den Umwandlungen des deutschen Geschichtsdenkens von dem kosmopolitischen, kulturell interessierten Nationalismus Herders im späten 18. Jahrhundert zu den nationalistischen, auf Macht ausgerichteten Voraussetzungen eines großen Teils der deutschen Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert nachzugehen. Eine Geschichte der Entstehung des Historismus im europäischen Denken des 17. und 18. Jahrhunderts muß erst noch geschrieben werden. Meinecke trug sich mit dieser Absicht in seiner >Entstehung des Historismus Die Entstehung des Historismus < und seiner Anwendung dieser ' Meillecke, W I I I , S.49 • Vgl. ebd., S. 504-325, über Goethes »negatives Verhältnis zur Geschichte«.
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Ideen bestehen verschiedene verwirrende Widersprüche. Einerseits vertritt Meinecke die Ansicht, Geschichte sei ein offener Prozeß; jede Einzelheit müsse an ihrem eigenen Wert gemessen werden und nicht als Teil eines vorherbestimmten größeren Vorgangs. Meineckes Ideengeschichte trägt jedoch eindeutig hegelianischen Charakter. Leibniz, Gottfried Arnold, Voltaire und Edmund Burke bilden nur Stufen auf dem Weg, den das Bewußtsein Europas bis zu seiner Vollendung in Goethes Idee der Individualität durchschreitet. Auffallend ist auch, daß Meinecke einerseits emphatisch darauf besteht, wie sehr Gedanke und Leben ineinander verschlungen sind, andererseits aber die Geschichte der Ideen vollständig von dem historisch-gesellschaftlichen Hintergrund, aus dem sie sich entwickelte und vor dem sie verläuft, abtrennt. Der durch den Verlauf der deutschen Politik seit dem Ersten Weltkrieg gründlich desillusionierte Meinecke deutete den Historismus als eine rein kulturelle Bewegung ohne politische Akzente. Der Zusammenhang zwischen der europäischen Geschichtsauffassung im 18. Jahrhundert (von Meinecke in >Die Entstehung des Historismus < behandelt) und der spezifisch deutschen Tradition politischen Denkens (die er nahezu dreißig Jahre früher in >Weltbürgertum und Nationalstaat«7 beschrieben hatte) blieb in diffusem Licht. Ein wesentlich umfassenderes und differenzierteres Bild der Verknüpfung von Ideen, Institutionen und politischen Kräften im historischen Denken des 18. Jahrhunderts hat Carlo Antoni entworfen8. Nach seiner Ansicht gab es keineswegs nur die eine Strömung des Historismus, sondern eine Reihe von Spielarten, die »sich alle zutiefst unterschieden je nach der nationalen Tradition, der sie angehörten«, und den politischen Zielen, die sie verfolgten®. In England, Frankreich, Italien, der Schweiz und auch in Deutschland erwachte im 18. Jahrhundert ein neues Interesse an der Vergangenheit. Dabei handelte es sich um eine ausgesprochen moderne Einstellung zur Geschichte, wie sie Antike, Mittelalter und Renaissance nicht gekannt hatten; sie »berücksichtigte den positiven Wert der Geschichte - verstanden als menschlicher Fortschritt in seiner immanenten, weltlichen und zeitgebundenen Wirklichkeit« 10 . ' Siehe Meincckc, W V. Siehe Antoni, Lo Storicismo, sowie: Der Kampf wider die Vernunft. 1 Antoni, Lo Storicismo, S. zo. "Ebd. 1
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Was diese neue Einstellung von weitergespannten Denkmodellen der Aufklärung unterschied, war die Ablehnung einer mechanistischen Weltanschauung und ihre Überzeugung, daß Geschichte keineswegs nur ein Sammelsurium von Mißständen und abergläubischen Gebräuchen war, sondern der Schlüssel, um den Menschen als gesellschaftliches und politisches Wesen zu begreifen. So verstanden ordnen sich - nach Antonis Meinung - Giambattista Vico und Edmund Burke ebenso wie Justus Moser und Johann Gottfried Herder in die Tradition des Historismus ein. Aus dieser Betonung der organischen Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart ergibt sich die Ablehnung der Bemühungen des aufgeklärten Absolutismus oder der Französischen Revolution, Regierung und Gesellschaft nach den Richtlinien einer zentralistischen Bürokratie und unter Mißachtung der Vielfalt traditioneller Einrichtungen zu ordnen. Der Konflikt zwischen dem modernen Staat, dem aufklärerischen Freiheitsbegriff und den überkommenen Institutionen fiel jedoch in England bei weitem nicht so dramatisch wie auf dem Kontinent aus. Das macht sich im Konservatismus eines Burke, der Veränderung und Fortschritt bei geschichtlich. gewachsenen Einrichtungen anerkannte, bemerkbar - ganz im Gegensatz zu der reaktionären Verherrlichung des Mittelalters oder gar des alten Germanentums bei manchen Denkern in der Schweiz und in Deutschland 11 . Die gesellschaftlichen und politischen Theorien des 19. Jahrhunderts gingen zum überwiegenden Teil davon aus, daß allein von seiner geschichtlichen Existenz her über den Menschen Einsichten gewonnen werden können 12 . Die hier erörterte deutsche Geschichtsauffassung unterschied sich jedoch grundlegend von anderen Formen des Historismus im 18. und 19. Jahrhundert, indem sie energisch auf der Einmaligkeit und Irrationalität der geschichtlich überkommenen Werte beharrte. Ihr charakteristisches Kernstück ist der von Meinecke hervorgehobene Begriff der Individualität. Nun scheint allerdings der Individualitätsbegriff, den Meinecke als entscheidend für den Historismus ansieht, weit weniger europäisch als vielmehr vorwiegend deutsch geprägt zu sein. 11 Zu frühen Äußerungen historistischen Denkens in der Schweiz und in Deutschland siehe Antoni, Der Kampf wider die Vernunft. 11 Zum allgemeinen Einfluß des Historismus und des historistischen Denkens überhaupt auf die Entwicklung der Sozial- und Kulturwissenschaften siehe Bruce Mazlish, The Riddle of History. The Great Speculators from Vico to Freud, New York 1966.
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Ernst Troeltsch hat auf die eigentümliche Wendung verwiesen, die Luther der Naturrcchtslehre gegeben hat. Nach Troeltsch hat diese Wendung die lutherische Ethik zutiefst von der katholischen und der kalvinistischen getrennt. Luther setzte an die Stelle einer rationalen Naturgesetzlichkeit eine irrationale, wobei er sich auf die Mahnung des hl. Paulus stützte, daß »es keine Gewalt außer von Gott« gibt; die bestehenden Gewalten sind »von Gott gesetzt« 13 . Jeder Staat vertritt den Willen Gottes und kann daher den völligen Gehorsam des Christen in allen zeitlichen Angelegenheiten verlangen. Vernunft äußert sich deshalb nicht in abstrakten moralischen Forderungen, sondern in geschichtlichen Einrichtungen. In den positiven Autoritäten manifestiert sich das Naturgesetz im Konkreten. Luthers politische und soziale Ethik ist also konservativ. Sein Gesellschaftsbegriff kennt keine Möglichkeit des echten Wandels. Eine ungleich dynamischere Auffassung der Individualität offenbart sich in der leibnizschen Monadologie, die Meinecke als eine wichtige Quelle des Historismus einschätzte. An die Stelle von Newtons Begriff der Natur - ein Mechanismus, dessen Teile untereinander austauschbar sind und der von abstrakten, auf mathematische Formeln reduzierbaren Gesetzen gesteuert wird - setzt Leibniz die Vision eines Kosmos, der erfüllt ist von in sich abgeschlossenen Einheiten; diese Monaden, deren jede einmalig ist, beziehen ihre Antriebskraft aus sich selbst und entwickeln sich gemäß den in ihnen selbst angelegten Gesetzen der Wandlung, wobei sie sich durchaus in Harmonie mit dem Ganzen befinden. Die scharfe Trennungslinie, die Descartes zwischen Vernunft und Unvernunft gezogen hatte, verflüchtigt sich bei Leibniz. »Nicht nur durch das lumen naturale der Vernunft, . . . sondern auch durch den Instinkt finden wir eingeborene Wahrheiten« 14 . Desgleichen schrumpft der deutliche Einschnitt, der im französischen und englischen Geistesleben zwischen Wissenschaft und Literatur besteht, zusammen. Der Begriff »Wissenschaft« umfaßt seit Leibniz einen viel weiteren Spielraum als der entsprechende Terminus »science« im Französischen oder Englischen. Der leibnizsche Entwurf für wissenschaftliche Akademien schloß nicht nur das Studium der " R o m . 1 3 , 1 . V g l . zum F o l g e n d e n Troeltsch, Soziallehren, i n : Gesammelte Schriften (künftig abgekürzt G S ) I , T ü b i n g e n 1 9 1 9 , insbes. S . 5 6 0 - 5 7 1 . " Meineclte, W i l l , S . 33.
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Natur, sondern auch der freien Künste mit ein 15 . Leibniz' Ideen, die sein Schüler Christian Wolff - ein nunmehr fast vergessener, aber einige Jahrzehnte lang in Deutschland führender Philosoph - systematisierte und popularisierte, bestimmten das geistige Klima der deutschen Aufklärungsepoche mit. Eine ebenso einflußreiche Rolle spielte der Anti-Intellektualismus der pietistischen Erneuerer. Gottfried Arnold und Johann Georg Hamann betonten den Zusammenhang von Vernunft und Leidenschaft; Hamann sah in der Geschichte »Chiffern, verborgene Zeichen« und »Hieroglyphen« Gottes 16 . Einen ähnlichen Glauben, daß die göttliche Weisheit in den einzigartigen historischen Institutionen ihren Ausdruck finde, kann man im Traditionalismus von Justus Moser erblicken. Dennoch handelte es sich dabei nur um vereinzelte Elemente einer Geschichtsauffassung. Erst Herder entwikkelte in >Auch eine Philosophie der Geschichte < ausgeprägte Grundzüge des Historismus, deren extreme Formulierung er dann in seinen späteren Werken abschwächte 17 . Die Grundlage für Herders Haltung bilden zwei Auffassungen, die für den gesamten Komplex des deutschen Historismus, wie er hier behandelt wird, ausschlaggebend blieben. Die erste Auffassung bezieht sich auf die Idee der Individualität. Herder geht im Gegensatz zur naturrechtlichen Philosophie davon aus, daß alle Wertbegriffe und alle Erkenntnisse geschichtsgebunden und individuell sind. »In gewissem Betracht ist also jede menschliche Vollkommenheit national, säkular und, am genauesten betrachtet, individuell.« 18 Geschichte ist unablässige Bewegung, doch gibt es im Strom der Geschichte relativ stabile Punkte, nämlich die Nationen. Sie leben, sie wachsen, sie haben ihre eigene Morphologie. Ihr Wesen ist nicht rational, sondern dynamisch und vital; sie sind Dinge an sich, nicht Mittel zum Zweck. Des Historikers Aufgabe ist es, sie zu ver"
V g l . dazu H o l b o r n , A H i s t o r y o f M o d e m G e r m a n y , 1 6 4 8 - 1 8 4 0 , I I , N e w Y o r k 1 9 6 4 , S . 1 J 5 .
11
Z i t i e r t n a c h R o y Pascal, D e r S t u r m u n d D r a n g , S t u t t g a r t 1 9 6 5 , S . i l 6 f .
"
S o w o h l M e i n e c k e i n : W I I ( v g l . S . 408, 4 2 j ) als a u c h R u d o l f S t a d e l m a n n i n : D e r H i s t o r i s c h e
S i n n bei H e r d e r , Halle 1 9 2 8 , b e t r a c h t e n >Auch eine P h i l o s o p h i e . . . < als d e n G i p f e l H e r d e r s c h e n G e s c h i c h t s d e n k e n s , w ä h r e n d sein späteres Interesse a m H u m a n i t ä t s i d e a l fiir sie »zu e i n e m R ü c k s c h r i t t e « ( M e i n e c k e , a . a . O . , S . 4 2 J ) w i r d . Siehe a u c h G . A . W e l l s , H e r d e r ' s D e t e r m i n i s m ,
in:
J o u r n a l o f the H i s t o r y o f Ideas 1 9 ( 1 9 J 8) S . i o j - 1 1 8 ( K r i t i k an M c i n e c k e s D e u t u n g ) ; d e r s . . H e r d e r ' s T w o Philosophies o f History, i n : J o u r n a l o f the History o f Ideas 2 1 (I960) S. J 2 7 - J 3 7 ; F . M . B a r n a r d , H e r d e r ' s T r e a t m e n t o f Causation a n d C o n t i n u i t y in H i s t o r y , i n : J o u r n a l o f t h e H i s t o r y o f Ideas 24 ( 1 9 6 3 ) S . 1 9 7 ( K r i t i k an S t a d e l m a n n ) . 18
H e r d e r , a . a . O . , S . J 0 9 ; zu H e r d e r s Individualitätsauffassung siehe a u c h L e o S p i t z , N a t u r a l
L a w a n d t h e T h e o r y o f H i s t o r y in H e r d e r , i n : J o u r n a l o f t h e H i s t o r y o f Ideas 1 6 ( 1 9 J J ) S . 4 J 3 - 4 7 8 , i n s b e s . S . 45 K t .
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stehen. Nationen sind wie einzelne Personen: sie besitzen eine Seele und ihnen ist eine Lebensspanne zugemessen. Sie stellen keine Ansammlung von Individuen dar; sie sind vielmehr Organismen 19 . Eine solche Vorstellung der Individualität läuft auf eine bestimmte Moral- und Erkenntnislehre hinaus sowie letztlich auf gewisse Folgerungen für die politische Theorie. Ihre Voraussetzung ist, daß es keine allgemeingültigen Wertbegriffe gibt; die Ethik kann demnach weder nach den Regeln der Vernunft noch auf der Voraussetzung einer gemeinsamen Menschennatur aufgebaut werden. Alle Wertbegriffe entstammen vielmehr dem Geist der Völker. Herder wandte sich tatsächlich nicht nur gegen die Anwendung aufklärerischer Maßstäbe bei anderen Kulturen und Epochen, sondern warnte auch - im Gegensatz zu späteren Autoren im 19. Jahrhundert vor einer auf Europa konzentrierten Geschichtsauffassung 20 . Seine Vorstellung von der Nation als der Quelle aller Wahrheit bedeutete, daß es keine objektiven Kriterien für die Wahrheit geben konnte. Obzwar er diese extreme Einstellung späterhin modifizierte, war sie doch dem Historismus stets zu eigen. Herder leugnete - scharf ausgedrückt - die Möglichkeit einer objektiven Geschichtsmethode. Dem Menschen war es nicht nur verwehrt, außerhalb des Geschichtsablaufs Halt zu finden, sondern die Geschichte mußte, insoweit sie ein organisches Dahinfluten darstellte, mit anderen Methoden als dem von Herder »mechanistisch« genannten Geist der modernen Philosophie ergründet werden 21 . Die Vernunft verstand das Leben nicht; sie versuchte nur leblose Begriffe zu konstruieren. Geschichte war allein mittels Einfühlung zu verstehen 22 . Es wurde zweifelsohne sehr schwierig, die Grenzlinie zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen Gut und Böse zu ziehen. Herder stellte die Frage nach dem Sinn des Vorurteils und war der Ansicht, das sogenannte Vorurteil, das möglicherweise nur den Ausdruck des nationalen Geistes auf einer frühen Entwicklungsstufe bilde, sei » g u t . . . , denn es macht glücklich. E s drängt Völker zu ihrem Mittelpunkte zusammen«. Um" Vgl. Herder, a . a . O . , S. J09; vgl. auch Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S W X I V , S. 8. Vgl. ferner Stadelmann, a. a. O., S. 47; Robert Reushold Ergang, Herder and the Foundations of German Nationalism, New Y o r k 1 9 3 1 ; Royal I. Schmidt, Cultural Nationalismin Herder, in: Journal of the History of Ideas 17 («956) S. 407-417. " Vgl. Herder, SW V , S. 484fr.,insbes. S. 489-491. « Vgl.ebd.,S.j35,j,7. " Vgl. ebd., S. 501 f., 537, 54»-
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gekehrt könnten Objektivität und Vernünftigkeit die Anzeichen nationaler Auflösung, die Symptome von »Krankheit« und »Ahndung des Todes« sein23. Obwohl Herder in politischer Hinsicht die zeitgenössischen Forderungen nach Liberalisierung des Staates unterstützte und den Beginn der Französischen Revolution mit Sympathie und Interesse begrüßte 21 , untergrub seine Geschichtsauffassung unbezweifelbar die gedanklichen Grundlagen des klassischen Liberalismus. Herders Vorstellungen von Wahrheit und Wertbegriffen waren mit der Naturrechtslehre oder der Auffassung vom Gesellschaftsvertrag unvereinbar25. Ausschlaggebend in Herders Geschichtsphilosophie war ferner die Auffassung, Geschichte sei ein gutartiger Prozeß eine Idee, die für den gesamten hier behandelten Historismus charakteristisch ist. Im 20. Jahrhundert haben deutsche Historiker mehr oder weniger darauf beharrt, der Historismus bedeute die Ablehnung der Fortschrittsidee. Dies galt nur in dem Sinn, daß der Historismus jegliches einlinige Voranschreiten der Geschichte oder die historische Entwicklung nach einem Schema leugnete. Andererseits dachte jedoch der deutsche Historismus wesentlich optimistischer über den Sinngehalt der Geschichte als sogar die Anhänger der klassischen Fortschrittsidee. Die Fortschrittstheorien können entweder davon ausgehen, daß die Vorwärtsbewegung der Menschheit unvermeidlich ist und der Geschichtsprozeß unbedingt aufwärts verläuft (Hegel, Saint-Simon, Marx, Comte) oder daß der Mensch vervollkommnet werden kann und der Fortschritt möglich ist, wenn in allen menschlichen Einrichtungen die Vernunft zur Geltung kommt. Jede dieser Einstellungen, insbesondere die zweite (keine der Einstellungen schließt die andere notwendigerweise aus), gibt den irrationalen Charakter der bestehenden Welt zu - den Konflikt zwischen der Welt, wie sie sein sollte und vielleicht eines Tages sein wird, und der Welt, wie sie ist. Insofern gehört die Fortschrittsidee noch zur Tradition der Lehre vom natürlichen Gesetz. Der deutsche Historismus » E b d . , S . ;io. s4 Vgl.Reinhold Aris,History ofPoliticalThought in Germanyfrom 178910 1815,London 1936; Jacques Droz, L'Allemagne et la Révolution Française, Paris 1949; Wilhelm Dobbeck, Johann Gottfried Heeder, Weimar 1950, S. 129; F. M. Barnard, Herder's Social and Political Thought. From Enlightenment to Nationalism, Oxford 196}. ** Siehe - im Gegensatz zu Herders späterer Bejahung der Französischen Revolution - seine wiederholte Verurteilung der politischen Ideale der Aufklärung in ! Auch eine Philosophie (, insbes. seinen Angriff auf »Freiheit, Geselligkeit und Gleichheit«, a.a. O., S. 576 ; auf »Freigeisterei«, ebd., S. 579; auf die Aufklärungsphilosophie, ebd., S. j 58, 55$.
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geht jedoch davon aus, daß alles, was natürlich oder geschichtlich gewachsen ist, gut sei. »Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich.« 26 Die Geschichte liefert die echten Maßstäbe. Eindeutig sind in dieser Auffassung die Wurzeln des Relativismus enthalten, da sie voraussetzt, daß Erkenntnisse und Wertbegriffe an konkrete kulturelle und historische Größen gebunden sind. Eine derartige Vorstellung konnte die Anarchie der Werte ermöglichen 27 . Herders Historismus beruht auf dem festen Glauben, daß ein gottgegebener Zweck in der Geschichte waltet: »Die Vorsehung leitete den Faden der Entwicklung weiter.« 28 Die ganze Natur, die ganze Geschichte widerspiegelt Gott. Herder vergleicht die Geschichte mit einem Strom, der zum Ozean fließt, oder mit einem wachsenden Baum. Die Geschichte ist von Sinngehalt erfüllt; sie ist der »Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden, wenn wir gleich nicht die letzte Absicht sehen sollten«29. Für Herder existiert grundsätzlich noch der Begriff der Menschheit. Der Sinn der Geschichte offenbart sich jedoch nicht in Ereignissen, die auf einen vernünftigen Zweck ausgerichtet sind, sondern in der Vielfalt der Wege, auf denen der menschliche Geist sich selbst in der Verschiedenheit der Völker ausdrückt. Wahres, Gutes und Schönes ist nicht in einem zu fassen, sondern in vielem. Die Werte sind nur durch die Geschichte zu erfahren und offenbaren sich allein im nationalen Geist. Für Herder sind echte Dichtung und echte Kunst stets volks- und geschichtsgebunden. Deshalb war er mit der Sammlung und Übersetzung seiner großangelegten Anthologie der Volksdichtung beschäftigt. Die Geschichte wurde ihm - wie einem Großteil der Deutschen im 19. Jahrhundert - zum Eckpfeilcr echter Bildung. Einer solchen Auffassung ist die Annahme selbstverständlich, daß jegliche Philosophie von Bedeutung zu einer Geschichte der Philosophie und jegliche Theologie zur Geschichte der Theologie werden müsse. Herder hatte in >Auch eine Philosophie der Geschichte < die Grundlagen für einen Historismus geschaffen, der weit über die Grenzen Deutschlands hinaus sich verbreitete. Seine Theorie wirkte unmittelbar am Erwachen des geschichtlichen Interesses mit. Seine Schriften wurden in slawische Sprachen, " Herder, a.a.O., S. 509. Vgl. Meioecke, a.a.O., S. 579. " Herder, a.a.O., S. 4(17. » Ebd., S. 5 1 } ; Tgl. auch ebd., S. j j8 f.
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ins Französische und ins Englische übersetzt. Seine Ideen verschmolzen mit der breiten Flut romantischer Gedanken, um die Lehren der Aufklärung überall in Europa in Frage zu stellen; dabei hatte sich der Historismus noch keineswegs vollständig herauskristallisiert. Zwar hatte Herder die griffigste Formel des Historismus geliefert, doch fehlten verschiedene wichtige Begriffe, die in der deutschen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts eine hervorragende Rolle spielen sollten, oder er hatte sie erst im Ansatz entworfen. Zudem verkörperte der Historismus durchaus nicht die vorherrschende geistige Haltung des späten 18. Jahrhunderts in Deutschland; von ihm ging auch nicht allein der Zweifel am Glauben der Aufklärung an die menschliche Vernünftigkeit aus. Die gewichtigen Strömungen des Pietismus und des Traditionalismus wurden schon erwähnt. Von Bedeutung für den Übergang von der Naturrechtslehre zum Historismus waren zwei Ideenkomplexe, die in vielerlei Hinsicht aufklärerischen Bestrebungen verhaftet waren, dennoch aber zur Modifizierung und Vervollständigung des Historismus beitrugen. Es handelt sich um das Humanitätsideal, das für den Begriff der Persönlichkeit bestimmend wurde, und um die Philosophie des Deutschen Idealismus, die sich der Ausformung des Identitätsbegriffes widmete, eines zentralen Bestandteils der Historismusgläubigkeit. Das Humanitätsideal ist schwer in den Griff zu bekommen, da es ungemein eng mit den Persönlichkeiten der kleinen Schar bedeutender, schöpferischer Denker, die ihm Ausdruck verliehen, verbunden ist - mit Goethe, Herder, Winckelmann, Schiller und Wilhelm von Humboldt, von denen jeder eine andere, persönlich geprägte Form hinterließ30. Es bezieht einen erheblichen Teil seines ursprünglichen Gehaltes von Winckelmanns Studien über die klassische griechische Kunst und von Herders >Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit Reden an die deutsche Nation < die Deutschen als ein ursprüngliches Volk bezeichnen, das nicht wie andere (etwa die Franzosen) die Verbindung mit dem durch die Sprache vermittelten Volksgeist eingebüßt hätte. Die Franzosen waren darum ein seichtes Volk geworden, dem, wie Humboldt 1814 schrieb, »das Streben nach dem Göttlichen fehlt«45. Der Nationalismus war kein einigendes Band mehr; er schied. In der dichterischen Beschreibung des Kriegs winters 1812/13 durch Ernst Moritz Arndt war des Deutschen Vaterland dort, »wo jeder Franzmann heißet Feind, wo jeder Deutsche heißet Freund«46. 3. Schließlich nahm der Staat einen ganz anderen Platz ein. Herder schrieb 1784: »Noch weniger ist's begreiflich, wie der Mensch also für den Staat gemacht sein soll.« Ihm erschien der Staat als eine »wohl eingerichtete Maschine«, die dem Glück des Menschen von Nachteil war47. Ganz ähnlich trat Humboldt 1792 für die Einschränkung der Staatsmacht ein. Die bürgerliche Gesellschaft konnte nach seiner Meinung selbst für das Nötige sorgen. Der Staat, den Herder und er für einen mechanischen Apparat ohne rechte Bande zur Gesellschaft hielten, engte die freie Entwicklung des Individuums ein, sobald er über seine notwendige Aufgabe, die Ordnung aufrechtzuerhalten, hinausging. Wie Herder und Schiller hielt er Deutschland eher für eine kulturelle als eine politische Größe. 1813 jedoch scheute er nicht vor der Behauptung zurück: »Eine Nation, Ein Volk, Ein Staat bleiben.«48 Ebenso sprach im Jahr 1800 Fichte, der 1794 geschrieben hatte, »der Zweck aller Re44
Herder, B r i e f e zur B e f ö r d e r u n g der Humanität, i n : S W X V I I , S . 3 1 9 . Zitiert nach Siegfried A . Kaehler, Wilhelm v o n H u m b o l d t und der Staat, München-Berlin 1927, S . 270 ( N e u d r u c k G ö t t i n g e n 1 9 6 3 ) ; v g l . a u c h : Wilhelm und Caroline v o n H u m b o l d t in ihren B r i e f e n I V , H r s g . A n n a v o n S y d o w , Berlin 1 9 1 0 , S . 308 if. 44 E r n s t Morirz A r n d t , D e s Deutschen Vaterland, i n : Deutsche Literatur, Reihe Politische D i c h t u n g I I , H r s g . R o b e r t F . A r n o l d , L e i p z i g 1 9 3 2 , S. 136. 46
" Herder, Ideen zur Philosophie. , , i n : S W X I I I , S . 340. V g l . dazu S u d e l m a n n , a . a . O . , S . 1 1 3 ; Schultz, a . a . O . I , S . 1 7 9 - 1 8 1 ; E r g a n g , a . a . O . , S . 2 4 2 - 2 4 4 . * ' H u m b o l d t , D e n k s c h r i f t . . . , a . a . O . , S . 98.
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Die Wurzeln des deutschen Historismus
gierung« sei es, »die Regierung überflüssig zu machen« 49 , in >Der geschlossne Handelsstaat < dem Staat weitreichende wirtschaftliche Aufgaben zu60. In seinen >Reden an die deutsche Nation < beförderte er den Staat zum sittlichen und religiösen Erzieher des deutschen Volkes 5 1 . Zudem wurde der Staat in zunehmendem Maß aus machtpolitischem Blickwinkel gesehen, etwa in Humboldts berühmter >Denkschrift über die deutsche Verfassung< von 1 8 1 3 . Fichte wies in seiner Machiavelli-Schrift von 1807 darauf hin, daß es in den Beziehungen zwischen Staaten »weder Gesetz noch Recht, außer dem Rechte des Stärkern« gebe. Diese Bedingung erhebe den Fürsten, der für die Interessen des Volkes verantwortlich sei, »in eine höhere sittliche Ordnung, deren materieller Inhalt enthalten ist in den Worten: Salus et decus populi suprema lex esto« 52 . Daraus folgt, daß der Staat bei der Wahrung seiner Interessen nicht nur eine höhere Sittlichkeit beanspruchen kann als die private, sondern daß er auch mit dem eigentlichen Sinn der Geschichte übereinstimmt. In ihrer schärfsten Ausprägung erscheint diese Auffassung von der Identität von Staatsräson und Weltordnung wohl in Hegels >Philosophie des Rechts« von 1820. »Die Prinzipien der Volksgeister«, schreibt Hegel, »sind um ihrer Besonderheit willen, in der sie als existierende Individuen ihre objektive Wirklichkeit und ihr Selbstbewußtsein haben, überhaupt beschränkte, und ihre Schicksale und Taten in ihrem Verhältnisse zueinander sind die erscheinende Dialektik der Endlichkeit dieser Geister, aus welcher der allgemeine Geist, der Geist der Welt, als unbeschränkt ebenso sich hervorbringt, als er es ist, der sein Recht - und sein Recht ist das allerhöchste - an ihnen in der Weltgeschichte, als dem Weltgerichte, ausübt.« 53 Obzwar eine solche Ansicht, wonach die Streitigkeiten zwischen den einzelnen Nationen Teil einer kosmischen Vernunftdialektik sind, dem Historismus prinzipiell entgegensteht, übernahm sogar Ranke, der jegliche Schematisierung der Geschichte ablehnte, die Idee, daß die Sieger in einem Konflikt im allgemeinen die sittlich überlegene Nation verkörperten. Johann Gottlieb Fichte, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: Werke I, Hrsg. Fritz Medicus, Leipzig 1911, S. 234. iJ Fichte, Der geschlossne Handelsstaat, in: Werke III, S. 417-543. 61 Fichte, Reden an die deutsche Nation, in: Werke V S. 3j6-6io. " Fichte, Machiavell, Hrsg. Hans Schulz, Leipzig 1918 (Philosophische Bibliothek, Bd. 163), S.27f. " Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Sämtliche Werke VII, S. 446.
Vom Nationalismus Herders zum Nationalismus der Befreiungskriege
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Der Historismus hatte demnach im Verlauf der revolutionären und napoleonischen Kriege nicht nur an Einfluß auf die gebildete Schicht gewonnen, sondern auch sein Wesen verändert. Die ästhetische, kulturell bestimmte Einstellung zu nationalen Phänomenen wich Schritt um Schritt vor dem Ideal des Nationalstaates zurück. Der Individualitätsbegriff, den Goethe und Humboldt noch auf die Einmaligkeit der Persönlichkeiten beschränkt hatten, wurde nun in erster Linie auf Kollektivgrößen angewandt. Der historische Optimismus Herders, der im Strom der Geschichte einen verborgenen Sinn gesehen hatte, war durch die noch optimistischere Identitätsidee ersetzt worden, die Vorstellung nämlich, der Staat, der seine machtpolitischen Interessen wahre, handle gemäß einem höheren Ethos. Zudem nahm eine dritte Idee, die dem frühen Historismus unbekannt gewesen war, jetzt einen wichtigen Platz in seinem Lehrsystem ein: die Auffassung vom Primat des Staates gegenüber Volk und Gesellschaft. Während der Befreiungskriege und in erhöhtem Maße nach 1815 wurden die politischen Interessen der Nation immer mehr mit den machtpolitischen Zielen des preußischen Staates gleichgesetzt. Diese drei Ideenkomplexe wirkten zurBegründung eines Großteils der theoretischen Voraussetzungen der deutschen Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert zusammen.
I I I . D A S T H E O R E T I S C H E F U N D A M E N T DES DEUTSCHEN HISTORISMUS I W I L H E L M VON
HUMBOLDT
I.
Da die Persönlichkeit Wilhelm von Humboldts einmalig und vielschichtig war 1 , läßt sich seine innere Entwicklung keineswegs als typisch für die zu seiner Zeit um sich greifenden Veränderungen im geistigen Klima Deutschlands verstehen. In Humboldts Leben und Denken gibt es jedoch gewisse Aspekte, die für diese Umschichtungen höchst bezeichnend sind. Als Aristokrat, Kosmopolit, Freund Goethes und vor allem Schillers, mit dem er über tausend Briefe wechselte2, bekannte sich Humboldt am Vorabend des Eindringens des revolutionären Frankreich in Deutschland ganz und gat zum Humanitätsideal. In seiner Tätigkeit als Staatsmann der preußischen Reform-Ära unter Stein und Hardenberg (nach 1809) gehörte Humboldt dem neuen Liberalismus an, der während des Kampfes gegen Napoleon nationale Faktoren gegen die Ideen von 1789 ins Feld führte. Nun bedeutete ihm die deutsche Nation nicht länger mehr eine vornehmlich kulturelle Größe, sondern eine politische Macht3. Das Leben Humboldts ist von dem Faden der kosmopolitisch-humanistischen Ideale seiner Jugend durchzogen, ebenso aber geprägt von der schwungvollen Hinwendung zu den neuen nationalen Anschauungen. Die ersten politischen Schriften Humboldts waren von der Französischen Revolution angeregt. Er hatte Paris während der entscheidenden Monate des Jahres 1789 besucht4 und die französische Entwicklung wesentlich besonnener als viele andere Deutsche eingeschätzt, die - wie sein Freund Friedrich Gentz - die Umwälzung zunächst mit geradezu überschäumen1 Siehe die Darstellungen Ton Bruno Gebhardt, Wilhelm Ton Humboldt als Staatsmann^ 2 Bde.» Stuttgart 1896-1899; Eduard Spranger, Wilhelm Ton Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909; Wacfi (s. o. Anm. I, 20), insbes. Die hermeneutischen Lehren Wilhelm Ton Humboldts, in: I,Kap. IV, S. 227-266; Kaehler(s. o. Anm. II, 4j); Friedrich Schaffstein, Wilhelm Ton Humboldt. Ein Lebensbild, Frankfurt 1952. * Vgl. Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt, Hrsg. Albert Leitzmami, Berlin 1900. ' V g l . Kaehler, a.a.O. * Zur Beschreibung Ton Humboldts Reise nach Paris siehe sein>Tagebuch der Reise nach Paria und der Schweiz«, in: GS XIV, S. 76-236. Vgl. dazu G . P . Gooch, Gertnany and the Fiench ReTolution, London 1920, S. 91-118.
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der Begeisterung begrüßt hatten, um sich dann desto heftiger gegen sie zu wenden. Vordergründig gesehen konzipiert seine Schrift >Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen < (1791) - oftmals als das klassische Werk des deutschen Liberalismus betrachtet - einen den Vorstellungen des orthodoxen Liberalismus seit Locke recht nahestehenden Staat, der nicht Selbstzweck ist, sondern »ein untergeordnetes Mittel, welchem der wahre Zweck, der Mensch, nicht aufgeopfert werden darf«5. Sein Sinn besteht im Schutz der vollsten Freiheit aller Individuen; seine Aufgaben sind auf das absolute Minimum zu reduzieren, das nötig ist, um die Rechte des Individuums gegen Verletzungen von innen zu schützen und seine Sicherheit gegen Bedrohungen von außen zu garantieren6. Indem Humboldt die totalitäre Forderung zurückweist, der Staat habe sich um das Glück seiner Bürger zu kümmern, verweigert er dem Staat alle positiven Funktionen, auch auf erzieherischem, religiösem oder sittlichem Feld7. Zwar gibt er zu, daß sowohl diese wie andere Bereiche für die Gesellschaft von Bedeutung seien, doch sollten für sie freiwillige Zusammenschlüsse und nicht der Staat zuständig sein. Der Staat darf, wie Humboldt warnt, nicht mit dem »Nationalverein« - der bürgerlichen Gesellschaft - gleichgesetzt werden. Der Staat ist durch Zwang und Machtansammlung gekennzeichnet, die bürgerliche Gesellschaft besteht dagegen aus einer Vielzahl von Gruppen, die der freien Wahl der Individuen entspringen und der Veränderung unterworfen sind8. Nach Humboldts Ansicht bewahren und begünstigen nicht die staatlichen, sondern die selbstgeschaffenen Einrichtungen einer freien Gesellschaft die Werte der Kultur. Staat und bürgerliche Gesellschaft bedürfen deshalb einer klaren Scheidelinie, die den Staat von der Einmischung ins Privatleben seiner Bürger abhält. Voraussetzung dafür ist ein Staat, dessen dauerhafte Gesetze die Rechte der Privatperson vor Beschneidungen amtlicherseits sichern. Die theoretischen Grundlagen, auf denen Humboldt seine Staatsauffassung aufbaut, unterscheiden sich jedoch erheblich von denen des klassischen Liberalismus, der in seiner Lehre vom Naturgesetz die individuellen Freiheiten zu rechtfertigen gesucht hatte. Für diese Theorie bildete die Fähigkeit, zu den• • ' •
Humboldt. Ideen zu einem V e r s u c h . . . , a.a.O., S. 1S0; Tgl. ebd., S. 143. Vgl. ebd., S. 126. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 256.
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ken und so die vernünftige Beschaffenheit der Welt und der Moral zu begreifen, die Basis der Humanität. Der klassische Liberalismus verstand die individuellen Rcchte als abstrakte, allgemeingültige Prinzipien; für ihn war dasjenige wesenhaft human, was den Menschen allgemein und in gleicher Weise eigen war. Für Humboldt jedoch, der wie Goethe, Schiller und Herder dem Humanitätsideal der deutschen Klassik anhing, bedeutete es das Wesen der Humanität, daß jeder Mensch seine ihm eigene, einmalige Individualität bis zur Vollendung entwickeln könne. Teilten die genannten Männer auch den Glaubenssatz der Aufklärung von der dem Menschen eigenen Würde, so waren sie doch der Ansicht, diese Würde müsse als dynamisch im Sinne individuellen Wachstums verstanden werden. Während sie anerkannten, daß die Würde und die Bestimmung des Menschen von der Natur der Dinge oder von der Vernunft umrissen seien, lehnten sie dennoch den Gedanken ab, die Vernunft diktiere klare Regeln für die Entwicklung des Menschen. Sein Wachstum müsse vielmehr aus der inneren Natur seiner jeweiligen Individualität folgen. Freiheit von staatlicher Einmischung war notwendig; denn »der wahre Zweck des Menschen - nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt - ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen« 9 . Diese Bildung war aber nur möglich, wenn der Staat sich nicht in den natürlichen Prozeß einmengte. Das Individuum war ein lebender Organismus, der Staat ein mechanisches Werkzeug; er könnte mittels der Gesetzgebung dem naturgemäßen Wachstum äußerliche Hindernisse in den Weg legen 10 . Wie Humboldt eingestand, lebte der Mensch nicht in einem Vakuum; im Gegensatz zum Staat war deshalb die Gesellschaft naturgemäß und für das Individuum, das seine »Eigentümlichkeit« entfaltete, notwendig 11 . E r setzte voraus, daß zwischen den sich entfaltenden Individualitäten grundsätzliche Harmonie herrschte, und erblickte nicht in der Gesellschaft als solcher - anders als im Staat - eine echte Quelle von Zwängen. Wenn die Funktionen des Staates • Ebd., S. 106. 10 Vgl. ebd., S. 126f. Interessanterweise ist der Staat in den Augen Humboldts etwas Mechanisches. Organistische Staatsauffassungen tilgten die Grenzlinie zwischen Staat und Gesellschaft aus, sprachen dem Staat eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu und hielten den liberalen Staat für mechanisch. Für Humboldt waren zu diesem Zeitpunkt alle Staaten künstlich, nicht organisch mit der Gesellschaft verbunden; durch ihre Einmischung in die Gesellschaft drohten sie, die Menschen zu Maschinen zu machen. 11 Vgl. ebd., S. 106.
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tatsächlich auf ein Minimum reduziert wären, dann würde seiner Meinung nach das »höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen« erreicht sein, in dem »jedes nur aus sich selbst, und um seiner selbst willen sich entwickelte«12. Eine solche Auffassung der Individualität scheint sich mit dem Gleichheitsbegriff im klassischen Sinne kaum zu vertragen. Es fehlen auch gewisse Elemente der klassischen liberalen Ideen. Man findet weder einen Hinweis auf Regierung durch Zustimmung noch auf irgendein abgewogenes System zur Kontrolle der staatlichen Macht. Da Humboldt den Staat eben als eine in sich geschlossene »absolute Gewalt« 13 begreift und das repräsentative Prinzip ablehnt, tritt er dafür ein, die Aufgaben des Staates auf das bloße Minimum der Sicherheitsgewährung zu beschränken. Aufgrund des Zwangscharakters des Staates müssen die positiven sozialen Funktionen freiwilligen Zusammenschlüssen überlassen sein. Würden dem Staat positive Funktionen übertragen, dann würde das - so behauptet Humboldt - der Zustimmung jedes Individuums bedürfen was von dem Mehrheitswillen der Repräsentativorgane sehr verschieden ist14. Die >Grenzen der Wirksamkeit des Staats < sind als eine theoretische Verurteilung des paternalistischen Wohlfahrtsstaates zu verstehen, vor allem im Hinblick auf den Poli^eistaat des aufgeklärten Absolutismus, aber grundsätzlich auch des revolutionären Staates. Dagegen läuft die Schrift keinesfalls auf eine Ablehnung der Monarchie - nicht einmal der absoluten Monarchie - hinaus. Wie Siegfried Kaehler in seiner politischen Biographie Wilhelm von Humboldts gezeigt hat 15 , bezieht sich Humboldts Bejahung der Französischen Revolution nur auf die Freiheitsidee. Bereits 1789 betrachtete er die Gleichheitsbestrebungen der Revolution mit Mißtrauen. In seinem Tagebuch verurteilt er die Beschlüsse der Nacht des 4. August, mit denen die Feudalrechte in Frankreich abgeschafft wurden, »da eine Zahl meistenteils armer Adliger weggaben, was den reichen gehörte«. Einem begeisterten Anhänger der Revolution schreibt er: »Ich sagte, daß die Deputierten gar nicht zu Entsagungen [der Privilegien] bevollmächtigt gewesen wären, daß " Ebd., S. 109. Ebd.. S. Humboldt schreibt dem Staat »absolute Gewalt« zu und sieht als wesendich für den StaatsbegrifT die »widerspruchslose Macht« an; vgl. die Erörterung bei Kaehler. a.a.O., S. 141-144. 14 Vgl. ebd., S. i 3 i f . u Vgl. Kaehler, a.a.O., S. 132. 11
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die Entsagung selbst zu schnell geschehen sei, und gar keine nützlichen, sondern vielmehr schädliche Folgen gehabt habe, da durch sie die chimärischen Ideen von Gleichheit genährt worden seien.«16 Vielleicht weit mehr noch wird der Gegensatz zu den klassischen liberalen Idealen an Humboldts Verherrlichung des Krieges in seinen >Grenzen der Wirksamkeit des Staats < sichtbar. Auch Kant hatte den positiven Aspekten des Krieges Tribut gezollt17. Nach seiner Ansicht hatten Kriege und Spannungen den menschlichen Tätigkeitsdrang angespornt und die Entwicklung zu einer bürgerlichen Gesellschaft auf vernünftiger Grundlage, in der Kriege abgeschafft waren, beschleunigt. Für Humboldt jedoch stellte der Krieg selbst ein begrüßenswertes Ziel dar, ein bleibendes Kennzeichen menschlicher Gesellschaft, »eine der heilsamsten Erscheinungen zur Bildung des Menschengeschlechts«18. Mit Bedauern sah er die Bedeutung des Krieges in der modernen Welt schwinden, da er des Glaubens war, einen Ersatz dafür gebe es nicht. Der Krieg ist es, »welcher allein der ganzen Gestalt die Stärke und Mannigfaltigkeit gibt, ohne welche Leichtigkeit Schwäche, und Einheit Leere ist«18. Stehende Armeen müssen abgeschafft werden, allerdings nicht um die kriegerische Gesinnung zu dämpfen, sondern um sie über die ganze Nation zu verbreiten, allen »den Geist wahrer Krieger, oder vielmehr edler Bürger ein[zu]hauchen, welche für ihr Vaterland zu fechten immer bereit sind«20. Zweifellos ist diese Bejahung des Krieges auf Humboldts ablehnende Haltung gegenüber dem »Eudämonismus« zurückzuführen, gemäß der er persönliches Wohlergehen nicht als höchstes sittliches Gut anerkennt. Die Wendung gegen den »Eudämonismus« steht im Mittelpunkt des Denkens bei allen herausragenden Gestalten der deutschen Historikertradition von Humboldt bis Meinecke und des deutschen Idealismus von Kant bis zu den Hegelianern. »Glückseligkeit und Genuß«, stellt Humboldt fest, sind »immer weit von der Würde des Menschen entfernt... Der Mensch genießt am meisten in den Momenten, in welchen er sich in dem höchsten Grade seiner Kraft und seiner Einheit fühlt. Freilich ist er auch dann dem 14
" " " »
Humboldt, Brief vom i. November 1789 aus Lausanne, in: GS XIV, S. 221. Vgl. Kant (s. o. Anm.II, 35). Humboldt, GS I, S. 136. Ebd. Ebd., S. 140.
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höchsten Elend am nächsten.«21 Für Humboldt findet sich das höchste sittliche Gut noch in der Entfaltung der Individualität und Einmaligkeit eines jeden Menschen. Die höheren Werte jedoch, die sich an die Stelle persönlicher Glückseligkeit als des höchsten Gutes drängen, konnten ohne weiteres - wie auch später seitens der Vertreter des deutschen Historismus und Idealismus geschehen - im Sinne einer Unterordnung des Wohlergehens der größtmöglichen Zahl von Individuen unter die geschichtliche Bestimmung der Gemeinschaft gedeutet werden. Konnte in einem solchen Fall der in seinen Befugnissen beschränkte Staat, wie ihn Humboldt in seinen >Gren2en der Wirksamkeit des Staats < vorzeichnete, tatsächlich realisiert werden? Das wirft die Frage auf, ob der Mensch seine politische Einstellung wesentlich zu verändern vermag oder ob er ausschließlich innerhalb des Rahmens historischer Institutionen wirken muß. Im letzten Kapitel seines Buches, worin er die Übertragung der Theorie auf die Praxis behandelt, setzt sich Humboldt mit dieser Frage auseinander und entwickelt eine Theorie des sozialen Wandels. Gemäß dem klassischen Liberalismus konnte die Gesellschaft mittels Übertragung der Theorie auf die soziale Realität tatsächlich verändert werden. Ohne nun die Bedeutung von Ideen ganz zu leugnen, weist Humboldt auf die Grenzen solchen Bestrebens hin. Nach seiner Meinung kann ein Wandel nur innerhalb einer konkreten historischen und sozialen Lage stattfinden; deshalb ist die Übertragung von Theorien auf Gesellschaften nur innerhalb sehr enger Grenzen möglich. Jede Lage, in der sich der Mensch befindet, besitzt eine bestimmte innere Struktur oder Form, die nicht in eine selbstgewählte verändert werden kann. Wandel ist zwar möglich, erfordert aber eine vorausgehende Änderung der Meinungen und Haltungen. Ohne die bestehende Ordnung der Dinge zu zerstören, kann man die Umwandlung vorbereiten, indem man auf die Vorstellungen der Menschen einwirkt und sie in eine Richtung weist, die mit dem status quo nicht mehr übereinstimmt. Jedes andere Vorgehen würde den natürlichen Lauf der menschlichen Entwicklung stören22 und verheerende Folgen nach sich ziehen. Diese Betonung der Rolle der »reinen Theorie« in der Ge11 Ebd.. S. 126, vgl. Über den Geist der Menschheit, a. a.O. II. S. 32J. Vgl. ferner Rantzau (s.o. Anm.II, 36). " Vgl. ebd., S. 239.
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setzgebung scheidet Humboldt scharf von dem Historismus eines Savigny. Obwohl er die historischen Realitäten anerkennt, behauptet Humboldt, »daß das natürliche und allgemeine Recht die einzige Grundlage alles übrigen positiven ist, und daß daher auf dieses allemal zurückgegangen werden muß, daß folglich, um einen Rechtssatz anzuführen, welcher gleichsam der Quell aller übrigen ist, niemand, jemals und auf irgendeine Weise ein Recht erlangen kann, mit den Kräften oder dem Vermögen eines andren, ohne oder gegen dessen Einwilligung zu schalten«23. Humboldts Versicherung, ein derartiges transzendentes Recht existiere, läßt selbstverständlich auf seine Erkenntnis schließen, daß keineswegs alle Institutionen gemäß dieser übergeschichtlichen Norm funktionieren. Darauf deutet auch schon der Umstand hin, daß Humboldt ein Buch über die Theorie eines utopischen Staates schrieb. Widerspricht aber diese Erkenntnis eines »natürlichen und universalen Gesetzes« nicht Humboldts Überzeugung, das Individuum solle allein an den ihm eigenen Maßstäben und nicht durch äußerliche, abstrakte Normen gemessen werden? Humboldt stimmt mit den Exponenten der Französischen Revolution in dem Punkt überein, daß der Staat »den wirklichen Zustand der Dinge« möglichst der »richtigen und wahren Theorie« anzunähern habe. Diese Annäherung ist jedoch nur insoweit möglich, als die »wahre Notwendigkeit« in ihrem Lauf nicht gestört wird. Die Möglichkeit der Veränderung »beruht darauf, daß die Menschen empfänglich genug für die Freiheit sind, welche die Theorie allemal lehrt, daß diese die heilsamen Folgen äußern kann, welche sie an sich, ohne entgegenstehende Hindernisse, immer begleiten«24. Die »Möglichkeit« der Realisierung der Theorie wird freilich von der »Notwendigkeit« eingeschränkt. Humboldt, der zweifelsohne die Entwicklungen in Frankreich vor Augen hat, warnt davor, die »Notwendigkeit« bei der Durchführung sozialer Reformen außer acht zu lassen, da dies zur Zerstörung der eigentlichen Vorteile der Reformen führen würde. Was bleibt von der Theorie und vom »universalen, natürlichen Gesetz« angesichts der Macht der »Notwendigkeit« übrig? Offensichtlich sehr wenig! Der Staat darf »seine Tätigkeit immer nur durch die Notwendigkeit bestimmen lassen«. " Ebd., S. 24J. " Ebd.
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Dieses Prinzip wurde nicht im Sinne einer historischen Determiniertheit begriffen, vielmehr war Notwendigkeit von der »Eigentümlichkeit« der Menschen her definiert25. Die Notwendigkeit, die Achtung vor der Eigentümlichkeit des Individuums, bestimmt die theoretische Forderung der begrenzten Wirksamkeit des Staates. Die Erkenntnis der Einmaligkeit und Unterschiedlichkeit der Menschen verbietet dem Staat eine »positive« Tätigkeit in »nützlicher« Absicht, denn es muß der subjektiven Spekulation überlassen bleiben zu entscheiden, was für das Individuum nützlich ist; von außen her kann dies nicht festgesetzt werden. Notwendigkeit befindet sich also in Harmonie mit der Freiheit, und daher »ist kein anderes Prinzip mit der Ehrfurcht für die Individualität selbsttätiger Wesen und der aus dieser Ehrfurcht entspringenden Sorgfalt für die Freiheit vereinbar, als eben dieses«26. Was demnach von der Theorie, von der »ewig unveränderlichen Vernunft«, von den »natürlichen, universalen Gesetzen der Natur« übrigbleibt, ist allein die Erkenntnis der völligen Verschiedenheit der Menschen. Die Theorie des Staates, den Notwendigkeiten der wirklichen Situation konfrontiert, stellt somit ein Luftschloß der Abstraktion dar, das sich nicht verwirklichen läßt. Humboldt ist sich dessen durchaus bewußt. Wenn er die »theoretischen Grundsätze« der politischen Gewalt umreißt, geht er von der »Natur des Menschen« aus, den er »in der ihm notwendig eigentümlichen Gestalt« sieht, noch nicht in das Netz konkreter Beziehungen verstrickt. »Nirgends aber existiert der Mensch so«, fügt er hinzu 27 . Die Ausführung der Theorie erfordert einen gewissen Grad der Reife für die Freiheit. »Allein diese Reife findet sich nirgends in ihrer Vollendung, und wird in dieser - meiner Uberzeugung nach - auch dem sinnlichen, so gern aus sich herausgehenden Menschen ewig fremd bleiben.« 28 Darum bittet Humboldt seine Leser, »bei allem, was diese Blätter Allgemeines enthalten, von Vergleichungen mit der Wirklichkeit gänzlich zu abstrahieren« 29 . Ebenso hatte er an Schiller geschrieben: »Der Gegenstand ist von allem Bezug auf momentane Zeitumstände frei.« 30 Dies mag teilweise erklären, warum dieses klassische Werk des deut" Ebd., S. 244. " E b d . , S . 245. " Ebd., S. 2 3 9 f . •• Ebd., S. 240. Ebd., S. 127" Bricfvechsel (s. o. Anm. 2), S. jo.
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sehen Liberalismus zu Humboldts Lebzeiten niemals vollständig veröffentlicht wurde, sondern erst 1851, lange nach seinem Tod 3 1 . 2. Humboldts Verteidigung des liberalen Staates in den >Grenzen der Wirksamkeit des Staats< enthält jedoch zwei grundsätzliche Voraussetzungen, die in abgewandelter Form noch der klassischen liberalen Theorie entstammen. Nach Humboldts Behauptung gibt es eine »reine Theorie« des Staates, die auf dem Prinzip der »ewigen Vernunft« beruht und dem existierenden »positiven« Staat entgegensteht. Dies gilt sogar dann, wenn für ihn - anders als im klassisch liberalen Denken - die Kluft zwischen dem idealen und dem bestehenden Staat unüberbrückbar ist. Zudem konstatiert er eine allen Menschen gemeinsame Menschenwürde. In seinen anderen Schriften bemüht sich Humboldt sorgfältig um Befreiung von allen abstrakten oder universalen Prinzipien und nähert sich mehr der Vorstellung einer organischen Gesellschaft und Geschichte. Das hatte bereits für seine Kritik der neuen französischen Verfassung gegolten, die er im August 1791, ein Jahr vor den >GrenzenGrenzen< tut, sondern fordert ihn auf, sich von S1 Das Buch erschien erstmals Breslau 1851. Einige Auszüge, darunter das Kapitel über den Krieg, wurden zur Entstehungszeit in der »Berliner Monatsschrift« und in Schillers >Neuer Thalia< abgedruckt. Hinsichtlich der Gründe, die Humboldt von einer Veröffendichung abhielten, siehe Kaehler, a . a . O . , S. J46-1JO. 11 Humboldt, Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Constitution veranlaßt. Aus einem Briefe an einen Freund v o m August 1 7 9 1 , in: G S 1 , S. 77-8$. Der Freund war Friedrich Gentz. » E b d . , S. 80.
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abstrakten Erwägungen freizumachen, die tatsächliche Richtung der Veränderung zu bestimmen und diese Richtung dann allmählich zu modifizieren. Reformen innerhalb enger Grenzen sind möglich, aber menschliche Institutionen fußen nur in sehr geringem Ausmaß auf überlegter menschlicher Tat, so daß, »wenn wir jetzt bei politischen Einrichtungen philosophische oder politische Gründe angeben, wir bei ihnen immer nur historische finden«34. In dem 1791 verfaßten Fragment >Ober die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte < zieht Humboldt die Grenzen von Vernunft und abstraktem Gesetz sogar noch enger. Selbst wenn wir den Schlüssel zur Welt besitzen, »irgend eine Vernunftwahrheit, die auf die Notwendigkeit eines gleichförmigen Gesetzes führte« 35 , würde uns dieses Wissen keine wirkliche Einsicht in die Natur der Dinge gewähren. Die lebende Natur kann nämlich - im Gegensatz zur »leblosen« physikalischen Natur - nur durch einen Akt des Verstehens, der intuitiven Erfahrung ihres innersten Wesens, begriffen werden. Dagegen ist ein »Verstehen« der leblosen, physikalischen Welt nicht eigentlich möglich. Wir können Regelmäßigkeiten in ihrem Ablauf feststellen, doch beziehen sich diese nur auf die äußere Erscheinung, nicht auf ihr inneres Wesen, das wir in anderen, die gleich uns leben, zu erfassen vermögen. Lebewesen können wir nur durch die Kräfte, die sie ausströmen und in denen sich die ihnen eigenen Individualitäten spiegeln, erfahren. Je mehr wir Erscheinungen auf abstrakte Begriffe reduzieren, desto mehr begeben wir uns des Verstehens wirklich lebendiger Kräfte und individueller Wesen36. In anderen Schriften der 1790er Jahre entwickelte Humboldt seine Auffassung der Individualität und deren Folgerungen für Ethik und Bildung weiter37. In der Abhandlung >Ober den Geist der Menschheit Grenzen der Wirksamkeit des Staats < hatte er die Politik als ein theoretisches Problem ohne unmittelbaren Bezug zur Realität behandelt. In diesem Werk interessierte ihn, wie einer seiner politischen Biographen anmerkt, weniger die Frage der Forderungen und Aufgaben des Staates als vielmehr das ästhetische Problem der Entfaltung der individuellen Persönlichkeit41. Dieses Verhältnis änderte sich abrupt, als Humboldt auf Empfehlung des Freiherrn vom Stein 1809 nach Berlin berufen wurde, um das preußische Erziehungssystem zu reformieren. Von 1809 bis zur Reaktion, die 1819 mit den Karlsbader Beschlüssen einsetzte, diente er dem preußischen Staat auf politisch aktiven Posten. So weilte er von 1810 bis zum Ende des Wiener Kongresses als Gesandter in Österreich; als Minister war er mit der Aufgabe betraut, einen Entwurf für die preußi" E b d . , S . 32;. Vgl. Kaehler in seiner Einleitung zu: Wilhelm von Humboldt. Eine Auswahl aus seinen politischen Schriften, Berlin 1922, S. 22. 41
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sehe Verfassung (1819) vorzubereiten; als einer der Staatsmänner unter der Leitung von Stein und Hardenberg beteiligte er sich an der nach liberalen Gesichtspunkten ausgerichteten Reform des preußischen Staates nach der demütigenden Niederlage durch Napoleon anno 1806. Mit Erfolg gestaltete er die preußischen Schulen im Sinne seines Humanitätsideals neu. In den Grundschulen wandelte er die bis dahin angewandte Pädagogik, die er für mechanisch und rationalistisch hielt, durch Einführung der Methoden von Pestalozzi um, die auf die inneren Bedürfnisse und Interessen des einzelnen Kindes Rücksicht nahmen. In den Gymnasien ersetzte er die bisherige Bevorzugung der lateinischen Sprache durch die gründliche Beschäftigung mit dem Griechischen. Von Winckelmanns wohl einseitiger Deutung griechischer Kunst beeinflußt, war Humboldt wie Goethe der Uberzeugung, die Griechen wären dem Ideal der harmonisch ausgeglichenen und voll entfalteten Individualität sehr nahegekommen. Auch war er beteiligt an der Gründung der Berliner Universität (1810), deren Prinzip der Freiheit von Forschung und Lehre ein Vorbild für alle deutschen Universitäten abgab42. Ohne Erfolg bemühte er sich um die Einschränkung der zentraüstischen Staatsbefugnisse in Erziehungsangelegenheiten, indem er die Verfügung über die Geldmittel, für die staatlichen Schulen auf die Kommunalverwaltungen zu übertragen suchte. Selbstverständlich machte allein Humboldts Übernahme der verantwortlichen Tätigkeit des Kulturdezernats schon eine Anerkennung staatlicher Aufgaben aus, die er früher verworfen hatte. Wenn es auch zu weit gehen mag, aus Humboldts Wendung zum Staat die Folgerung zu ziehen: » . . . die Individualität der überindividuellen Mächte hat den Sieg über das Individuum davongetragen und dieses hat seine Souveränität verloren an die geschichtlichen Lebensmächte, von denen es umgeben ist«43, so unterlag seine Auffassung von dem Verhältnis des Individuums zum Staat und zur Nation doch einem tiefgreifenden Wandel. In seinen politischen Denkschriften sieht Humboldt die staatliche Organisation weiterhin nicht nur unter dem 41 Über Humboldts Ansichten zur Erziehung und seine Rolle als Reformer gibt es eine umfangreiche Literatur. Zur Erörterung seines Bildungsideals siehe insbes. Spranger. ( s . o . Anm. i ) ; ders., Philosophie und Pädagogik der Reformzeit, in: H Z 94 (1910), S. 278-321. Zur Auseinandersetzung über seine Rolle als Kultusminister siehe Kaehler, a . a . O . ; Schatfstein, a . a . O . ; Gebhardt, a . a . O . , insbes. die ausführliche Darstellung in: I, S. 95—368. " Kaehler, a . a . O . , S. 279. Kaehler zitiert hier Meineckes Bemerkungen über Adam Müller, da er sie ebensogut auf Humboldt gemünzt haben will.
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Blickwinkel der staatlichen Erfordernisse, sondern auch im Hinblick auf die Bildung der Bürger als Individuen. Aus diesem Grund erachtet er es als eine Notwendigkeit, staatliche Macht auf freiwillige Verbände zu übertragen, in denen der einzelne mittels Teilhabe sich entfalten kann. Unter dem Eindruck der neuen nationalistischen Emotionen in der Ära der Befreiungskriege begann Humboldt jedoch den Staat als eine metaphysische Realität zu begreifen. Der Staat existiert unabhängig von den Bedürfnissen der einzelnen; die Nation ist mit dem Staat verflochten. Dieser Richtungswechsel dokumentiert sich am klarsten in seiner >Denkschrift über die deutsche Verfassung < vom Dezember 181 j 44 . Nation, Staat und Volk sind für ihn nun eins. »Es liegt in der Art, wie die Natur Individuen in Nationen vereinigt, und das Menschengeschlecht in Nationen absondert, ein überaus tiefes und geheimnisvolles Mittel, den einzelnen, der für sich nichts ist, und das Geschlecht, das nur im einzelnen gilt, in dem wahren Wege verhältnismäßiger und allmählicher Kraftentwicklung zu erhalten.«45 Deutschland sei nicht nur eine geistige Größe, hob Humboldt nun mit Nachdruck hervor; einst hatten Goethe und er geglaubt, Deutschland bedürfe keiner politischen Bande, sondern es beruhe auf einer Gemeinsamkeit der »Sitten, Sprache und Literatur«, und noch mehr auf der »Erinnerung an gemeinsam genossene Rechte und Freiheiten, gemeinsam erkämpften Ruhm und bestandene Gefahren, auf dem Andenken einer engeren Verbindung, welche die Väter verknüpfte, und die nur noch in der Sehnsucht der Enkel lebt«48. Diese Gemeinsamkeit erforderte politischen Ausdruck. Da er übermäßige Zentralisation fürchtete, erblickte Humboldt in einer Konföderation - in der Preußen und Österreich allerdings hegemoniale Ansprüche vertraten - jene Lösung des Problems der nationalen Einigung, die am besten mit Deutschlands Geschichte und Beschaffenheit harmonierte. Dieser deutsche Staat bedurfte jedoch der Stärke nach außen, nicht nur um in einer unsicheren Welt Schutz zu bieten, sondern auch darum, weil politische Macht eine Vorbedingung für die Entfaltung der deutschen Kultur bedeutete. »Deutschland muß frei und stark sein, nicht bloß, damit es sich gegen diesen oder jenen Nachbar, oder überhaupt gegen jeden Feind verteidigen könne, " Humboldt, Denkschrift... (s. o. Anm.II, 40). " Ebd.,S. 9 7 f. " Ebd., S. 97.
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sondern deswegen, weil nur eine, auch nach außen hin starke Nation den Geist in sich bewahrt, aus dem auch alle Segnungen im Innern strömen; es muß frei und stark sein, um das, auch wenn es nie einer Prüfung ausgesetzt wurde, notwendige Selbstgefühl zu nähren, seiner Nationalentwicklung ruhig und ungestört nachzugehen, und die wohltätige Stelle, die es in der Mitte der europäischen Nationen für dieselben einnimmt, dauernd behaupten zu können.« 4 7 Die Macht, weithin in militärischem Sinne begriffen, erschien Humboldt nun als positiver Wert. Das stand durchaus im Einklang mit seinen früheren Bemerkungen über den positiven Einfluß des Kriegs auf den Charakter. Bei der Empfehlung des Heeresbudgets im Jahr 1 8 1 7 schrieb er, daß »der Nutzen eines kraftvollen, schlagfertigen Heeres nicht erst mit dem T a g e der Kriegserklärung beginnt, sondern sich die ganze Zeit des Friedens hindurch bewährt durch die Sicherheit, welche dasselbe dem Frieden selbst verleiht, durch das G e wicht, das der Staat dadurch in allen politischen Beziehungen mit fremden Mächten erhält, durch den Einfluß auf den Charakter der Nation« 4 8 . Die Betonung der Abhängigkeit des einzelnen v o m Staat tritt am schärfsten in seinem Briefwechsel während der Kriegsjahre hervor, obschon derartige Stellen wegen ihres zufälligen Charakters w o h l nur mit einiger Zurückhaltung zu verwerten sind. Seiner Frau schrieb er 1 8 1 3 : »Glaube mir, es gibt nur zwei gute und wohltätige Potenzen in der Welt, G o t t und V o l k . W a s in der Mitte liegt, taugt reinweg nichts und wir selbst nur insofern, als wir uns dem V o l k e nahestellen.« A n anderer Stelle heißt es: »Alle Kraft, alles Leben . . . alle Frische der Nation kann nur im V o l k e liegen. M a n kann nichts ohne das V o l k ausführen und bedarf seiner b e s t ä n d i g . . . D e r Mensch ist überhaupt nichts, als nur durch die K r a f t des G a n zen, und indem er mit ihm zusammenzustimmen strebt.« 49 Diese Auffassung der Nation, des Volkes, als eines Individuums mit einem individuellen Wesen führte ihn dazu, beim Wiener Kongreß für eine harte Behandlung Frankreichs einzutreten. E r gründete seine Forderungen nicht allein auf die politischen Interessen Preußens oder Deutschlands, sondern ebenso auf seine Verurteilung des französischen National" Ebd. " Humboldt. Beilage zum Bericht des in der zur Bestimmung des Staatsbedarfs niedergesetzten Commission angeordneten Ausschusses, in: G S X I I , S. 170 (datiert vom i j . Juni 1817). 41 Zit. nach Kachler, a.a.O., S. 276f.
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Charakters: »Das Streben nach dem Göttlichen fehlt allerdings den Franzosen als Nation, u n d . . . fast ohne A u s n a h m e . . . auch in einzelnen.« 60 Angesichts der neuen Begeisterung für historische und kollektive Kräfte ist der Entwurf Humboldts für eine preußische Verfassung von Interesse 51 , denn darin offenbart sich ein neuartiger Liberalismus, der den einzelnen nicht mehr als die grundlegende Größe in der Politik und als den Zweck des Staates ansieht. Der Entwurf garantiert die Grundrechte des einzelnen, die Sicherheit der Person und des Eigentums, gesetzmäßige Gerichtsverfahren, Meinungs- und Pressefreiheit. Auch ein Repräsentativsystem war vorgesehen. Der Entwurf verstand die Verfassung nicht nur in dem Sinne, daß sie dem »objektiven« Zweck des Staates dienen und für eine wirksamere Regierung sorgen sollte, sondern auch als Erfüllung der »subjektiven« Bedürfnisse der Bürger. Mittels politischer Teilhabe würden sie sich sittlich und geistig entfalten. Die Gesellschaft erschien nun nicht mehr als Zusammenschluß von einzelnen, sondern als eine organische Ganzheit von Körperschaften, denen soziale Aufgaben zukamen. Allerdings wurden die Körperschaften den Anforderungen des modernen Lebens in Preußen angepaßt und vor allem als Organe der politischen Repräsentation verstanden. Humboldt wollte die durch die Steinschen Reformen begründete wirtschaftliche Freiheit erhalten. Die politische Rolle des Adels sollte nur insofern erhalten bleiben, als die Adligen noch eine echte Aufgabe erfüllten. Humboldt sah die körperschaftlichen Institutionen weit weniger in verklärtem Licht als Stein. Ausgedehnte Verwaltungsaufgaben sollten von Berlin auf die Gemeinden und Provinzen übertragen werden, um vom lokalen Bereich her die Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten anzuregen. Dem vorgeschlagenen Allgemeinen Landtag waren ähnliche Befugnisse und die gleiche Organisiertheit zugedacht, wie sie die Parlamente besaßen, die aufgrund der französischen Charte und der südwestdeutschen Verfassungen in den 1820er Jahren begründet worden waren. Die Sprache dieses Dokuments jedoch, das gewiß eine viel intensivere Teilnahme des Volkes im Auge hatte als die anderen Verfassungsurkunden, war von den Ideen von 1789 viel weiter entH Zit. ebd., S. 270. Zur Erörterung von Humboldts Haltung gegenüber den Franzosen siebe die Darstellung seiner diplomatischen Tätigkeit bei Gebhardt, a.a.O. I I . 11 Humboldt, Denkschrift über Preußens ständische Verfassung, in: G S X I I , S. 225-296 (datiert vom 4. Februar 1819).
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femt als sie. Der Verfasser der >Grenzen der Wirksamkeit des Staats < war nun überzeugt, daß das Individuum seine bürgerlichen Rechte nicht kraft der Tugend, eben ein Individuum zu sein, erwerbe, sondern allein durch die Erfüllung der Verpflichtungen, die nötig waren, in eine Körperschaft eingegliedert zu werden 52 .
4In den drei wichtigen Abhandlungen, die Humboldt nach 1 8 1 4 über das Wesen der Geschichte schrieb, läßt sich kaum etwas völlig Neues entdecken. Seine in Begriffe von Wachstum und Leben gefaßte Geschichtsschau, sein Hinweis darauf, daß der Vorgang des Verstehens die ganze Persönlichkeit und nicht bloß die rationalen Fähigkeiten des Betrachters verlange, und sein Glaube an die Eigentümlichkeit des einzelnen finden sich darin. Der Akzent allerdings hat sich verschoben. Was vom Glauben an eine allgemeine Menschennatur und an allgemeine, aus der Vernunft abgeleitete Menschenrechte - die theoretischen Grundbestandteile seines politischen Liberalismus in den >Grenzen< - noch verblieben war, ist nun beinahe vollständig in den Hintergrund gedrängt. Seine Ablehnung der Vernunftethik und der objektiven Kriterien des Wissens ist jetzt fast absolut. Die Geschichte verbleibt als einzige Quelle des Wissens über den Menschen; da der Mensch aber irrational und die Geschichte das Feld seines Strebens iSt, muß die Geschichte mittels einer Methode angegangen werden, die diese Irrationalität in Betracht zieht. Besonderes Interesse verdienen drei Aspekte, die Humboldts Abhandlungen aus dieser Zeit kennzeichnen: a. das Ausmaß, in dem er den irrationalen Kräften in Leben und Geschichte nachgeht; b. seine Ideenlehre 63 , womit er eine metaphysische Begründung seiner Individualitätsauffassung zu finden sowie den Sinn und eine allgemeine Existenzbasis in einer pluralistischen Welt zu entdecken sucht; c. seine Theorie vom »Ver• • V g l . ebd., S. i j i . 11 V o n der umfangreichen Literatur über Humboldts Idecnlehre siehe die beiden Arbeiten von Spranger (s. o A n m . i und 4z); außerdem Richard Fester, Humboldts und Rankes Idecnlehre, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 6 ( 1 8 9 1 ) S. 235—236; L . Ehlen, Die Entwicklung der Geschichtsphilosophie Wilhelm von Humboldts, in: Archiv der Geschichte der Philosophie 24 ( 1 9 1 1 ) S. 2 2 - 6 0 ; Eberhard Kessel, Wilhelm von Humboldts Abhandlung über die Aufgabe des Geschichtsschreibcrs, in: Studium Generale 2 (1949) S. 2 8 5 - 2 9 5 .
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D a s theoretische F u n d a m e n t des deutschen Historismus I
stehen« 54 , mittels der er sich um Gerechtigkeit für das irrationale Wesen der Geschichte und des Menschen bemüht. Der erste Aspekt, das irrationale Wesen der Geschichte, ergibt sich aus dem Thema von Humboldts Betrachtungen über die Weltgeschichte Das achtzehnte Jahrhundert< dargelegt hatte, nicht mehr aus. In >Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers < erachtet er nun die Geschichte als den einzigen Weg zu einem annähernden Verstehen der »Summe des Daseins Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers < war Humboldts letzter großer Beitrag zur geschichtswissenschaftlichen Theorie. Zwei Jahre später erschien Rankes Werk b e s c h i c h ten der romanischen und germanischen Völker < mit dem berühmt gewordenen methodologischen Anhang >Zur Kritik neuerer GeschichtsschreiberÜber die Aufgabe des Geschichtsschreibers < vollendet worden. Nun war der Bruch mit der Aufklärung und dem Humanitätsideal Wirklichkeit geworden. Humboldt hatte in der Geschichte stets eine vitale, dynamische Kraft gesehen, die durch keine vernunftgemäße Lenkung gemeistert werden konnte. Den Glauben der Philosophen an die Möglichkeit, die Gesellschaft nach rationalen Richtlinien umzugestalten, hatte er nie geteilt. Er war allerdings fest davon überzeugt gewesen, daß der einzelne die grundlegende Größe in der Gesellschaft sei; sein Freiheitsbegriff war eher kosmopolitisch als national. In den drei Jahrzehnten, die den >Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen < von der Abhandlung >Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers < trennen, gelangte Humboldt zu der Erkenntnis vom Primat der kollektiven Kräfte, die er mit der Nationalität gleichsetzte. Humboldt begriff die zentrale Rolle des Staates in der Nation und er entwickelte eine Erkenntnistheorie, die auf das Verstehen der irrational-vitalen Kräfte der Geschichte und der ihnen eigentümlichen metaphysischen Realität ausging. All diese Theoreme, die Ideenlehre, die Wertung der Individualität, die Vor" Ebd., S. 47.
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Stellung von der zentralen Bedeutung der Politik in der Geschichte, bildeten die Bausteine der Geschichtsphilosophie, die der deutschen Geschichtswissenschaft und dem historischen Denken von Ranke bis Meinecke zugrunde lag.
IV.
DAS THEORETISCHE FUNDAMENT HISTORISMUS LEOPOLD VON
DES
DEUTSCHEN
II RANKE
I.
Zwei Mißverständnisse haben das Bild bestimmt, das sich amerikanische Historiker seit den 1880er Jahren, als die Geschichtswissenschaft in den USA aufgrund angeblicher Rankescher Prinzipien zum akademischen Fach wurde, von Ranke gemacht haben (wobei übrigens auch andere nichtdeutsche Historiker dem nicht entgangen sind). Ranke wurde als der Prototyp des niemals spekulativen und - häufig - auch politisch neutralen Historikers betrachtet. Sogar als seine konservativen Vorstellungen erkannt wurden, erfuhr er weiterhin dieselbe Hochschätzung, da seine Überzeugung anscheinend nicht in seine historische Darstellung eingeflossen war 1 . An den amerikanischen Universitäten entwickelte sich die eigentliche historische Forschung zu der Zeit, als philosophischer Naturalismus und Positivismus das geistige Feld beherrschten. In ihrem Bemühen, der historischen Forschung akademisches Ansehen zu verschaffen, identifizierten einige wenige von Comte und Buckle beeinflußte Autoren wie Andrew D. White, John Fiske, Henry und Brooks Adams die Geschichtswissenschaft mit der Anwendung allgemeiner Gesetze - ähnlich denen der Naturwissenschaften - auf den Geschichtsverlauf. Weit mehr Autoren bekannten sich zu der Unterscheidung zwischen historischer Erzählung, die sich mit einmaligen Situationen beschäftigt, und der naturwissenschaftlichen Abhandlung, die auf allgemeingültige, typische Wahrheiten abzielt. Demgemäß bemühten sie sich um die Erklärung des wissenschaftlichen Charakters der Geschichtsschreibung und ihrer Methode, die Fakten objektiv herauszuschälen, unbeschwert von philosophischen Reflexionen. Für diese neue Historikergeneration war Ranke der »Vater der Geschichtswissenschaften«2, der - wie H. B. Adams von der 1 Z u r Erörterung der amerikanischen Ranke-Deutungen und der umfangreichen deutschen Literatur über Ranke siehe Georg G . Iggers, The Image of Ranke in American and German Historical Thought, in: History and Theory I I (1962) S. 17-40. 1 Herbert B . A d a m s gebrauchte diesen Ausdruck; siehe: NewMethods of Study in History, in: Johns Hopkins University Studie» in History and Political Science I I (1884) S. 6 ; ; ders., Special
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Johns Hopkins University damals meinte - lehrte, »die Fakten strikt zu beachten, keine Predigten zu halten, keine Moral anzuhängen, keine Geschichte auszuschmücken, sondern die schlichte geschichtliche Wahrheit zu berichten«. Sein einziger Ehrgeiz war es somit, zu erzählen, »wie es eigentlich gewesen«3. Ranke wurde also in Amerika - wie auch anderswo - mit einer Geschichtswissenschaft identifiziert, die nicht nur philosophische, sondern überhaupt theoretische Erörterungen ausschloß. Nach dieser Ansicht hatte er die Historiographie in erster Linie als eine Technik aufgefaßt, die mit kritischen Methoden die Erschließung der Quellen betrieb. Bei konsequenter Fortführung konnte diese Methode nur Monographien für wissenschaftlich gelten lassen. Ephraim Emerton, der Ranke als den Begründer »der Lehre von der wahren historischen Methode« feierte, meinte: »Wenn man zwischen einer Historikerrichtung, deren Hauptkennzeichen die Spekulation ist, und einer, die auf der größtmöglichen Zahl von belegten Fakten beruht, wählen müßte, würde keiner lange schwanken . . . Geschulter Fleiß ist an die Stelle der Schöngeisterei getreten; die ganze Welt zieht Nutzen daraus.«4 Desgleichen legte George B. Adams 1908 der American Historical Association als ihr Vorsitzender dar, daß »unser erster Führer« gegen den Angriff der Soziologen zu verteidigen sei und theoretische Fragen den »Dichtern, Philosophen und Theologen« überlassen werden müßten5. Die Vorstellung vom aphilosophischen Ranke, der sich nur mit Fakten abgab und jede Theorie zurückwies, wurde von den »New Historians« übernommen, die die ältere »wissenschaftliche« Tradition verwarfen und die Bedeutung der sozialen Faktoren in der Geschichte betonten. Frederick Turner und J . H. Robinson attackierten das Ranke-Bild, das jene »wissenschaftliche« Historikerschule errichtet hatte. Das Bild vom positivistischen Ranke aber bestand weiter. Noch vor wenigen Jahren konstatierte ein so bedeutender Historiker wie Walter P. Webb, daß Ranke »ein Zeitgenosse der Lyell und Wallace, der Darwin und Renan war, die auf ihren Forschungsgebieten analytische und kritiMethods of Historical Studies as Pursued at the Johns Hopkins University and formerly at Smith College, in: Mcthods ofTeaching History, A . D . White, W. F. Allen et. al.eds., Boston 188), S. 143. 1 Adams, Leopold von Ranke, in: American Historical Association Papers I I I (1888) S. io4f. 4 Ephraim Emerton, The Practice Methodin Higher Historical Instruction, in: M e t h o d s . . . (s.o. Anm. z), S. 42. 1 George B . Adams, History and the Philosophy of History, in: American Historical Review 14 (1908/09) S. 223-236.
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sehe Methoden mit aufsehenerregenden Ergebnissen anwandten. Er verwandelte den Vorlesungssaal in ein Laboratorium, in dem Dokumente anstatt der Retorten benutzt wurden.«6 Rankes individualisierende Methode half den Weg für jene unreflektierte, sich aufs Handwerkliche beschränkende Geschichtsschreibung bereiten, die nicht nur die amerikanische Geschichtswissenschaft zu Ende des letzten Jahrhunderts kennzeichnete, sondern sich auch bereits in vielen historischen und rechtswissenschaftlichen Werken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland niederschlug7. Wenn Ranke auch sehr mit der kritischen Sichtung der Quellen befaßt war, so hat doch vielleicht kein zweiter deutscher Historiker des 19. Jahrhunderts (möglicherweise mit Ausnahme Droysens) den theoretischen Grundlagen seiner wissenschaftlichen Praxis soviel Aufmerksamkeit gewidmet wie gerade er. Zudem hat niemand sonst seine Auffassung des historischen Prozesses und seine Wissenschaftstheorie derart vollständig mit seinen politischen Ansichten in Ubereinstimmung gebracht wie Ranke. Der philosophische Hintergrund seiner methodologischen Erörterungen fand in Amerika kaum Verständnis, besonders zu einer Zeit, da seine metaphysischen und religiösen Voraussetzungen selbst in der deutschen Geisteswelt fragwürdig geworden waren. Letztlich war für die große Zahl der spezialisierten Historiker auf beiden Seiten des Ozeans wenig von Rankes Erbe übriggeblieben außer einem seelenlosen Positivismus, den Ranke stets abgelehnt hatte. In Deutschland gab zudem seine konservative politische Ethik, die in der politischen Macht eine Offenbarung des Geistes sah, in dem Augenblick, da sie ihrer idealistisch-philosophischen Voraussetzungen beraubt war, die Bahn für die naturalistische Ethik des nationalen Machtstaates frei, wie sie Treitschke und die Neu-Rankeaner vertreten haben.
2. Man kann sich die Frage stellen, ob der neue kritische Umgang mit den Quellen oder die Einführung der Seminarmethode in • Walter P. Webb, The Historical Seminar: Its Outer Shell and Its Inner Spirit, in: Mississippi Valley Historical Review 42 (19J5/j6) S. 1 1 . T Vgl. die Erörterung des neuen Positivismus in der Rechts- und der Geschichtswissenschaft anläßlich der Frage, warum Mommsen den vierten Band seiner »Römischen Geschichtet nicht schrieb, bei Alfred Heuß, Theodor Mommsen und das neunzehnte Jahrhundert, Kiel 1936.
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den historischen Lehrbetrieb der Hauptbeitrag Rankes zur deutschen Geschichtswissenschaft war. Ranke hatte nicht als erster Historiker die sogenannten »neuen« kritischen Methoden zur Sichtung von Geschichtsquellen angewandt. Friedrich August Wolf (1759-1824) und August Boeckh (1785-1867) waren mit scharfer philologischer Kritik an die klassischen Texte herangegangen. Herbert Butterfield hat kürzlich in einer Studie über die »Göttinger Schule« die aus dem 18. Jahrhundert herrührenden Grundlagen moderner historiographischer Methoden aufgewiesen 8 . Ranke hielt sich bei seiner Anwendung kritischer Methoden auf moderne historische Texte bewußt an Barthold Georg Niebuhrs kritische Behandlung der römischen Geschichte. Vielleicht noch wichtiger für die Geschichtswissenschaft - nicht nur in prinzipieller, sondern auch in handwerklicher Hinsicht - war Rankes Ausarbeitung der philosophischen Grundvorstellungen der Historischen Schule während seiner Tätigkeit als Herausgeber der >Historisch-Politischen Zeitschrift< in den Jahren von 1832 bis 1836. Ranke veröffentlichte sein erstes Buch, die >Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514< im Jahre 1824. In dessen berühmtem Anhang (>Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber Historisch-Politischen Zeitschrift < systematisch auseinander. Im übrigen ließ er sich kaum zu theoretischen Äußerungen herbei, abgesehen von den in seinen Werken und Briefen verstreut auftauchenden Randbemerkungen und den meist ungedruckten Einleitungen zu seinen Vorlesungen. Die einzige nennenswerte Ausnahme ist die kurze Einleitung zu den für König Maximilian II. von Bayern 1854 gehaltenen Vorlesungen >Über die Epochen der neueren Geschichte in der Weltgeschichte Historisch-Politische Zeitschrift < jedoch sowie in seinen Vorlesungsnotizen 25 und in seiner Antrittsvorlesung >Ober die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik< 26 , alle aus jener Zeit, entwickelte Ranke den dichtesten Systementwurf des Historismus im 19. Jahrhundert. In erster Linie geschah dies zur unmittelbaren Verteidigung der preußischen Institutionen der Restaurationszeit und aufgrund seiner persönlichen Einstellung. Die >Historisch-Politische Zeitschrift < wurde auf Anregung des damaligen Außenministers, Graf Bernstorff, gegründet. Graf Bernstorff verfolgte damit zwei Ziele. E r wollte sich ein Organ zur Verteidigung seiner Politik der aufgeklärten preußischen Bürokratie gegen ihre zahlreichen liberalen Kritiker auf der Linken schaffen. Ebenso legte er aber Wert auf eine Unterscheidung der Positionen der preußischen Regierung von denen der reaktionären Rechten. Im Herbst 1831 hatte die letztere Gruppe, zu der solch bemerkenswerte Männer zählten wie Radowitz, von Raumer und die Gerlachs, das >Berliner 14 Ranke, Uber die Epochen der neueren Geschichte, in: Weltgeschichte 9 , 1 1 . Leipzig 1888. Siehe dazu Theodor Schieder, Die Entstehung von Rankes >Epochen der neueren Geschichtet, in: H Z 199 (1964) S. 1 - 3 0 . " Insbes. die Vorlesungen über die Idee der Weltgeschichte, die sich in seinem Nachlaß in der Westdeutschen Bibliothek in Marburg befinden und die teilweise veröffentlicht worden sind bei Eberhard Kessel, Rankes Idee der Universalhistorie, in: H Z 178 (1954) S. 290-308; und bei Erich Mülbe, Selbstzeugnisse Rankes über seine historische Theorie und Methode im Zusammenhang der zeitgenössischen Gcistesrichtungen, Diss. Berlin 1930, S. 1 2 4 - 1 3 2 . Vermudich wurden diese Vorlesungen 1831 gehalten. Bemerkenswert sind auch die handschriftlichen Notizen über ein von Ranke im Wintersemester 1835/36 gehaltenes Kolleg von Georg Waitz;sie befinden sich im Besitz des Historischen Seminars der Universität Göttingen. 16 Ranke, Uber die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik, aus dem Latein, übersetzt, in: S W 24, S. 280-293 (Antrittsvorlesung als Ordinarius an der Universität Berlin 1836).
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Politische Wochenblatt < gegründet, um den ständischen Lehren des damals bereits verstorbenen Karl Ludwig von Haller Gehör zu verschaffen27. Die dem > Wochenblatt < verpflichteten Männer erblickten im aufgeklärten Absolutismus den Vorläufer des Liberalismus; sie mißtrauten der preußischen Bürokratie. Ihr Regierungsideal entsprach dem vorabsolutistischen Mecklenburg, in dem alle politische Gewalt dem Adel vorbehalten war. Graf Bernstorff und die für sein Vorhaben herangezogenen Gelehrten, insbesondere Savigny und Johann Albrecht Eichhorn28 - sein Hauptberater - sowie der Hamburger Verleger Perthes vertraten eine aufgeklärtere Einstellung. Sie erkannten die zunehmende Bedeutung der Mittelschichten und die Notwendigkeit, daß Preußen die aktive Leitung bei der Befriedigung der nationalen und wirtschaftlichen Forderungen des Bürgertums übernehmen müsse. Dieses Ziel strebten Graf Bernstorff und seine Freunde innerhalb der bestehenden politischen Ordnung Preußens und Deutschlands an, und zwar mit Hilfe einer wohlwollenden und relativ fortschrittlichen preußischen Bürokratie und mit möglichst wenigen Zugeständnissen an den Liberalismus. Vermutlich unterschätzten sie - an königlichen Absolutismus gewöhnt und eher an Gehorsam als an Freiheitlichkeit - das Ausmaß der liberalen und nationalen Emotionen ebensosehr wie die festverschanzte Opposition der alten Ordnungsmächte. Rankes eigene politische Neigungen fügten sich in dieses Programm recht gut ein. Er war von der nationalistischen Begeisterung der Befreiungskriege wenig berührt worden. Seine ausgeprägte lutherische Frömmigkeit verstand sich durchaus nicht eng konfessionell, doch verstärkte sie seine Achtung vor der bestehenden weltlichen Obrigkeit als einem Teil der göttlichen Weltordnung. Sein Konservatismus war noch nicht so doktrinär, wie er es später wurde. Obwohl er seit dem Beginn seiner Lehrtätigkeit an der Berliner Universität (1825) mit Savigny, Niebuhr und Schleiermacher eng befreundet gewesen war, hatte er doch dem liberalen Kreis um Varnhagen von Ense während der ersten drei Jahre seines " Uber die Gründungsgeschichte der beiden Zeitschriften siehe C. Varentrapp, Rankes HistorischPolitische Zeitschrift und das Berliner Politische Wochenblatt, in: H Z 99 (1907) S. 3 5 - 1 1 9 . Ranke äußert sich über die Gründung der Historisch-Politischen Zeitschrift in seiner »Diktat Tom Dezember 1875 < betitelten Autobiographie (SW j 3/J4, S. 4 9 - j 1). " Johann Albrecht Eichhorn, ein hoher preußischer Ministerialbeamter, darf nicht mit dem Rechtshistoriker Karl Friedrich Eichhorn verwechselt werden, der einer der Begründer der Historischen Rechtsschule war.
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Berliner Aufenthaltes näher gestanden, als er es später zugeben wollte 2 9 . Nachdem ihm die völlige Publikationsfreiheit, einschließlich des Vorrechts der Zensurbefreiung, das er verlangt hatte, zugesichert worden war, packte Ranke seine A u f g a b e in der Weise an, daß er eine Mittelposition zwischen den Extremen des >Berliner Politischen Wochenblatts < und des Liberalismus einzuhalten suchte. Später äußerte er sich dazu s o : »Ich hatte das kühne Unterfangen, zwischen den beiden einander in jeder öffentlichen oder privaten Äußerung widerstrebenden Tendenzen eine dritte zu Worte bringen zu wollen, welche an das Bestehende anknüpfte, das, auf dem Vorangegangenen beruhend, eine Z u k u n f t eröffnete, in der man auch den neuen Ideen, insofern sie Wahrheit enthielten, gerecht werden konnte.« 3 0 O b sich Ranke von der reaktionären Partei klar genug absetzte, läßt sich bezweifeln. Seine Kritik in der >Historisch-Politischen Zeitschrift < war jedenfalls stets gegen die Liberalen gerichtet. E r scheint Perthes enttäuscht zu haben, der sich nach dem Erscheinen des ersten Jahrgangs 1 8 5 2 von der Zeitschrift zurückzog 3 1 . Hingegen sah sich Ranke v o n dem äußerst konservativen Ancillon ermutigt, der noch im selben J a h r Bernstorff als Außenminister ablöste 32 . Ranke gab sich nicht damit zufrieden, die Notwendigkeit eines v o n der Geschichte herkommenden Verstehens der politischen Gewalten zu betonen. E r hebt vielmehr zu jener Zeit sowohl in seinen Zeitschriftenbeiträgen wie in den Vorlesungen über Methode und Ziel historischen Studiums die Bedeutung der Historie f ü r die Erkenntnis philosophischer Wahrheit hervor. A u f dem W e g über die Geschichte will er die dem Staat zugrunde liegenden metaphysischen Realitäten aufdecken und so eine konservative Theorie der Politik aufbauen. Drei Vorstellungen ziehen sich während dieser Zeitspanne durch Rankes Abhandlungen und Vorlesungen und verleihen ihnen eine deutlich spürbare Einheitlichkeit. Zuerst ist es einmal die ablehnende Haltung gegen die A n w e n d u n g abstrakter Prinzipien auf die Politik sowie die Gleichsetzung von ** Zu Rankes Kontakten mit dem liberalen Kreis um Varnhagen von Ense siehe W ilhelm Mommsen, Stein. Ranke, Bismarck. Ein Beitrag zur politischen und sozialen Bewegung des 19. Jahrhunderts, München 19J4; vgl. auch Von Laue, a . a . O . , S. 3 1 f. und Rankes »Diktat* (SW 5}/i4. S. 5°). » Ranke, SW 53/54, S. 50. " Dies geschah zum Teil deswegen, weil Rankes schwerfällig-gelehrte Erörterung politischer Tagesproblcme das breite Leserpublikum nicht anzuziehen vermochte; siehe dazu Von Laue, a.a.O.,S.81. •• Vgl. Ranke, S W 55/54, S. 5of.
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»Theorie« mit Liberalismus und den Ideen der Französischen Revolution. Dann handelt es sich um die Idee, daß trotz der geschichtlichen Prägung jeglicher Existenz hinter der äußeren Erscheinung jedes einzelnen Phänomens eine allgemeine Wahrheit verborgen ist. Die letzte Vorstellung läuft darauf hinaus, daß die historischen Staaten die Konkretisierung dahinterstehender Ideen sind. 1. Rankes Mahnung in der Einleitung der Historisch-Politischen Zeitschrift die Harmonien«, wie ein indischer Poet sagt, >bekannt den Göttern, aber unbekannt den Menschen«, können wir nur ahnden, uns nur fern ihnen nahn. Deutlich ist aber doch für uns eine Einheit, ein Fortgang, eine Entwicklung vorhanden.«64 Abschließend bemerkt er: »So kommen wir auf historischem Wege bei der Aufgabe der Philosophie an. Wäre die Philosophie das, was sie sein soll, wäre die Historie vollkommen klar und vollendet, so würden sie beide völlig übereinstimmen.«65 3. Auf der Grundlage seiner Geschichtsauffassung, die von einem geradezu erschütternden Optimismus zeugt, vermag Ranke nun eine Metaphysik der Politik zu entwerfen. Obschon er die Behauptung Hegels, die geschichtliche Entwicklung sei rational erklärbar, ablehnt, ist er doch nicht weniger davon überzeugt, daß die Geschichte einen sinnvollen Prozeß darstellt. In einer Hinsicht geht sein Optimismus noch beträchtlich weiter als der Hegels. Während Hegel überall in der Geschichte, ob vergangen oder gegenwärtig, die Merkmale menschlicher Unvernunft und bis jetzt nicht überwundener Unvollkommenheit sieht, meint Ranke: »Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott.«66 Dieser optimistische Glaube drückt sich auf verschie" Ebd., S. 301. " Ebd. Ebd., S. 502. •• Rinke, Weltgeschichte 9, II, S. 5.
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dene Weise aus. Die Geschichte ist für Ranke sinnvoll. Trotz seiner Erkenntnis, daß der Mensch zu jeder Zeit nur einen schmalen Ausschnitt der gesamten Wirklichkeit wahrnehmen kann, wurde er nie durch Zweifel am objektiven Wissen beunruhigt, die spätere Historiker heimsuchten. Zwar gesteht er von seinem religiösen Ausgangspunkt her das Vorhandensein »geistiger Einheiten« im Geschichtsverlauf zu, die sich empirischer Forschung entziehen, doch setzt er auch voraus, daß diese »geistigen Einheiten«, Individuen, Staaten und Nationen, nicht nur ethisch neutral sind, sondern als Äußerungen göttlichen Willens positive Werte verkörpern. Daraus schließt er, daß Staaten solche »geistigen Einheiten« sind, deren Zweck in ihnen selbst liegt, und daß sie bei der Wahrung ihrer Interessen stets gut handeln. Rankes Glauben an eine ethische Weltordnung, die sich auch auf das Gebiet der Politik erstreckt, gehört durchaus der jüdisch-christlichen Tradition an. Was Ranke - trotz seines ausgeprägten Christentums - jedoch fast völlig abgeht, ist das Wissen um das Element des Bösen im Menschen und in menschlichen Institutionen 67 . Ebenso wie die Propheten des Alten Testaments konstatierten stoische, christliche und aufgeklärte Naturrechtsanhänger einen Dualismus zwischen der ethischen Forderung und der gegebenen Wirklichkeit. Dieser Zwiespalt erfordert das aktive Eingreifen des Sittlichen im Menschen, um die menschlichen Institutionen auf die Gerechtigkeit auszurichten - selbst wenn die Unvollkommenheit der menschlichen Natur bloß eine Annäherung an dieses Ideal zuläßt. Für Ranke ist innerhalb der politischen Welt ein Gesetz der Harmonie wirksam, das die gegebenenfalls gestörte Ordnung wieder ins rechte Lot bringt. So beschreibt er in seinem berühmten Aufsatz >Die großen Mächte < ein unter den großen Staaten herrschendes Gleichgewicht der Macht als Hauptinstrument der europäischen Ordnung, das von keinem Hegemoniestreben einer der großen Mächte beseitigt werden könne. »Es ist wahr, die Weltbewegungen zerstören wieder das System des Rechtes; aber nachdem sie vorübergegangen, setzt sich dies von neuem zusammen, und alle Bemühungen zielen nur dahin, es wieder zu vollenden.«68 Der Kampf der Mächte ist keineswegs bloß ein sinnloses Zusammenprallen der Gewal" Im allgemeinen ist d u in den zahlreichen Arbeiten, die den Ginfluß der christlichen resp. lutherischen Theologie auf Ranke hervorheben, nicht Toll gewürdigt worden. •• Ranke, SW 24, S. 10.
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ten. »Nicht ein solch zufälliges Durcheinanderstünnen, Übereinanderherfallen, Nacheinanderfolgen der Staaten und Völker bietet die Weltgeschichte dar, wie es beim ersten Blicke wohl aussieht. Auch ist die oft so zweifelhafte Förderung der Kultur nicht ihr einziger Inhalt. Es sind Kräfte und zwar geistige, Leben hervorbringende, schöpferische Kräfte, selber Leben, es sind moralische Energien, die wir in ihrer Entwicklung erblikken. Zu definieren, unter Abstraktionen zu bringen sind sie nicht; aber anschauen, wahrnehmen kann man sie; ein Mitgefühl ihres Daseins kann man sich erzeugen. Sie blühen auf, nehmen die Welt ein, treten heraus in dem mannigfaltigsten Ausdruck, bestreiten, beschränken, überwältigen einander; in ihrer Wechselwirkung und Aufeinanderfolge, in ihrem Leben, ihrem Vergehen oder ihrer Wiederbelebung, die dann immer größere Fülle, höhere Bedeutung, weiteren Umfang in sich schließt, liegt das Geheimnis der Weltgeschichte.« 6 9 Das führt Ranke zu der Auffassung vom geistigen Wesen der Macht, die sich als Thema durch alle seine Werke zieht, am systematischsten aber in >Das politische Gespräch< - erstmals erschienen in der >Historisch-Politischen Zeitschrift < - entwickelt worden ist. Der Staat darf nicht als abstrakter, sondern muß als jeweils konkret existierender Staat in seiner historischen Entwicklung erfaßt werden. Der Staat ist nicht nur eine empirische Ansammlung von Macht; ihm eignet ein »eigentümlich geistige(s) Dasein«, eine Idee, die sich nicht in abstrakten Allgemeinbegriffen ausdrücken läßt, da sie ausschließlich dem jeweiligen Staat zugehört. »Die das G a n z e t e l e b e n d e , beherrschende Idee« 7 0 gestaltet den Staat zu einem organischen Gebilde, das sich von allen anderen Staaten völlig unterscheidet. »Es gibt etwas, wodurch jeder Staat nicht eine Abteilung des Allgemeinen, sondern wodurch er Leben ist, Individuum, er selber.« 7 1 Diese Einmaligkeit verhindert natürlich die erfolgreiche Übertragung fremder Institutionen und Ideen. Die Realität des Staates besteht also in seiner jeweils konkreten Existenz, zugleich aber enthält seine Grundidee ein allgemeines Element, das seine vergängliche Realität transzendiert, sich jedoch nur im konkreten Staat ausformen kann. Der Staat ist demnach »das Real-Geistige . . . in ungeahnter Originalität« 7 2 . Jeder selbständige Staat besitzt somit eine ihm allein eigene "Ebd.,S. 39f. " Ranke, SW 49/50, S. 521. 323. " E b d . , S. 323. " Ebd., S. 325.
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Entfaltung, die von der aus Gott herrührenden Idee bestimmt wird. »Statt jener flüchtigen Konglomerate, die sich . . . aus der Lehre vom Vertrag erheben wie Wolkengebilde«, sieht Ranke in den Staaten »geistige Wesenheiten, originale Schöpfungen des Menschengeistes - man darf sagen, Gedanken Gottes«73. Aus dem obigen ergeben sich zwei wichtige Folgerungen: die Vergeistigung der Begriffe »Macht« und »Kampf« sowie die Unterordnung der Interessen des einzelnen unter die des Staates. Nach Ranke sind die Handlungen des Staates von seiner Idee bestimmt. Diese Idee stößt auf Widerspruch, was letztlich zum kriegerischen Zusammenprall führt. Der Staat entsteht durch Kampf; seine Existenz und seine Entfaltung sind unausweichlich mit Kämpfen verbunden. »Die Welt . . . ist eingenommen. Um etwas zu sein, muß man sich erheben aus eigener Kraft, freie Selbständigkeit entwickeln, und das Recht, das uns nicht zugestanden wird, müssen wir uns erkämpfen.« Aber gibt dann nicht rohe Gewalt allein den Ausschlag, fragt Karl in >Das politische Gespräch < Friedrich. Nein, erwidert Friedrich; es gibt die Grundlagen der europäischen Staatengemeinschaft, und sie bleiben, wenn auch diese Gemeinschaft »moralische Energie« braucht, um »zu universaler Bedeutung« zu gelangen. Da Ranke wie Hegel vom Sieg des Guten in den Kriegen überzeugt ist, läßt er Friedrich sprechen: »Aber in der Tat, du wirst mir wenige wichtige Kriege nennen können, von denen sich nicht nachweisen ließe, daß die wahre moralische Energie den Sieg behauptete.«74 In einem wichtigen Punkt ist der Rankesche Staat in seinem Streben begrenzt: in seiner Anerkennung der europäischen Staatengemeinschaft und der Rolle aller großen Mächte bei der Wahrung dieser Gemeinschaft und hinsichtlich ihres Beitrags zu der reichen Vielfalt der europäischen Familie. Nach Rankes Ansicht kann sich ein Staat nur dann in vollem Ausmaß entfalten, wenn er von anderen Staaten unabhängig ist. Deshalb stehen Außenpolitik und Militärpotential für den Staat an erster Stelle. Sein »lebendiges Prinzip« erfordert die Unterordnung der innenpolitischen Angelegenheiten unter diese beiden Bedürfnisse75. Die Meinungen über die innere Gliederung des Staates rangieren erst nach den außenpoliti" E b d . , S . 329. '« E b d . , S . 327. " E b d . , S . 532.
Leopold von Ranke
III
sehen Erwägungen. Innenpolitische Streitigkeiten müssen der öffentlichen Auseinandersetzung entzogen werden, wie es vor der Französischen Revolution der Fall war, und »die Politik wieder auf das Gebiet der Macht und der auswärtigen Verhältnisse« geführt werden, »wohin sie gehört« 78 . Der einzelne ist somit eindeutig den staatlichen Erfordernissen unterworfen. Staaten sind als »Gedanken Gottes« Selbstzweck. »Es würde lächerlich sein, sie für ebenso viele Sicherheitsanstalten für die Individuen, die sich zusammengetan, etwa für ihr Privateigentum, zu erklären.«" Die einzelnen existieren nur innerhalb des Staates. Im »rechten Staat« gibt es »das reine Privatleben« für den Bürger nicht. »Unsere Tätigkeit gehört an und für sich hauptsächlich dem Gemeinwesen an.« 78 Der Begriff der Freiheit bedarf deshalb in dem Sinn, wie ihn Liberale oder Demokraten traditionsgemäß verstanden haben, für Ranke einer Neuformulierung. Für Friedrich - in >Das politische Gespräch < - wird der Mensch insgesamt »zu einem politischen Geschöpf«, dessen Persönlichkeit sich in Beziehung zur Gemeinschaft formt und entwickelt. Der Staat ist als eine »geistige Einheit« so beschaffen, daß seine Idee »einen jeden ergreife, daß er von dem geistigen Leben desselben etwas in sich fühle, daß er sich als ein Mitglied des Ganzen betrachte und Liebe dazu habe, daß das Gefühl der Gemeinschaftlichkeit stärker sei als das Gefühl provinzieller, lokaler oder individueller Absonderungen« 79 . In diesem Sinn gleicht der Staat einer Familie, und »was von Natur zusammengehört, braucht . . . [des Vertrages] nicht. Zwischen Eltern und Kindern, zwischen Brüdern und den Gliedern der Familie ist keine Confarreation vonnöten.« 80 Darum besteht keine Notwendigkeit, die Rechte des einzelnen schriftlich zu gewährleisten. In jedem gesunden Staat ist Freiheit mit Gehorsam identisch. »Die Zwangspflicht wird sich zu Selbsttätigkeit, das Gebot zur Freiheit erheben.« Ist dies erreicht, dann kann der Staat das verwirklichen, was stets das höchste Ziel seiner Innenpolitik sein muß: Gesellschaftlicher Zusammenhalt auf der Grundlage des freiwilligen Mitwirkens seiner Bürger 81 . '« Ebd. " Ebd., S. 52». " E b d . , S . 333. Ebd., S. )J4M Ebd., S. 338. Ebd.,S. 334.
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Das theoretische Fundament des deutschen Historismus II
Hinsichtlich der Regierungsform verstand Ranke den guten Staat als Monarchie, in der »der rechte Mann an die rechte Stelle« kommt 82 . Die Teilhabe der Regierten an Regierungsangelegenheiten zu fordern oder die herrschende Klasse als eine den Beherrschten fremde Schicht zu betrachten, hieße die Funktion der Arbeitsteilung in einer Gesellschaft mißverstehen. Die Regierenden verkörpern »eine Auswahl der Geschicktesten aus der ganzen Nation, welche die Fähigkeit dazu in sich ausgebildet haben« 83 . Rankes monarchistischer Uberzeugung liegt eine optimistische Anschauung zugrunde: daß »sie [die fähigen Männer] da sein werden, dafür bürgt die Natur, welche immer vollständig ist. Es kommt nur darauf an, daß man sie finde.« 84 Im Hinblick auf die »Neigung der Menschen,sich ihrer Macht zu überheben«, stellt Karl die Frage, ob die Regierungsgewalt nicht eingeschränkt werden solle. Dies erscheint Friedrich, der zugibt, daß diese Regierungsform in tausenderlei Weise verwildern könne, jedoch unnötig. Der Staat wird sich nicht nur des Eingriffs in jene Lebensbereiche enthalten, in denen »nichts erwünschter ist als Spontaneität der Lebensregungen«, sondern Friedrich scheint es augenfällig, daß diese Regierungsform »in der Natur der Sache begründet, von der Idee unserer Monarchien gefordert« ist 85 . Dem Eindruck einer tiefgehenden Widersprüchlichkeit in Rankes Argumentation in >Das politische Gespräch < vermag man sich kaum zu entziehen. Einerseits ist es Rankes Bestreben, nicht »den besten Staat« zu beschreiben, sondern »nur den zu begreifen, den wir vor Augen haben« 86 ; andererseits befindet er sich unablässig auf der Suche nach dem guten, dem naturgemäßen Staat. Wenn alle existierenden Staaten göttlichen Ursprungs sind, müßten dann nicht, wie Karl fragt, »alle Staaten gleich vortrefflich sein«? Müßten nicht die nordamerikanische Republik oder die französische Julimonarchie als Ergebnis historischer Kräfte von gleichem Wert sein wie die preußische Monarchie? Hätte Ranke an seiner Forderung festgehalten, daß der Historiker oder der politische Theoretiker den Staat in der Geschichte aufzusuchen und keineswegs mit abstrakten Kriterien an ihn heranzugehen habe, dann müßte er Friedrich eine " Ebd., S. 335. " Ebd., S. 336. " Ebd. •• Ebd. Ebd., S. 3j).
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zustimmende Antwort in den Mund gelegt haben. Stattdessen unterscheidet er zwischen der »Idee« des Staates, »der wir ja einen göttlichen Ursprung zuschreiben«, und »der Ausführung derselben, ihrer Darstellung in der Welt« 87 . Somit gibt es gesunde und kranke Staaten. Unter dem ersteren Typ, den er mit einem Körper vergleicht, »in Besitz aller seiner Kräfte, aller seiner Glieder«, versteht er offensichtlich nicht den freiheitlichen Staat, der den Bereich politischer Gewalt begrenzt. Tatsächlich scheint sich Rankes Untersuchung des Staates mit den konkret existierenden, den geschichtlichen Staaten wenig abzugeben. Sie widmet sich den Staaten nicht, soweit es die Ausübung von deren Aufgaben, die Wirksamkeit der Gewalten im Innern oder die Interessenkonflikte betrifft. Wie der amerikanische Historiker Theodore H. Von Laue festgestellt hat, bedeutet für Ranke praktische Politik vor allem die Ausbildung von Staatsbeamten und Regierungsfachleuten 88 . Die politische Theorie dagegen beschäftigt sich mit »dem Staat«, doch der Staat ist eine abstrakte Größe, die sich abgesondert und oberhalb der tatsächlichen Handlungen der bestehenden Regierungen befindet. Als eine metaphysische Realität aufgefaßt, könnte er dazu benützt werden, um die Suprematie der Monarchie über den einzelnen zu legitimieren. In engerem Sinne politisch-militärisch verständen - getrennt von der Gesamtstruktur der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Kräfte - scheint Rankes Staatsbegriff weit eher auf die absolutistischen Monarchien des 16., 17. und 18. Jahrhunderts zuzutreffen als auf die Staaten im allgemeinen. Gewiß läßt sich Ranke verteidigen, was die Ablehnung einer Metaphysik der individuellen Rechte betrifft. A n ihre Stelle setzt er jedoch eine Metaphysik der staatlichen Rechte. Trotz seiner Betonung des individuellen Charakters der Staaten als geschichtlicher Ergebnisse, gleichen sich letzten Endes alle seine Staaten in überraschender Weise. Wie Ernst Schulin in einer Untersuchung über die Bedeutung des Orients in Hegels und Rankes Auffassungen der Weltgeschichte herausgearbeitet hat, ist Ranke offenbar in viel geringerem Grade als Hegel fähig, das individuelle Wesen eines Volkes darzustellen89. Rankes Staaten werden alle von den abstrakten Forderungen E b d . , S. 3 3 7 . V g l . V o n L a u e , a . a . O . , S. 95. Siehe E r n s t Schulin, Die weltgeschichtliche E r f a s s u n g des Orients bei H e g e l und R a n k e , G ö t t i n g e n 19 J 8, S . 2 7 1 ; v g l . Heinrich v o n Sybcls ähnliche Feststellung in seiner »Gedächtnisrede t, i n : V o r t r ä g e und A b h a n d l u n g e n , M ü n c h c n 1897, S. 305.
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der Staatsraison gelenkt, die von inneren Entwicklungen weitgehend unbeeinflußt erscheinen. Im Hinblick auf diese beinahe völlige Gleichsetzung des Staates mit seiner Außenpolitik wirkt Rankes Staatsbegriff abstrakter und starrer als der von Savigny oder Humboldt. Da er die politische Macht unter diesem Blickwinkel sieht, bringt Ranke für die neuen Kräfte, die seit der Französischen Revolution in der europäischen Gesellschaft wirksam waren, wenig Verständnis auf. Nach 1836 hat Ranke nur noch wenig geschrieben, was Bezug auf Geschichtsphilosophie oder politische Theorie nahm, wenn man von Randbemerkungen absieht, die über seine Werke verstreut sind. Es gibt allerdings zwei nennenswerte Ausnahmen: die Vorlesung für König Maximilian II. (1854), worin er die Vorstellung eines linearen, moralischen Fortschritts ablehnte und von der Unmittelbarkeit aller Epochen zu Gott sprach, und die Politischen Denkschriften Geschichte der Preußischen Politik Historik< behandelt hatte 110 . Sybel stand Droysen politisch nahe, wenn er sich auch während der Verfassungskrise in den 1860er Jahren für kurze Zeit ein wenig links von Droysen befand. Im Frankfurter Vorparlament hatte sich Sybel zu den gemäßigten Liberalen bekannt, wie er es auch in den preußischen Landtagen der 1860er Jahre tat. Als »Liberal-Konservativer«, wie er sich selbst nannte 111 , trat er seine politische Laufbahn hindurch beharrlich für konstituierende Organe und den Rechtsstaat ein; wie Droysen wandte er sich jedoch gegen wirkliche parlamentarische Einspruchsbefugnisse dem Monarchen gegenüber und schreckte vor der Volkssouveränität zurück. Seine frühen Arbeiten über Burke und die Whigs kennzeichnen deshalb sein Bestreben, seine eigene politische Haltung zu umreißen. Das trifft auch auf seine >Geschichte der Revolutionszeit < zu, in der sich ein viel tieferes Erfassen der Bedeutung der sozialen Kräfte erkennen läßt als in irgendeinem anderen Werk aus der Feder eines politischen Historikers 112 . Trotz gelegentlicher Akzentverlagerungen gleichen Sybels Auffassungen von der geschichtswissenschaftlichen Methode und der Beschaffenheit der historischen Realität jenen Droy110 Heranzuziehen sind insbes. >Die christlich germanische Staatslehre« (1851), in: Sybel (s. o. Anm. I V , 105). S. 3 6 J - 4 1 4 ; »Über den Stand der neueren deutschen Geschichtsschreibung< (i8j6), ebd., S. 349-364; »Uber die Gesetze des historischen Wissens« (1864), in: ders., Vorträge und Aufsätze, Berlin 1874, S. 1-20. Sybels Vorlesungen über Politik sind nicht veröffendicht worden, wurden aber analysiert bei Hellmut Seier, Die Staatsidee Heinrich von Sybels in den Wandlungen der Reichsgründungszeit 1862/71, Lübeck 1 9 6 1 ; ders., Sybels Vorlesung über Politik und die Kontinuität des »staatsbildenden« Liberalismus, in: H Z 187 (19J9), S. 9 0 - 1 1 2 . 111 Sybel bemerkt in >Ubcr den Stand der neueren deutschen Geschichtsschreibung«, daß fast alle damaligen namhaften Historiker Deutschlands zu den Liberal-Konservativen gehörten, einer Art Verbindung von gemäßigten Whigs und liberalen Tories. E r zählt dazu Motnmsen, Duncker, Waitz, Giesebrecht, Droysen und Häusser sowie - trotz geringer Abweichungen nach links oder rechts - auch Gervinus und Hopfner ( a . a . O . , S . 362^). Vgl. zu Sybel auch Hans Schleier, Sybel und Treitschke. Antidemokratismus und Militarismus im historisch-politischen Denken großbourgeoiser Geschichtsideologen, Berlin 196; (marxistischer Standpunkt). 111 Sybels Interesse für soziale Kräfte in seiner »Geschichte der Revolutionszeit« wird insbes. bei Fueter, a . a . O . , S. 537f. hervorgehoben. Sybels Name ist bekanndich eng mit seiner Kontroverse mit dem katholisch-österreichischen Historiker Julius Ficker über Charakter und Aufgabe des Heiligen Römischen Reiches im Mittelalter verknüpft, wobei Sybel eine kleindeutsche, Ficker eine großdeutsche Haltung einnahm. Vgl. dazu Heinrich von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart I I , München 1 9 J I , S. 3 3 f . ; Gottfried Koch, Der Streit zwischen Sybel und Ficker und die Einschätzung der mittelalterlichen Kaiserpolitik in der modernen Historiographie,in: Studien... ( s . o . A n m . I V , 101), S. 3 1 1 - 3 3 6 .
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sens in beachtlicher Weise. Auch Sybel betont den methodischen Unterschied zwischen den Geschichts- und den Naturwissenschaften. Die Handlungen der Menschen erfordern »geistiges Verständnis«. Die »Mittel exakter Kontrolle«, die dem Naturwissenschaftler für die Bestätigung seiner Beobachtungen zur Verfügung stehen, sind für den Historiker in erheblich geringerem Ausmaß anwendbar 113 . Trotz dieser Begrenzungen ist Sybel von der »Möglichkeit sicherer objektiver Erkenntnis« in der Geschichte überzeugt 114 , da alle »menschlichen Wesens sind und von den gleichen Gesetzen der menschlichen Natur bestimmt werden«; jedes historische Ereignis ist Teil eines Gesamtzusammenhangs 115 . Dieser Glaube an die Möglichkeit sicheren historischen Wissens und Sybels tiefe Überzeugung vom stetigen Fortschritt der menschlichen Dinge ließ einige deutsche Kritiker eine Verwandtschaft zwischen Sybels historischen Auffassungen und denen der westeuropäischen Positivisten entdecken116. Eine derartige Verwandtschaft könnte man - in einem sehr großen Ausmaß - ebensogut bei Droysen finden, trotz seines Angriffs auf Buckle. Glaubt nämlich Sybel an die Möglichkeit eines objektiven geschichtlichen Wissens, so ist das nichts anderes, als wenn Droysen an die Notwendigkeit eines objektiven Zugangs zur Geschichte glaubt. Da wir Teil eines großen geschichtlichen Zusammenhangs sind, geben unsere partiellen und subjektiven historischen Augenblicke eine objektive Wirklichkeit wieder. Aus sehr ähnlichen Gründen wie Droysen rügt Sybel Rankes vermeintlichen »Mangel an Wärme« 117 und seine übermäßige Beschäftigung mit handwerklichen Erwägungen sowie Schlossers oberflächliches Moralisieren 118 . Dennoch kann Geschichte nur in ihrem Verhältnis zu dem jeweils gegenwärtigen Leben verstanden werden. »Denn so gewiß der echte Historiker nicht ohne sittliche Gesinnung heranreifen kann, so gewiß gibt es keine echte Gesinnung ohne ein bestimmtes Verhältnis zu den großen weltbewegenden Fragen der Religion, der Politik, der Nationalität. Der Historiker, der sich hier in vornehme Neutralität zu ziehen sucht, wird ohne Rettung entweder seelenlos oder affektiert.« Vgl. Sybel, Über die G e s e t z e , . . , a . a . O . , S. 5-6. " « Ebd., S. 20. l " E b d . , S . it. 111 Vgl. Wach, a.a.O. I I I , S. 189-205; Sieburg, a.a.O. I I , S. 20 5 . Sybel, Über den S t a n d . . . , a . a . O . , S. 3 j z . m Vgl.ebd.,S.3j8f.
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Daher gilt es für Sybel als »ein höchst erheblicher Fortschritt«, wenn er für die verflossenen Jahrzehnte feststellen kann: »Jeder Historiker, der in unserer Literatur etwas bedeutete, hatte... seine Farbe; es gab religiöse und atheistische, protestantische und katholische, liberale und konservative, es gab Geschichtsschreiber von allen Parteien, aber es gab keine objektiven, unparteiischen, blut- und nervenlosen Historiker mehr.« 119 Die Existenz eines Weltplanes, die Realität des Fortschritts schließt für Sybel ebenso wie für Droysen grundsätzliche Konflikte zwischen der Freiheit des einzelnen und dem Staat, zwischen Ethik und Macht aus. Freiheit besteht, wie Sybel bemerkt, nicht nur in Freiheit von Zwang, »in der formalen Selbstbestimmung des Willens ohne Rücksicht auf den Inhalt desselben«. Aus dem Blickwinkel der idealistischen Tradition sieht er Freiheit vielmehr positiv, als »Selbstbestimmung zu Bildung und Sitte«, als die »ungehinderte Entfaltung der menschlichen Natur«. So verstandene Freiheit ist jedoch nach Sybels Meinung nur innerhalb einer Gemeinschaft möglich und unter der Führung des Staates als einer moralischen Anstalt. Er folgert deshalb, »daß der Staat Gewalt über die Einzelnen hat, daß diese ihm Gehorsam schulden und nur in diesem Gehorsam ihre eigene Freiheit verwirklichen können«120. Der Staat ist nicht das Werk einzelner Menschen, sondern samt seinen Gesetzen »eine Schöpfung von oben« 121 . E r ist kein »mechanisches Werkzeug«, sondern eine »lebendige Genossenschaft«, eine »sittliche Potenz«. Somit ist »der Staat... die Verwirklichung der Freiheit durch die Macht der Gemeinschaft« und »seine Aufgabe ist gleichbedeutend mit der Vollendung der menschlichen Kultur« 122 . Die Geschichte des Staates repräsentiert darum für Sybel, wie für Hegel, den Fortschritt der »sittliche(n) Idee«. Zutiefst überzeugt vom stetigen Voranschreiten des Menschen, mahnt Sybel seine Leser: »Man prüfe etwa das 6., 16. und 19. Jahrhundert in bezug auf die Dichtigkeit und Arbeitskraft der Bevölkerung, die Reinheit der sexualen Verhältnisse, die Achtung für das einzelne Menschenleben, die Sicherheit der bürgerlichen Ordnung, die Milderung des Kriegszustandes, das Streben nach Wohlstand und Bildung für alle Klassen, und man wird sich bald überzeugen, daß an J1,
E b d . , S . 549. Zit. nach Seier. Die Staatsidee . , a . a . O . , S. 22. Sybel, Die . . . Staatslehre, a . a . O . , S. 570. 1,1 Zit. nach Seicr, Sybels Vorlesung . . a . a . O . , S. 105, l o j . 1M 1,1
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keiner Stelle von Rückschritt die Rede sein kann. Mag der neuen Zeit hier und da eine Genialität vergangener Perioden fehlen, so ist sie allen früheren in der Durchschnittssumme der Sitte und Humanität überlegen.« 123 Sybel war von der Mission des Staates so überzeugt, daß er bereit war, bürgerliche Freiheiten und ethische Prinzipien den staatlichen Interessen zu opfern, falls dies notwendig sein sollte. Er war dabei - vielleicht eher als Droysen - bereit, das Vorhandensein echter Konflikte zwischen den Belangen des Rechts und der Macht zuzugestehen. »Das geschichtlich Erwachsene« hat nur dann, äußert er, ein Recht zum Fortbestand, wenn es auf der Grundlage »des allgemeinen Vernunft- und Sittengesetzes« beruht. Erfreut konstatiert er, daß nur wenige politische Institutionen dieser Grundlage völlig ermangeln 124 . Es bleibt einigermaßen unklar, was er unter den Gesetzen der Sittlichkeit und der Natur versteht. Offenbar verletzt ein Herrscher die Gesetze der Natur, wenn er sich entweder vom »geschichtlich Gewordenen« loszureißen versucht oder wenn er sich »dem Strom der neuen Entwicklung« entgegenzustemmen bemüht 125 . Auch wenn das oberste Bedürfnis des Staates die Macht ist, sollte er sie rechtens gebrauchen 126 . Tritt jedoch ein Konflikt zwischen Macht und Recht zutage, muß das Recht weichen. »Wer die Natur der Dinge vertritt, siegt immer; aber er siegt, wenn er das Recht gegen sich hat, nur schwer . . . « Rechtsgarantien müssen im Notfall ebenso wie die bürgerlichen Freiheiten dem Staatsinteresse geopfert werden127. Der staatlichen Macht formell Grenzen zu setzen, ist schlechthin gefährlich. »Es ist verkehrt, die Schranke der Staatstätigkeit räumlich ziehn, gewisse Gebiete des Lebens ihm versperren zu wollen . . . Das Gesetz der Freiheit fordert nicht, daß der Staat sich um gewisse Seiten des menschlichen Daseins gar nicht kümmere, sondern daß er sie im Sinne und im Interesse der Freiheit behandele.« 128 Wenn der Zweck des Staates nicht von Anfang an aufgeho1U
Sybel, Die . . . Staatslehre, a . a . O . , S. 405. Zit. n. Seier, Sybels Vorlesung . . . , a. a. O., S. 98 f. Sybel, Die . . . Staatslehre, a . a . O . , S. 370. IM Vgl. dazu das Zitat bei Seier, Sybels Vorlesung, a.a.O., S. IOJ f.: »Die erste Forderung bleibt immer, daß der Staat . . . Macht habe, die zweite, daß er seine Macht auf dem Boden des Rechts verwende, die dritte, daß er damit das sittliche Leben und die geistigen Anlagen der einzelnen zur Entfaltung bringe, die letzte, aber die höchste, daß der Staat das sittliche Leben durch freien Entschluß seiner Angehörigen verwirkliche.« Ebd., S. 106. Ebd., S. 107. 1,4 1,1
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Der Gipfel des historischen Optimismus
ben sein soll, dann muß dem Staat die Befugnis eingeräumt werden, jedem Individuum den Grad der politischen Freiheit danach zuzumessen, was es zur Gesamtheit beiträgt129. Sind aber die Kräfte der Geschichte jene des Fortschritts, so muß ihr Handeln nicht nach abstrakten ethischen Normen, sondern nach dem Erfolg beurteilt werden. Sybel beeilt sich zwar, zwischen augenscheinlichem, momentanen und »praktischem, bleibenden« Erfolg zu unterscheiden. Den Erfolg will er jedoch als den »höchsten Richter«, als die »schlechthin entscheidende Instanz« bewahrt sehen. Das Genie, das mittels Gewalt und Usurpation Erfolge erlangt, dürfe nicht, so schließt Sybel, an den gewöhnlichen moralischen Maßstäben gemessen werden 130 .
6. Es kann deshalb nicht überraschen, daß die gemäßigt liberalen Historiker während der Verfassungskrise ihren Frieden mit Bismarck leicht machten. Keiner hegte - möglicherweise mit Ausnahme von Gervinus, der sich diesem Frieden auch nicht anschloß - demokratische Neigungen. Keiner war im westeuropäischen Sinne liberal. Alle zollten der Notwendigkeit eines starken Staates Anerkennung und lehnten nicht nur das allgemeine Stimmrecht, sondern auch jegliche weiterreichende Kontrolle der Legislatur über den Monarchen ab. Sie strebten nach einem konstitutionellen Rechtsstaat, der die Grundrechte des einzelnen garantieren, die nationale Einigungsbewegung wirksamer vorantreiben und im allgemeinen eine fortschrittliche Wirtschafts- und Sozialpolitik verfolgen würde. Sie opponierten eigentlich weniger gegen die Gesetzesvorlage zur Heeresreform, durch die der Konflikt zwischen dem preußischen Landtag und der Regierung entstanden war, sondern waren mehr über die Verletzung der preußischen Verfassung empört. Am meisten waren sie vielleicht über die Berufung Bismarcks zum Ministerpräsidenten betroffen, da sie in ihm einen Vertreter der reaktionären Junker sahen. Alle blickten voller Mißtrauen auf die demokratischen Kräfte um die neugegründete Fortschrittspartei, die 1861 als stärkste Partei in den Landtag einzog. Um sie konzentrierte sich die 110
s.
Vgl. ebd., Ulf. Zit. n. Scicr, Die Staatsidee
, a . a . O . , S. 39.
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157
Opposition zur Verteidigung der verfassungsmäßigen Rechte des Landtags gegen Bismarck. Max Duncker nahm eine positive Stellung zur Gesetzesvorlage zur Heeresreform von 1861 und sogar zu Bismarcks Ernennung im Jahr darauf ein, obwohl er hinsichtlich des Mannes selbst gemischte Gefühle empfand 1 3 1 . Droysen befand sich desgleichen niemals wirklich in Opposition 132 . Rudolf Haym erklärte in einem Leitartikel, daß sich die >Preußischen Jahrbücher < Bismarcks Verordnung vom 1. Juni, mit der die oppositionelle Presse gezähmt werden sollte, fügen würden, aber er mahnte: »Es ist das Prinzip aller unserer Institutionen, daß das Recht das Resultat des Zusammenwirkens von Regierung und Volk ist.« 133 E r fuhr fort: »Der siegende Wille der höchsten M a c h t . . . ist unzertrennlich von Rechtschaffenheit und . . . Wahrhaftigkeit.« E r bedauerte, daß Bismarck »das alte militärische Preußen« retten wolle »gegen ein neues Preußen, dessen Kern das Bürgertum wäre, dessen Schwerpunkt im Parlament läge« 134 . E r konzedierte jedoch: »Viel, auch Lästiges und Drückendes, selbst anomale Gewalttaten läßt sich eine Nation von einer Genialität, die sich durch Erfolge bewährt, gefallen . . . Auch ist eine Nation zu manchem Verzicht auf freie Bewegung im Innern bereit, wenn ihr als Preis dafür ein Zuwachs an Macht und Ansehn nach außen gezeigt wird.« 1 3 5 Für den preußischen Staat gilt allerdings, daß er die »Legitimation zu der Repression, die wir heute alle fühlen, . . . erst zu erwerben« hat 136 . Nicht alle wollten sich fügen. Treitschke, der über Hayms Artikel erzürnt war, distanzierte sich öffentlich von den >Preußischen Jahrbüchern Die Freiheit« hatte Treitschke vom »erbarmungslosen Rassenkampfe der Geschichte«151 gesprochen und die Religion verächtlich als »ein subjektives Bedürfnis der schwachen Menschenherzen«152 abgetan. In den 1870er und 1880er Jahren erschien ihm die Politik zusehends mehr als ein Kampf ums Dasein, Nation gegen Nation, der Starke gegen den Schwachen. Im neuen Reich agierte er wiederholt als Sprecher eines neuen Konservatismus gegen die Sozialisten und die Kathederso^ialisten um Gustav Schmoller und den »Verein für Sozialpolitik«, der für maßvolle Sozialreformen innerhalb der bestehenden Monarchie eintrat. »Die Millionen müssen ackern und schmieden und hobeln, damit einige Tausende forschen, malen und regieren können«, stellte er fest153. Treitschke unterstützte auch die im Entstehen begriffene imperialistische Ideologie und forderte eine starke deutsche Weltpolitik, Kolonien und eine Flotte. Während er in seiner frühen Zeit für die Emanzipation der Juden eingetreten war, verwandelte er sich nun in einen Antisemiten154. Auch Theodor Mommsen begrüßte die Ereignisse der Jahre 1870/71 mit Enthusiasmus und kehrte bald darauf als National148
August Ludwig von Rochau, Grundsätze der Realpolitik, Stuttgart i 8 j 3 , 1 . S. 3. Vgl. Dorpalen, a.a.O., S. 5 4 f . im Vgl. Baumgarten, a.a.O., S. 1 1 1 . 141 Treitschke (s. o. Anm. 141), S. 381. 161 E b d . , S. 392. m Treitschke, Zehn Jahre Deutscher Kämpfe. Schriften zur Tagespolitik 2, Berlin 1897, S. 129. m Sein Antisemitismus führte 1880 zu einer energischen Erklärung von 7 j Berliner Professoren und zu Theodor Mommsens Aufsatz >Auch ein Wort über unser Judentum«, Berlin 1880 (auch in: Reden und Aufsätze, Berlin 1905, S. 410-426). Eine Sammlung von zeitgenössischen Aufsätzen von Treitschke, Mommsen u . a . in: Der Berliner Anüsemitismusstieit, Hrsg. Walter Bochlich, Frankfurt 196}.
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liberaler ins Parlament zurück, wo er Bismarcks Kulturkampf gegen die katholische Kirche eifrig unterstützte. Bismarcks Einführung der Schutzzölle - 1879 nach dem Wahlsieg der Konservativen - erschien ihm als Verrat an den nationalliberalen Grundsätzen und an der Nationalliberalen Partei. Nachdem er 1881 als Abgeordneter der von der Nationalliberalen Partei sezessionierten Linksliberalen wieder in den Reichstag gewählt worden war, begann er die Gefahren eines Systems zu erkennen, in dem die Volksvertretungen keinen entscheidenden Einfluß auf die nationalen Angelegenheiten besaßen. Nunmehr schienen ihm die Nationalliberalen einen allzu hohen Preis für die Einigung gezahlt und Bismarck der Nation das Rückgrat gebrochen zu haben. Mit Bedauern sah Mommsen, wie zunehmend unfähig der Liberalismus in den Augen einer Generation, die in Bewunderung für Bismarck groß geworden war, erscheinen mußte, indessen das politische Leben einer Industrienation von halbfeudalen und militaristischen Interessen beherrscht wurde. Bitter enttäuscht erklärte er in seinem 1899, vier Jahre vor seinem Tod, geschriebenen Testament: »Politische Stellung und politischen Einfluß habe ich nie gehabt und nie erstrebt; aber in meinem innersten Wesen, und ich meine, mit dem Besten, was in mir ist, bin ich stets ein animalpoliticum gewesen und wünschte ein Bürger zu sein. Das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne, auch der Beste, über den Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus nicht hinauskommt. Diese innere Entzweiung mit dem Volke, dem ich angehöre, hat mich durchaus bestimmt, mit meiner Persönlichkeit, soweit mir dies irgend möglich war, nicht vor das deutsche Publikum zu treten, vor dem mir die Achtung fehlt.« 155 Einen anderen pessimistischen Ton schlug Hermann Baumgarten an. Während er 1870 noch beklagt hatte, daß die Deutschen stets die Rolle der Macht unterschätzt und die Bedeutung der Ideen überschätzt hatten 156 , wies er in den 1880 er Jahren auf die wichtige Rolle Bismarcks in der deutschen Geschichte hin und zeigte sich von tiefer Sorge für die Zukunft erfüllt. Wie Mommsen war er über Bismarcks Rückzug im Z i t . nach Wucher, a . a . O . , S. 2 1 9 ; siehe auch Hcuß, a . a . O . , S. 282. »»• V g l . B a u m g a r t e n , Wie w i r wieder ein V o l k g e w o r d e n sind, a. a . O . , S. 2 7 6 f . Z u r Erörterung der politischen Ansichten Baumgartens siehe E r i c h Mareks, Biographische Einleitung, e b d . ; W . Wiegand, Hermann Baumgarten, i n : Allgemeine Deutsche Biographie 55, Leipzig 1 9 1 0 , S . 4 3 7 - 4 3 1 . V g l . auch H a y m , Hermann Baumgarten, i n : Gesammelte Aufsätze, Berlin 1903, S.609-628.
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Kulturkampf und seinen Bruch mit der liberalen Zollpolitik enttäuscht. Deutlicher noch als Mommsen sah er die verborgene Gefahr hinter der überschwenglichen Verherrlichung von Macht und Deutschtum: die Drohung einer künftigen Massentyrannei. Scharf kritisierte er Treitschkes >Deutsche Geschichte < (1883) 157 und wandte sich gegen die antisemitischen Äußerungen Treitschkes und Adolf Stoeckers. Weit mehr als bei Mommsen verband sich seine Kritik am Konservatismus Bismarcks mit der Furcht vor einer Volksherrschaft, die einst die meisten deutschen Liberalen »klassischer« Prägung geteilt hatten. Wie schon Ranke befürchtete auch Baumgarten, daß Bismarck durch die Einführung des allgemeinen Stimmrechts Geister rufen könnte, deren er nicht mehr Herr würde. 1890 schrieb er an Sybel: »Daß das suffrage universel nicht nur den Staat, sondern unsere ganze Kultur bedroht, in allen Dingen die rohen Instinkte der Massen zur Herrschaft bringt, scheinen die Wenigsten zu ahnen.«158 Mommsen und Baumgarten waren mit ihrer Unzufriedenheit mit dem Staat Bismarcks ziemliche Einzelgänger, ehe sich später in den 1890 er Jahren der Kreis um Friedrich Naumann bildete. Obwohl der Naumann-Kreis sich der Mängel des deutschen Kaiserreiches zutiefst bewußt war, zeigte er sich aber dennoch völlig überzeugt von der zentralen Rolle der Macht im Staate und von der Zukunft Deutschlands als einer Weltmacht.
1,1 1M
Baumgarten. Treitschkcs Deutsche Geschichte, Straßburg 1883. Bautngarten (s. o. Anm. 14t), S. C X V I I I .
VI.
D I E »KRISE DES HISTORISMUS« DIE
PHILOSOPHISCHE
COHEN,
I
KRITIK:
DILTHEY, WINDELBAND,
RICKERT,
WEBER
l.
In den letzten Jahren haben immer mehr Historiker eine tiefreichende Krise im geschichtlichen und gesellschaftlichen Bewußtsein Europas während des letzten Vierteljahrhunderts vor dem Ersten Weltkrieg diagnostiziert. Autoren wie Stuart Hughes, Gerhard Masur und Arnold Brecht 1 sahen den Herd der Krise in der wachsenden Einsicht der Kulturphilosophen, Soziologen, Historiker und Dichter in die Begrenztheit menschlichen Wissens und in die Subjektivität aller Erkenntnis von menschlichem Verhalten und gesellschaftlichen Vorgängen. Der Positivismus hatte im Laufe des 19. Jahrhunderts das traditionell religiöse und metaphysische Weltbild Schritt um Schritt zerstört. Allerdings setzten die Positivisten noch voraus, daß die Welt ein geordnetes, von mathematischen Gesetzen regiertes System sei und daß die naturwissenschaftlichen Methoden die gesetzmäßige Beschaffenheit der physikalischen und der sozialen Wirklichkeit gleichermaßen enthüllen würden. Im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert kam das positivistische Menschen- und Weltbild unter Beschuß aus vielen Ecken. Die neuen Psychologen (Freud, Jung), die Philosophen (Nietzsche, Dilthey, Bergson), die Dichter und Romanciers (Baudelaire, Dostojewskij, Proust), alle deckten das irrationale Wesen des Menschen auf. Die Historiker und Soziologen ließen ihre Beschäftigung mit dem Problem, worauf sich Geschichte oder Gesellschaft begründe, fahren; sie fragten stattdessen, inwiefern eine Wissenschaft der Geschichte oder der Gesellschaft überhaupt möglich sei. Sie neigten zu der Auffassung, jegliches Wissen, das über Folgerungen, die auf empirischen Fakten beruhten, hinausgehe, sei von menschlicher Subjektivität gefärbt. Die Lösung irgendwelcher letzten 1 H. Stuart Hughes, Consciousness and Society. The Reorientation of European Social Thought, 1890-1930, N e w York 1958; Arnold Brecht, Politische Theorie. Die Grundlagen politischen Denkens im zo. Jahrhundert, Tübingen 1 9 6 1 ; Gerhard Masur, Propheten von Gestern. Z u r europäischen Kultur 1890 bis 1914, Frankfurt 196).
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Probleme wurde undenkbar; die Kluft zwischen der Welt des Seienden und der Welt der Sinngebung war offensichtlich unüberbrückbar 2 . Der Zusammenbruch des Newtonschen Weltbilds der Physik um die Jahrhundertwende und der Entwurf nichteuklidischer Systeme der Geometrie schien die Begrenztheit menschlichen Wissens noch zu unterstreichen. Jede Deutung der Wirklichkeit, die nicht auf strenger Deduktion fußte, wurde als Dichtung oder Phantasterei abgetan. Der ausschließliche Verlaß auf empirische Fakten würde - das fühlte man - eine von Grund her sinnlose Welt bedeuten. Der Angriff auf den Positivismus trieb diesen zu den in ihm liegenden logischen Konsequenzen, wodurch seine ihm noch verbliebenen metaphysischen Voraussetzungen zerstört wurden. Diese Krise im modernen wissenschaftlichen und philosophischen Denken kennzeichnet im wesentlichen das Ende der Philosophie im traditionellen Sinn. Mit dem Zusammenbruch des metaphysischen Rahmenbaus blieben dem philosophischen Denken logischerweise nur drei Aufgaben, von denen keine sich auf die Suche nach der Wahrheit oder den Werten in irgendeinem letztgültigen Sinn bezog. Der Philosoph konnte sich der Geschichte zuwenden und die Wandlungen im philosophischen Denken der Zeitalter nachzeichnen oder die beherrschenden Ideen einer Epoche, eines Volkes, einer Tradition darstellen. Indem er über die schiere historische Beschreibung der Ideen hinausging, vermochte er noch etwas von dem umfassenden Interesse des Philosophen zu bewahren, wie es Dilthey getan hat. Auf der Grundlage vergleichender Untersuchungen konnte er die überepochalen Probleme und die Typen der philosophischen Lösungen des Lebensrätsels, die sich aus der Geschichte des menschlichen Denkens heraushoben, klassifizieren. Die Philosophie konnte auch zur reinen Logik und Erkenntnistheorie werden, die sich mit den Bedingungen des menschlichen Wissens befaßte. Ernst Troeltsch stellte fest, daß die Philosophie der Geschichte im materiellen Sinn, die die menschliche Geschichte als einen sinnvollen Prozeß erörtert, vollständig der Philosophie der Geschichte in einem rein formalen Sinn - als der Logik und Erkenntnistheorie des historischen Denkens - gewichen war 3 . Die Einsicht in die Grenzen menschlicher Vernunftfähigkeit 1
Vgl. insbes. Brecht, a.a.O. ' Vgl. Troeltsch, Uber den Begriff einer historischen Dialektik. Windclband, Rickertund Hegel, in: H Z 1 1 9 (1919) S. 373.
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müßte, insofern sie bis zur letzten logischen Konsequenz vorangetrieben wurde, eine entschieden relativistische Einstellung zum Wissen im Gefolge gehabt haben. Dennoch waren Männer wie Dilthey und Freud, die das Denken als Äußerung vitaler Funktionen und nicht als einen rationalen Prozeß ansahen, nicht dazu bereit, den Schluß zu ziehen, daß ein objektiveres Wissen von der physikalischen oder - in diesem Fall - sozialen und kulturellen Welt nicht möglich war. Beim Angriff auf den Positivismus um die Jahrhundertwende befanden sich Wilhelm Dilthey, Max Weber und Sigmund Freud, die die positivistische Neigung zu empirischen Fakten teilten, in der vordersten Front. Im Geist des Positivismus wollten sie das moderne Denken von den letzten ihm verbliebenen spekulativen Voraussetzungen befreien. Sogar die revolutionären Umbildungen in der theoretischen Physik - kurz nach 1900 - vermochten den Glauben an die Wissenschaft als ein Mittel, Wissen von der Welt des Seienden zu gewinnen, nicht zu untergraben. Einer ernsten Krise war die Lehre von den Werten ausgesetzt, da einige Soziologen, insbesondere in Deutschland, darauf beharrten, daß Werte wie Fakten zu untersuchen waren, als Bestandteile eines kulturell-historischen Zusammenhangs, indessen es Werte in irgendeinem absoluten Sinn nicht gebe und die Wissenschaft keine Lösung zur Frage der Werte anbieten könne. Werte waren auf Emotionen gegründet, nicht auf Erkenntnis. Der moderne Mensch sah sich jählings dem Zusammenbruch des Systems der absoluten Werte durch die Anarchie der Überzeugungen gegenüber. Dilthey befürchtete dies als eine Konsequenz seines eigenen Denkens 4 . Politische Entscheidungen wurden theoretisch auf willkürliche oder subjektivistische Entschlüsse reduziert 5 . Welche Rechtfertigung auch immer freiheitlich-humanitäre politische Ideale im Naturrecht oder in der Wissenschaft gesucht hatten - es galt nichts mehr; weder Liberalismus noch Demokratie noch Sozialismus vermochten irgendeinen Halt in einer Fortschrittskonzeption zu finden. In einer Welt, die keine absoluten Normen kannte, war nämlich Fortschritt in einem rationalen Sinn unvorstellbar. Die eigentliche Krise im politischen Denken des Westens darf, wie Arnold Brecht feststellte, »also nicht erst in dem Auftauchen totalitärer Ideologien gesehen werden, sondern sie war schon 4
Vgl. Wilhelm Dilthey, Rede zum 70. Geburtstag, in: G S V , Leipzig 1924, S. 9. Vgl. Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1918. 1
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etwa zwanzig Jahre vorher eingetreten, nämlich mit dem Aufkommen der theoretischen Auffassung, daß zwischen letzten Werten keine wissenschaftliche Wahl getroffen werden kann«.9 Vom Standort unserer Zeit blicken wir auf die Vergangenheit, insbesondere den Vorabend des Ersten Weltkrieges, zurück, um die Wurzeln unserer Kulturkrise zu finden. Einige der Wurzeln sind dort auch erkennbar. Wir könnten jedoch leicht in die Versuchung geraten, jene Epoche einseitig zu betrachten, da wir sie aus der Perspektive der großen Umwälzungen und Katastrophen des letzten halben Jahrhunderts sehen. Die Bedeutung des ethischen Relativismus, des Irrationalismus und Kulturpessimismus ist vermutlich in der neueren Literatur des öfteren allzu hoch veranschlagt worden. Ob der moderne Relativismus hinsichtlich moralischer und politischer Werte in erster Linie ein Ergebnis der methodologischen Diskussionen jener Zeit ist, bleibt doch fraglich. Die berühmte Unterscheidung zwischen den Methoden, die auf die Kulturwissenschaften, und jenen, die auf die Naturwissenschaften anwendbar sind, begann nicht erst mit Dilthey und Windelband, sondern läßt sich durch die Geistesgeschichte rückwärts bis zum Aufstand der deutschen Historischen Schule gegen die naturrechtliche Tradition verfolgen. Viel wichtiger vielleicht als die Entzauberung von Religion und Metaphysik durch positivistische Autoren im Laufe des 19. Jahrhunderts war die von deutschen Autoien historisierender Provenienz eingenommene Haltung, Ideen und Werte nicht von den absoluten Normen des Wahren oder Guten her zu sehen, sondern als Ausdruck eines bestimmten Zeitalters, Kulturbereichs oder Volkes. Was Humboldt, Ranke und Droysen vor einem radikalen Relativismus bewahrte, war ihr fester Glaube, daß die farbenreiche Verschiedenheit der Normen und Institutionen nicht eine chaotische Welt, sondern die vielen Seiten einer wohlbegründeten und sinnvollen Einheit, die sich in der Geschichte entfaltete, widerspiegelte. Dieser Glaube an den Sinn der Geschichte war allen Teilnehmern an der Methodendiskussion um die Jahrhundertwende eigen: Dilthey, Windelband und Rickert ebenso wie Meinecke und Troeltsch. Max Weber scheint als einziger den Abgrund zwischen Fakten und Werten erkannt zu haben. Wenn wir heute auf die Zeitspanne von 1890 bis 1914 blicken, werden wir vor allem des wachsenden Kulturpessimis• Brecht, a . a . O . , S. 9.
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mus und der irrationalen Strömungen gewahr. Dieselben Jahre sind aber auch vom Höhepunkt des modernen Optimismus, einem fast unbegrenzten Vertrauen auf Wissenschaft und Kultur gekennzeichnet. Das traf besonders auf das wilhelminische Deutschland zu7. Das kritische Urteil der deutschen Sozialphilosophen über die Fortschrittstheorien des französischen und englischen Positivismus darf uns dabei nicht irreführen. Wie Droysens >Grundriß der Historik< zeigt, schloß der Glaube des deutschen Historismus an die geschichtliche Entwicklung einen Optimismus bezüglich der Kultur der Zukunft in sich ein, der den eher klassischen Theorien des Westens über Fortschritt und soziale Evolution in nichts nachstand. Ein tiefes Vertrauen in die besondere Sendung Deutschlands in der modernen Welt war darin enthalten. Überhaupt war vielleicht niemals sonst das Vertrauen in die wohltätige Macht der Kultur in ihrer spezifisch deutschen Ausformung derart ausgeprägt. Dieser Kulturbegriff beschränkte sich nicht mehr auf Goethe, Kant und Beethoven, sondern bezog auch die großen wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften in sich ein. Zum Kulturpessimismus bekannte sich keiner der Männer, die die Methodendiskussion führten. Alle waren von der Bestimmung Deutschlands und der Richtigkeit von 1870/71 überzeugt. Dilthey und Windelband waren noch gute Nationalliberale. Max Weber, Troeltsch und nach 1900 auch Meinecke wurden sich der sozialen Ungerechtigkeit, die im Gefolge der Industrialisierung im Reich herrschte, allerdings deutlich bewußt. Sie lenkten auch die Aufmerksamkeit auf die gefährlichen politischen Folgen einer undemokratischen Verfassung, die den halbfeudalen Junkern einen unangemessen starken Einfluß in einer modernen technisierten Gesellschaft zugestand. Eine solche Verfassung ließ großen Spielraum für die Narrheiten des politischen Dilettanten Wilhelm II. Trotz allem blieben diese Männer von der grundsätzlichen Richtigkeit der deutschen politischen Entwicklung und der Möglichkeit von Reformen innerhalb des traditionellen Gebäudes überzeugt. Sie stellten sich nicht deswegen hinter das Bemühen Friedrich Naumanns, die Arbeiter für den Nationalstaat zu gewinnen, weil sie die Schaffung nationaler Harmonie für besonders erstrebenswert hielten, sondern weil sie in der Wiederversöhnung der Massen eine »conditio sine qua non 1 Vgl. Walter Rohlfing, Fortschrittsglaube im Wilhelminischen Deutschland, Ungedr. Diss. Göttingen 1 9 ) ) .
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für die . . . weltpolitische Ausweitung Deutschlands« 8 sahen. Gerade wie die früheren liberalen Historiker westeuropäische politische Ideale übernommen hatten, so unterstützten Max Weber, Troeltsch und Meinecke ebenso wie die Philosophen Hermann Cohen und Paul Natorp demokratische und sogar gemäßigt sozialistische Auffassungen, die den im Westen verbreiteten ähnlich waren. Sie ordneten diese Ideale jedoch den Machtbelangen des deutschen Staates unter. Ihr Glaube an die Harmonie von Einzelinteresse und Staatsräson, von Ethik und Macht, wurde erst im Verlauf des Ersten Weltkriegs erschüttert. Ohne eine abweichende Stimme gingen alle Historiker und Philosophen dieser Epoche in den Ersten Weltkrieg, fest überzeugt vom Wert der nationalen Tradition Deutschlands. Zweifellos blieb das deutsche Geschichtsdenken in den Jahrzehnten nach 1870 bemerkenswert unberührt von pessimistischen Strömungen. Die Ereignisse der 1860er Jahre hatten den Glauben der deutschen Historiker an den sinnvollen Prozeß der Geschichte wieder gestärkt. Die gesamte deutsche Geschichte schien in Richtung des Zweiten Reiches zu verlaufen. Die wachsende Geltung der Naturwissenschaften und die Popularisierung materialistischer Weltbilder hatten zwar das philosophische Gebäude des Deutschen Idealismus erschüttert, nicht jedoch seine Anschauungen von Staat und Gesellschaft. Der Triumph der Naturwissenschaften hatte den Glauben an die Geschichte nicht untergraben, sondern vielmehr das Vertrauen auf den progressiven Charakter des geschichtlichen Wandels verstärkt. Die Befürchtung, die moderne Kultur nähere sich einer tiefen Krise, hegten viele Denker und Künstler seit mindestens 1870; unter ihnen befand sich aber auffallenderweise kaum ein Historiker. Ein wichtiger Aspekt dieses neuen Pessimismus war die Überzeugung, Geschichte sei kein zweckgerichteter Prozeß. Schopenhauer hatte der Historie bereits den Charakter einer Wissenschaft verweigert und behauptet, echte Weisheit könne aus der Beschäftigung mit der Geschichte nicht erwachsen 9 . Nietzsche hatte den Wert der Historie für das Leben angezweifelt 10 . Jacob Burckhardt schien unter den deutschsprachigen Historikern isoliert zu sein, als er das Vorhanden• Meinecke (s. o. Anm. I, 7), S. 123. • Vgl. den Abschnitt »Geschichtet in: Schopenhauer-Lexikon I, Hrsg. Julius Frauenstädt, Leipzig 1871, S. 266-271. 10 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.
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sein einer weisen »Ökonomie« in der Weltgeschichte in Frage stellte. Sowohl Ranke wie Hegel hätten diesem Irrtum angehangen. Der Historiker kann keine sinnvolle Entwicklung in der Geschichte nachzeichnen oder auch nur die Vergangenheit ihrer Genese nach untersuchen. E r muß sich »mit Wahrnehmungen und . . . Querdurchschnitte(n) durch die Geschichte, und zwar in möglichst vielen Richtungen« zufriedengeben. Nur das »Wiederholende, Konstante, Typische« kann man verstehen 11 . Genau dies suchte Burckhardt auch in der italienischen Renaissance oder im Zeitalter des Konstantin. Den deutschen Historikern zwischen 1870 und 1914 war auch die Befürchtung kein Problem, daß die moderne europäische Kultur sich in einer Krise befinde. Vereinzelte warnende Stimmen waren bereits früher vernommen worden. Der Philosoph Ernst von Lasaulx, noch überzeugt davon, daß ein göttliches Gesetz der organischen Entwicklung die Vielheit der historischen Institutionen und Ideen regiere, verlieh in seiner >Philosophie der Geschichte < (185 6) 12 dem Glauben Ausdruck, daß sich die Kultur Europas dem Ende eines Zyklus nähere. Wie andere konservative Denker erblickte er das Hauptsymptom des abendländischen Untergangs in der Auflösung des religiösen Bewußtseins. Zusammen mit dem russischen Slawophilen Nikolai J . Danilewski - einige Jahre danach - hoffte er auf eine religiöse und kulturelle Erneuerung durch die slawischen Völker. Lasaulx wurde nur von wenigen gelesen, darunter von Burckhardt 13 . In ähnlicher Weise bezeichnete Droysen 1854 - in einer Phase tiefer Niedergeschlagenheit während des Krimkrieges - das Anwachsen des Naturalismus, Materialismus und modernen Kapitalismus mit seiner Geldherrschaft und der daraus resultierenden Verarmung der Massen als ein Merkmal für den bevorstehenden Zusammenbruch der politischen Weltherrschaft Europas 1 4 . Im Gegensatz zu Burckhardt hegten jedoch die deutschen Historiker erstaunlicherweise kaum Befürchtungen hinsichtlich der 11 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Einleitung, in: Gesamtausgabe V I I , Stuttgart 1929, S. i , V g l . Rudolf Stadelmann, Jacob Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: H Z 169(1949) S. 3 1 - 7 2 ; Theodor Schicder, Die historischen Krisen im Geschichtsdenken Jacob Burckhardts, in: Schicksalswege deutscher Vergangenheit (Festschrift für Siegfried A . Kaehler), Hrsg. Walther Hubatsch, Düsseldorf 1950, S. 4 2 1 - 4 3 4 . 11 Ernst von Lasaulx, Neuer Versuch einer alten auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte, München i 8 j 6 (Neudruck Wien 19J2). " V g l . Burckhardt, a . a . O . , S. 9; siehe auch Stadclmann (s. o. A n m . 1 1 ) , S. 54f. 14 V g l . Droysen, Z u r Charakteristik der europäischen Krisis, in: Politische Schriften, a . a . O . , 2
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zunehmenden Technisierung und Massengesellschaft - ein Problem, das eine kleine, aber bedeutende Schar englischer und französischer Geister schon früh mit tiefer Sorge erfüllt hatte. Dazu gehörten Konservative wie Joseph de Maistre und Thomas Carlyle ebenso wie Liberale vom Rang eines John Stuart Mill und eines Alexis de Tocqueville 15 . Burckhardt kommentierte die Ereignisse von 1870/71 mit tiefem Erschrecken. Alles schien auf einen weltweiten Cäsarismus hinauszulaufen, auf einen Triumph der »terribles simplificateurs«, die seit 1789 über Europa hergefallen waren, um wie Tamerlan die Traditionen fortzuschwemmen und sie durch abstrakte Utopien zu ersetzen, denen menschliche Leben und menschliche Werte gnadenlos geopfert wurden 18 . Eine andere Form des Pessimismus könnte ihren Ausdruck im Bewußtsein einer politischen Krise in Deutschland nach 1870 gefunden haben. Aber auch hier gab es höchstens Rufer in der Wüste, denn mit spärlichen Ausnahmen dachten die Historiker ja nationalliberal. Eine klare Akzentverlagerung gegenüber der Zeit vor 1870 ist jedoch zu erkennen. Jüngere Historiker haben von einer »Rankerenaissance« gesprochen 1 '. Die Verpflichtung der preußischen Historiker gegenüber liberalen Prinzipien aus der Zeit vor der Einigung war nun überholt. Eine neue Generation, der Max Lenz, Hermann Oncken, Erich Mareks, Felix Rachfahl und andere angehörten, strebte bewußt zu Rankes Ideal der Objektivität und »Überparteilichkeit« zurück. Geschichtsschreibung mußte von Ethik befreit werden. Heinrich von Srbik, der lebhafte großdeutsche Sympathien hegte, sah später in der Rankerenaissance den »Wiedergewinn wissenschaftlichen Ebenmaßes«, das die nationalistischen liberalen Historiker verloren hätten18. Der Historiker war wieder ein unparteiischer Beobachter der großen, in der Geschichte wirksamen Kräfte. Dennoch hielt sich die politische Auffassung der zur Rankerenaissance zählenden Historiker 16 Vgl. Koenraad W. Swart,The Ideaof Decadencein the Sccond Empire.in: Reviewof Politics 23 (1961) S. 77-92>s Vgl. dazu Burckhardt, Zusätze über Ursprung und Beschaffenheit der heutigen Krisis, a . a . O . , S. 148-159, insbes. S. 1 5 6 - 1 5 8 ; d e n . , Brief an Friedrich V . Preen ( 1 . Juli 1871), in: Briefe, Leipzig » i H . S. 338 f. Der Ausdruck »terribles simplificateurs« taucht eigentlich erst später auf im Brief an Preen (24. Juli 1889), in: Briefe, S. 485. Uber Burckhardts Reaktion auf die Ereignisse von 1870/71 siehe Schieder ( s . o . Anm. 1 1 ) , S. 449f.; vgl. auch James Nichols, Einleitung zu: Burckhardt, Force and Freedom. Reflections on History, New York 1943, insbes. »Burckhardt as ProphetGrundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre< gibt dennoch seine Ansicht wieder, daß der Geschichtsverlauf einen langsamen, aber stetigen Fortschritt zu höheren Formen wirtschaftlicher Organisation und auf einen zunehmenden Zusammenschluß der Menschheit zu einem Entwicklungsstrom hin zeigt 25 . Auf der Basis dieses Glaubens konnten er und seine Kollegen im Verein für Sozialpolitik auf die Fähigkeit des deutschen Staates vertrauen, beim Erreichen wirtschaftlicher Gerechtigkeit durch eine paternalistische Politik der Sozialreformen die Führung zu übernehmen. Auf ähnliche Weise betrachtete Otto von Gierke im Geiste Savignys das Recht als Stück des menschlichen Gemeinschaftslebens. Das Recht als Recht zu begreifen ist sinnlos. Es existiert nur »in konkreten Rechtsbildungen der im Strome der Geschichte auf- und untertauchenden Genossenschaften« und vor allem in der Nation. Die Historische Schule hat nicht etwa nur ein neues spekulatives System in die Welt gesetzt, führt Gierke in seiner Antrittsvorlesung >Naturrecht und deutsches Recht < aus, sondern eine Wahrheit enthüllt. Ein historisches Verständnis des Rechts ist, wie Gierke betont, nicht mit dem Gesetzespositivismus identisch. In gewissem Sinn ist historisches Recht der konkrete Ausdruck des Naturrechts. Tacitus könnte recht gehabt haben, als er meinte, das deutsche Recht mit seinem Interesse für individuelle Rechte sei dem " Hans Gehrig, Schmoller, Gustav von, i n : Encydopcdia of the Social Sciences X I I I , New York >934, S. J76. " Vgl. Gustav Schmoller, G r u n d r i ß der allgemeinen Volkswirtschaftslehren, Leipzig 1901-1904, S.652-678. Z u r Bejahung des moralischen Fortschritts siehe S. 677-688.
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Naturrecht näher als das römische Recht86. Der Staat sollte auch nicht als ein bloßes Machtsystem gesehen werden; er gehört vielmehr als Teil einer lebendigen, organischen Gemeinschaft an. In scharfem Gegensatz zu Hegel oder zu den bereits erörterten »klassischen« Liberalen sieht Gierke im Staat einen komplexen Organismus aus autonomen Genossenschaften27. Die Vorformen dieser Genossenschaften sind jedoch nicht in privat-freiwilligen Vereinigungen zu suchen, sondern in den mittelalterlichen ständischen Korporationen. Gierke verwirft die Hervorhebung der Individualrechte, da dies bezeichnend für die romanische Rechtstradition, dem geschichtlichen, germanischen Gemeinschaftsbild aber fremd sei. In der germanischen Tradition war das Recht stets in einem sozialen Zusammenhang und die Genossenschaften nicht als durch Vertrag verbundene Vereinigungen von Individuen begriffen worden, sondern als »reale Gesamtpersonen«, deren jede eine genossenschaftliche Verfassung besaß. Gierke kämpfte an zwei Fronten, sowohl gegen den zentralisierten, bürokratischen Staat als auch gegen den »liberalen Individualismus«. Einerseits trat er für die Begrenzung der Macht des Staates ein, in dem er nur eine Genossenschaft inmitten vieler autonomer Genossenschaften, die zusammen die Gesellschaft bildeten, anerkannte. Da er »wesensgleich« den anderen Gesellschaften war, gab es für seine Funktionen Grenzen. Zugleich scheint Gierke bereit, den Staat in beinahe hegelscher Manier als Gebilde der Vernunft, das keinem höheren Willen unterworfen ist, aufzufassen. Wie Droysen und schon Hegel vor ihm nahm er an, die Vernunft bestimme die Autonomie des Gemeinschaftslebens innerhalb des Staates. Er faßte den Staat aber keineswegs demokratisch auf, sondern hielt die Monarchie der Hohenzollern für die richtige politische Form Deutschlands im 19. Jahrhundert. Wie Wolfgang Friedmann bemerkt, »war Gierke der geborene Kämpfer für die Autonomie der Verbände und ebenso ein treuer Patriot des Zweiten Reiches; Vgl. Otto von Gierke, Naturrecht und deutsches Recht, Frankfurt 1883 (Antrittsrede vom l). Oktober 1882). tT Vgl. Heffter, a.a.O., S. 525-530. Carl Friedrich (Gierke, Otto von, in: Encyclopedia of the Social Sciences VI, New York 1931, S. 6; 5) stellt fest, daß Gierke den Begriff Genontniebaft nirgends präzis bestimmt hat, sondern daß er »dessen Entfaltung im Gegensatz zur Antithese Hemcbaft beschrieb. Gtnoiinurbaft besteht, wenn verschiedene Menschen die Ziele ihrer Gruppe mittels irgendeiner Art der Kooperation ihrer verschiedenen Willen anstreben, während es sich um Hemtbaft handelt, wenn die Gruppenziele mittels der Unterordnung der Mitgliederwillen unter einen oder verschiedene herrschende Willen erreicht werden sollen.« Siehe dazu Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht I, Berlin 1868-1913, S. 12.
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seine Theorie ist ein vergeblicher Versuch, Unvereinbares zu vereinigen . . . Echte korporative Autonomie ist unvereinbar mit staatlicher Souveränität.« 28 2.
Der zweite Weg, auf dem sich die kritische Haltung zur Geschichte Bahn brach, bestand in der Überprüfung der methodischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Diese Uberprüfung führte aber durchaus nicht zu der eindeutig relativistischen Einstellung zu Wissen und Ethik, wie oft angenommen worden ist. Nach der Desillusionierung durch den Ersten Weltkrieg zeigte sich eine kritische Generation besonders an den relativierenden Folgen jener früheren Werke interessiert und löste sie häufig aus ihrem philosophischen Gesamtzusammenhang heraus. Die allzu enge Gleichsetzung von Windelband und Rickert mit Dilthey in der jüngeren für die Allgemeinheit geschriebenen Literatur hat diesen Eindruck weiter verstärkt 28 . Von Anfang an verlief die erkenntnistheoretische Diskussion in zwei weit auseinanderführende Richtungen. Einerseits gab es die südwestdeutsche Schule der Neukantianer um Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert. Ihr denkerischer Anstoß wirkte unmittelbar auf die methodologischen Schriften der Historiker und Soziologen um die Jahrhundertwende (einschließlich Max Weber und Georg Simmel). Dilthey andererseits beeinflußte die erkenntnistheoretische Diskussion erst nach dem Ersten Weltkrieg tief. Zunächst wurde er nur von Literatur- und Kunsthistorikern beachtet. Sowohl die Neukantianer wie auch Dilthey gingen in Kants Weise vor, innerhalb des Bewußtseins die Grundlagen zu entdecken, die Wissenschaft - in diesem Fall die Geschichtswissenschaft M
Wolfgang Friedmann, Legal Theory, London 1949, S. 174; Tgl. auch Heffter, a. a. O . . S . 5 28. " Philosophische Unterschiede zwischen Dilthey und den Neukantianern werden betausgestellt bei H . A . Hodges, The Philosophy of Wilhelm Dilthey. London 1952. Zu Dilthey und den Neukantianern siehe auch Pietro Rossi, L o Storicismo Tedesco Contemporaneo, o. O. 1956; einen marxistischen Standpunkt vertritt I . 3. Kon. Die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts. Kritischer Abriß I t Berlin 1964; vgl. auch Frank Fiedler, Methodologische Auseinandersetzung in der Zeit des Übergangs zum Imperialismus, in: Studien . . . (s. o. Anm. I V , 1 0 1 ) I I , S. 153—178. Schärfer als in der meisten bisherigen Literatur sieht Peter Krausser, Kritik der endlichen Vernunft. Wilhelm Diltheys Revolution der allgemeinen Wissenschafts- und Handlungstheorie, Frankfurt 1969, den Bruch mit der idealistischen Erkenntnistheorie; er betrachtet Dilthey als Vorläufer der modernen Kommunikationstheorie.
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möglich machten. Die Natur des Wissens faßten beide jedoch sehr verschieden auf. Die Neukantianer stellten fest, daß die naturwissenschaftlichen Methoden nicht unbedingt auf die Geschichts- oder Kulturwissenschaften anzuwenden waren. Dennoch bemühten sie sich, für diese Bereiche ebenso rationale Kategorien wie jene für die Naturwissenschaften zu finden und Kausalbegriffe zu formulieren, die für eine Wissenschaft des menschlichen und sozialen Verhaltens brauchbar waren. Sie wollten also rationale Methoden für ein irrationales Material finden. Rickert, Windelband und Weber stimmten darin überein, daß ein objektiver, rationaler Zugang zu Geschichte und Gesellschaft möglich sei. Auch Dilthey suchte eine erkenntnistheoretische Grundlage für die Kulturwissenschaften; er aber opferte nicht nur das Kausalgesetz, sondern ging noch einen Schritt weiter: er zweifelte überhaupt die Möglichkeit eines rationalen Zugangs an. Eine tiefreichende Widersprüchlichkeit zieht sich durch alle Schriften Diltheys hindurch, so als ob er sich für beide Möglichkeiten hätte offenhalten wollen. E r betrachtete es als sein Lebenswerk, eine >Kritik der historischen Vernunft < zu schreiben, »die Natur und die Bedingung des geschichtlichen Bewußtseins« zu erforschen 30 . Einerseits suchte er die Geschichtsund Kulturwissenschaften mit soliden erkenntnistheoretischen Grundlagen zu versehen; lebenslang beharrte er darauf, daß dies erreicht werden könne. Andererseits führte ihn seine Überprüfung des Bewußtseins zu dem Schluß, daß jegliches Wissen gänzlich subjektiv ist. Vielleicht erklärt seine Unfähigkeit, diesen Widerspruch aufzulösen, zum großen Teil, warum alle seine Bemühungen um die Vollendung seiner >Einleitung in die GeisteswissenschaftenEinleitung< eine streng wissenschaftliche Absicht. Wie er im Vorwort erklärt, hatten sich fast alle Einzelwissenschaften seit dem Ende des Mittelalters von der Metaphysik emanzipiert. Nur die Wissenschaften der Geschichte und der Gesellschaft blieben bis weit ins 18. Jahrhundert hinein der Metaphysik untergeordnet. Anschließend gerieten sie unter die letztlich gleichermaßen drückende Herrschaft der Naturwissenschaften. Die Historische Schule »vollbrachte die Emanzipation des geschichtlichen Bewußtseins und der geschichtlichen Wissenschaft«; sie war aber nicht in der Dilthey, G S V , S. 9.
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Lage, der positivistischen Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden bei der Erforschung der Gesellschaft entgegenzuwirken, da ihr eine »philosophische Grundlegung« oder eine präzise Erkenntnistheorie fehlte 31 . Die »abstrakte Schule« hatte den Fehler begangen, »die Beziehung des abstrakten Teilinhaltes auf das lebendige Ganze außer acht [zu] lassen«; die Historische Schule tat das Umgekehrte, indem sie alle Abstraktionen über Bord warf 32 . Hat eine Geschichtsphilosophie, die auf metaphysischen Begriffen aufgebaut war, einmal ausgedient, so muß eine neue Grundlage systematische Beziehungen zwischen den Sätzen der Individual-, Sozial- und Geschichtswissenschaften schaffen. Comte und Mill hatten diesem Problem beizukommen gesucht, indem sie Begriffe und Methoden der Naturwissenschaften auf die zuvor genannten Wissenschaften anwandten; damit hatten sie aber die geschichtliche Realität verstümmelt. Die Grundlage für jene Wissenschaften muß im Bewußtsein gefunden werden. Dilthey stimmt mit den Empiristen und Positivisten überein, daß alle Wissenschaften auf der Erfahrung beruhen. Die Erfahrung ist jedoch nicht nur ein passiver Zustand, in dem der bewußte Geist sinnliche Wahrnehmungen aufnimmt, denn »alle Erfahrung hat ihren ursprünglichen Zusammenhang . . . in den Bedingungen unseres Bewußtseins, innerhalb dessen sie auftritt, in dem Ganzen unserer Natur« 33 . Das hatten Kant, Locke und Hume nicht eingesehen. Ihre Auffassungen von der Erfahrung trafen nur auf die physikalische Natur zu, da wir die eigentliche Natur niemals kennen. In ihr nehmen wir durch die Erfahrung nur Phänomene wahr, »Schatten« einer »verborgenen Realität«. Andererseits gilt: »Dagegen Realität, wie sie ist, besitzen wir nur an den in der inneren Erfahrung gegebenen Tatsachen des Bewußtseins.« 34 Die Aufgabe der Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften (der Geisteswissenschaften) ist die Analogie dieser Bewußtseinstatsachen. Der Ausgangspunkt, von dem die Geisteswissenschaften an jegliche geschichtliche und gesellschaftliche Realität herantreten, ist die Erkenntnistheorie. Diese Wissenschaften haben nämlich in Betracht zu ziehen, daß alle Denkakte, individuellen Handlungen und Institutionen Teile lebendiger " Dilthey, GS I, S. X V f . " Ebd., S. 2 7 f . ; vgl. ebd., S. 49. M Ebd.,S. XVII. " Ebd., S. X V I I I .
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Ganzheiten und Vorgänge sind und nur im jeweiligen Zusammenhang verstanden werden können. Daher bedürfen die Geisteswissenschaften einer Methode, die psychologische und historische Analyse verbindet. Der Verstand ist - wie Wille und Gefühl - nur eine Seite des Lebensprozesses. Ein a priori gibt es nicht, weil jedes Denken in einen Zusammenhang gehört. Die Prägen an die Philosophie können deshalb nicht a priori beantwortet werden, sondern allein durch die »Entwicklungsgeschichte, welche von der Totalität unseres Wesens ausgeht«35. Verschiedene Erkenntnisformen unterscheiden die Naturund die Geisteswissenschaften. Wie Droysen meint Dilthey, daß wir ein Wissen nur von der sozialen und menschlichen Welt besitzen, niemals wirklich von der physikalischen Welt. Unsere gesamte Erkenntnis der physikalischen Welt ist »relativ« in dem Sinn, daß wir sie uns niemals direkt aneignen, sondern nur äußerliche Beziehungen beobachten. Dilthey stimmt mit Kant überein, daß die Beziehungen, die wir wahrnehmen, nicht jene sind, die in der physikalischen Welt objektiv existieren, sondern nur solche, die unser Verstand hineinlegt. In den Geisteswissenschaften ist dagegen wirkliche Erkenntnis möglich, da hier unser Wissen nicht relativ, sondern direkt angeeignet ist. Die Wahrheit dieser Erkenntnis besteht nicht in ihrer Korrespondenz mit einer äußeren Realität, weil nämlich »das, was ich in mir erlebe, als Tatsache des Bewußtseins darum für mich da ist, weil ich desselben inne werde«. Diese Erkenntnis ist eine im vollsten Sinne erfahrene, die erst dann relativ wird, wenn wir sie zu formulieren oder anderen mitzuteilen suchen36. Soweit, setzt Dilthey voraus, ist objektive Erkenntnis in den Geisteswissenschaften möglich. Er glaubt, daß durch die verschiedenen Einzelwissenschaften des Geistes die »geschichtlichgesellschaftliche Wirklichkeit« erforscht und erkannt und diese Erkenntnis über die kontinuierlichen Beziehungen in der geschichtlichen Welt, etwa der Religionen, Staaten und Künste, weitervermittelt werden kann; dasselbe gilt für die Wandlungsprozesse, die sich in Revolutionen, Epochenübergängen oder sozialen Bewegungen ausdrücken. Diltheys Versuch, eine »erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften« zu formulieren, im wesentlichen eine »Kritik der «Ebd. Ebd., S. 394; vgl. ebd., S. X I X , 392f.
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historischen Vernunft d. h. des Vermögens des Menschen, sich selber und die von ihm geschaffene Gesellschaft und Geschichte zu erkennen«37, spiegelt seine Überzeugung wider, daß objektive Erkenntnis des Menschen und der Gesellschaft möglich ist. Seine Auffassung vom Wesen dieses Verstehensprozesses scheint diese Möglichkeit wieder problematisch zu machen und jede Geisteswissenschaft auf bloßen Subjektivismus zu reduzieren. Die Erkenntnistheorie Diltheys leugnet letztlich die Unterscheidung zwischen Objekt und Subjekt und läßt alles Denken zu einem Ausdruck irrationaler Vorgänge schrumpfen. Die Erkenntnis in den Geisteswissenschaften hält er also offensichtlich für direkt, nicht für relativ. Der Geisteswissenschaftler steht nicht wie der Naturwissenschaftler den Vorstellungen von einem eindeutig erforschbaren Objekt gegenüber, sondern er erfährt das Objekt unmittelbar. Die Objekte seines Forschens sind die Tatsachen des Bewußtseins. »Tatsache des Bewußtseins ist nichts anderes als das, dessen ich innewerde. Unser Hoffen und Trachten, unser Wünschen und Wollen, diese innere Welt ist als solche die Sache selber.«38 Das Denken ist für Dilthey vor allem eine vitale und nicht eine erkennende Funktion. Wir können es in Beziehung zu einer »Lebenseinheit« oder einem »geistigen Gebilde« setzen, aber damit reduzieren wir es auf eine Ideologie; wir leugnen oder ignorieren damit seinen Wahrheitsgehalt. Das Einmalige in der Geschichte kann nicht rational begriffen werden. Die Analyse zerstört den Lebenszusammenhang, das »Band zwischen dem Singularen und dem Allgemeinen«, das allein die »geniale Anschauung des Geschichtschreibers« zu erfassen vermag 39 . Das Dilemma, dem sich Dilthey gegenübersieht, ist im wesentlichen das gleiche, das der gesamten Historischen Schule aufstieß, die abstraktes Wissen für sinnlos hielt: dem Menschen entziehen sich absolute Wahrheit oder absoluter Wert, da seine Erkenntnis von seinem geschichtlichen Standort abhängt. Die Historische Schule bot eine Lösung an, die Dilthey in der >Einleitung in die Geisteswissenschaften < verwirft (obwohl er sie in seinen späteren Werken wieder aufnimmt): der einzelne und die Gesellschaft sind miteinander organisch verbunden; Gesellschaft und Nation sind Teil eines größeren Zusammenhangs, entweder eines großen Plans (im hegelschen Sinn) oder " Ebd., S. 116. •• Ebd., S. 394; Tgl. ebd., S. X V I I I . Ebd.,S. 92; Tgl. ebd., S. 8lf.
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als eine der vielen Offenbarungen einer grundlegenden Realität (nach Humboldt und Ranke). Für Dilthey aber haftet dem Individuum etwas an, das sich Bestimmungen entzieht und daher nicht auf die Gesellschaft bezogen werden kann. Die Analogie zum Organischen versagte deshalb und ließ sich so wenig wie andere abstrakte Begriffe für die Wissenschaft der Gesellschaft anwenden 40 . Humboldt und Ranke hätten dem Satz Individuum est ineffabile von der Theorie her zugestimmt; faktisch setzten sie die Realität sozialer Gebilde als realer historischer Individualitäten voraus. V o r allem für den frühen Dilthey sind Begriffe wie Volksseele, Volksgeist, Nation, sozialer Organismus und dergleichen »mystische« Konzeptionen und für die Geschichtswissenschaft unbrauchbar 41 . Die soziale Wirklichkeit stellt vielmehr eine ungeheure Komplexität von Kulturorganisationen dar; jeder einzelne partizipiert an vielen dieser Organisationen 42 . Eine aus Individuen gebildete Gemeinschaft ist niemals mit den Individuen identisch, die sie gebildet haben. Auch wenn ein Mensch nur einer einzigen Gemeinschaft zugehört, trägt er doch etwas in sich, das nicht in der Gemeinschaft aufgeht 43 . Das trifft sogar für eine dermaßen natürliche Institution wie die Familie zu, denn »das Individuum ist in seiner letzten Tiefe für sich selber« 44 . Wie weit auch der staatliche Zugriff in das Leben des einzelnen reichen mag, »der Staat verbindet und unterwirft die Individuen nur teilweise, nur relativ: Etwas in ihnen ist, das nur in der Hand Gottes ist.« 45 Jede psychologische Untersuchung gesellschaftlicher Gebilde stößt daher in den Augen Diltheys an der Spontaneität der Einzelperson auf ihre Grenze. Stets gibt es ein menschliches Willenselement, das sich nicht in die natürliche Ordnung der Dinge einfügen läßt 46 . Eine andere Lösung wollte Dilthey nicht akzeptieren, jene nämlich des Naturrechts, das - in seiner stoischen, christlichen und aufklärerischen Ausprägung - an einem allgemeinen Element der Vernunftbezogenheit durch die Verschiedenheit der Individuen hindurch festgehalten hatte. Auch er fand eine gewisse »Gleichartigkeit der MenVgl. ebd., S. 3 1 , 1 2 4 . Vgl. ebd., S. 41. Vgl. dazu GS VII, S. 17J (Begriff »Nationalgeist«). " Vgl. ebd., S. jof. " Vgl. ebd., S. 8 2 . " Ebd., S. 7 4 . " Ebd., S. 8z. " V g l . ebd., S. } 8 j . 40
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schennatur« 4 7 , allerdings nicht in des Menschen erkenntnismäßigen Fähigkeiten, sondern in seiner allgemeinen Ausformung als eine Lebenseinheit und Willenskraft. Wenn der Mensch im Leben jedoch einen sinnvollen Zusammenhang entdeckt - und als ein Lebewesen muß er einen »höheren Zusammenhang, in den unser Leben und Streben verwebt ist«, finden - , so vollzieht er das nach Diltheys Ansicht aufgrund seiner höchstpersönlichen Lebenserfahrungen 4 8 . Derart tief geht auch der Widerspruch, der die Einleitung in die Geisteswissenschaften < durchzieht. Dilthey ist des festen Glaubens, daß die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte und der Gesellschaft möglich, jede Erkenntnis jedoch persönlich gebunden ist. Einerseits befreit sich Dilthey nicht von dem Glauben der Historischen Schule an den Charakter der Geschichte als eines objektiven Prozesses, andererseits vermag er aber den Glauben Rankes oder Droysens an eine göttliche Vorsehung, die in der Geschichte wirkt, nicht mehr zu teilen. Letzteres erscheint ihm als pure Metaphysik, die eines Wertes für die Wissenschaft entbehrt. Wie die Historische Schule hält er daran fest, daß die Erkenntnis der sozialen und menschlichen Realitäten über die Geschichte führt. In diesem Zusammenhang verdient seine Erörterung des Naturrechts besonderes Interesse. Nach seiner Ansicht hat sich die positivistische Rechtsauffassung geirrt, als sie meinte, die Rechtsschöpfung könne willkürlich erfolgen. D a s Recht wird nicht gemacht, sondern gefunden. In diesem Sinn repräsentiert es das Naturrecht, wenn auch nicht als ein der sozialen und historischen Verknüpfung lediges abstraktes Recht 4 9 . Noch stärker ist sein Glaube an die allmähliche geistige Vorwärtsbewegung des Menschen. Hierin wird der Einfluß Auguste Comtes sehr deutlich. Mehr als zwei Drittel vom Umfang des ersten Bandes seiner >Einleitung< benützt Dilthey dazu, um die allmähliche Emanzipation des menschlichen Geistes von Religion und Metaphysik nachzuzeichnen. Dieser Prozeß erweist die Aufgliederung und Einheit der Geschichte der abendländischen Kultur. In der Entwicklung der wissenschaftlichen Methoden " E b d . , S. 44. E b d . , S . 3 8 4 f . Alle Menschen w o l l e n solche Zusammenhänge finden. E r m ö g l i c h t w i r d das nach Diltheys A n s i c h t durch »persönliche E r f a h r u n g « . E r nennt sie »meta-physisch« int Unterschied zur Metaphysik, die das menschliche Leben einer objektiven höheren Wirklichkeit unterzuordnen sucht. Diese »meta-physischen E r f a h r u n g e n « sind »so persönlich, so dem Willen eigen, daß der Atheist dies Meta-Physische Itbert vermag, während die Gottesvorstellung in einem Überzeugten eine bloße wertlose Hülse sein kann.« " V g l . e b d . , S . 7 8 f ; auch e b d . , S .
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in den Einzelwissenschaften stellt Dilthey wirklichen »Fortschritt« fest 50 . Diese Wissenschaften nähern sich, wie er optimistisch anmerkt, Schritt für Schritt einer Lösung jener »Probleme(n) der Soziologie, der Philosophie des Geistes oder der Geschichte . . . , die einer solchen [Lösung] überhaupt zugänglich sind« 51 . Andererseits betrachtet er jedes Streben nach dem Sinn der Geschichte als zwecklos: »Jede Formel, in der wir den Sinn der Geschichte ausdrücken, ist nur ein Reflex unseres eigenen belebten Inneren.« 52 In seinen späten Aufsätzen und Fragmenten wollte Dilthey den offensichtlichen Widerspruch zwischen seinem Glauben an die Möglichkeit des objektiven Wissens und seinem Festhalten am subjektiven Ursprung allen Erkennens durch die Rückführung von Subjekt und Objekt auf eine gemeinsame Grundlage, das Leben, auflösen. Demnach erscheint uns das Leben in unzähligen Gestalten, zeigt aber stets dieselben Grundlinien 53 . Das Verstehen in den Geisteswissenschaften ist möglich, weil das Leben sich selbst »objektiviert« in Institutionen wie Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Recht, Kunst, Religion und Philosophie. Als Produkte des Lebens und des Geistes vermag man sie zu verstehen. Das subjektive Bewußtsein hat sie nicht willkürlich geschaffen; sie stellen »Objektivierungen des Lebens« dar. Dilthey weiß, wie nahe er damit Hegels Begriff des objektiven Geistes gekommen ist. Für Hegel waren diese Institutionen die konkreten Formen, in denen der absolute Geist, die Vernunft, sich in der Geschichte fortschreitend entfaltete. Ein solcher Glaube an die Vernünftigkeit von Leben und Geschichte ist allerdings nicht länger haltbar. Für Dilthey hat »die heutige Analyse der menschlichen Existenz« den irrationalen Zug im menschlichen Leben aufgedeckt. »So können wir den objektiven Geist nicht aus der Vernunft verstehen, sondern müssen auf den Strukturzusammenhang der Lebenseinheiten, der sich in den Gemeinschaften fortsetzt, zurückgehen. Und wir können den objektiven Geist nicht in eine ideale Konstruktion einordnen, vielmehr müssen wir seine Wirklichkeit in der Geschichte zus6 Vgl. ebd., S. 1 1 3 f . Hinsichtlich Diltheys Vertrauen in die geschichtlichen Kräfte in Deutschland siehe: Die Rcorganisatoren des preußischen Staates ( 1 8 0 7 - 1 8 1 $ ) ; in: G S X I I , S. 3 7 - 1 3 0 (erstmals 1872 erschienen). In seinen späteren Schriften verwarf er jedoch die Fortschrittsidce (vgl. G S V I I , S. 172 f.) und leugnete auch die Weiterentwicklung metaphysischer Anschauungen (vgl. G S V I I I , S. 98). 81 Ebd., S. 1 1 3 . " Ebd., S. 97. »' Vgl. Dilthey, G S V I I I , S. 78.
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gründe legen.« 54 Das Leben in seiner objektivierten Form ist nämlich Struktur; die Aufgabe des Systems der Geisteswissenschaften besteht in der Analyse dieser grundlegenden Strukturen. Somit existiert ein objektiver Gegenstand. Es gibt konkrete »Kultursysteme« (die ungefähr Droysens sittlichen Gemeinsamkeiten entsprechen), wie Wirtschaft, Kunst, Religion, Recht, Sprache etc., deren jedes eine Einheit mit gemeinsamen Zwecken und gemeinsamen Institutionen bildet. Den Mittelpunkt dieser Institutionen, der ihnen Zusammenhang verleiht, stellt die organisierte Macht des Staates dar. Dilthey stimmt mit Kant und Hegel darin überein, daß der Staat letztlich Gewalt und Zwang, sogar brutale Härte, erfordert, da nur die Existenz des Staates Kultur ermöglicht 85 . Es bleibt nun die Frage, wie die Wissenschaft diese Strukturen zu erkennen vermag. Jede Struktur ist ein WirkungsZusammenhang, gelenkt von seinem eigenen inneren Gesetz 56 , doch herrscht zwischen ihnen - trotz ihrer Autonomie - eine irgendwie geartete Harmonie. Alle spiegeln den Geist einer Nation oder einer Epoche wider. Kein sozialer Faktor - etwa die Wirtschaft - bringt diese »Harmonie« zwischen den verschiedenen Kultursystemen hervor; vielmehr verdanken alle Aspekte des sozialen Lebens in einer Nation ihre Ähnlichkeit »einer gemeinsamen Tiefe, die keine Beschreibung erschöpft« 57 . Jeder Aspekt des sozialen und des geistigen Lebens empfängt die Prägung des besonderen Charakters einer bestimmten Nation zu einer bestimmten Zeit 58 . Alle Institutionen der Gesellschaft und der Kultur sind deshalb für Dilthey dasselbe, was sie für Hegel und Droysen waren: Werke des Geistes. Als geistige Akte können sie nur mittels eines subjektiven Aktes des Begreifens verstanden werden, durch »Erleben, Ausdruck und Verstehen« 59 . Dennoch schmälern weder das geistige Wesen der sozialen Institutionen noch die subjektive Natur des Verstehens die objektive Realität der Institutionen, den wirklichen, objektiven Zusammenhang der Geschichte, und die Möglichkeit objektiven Wissens in den Kulturwissenschaften. Geschichte ist ein wirklicher Prozeß - das glaubt »«Dilthey. GS VII, S. 150. " Vgl. ebd., S. 170. •• Vgl. ebd., S. 15z. Dilthey selbst benützt hier nicht den Ausdruck »Struktur«. Ebd., S. 171. Vgl. ebd. " Ebd., S. 87; Tgl. ebd., S. i j i .
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Dilthey wie Hegel oder Ranke. Hierbei handelt es sich um keine subjektive Konstruktion, obschon Dilthey in der Geschichte nicht mehr den Ausdruck einer »universalen Vernunft« wie Hegel sieht, sondern das »Leben in seiner Totalität« 60 . Für Dilthey ist wie für Hegel die Welt »ein Ganzes« 61 , selbst wenn andere Prozesse mit ihren eigenen Entwicklungsgesetzen in ihr ablaufen 62 . Ist die Geschichte aber ein Ganzes, so ist eine systematische Erforschung der Geschichte und der Gesellschaft möglich. Hegel beging nach Diltheys Ansicht den Fehler, die »Mannigfaltigkeit des geschichtlichen Lebens« allzusehr auf betont dialektische Modelle reduziert zu haben. Das andere Extrem, alle systematisierenden Bestrebungen in der Geschichtswissenschaft strikt abzulehnen, ist »ebenso irrig« 63 . Wie später Max Weber, so sucht Dilthey eine systematische Methode für die Kulturwissenschaften, die dem irrationalen Element des Lebens Rechnung trägt. Deshalb ist die vordringliche Aufgabe der Kulturwissenschaften die Analyse der Strukturen. Der Kulturwissenschaftler kann sich nicht mit dem Problem der historischen Gesamttendenz wie Hegel oder Comte befassen, betrachtet die Geschichte jedoch auch nicht als eine Anhäufung beziehungsloser Geschehnisse; er widmet sich vielmehr den strukturellen Zusammenhängen in der Geschichte 64 . Die Geschichte ermöglicht, da sie eine objektive Gegebenheit darstellt, die objektive Erforschung des Gegenstandes. Zwar muß der Historiker den Gegenstand seiner Forschung auswählen, doch bestimmt umgekehrt der Gegenstand, was relevant und was irrelevant ist 65 . Jeder historischen Struktur liegt ein Wertesystem zugrunde. Der Historiker untersucht diese Werte nicht im Hinblick auf ihre Gültigkeit, sondern als eine gegebene Voraussetzung 66 . Desgleichen können die Geisteswissenschaften historische Strukturen als in sich vollständige Systeme beschreiben. Sie können die Wert- und Weltanschauung, von der jedes geleitet wird, aufzeigen, und ebenso die Weltanschauungen der verschiedenen Kultursysteme oder Epochen miteinander vergleichen und typologisch einordnen. Sie können gewisse » Ebd., S. lj 1. Ebd., S. ljj. "Vgl. ebd., S. ij4. " Ebd., S. ij7" Vgl. ebd., S. 172. "Vgl. ebd., S. 164-166. "Vgl. ebd., S. 173.
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Grundzüge des menschlichen Geistes herausheben. Darüberhinaus sind sie zu nichts imstande. Die Geisteswissenschaften gehen nämlich davon aus, daß das Denken eine Lebensfunktion ist. Daher kann es nicht vom Standpunkt abstrakter Wahrheit, sondern nur in seiner Beziehung zu einer Lebenssituation erfaßt werden. Die Aufgabe der Geisteswissenschaften ist deshalb von jener der traditionellen Philosophie, die nach der letzten Wahrheit sucht, sehr verschieden. Den Geisteswissenschaften obliegt es ausschließlich, Ideen, Kunstwerke, politisches Handeln, wirtschaftende Tätigkeit auf die Strukturen, denen sie angehören, zu beziehen und diese mit anderen Strukturen zu vergleichen. Der spontane einzelne, wie ihn Dilthey in der >Einleitung in die Geisteswissenschaften < schildert, wirkt in einer Großzahl der verschiedenen kulturellen Systeme und Gruppen mit und wird niemals von einer Seite völlig aufgesogen; in dem viel stärker organischen Gesellschaftsbegriff, den Dilthey in seinen späteren Schriften entwickelt, tritt er allerdings in den Hintergrund. Während also deskriptives und klassifizierendes Wissen in begrenztem Ausmaß möglich ist, ist - Dilthey zufolge - jegliche grundsätzliche Antwort unmöglich. Der eindrucksvollste Beweis für die Unfähigkeit der Philosophie ist die Anarchie der philosophischen Systeme, die sich einer historischen Beschäftigung mit dem abendländischen Denken enthüllt. Die Ursache dieser Anarchie ist die Bezogenheit allen Denkens auf das Leben. »Die Philosophie muß nicht in der Welt, sondern in dem Menschen den inneren Zusammenhang ihrer Erkenntnisse suchen.« 67 »Die Weltanschauungen sind nicht Erzeugnisse des Denkens. Sie entstehen nicht aus dem bloßen Willen des Erkennens«, sondern »gehen hervor aus dem Lebensverhalten, der Lebenserfahrung, der Struktur unserer psychischen Totalität« 68 . Somit ist der Prozeß, aus dem die Weltanschauungen entstehen, nicht von der Willkür bestimmt. Obwohl jede Weltanschauung verschieden ist, geführt von den verschiedenen Lebenserfahrungen, wird ihre Entstehung von einer gewissen Regelmäßigkeit gekennzeichnet. Alle Weltanschauungen entstehen aus einem allgemeinmenschlichen Bedürfnis nach Lösung der Grundprobleme oder »Lebensrätsel«, denen sich der einzelne konfrontiert sieht. Da »die menschliche Natur immer dieselbe ist, so sind auch die Grundzüge " Dilthcv, GS VIII, S. 78. " Ebd., S. 86.
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der Lebenserfahrung allen gemeinsam«, obgleich die Bedingungen, unter denen wir die Grundsituation des Lebens erfahren, nicht die gleichen sind. Alle Menschen stehen der Realität des unablässigen Wandels gegenüber, der »Vergänglichkeit von allem« und dem Geheimnis des Todes69. Jeder einzelne sucht diese Fragen aus seiner eigenen Situation heraus zu beantworten und ein Weltbild zu entwerfen. Auf höchster Ebene suchen Religion, Kunst und Metaphysik das Lebensrätsel zu lösen. Jedes metaphysische System beansprucht universelle Gültigkeit; da jedoch diese Systeme ihren Ursprung aus bestimmten Lebenssituationen nehmen, kann der Streit zwischen ihnen niemals befriedet werden70. So besteht eine offenbar unauflösliche Antinomie zwischen dem »Anspruch jeder Leben- und Weltansicht auf Allgemeinheit und dem geschichtlichen Bewußtsein«71, an der sich zeigt, daß philosophische Systeme denselben Wandlungen unterworfen sind wie Sitten, Religionen und Regierungsformen. Die philosophischen Systeme erscheinen als historisch bedingt und somit illusionär und subjektiv. Dilthey weiß jedoch einen Trost: die Philosophien sind nicht eigentlich falsch, sondern nur »Symbole der verschiedenen Seiten der Lebendigkeit«. Die offenbaren Widersprüche zwischen den philosophischen Systemen entspringen der »Mehrseitigkeit der Lebendigkeit«. »Die Widersprüche entstehen also durch die Verselbständigung der objektiven Weltbilder im wissenschaftlichen Bewußtsein. Diese Verselbständigung ist es, was ein System zur Metaphysik macht.«72 Somit hat unser historisches Bewußtsein, das den Glauben an die Gültigkeit der philosophischen Systeme zerstörte, uns zugleich dazu verholfen, den offenbar unlöslichen Widerspruch zwischen den Ansprüchen der Philosophien auf Allgemeingültigkeit und der historischen Anarchie unter ihnen zu überwinden, indem sie die Lebensbezogenheit dieser Systeme aufgezeigt hat73. Haben wir einmal die Funktion philosophischer Vorstellungen verstanden, ist der Weg für die wissenschaftliche Erforschung des Menschen frei. Dilthey ist weiterhin davon überzeugt, daß objektive wissenschaftliche Erkenntnis in den Geisteswissenschaften auf zwei Ebenen möglich ist. Sind auch die " E b d . , S . 79. " Vgl. ebd., S. 98 f. 71 Ebd., S. 5; vgl. GS VII, S. 86. Ebd., S. 8. " Vgl. ebd., S. 78.
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Kulturwissenschaften nicht in der Lage, über die Erforschung des Lebens hinaus weiterzuschreiten, so können sie doch die objektiven Bekundungen des Lebens im Lauf der Geschichte verstehen. Sie vermögen keine Probleme, die Wertfragen in sich schließen, zu lösen, aber sie können die Bezogenheit der Werte auf konkrete gesellschaftliche Zusammenhänge und Weltanschauungen nachweisen. Indem sie über die schiere historische Forschung hinausgehen, erschließen die Geisteswissenschaften mittels der vergleichenden Methode die jedem menschlichen Bewußtsein gemeinsamen Züge. So können sie Geschichte transzendieren durch die Aufdeckung der typischen philosophischen Weltbilder, die im ewigen Verlangen der Menschen nach Antwort auf das Lebensrätsel stets wiederkehren. Hat nun aber Dilthey wirklich die Frage beantwortet, inwiefern in den Geisteswissenschaften Wissen möglich ist? Da Erkenntnis im wesentlichen ein intuitiver Akt der Lebenserfahrung ist, auf dem Erlebnis basiert, was garantiert dafür, daß jede unserer Einsichten nicht bloß subjektiver Ausdruck unserer Bedürfnisse und Situationen im Strom der Geschichte ist? Dilthey gesteht zu, daß »die Philosophie eine Funktion im Zweckzusammenhang der Gesellschaft ist« 74 und daß die in der philosophischen Untersuchung benützte Methode immer von der Weltanschauung des Untersuchenden bestimmt wird 75 . Daß dies auch auf die Geisteswissenschaften zutreffen könnte, leugnet Dilthey selbstverständlich. Er beteuert, daß die den Geisteswissenschaften eigene Methode ihren Forschungen einen wissenschaftlichen Charakter verleiht und sie damit von den fruchtlosen Bemühungen der Philosophie unterscheidet. Wenn jedoch eine derartige Methode existierte, würde das Denken nicht mehr vom Erlebnis bestimmt, sondern wiederum logischen Kategorien unterstellt sein. Solche lehnt Dilthey als den menschlichen Denkvorgängen fremd ab. Auch der Gelehrte verfährt, wenn er denkt, nicht logisch. Wie alle Menschen ist er eine leib-seelische Lebenseinheit, keine Denkmaschine. Wenn Dilthey an der Möglichkeit objektiver Erkenntnis aufgrund subjektiver Lebenserfahrung festhält, so geschieht das, weil er in der Tradition des Deutschen Idealismus Geschichte noch als einen Prozeß sieht und eine grundlegende Harmonie zwischen den perspektivischen Wahrnehmungen des '« Dilthey. GS V, S. 5 6 j f . '» Vgl. Dilthey, GS VIII, S. 114.
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Individuums im Prozeß und in der gesamten Wirklichkeit voraussetzt. »Die erste Bedingung für die Möglichkeit der Geschichtswissenschaft liegt darin, daß ich selbst ein geschichtliches Wesen bin, daß der, welcher die Geschichte erforscht, derselbe ist, der die Geschichte macht.«76 Nicht die menschliche Teilhabe an der transzendenten Vernunft, wie Kant und die Neukantianer voraussetzten, ermöglichte es dem Menschen, die Welt und sich selbst zu verstehen, sondern die Tatsache, daß der Mensch selbst ein Teil der Natur und der Geschichte ist. Dennoch vernimmt man Verzagtheit aus Diltheys Rede an seine Freunde und Schüler zu seinem siebzigsten Geburtstag (1903), auch wenn er mit einem hoffnungsvollen Ausblick auf die baldige Lösung der Probleme schließt: »Ich unternahm, die Natur und die Bedingung des geschichtlichen Bewußtseins zu untersuchen - eine Kritik der historischen Vernunft. Ich ward endlich durch diese Aufgabe zu der allgemeinsten fortgetrieben: Ein scheinbar unversöhnlicher Gegensatz entsteht, wenn das geschichtliche Bewußtsein in seine letzten Konsequenzen verfolgt wird. Die Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, sei sie eine Religion oder ein Ideal oder philosophisches System, sonach die Relativität jeglicher Art von menschlicher Auffassung des Zusammenhanges der Dinge ist das letzte Wort der historischen Weltanschauung, alles im Prozeß fließend, nichts bleibend. Und dagegen erhebt sich das Bedürfnis des Denkens und das Streben der Philosophie nach einer allgemeingültigen Erkenntnis. Die geschichtliche Weltanschauung ist die Befreierin des menschlichen Geistes von der letzten Kette, die Naturwissenschaft und Philosophie noch nicht zerrissen haben - aber wo sind die Mittel, die Anarchie der Überzeugungen, die herauszubrechen droht, zu überwinden? An der Auflösung der Probleme, welche an dieses sich in langer Reihe anschließen, habe ich mein Leben lang gearbeitet. Das Ziel sehe ich. Wenn ich auf dem Wege liegen bleibe - so hoffe ich, werden ihn meine jungen Weggenossen, meine Schüler zu Ende gehen.«77
" Dilthey, G S V I I , S. 278; vgl. Hodges, a.a.O., S. 153. " Dilthey, G S V , S. 9.
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3Ebenso wie Dilthey erkannten die Neukantianer den Zusammenbruch der großen metaphysischen Systeme und bemühten sich um eine neue Grundlage sowohl für die Natur- als auch die Humanwissenschaften. Desgleichen suchten sie diese Grundlage im menschlichen Bewußtsein zu finden, doch unterschied sich ihre Auffassung darüber sehr von der Diltheys. Trotz der relativistischen Tendenzen, die spätere Kritiker im Neukantianismus entdeckten, betonte die neukantianische Philosophie die Vernünftigkeit des menschlichen Geistes, ob es sich nun um die Marburger Schule um Hermann Cohen (1842-1918) und seinen Schüler Paul Natorp (1854-1924) oder die Weiterentwicklung in der badischen oder südwestdeutschen Schule um Wilhelm Windelband (1848-1915) und Heinrich Rickert (1863-1936) handelte. In dieser Auffassung spiegelte sich das große Vertrauen wider, das das späte 19. Jahrhundert in die Wissenschaft und in die wissenschaftliche Methode setzte. Was sowohl für Cohen wie für Kant die naturwissenschaftlichen Gesetze ermöglicht, ist nicht die gesetzmäßige Beschaffenheit der objektiven Natur, sondern die eingeborenen Gesetze des menschlichen Geistes, die über die Bildung unserer Ideen bestimmen. Indem er über Kant hinausgeht, verwirft Cohen die Annahme eines Dings an sich, das hinter der Erscheinung steht. Die Naturgesetze sind nicht als Kategorien zu verstehen, durch die der Geist die sinnlichen Wahrnehmungen ordnet; sie leiten sich vielmehr allein vom reifien Denken ab, unabhängig von sinnlichen Wahrnehmungen. In diesem Punkt reicht Cohens Idealismus viel weiter als der Kants, da er das Bewußtsein allein als real anerkennt, doch ist er vom subjektiven Idealismus - etwa eines Berkeley - sehr verschieden. Für Cohen ist das Bewußtsein nicht das eines individuellen Subjekts, wie es der Psychologe vor Augen hat. Es ist vielmehr »Bewußtsein an sich«, reines Verstehen; diesem transzendenten Bewußtsein ist die gesamte Welt immanent. Cohen und seine Schüler leugnen keineswegs die Existenz objektiver Fakten und Geschehnisse, begreifen sie aber innerhalb der logischen Beziehungen des Bewußtseins. Wenn das Bewußtsein logisch ist und die Wirklichkeit innerhalb des Bewußtseins existiert, dann ist jegliche Wirklichkeit logisch. Das bedeutet für Cohen, daß die Gesetze der Natur die Gesetze der Logik sind. Die Wirklichkeit besteht demnach aus
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einem Netz logischer Verknüpfungen, das einem irrationalen Element keinen Raum läßt78. Cohen anerkannte eine Unterscheidung zwischen den Methoden der Natur und jenen der Kultur- oder Geisteswissenschaften. Er wollte die letzteren jedoch nicht Geisteswissenschaften nennen, denn für ihn bestand - anders als für Dilthey - das Wesen des Geistes in der Erkenntnis. »Der Geist ist daher in der Bedeutung der menschliche Geist, daß er der Geist der methodischen Erkenntnis ist, der Erkenntnismethoden der Wissenschaft. Der Geist der wissenschaftlichen Erkenntnis ist das Wahrzeichen der menschlichen Vernunft, die sich in der wissenschaftlichen Vernunft entwickelt.« So gesehen gehören auch die Naturwissenschaften zu den Geisteswissenschaften. Was die Kultur- und Geschichtswissenschaften von den Naturwissenschaften unterscheidet, ist der Umstand, daß die ersteren sich nicht nur mit natürlichen oder logischen Beziehungen beschäftigen, sondern auch mit der Wertfrage. Sie erfordern deshalb zwei Methoden: »Logik für die Definition, die Klassifikation, die Einteilung« samt den technischen Begriffen, die für eine Erkenntnislehre nötig sind, und Ethik für die Analyse des Kulturgehalts 79 . Die Ethik bedarf einer nicht weniger präzisen Methode als die Logik. Sie tritt an Wertvorstellungen nicht psychologisch, sondern transzendental heran. Ethische Normen sind nicht auf Erfahrung begründet, sondern auf der Beschaffenheit des Geistes. Daher vermag sich die Wissenschaft nicht damit zufrieden zu geben, eine Weltanschauung als einmaliges geschichtliches Phänomen zu behandeln, das auf keine rationalen Grundlagen zurückgeführt werden kann; eine Weltanschauung muß vielmehr mit den absoluten und zeitlosen Kriterien der Logik und der Ethik beurteilt werden80. Infolgedessen verwirft Cohen auch die traditionelle Methode des Historikers, der die Vergangenheit - »wie es eigentlich gewesen« - wieder vor den Augen erstehen lassen will und sich sittlicher Urteile oder der Herstellung übergreifender Bezüge enthält. Cohen selbst neigte einer Geschichtsauffassung zu, die trotz-ihrer kantianischen Terminologie eindeutig an Condorcets Fortschrittsidee gemahnte. Die Geschichte erscheint V g l . Hermann Cohen, System der Philosophie, Erster Teil: Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1902. 1 1 Cohen, Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte I, Berlin 1928, S. $20, J22. " Vgl. ebd., S. 525. V g l . auch Cohen, System der Philosophie, Zweiter Teil: Ethik des reinen Willens, Berlia 1907.
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ihm als ein endloser Prozeß, in dessen Verlauf der Mensch mittels des Vernunftgebrauchs eine zunehmende Herrschaft über die Natur gewinnt und sich allmählich immer mehr dem Ideal einer nach ethischen Prinzipien ausgerichteten Gesellschaft nähert. Dieser Fortschritt ist kein kosmischer Prozeß wie bei Hegel, sondern er ergibt sich daraus, daß das menschliche Denken infolge der logischen Struktur des Bewußtseins zu einer rationalen Welt- und Gesellschaftsvorstellung gelangen muß. Der Prozeß, durch den Geist und Gesellschaft sich fortschreitend den von der Vernunft gesetzten Idealen nähern, ist darum ein ewiger, weil das Ideale niemals ganz erreicht werden kann81. Das politisch-gesellschaftliche Ideal, das Cohen rational nennt, ist im wesentlichen liberal-demokratisch und sozial ausgerichtet. Die »autonome Persönlichkeit«, die Kants kategorischer Imperativ fordert, verlangt eine soziale Einstellung. »Für den sittlichen Geist einer Nation besteht das entscheidende Kriterium in seinem Verhalten zur Arbeiterpartei.«82 Bemerkenswert ist aber vor allem, daß Cohen weder die Rolle der irrationalen Strömungen in der Gesellschaft zu erkennen noch auch irgendwelchen Pessimismus hinsichtlich der modernen Kultur oder des wilhelminischen Deutschland zu hegen vermag. Wie viele seiner Kollegen ging er deshalb auch in vollem Vertrauen auf Deutschlands Vergangenheit und Zukunft und seinen Beitrag zur Kultur in den Ersten Weltkrieg hinein. Obwohl er sich der Notwendigkeit einer weiterreichenden Demokratisierung Deutschlands bewußt war, pries er sein Land als einen progressiven Staat, der das allgemeine Stimmrecht bei Reichstagswahlen eingeführt und die fortschrittlichste Sozialgesetzgebung der Zeit geschaffen hatte. Der deutsche Geist fand seinen Ausdruck in Kants Philosophie; die deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert bedeutete die Verwirklichung der kantianischen Ethik in höchstem Grad. Preußens militärische und bürokratische Traditionen standen nicht im Gegensatz zu diesem Geist, sondern waren seine ureigensten Bestandteile. Das »Volk der Denker und der Dichter« war 11 Vgl. Troeltsch, Der historische Entwicklungsbegriff in der modernen Geistes- und Lebensphilosophie I I : Die Marburger Schule, die südwestdeutsche Schule, Simmel, in: HZ 124 (1921) S. $89-39;. Vgl. auch Simon Kaplan, Das Problem der Geschichte im System der Philosophie H. Cohens, Diss. Jena 1930. at Cohen (s. o. Anm. 79), S. 558. Walter Schutze, Die Idee der sozialen Gerechtigkeit im neukantischen und christlichsozialen Schrifttum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, D i u . Leipzig 1938, erwähnt aufgrund seiner NS-EinsteUung den Namen Cohen nicht einmal.
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untrennbar von dem Volk »der Kämpfer und Staatenbildner«83. »Luthers allgemeine Schulpflicht und Scharnhorsts allgemeine Wehrpflicht«, stellte Cohen 1914 fest, »beide Einrichtungen bilden die Disziplin für den Idealismus Kants.«84 Zweifellos verdankt diese Simplifizierung der überhitzten Stimmung des Augenblicks ihr Dasein. Was diese Gleichsetzung für Cohen allerdings erleichterte, war seine Auffassung vom ethischen Charakter des Staates85, von der er nicht abließ; das unterschied ihn von den meisten anglo-amerikanischen Liberalen oder Sozialisten. Stärker als fast jeder andere liberale Denker in Deutschland hebt Cohen die Integrität des einzelnen als eine Forderung des kategorischen Imperativs hervor. Zugleich anerkennt er die zentrale Rolle des Staates, da nicht nur dem einzelnen Rechte zustehen. Er betont: »Auch der Staat ist Person.«86 Der Staat ist jedoch nicht identisch mit der Nation, denn der Staat ist eine ethische Einheit, die Nation nicht. Die Nation ist dem Staat untergeordnet; die Nationalität war nur Mittel zur Staatsbildung. Ein verabsolutierter und von den ethischen Prinzipien des Staates losgetrennter Nationalismus wird zu einer Art Barbarismus87.
4Wilhelm Windelband steuerte zur neukantianischen Diskussion seine Fassung der Unterscheidung zwischen den Methoden der Natur- und der historischen Wissenschaften bei. Als Ideenhistoriker, der heutzutage wegen seines Standardwerks >Geschichte der neueren Philosophie < sicherlich bekannter ist als um seiner philosophischen Spekulationen willen, ist er sich der spezifischen Logik der Geschichtsforschung besonders bewußt. Er verwirft keineswegs die Grundvoraussetzung Cohens und Natorps von der Welt als dem Entwurf des rationalen Bewußtseins. Dennoch modifiziert Windelband diese Auffassung der Marburger Schule in einem wichtigen Punkt, indem er nicht logische, sondern axiologische Gesetze die Grundlage der objektiven Wirklichkeit bilden läßt. Auch die Logik ist, analog " E b d . . S.J70; vgl. >Kantische Gedanken im deutschen Militarismus«, in: Schriften... (s.o. Anm. 79)11, S. 347-314* " Cohen. Schriften... (s. o. Anm. 79) II, S. 348. " Vgl. ebd. Interessant ist Cohens ausdrückliche Verteidigung des Eudämonismus ebd., S. 29; f. " Ebd., S. 3 3 2 . " Vgl. Cohen (s. o. Anm. 80), S. 2 5 j .
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der Ethik und der Ästhetik, eine normative Wissenschaft, die Wissenschaft von der Art und Weise, wie man denken soll; als solche will sie nicht die Wirklichkeit beschreiben. Normen »gelten«, sie sind nicht »wirklich«. Somit sind die Gesetze der Natur nicht mit den Gesetzen der Logik identisch88. Gewiß bedeutet diese Unterscheidung zwischen dem Logischen und dem Seienden mehr Anerkennung der Existenz irrationaler Elemente in der Wirklichkeit, gewährt aber keinesfalls einem Wertesubjektivismus Spielraum. Die Normen haben nämlich ihren Grund nicht in der individuellen Psyche, sondern im Bewußtsein als solchem. Ob in Wissenschaft, Logik, Ethik oder Ästhetik - diese Werte gelten absolut und über alle Zeit hinaus; sie allein verleihen dem Leben und der Wirklichkeit Sinn. Sie treten uns - so Rickert - entgegen »als das, was ewig sein soll, ohne wirklich sein zu müssen, und indem wir das Geltende in das Wirkliche hineinarbeiten, bekommt unser Dasein einen lebendigen Sinn, der es wahrhaft lebenswert macht«89. Da sich Windelband und Rickert intensiver als Cohen und Natorp mit Wertfragen auseinandersetzten, wandten sie ihre eigentliche Aufmerksamkeit von den methodologischen und erkenntnistheoretischen Problemen der Naturwissenschaften zu jenen der Sozialwissenschaften hin. Die Bedeutung der berühmten Antrittsrede, die Windelband als Rektor der Universität Straßburg 1894 hielt, liegt in ihrer programmatischen Forderung einer eigenen Logik für die historischen Wissenschaften. Die Feststellung, daß die naturwissenschaftlichen Methoden auf die Erforschung der Geschichte nicht anwendbar sind, sondern daß die Geschichte eine eigene Methodenlehre und Erkenntnistheorie verlangt, war nicht neu, vielmehr seit der Historischen Schule gang und gäbe gewesen. Windelband arbeitete in seiner Rede auch keine derartige Methodologie heraus. E r unterschied zwischen rationalen Wissenschaften - wie etwa Philosophie und Mathematikund Erfahrungswissenschaften. Die letzteren wurden nicht - wie bis dahin üblich - vom Gegenstand her bestimmt, sondern hinsichtlich ihrer Methode. Windelband hielt - wie schon Cohen vor ihm - die Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften für unglücklich. Beispielsweise •• Vgl. Heinrich Ricken, Wilhelm Windelband, Tübingen 1929, S. 14. Zu Windelband siehe auch Troeltsch (s. o. Anm. 81); ders., Uber den Begriff einer historischen Dialektik. Windelband, Rickert und Hegel, in: H Z 1 1 9 (1919) S. 373-426. • • E b d . , S . 14.
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konnte die Psychologie wie eine Naturwissenschaft betrieben werden. Der Unterschied zwischen den beiden Wissenschaftstypen lag in der Art der Erkenntnis, auf die sie abzielten, nämlich entweder die Geschehnisse auf abstrakte Beziehungen zu reduzieren oder »ein einzelnes, mehr oder minder ausgedehntes Geschehen von einmaliger, in der Zeit begrenzter Wirklichkeit, zu voller und erschöpfender Darstellung zu bringen«. Die eine Gruppe der Wissenschaften suchte Gesetze, die andere Tatsachen. Windelband nennt die Naturwissenschaften »nomothetisch«, die historischen Wissenschaften »idiographisch«90. Oftmals gelten beide Methoden für ein und denselben Inhalt, so etwa bei der Sprachwissenschaft, Physiologie, Geologie, Psychologie und sogar der Astronomie. Die eigentliche Schwäche der traditionellen Logik besteht darin, daß sie allzusehr an der nomothetischen Methode der Naturwissenschaften haftet und darüber die in der Untersuchung der historischen Realität mitinbegriffene logische Reflexion vernachlässigt81. Obwohl beide Wissenschaftszweige empirisch sind, befaßt sich keine mit einer naiv verstandenen Erfahrung. Bei beiden ist Erfahrung mit wissenschaftlichen Kriterien und äußerst verfeinerten Methoden verbunden; sie arbeiten mit präzis quantitativen Messungen oder mit Stilanalysen92. Keine gibt sich nur mit Phänomenen ab. Das nackte Geschehnis bedeutet den historischen Wissenschaften nicht mehr als den Naturwissenschaften. Beide Wissenschaftszweige befassen sich mit grundlegenden Beziehungen, obschon von verschiedener Art. Die Naturwissenschaft sucht Gesetze und neigt zu Abstraktionen; sie will die bunte Wirklichkeit auf ein Begriffssystem reduzieren, »eine Welt von Atomen, farblos und klanglos, ohne allen Erdgeruch der Sinnesqualitäten - der Triumph des Denkens über die Wahrnehmung.« Der Historiker, dem es nicht möglich ist, der Begriffe völlig zu entraten, wendet sich der Anschauung zu. Letztes Ziel der Historie ist es, »aus der Masse des Stoffes die wahre Gestalt des Vergangenen zu lebensvoller Deutlichkeit herauszuarbeiten« und »Bilder von Menschen und Menschenleben mit dem ganzen Reichtum ihrer eigenartigen Ausgestaltungen, aufbewahrt in ihrer individuellen LebendigM Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft. Straßburger Rcktoratszcde 1894, in: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte II. 7. und 8. Aufl., Tübingen 1921. S. 142-14]. " Vgl. ebd., S. 147. " V g l . ebd., S. 148.
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keit«, zu liefern93. Wenn auch das historische Einzelgeschehen des Verstehens wegen allgemeinen wissenschaftlichen Regeln untergeordnet werden kann und muß, so ist doch jedem Geschehnis und jedem einzelnen stets ein Element eigen, das sich der Analyse entzieht, »ein Rest von Unbegreiflichkeit - etwas Unaussagbares, Undefinierbares « 94 . Windelband ließ in seinem Vortrag die Frage unberührt, wie der Historiker das geschichtliche Ereignis vom gewöhnlichen Ereignis unterscheiden kann. Offensichtlich ist ein Auswahlprinzip vonnöten. Beruht das Prinzip im subjektiven Interesse des Historikers, dann ist die Historie notwendig subjektivistisch. Besteht der historische Gegenstand nur in autonomen, einmaligen Ereignissen, dann vermag der Historiker unmöglich objektive Kriterien zu entdecken, mittels deren er das historisch Bedeutsame bestimmen kann. Die Antwort, die Windelband in seinen unvollständig gebliebenen Vorlesungen über >Geschichtsphilosophie < gab, fällt erstaunlich realistisch aus. Geschichte ist nicht bloße Chronologie. Sie handelt von Taten, die durch ihre Zweckgerichtetheit miteinander verknüpft sind. Somit läßt sich von Fortschritt, Rückschritt oder Stagnation in der Geschichte sprechen; gewisse Werte können vorausgesetzt werden95. Diese Wertvorstellungen setzen den Historiker in die Lage, darüber zu entscheiden, was von historischem Interesse ist und was nicht. Was einen Platz in der Entwicklung einnimmt, ist historisch; trifft dies nicht zu, muß man von »ahistorisch« sprechen. »Historisch bedeutsam also ist das Individuelle dann, wenn es für ein übergeordnetes Ganzes in der menschlichen Gemeinschaft Bedeutung besitzt. Diese Wertbeziehung auf eine menschliche Gemeinschaft ist das Entscheidende, was dem einzelnen Geschehen den Charakter des Geschichtlichen, des Historischen verschafft.« 96 Der Historiker wählt jenen Menschen für seine Untersuchung aus, der historisch von Bedeutung ist. Er hebt als historisch jene Nationen hervor, »die auf der Bühne der Universalgeschichte nicht bloß kommen und gehen, sondern ihr Wesen der Entwicklung des Ganzen aufprägen« 97 . Die Aufgabe des Historikers gleicht jener des M Ebd., S. t j l f . " E b d . , S . 159. 11 Vgl. Windclband, Geschichtsphilosophie. Hine Kriegsvorlesung. Fragment aus dem Nachlaß, Hrsg. Wolfgang Windelband, Bruno Bauch, Berlin 1916, S. 21. M Ebd., S. ) 9 . •T Ebd., S. 40.
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Naturwissenschaftlers insofern, als auch er »Regelmäßigkeiten« in der Geschichte darzulegen sucht. Fundamental ist der Unterschied zwischen den beiden darin, daß der erstere sich mit dem befaßt, was nur erzählt und nicht auf Gesetze reduziert werden kann. Jedoch auch das Erzählen erfordert allgemeine Begriffe 98 . Obschon sich der Historiker mit dem Besonderen befaßt, wählt er nicht um des Besonderen willen aus, sondern insoweit es ein Glied in der Entwicklungskette eines bedeutsamen Ganzen, einer großen Gemeinschaft oder der gesamten Menschheit i s t " . Das Auswahlprinzip wird deshalb vom historischen Forschungsobjekt selbst bestimmt. Windelband lehnt es entschieden ab, die geschichtliche Wahrheit als vom Historiker abhängig zu betrachten. Die geschichtliche Wahrheit existiert unabhängig vom Historiker auf dieselbe Weise, wie mathematische Wahrheit gültig ist, auch wenn kein Mathematiker sie entdeckt hat. »Die historische Wahrheit als Gegenstand bleibt doch aufrecht, auch wenn die Erinnerung und die rekonstruierende Phantasie fehlen oder gar falsch sind, und ebenso gilt es, daß das Geschehen auch durch Vergessen nicht ungeschehen zu machen i s t . . . Deshalb ist die Geltung der historischen Wahrheiten schließlich von unserem Wissen darum unabhängig.« 100 Eine Erschwernis beim Bemühen um objektive historische Erkenntnis ergibt sich - wie Windelband zugesteht aus dem Umstand, daß der Forscher der menschlichen Geschichte (im Gegensatz zu Forschern anderer Aspekte der Vergangenheit) niemals den Geschehnissen der Vergangenheit unmittelbar gegenübersteht, sondern sich größtenteils mit Traditionen befaßt. Der Tradition ist es eigen, unser Bild von der Vergangenheit auf zweierlei Weise zu verzerren: zum einen haben die Sieger der Vergangenheit die Geschichte aus ihrem Blickwinkel gesehen und berichtet, zum anderen ist der Historiker selbst Teil einer lebendigen Tradition. Somit ist »die Gesamterinnerung des Geschlechts, die wir in der historischen Wissenschaft besitzen, selbst ein Produkt der Geschichte, ein Werk der Tradition, eine Gesamtleistung des menschlichen Geschlechts und damit eines unserer wertvollsten Kulturglieder« 101 . Der Erkenntnismethode ist deshalb aufgegeben, " V g l . ebd., S. 43-46. " Vgl. ebd., S. 40. >" Ebd., S. jof. 1,1 Ebd., S. J2.
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das Ausmaß zu bestimmen, in dem kulturelle und traditionelle Faktoren das historische Wissen färben. Was die Historie für Windelband dennoch möglich macht, das ist die objektiv verstandene Realität der menschlichen Entwicklung. D e r Historiker geht von der Voraussetzung aus, daß »das geschichtliche Leben kein sinnloses Ungefähr, kein vernunftloses Getriebe einer biologischen Art ist, sondern daß darin ein vernünftiger Sinn waltet, ein logos, der auch die geschichtliche Welt zum K o s m o s macht«. Dieser Glaube kann zwar nicht bewiesen werden, ist aber im Laufe ungezählter geistiger Leistungen immer offensichtlicher geworden 1 0 2 . D i e Einheit des Prozesses liegt also in der Idee der Humanität, die besagt, daß die Menschheit nicht nur »einen zoologischen Gattungsbegriff, sondern eine werthafte Realität« verkörpert 1 0 3 . Allerdings existiert diese Realität, »die Menschheit als universale Lebenseinheit«, noch nicht, sondern ist dem Menschen zur Verwirklichung aufgetragen als eine Idee, die niemals völlig zu konkretisieren ist. »Die Menschheit als Lebenseinheit, in der sich ein vernünftiger Gesamtsinn entwickelt, ist niemals fertig gegeben, so wie es etwa die Menschheit als biologische Gattung tatsächlich ist, sondern immer nur aufgegeben, aber mit einer unentfliehbaren Notwendigkeit. D i e Geschichte ist also der Prozeß, worin diese Aufgabe der Humanität im wechselnden, vielleicht im ganzen allmählich wachsenden Maße erfüllt wird.« 1 0 4 Damit ist ausdrücklich alles historisch, was zu dieser E n t wicklung beiträgt. Für Windelband verblieb wie für Cohen ein universaler, vernünftiger Maßstab, der historische Institutionen und positives Recht übersteigt und als ein mögliches Kriterium dient, an dem geschichtliche Institutionen beurteilt werden können. Windelband wollte nicht zu aufklärerischen Naturrechtsvorstellungen zurückkehren. E r lehnt die Idee ab, der Jurist könne neue Gesetze auf der Grundlage eines statischen, abstrakt-rationalen Rechts schaffen, aber er weist darauf hin, daß die Rechtsphilosophie uns erlaubt, zu »erforschen, wie weit sich in diesem Menschenwerk des Rechts höhere Vernunftnotwendigkeiten verwirklichen«. E s steht nämlich über den »einzelnen Völker(n), die ihren Staat und ihr Recht immer in der unvollkommenen F o r m schaffen, die an das natürlich » ' Ebd., S. 9-11. Ebd., S. ¡6. "« Ebd., S. J7. 63.
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oder historisch Gegebene gebunden ist, . . . das Ideal des vernünftigen Gesamtbewußtseins der Menschheit, welches die höchste empirische Form des Gewissens darstellen würde« 105 . Diese Auffassung von einem vernünftigen Ideal, dem die menschlichen Bemühungen nachstreben, schließt eine optimistische Zukunftsschau ein, die der von Hermann Cohen ähnelt, obwohl Windelband sich der Gefahrensignale im Europa seiner Zeit weit mehr bewußt war. Wie Burckhardt hegte er die Befürchtung, die moderne technische Massengesellschaft bedrohe die überkommenen Werte unserer Kultur. In dem Aufsatz >Über Friedrich Hölderlin und sein Geschick < gab er der Sorge Ausdruck, der gleiche Wahnsinn, der über den Dichter gekommen war, werde auch die moderne Gesellschaft als den Träger der modernen Zivilisation mit ihren Forderungen nach Spezialisierung und Intellektualisierung heimsuchen und den Menschen der Harmonie und der abgerundeten Persönlichkeit berauben, die das Erbe der klassischen Kultur gewesen waren106. Als ein guter Europäer, der sich der geistigen Einheit zutiefst bewußt war, die dieses Erbe der westlichabendländischen Kultur verliehen hatte, bedauerte er in einem 1890 gehaltenen Vortrag über Fichte den Niedergang des kosmopolitischen Geistes des 18. Jahrhunderts sowie die Härten der nationalen Grenzscheiden107. Allerdings schloß der gleiche Vortrag, der anläßlich des Geburtstags des Kaisers gehalten wurde, mit einer Hymne auf die politischen und sozialen Errungenschaften des preußischen Staates im Laufe des 19. Jahrhunderts108. Das Vertrauen in die Zukunft, das Windelbands vereinzelte düstere Betrachtungen überstrahlte, ist bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht erschüttert worden.
5Einen bedeutsamen Schritt in Richtung eines ethischen Relativismus unternahm Windelbands jüngerer Kollege in Freiburg, Heinrich Rickert, der allerdings die ihm von späteren Autoren verliehene Bezeichnung »Vater des historischen Rela' » Ebd., S . 1 1 f. im Vgl. Win del band, Präludien... (a. o. Anm. 90) I t S. l j 3 f. Vgl. auch Troeltsch (s. o. Anm. 81), S. 408. wo Windelbands »Kulturpessimismua« erörtert wird. Vgl. Windelband, Fichtes Idee des deutschen Staates, Freiburg 1890, S. 8. >•» Vgl. ebd , S. 23-26.
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tivismus« energisch zurückgewiesen haben würde 109 . Rickert fußte nämlich wie Windelband auf den neukantischen Voraussetzungen hinsichtlich der überzeitlich und universal gültigen Beschaffenheit der logischen und ethischen Urteile. Mit Cohen und Windelband war er davon überzeugt, daß eine objektive, wissenschaftliche Erkenntnis der physikalischen und der geschichtlichen Welt möglich sei. Dennoch lehnte er nicht nur die Auffassung von der Geschichte als einem wirklichen Entwicklungsprozeß - wodurch dem Historiker ein Auswahlprinzip geliefert wird - ab, sondern leugnete auch, daß der Philosoph die konkreten Institutionen, die Ideen und die Kulturwerte mittels der abstrakten Prinzipien einer überzeitlichen Ethik werten könne. Er hegte die gleiche Meinung über die Aufgabe des Historikers wie die Historische Schule: Der Historiker sollte geschichtliche Ereignisse oder Zusammenhänge nicht mit seinem eigenen Maßstab werten, sondern die entsprechenden historischen Maßstäbe eruieren und die Wertbe^ogenheit aller kulturellen Erscheinungen erforschen. Dieser Methode wohnt, was die Arbeit des Historikers anbelangt, eindeutig ein ethischer Relativismus inne, der Rickerts sittlichem Absolutismus in philosophischer Hinsicht zu widersprechen scheint. Da sich Rickert dieses Widerspruchs bewußt war, bemühte er sich um eine Lösung, indem er eine These von immanenten Werten kreierte, wonach die einer Kultur eigenen Werte der Ausdruck von überzeitlichen, absolut gültigen Normen sind. Diese Einstellung wäre um vieles einsichtiger gewesen, wenn Rickert die Geschichte - wie Hegel, Humboldt oder Ranke - weiterhin für einen sinnvollen Prozeß gehalten hätte. Auch erlaubten ihm seine ethischen Voraussetzungen neukantischer Provenienz nicht, der neuplatonischen Auffassung von einer Vielheit absolut gültiger, überzeitlicher Ideen zuzustimmen. Daher mutet Rickerts Bestreben, in den vielfältigen, einander widersprechenden Werten der verschiedenen Epochen den Ausdruck einer ewigen Sittlichkeit zu sehen, wie einer der vielen unglücklichen Versuche an, Unvereinbares miteinander zu vereinen. Rickert schloß sich nicht der viel Brecht, a.a.O., zählt Rickrrt zusammen mit Georg Simmel, Max Weber und dem Rechtstheoretiker und Staatswissenschaftler Georg Jellinek zu den »Vätern des wissenschaftlichen Wertrelativismus«. Vgl. Maaur, a.a.O. Andererseits bezeichnet Maurice Mandelbaum (The Problem of Historical Knowledge. A n Answer to Relativism, New Yorkt9)8) Rickert als »Gegcn-Relativisten«. Zu Rickert siehe insbes. Troeltsch (s. o. Anm. 3 und 81); Willy Moog, Die deutsche Philosophie des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 192z, S. 231-248; Fritz Kaufmann, Gcschichtsphilosophie der Gegenwart, Berlin 1931, S. j-42; Mandelbaum, a.a.O.
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überzeugenderen Lösung seines zeitweiligen Freiburger Kollegen Max Weber, an, der die Aufgabe des Soziologen und Historikers strikt auf die Untersuchung der Wertsysteme innerhalb der Kulturepochen beschränkte und die Möglichkeit einer objektiven Erforschung universal gültiger Werte leugnete. Rickert stimmt Windelband darin zu, daß der eigentliche Unterschied zwischen Historie und Naturwissenschaft nicht im Inhalt, sondern in der Methode besteht. Es gibt nur eine Wirklichkeit, die alles Seiende umfaßt, Körper wie Geist. Diese Wirklichkeit muß »monistisch« als ein integriertes Ganzes betrachtet werden. Auch der Geist kann mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden; also ist nicht der Geist, sondern die Geschichte der Gegensatz zur Natur. Die Natur begreift alles Seiende in allgemeinen Gesetzen; die Geschichte versteht jegliches als einmaliges Geschehenno. Rickert hielt jedoch die Windelbandsche Unterscheidung zwischen einer nomothetischen und einer idiographischen Methode für unzureichend, um den Unterschied zwischen Geschichte und Natur zu kennzeichnen111. Die Geschichtswissenschaft beschreibt die Wirklichkeit nicht mehr als die Naturwissenschaft. Alles Wirkliche ist in Bewegung; alles ist verschieden voneinander. Das Verstehen der Geschichtswissenschaft erfordert nicht weniger als die Naturwissenschaft die Reduzierung dieser Bewegung und Verschiedenheit auf Begriffe112. Der Historiker will gleich dem Naturwissenschaftler die Wirklichkeit nicht abbilden, sondern umbilden, ihr Erscheinungsbild vereinfachen. Nur so wird die irrationale Wirklichkeit rational113. Sowohl Ranke wie Windelband haben dies mißverstanden, indem sie verlangten, der Historiker solle an die Vergangenheit mit Anschaulichkeit und nicht mit rationalen Begriffen herantreten114. Die historische Forschung erfordert nämlich ebenfalls ein a priori, ein Vor-Urteil, mit dessen Hilfe das »heterogene Kontinuum des wirklichen Geschehens« auf Begriffe zurückgeführt werden kann115. Der Historiker muß in der Lage sein, zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesent1 , 0 Vgl. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 4. und j . A u f l . , Tübingen 1921, S. 14-18. 1 1 1 Vgl. ebd., S. 81. Vgl. ebd., S. 35 f. 1 1 1 Vgl. ebd., S. 3 j f . "« Vgl. ebd., S. 95. 1 1 1 Ebd., S. 89.
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liehen in der Vergangenheit zu unterscheiden, zwischen den »historisch bedeutsame(n) Individualitäten« und jenen, die ein »bloßes Anderssein« kennzeichnet 118 . Somit ist ein Auswahlprinzip erforderlich. Dieses Auswahlprinzip ergibt sich nicht daraus, daß Geschehnisse, Persönlichkeiten oder Zusammenhänge in einen objektiven Geschichtsprozeß eingeordnet werden, sondern daß deren Wertbezogenheit konstatiert wird. In einem wichtigen Punkt bezieht sich nämlich der Unterschied zwischen Natur und Kulturgeschichte ebenso sehr auf den Inhalt wie auf die Werte. In der Natur wächst alles frei und ohne menschliche Lenkung; im Bereich einer Kultur bedarf alles menschlicher Bemühung. »In allen Kulturvorgängen ist irgend ein von Menschen anerkannter Wert verkörpert, um dessentwillen sie entweder hervorgebracht oder, wenn sie schon entstanden sind, gepflegt werden.« Werte sind stets mit Kulturobjekten verknüpft; natürliche Vorgänge sind dagegen wertfrei. Somit können wir zwischen »wertbezogenen Kulturgütern« und »wertfreien« Naturobjekten unterscheiden. Die Wissenschaft, die sich mit »wertbezogenen Kulturobjekten« befaßt, sollte deshalb nach Rickerts Ansicht besser als Kulturwissenschaft denn als Geschichtswissenschaft bezeichnet werden 117 . Der Historiker oder Kulturwissenschaftler wählt jene »individuellen Objekte« aus, die »in ihrer individuellen Eigenart entweder selbst Kulturwerte verkörpern oder mit ihnen in Beziehung stehen«. Nur indem er die kulturell bedingte Wertbezogenheit dieser Objekte begreift, versteht er auch jene historischen Individualitäten, die als sinnvoll anzuerkennen sind 118 . Der Historiker ist gemäß Rickert also nur insofern an Werten interessiert, als Menschen sich nach diesen Werten ausgerichtet und sie auf Objekte bezogen haben. An der Gültigkeit dieser Werte ist er nicht interessiert. Demnach besteht seine Methode nicht im Werten, sondern im We^tbe^iehen. Er darf natürlich die Geschichte anhand seiner eigenen Maßstäbe betrachten - allerdings nicht in seiner Eigenschaft als Historiker. Er untersucht vielmehr die Kulturwerte als Fakten, ohne Rücksicht auf seine persönlichen Wertvorstellungen 119 . So vermag er etwa nicht zu entscheiden, ob die Französische m
Ebd., S. 91 f. Ebd., S. 1 1 - 1 3 . Ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 98-100.
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Revolution für Frankreich segensreich oder verhängnisvoll war, sondern nur, ob sie für die historische Entwicklung Frankreichs oder Europas von Bedeutung war und in eine Geschichte Europas eingegliedert werden sollte130. Aus der Vielzahl der Werte, die im Lauf der Geschichte eine subjektive Gültigkeit besaßen, muß er zwischen »willkürlichen« und »objektiven« eine Unterscheidung treffen können. Es bleibt die Frage, aufgrund welcher Werte er ein Geschichtsbild entwerfen soll. Gibt es irgendwelche objektiven Kriterien für seine Auswahl? Rickert bejaht dies; gewisse, allgemein anerkannte Werte in einer Kultur können empirisch und deshalb objektiv bestätigt werden. »Diese Allgemeinheit der Kulturwerte erst ist es, welche die individuelle Willkür der geschichtlichen Begriffsbildung beseitigt, und auf der also ihre >Objektivität< beruht. Das historisch Wesentliche darf nicht nur für dieses oder jenes einzelne Individuum, sondern es muß für alle bedeutsam sein.«121 Rickert geht hier von zwei äußerst fragwürdigen Voraussetzungen aus. Zum einen glaubt er, daß es in jeder Kultur gewisse Werte gibt, die innerhalb der Kultur als allgemein gültig anerkannt sind; zum anderen ist er der Meinung, daß alle Historiker, die objektiv und frei von Vorurteilen vorgehen, darin übereinstimmen müssen, um welche Werte es sich handelt. Daraus folgt, daß Historiker bei der Deutung einer historischen Situation nur dann verschiedener Auffassung sind, wenn sie der Objektivität ermangeln. Rickert läßt die recht naheliegende Möglichkeit außer acht, daß Kulturen keine in sich geschlossenen Systeme sind, sondern vielmehr große Wertunterschiede in sich bergen. Er gesteht auch nicht zu, in welchem Ausmaß die soziale, psychologische oder geschichtliche Stellung des Historikers seine Interessen bestimmen oder ihn veranlassen können, nur bestimmte Perspektiven eines historischen Problems zu sehen anstatt seiner gesamten Beschaffenheit. Wenn Dilthey davon ausgeht, daß die geschichtliche Erkenntnis stets von der Persönlichkeit des Betrachters abhängt und daher höchst subjektiv ist, so unterschlägt Rickert die psychologischen oder gesellschaftlichen Faktoren der Wissensbildung und erachtet die Erkenntnis in erster Linie als einen rationalen und objektiven Vorgang 142 . "•Vgl. ebd., S. 88. ">EM.,S. uof. Vgl. Mandelbaum, a.a.O. 111
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Wenn der Historiker die Geschichte anhand der vorherrschenden Kulturwerte zu gliedern hat, so ergibt sich daraus natürlich die Unmöglichkeit der Universalgeschichte. Was der Historiker zu schreiben vermag, das ist die Geschichte der einzelnen Kulturen. Alles, was darüber hinausgeht, würde die Existenz objektiver, von allen Menschen anerkannter Werte erfordern 123 . Im Rahmen einer Kultur kann der Historiker von einer dieser Kultur eigentümlichen und an ihren Wertvorstellungen gemessenen Entwicklung sprechen. Von einem Fortschritt der Menschheit in der empirisch faßbaren Geschichte kann man jedoch nicht sprechen, da es sich hier um einen Wertbegriff handelt, der nur innerhalb objektiver und universal gültiger Werte sinnvoll wäre. Deshalb gehört für Rickert das Fortschrittsproblem in die Zuständigkeit der Geschichtsphilosophie und nicht der Geschichtswissenschaft 124 . Immerhin gibt Rickert zu, daß man nur unter Schwierigkeiten von der Objektivität der Kulturwissenschaften oder der Kulturgeschichte sprechen könne, wenn die Geschichte insgesamt in eine Großzahl von isolierten Prozessen aufgelöst sei, deren jeder um einen anderen Wertkomplex kreise. Zwar werden auch in den Naturwissenschaften Theorien berichtigt, aber wir können doch voraussetzen, daß »natürliche Gesetze unbedingt gelten, auch wenn noch keines uns bekannt sein sollte«. Die von den verschiedenen Kulturen vertretenen Werte kommen und gehen, so daß uns scheint, daß »abgesehen von den bloßen Tatsachen, es dann so viel verschiedene historische Wahrheiten als es verschiedene Kulturkreise gibt« 125 . Rickerts Auffassung von Wahrheit unterscheidet sich hierin von jener der Historischen Schule. Die Beschreibung eines ephemeren Geschehens ist nicht Wahrheit. »Eine wissenschaftliche Wahrheit muß zu dem, was theoretisch gilt, auch ohne daß es gewußt wird, ein bestimmtes Verhältnis haben, d. h. ihm mehr oder weniger nahe stehen. Ohne diese Voraussetzung hat es keinen Sinn mehr, von Wahrheit zu r e d e n . . . Alle historischen Begriffe dagegen gelten dann nur eine bestimmte Zeit, und das heißt, sie gelten als Wahrheiten überhaupt nicht, denn sie haben zu dem, was absolut oder zeitlos gilt, kein bestimmtes Ver1U Vgl. Rickert. Kulturwissenschaft... (s. o. Amn. 110), S. 1J6-160. ls« Vgl.ebd., S. I09f.; siehe auch Rickert, Geschichtsphilosophie, in: Die Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert II (Festschrift für Kuno Fischer), Hrsg. Wilhelm Windelband, Heidelberg 1904-190J, S. loif. 114 Ebd., S. 157.
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hältnis.«126 Wenn dies nun zutrifft, so ist das ganze kulturelle und geistige Streben des Menschen sinnlos; es bedeutet nicht mehr als der vermessene Selbstbetrug der klugen Tiere, den diese in Nietzsches Gleichnis in einem abgelegenen Winkel des Weltalls begehen und der nur einen Augenblick angesichts der Ewigkeit währte, »die hochmütigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte, aber doch nur eine Minute«127. Rickert will dies jedoch nicht wahrhaben und äußert sich so: »Dieser Standpunkt ist, wenn man will, in der Tat konsequent, aber seine Konsequenz vernichtet dann die Objektivität jeder Wissenschaft, also die von Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft in gleichem M a ß e . . . Gerade der wissenschaftliche Mensch muß die Geltung der theoretischen Werte als absolut voraussetzen, wenn er nicht aufhören will, ein wissenschaftlicher Mensch zu sein.«128 In scharfem Gegensatz zu Max Weber129 besteht Rickert auf der Unmöglichkeit einer völlig wertfreien Methode in der Wissenschaft, was sogar für die Naturwissenschaften gilt. Ebenso wie die empirische Forschung in den Naturwissenschaften nach dem »unbedingt allgemeingültigen Gesetz der Natur« sucht und es voraussetzt, ist es für die Kulturwissenschaften »der unbedingt allgemeingültige Wert«, dem sich die Objekte und Institutionen des Kulturlebens mehr oder weniger annähern. Ohne diese Voraussetzung gibt es kein sinnvolles Auswahlprinzip, doch ermangelt sie, wie Rickert zugesteht, der empirischen Begründung. Es handelt sich um eine philosophische, keine wissenschaftliche Voraussetzung. Daraus ergibt sich, daß es für Rickert »keine Geschichtswissenschaft ohne Geschichtsphilosophie« gibt130. Wie aber können empirische Historie und transempirische Philosophie versöhnt werden? Rickert will dieses Dilemma durch eine Theorie der Werte überwinden, die in den verschiedenen Kulturwerten Manifestationen universal gültiger >" Ebd.,S. i)6f. » ' Zit. ebd., S. 165 f. " » E b d . , S. 167. 1,8 Zu Rickerts Interpretation der Werttheorie Max Webers siehe Rickert, Max Weber und seine Stellung zur Wissenschaft, in: Logos l j (1926) S. 222-237. Rickert behauptet, Weber sei »allem, was man heute Relativismus nennt«, durchaus fern geblieben; aus pädagogischen Gründen habe er seine Stellungnahme zur Wertfreiheit in seinem Vortrag »Wissenschaft als Beruft überspitzt; aus den SpezialWissenschaften habe er Werturteile ausklammern wollen, doch sei er der wissenschaftlichen Philosophie, die sich mit letztgültigen Werten befaßt - u n d die er zu bekämpfen schicn-, viel näher gestanden, als ihm selbst zum Bewußtsein gekommen sei. 110 Rickert, Kulturwissenschaft... (s. o. Arnn. 110), S. iÖ2f.
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Werte sieht, welche den besonderen und einmaligen geschichtlichen Situationen angepaßt sind. Ist denn nicht selbst die Naturwissenschaft ein Produkt der Kultur und besitzt dennoch wirkliche Gültigkeit? Kann dies nicht auch auf andere Produkte der Kultur zutreffen? 131 Keine Philosophie vermag ein zusammenhängendes System der Kulturwerte zu entwerfen und »aus bloßen Begriffen zu konstruieren . . . Ein System der Kulturwerte, das auf Geltung Anspruch erhebt, kann nur an dem geschichtlichen Leben gefunden und aus .ihm allmählich herausgearbeitet werden, indem man die Frage stellt, welche allgemeinen und formalen Werte der inhaltlichen und fortwährend wechselnden Mannigfaltigkeit des historischen Kulturlebens zugrunde liegen, und worin also die Wertvoraussetzungen . . . überhaupt bestehen« 132 . Mit dieser Theorie ist Rickert im wesentlichen zum Glauben des Deutschen Idealismus an den Sinn der Geschichte und die Gültigkeit der verschiedenen historischen Werte zurückgekehrt. Rickert verteidigt diesen Glauben an die Gültigkeit der einzelnen geschichtlichen Werte ausführlich in >Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung
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eignet wird.« Der kategorische Imperativ muß somit neu geprägt werden, um den individuellen Charakter der ethischen Normen zu berücksichtigen: »Du sollst, wenn Du gut handeln willst, durch Deine Individualität an der individuellen Stelle der Wirklichkeit, an der Du stehst, das ausfuhren, was nur Du ausführen kannst, da kein Anderer in der überall individuellen Welt genau dieselbe Aufgabe hat wie Du, und Du sollst Dein ganzes Leben ferner so gestalten, daß es sich zu einer teleologischen Entwicklung zusammenschließt, die in ihrer Totalität als die Erfüllung Deiner sich niemals wiederholenden Lebensaufgabe angesehen werden kann.«135 Die ethischen Normen können absolut und universal und zugleich auf sehr verschiedene individuelle Situationen anwendbar sein, da sie rein formalen Charakter besitzen. Hier stellt sich die Frage, welchen Sinn eine derartige Definition des kategorischen Imperativs noch hat. Auch Kant bestimmte den kategorischen Imperativ rein formal, ohne besonderen Inhalt. Immerhin wurde das Individuum aufgefordert, so zu handeln, »daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte«. Für Rickert nun besagt der kategorische Imperativ als die zeitlose, universale Norm der Ethik, daß es ebenso viele Normen wie Individuen gibt und daß alle diese Normen gleiche Gültigkeit besitzen. Unmöglich kann irgendein universales sittliches Ideal gefunden werden, das einen besonderen Inhalt hat. Der Inhalt der ethischen Forderungen hängt stets von der geschichtlichen Entwicklung der Kulturen und, darüber hinaus, von den Nationen ab186. Daher ist es des Individuums »ethische Pflicht, vor allem Glied einer Nation zu sein, da wir die meisten unserer Pflichten überhaupt nur als nationale Glieder zu erfüllen vermögen«. Die Nation verleiht ihm »positive, bestimmte Kulturziele«, was die Menschheit nicht vermag. Umgekehrt hat jede Nation »stets eine individuelle Aufgabe, die kein anderes Volk haben kann, und nur durch Herausarbeitung der nationalen Eigenart ist daher in der Welt etwas zu leisten«137. Desgleichen muß das Naturgesetz rein formal gesehen werden. In der Welt der konkreten Wirklichkeit ist jedoch »allein das historische Recht, das Produkt der geschichtlichen Kulturentwicklung, . . . das wirkliche Recht, und m
Ebd., S. 7 j2f. »• Ebd., s. 750. Vgl. ebd., s. 741.
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ein Naturrecht gibt es so wenig, wie eine quantitative Atomweit oder irgendwelche anderen metaphysisch hypostasierten Allgemeinbegriffe«. Es gibt keinen Standpunkt über der Geschichte als einen rein formalen138. Dennoch verteidigt Rickert seine Stellung mit Vehemenz gegen den Vorwurf des Historismus oder Relativismus. Als Methode zur Untersuchung von Kulturwerten ist allein die historische zuständig. Als eine Weltanschauung jedoch ist der »Historismus ein Unding, eine Form des Relativismus und Skeptizismus«, der »konsequent zu Ende gedacht, nur zum vollständigen Nihilismus führen kann«138. Desgleichen ist jeder Versuch, das Leben aus dem Leben selbst zu erklären, ohne auf transzendental rationale Normen Bezug zu nehmen, absurd140. Die durchaus rationale Natur unseres Bewußtseins verlangt, daß Werte wirklich und nicht nur willkürlich sind. Das Sollen des kategorischen Imperativs fordert, daß wir das Gute nicht nur wünschen, sondern es tun. Dies hinwiederum bedingt, daß unser ethisches Handeln, soweit es mit unseren verschiedenen individuellen Aufgaben verknüpft ist, auch ethische Ergebnisse hervorbringt. Im Fall unseres eigenen individuellen Handelns können wir zwar das absolut Richtige wollen, jedoch keine absolut guten Ergebnisse erzielen. Deshalb sehen wir uns genötigt zur Anerkennung »eine(r) heilige(n) Macht, die das bewirkt, was wir nicht können, d. h. die durch unsere Handlungen die unbedingt allgemeinen Werte verwirklicht. Das Bewußtsein unserer Ohnmacht gegenüber dem, was sein soll, fordert also auch eine objektive, gute oder heilige Realität.« Rickert gibt zu, daß diese Realität mittels wissenschaftlicher Begriffe nicht völlig erfaßt werden kann. »Allein durch unser Gewissen, das uns zu handeln befiehlt, und durch das Bewußtsein, daß wir nur gut wollen, aber nicht gut handeln können, ist hier etwas gefordert, das wir nie zu erkennen vermögen. Aber es ist zugleich unbedingt gefordert, weil sonst alles Handeln seinen Sinn verlieren würde.« Auch logisches Denken wäre nicht möglich, da es voraus1M
Rickeft, Gcschichtsphilosophie (s. o. Anm. 114), S. 117. Vgl. Rickert, Die Philosophie dc> Leben«. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeittömungen umerer Zeit, Tübingen 1920. 1M Rickert, Die Grenzen... (s. o. Anm. 13a), S. 7j6f. Siehe auch Rickefts Zurückweisung der Unterstellung Troeltschs in dessen Aufsatt »Über den Begriff. ..Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung < mit dem Hinweis auf die philosophische Notwendigkeit eines »Glaube(ns) an eine objektive Weltmacht des Guten, die niemals Gegenstand unserer Erkenntnis sein kann« 141 . 6. Max Weber, Rickerts Freund und zeitweiliger Kollege in Freiburg, vermochte diesen Glauben nicht zu teilen. Weber war von Rickerts Werk >Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung < stark beeinflußt. Durch alle größeren Abhandlungen Webers zur Methodologie der Sozialwissenschaften, die er zwischen 1903 und 1920 geschrieben hat 142 , ziehen sich zwei von Rickert herrührende Themen: die Frage von Wert und Werturteil in den Sozial- und Kulturwissenschaften und das Problem des Entwurfs einer rationalen Methode für die Erforschung der Kulturerscheinungen. Wie 141
E b d . , S. 7 3 7 f . Z u r Erörterung der Methodenlehre Max Webers siehe Troeltsch, Der historische Entwickl u n g s b e g r i f f . . . (s. o. Anm. 81), 8 . 4 1 5 - 4 2 0 ; Julius Jakob Schaaf, Geschichte und Begriff. Eine kritische Studie zur Geschichtsmethodologie Ton Ernst Troeltsch und Max Weber, Tübingen 1946; Talcott Parsons, Weber's Methodology of Social Science, in: Max Weber, The Theory of Social and Economic Organization, N e w York 1947, S. 8-29; ders., The Structure of Social Action, Glencoe/Ill. 1949, S. 579—639; Antoni, V o m Historismus zur Soziologie, Stuttgart 19J0; Hughes, a . a . O . , S . 278-33 j ; Reinhard Bendix, Max Weber. Das Werk, München 1964. Siehe auch die wichtige Biographie aus der Feder seiner Frau: Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen
1926.
C o h e n , Dilthey, Windelband, Rickert, Weber
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Rickert bestimmt er Kultur als Wertideen-. »Die empirische Wirklichkeit ist für uns >KulturSinn< der Welt gebe« 147 . Wir stehen der »ethische(n) Irrationalität der Welt« gegenüber 148 . Andererseits ist Weber in bester neukantischer Tradition überzeugt, daß rationale und objektive Erkenntnis möglich ist. Den umfangreichsten Teil seiner Werke widmete er der Entwicklung von Methoden für die wissenschaftliche Erforschung der sozialen Erscheinungen. Sein großer Beitrag zu den Sozial- und 141
Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1951, S. 1 7 J . E b d . , S. 1)4. E M . . S . J87. 144 Vgl. ebd., S. 517. "'Ebd.,S. jiif. 144 Weber, Gesammelte politische Schrillen, München 1921, S. 443. 1,4
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D i e »Krise des H i s t o r i s m u s « I
Geschichtswissenschaften bestand zweifelsohne nicht in seiner Betonung eines wertfreien Herantretens an die gesellschaftlichen und geschichtlichen Erscheinungen, sondern, wie H. Stuart Hughes bemerkt hat, in seinem Bemühen, »die Schärfe des Begriffs in eine Tradition einzuführen, in der entweder die Institution oder ein naives Interesse für die >Fakten< bis dahin unangefochten geherrscht hatten«149. Wenn Weber auf der Wertneutralität bei der Erforschung der Kulturerscheinungen beharrt, so hängt das eng mit seinem Glauben an die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Erschließung von Gesellschaft und Geschichte zusammen. Die Werte wandeln sich mit den Kulturen und den Individuen, die wissenschaftliche Methode aber ist die eine und universale: »Denn es ist und bleibt wahr, daß eine methodisch korrekte wissenschaftliche Beweisführung auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften, wenn sie ihren Zweck erreicht haben will, auch von einem Chinesen als richtig anerkannt werden muß, . . . während ihm für unsere ethischen Imperative das >Gehör< fehlen kann.«160 Das setzt natürlich voraus, daß richtiges Denken von Kategorien geleitet wird, die von sozialen oder psychologischen Faktoren unbeeinflußt sind. Trotz seiner ausgiebigen Lektüre Freuds und Diltheys hält Weber an der Möglichkeit eines von emotionalen Kräften unbeeinflußten rationalen Denkens und Erkennens fest. Denken ist ihm keine Funktion des Unterbewußtseins; wo es dazu geworden ist, handelt es sich um eine Abweichung von den erreichbaren Normen der rechten Vernunft 151 . So gesehen blieb Weber durchaus ein Neukantianer. Wie für Hermann Cohen ist auch für ihn die richtige Denkmethode identisch mit der wissenschaftlichen Methode, nur daß er sich - hierin Windelband und Rickert vergleichbar - viel stärker der für die Kulturwissenschaften erforderlichen eigenen Methoden bewußt war als einst die Marburger Schule. »Wir haben bisher, indem wir Werturteile < und Erfahrungen < prinzipiell schieden, vorausgesetzt, daß es eine unbedingt gültige Art der Erkenntnis . . . auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften tatsächlich gebe.«152 Ideal gesehen haftet den Entdeckungen des Forschers auf sozialwissenschaftlichem Gebiet nichts Subjektives an, vorausge-
IM
Hughes, a.a.O., S. 301 f. Weber, Wissenschaftslehre (s.o. Anm. 143), S. 1 ; ; . Vgl. Hughes, a.a.O., S. 3 3 o f . Weber, Wissenschaftslehre (s. o. Anm. 143), S. 160.
C o h e n , Dilthey, Windelband, Rickert, Weber
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setzt, daß er Methoden benutzt, die mit den »Normen unseres Denkens« übereinstimmen. Nur die Wahl seines Untersuchungsgegenstandes ist subjektiv. »Denn wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen«.™ Gleich den Autoren in der Tradition der Historischen Schule anerkennt auch Weber, daß für die Kulturwissenschaften eine andere Methode erforderlich ist als für die Naturwissenschaften. Die Aufgabe der Sozialwissenschaften erschöpft sich nicht in der Formulierung quantitativer Gesetze oder kausaler Erklärungen, da es sich hier um »geistige Vorgänge« handelt, »welche nacherlebend zu >verstehen< natürlich eine Aufgabe spezifisch anderer Art ist, als sie die Formeln der exakten Naturerkenntnis überhaupt lösen können«154. Weber ist wie Rickert der Meinung, daß die Sozialwissenschaft sich bei der Untersuchung von Kulturerscheinungen mit deren Wertbezogenheit befaßt; quantitative Gesetze und kausale Beziehungen können nur als ein wichtiges Mittel zu weiterem Verstehen dienen155. Damit ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß soziale und kulturelle Erscheinungen kausal nicht zu erklären sind - was bedeutet, daß eine eventuell mögliche derartige Erklärung den Kern des Problems nicht erreichen könnte, da die Kultur Sinnhaftigkeit besitzt. Die Kultur ist ein Ausschnitt der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens, den der Mensch mit »Sinn und Bedeutung« erfüllt hat. Die verallgemeinernden Gesetze der Wissenschaft entleeren die Realität ihres Inhalts, während sich die Kulturwissenschaften stets mit einem besonderen und individualisierten Inhalt befassen müssen. »Keine Erkenntnis von Kulturvorgängen ist anders denkbar, als auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat.«156 Das heißt jedoch nicht, wie die Historische Schule behauptet hat, daß Generalisierung und Theorie in den Sozialwissenschaften fehl am Platz sind. Dieses Mißverständnis war nach Webers Ansicht eine der Hauptschwächen der Historischen Schule der Nationalökonomie, die die Gesetze der klassischen Ökonomie durch eine beschreibende Erschließung der nationa"*Ebd.,S. iti. Ebd., S. 173; T g l . ebd., S. j 18f. lu Siehe Webers Erörterung über Rickert in: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, ebd., S. 1-14). 1M E b d . , S . 180.
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Die »Krise des Historismus« I
len Wirtschaften zu ersetzen trachtete und letztere nur als Ausdruck des Volksgeistes verstehen wollte, der begrifflicher Bestimmung trotzte 157 . Weber stimmt mit Rickert darin überein, daß in der Geschichts- oder Sozialwissenschaft ein Verstehen - ebenso wie in den Naturwissenschaften - nur mittels Begriffen möglich ist. Diese müssen allerdings der besonderen Aufgabe des Historikers oder des Kulturwissenschaftlers angepaßt sein. Was die Sozialwissenschaften von den Naturwissenschaften unterscheidet, liegt für Weber weniger ausschließlich in ihrem Gegenstand als in dem von ihnen angestrebten Wissenstypus. Die Naturwissenschaft sucht quantitativ ausdrückbare, allgemeine Erklärungen. Eine solche Erklärung kann auch für gewisse Arten menschlichen und sozialen Verhaltens möglich sein. Überhaupt wäre ohne die Anwendung allgemeiner wissenschaftlicher Gesetze auf konkrete Kulturvorgänge deren Verstehen unmöglich. Allerdings reicht die Einordnung dieser Vorgänge in Gattungsbegriffe nicht aus, da es sich bei diesen Kategorien nur um Mittel handelt. Die Kulturwissenschaften befassen sich nicht mit Generalisierungen, sondern damit, die Bedeutung des Einmaligen in den Griff zu bekommen 168 . Die Kulturvorgänge können nur im Zusammenhang verstanden werden, obwohl sie keinen obersten Begriff erfordern, dem sie einzuordnen sind, sondern vielmehr eine Gesamtschau, die ihren individuellen Charakter berücksichtigt 189 . Die Welt des menschlichen Verhaltens ermangelt nicht jeglicher Regel- und Gesetzmäßigkeit, da die Menschen im allgemeinen rational handeln. Der Deutsche Idealismus und die deutsche Geschichtswissenschaft hatten fälschlich die menschliche Freiheit mit Unberechenbarkeit gleichgesetzt. Rationales Handeln richtet sich nach Regeln. Daß »>Willensfreiheit < . . . mit . . . Irrationalität des menschlichen Handelns verknüpft« sei, ist eine irrige Voraussetzung 160 . »>Unberechenbarkeit< . . . ist . . . das Prinzip des >VerrücktenFreiheitsgefühls < dagegen begleiten wir umgekehrt gerade diejenigen Handlungen, welche wir rational, d. h. unter Abwesenheit physischen und psychischen >ZwangesAffekte < und >zufälliger< Trübungen der Klarheit Vgl. ebd., S. 9 - 1 2 . Vgl. ebd., S. 178-180; auch ebd., S. i z f . " • V g l . ebd., S. 17. » » E b d . , S . 137. 1,1 Ebd., S. 67.
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des Urteils vollzogen zu haben uns bewußt sind, in denen wir einen klar bewußten >Zweck< durch seine, nach Maßgabe unserer Kenntnis, d. h. nach Erfahrungsregeln, adäquatesten >Mittel< verfolgen.« 162 Dieses rationale Verhaltensmoment im menschlichen Handeln ermöglicht nach Weber die Sozialwissenschaft. Sie beschäftigt sich in erster Linie mit der Auswirkung der Kulturwerte; gültige Normen oder ethische Imperative für den Menschen entdecken kann sie nicht. »Eine empirische Wissenschaft vermag niemals zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und - unter Umständen - was er will.«}*3 Da die Menschen jedoch im allgemeinen rational handeln, kann eine empirische Wissenschaft bis zu einem gewissen Grad ihr Verhalten vorausberechnen, erklären und verstehen. Die Ethik kann als eine empirische Disziplin die praktischen Folgen der von einzelnen oder Gruppen gewählten Haltungen zu Werten untersuchen. Eine solche Überprüfung geht auf drei Ebenen vor sich. Zunächst erfolgt eine logische Analyse der Werthaltungen. Was bleibt von diesen gewählten Werten übrig, wenn sie auf ihre Grundaxiome reduziert sind? Sind sie logisch haltbar oder enthalten sie Widersprüche? Sodann ist eine Überprüfung der praktischen Folgen dieser elementaren Werte oder Axiome angebracht, insoweit sie das Geschehen ohne die Mitwirkung anderer Faktoren beeinflussen können. Schließlich kann eine empirische Ethik die »faktischen Folgen« untersuchen, die sich aus der Anwendung entsprechender Werte in einer bestimmten Situatiern ergeben. Darin wären insbesondere die Fragen nach den Mitteln und nach den unerwünschten Nebenwirkungen eingeschlossen 164 . Da wir in einer ethisch irrationalen Welt leben, »kommt keine Ethik . . . um die Tatsache herum, daß die Erreichung >guter< Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, daß man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt« 165 . Eine Wissenschaft des sozialen Verhaltens ist über die logische und empirische Wertanalyse hinaus möglich, wenn sie mit Allgemeinbegriffen umgeht und ebenso genaue Metho-
m
Ebd.. s . I26f.; vgl. Hughes, a.a.O., S. 304?. Ebd.,S. I ; I . Vgl. ebd., S.4 9 6f.; auch t M . , S . I443), S. {88.
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Weber »eine Ethik der Würdelosigkeit« nennt. Ein weiteres Beispiel liefern die absoluten Forderungen der revolutionären Bewegungen; da sie sich auf keine Kompromisse einlassen, die ihnen die sozialen Realitäten aufzwingen wollen, scheitern sie unausweichlich. »Wer Politik überhaupt und wer vollends Politik als Beruf treiben will, hat sich jener ethischen Paradoxien und seiner Verantwortung für das, was aus ihm selbst unter ihrem Druck werden kann, bewußt zu sein. Er läßt sich . . . mit den diabolischen Mächten ein, die in jeder Gewaltsamkeit lauern.«180 Was uns die legitime Gewaltsamkeit von schierer Macht unterscheidet, ist der verantwortungsvolle und rationale Gebrauch der Macht auf das angestrebte Ziel hin. Webers politische Anschauungen, die lange vor seiner Beschäftigung mit den erkenntnistheoretischen Problemen der Sozialwissenschaften festlagen, blieben lebenslang weitgehend unverändert. Weber zählte zu jener großen Gruppe liberaler Intellektueller im wilhelminischen Deutschland, die eifrig für Demokratisierung und soziale Reformen eintrat, der aber eine demokratische Theorie fehlte. Demokratie und Reform galten diesen Liberalen dasselbe wie einer früheren Generation der Konstitutionalismus: ein Mittel zur Realisierung des höchsten politischen Wertes, der nationalen Einheit und Macht. In Webers Antrittsvorlesung >Der Nationalstaat und die VolkswirtschaftspolitikParlament und Regierung im neugeordneten Deutschland^; auch Wolfgang I. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, Tübingen 19 j9, S. 18; f. Ebd., S. 20. m Ebd., S. 29. Vgl. W. I. Mommsen, a . a . O . , S. 86-88.
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Die »Krise des Historismus« I
war ihm ein Beweis für das Führungsvakuum infolge des Bismarckschen Systems und für die Notwendigkeit einer größeren parlamentarischen Kontrolle über Außen- und Militärpolitik. Die allgemeine Begeisterung von 1914 riß allerdings auch ihn mit. Deutschlands Kriegsziel mußte die unbedingte Wahrung seiner Weltmachtstellung sein. E r warnte jedoch vor einer unrealistischen Einschätzung der deutschen Stärke, hielt sich von der extremistischen Annexionspolitik fern und sah im Entschluß, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg fortzuführen, richtig den Beginn der Niederlage190. Obwohl Weber monarchisch gesinnt war, begrüßte er doch die Weimarer Verfassung, die seiner Vorstellung einer nationalen Demokratie grundsätzlich eher entsprach als vielen anderen deutschen Liberalen. E r war Mitglied des beratenden Ausschusses der Fachleute, die den Verfassungsentwurf ausarbeiteten; er trug dazu bei, einen direkt vom Volke gewählten Präsidenten einzuführen, dem er allerdings als dem charismatischen Führer einer plebiszitären Demokratie eine viel weiterreichende, beinahe monarchische Gewalt zugedacht hatte191. Trotz Niederlage und Revolution geriet sein Glaube an die nationale Macht nicht ins Schwanken. Die Ziele blieben dieselben, wenn auch ihre Verwirklichung hinausgeschoben worden war 192 . So ist es dazu gekommen, daß Max Weber sowohl als ein Baumeister der Weimarer Republik wie auch als eine machiavellistische Gestalt angesehen wurde, der in weit stärkerem Ausmaß als Treitschke und Droysen jegliche Politik auf die Machtinteressen des Staates reduzierte189. In beiden Charakterisierungen, Demokrat und Machiavellist, steckt ein Körnchen Wahrheit. Weber hat stets den Ausbau der Demokratie verlangt; wie ein jüngerer Kritiker feststellt, hörte die Demokratie für ihn auf, »eine Staatsform von besonderer Dignität zu sein; ihr Vorzug lag vornehmlich in der größeren außenpolitischen >Effizienzgenug< daran haben konnte« 199 . Das »Schicksal unserer Zeit« aber bestimmen, wie Weber schließt, »Rationalisierung und Intellektualisierung«, und »vor allem Entzauberung der Welt«. Wer dies nicht wie ein Mann zu tragen weiß, kann Zuflucht in den immer ausgebreiteten Armen der Kirche finden, wodurch er jedoch seine geistige Integrität opfern würde 200 . Das war kein schönes Zukunftsbild. Weber sah die stetig zunehmende Bürokratisierung aller Sektoren der Gesellschaft als einen Aspekt der allmählichen Rationalisierung des Lebens an - eine drohende Vorstellung, die an Orwells >1984< gemahnt. Ein System bürokratischer Herrschaft war unausweichlich. Weber gewann durch seine vergleichenden Untersuchungen des Abendlandes als auch anderer Kulturen die Überzeugung, daß eine Bürokratie niemals von selbst zusammenbrach, sondern, nur im Rahmen eines allgemeinen NiederEbd.,S. 577. »• Ebd., S. J78fEbd.,S. 596.
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ganges der Kultur. E r ließ die Möglichkeit offen, daß die totale Zerstörung der Spontaneität im sozialen und kulturellen Leben durch die Bürokratisierung doch verhindert werden könnte, und zwar mit Hilfe großer charismatischer Führer, in denen sich die der modernen Massengesellschaft verlorengegangenen Werte konkret symbolisierten; auch könnte der Bürokratie durch gesetzliche Einschränkungen, wie sie in den westeuropäischen Demokratien und in den Vereinigten Staaten bestanden, Halt geboten werden 201 . Gewiß war Max Weber ganz und gar kein Nihilist. Wenige Männer waren so tief und leidenschaftlich Werten verbunden, sowohl in wissenschaftlicher als auch in politischer Hinsicht. In vielem vereinigte er das Beste aus der wissenschaftlichen Tradition der deutschen Liberalen des 19. Jahrhunderts in sich: die Verpflichtung zur Wahrheit, den Glauben an die gesellschaftliche und politische Verantwortlichkeit des Gelehrten, die Verteidigung der geistigen Freiheit. Weber war vielleicht der letzte große Humanist in dieser Tradition. E r war eher als irgendein deutscher Gelehrter des 19. Jahrhunderts sonst dazu bereit, alle Anschauungen im Lichte der Vernunft zu prüfen. Dennoch erreichte Weber auf dem Wege der Vernunft einen Punkt, der nicht weit von dem entfernt war, auf dem ein anderer Humanist, Nietzsche, auf dem Wege der Anti-Vernunft angelangt war 202 . Gott - sogar Rickerts Gott - war tot. Die Geschichte hatte aufgehört, ein sinnvoller Prozeß zu sein; sie wurde nun zum Schauplatz unlösbarer Wertkonflikte. Dem Menschen, der sich einer ethisch sinnlosen Welt gegenübergestellt sah, blieb nichts mehr als der Wille zur Macht. Der idealistische Historismus Herders, Humboldts und Rankes, der V g l . B e n d i x , a . a . O . , S. 5 3 2 - 3 4 7 . W o l f g a n g J . M o m m s e n , Universalgeschichtliches und politisches D e n k e n bei M a x W e b e r , i n : H Z 2 0 1 ( 1 9 6 5 ) S . 3 5 7 - 6 1 2 , weist auf starke Ähnlichkeiten im Gcschichts- und Gesellschaftsbild Nietzsches u n d Webers hin. Beide sehen in der Geschichte die Wechselwirkung zweier K r ä f t e , der schöpferischen einzelnen und des Rationalisierungsprozesses, wobei letzterer seiner eigenen inneren L o g i k g e h o r c h t . Wie Nietzsche betont Weber die R o l l e des K a m p f e s , verachtet die Facbmenscben oder OrdiwngtmtRttben und lehnt die E t h i k der B e r g p r e d i g t als des Menschen u n w ü r d i g ab. Während f ü r Nietzsche aber der große einzelne über und seitab der Massen steht, crblickt Weber in ihm deren charismatischcn F ü h r e r . Weber betrachtet die Geschichte zwar als einen offenen Prozeß, stellt sich aber die F r a g e , o b in dieser Phase das in Richtung bürokratische Rationalisierung rollende R a d v o n d e r charismatischen Persönlichkeit noch aufgehalten werden kann. Uber Weber, insbes. seine politischen Ansichten, existiert aus jüngster Z e i t eine umfängliche Literatur. E i n e Reihe aufschlußreicher kontroverser Deutungen des Beitrags Webers zur modernen Soziologie seitens deutscher und nichtdeutscher Sozialwissenschaftler enthält der S a m m e l b a n d : M a x W e b e r und die Soziologie heute, T ü b i n g e n 1 9 6 $ . M1
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in Dilthey, Troeltsch und auch noch Rickert weiterlebte, war endgültig widerlegt. Weber hinterließ ein gefährliches Erbe, da seine Bereitschaft, alle Werte einer Prüfung zu unterziehen, vor dem einen Ideal zurückgeschreckt war, dem die ganze Tradition gehuldigt hatte - dem Idol »Nation«.
V I I . D I E » K R I S E DES H I S T O R I S M U S «
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ERNST TROELTSCH UND FRIEDRICH
MEINECKE
Die Krise des deutschen Geschichtsdenkens läßt sich nirgends deutlicher ablesen als an den geistigen Lebenswegen von Friedrich Meinecke und Ernst Troeltsch. Beide waren wie Heinrich Rickert und Max Weber in den schicksalsschweren 1860er Jahren geboren worden - Meinecke 1862, Troeltsch 1865 - , doch blieben sie im Gegensatz zu ihren neukantianischen Zeitgenossen und Freunden noch tief im Erbe der Historischen Schule verwurzelt. Für Otto Hintze, den Kollegen und Freund Troeltschs und Meineckes in Berlin, erschien Troeltsch im Rückblick als »der Epigone des mit Leibniz anhebenden und in Hegel und Ranke gipfelnden deutschen Idealismus, voll gläubigen Vertrauens in einen vernünftigen Sinn der Weltgeschichte und beseelt von einem unbezwinglichen ethischen A n trieb« 1 . Auch Meinecke war »voll gläubigen Vertrauens« in die Geschichte, selbst wenn für ihn - anders als bei Troeltsch - das betrachtende Moment das ethische überwog. Keinem der beiden hatte sich nämlich die Geschichte zu einer gedanklichen Konstruktion gewandelt, wie es weitgehend für die neukantianische Philosophie oder für Max Weber zutraf. Die Geschichte blieb ihnen ein realer, sinnvoller Strom der Geschehnisse, den man nur in der Fülle seiner lebendigen Wirklichkeit erfassen konnte. Den Unterschied, den Rickert und Weber zwischen einem Reich der Werte und einem Reich des Seienden gesehen hatten, gab es für sie nicht. Außerhalb der Geschichte existierten keine Werte; nur die Geschichte förderte sie zutage. Niemals ließen sie Rankes Glauben fahren, daß hinter den vielfältigen, scheinbar irrationalen Bezeugungen der Individualität in der Geschichte und der offensichtlichen Anarchie der Werte ein »gemeinsamer göttlicher Urgrund« 2 ruhte, »die wesenhafte und individuelle Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen Geiste« 8 . Dieser Glaube wurde von den geistigen und politischen 1
Otto Hintze. Troeltsch und die Probleme des Historismus, in: HZ 135 (1927) S. 189. Meinecke. Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus, in: W IV, Stuttgart 19)9. S. 376. • Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, in: GS III, Tübingen 1921, S. 677.
1
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Die »Krise des Historismus« II
Umwälzungen zwar erschüttert, aber nicht zerstört. Allerdings hinterließ der Umbruch der Zeit tiefe Spuren bei beiden Denkern; was in ihrer Jugend ein fast naives Vertrauen in die Geschichte gewesen war, wurde im Lauf der Jahre immer mehr vom Zweifel angenagt. Schien die historische Methode zunächst den Zugang zu einem genuinen Verständnis der Lebenswirklichkeit zu eröffnen, so drohte sie nunmehr die Relativität aller Erkenntnisse und jeden Wertes zu beweisen. Alle anfangs fest erscheinenden Normen wurden von der historischen und soziologischen Forschung fortgespült; die Geschichte enthüllte sich als bloßes Dahinfluten, bar allen Sinnes und aller sittlichen Maßstäbe. Troeltschs Wendung zum ethischen und erkenntnistheoretischen Relativismus erfolgte unter dem Eindruck der methodologischen Auseinandersetzungen der Neukantianer und der irrationalen Strömungen des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts. Weltkrieg, Zusammenbruch und Revolution verschärften seine Zweifel; auch Meinecke sah sich gezwungen, seine optimistische Ansicht über die Harmonie von Macht und Ethik aufzugeben. Troeltschs geistiger Weg bestand von Anfang bis Ende aus dem leidenschaftlichen Suchen nach Normen mittels der Historie, damit die »endlose Bewegtheit des geschichtlichen Lebensstromes« eingedämmt und sein eigener Glaube an den Sinn menschlicher Geschichte gerechtfertigt werden könnte. In geringerem Ausmaß galt das auch für Meinecke, der allerdings nie so weit in Richtung Pessimismus fortschritt wie Troeltsch. Der Zusammenhang mit der Historismus-Diskussion der 1920er Jahre hat die Namen von Troeltsch und Meinecke einander näher gerückt, als es vielleicht der Wirklichkeit entsprach. Beide waren sich, was Persönlichkeit, Herkunft und Denkhaltung anbelangt, durchaus nicht ähnlich. Gemeinsam strebten sie aber danach, das Geschichtsdenken vor dem Absturz in den »haltlosen Abgrund des Relativismus« zu retten4. Beide verkehrten in denselben philosophischen Kreisen und wurden mehr oder weniger von Windelband, Rickert und Weber beeinflußt, ohne jedoch die gleiche Haltung einzunehmen. Windelband und Rickert waren Kollegen und Freunde Meineckes in Freiburg gewesen; Weber hatte zu den Kollegen Troeltschs in Heidelberg gezählt. Troeltsch und Meinecke zählten auch zu dem Professorenkreis um Friedrich Naumann, der vor dem Ersten Weltkrieg für Parlamentsreform, Sozial4
Meinccke, W III, S. J77.
Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke
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gesetzgebung und koloniales Vordringen focht 5 . Meinecke übernahm im Herbst 1 9 1 4 einen Lehrstuhl für Geschichte in Berlin, Troeltsch im Frühjahr 1915 einen philosophischen, nachdem die Konservativen in der Kirche seine Berufung auf einen theologischen verhindert hatten. V o n diesem Zeitpunkt bis zu Troeltschs T o d anfangs 1923 fand ein lebhafter Gedankenaustausch zwischen beiden Männern statt, wofür sich besonders die allsonntäglichen Morgenspaziergänge im Grunewald eigneten, an denen sich auch andere liberale Intellektuelle wie Otto Hintze oder gelegentlich Hans Delbrück und Walter Rathenau beteiligten 6 . Ihr eigentlicher Berührungspunkt lag jedoch auf der Grenzscheide zwischen Politik und Philosophie. Beider wissenschaftliche Kriegsbeiträge bestanden darin, den »deutschen Geist« zu bestimmen und gegen die westliche Kriegspropaganda zu verteidigen. Beide gehörten zu jener Gruppe nationalistischer Liberaler, die wie Max Weber oder Friedrich Naumann voll Patriotismus auf einen Sieg hofften, die aber zugleich energisch demokratische Reformen als unumgänglich forderten und vor dem wirklichkeitsfremden Chauvinismus der Alldeutschen warnten. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie boten sie - gleich Max Weber - der jungen Republik ihre Dienste und vor allem ihre Feder an, um sie gegen ihre Feinde von ganz links und ganz rechts in Schutz zu nehmen. Der Grund dafür lag weniger darin, daß sie im Prinzip liberale Demokraten waren; die demokratische Republik vertrat eben die Interessen der Nation am besten'. Dennoch waren beide Männer, was Herkunft und Entwicklung anbetraf, in vielem sehr verschieden. Ernst Troeltsch löste sich niemals ganz von seiner theologischen Vergangenheit; Friedrich Meinecke blieb stets ein wenig der Historiker der Preußischen Schule. Als Sohn eines protestantischen Arztes aus Bayern, der ihn früh in das naturwissenschaftliche Denken • Meinecke berichtet über diese Beziehungen in seinen beiden autobiographischen Büchern: Erlebtes 1 8 6 2 - 1 9 0 1 , Leipzig 1941; Straßburg, Freiburg, Berlin 1 9 0 1 - 1 9 1 9 . Erinnerungen, Stuttgart 1949. Troeltsch äußert sich darüber in seiner arg knappen autobiographischen Skizze: Meine Bücher, in: G S I V , S. 3 - 1 8 . • Vgl. Meinecke, Straßburg. . . (s. o. Anm. j), S. l j j - 1 6 1 . 7 Z u r Erörterung der politischen Vorstellungen Troeltschs und Mcineckes in dieser Zeit siehe Gustav Schmidt, a . a . O . ; vgl. ferner Troeltsch, Spektatorbriefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/12, Hrsg. Hans Baron, Tübingen 1924; Eric C. Kollman, Eine Diagnose der Weimarer Republik. Ernst Troeltschs politische Anschauungen, in: H Z 182 (1956) S. 2 9 1 - 3 1 9 ; Georg Kotowski, Parlamentarismus und Demokratie im Urteil Friedrich Meineckes, in: Z u r Geschichte und Problematik der Demokratie (Festgabe für Hans Herzfeld), Hrsg. Wilhelm Berger, Carl Hinrichs, Berlin 1 9 1 8 ; K . Schwabe, Zur politischen Haltung der deutschen Professoren im Enten Weltkrieg, in: H Z 193 (1961) S. 601-634.
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eingeführt hatte, sah sich Troeltsch dem Problem gegenüber, seinen christlichen Glauben mit dem modernen wissenschaftlichen und historischen Wissen in Einklang zu bringen. Meinecke wiederum, der aus dem konservativ-lutherischen Haus eines preußischen Beamten in einer Kleinstadt kam und bei Sybel und Treitschke studiert hatte, mußte seinen Glauben an den preußischen Staat und die Bismarcksche Reichsschöpfung den gesellschaftlichen und darüber hinaus den internationalen Realitäten des 20. Jahrhunderts einzufügen suchen. Troeltsch verlor zwar seinen christlichen Glauben nicht, doch wurde er ihm problematisch. Was als Suche nach religiöser Gewißheit im unaufhörlichen Dahinfluten der Geschichte begonnen hatte, wurde immer mehr zur Suche nach irgendwelchen sittlichen Werten, die nicht zu erschüttern waren. Vielleicht war Troeltsch, wie Carlo Antoni meint, »der letzte in der geistigen Welt Deutschlands, der den alten Göttern der christlichen Lebensordnung, der Kultur, dem freien Fortschritt, der Geschichte, der Zivilisation treu geblieben ist. E r war der letzte innerhalb der protestantischen Kirche und ihren theologischen Fakultäten, der daran glaubte.«8 Sogar für ihn galt aber das Wort, das er bereits 1896 einer Gruppe von Theologen gesagt hatte: »Alles wackelt.«8 Im Lauf der Jahre schien sich dieses »Wackeln« noch zu verstärken. Meinecke seinerseits verlor niemals völlig seinen Glauben an die positive Natur der Macht, an den sittlichen Wert der deutschen Vergangenheit, an den Sinngehalt der Geschichte. E r war allerdings schließlich genötigt, den Zwiespalt von Macht und Recht, das Element der Sinnlosigkeit in der Geschichte und die dämonisch-diabolischen Aspekte der politischen Tradition Deutschlands anzuerkennen.
1. Am Beginn von Troeltschs theologischer Tätigkeit steht sein Bestreben, sich von dem Dogmatismus seines Lehrers Albrecht RitschF zu lösen. Ritsehl hatte versucht, die Theologie vor Materialismus und Historismus mit dem kantischen Argua Antoni (s. o. Anm. V I , 142), S. 60. Z u r Analyse der Geschichtsphilosophie Troeltschs siehe insbes. Hintze (s. o. Anm. 1 ) ; Antoni (s. o. Anm. V I , 142), S. J 7 - 1 1 7 ; Walter Bodenstein, Neige des Historismus. Einst Troeltschs Entwicklungsgang, Gütersloh 1959; ferner Walter Koehler, Ernst Troeltsch, Tübingen 1 9 4 1 ; Rossi (s. o. Anm. V I , 29). ' Zit. nach Koehler, a.a.O., S. 1.
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ment abzuschirmen, daß die menschliche Vernunft nur zur Wahrnehmung der Erscheinungen, nicht aber zur Erkenntnis der Dinge an sich befähigt sei. Somit kann es weder eine Theologie im Sinne des Materialismus noch des Rationalismus geben. Gott kann nicht als Ding an sich erkannt werden, sondern nur so, wie Er sich selbst konkret in der Welt der Erscheinungen offenbart. Die einzige Grundlage christlicher Theologie bleibt deswegen Seine Offenbarung in der geschichtlichen Gestalt Jesu Christi. Troeltsch vermochte eine derartige Scheidung des religiösen Denkens von der Vernunft nicht nachzuvollziehen. In seiner Dissertation wies er darauf hin, daß sogar die orthodoxe protestantische Theologie der Reformationszeit die Harmonie des christlichen Glaubens mit Natur und Geschichte vorausgesetzt hatte; die christliche Glaubenslehre wurde nicht allein aus dem Evangelium, sondern auch aus Vernunft und Naturgesetz hergeleitet10. Die schwere Krise, der sich das Christentum ausgesetzt sah, lag nach Troeltschs Ansicht weniger im Verfall des religiösen Gefühls begründet als vielmehr in der wachsenden Kluft zwischen christlichem Herkommen und modernen Lebensbedingungen. Viel gefahrvoller als die Diesseitigkeit der modernen Glücksvorstellungen war die Herausforderung durch die moderne wissenschaftliche Erkenntnis. Im Gegensatz zu der weitverbreiteten Ansicht, daß von allen Wissenschaften die Naturwissenschaft die Hauptbedrohung für das Christentum darstelle, vertrat Troeltsch die Ansicht, die Naturwissenschaft habe zwar alte anthropomorphe Vorstellungen von Gottes Wirken zerstört, doch seien diese für den Glauben nicht ausschlaggebend gewesen und zudem oftmals von jenen Christen, die ein profundes Gottesbild gesucht hätten, aus religiösen Gründen in Frage gestellt worden. Es war nichts anderes möglich gewesen, als die Welt des Geistes auf die physikalische Kausalität zurückzuführen11. Die Religiosität bleibt ein universales menschliches Verlangen, das im Wesen des menschlichen Bewußtseins begründet ist. Die allgemeine Struktur des Bewußtseins, von Troeltsch optimistisch in neukantianischer Manier verstanden, scheint hinwiederum auf die Existenz einer transzendenten religiösen Apriorität inmitten der Vielfalt Troeltsch, Vernunft und Offenbarung bei I. Gerhard und MeUnchthon. Untersuchung eur Geschichte der altprotestantúchen Theologie, Göttingen 1891. 11 Vgl. Troeltsch, Christentum und ReUgiotngeachichte (zuerst veröffentlicht In: Preußische Jahrbacher i>97),in: GS II, S. 518f., 3 j 1 f.
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religiöser Erfahrungen hinzuweisen, die mit der die ästhetischen, ethischen und logischen Urteile beherrschenden Apriorität korrespondiert12. Wesentlich ernster war die Bedrohung der christlichen Religion durch die moderne Geschichtswissenschaft. Vergleichende Untersuchungen hatten allmählich die Sonderstellung des Christentums als der einzig wahren Religion untergraben, indem sie nachwiesen, daß es nur eine der großen Weltreligionen war, deren Wurzeln tief in primitive religiöse Traditionen hinabreichten13. »Das Christentum«, stellt Troeltsch fest, »ist in allen Momenten seiner Geschichte eine rein historische Erscheinung mit allen Bedingtheiten einer individuellen historischen Erscheinung wie die anderen großen Religionen auch.« Alles Geschichtliche war auch relativ, denn »historisch und relativ ist identisch«. Das Christentum hatte daher seinen Anspruch, die »absolute Religion« zu sein, verloren 14 . Wenn Troeltsch die vollen Konsequenzen aus dieser seiner Einstellung hätte ziehen wollen, dann hätte er auf die Sinnlosigkeit jeglicher Theologie schließen müssen; die Beschäftigung mit der Religion hätte sich infolgedessen auf die Religionsgeschichte zu beschränken. Ein solches Eingeständnis lehnte er ab 15 . In seinem Werk >Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte < (1902) betonte er, daß »die Historie nicht mehr bloß eine Seite der Betrachtung der Dinge [ist] . . . , sondern die Grundlage allen Denkens über Werte und Normen« 18 . Trotzdem besteht er darauf, daß echte Werte sich in der Geschichte manifestieren. Nicht darum hält sich der Theologe an die Religionsgeschichte, weil er die Vielfalt religiösen Erlebens beobachten will, sondern weil er nur aus dieser Vielfalt die religiösen Normen zu verstehen vermag 17 . Die Geschichte ist nämlich kein Chaos. Die großen Religionen ähneln sich in manchem; jede scheint einen Wahrheitskern in sich zu bergen. Was spricht denn Vernünftiges gegen die Annahme, die in der Geschichte zutagetretenden normativen Werte enthielten ein erhebliches Maß an Wahrheit? Die Aufgabe der Historie besteht nicht nur in der Erklärung von Ursprung und 11 Vgl. dazu insbes. Bodenstein, a.a.O. " Vgl. Troeltsch, G S I I , S j 36: 14 Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichtc, Tübingen 1902, S. 48 f. " Vgl. ebd., S. I V f . " Ebd., S. 5 f. " Vgl. ebd., S. I V .
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Entwicklung der Normen, sondern »ihr wesentlichstes Werk ist gerade die Hervorstellung der Normen«. Troeltsch stimmt grundsätzlich mit Rickert überein, daß »absolute, wandellose, durch nichts temporär bedingte Werte« zwar außerhalb des Historischen existieren, sich aber nur in der Geschichte manifestieren und erfahren werden können. In der geschichtlichen Welt sind diese Normen stets an eine individuelle, begrenzte Form gebunden; unser Wissen darüber ist bis zu einem gewissen Grad stets subjektiv und relativ18. Die Religionsgeschichte spiegelt jedoch keinesfalls eine Wertanarchie wider; vielmehr ist nur eine sehr begrenzte Anzahl von Wertkomplexen im Rahmen der höheren Religionen ans Licht getreten. Alle diese Religionen scheinen auf ein gemeinsames transzendentes Ziel hinzustreben. Die vergleichende Wissenschaft bringt uns einem solchen Ideal näher, obschon jedes Urteil, jedes Kriterium, sei es auch auf der unparteiischsten Untersuchung begründet, subjektiv gefärbt bleibt. Die Tendenz der Geschichte der Religion und der Werte versetzt uns in die Lage, den Begriff universal gültiger Normen zu bilden, wenn auch diese Normen in der Geschichte weder vollständig wahrgenommen noch realisiert werden können 19 . Somit erblickte Troeltsch in der Geschichte eine sinnvolle Entwicklung, nicht aber ein vorgepirägtes logisches Gerüst. Jedes große Wertsystem, jede große Religion bedeutete einen neuen »Durchbruch« zum Ideal; aus diesen »wenigen großen Durchbrüchen des religiösen Gedenkens« ergibt sich, von uns vertrauensvoll erwartet, »nicht ein zielloses Spiel der Varietäten, sondern der Sieg des reinsten und tiefsten Zweckgedankens« 20 . So war der Sinngehalt des religiösen Denkens und der religiösen Normen bewahrt worden. Das Christentum konnte nicht den Anspruch erheben, die absolute Religion zu sein, aber alles schien darauf hinzudeuten, daß es der »Höhepunkt« und »Konvergenzpunkt aller erkennbaren Entwicklungsrichtungen der Religion« und die »Voraussetzung jeder . . . Religiosität der Zukunft« war 21 . In all diesen Punkten steht Troeltsch offensichtlich dem Entwicklungsbegriff des Deutschen Idealismus sehr nahe. Nach seiner festen Überzeugung garantieren die hinter den Ebd., S. 54. " Vgl. ebd., S. 62-64. " Ebd., S. 64, 68. " Ebd., S. 80, I i , 94.
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geschichtlichen Erscheinungen stehenden absoluten Werte ein sinnvolles Wachstum. Das logische Gespinst, das Hegel über die Geschichte gebreitet hatte, erschien ihm als eine Verletzung der historischen Individualität, als eine Aufopferung der Geschichte auf dem Altar eines abstrakten Schemas22. Er sah sich aber auch nicht imstande, Rankes Vorstellung von der gleichen Nähe aller Epochen zu Gott zu übernehmen. Statt dessen bedeuteten ihm die vielen verschiedenen Werte, Ideen und Individualitäten im Laufe der Geschichte Glieder in einer Kette der Entwicklung auf einen absoluten, zeitlosen Wert zu, der jenseits der Geschichte lag. Diesem absoluten Wert vermögen wir nun mittels »Ahnung und Glauben« nahezukommen, doch erkennen wir ihn niemals wirklich23. Das Hauptproblem der Hegeischen Philosophie, die Frage nach der Beziehung von »Geschichte und Normen, Entwicklung und Entwicklungsmaßstab«, bleibt nach Troeltschs Ansicht weiterhin wichtig. Es wurde Hegel aufgezwungen infolge des fortschreitenden Zusammenbruchs des »rationalistischmetaphysischen Dogmatismus«, auf dem nicht allein die traditionelle Theologie, sondern überhaupt alle unsere sittlichen und geistigen Begriffe und Werte gefußt hatten. Da der Hegeischen Synthese von Geschichte und Vernunft aber keine Dauer beschieden sein konnte, sah sich der moderne Mensch bei ihrem Verfall dem Materialismus, dem Skeptizismus und der daraus sich ergebenden Anarchie der Werte ausgesetzt24. Troeltsch begrüßte deshalb Rickerts Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft < als den ersten ernstzunehmenden Versuch, die Frage nach den objektiven Normen in der Geschichte zu beantworten, ohne allzu gewaltsame Lösungen anzubieten. Troeltsch widmete Rickerts Buch eine ausführliche Rezension in der >Theologischen Rundschau < (1904). Weit größeres Interesse als das ausgiebige Lob, das Troeltsch Rickert für dessen Auffassung des Problems und dessen Entwurf einer den historischen Wissenschaften gemäßen Logik zuteil werden läßt, verdient die relativ knappe Kritik der Geschichtsphilosophie Rickerts; hier wird nämlich die intensive Bindung Troeltschs an den objektiven Idealismus sichtbar. Nach seiner Ansicht hatte Rickert das Problem, objektive Normen in der Geschichte zu finden, eigentlich nicht gelöst. Rickert hatte dies " Vgl. Troeltsch, Moderne Geschichtsphilosophie, in: GS II; S. 697. 11 Vgl. Troeltsch (s. o. Anm. 14), S. 54. " Vgl. Troeltsch, GS II, S. 676-678.
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geglaubt, indem er den Ursprung aller Werte und aller Erkenntnis im transzendenten logischen Bewußtsein des Menschen sehen wollte; tatsächlich hatte er aber nur wenig zu der Lösung des für uns bedeutsamen Problems beigesteuert, der Beziehung zwischen »historischen Wertbildungen« und »dem gelten sollenden Ideal«. Rickert hatte die gelten sollenden Ideale rein formal aufgefaßt - ohne spezifischen Inhalt. Für Troeltsch seinerseits sind die Wertungen, die wir in der Geschichte vorfinden, stets wirklich, begrenzt und subjektiv. Daraus ergibt sich ein circulus vitiosus, den Rickert nicht durchbrechen konnte. Da wir objektive Normen brauchen, wenden wir uns der Geschichte mit ihren faktischen, subjektiven Wertungen als dem einzigen Ort zu, an dem wir auf reale Werte stoßen. Hier suchen wir nach dem »leeren, formal Normativen«, das in diesen Werten sich birgt - einem Normativen, das nichts über die konkreten Werte aussagt, an denen sich unser Handeln in einzelnen Situationen ausrichtet. Absolute Gültigkeit, die keinen Bezug zur Realität aufweist, steht also geschichtlichen Werten, die keine absolute Gültigkeit besitzen, gegenüber25. Nach Troeltschs Ansicht ist ein Ausweg nur möglich, wenn Geschichte als ein realer Prozeß und nicht nur als ein Denkschema aufgefaßt wird; zudem muß die Voraussetzung gelten, daß eine reale Beziehung zwischen den in der Geschichte auftretenden konkreten Werten und der historischen Entwicklung besteht. Individuelle Werturteile dürfen nicht als willkürlich, subjektiv und wechselseitig widersprüchlich, sondern als Teile eines größeren historischen Zusammenhangs angesehen werden. Innerhalb dieses Zusammenhangs erscheinen aufeinanderfolgende Werte als Teil eines Entwicklungsprozesses. Jeder Wertkomplex besitzt eine eigene Bedeutung, doch nimmt er aus weltgeschichtlicher Perspektive einen Platz ein in »einem innerlich zusammenhängenden Stufengang«28. Somit ist das Subjektive und das Objektive, die Rickert scharf voneinander getrennt hatte, wieder vereint; Tatsache und Ideal bilden wieder eine Synthese. Allerdings erschließt sich dieser Ausweg nicht ohne einen gewissen religiösen Glauben; ohne ihn wäre jegliches Nachdenken über Geschichte und Normen sinnlos. Das Problem der Verflechtung von logischem Bewußtsein und psychologischem Bewußtsein enthält nichts Geringeres als das »Urrätsel » Vgl. ebd., S. 705.707.
»Ebd.,S.7ii.
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aller Wirklichkeit und alles Menschlichen, in dem alle anderen Rätsel, die Antinomie des Tatsächlichen und des Geltenden, des beständigen Wechsels und der ewigen Einheit, des kausalen tatsächlichen Ablaufes und der sich aus ideeller Notwendigkeit bestimmenden Freiheit, des Pluralismus und des Monismus, begründet sind« 27 . Mit diesem Ausweg aber kehren wir von Rickerts Methode, das Problem von Norm und Geschichte mittels der logischen Struktur des menschlichen Bewußtseins anzugehen, zur Metaphysik zurück. Troeltsch gibt das ohne Scheu zu: ohne Metaphysik und ohne die Annahme, ein realer Zusammenhang und eine reale Entwicklung existierten, sei Geschichte nicht möglich 28 . Wird die Geschichte als realer Prozeß anerkannt, so können - wie Troeltsch meint - die Probleme der Kausalität, der Werte und der objektiven Erkenntnis in der Geschichte gelöst werden. In Rickerts Augen eignete der Geschichte keine Wirklichkeit; sie war eigentlich nichts als eine bestimmte Sehweise. Rickert wollte zwischen Geist und Natur - außer auf methodologischer Ebene - keinen Unterschied machen. Nach Troeltschs Ansicht besteht aber ein fundamentaler Unterschied. Die Geschichtswissenschaft ist nicht nur eine Methode, um das Individuelle und das Einmalige begrifflich zu fassen, sondern der Versuch, einen realen Gegenstand zu verstehen. Darin unterscheidet sie sich prinzipiell von den Naturwissenschaften, wo wir auf die bloße Beobachtung von Beziehungen eingeschränkt sind, die von unserer Bewußtseinsstruktur bestimmt werden. In der Welt des Geistes genügt jedoch die Herstellung solcher Beziehungen nicht. Was wir vom geistigen Geschehen wahrnehmen, ist nur der äußere Abdruck seines inneren Seins. Das Verstehen erfordert deshalb nicht bloß die Wahrnehmung der äußeren Erscheinung des Geschehens, sondern das Erfassen seines Wesens. Wenn wir die Wesenhaftigkeit geschichtlicher Gegenstände einsehen, erkennen wir, daß wir »einer nicht bloß erfahrungsmäßigen, sondern metaphysischen Realität« gegenüberstehen 29 . Der Umstand, daß die Objekte der Geschichte wirklich existieren und sich deutlich herausheben, ermöglicht es uns, eine sinnvolle Entwicklung abzulesen. Die Geschichte ist nicht Ebd., S. 709. Vgl. ebd., S. 727; ferner ebd., S. 724. Wie Troeltsch richtig bemerkt, anerkennt Rickert ein metaphysisches Element in seiner Theorie der Geschichte. Ebd., S. 725; vgl. ebd., S. 7 2 1 - 7 2 j . 18
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mehr nach Rickerts Auffassung ein »subjektives Arrangement« 30 und das Werk des Historikers, sondern vielmehr die Darstellung eines objektiven Zusammenhangs, den wir zu erfassen beginnen, sobald wir uns in den tatsächlichen Gegenstand der Geschichte versenken. Die Kulturwerte sind nicht mehr subjektiv, sondern sie besitzen objektiven Charakter. Zwar bleibt unser eigenes Verstehen der Geschichte ebenso wie unsere Welt der Werte natürlich subjektiv, gefärbt von unserer Individualität und dem historischen Augenblick. Niemals können wir »erreichen die absolute, reine, wandellose . . . Idee der W e l t . . . Denn alles Historische bleibt trotz aller Beziehung auf absolute Werte irrational und individuell.« Unser Urteil ist nie ganz subjektiv, sondern es ist selbst ein Teil des objektiven Geschichtsprozesses 31 . Das Ziel der Geschichtswissenschaft ist jedoch nicht auf das Verstehen des Einmaligen und Besonderen beschränkt; auch die Aufdeckung gemeinsamer Elemente gehört dazu. Diese charakteristischen Züge mögen, wie es Max Weber, Georg Jellinek oder Jacob Burckhardt versuchten, entweder als Idealtypen herausgeschält - wobei historisches Geschehen nicht kausalgesetzlich erklärt oder mit abstrakten Ideen verbunden wird - oder als die in der Geschichte wirksamen Tendenzen und Ideen (im Sinne Rankes) beschrieben werden. Für Troeltsch wird die Geschichte weder von Naturgesetzen noch von einer starren Hegeischen Dialektik beherrscht, doch zeigt sie eine gewisse Kohärenz, eine einheitliche Entwicklung von gemeinsamen Ursprüngen zu gemeinsamen Zielen 32 . Somit erfährt in Troeltschs frühem theologischem Werk der Glaube des Deutschen Idealismus gewissermaßen eine Wiederbelebung, wonach die Geschichte kein Chaos ist, sondern die Quelle des Wahren und Geltenden; demnach widerspiegeln auch die offenbare Relativität und Subjektivität, die sich in der Geschichte zeigen, nur die vielen Seiten einer objektiven und lebendigen Wahrheit. Diese Überzeugung verteidigt Troeltsch gegen den christlichen Dogmatismus und den wissenschaftlichen Naturalismus ebenso wie gegen den Neukantianismus, dem er so viel verdankte. Troeltsch verleugnete seinen Glauben an die Geschichte in den im nächsten Jahrzehnt über Kirche und Gesellschaft geEbd.. S. 726. »' Ebd., S . 7 i 2 . Vgl. ebd., S. 721, 724.
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schriebenen Aufsätzen nicht, die 1912 unter dem Titel >Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen < erschienen33. Allerdings beschäftigte er sich nun mit anderen Problemen: nicht mehr mit Fragen der religiösen Wahrheit und der Objektivität religiöser Erkenntnis oder der ethischen Werte, sondern mit dem Thema der Religion als eines historischen und sozialen Phänomens. Ein Verbindungsglied zu seinen früheren Schriften gab es natürlich. Da er darauf beharrt, daß Erkenntnisse und Wertmaßstäbe in der Geschichte zu suchen sind, ist ein historischer Zugang zur Religion erforderlich. Troeltsch übernahm zwar niemals Webers Auffassung, daß die Werte völlig kulturabhängig sind und keine Bedeutung außerhalb ihres gesellschaftlichen Spielraumes haben, doch behandelte er religiöse Lehren nun nicht mehr vom Standpunkt der Wahrheit, sondern als Tatsachen der Kultur. Das in Heidelberg geschriebene Buch zeigt deutlich den Einfluß seines Kollegen Max Weber in der Formulierung des Problems, das sich Troeltsch gestellt hatte: die Wechselwirkung zwischen religiösen Ideen und Institutionen einerseits und sozialen und wirtschaftlichen Bewegungen andererseits, vor allem die Bedeutung des Kalvinismus für den Aufstieg des Kapitalismus; die Entwicklung einer Typologie religiöser Institutionen und Ideen; die pessimistische Einschätzung der Rolle der Religion in der modernen Gesellschaft; die Erkenntnis des schneidenden Widerspruchs zwischen Gesinnungsethik und harter Lebenswirklichkeit. Wie Weber ist Troeltsch an der Brauchbarkeit und den Grenzen des Marxschen Ideologiebegriffs für religiöse Ideen und Institutionen interessiert34. E r zieht die Schlußfolgerung, daß reine Religion wirtschaftlich nicht erklärt werden kann. Die Lehre Jesu und seine Begründung einer religiösen Gemeinde sind weder Ergebnis ökonomischer Kräfte noch des Klassenkampfes. Die Botschaft Jesu ist eine rein jenseitige, auf das Heil der Seele des Menschen gerichtet, und schenkt den politischen oder wirtschaftlichen Realitäten dieser Welt keine Beachtung85. Sobald aber Jepus ein Gegenstand der Verehrung wurde und sich eine dauerhafte Gemeinde von Gläubigen herausbildete, wurde die christliche Religion ein Teil der gesellschaftlichen Ordnung. Ihre Dogmen wandelten je nach dem Typ der religiösen Organisation - ent" Troeltsch, Die Soziallehfen der christlichen Kirchen und Gruppen, in: GS I, Tübingen »9«. " Vgl. ebd., S. 975-977" Vgl. ebd., S. 1 j, 33-49, 967.
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weder Kirche oder Sekte oder mystische Gemeinschaft - ihre Bedeutung; sie wurden von den gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen der Zeit beeinflußt und beinflußten hinwiederum in einem gewissen Ausmaß diese auch ihrerseits34. Troeltsch wollte in den >Soziallehren< weder eine systematische Philosophie vorlegen noch auch seine Einstellung zu theoretischen Fragen der Geschichte festlegen, wie er es in seinen früheren Schriften getan hatte. Dennoch zeichnet sich deutlich ein Wechsel in seinen Grundanschauungen ab, der zu einem viel pessimistischeren Bild des Menschen und der Geschichte führt, als man es in seinen theologischen Schriften finden konnte. Das Christentum gilt nicht mehr als der Schnittpunkt der religiösen Entwicklung des Menschen und als der Ausgangsort für weiteren Fortschritt. Stattdessen ist es nurmehr eine historische Religion, die im Abendland aufgetreten ist und stets ein Teil der Gesamtkultur der Epoche war37. Nach Troeltschs Meinung gibt es nicht nur eine christliche Religion. Seit das Christentum aufgehört hat, eine rein geistige und jenseitige Botschaft Jesu zu sein, und eine religiöse Gemeinde wurde, unterscheiden sich die christlichen Glaubenslehren ebenso wie die christlichen Lehrsätze zu Ethik, Wirtschaft und Politik nach den Organisationsformen, welche die verschiedenen christlichen Gruppen angenommen haben, und nach den gesellschaftlichen Mächten, die auf sie einwirken. Troeltsch sieht die Geschichte nicht als einen Prozeß oder eine Entwicklung. Er geht allerdings den Wandlungen der christlichen Sozialethik von ihren Ursprüngen bis ins 18. Jahrhundert nach, wobei sein Hauptinteresse der Rolle der Religion bei der Entstehung der kapitalistischen Industriegesellschaft gilt; im wesentlichen analysiert er aber verschiedene Typen religiöser Gesellschaften als isolierte, statische Gebilde, ohne eigentlich ihre dynamischen Verknüpfungen nachzuzeichnen. Die Geschichte erscheint als ein wiederkehrender Wandel innerhalb verschiedener Typen von Institutionen und Ideen nicht als eine Entwicklung. Troeltsch spricht nicht mehr von Wachstum, sondern nimmt nun auf Rankes Auffassung von der Unmittelbarkeit aller Epochen zu Gott Bezug38. Voll Skepsis betrachtet Troeltsch die Fähigkeit der Religionen, ihre Sozialethiken zu realisieren. Er betont, daß die Ethik •• V g l . e b d . . S. 49, 9 7 J - 9 7 7 .
Vgl. ebd., S. 9 7 6 . •• Vgl. ebd., S. 9 7 7 .
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der Evangelien nicht für das Diesseits geschaffen war. Sie ist nur realisierbar, wenn der sündhafte Charakter der Welt erkannt wird und eine Kompromißbereitschaft besteht3®. So erkannten die katholische Kirche und später in einer noch entschiedeneren Form die lutherische die Notwendigkeit, den absoluten Begriff des Naturrechts (der ein zentraler Bestandteil der christlichen Ethik gewesen war) in einen relativen umzuwandeln, dem sich Unterdrückung, Autorität und Ungleichheit einordnen ließen40. Aus der christlichen Sozialethik lassen sich aber keine gültigen Schlüsse auf ethische Wahrheiten ziehen. Sie hat nämlich niemals über einen »unwandelbaren und absoluten Punkt« verfügt, sondern sich »stets nur die Bemeisterung einer gegebenen, vor allem durch soziale Verhältnisse bedingten Lage« zur Aufgabe gestellt41. Nach Troeltschs Ansicht liegt eine Wissenschaft der Werte in einem letztgültigen Sinne zwar außerhalb des Möglichen, doch folgt er Weber nicht bis zum Endpunkt. Wahrnehmungen oder Werte enthalten bei aller Subjektivität doch eine gewisse Wahrheit: »Sie sind herausgegriffen aus dem geschichtlichen Leben . . . in der Gewißheit, hier die absolute Vernunft in ihrer uns zugewandten und in gegenwärtigen Zusammenhang geformten Ordnung zu. erkennen.«42 Der Beitrag katholischer und protestantischer Sozialethik zur gegenwärtigen sozialen Lage ist jedoch äußerst dürftig. Zum einen ist die Kirche in der modernen Welt in den Hintergrund getreten, zum anderen ist keine christliche Ethik entstanden, die für die sozialen Probleme der kapitalistischen Welt in dieser Entwicklungsphase eine Lösung anbieten könnte43. Keine Überraschung bereitet der zuversichtliche Ton besonders was den Wert der deutschen Kultur betrifft - in den zahlreichen Vorträgen, die Troeltsch 1914-1916 als seinen Beitrag zur Kriegsführung hielt44. Bereits vor dem Krieg hatte " Vgl. ebd.. S. 973. Vgl. ebd., S. 973; ferner ebd., S. 52-58, 532; siehe auch -Troeltsch, Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht, in: H Z 106 ( 1 9 1 1 ) S. 239-267. " E b d . , S. 977. " E b d . , S. 978. » Vgl. ebd., S. 983-986. " Die wichtigsten dieser Vorträge sind gesammelt in: Troeltsch, Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden, Hrsg. Hans Baron, Tübingen 1925. Siehe auch G . M. Schwarz, Deutschland und Westeuropa bei Ernst Troeltsch, in: H Z 191 (i960) S. 5 1 0 - 5 4 7 ; Schwabe, a . a . O . ; Gustav Schmidt,a.a.O.; Klaus Dockhorn (s. o. Anm. I , j ) kritisiert Troeltsch wegen dessen Gegenüberstellung eines kalvinistischen Elements in der englischen und amerikanischen Geschichte; er betont stattdessen den Einfluß des deutschen Historismus auf das englische Geistesleben im 19. Jahrhundert. 40
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Troeltsch in den >Soziallehren< fundamentale Unterschiede zwischen der deutschen und der westeuropäischen Kultur entdeckt, die er vor allem mit dem Einfluß der andersartigen religiösen Traditionen begründete, dem Luthertum in Deutschland und dem Kalvinismus in Westeuropa. Das Luthertum, das die Sündhaftigkeit der menschlichen Natur deutlicher erkannt hatte, sah die politische Macht als Teil der göttlichen Ordnung an. Der Mensch ist in seinen Beruf, seine Stellung in der Gesellschaft, hineingeboren oder durch die Obrigkeit dazu bestimmt. Im Kalvinismus muß der Mensch seine Bestimmung selbst finden. Nach kalvinistischer Überzeugung werden die Handlungen des Staates an den Maßstäben der christlichen Moral und des Naturrechts beurteilt. Für Luther waren andererseits Macht und Gewalt die Grundlage von Gesetz und Gerechtigkeit in einer sündhaften Welt45. Der Staat richtet sich nach einer eigenen Ethik. Troeltsch weist darauf hin, daß diese unterschiedlichen Vorstellungen von der Macht keineswegs zu einer völligen Entfremdung Deutschlands vom Westen führten, da die ethischen und politischen Systeme der Moderne niemals gänzlich als Säkularisierungen lutherischer und kalvinischer Lehren erklärt werden können. Er glaubt allerdings, daß Luthers politische Ethik und die lutherische Kirche ein politisches System in Deutschland am Leben erhielten, das schon zu Luthers Zeiten sich in Westeuropa auflöste. Der trennende Graben wurde noch tiefer, als die Aufklärung die gemeinsamen christlichen Bande lockerte. Von daher ergab sich auch die entschiedene Reaktion des Deutschen Idealismus gegen den Naturrechtsbegriff der Aufklärung. Nach dem Beginn des 19. Jahrhunderts befand sich Deutschland mitten in seiner romantisch-nationalen Erneuerung, losgerissen von den Verankerungen der westeuropäisch-christlichen Tradition des Naturrechts, die weiterhin in Frankreich, England und Amerika eine entscheidende Rolle spielte. Andere Kräfte der modernen Welt näherten die beiden Kulturen einander jedoch wieder an. Troeltsch war 1913 davon überzeugt, daß die kapitalistischen Lebensbedingungen ein Stück kalvinistische Ethik nach Deutschland brächten und damit die Aussicht auf eine Erweiterung der demokratischen Rechte. Dieselben Bedingungen würden auch zu einer Modifizierung des westlichen Liberalismus führen, 41
Vgl. Trocltsch, G S I, S. 532; ferner ebd., S. 515-605.
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und zwar in Richtung der sozialen Verantwortlichkeit und der öffentlichen Anteilnahme. Der Gegensatz zwischen Deutschland und dem Westen bildete demnach keine unüberbrückbare Kluft für eine Verständigung. Zweifellos konnte Deutschland von neuem viel vom Westen lernen, besonders von der amerikanischen und der englischen Demokratie, die noch immer ein beträchtliches Stück kalvinistischer Ethik verkörperten44. Mit Kriegsausbruch büßten diese nüchternen Feststellungen viel von ihrer Besonnenheit ein. Nun wurde der westeuropäische Naturrechtsbegriff scharf von der deutschen Geschichtsidee getrennt. Die »Ideen von 1789«, die in den westlichen Demokratien noch herrschten, standen den deutschen »Ideen von 1914« frontal gegenüber. Troeltsch baute sich einen Strohmann in einem Westen, der den klassischen Naturrechtsvorstellungen und einer atomistischen Gesellschaftsauffassung verhaftet ist und ein mangelndes Verständnis historischer und sozialer Kräfte aufweist. Bewußt ignorierte er, was er in den >Soziallehren< erkannt hatte: das Ausmaß, in dem der westliche Liberalismus während des 19. Jahrhunderts tiefgreifenden Veränderungen unter der Entwicklung der modernen Bedingungen unterworfen war. Der Westen konnte nicht mehr uneingeschränkt mit Vernunftkult und Fortschrittsglauben gleichgesetzt werden, wie es Troeltsch tat, da seit der romantischen Revolte die Strömungen des Irrationalismus und des geschichtlichen Denkens immer mehr europäisches Gemeingut geworden waren und tiefen Einfluß auf Westeuropa ausgeübt hatten. Während Deutschlands lutherisches Erbe, seine Ablehnung der Naturrechtsideen, Troeltsch in den >Soziallehren < als ein sehr zweischneidiges Geschenk erschienen waren, wurde nun diese »deutsche Idee der Freiheit« mit geringen Einschränkungen bejaht. Die deutsche Tradition historischen Denkens, vertreten durch Hegel, Ranke, Sybel und Treitschke, hatte sich als richtig erwiesen, indem sie die »demokratischen Fiktionen, daß der Staat eine Veranstaltung der Individuen zum Zweck ihrer Sicherheit und ihrer Glückseligkeit sei«, zerstört hatte47. Sie hatte erkannt, daß der Staat ethischer Selbstzweck ist, eine »sittliche Willenseinheit«, die das Interesse des einzelnen transzendiert und von einer Ethik der Staatsräson gelenkt werden 44 Vgl. Troeltsch, Das neunzehnte Jahrhundert, in: GS IV, S. 614-649; den.. Das Wesen des modernen Geistes, ebd., S. 297-338; vgl. auch G. M. Schwarz, a.a.O., S. j 17-521. 7 * Troeltsch, Der metaphysische und religiöse Geist der deutschen Kultur, in: Deutscher Geist... (s. o. Anm. 44), S. 73.
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muß. Staaten »müssen wie alles Lebende wachsen und fortschreiten«48. Indem Troeltsch für diese Ethik eintritt, behauptet er, die deutschen Historiker und Philosophen hätten nicht Partei ergriffen in einem simplen Kampf um nationale Macht und das nackte Leben. Sie verstanden vielmehr das Wachstum der nationalen Macht als Teil von Gottes überall gültiger Absicht, wonach die Humanität nicht »ein rationaler Völkerbund und starrer Ausdruck einer überall identischen Vernunft [ist], sondern lebendig bewegte Fülle großer nationaler Geister, die, jeder auf seine Weise, die göttliche Welt widerspiegeln«. Somit handeln die Staaten, wenn sie ihre Interessen verfolgen, aufgrund von Prinzipien, die von denen der privaten Moral verschieden sind. Auf einer höheren Ebene stehen diese Prinzipien jedoch ebenso mit den Zielen der privaten Sittlichkeit in Einklang wie mit den Interessen der Menschheit49. Nach Troeltschs Meinung hat jedes Volk seine eigene Vorstellung von Freiheit. Die deutschen Historiker und Philosophen hatten die zentrale Bedeutung des Staates für die Kultur erkannt; aus dieser Erkenntnis entwickelte sich der moderne deutsche Staat und seine Freiheitsidee. Seine Wurzeln bestehen aus »preußischem Machtwesen, Kantischem Pflichtgefühl und deutsch-idealistischem kosmopolitischem Kulturgehalt«, eine Synthese, die bewahrt werden muß, »nicht bloß weil wir Deutsche im Sinne unserer Geschichte bleiben wollen, sondern weil darin auch das Wesen jeder echten Staatsethik liegt«50. Freiheit, wie sie in Deutschland verstanden wird, ist nicht »Gleichheit, sondern Dienst des einzelnen an seinem Ort in der ihm zukommenden Organstellung«51. Die deutsche Freiheitsidee schließt gleich der französischen und englischen einen Spielraum individueller, insbesondere geistiger, Freiheit mit ein52. Sie besteht auf der Teilhabe des einzelnen am Staat, woraus sich die Gleichheit vor dem Gesetz und parlamentarische Institutionen ergeben53, weiß jedoch auch um die Bindung und Unterordnung des einzelnen im Verhältnis zur Gemeinschaft. " Troeltsch, Privatmoral und Staatsmoral, ebd., S. 1 j 1. Die ungekürzte Fassung des Aufsatzes ist enthalten in: Troeltsch. Deutsche Zukunft, Berlin 1916, S. 61-112. " Ebd.,S. 141. M E b d . , S . 166. 11 Troeltsch, Die deutsche Idee von der Freiheit, ebd., S. 94. Die vollständige Fassungfindetsich in: Troeltsch. Deutsche Zukunft (s. o. Anm. 48), S. 7-60. " Vgl. ebd., S. 98. " V g l . ebd., S. 94.
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Sie verbindet demnach »Staatssozialismus und Bildungsindividualismus«64. Obzwar Troeltsch somit die deutsche Freiheitsidee über jene der westeuropäischen Völker stellt, da sie mehr an Wahrheit über den Staat enthalte, stimmt er doch Friedrich Naumann zu, daß sie noch nicht ihre volle Ausformung erfahren habe. In einem wichtigen Punkt hinkt Deutschland hinter Westeuropa her: in der Demokratisierung des politischen Lebens. Er gibt Max Weber und Friedrich Naumann recht, daß ein »plutokratisches Wahlrecht« eine breite Teilnahme des Volkes an der Regierung, wie sie die modernen Demokratien kennzeichnet, verhindert hat. Deutschland ist ein Obrigkeitsstaat geblieben, es muß aber ein Volksstaat werden. Den Ausschlag gibt dabei nicht die parlamentarische Verantwortlichkeit. Da Deutschland sich in einer exponierten geographischen Lage befindet, braucht es eine starke zentralistische Macht; verschwinden sollen jedoch die Überbleibsel des »Klassen- und Standesregiment(s)«55. Im Verlauf des Kriegs welkte der die Deutschen aller Klassen und Parteien einigende »Geist von 1914« dahin; Troeltsch hielt nun seltener Vorträge. Die militärische Führung beherrschte in zunehmendem Maß die Politik, stemmte sich gegen politische Reformen und gab das Freizeichen für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Als Troeltsch 1922 noch einmal auf den Gegensatz zwischen den deutschen Vorstellungen in Politik, Historie und Ethik und denen der Westeuropäer und Amerikaner zu sprechen kam, machte er das Eingeständnis, daß der deutsche Individualitätsbegriff, der für die Geschichtswissenschaft so fruchtbar gewesen war, doch auch »einige sehr bedenkliche Folgen« gezeitigt hätte56. Es entwickelte sich nämlich »aus der individuellen Fülle der Volksgeister . . . die Verachtung der allgemeinen Menschheitsidee, aus der pantheistischen Staatsvergötterung die ideenlose Achtung des Erfolges und der Gewalt, aus der romantischen Revolution ein sattes Behagen am Gegebenen, aus dem jeweils individuellen Recht eine rein positive Satzung des Staates, aus der hochgeistigen überbürgerlichen Moral die Moralskepsis, überhaupt, ausdemDrang des deutschen Geistes zu einem staat" E b d . , S. >05. " Vgl. Troeltsch, Deutsche Zukunft (s. o. Anm. 48 und 51), S. 27f. " T r o e l t s c h , Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, in: Deutscher G e i s t . . . Anm. 44), S. 22.
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liehen Leibe derselbe Imperialismus wie überall sonst in der Welt« 57 . In seinem Aufsatz >Ober die Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge < (1916) 5 8 kehrte Troeltsch zum Problem der historischen Relativität zurück, mit dem er sich in seinen früheren theologischen Schriften beschäftigt hatte; er setzte sich damit bis zu seinem Tode im Jahre 1923 auseinander. Seit seinem Werk >Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte < hatte Troeltsch die Religion immer mehr als einen Ausdruck und Teil der Gesamtkultur angesehen. Sein nunmehriges Problem lieferte den roten Faden, der durch die zahlreichen Aufsätze der nächsten Jahre lief; sie wurden zu dem etwas fragmentarisch wirkenden Band >Der Historismus und seine Probleme< zusammengestellt (1922) 59 . Es ging dabei weniger darum, absolutes theologisches Wissen im Strom der Geschichte zu gewinnen 80 als um die feststellbare Objektivität der Werte innerhalb einer Kultur. Es ist bemerkenswert, daß sich Troeltschs philosophische Einstellung seit seinen ersten Schriften kaum geändert hatte. Weiterhin blieb er davon überzeugt, in der Geschichte herrsche Sinnhaftigkeit und die Erkenntnisse und Normen, die sich nur aus ihr ergeben, hätten zwar für bestimmte historische Situationen einzig relative Gültigkeit, spiegelten aber doch eine hinter der Geschichte verborgene absolute Wahrheit wider. Da dieses Absolute sich nur in individuell-historischen Gestaltungen niederschlug, wurde allein die Geschichte zum Weg, der zu echtem Wissen führte; die historische Methode verkörperte somit die bedeutendste Errungenschaft des modernen Geistes. Was aber Ranke, Sybel und noch dem jüngeren Troeltsch selbstverständlich schien, nämlich die zentrale Rolle der Geschichte in der intellektuellen, moralischen und ästhetischen Bildung des Menschen, wurde Troeltsch nun zum Problem. Das 19. Jahrhundert hatte das gesamte Kultur- und Geistesleben unter dem Aspekt der Genese gesehen. Anstelle des erhofften Verstehens hatten die historischen Disziplinen jedoch "Ebd.,S. i7f. Trocltach, Uber die Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge, in: H Z 116 (1916) S. 1-47. " Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie. G S I I I , Tübingen 1922. Der im Vorwort angekündigte zweite Teil über die materiale Geschichtsphilosophie, der Troeltschs Ideen über »die zu schafiende Kulturcynthese des Europäismus« darlegen sollte, wurde nicht mehr geschrieben. •• In seinem Aufsatz >Meine Bücher« (GS I V , S. I4f.) bemerkt Troeltsch, er habe sein Werk über den Historismus und sein Bemühen um eine Kulruisynthese als notwendige Schritte zur Vervollständigung seiner Religioosphilosophie erachtet, die sein Hauptanliegen blieb.
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»alle festen Normen und Ideale des menschlichen Wesens« untergraben 61 . »Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind in dem Fluß des historischen Werdens aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen verständlich.« Das Geistesleben ist seiner Autonomie verlustig gegangen; es dient den »übersinnlichen, festen, unveränderlichen Wahrheiten« nicht mehr zum Spiegel, sondern es ist »ein kontinuierlicher, aber stets sich verändernder Lebensstrom, in dem sich stets nur vorübergehende, den Schein der Dauer und Eigenexistenz vortäuschende Wirbel bilden«, geworden 62 . Die Historie - oder vielmehr der Historismus, nämlich der Glaube, jede Realität sei historisch - hatte somit »sich in einen inneren Widerspruch hineingearbeitet«63. Der Historismus erschütterte nicht nur unsere ethischen Systeme, den Glauben an den Fortschritt der Menschheit und an die Autonomie der Vernunft, die an die Stelle der früheren christlichen und dynastischen Vorstellungen getreten waren64, sondern hat auch seine eigene Wissenschaftsmethode untergraben. Wie konnte es noch ein objektives Wissen geben, wenn jegliche menschliche Erkenntnis historisch und sozial bedingt war? 65 Eine logische Lösung der Probleme des Historismus bietet sich nicht an. Wenn der Blick des Menschen sich nicht über den wechselnden Wellengang der Geschichte zu erheben vermag, so findet er offenbar keinen sicheren Hafen für seinen Geist. Seine Ideen und Ideale bleiben stets seiner Kulturinstitution verhaftet. In der Geschichte des Abendlandes den Widerschein transzendentaler Wahrheit und Werthaftigkeit zu finden - das ist die einzige Lösung. Carlo Antoni hat festgestellt, daß Troeltsch, »wie er versucht hatte, aus der Geschichte selber den Beweis für die außergeschichtliche Absolutheit des Christentums zu führen«, sich nunmehr vornahm, »aus der Geschichte die Heilmittel gegen den unbegrenzten < Historismus zu gewinnen, also den Beweis für die Absolutheit der Werte der abendländischen Kultur in ihrem geschichtlichen Werden«66. Troeltsch wollte zwei Fliegen, die nicht zusammensitzen, dennoch mit einer Klappe schlagen: in der Geschichte die einzige Möglichkeit zu Wissenserwerb und Wertgewißheit "Troeltsch, GS IV, S.618. u Troeltsch, Die Klisis des Historismus, in: Die Neue Rundschau ;3 (1922) S. j73F. Bbd., S. 584. M Vgl. ebd., S. 582. •» Vgl.ebd.,S.j77-!»2. " Antoni (s. o. Anm. VI, 142), S. 107. M
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sehen und doch zugleich auf absolute, transzendente Normen vertrauen. Dafür bot nur der Glaube eine Grundlage. Somit zieht sich ein tiefreichender Widerspruch durch Troeltschs Aufsätze und sein Buch über den Historismus. Einerseits stellt er die logischen und sittlichen Probleme des Historismus, die Unausweichlichkeit der historischen Sehweise und den Verfall der modernen Werte nicht als das Ergebnis politischer und sozialer Katastrophen, sondern als die gedankliche Konsequenz der historischen Methode dar67. Andererseits lehnt er es ab, den »unbegrenzte(n) Relativismus«88, der aus dieser Methode folgerichtig resultiert, hinzunehmen; Alternativen zu einem ausschließlich historisierenden Standort zieht er jedoch auch nicht in Betracht. Seine Antwort auf die nicht beantwortbare Frage, was in einer Welt des Wandels wahr und gültig ist, gehört in die Sphäre des Religiösen, wobei es sich allerdings in seinem Glauben an Gott®' noch in vieler Hinsicht um den Gott Rankes handelt, »eine letzte Einheit«70 und »ein unbestimmtes Vertrauen zur Vernünftigkeit der Welt überhaupt«71. So ist die Lösung beschaffen, die Troeltsch in seinem Aufsatz >Über die Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge< und - mit geringfügigen Abweichungen - später in seinem Werk über den >Historismus und seine Probleme< anzubieten hat. Für ihn steht nicht nur fest, daß sich die »liberal-humanitärrationalistische Geschichtsphilosophie« des 19. Jahrhunderts in einer Krise befindet, sondern auch, daß dies weniger auf die Katastrophen der Gegenwart zurückzuführen ist, als vielmehr auf die »Entwicklung des abendländischen Denkens selbst, das . . . den abstrakten . . . Rationalismus zurückgedämmt hat«12. Dieselbe historische Sehweise für menschliche Ideen und Ideale, der die Krise zu verdanken ist, scheint die Möglichkeit einer Lösung auszuschließen, denn seinem innersten Wesen nach ist »genetisch-historisches Denken« relativistisch und steht in »hoffnungslosem« Gegensatz zu jedem »Gedanken eines allgemeingültigen, absoluten Zieles der Geschichte«73. Eine eigentlich logische Lösung der Probleme des Historismus " " " " " " ™
Vgl. Troeltsch (j. o. Anm. 6i). S. J84. Troeltsch, GS III, S. 68. Troeltsch (s. o. Anm. j8), S. }8. Ebd., S. 3 1 . Ebd., S. 34. Ebd., S. 4. Ebd., S. 11.
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ist somit abgetan; die dafür erforderlichen Werte von absolutem, zeitlosem Charakter sind auf der Grundlage historischer Bemühung nicht zu finden. Das Dilemma verschlimmert sich noch durch die Tatsache, daß weder unser »energischer Lebenswille« noch unsere »ethische Überzeugung« uns von der Suche nach Sinn und Norm dispensieren. Zuversichtlich folgert aber Troeltsch, daß es sich nur um ein scheinbares Dilemma handle, das entstanden ist aus der irrtümlichen Identifizierung von Vernunft und abstrakter Norm und aus dem Fehler, die konkreten Werte, die historisch bedingte Gültigkeit besaßen, für vernunftbezogen zu halten; schuld war auch die Ansicht, selbst im eindeutig Irrationalen und Spontanen den Ausdruck des Rationalen zu erblicken. Wertbegriffe und Maßstäbe sind für den Menschen unerläßlich, doch müssen sie nicht allgemeingültig, zeitlos, absolut und abstrakt sein, was mit dem stets auf das Besondere und das Einmalige gerichteten Wesen der Geschichte nicht übereinstimmt74. Natürlich ist es das vordringlichste Problem unseres Zeitalters, eine neue Synthese von Werten zu begründen, die angesichts des Trümmerfelds traditioneller Werte Gültigkeit besitzen. Wie können aber solche Normen gefunden werden? Troeltsch beharrt darauf, daß dies nur auf dem Wege der Historie geschehen kann. Gültige Normen lassen sich also nur finden durch eine »kritische Auslese aus dem Kulturbesitze eines großen Wirkungszusammenhanges, wie etwa in unserem Fall des Ganzen der abendländischen Kultur« 75 . Da unser Urteil aber stets von historischen und subjektiven Faktoren abhängig ist, scheint unsere Auswahl völlig subjektiv zu sein eine Befürchtung, die Troeltsch durch den Glauben zerstreuen will, daß sich in jedem geschichtlichen Augenblick die Vernunft manifestiere. Wir bewahren uns am ehesten vor einer subjektiven Wahl der Wertmaßstäbe, wenn wir uns intensiv mit dem Geschichtszusammenhang auseinandersetzen, aus dem die fraglichen Normen erwachsen sind. Beide nämlich, der historische Gegenstand und der Historiker, gehören in einen großen göttlichen Prozeß hinein. Die großen Wertsysteme der Geschichte sind »Offenbarungen« der göttlichen Wahrheit, die durch eine intuitive Hingabe an die historischen Bewegungen erfaßt werden. Sie können weder a priori entworfen noch auf " Vgl. ebd., S. i6f. Ebd.. S. z t .
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rationale Sätze reduziert werden; sie brechen »mit einem Gefühl zwingender Notwendigkeit und Klarheit« in den großen schöpferischen Individuen, den Propheten, politischen Lenkern, Philosophen, Künstlern und Historikern oder sogar im Bewußtsein der Massen hervor 78 . Allerdings beeilt sich Troeltsch, den Eindruck zu vermeiden, die intuitive Wahrnehmung der Werte gehe ohne wissenschaftliche oder rationale Kontrollen vor sich. Die Bildung sinnvoller Normen setzt ein Verstehen des großen Entwicklungszusammenhangs der Geschichte voraus, das wiederum Kulturvergleichungen einschließt, die zur Wesensbestimmung der je einen Kultur notwendig sind; nur innerhalb der je einen Kultur werden die für ihre Mitglieder geltenden Werte manifest. Dennoch ist die Normenbildung eine Angelegenheit des religiösen Glaubens, was die »Betrachtung eines aus dem Leben herausgegriffenen Gehaltes als Ausdruck und Offenbarung des göttlichen Lebensgrundes« und die »Ergreifung des aus der jeweiligen Lage erwachsenden Ideals als eines Repräsentanten des unerkennbaren Absoluten« 77 in sich schließt. Obschon in der Erkenntnis dieser Ideale ein Moment künstlerischer Schöpfung enthalten ist, so erfordert ihr Herausschälen doch die sorgfältige wissenschaftliche Analyse der Kultur, der sie entstammen. Voraussetzung dafür ist natürlich, daß Kulturen in sich geschlossene Systeme sind, deren Wesen sich einer Untersuchung enthüllt. Weiterhin gibt es unter den mannigfachen werthaften Ideen, denen von den einer Kultur zugehörenden Menschen Ausdruck verliehen wird, solche, die eher dieser Kultur eigentümlich sind und ihre grundlegenden Ideale widerspiegeln; daß für jede Kultur aber ein Ideal im Mittelpunkt steht, ist empirisch kaum zu beweisen. Jegliche Kultur scheint vielmehr aus einem Konglomerat von gegensätzlichen Kräften, Anschauungen und Idealen zu bestehen, die logisch einfach nicht unter einen Hut zu bringen sind. Troeltsch leugnet das nicht, will jedoch auch nicht konzedieren, daß damit die Möglichkeit genommen ist, das Wesen einer bestimmten Kultur auf wissenschaftlichem Wege zu verstehen und aus ihrem tatsächlichen Inhalt ihr Ideal herauszuarbeiten. Trotz der offensichtlich widersprüchlichen Strömungen in einer Kultur sei dies durchaus möglich, denn die »Spannungen von Religion, Kunst, Wissenschaft, Staat, Recht Vgl. ebd., S. 29. " Ebd.. S. J 2 f.
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und Wirtschaft sind keine logischen Widersprüche und ihre Vereinheitlichung ist keine logische, sondern die überlogische Einheit einer jedesmal individuellen Synthese«78. Somit scheint jeder Widerspruch und jedes Dilemma, erwachsen aus der Anwendung der Naturwissenschaften und der geschichtswissenschaftlichen Analyse auf die menschliche Wirklichkeit, bewältigt zu sein. Ist auch »Zeitlosigkeit, Ewigkeit, Allgemeingültigkeit und Absolutheit der Maßstäbe« nicht zu erlangen, so können wir objektiver Normen dennoch teilhaftig werden. »Individualität ist ja nicht gleichbedeutend mit Subjektivität.«79 Welch große Unterschiede die Menschheit auch in sich begreifen mag, es gibt doch eine Sinngebung für alle. Wessen wir uns versichern können, sind die je einzelnen Kulturen, die einen menschheitlichen Fortschritt auszuschließen scheinen, aber »wir sind in beständiger Bewegung auf das Absolute, das selber nur in der Einheit seiner Lebensfülle für sich selber existiert und nicht begriffen werden kann, weil es überhaupt kein Begriff ist«80. Keine Wissenschaft kann den »Gesamtfluß des Lebens« in sich aufnehmen, der dennoch verfügen muß über »Einheit, Zusammenhang und Sinn, sonst würde unser Denken nicht seine einzelnen Konstellationen empirisch-wissenschaftlich und normwissenschaftlich erfassen und fixieren können«81. Gott steht also hinter allem Denken und Verstehen »als irgendwie vorausgesetzte Grundvorstellung«. Ohne diese Gottesvorstellung oder eine analoge Idee gibt es keine objektive »Maßstabsbildung«82. Die 777 Seiten des >Historismus und seine Probleme < fügen zu diesem Glauben an den Sinn der Geschichte wenig Neues hinzu83. Zunächst wird wiederum die offenbare Zwiespältigkeit der historischen Methode konstatiert, und wiederum löst eine idealistische Geschichtsphilosophie die Konflikte zwischen Subjektivität und Objektivität und beantwortet die Fragen nach der relativen Gültigkeit aller Normen, der Menschhaftigkeit der Geschichte und der grundsätzlichen Welteinheit. Wenn die Geschichte an jedem Punkt das »unfaßbare Absolute« widerspiegelt, dann führt sie auch zum Wahren und Gültigen. Für Troeltsch stellt die Geschichte wie für Ranke einen realen " E b d , S. } } ( . " Ebd., S. 36. " Ebd., S. 39. Ebd., S. 38. "Ebd. 11 Vgl. dazu Anm. 59.
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Prozeß dar, der nicht auf die von Rickert vorgeschlagenen Begriffe reduziert werden kann. Troeltsch will die Geschichte vor diesem Zugriff der Neukantianer bewahren. Sie ist ihm mehr als nur der Weg, auf dem - nach der Ansicht Rickerts - der Historiker ein »Arrangement« der Fakten trifft, nämlich »eine innere Bewegung des Gegenstandes selbst, in die man sich intuitiv versenken kann« und der wir die einmaligen Werte entnehmen müssen, die für unseren Standort im historischen Strom gültig sind84. Da Geschichte Wirklichkeit ist, muß man an sie mit einer ungleich einfacheren Logik herantreten, als es sich die Neukantianer träumen ließen. Als Methode ist erforderlich die »konkrete, anschauliche Darstellung der jedesmal individuellen Gebilde der Geschichte«, woraus allein Werte abgeleitet werden können. Weder Idealtypen noch soziologische Analyse sind obschon an sich von Nutzen - dazu geeignet, den vollen Reichtum des Lebens widerzuspiegeln. Die Methoden der Historie bedürfen keiner logischen Formulierung. Ihre Praktizierung durch den Historiker ist ausschlaggebend85. Dabei ist weniger rationale Analyse angebracht als nachfühlendes Verstehen86, »Schauen, nicht Erdenken« 87 . Die Grundelemente der Geschichte sind individuelle Ganzheiten: ein Einzelmensch, eine Klasse, ein Volk, eine Kultur. Was sie zu Individualitäten werden läßt, ist ihr jeweiliger Sinngehalt, der nur für sie charakteristische Bedeutungswert. Diese Bedeutung ist »ursprünglich, einmalig«88. Sie kann nicht kausal erklärt, sondern nur verstanden werden. Allerdings ist das Verstehen keineswegs der Willkür oder Subjektivität unterworfen. Es richtet sich nach dem objektiven Umstand, daß der dargestellte Gegenstand der gleiche bleibt, auch wenn die Fragestellungen voneinander abweichen. Um den Bedeutungskern dieser objektiv existierenden und individuellen Ganzheiten in der Geschichte können ihre mannigfachen Ausdrucksformen angeordnet werden. Wird unser Geist einer historischen Realität konfrontiert und voll und ganz von ihr durchtränkt, dann erfaßt er sie spontan84. Ermöglicht wird das intensive Verstehen durch die von •• Trodtsch (j. o. Anm. 59), S. 234f. •» Ebd., S. jo. Vgl. ebd., S. 38. " Ebd., S. 688. Ebd., S. )». •• Vgl. ebd.. S. }i-4i.
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Gott bewirkte Einheit aller geistigen Wirklichkeit, womit jedoch nicht die pantheistische Ineinssetzung von G o t t und Natur gemeint ist, da dies alles Seiende im Grunde eins werden ließe und eine Verleugnung der echten, absoluten Individualität bedeuten würde. Für Troeltsch scheint die Leibnizsche Monadologie - jede Monade ist eine geschlossene, sich selbst genügende Individualität, die dennoch die göttliche Ordnung widerspiegelt - der Wahrheit näher zu kommen. »Nicht die Spinozistische Identität von Denken und Sein oder von Natur und Geist, sondern die wesenhafte und individuelle Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen Geist und eben damit die intuitive Partizipation an dessen konkretem Gehalt und bewegter Lebenseinheit ist der Schlüssel zur L ö s u n g unseres Problems.« 9 0 Aus dieser Individualitätsauffassung zieht Troeltsch zwei Schlüsse, einen negativen und einen positiven. Einerseits kann es keine Menschheitsgeschichte geben, denn »die Menschheit als Ganzes hat keine geistige Einheit und daher keine einheitliche Entwicklung« 9 1 . D a die für uns weiteste Sinneinheit eine Kultur umfaßt, kann es nur die Geschichten einzelner Kulturen - etwa der abendländischen - geben. D a aber jede Kultur eine Sinneinheit darstellt, vermögen wir die ihr eigentümlichen Werte zu erschließen. A n diesem Punkt glaubt Troeltsch auf die L ö s u n g der Wertekrise im modernen Europa gestoßen zu sein. Die Historie hat die überlieferten Werte Europas zerstört, indem sie ihre genetische Beschaffenheit aufzeigte. Die Geschichtswissenschaft vermag nunmehr das eigentliche Wesen des »Europäertums« darzulegen, dessen Entwicklungsgang zu untersuchen und die ihm eigentümlichen Werte herauszuschälen. Werte können nicht entworfen werden; sie müssen organische Bestandteile einer Kulturtradition sein. Aus der reichen Tradition Europas kann der Historiker jedoch das Beste, das der Begeisterung wert und der Verwirklichung fähig ist, herausgreifen und eine Kultursjntbese schaffen, die ihrerseits als eine Richtschnur für die Gestaltung der europäischen Zukunft zu dienen vermag 9 2 . Carlo Antoni sieht in Troeltschs >Geschichte des Europäertums < »nichts anderes als eine Revision jenes Kapitels des >Untergangs des Abendlandes Der Historismus und seine Überwindung < immer wieder durch 97 . In seiner Abhängigkeit von der historischen Methode vermochte er diesen Zweifeln auf rationaler Basis niemals wirksam zu begegnen. Die Tragödie seines Lebenswerkes lag in dem durchgehenden Widerspruch, der zwischen seinem Verlangen nach intellektueller Redlichkeit und seiner Unfähigkeit, die vollen Konsequenzen seines Denkens anzuerkennen, bestand.
2.
An Friedrich Meineckes geistigem Werdegang lassen sich Krise und Auflösung der deutschen Geschichtsideologie vielleicht noch deutlicher ablesen als an Ernst Troeltschs Lebenswerk. Als Troeltsch seine wissenschaftliche Laufbahn begann, Antoni (s. o. Anm. V I . 142), S. 1 1 5 . • 4 Vgl. Troeltsch (s. o. Anm. jy), S. 166, 1 8 2 - 1 9 1 . •• Vgl. Troeltsch, Deutsche Zukunft (s. o. Anm. 4«), S. 75. •• Troeltsch, Rezension von Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, in : G S I V , S. 684. ,T Troeltsch, Der Historismus und seine Oberwindung, Berlin 1924.
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war er sich der inneren Widersprüchlichkeit des historisierenden Umgangs mit dem Wahren und Gültigen zutiefst bewußt; in diesem Bewußtsein beschloß er sein Leben, ohne mutig die logischen Konsequenzen aus seinem Denken zu ziehen. Meinecke wuchs in einer Atmosphäre auf, in der das Erbe Rankes und der politischen Historiker noch kein Problem darstellte. Er starb inmitten des geistigen Trümmerfelds nach dem Zweiten Weltkrieg in der schmerzlichen Einsicht, daß Deutschland nicht nur in politischer, sondern auch in philosophischer und geschichtswissenschaftlicher Hinsicht einen falschen Weg eingeschlagen hatte. Wie Troeltsch vermochte sich aber auch Meinecke nicht dazu durchzuringen, die Überbleibsel einer vergangenen Uberzeugung von sich zu werfen. Friedrich Meineckes geistige Wurzeln reichten tief in die preußischen Traditionen hinab. Die Jahre, die sein Wesen prägten, verbrachte er in einer viel ärgeren Isolierung von den Hauptströmungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Ernst Troeltsch, der Sohn eines liberalen protestantischen Arztes in Bayern. In seinen Erinnerungen beschreibt Meinecke die christlich-konservative Atmosphäre seiner Jugendzeit in der Kleinstadt Salzwedel, wo Vater und Großvater seit Jahrzehnten als Posthalter, fromme Lutheraner und königstreue Preußen gelebt hatten. An der Berliner Universität empfing Meinecke starke Einflüsse von Droysens Vorlesungen über Methodologie und Philosophie der Geschichte98 - Droysen war damals über siebzig - und wurde ein Schüler Sybels und Treitschkes. Er arbeitete unter Sybels Anleitung in den preußischen Staatsarchiven und ging seinem Lehrer dann bei der Herausgabe der >Historischen Zeitschrift < zur Hand. Später hat Meinecke betont, er sei von Treitschke niemals »überwältigt« gewesen; er habe die agitatorische Rolle Treitschkes im akademischen Lehrbetrieb erkannt". Immerhin war es auf Meineckes Anstoß zurückzuführen, daß Treitschke nach Sybels Tod im Jahre 1895 zum Herausgeber der >Historischen Zeitschrift< berufen wurde; Treitschke hatte sich gerade mit Hans Delbrück und den eher liberalen Beiträgern der Preußischen Jährbücher < zerstritten100. M Meineckes theoretische Anschauungen zur Geschichtswissenschaft werden untersucht bei Wulthcr Hofer, Geschichtsschreibung und Weltanschauung, München 1930; der Erörterung seiner politischen Ideen widmet sich Richard W. Sterling. Ethics in a World of Power, Princcton 19)8. " Vgl. Meinecke, Erlebtes (s. o. Anm. j), S. 86f., >9, 131. Vgl. ebd., S. 96. Vgl. auch Theodor Schieder, Die deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der Historischen Zeitschrift, in: HZ 189 (19)9) S. 1-104; Schieder erörtert Lamprechts Versuch,
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Für Meinecke stellte - wie für seine Lehrer - der Glaube an die zentrale Bedeutung des Staates in der menschlichen Kultur und an das geistige Wesen der politischen Macht nicht nur eine Frage der wissenschaftlichen Methode, sondern eine tiefverwurzelte religiöse Überzeugung dar. Der junge Gelehrte war sich der von Dilthey entfachten erkenntnistheoretischen Diskussion völlig bewußt. Seine philosophische Arbeit für das Staatsexamen, in der er die Methoden der Natur- und der Geisteswissenschaften verglich, spiegelte den Einfluß Diltheys ebenso wider wie den Droysens 101 . Überraschenderweise war an Meineckes eigener Position von diesen Auseinandersetzungen wenig zu merken. Er entschlug sich des objektiven Idealismus, der den Anschauungen der politischen Historiker zugrundelag, eher dank der traumatischen Erfahrung des Ersten Weltkriegs als aufgrund der geistigen Entwicklung, wie es bei Ernst Troeltsch oder Max Weber der Fall gewesen war. Die Ursache seines ersten Bruches mit der optimistischen Einschätzung der Bismarckschen Lösung seitens seiner Lehrer war politischer Natur. Er erkannte das »Unglück, daß die Monarchie durch einen solchen Kaiser [Wilhelm II.] ruiniert wurde«, und war von der Unfähigkeit der Konservativen enttäuscht, ein Programm der sozialen Reformen zu verfechten; das brachte ihn im Zeitraum von 1895 bis 1898 allmählich ins Lager Friedrich Naumanns102. Diese Schwenkung war allerdings viel weniger radikal, als es auf den ersten Blick aussieht, denn einerseits hatte sein christlicher Konservatismus immer einen sozialen Akzent besessen103, und andererseits hob der Liberalismus Naumanns das Übergewicht von Staat, Nation und Gemeinschaft gegenüber dem einzelnen hervor. In gewissem Sinne stimmte Meineckes neue Haltung weit stärker mit dem Geist der Reformära, den die politischen Historiker vor 1870 auf den Schild gehoben hatten, überein als mit dem reaktionären Konservatismus des alten Treitschke. Eben diesen Reformgeist stellte Meinecke in seiner Biographie des Generalfeldmarschalls Boyen dar 104 , des Verfechters der allgemeinen Wehrpflicht, der für liberale Reformen und eine aufgeklärte die HZ nach Sybels Tod unter seinen Einfluß xu bringen, und die energischen Schritte, die Meinecke unternahm, um dies zu verhindern. Vgl. ebd., S. i)2. Ebd., S. 2o6f. Vgl. ebd., S. 80. 1M Meinccke, Das Leben des Generalfeldmarcchalls Hermann von Boyen, 2 Bde., Stuttgart 1896-1899.
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Sozialgesetzgebung »in scharfem Gegensatz zu der reaktionären Politik eines >verknöcherten Adels < « 105 eingetreten war. Im Jahr 1896, als der erste Band der Biographie Boyens erschien, übernahm Meinecke die Herausgabe der >Historischen ZeitschriftDeutsche Geschichte < und in einer darauffolgenden Flut von Artikeln und Schriften hatte Karl Lamprecht zum Sturm auf die individualisierend-beschreibende Methode der deutschen Historiker geblasen. »In den Naturwissenschaften ist das Zeitalter jener beschreibenden Methode der Erscheinungen, die bloß nach auffallenden Einzelmerkmalen unterscheidet, längst überwunden«, stellte er fest. Auch die Geschichtswissenschaft muß die deskriptive Methode durch eine genetische ersetzen, die allgemeine Entwicklungsgesetze zu formulieren sucht; der Historiker darf sich keineswegs ausschließlich mit politischer Geschichte befassen, sondern muß auch die Bedeutung der Kultur-, Wirtschafts-, Rechts- und Geistesgeschichte ins rechte Licht rükken 106 . Rankes Vorstellung von den Ideen war unhaltbar, obschon sie einst ihren Sinn gehabt hatte und ein bleibendes Denkmal einer großen Epoche der deutschen Geschichtsschreibung und eines großen Historikers bleiben würde. »Aber die Geschichte der Wissenschaft geht über sie hinweg, wie sie über die metaphysisch-mystischen Systeme der Idealphilosophie hinweggegangen ist.«107 Die deutschen Historiker müssen sich von der mystischen Auffassung, ein personaler Gott offenbare sich in den »Ideen« - ein Standpunkt persönlichen Glaubens und nicht der wissenschaftlichen Uberzeugung 108 - , freimachen und der empirischen Erforschung der geschichtlichen Entwicklung zuwenden. Die Historiker sammelten sich zur Verteidigung der solcher'Die Herrlichkeit ErpelDie Zukunft! weiter, worauf Meineckc ganz knapp in: H Z 78 (1897) S. 334^ entgegnete. Siehe auch Meineckes Nachruf auf Lamprecht in: H Z 114 (1915) S. 696-698. Die H Z beabsichtigte den Abdruck von Lamprecht, Die historische Methode des Herrn von Below. Eine Kritik, Berlin 1899, die als Erwiderung auf Bclow, Die neue historische Methode (s. o.) geschrieben worden war, brachte sie dann jedoch nur als Beigabe zu Bd. 82 heraus. Siehe auch Lamprecht, Zwei Streitschriften den Herren H. Oncken, H. Delbrück, M. Lenz zugeeignet, Berlin 1897.
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Below richtig bemerkte - Rankes »Ideen« und »Tendenzen« verdächtig ähnlich. Lamprecht hatte letztere als Mystizismus abgetan110. Der grundlegende Unterschied zwischen Lamprecht und der traditionellen Methode bestand in der Frage, ob der Historiker sich mehr der sozialen oder der politischen Geschichte widmen sollte. Die Entscheidung darüber lief, wie Otto Hintze in dem einzigen brillanten Aufsatz dieser Kontroverse schrieb, auf eine Akzentsetzung hinaus111. Der Staat nahm weiterhin eine führende Stellung in Lamprechts Gesellschaftsauffassung ein. Eine starke Außenpolitik bildete auch für ihn eine Voraussetzung für wirtschaftlichen Fortschritt. Übrigens spielten Ideen gleichermaßen wie soziale und wirtschaftliche Kräfte eine wichtige Rolle in der Geschichtsschreibung Treitschkes und Sybels. Lamprecht hielt an dem Grundsatz des Individuum est ineffabile fest, wonach ein stets verbleibender Rest an Individualität jegliche kausale Analyse zunichte macht; sie »läßt sich nur ahnen«112. Er beharrte jedoch darauf, daß die Geschichtswissenschaft wie jede andere Wissenschaft auch auf Verallgemeinerungen abziele113 und empirische Wahrnehmungen auf Begriffe reduziere114. Diese Ansicht wich von derjenigen Rickerts nicht allzusehr ab. Lamprecht erkannte, daß das ausschließlich Individuelle wissenschaftlich nicht in den Griff zu bekommen war; nur der Ansatz einer wissenschaftlich-begrifflichen Bestimmung war möglich115. Dennoch konnte ein sehr großer Bereich, ja ein Hauptgebiet der gesellschaftlichen Vorgänge, mittels einer »kollektiven« Methode erforscht werden, da es innerhalb der Gesellschaft eine kontinuierliche Entwicklung gab, die mit den willensmäßigen Taten der einzelnen durchaus in Einklang stand114. Obwohl Lamprecht meinte, »alle Wissenschaft ist im tiefsten Grunde eine«117, war er doch der Ansicht, der Historiker könne keine sozialen Gesetze von derselben Gültigkeit wie in den Naturwissenschaften aufstellen. »Herr von Below kennt 111
Vgl. Below, Die neue historische Methode (s. o. Anm. 109), S. zo8. Vgl. Hintze, Über individualistische und kollektivistische Geschichtsauffassung, in: H Z 78 (1897) S. 60-67. 111 Lamprecht, Die historische Methode (s. o. Anm. 109), S. 1 j . Vgl. ebd., S. 1 6 - 1 8 . 111 Vgl. Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte? Beitrag zu einer empirischen Historik, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 (1896/97) S. 83. Vgl. auch: ders., Die historische Methode (s. o. Anm. 109), S. 25: » . . . denn das Allgemeine ist erkenntnistheoretisch das Wissenschaftliche.« 111 Vgl. Lamprecht, Die historische Methode (s. o. Anm. 109), S. 16. 114 V g l . Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte? (s. o. Anm. 114), S. 86f. E b d . , S. 83. 111
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im Grunde nur eine Form des Typischen«, verteidigte sich Lamprecht, »nämlich die, welche er Gesetz nennt.« 118 Letztlich kommt der Kausalität nicht objektive Realität zu; sie ist eine Denkkategorie. Der Historiker wird notwendigerweise Regelmäßigkeiten innerhalb des geschichtlichen Forschungsobjekts sehen, obschon er keine formelhaften Entwicklungsgesetze herausschälen kann 119 . Die Bedeutung der individuellen Freiheit, wie beschränkt sie auch sein mag, erlaubt kein monistisches und deterministisches Geschichtsbild. »Die Darstellung eines lückenlosen Kausalzusammenhanges ist . . . beinahe eine Unmöglichkeit«, stellt Lamprecht fest; eine künstlerische Darstellung kann gelegentlich ein »wissenschaftlicheres« Verständnis des historischen Prozesses bekunden als die Wissenschaft selbst 180 . Lamprecht nimmt Troeltsch und Spengler vorweg, wenn er die Erforschung von Regelmäßigkeiten auf Entwicklungszyklen innerhalb genau umrissener Einheiten der Menschheit zu begrenzen sucht. »In der vollen Verurteilung der Menschheitsgeschichte sind die neueren Historiker einig«, konstatiert er 121 . Die Einheiten der Geschichte sind nicht die Kulturen, wie Troeltsch und Spengler später meinten, sondern die Nationen, die sich meistens in Staaten organisiert haben 122 . Jede Nation besitzt ihre Individualität, ihren eigenen Entwicklungszyklus, so daß »jede weitere Untersuchung der regulären Faktoren des geschichtlichen Verlaufs sich im Rahmen typischer nationaler Entwicklung vollziehen muß«. Allerdings sind vergleichend-morphologische Untersuchungen über die Zyklen der nationalen Entwicklungen - etwa ein Vergleich der Renaissancen, der Mittelalter, der Übernahme von Elementen aus anderen Kulturen - durchaus möglich 123 . Wenig Neues steuerte Meinecke bei, als er mit Lamprecht kurz die Klingen kreuzte. Er bestritt Lamprechts extreme Behauptung hinsichtlich der Anwendbarkeit des Kausalgesetzes auf individuelle Handlungen 124 , die dieser in einer Reihe von Aufsätzen modifizierte. Mehr Beachtung kann man Meineckes Feststellung schenken, wissenschaftliche Methodenlehre und Weltanschauung ließen sich nicht so säuberlich Lamprecht, Die historische Methode (s. o. Ann). 109). S. 18. " • Vgl. ebd., S. 10-22. Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte? (s. o. Anm. 114), S. 92. 1,1 Ebd., S 96. 1,1 Vgl. ebd., S. 102. '•» Ebd., S. 99-102. is« vg], Lamprecht (s. o. Anm. 107), S. 7f.; Meinecke, Erwiderung, in: HZ 77 (1896) S. 263.
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trennen wie Lamprecht glaubte125. Obwohl Meinecke Lamprechts ihm als ausgeprägt positivistisch erscheinende Denkweise für einen engen Blickwinkel auf soziale Probleme hielt, lehnte er doch auch jene neurankeanische Tendenz in der deutschen Geschichtswissenschaft ab, »welche . . . die Geschichte mehr wie ein ästhetisches Schauspiel genießt« und moralischen oder politischen Verwicklungen ausweicht. »Wir, die wir meinen, daß die idealistische Weltanschauung und das intensive Staatsgefühl des älteren Geschlechts sich noch keineswegs ausgelebt haben«, schrieb Meinecke in seinem Nachruf auf Sybel, »wollen sein [Sybels] Vermächtnis in Treue pflegen, ohne daß wir es deswegen epigonenhaft zum unverrückbaren Dogma erstarren lassen brauchen.«126 Lamprechts Angriff auf das idealistische Erbe der deutschen Geschichtswissenschaft blieb ergebnislos. Allerdings spiegelte sich in den Nummern der >Historischen Zeitschrift < zusehends eine Verschiebung von der überwiegenden Beschäftigung mit politischer und insbesondere preußischer Geschichte zu einer Erörterung von Problemen der Allgemeinkultur wider obschon weniger in der Form von Sozial- und Wirtschaftsgeschichte als vielmehr von Geistes-, Kultur- oder sogar Kunstgeschichte. Im Jahrgang 1900 konnte der Kunsthistoriker Carl Neumann in einer Untersuchung von Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte < bemerken, Burckhardt würde den Zwist zwischen Lamprecht und den traditionsverhafteten Historikern für gegenstandslos gehalten haben, da es sich nur um Stilfragen handle127. Meinecke erkannte nunmehr Lamprechts Beitrag zur deutschen Geschichtswissenschaft an. Im Vorwort zum 100. Band der >Historischen Zeitschrift < (1908) schrieb er, Lamprecht habe letztlich gegen die Beschränktheit und den Ideenmangel der Historiker gekämpft, die zu einseitigen Spezialisten geworden waren. Lamprecht hatte ins geschichtliche Denken Ideen und Theorien einzuführen gesucht, wenn auch die von ihm angestrebte Neuordnung unglücklicherweise »hybrid« gewesen sein mochte. Sybels Optimismus, die richtige Methode der historischen Forschung führe ohne große Schwierigkeiten zu einer »objektiven« Historie, die Bedeutung für die Nation Vgl. Lamprecht, in: H Z 77 (1896) S. Mdnecke ebd., S. 164S. Mcinecke, Heinrich von Sybel, in: H Z 75 (»895) S. 39J. Vgl. Carl Neumann, Griechische Kulturgeschichte in der Auffassung Jacob Burckhardts, in: H Z 8j (1900) S. 39S. m
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habe, hatte sich als irrig erwiesen. Seine Erwartung, die Geschichte nehme für die Allgemeinheit den Platz ein, den bisher die Philosophie gehalten hatte, war ebenso falsch gewesen. Die Philosophie und die Kulturwissenschaften hatten sich den geschichtlichen Sinn angeeignet, den die fachlich beschränkte Historie großenteils eingebüßt hatte. Zudem war Sybels Glaube, der Historiker könne dank der Anwendung wissenschaftlicher Methoden das subjektive Moment in seinen Urteilen zur politischen Geschichte weitgehend ausschließen, verlorengegangen. Die Historie brauchte, wie Meinecke riet, ihr Hauptthema, die konkreten Realitäten von Staat und Nation, nicht aufzugeben; ohne das würde sie zu einem »vagen Dilettantismus«. Zu ihrer Erneuerung bedürfe sie aber der Wiederanknüpfung des Kontaktes mit der Philosophie oder vielmehr mit dem philosophischen Geist128. In > Weltbürgertum und Nationalstaat wollte Meinecke eine Geschichte schreiben, die Politik und Ideenentwicklung verband. »Mein Buch«, sagte er in der Einleitung, »beruht auf der Meinung, daß die deutsche Geschichtsforschung, ohne auf die wertvolle Überlieferung ihres methodischen Betriebes zu verzichten, doch wiederum zu freier Regung und Fühlung mit den großen Mächten des Staats- und Kulturlebens sich erheben müsse, daß sie, ohne Schaden zu nehmen an ihrem eigenen Wesen und Zwecke, mutiger werden dürfe in Philosophie wie in Politik, ja daß sie erst dadurch ihr eigenstes Wesen entwickeln könne, universal und national zugleich zu sein.«129 Thema des Werks ist die Umwandlung Deutschlands aus einer Kulturnation in eine Staatsnation-, seine Voraussetzung ist der Glaube Rankes und der Preußischen Schule an den »realgeistigen« Charakter der Staaten und Nationen - jener Glaube, jede Nation, jeder Staat sei eine Individualität, deren äußere Form eine zwar individualisierte, aber dennoch reale und zeitlose Idee widerspiegelt. Für Meinecke kann die Geschichte der deutschen Einigung somit am treffendsten als eine Geschichte der Ideen nachgezeichnet werden, als der Bericht der allmählichen Realisierung der nur in konkret-historischen Individualitäten und Institutionen sinnvoll in Erscheinung tretenden Ideen durch deutsche Denker und Staatsmänner, sowie der folgenden Gestaltung ii« Y g | . Mcinecke, Geleitwort zum 100. Bande der Historischen Zeitschrift, in: H Z 100 (1908) S. 6. 1,1
Meinecke, W V , S. if.
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Deutschlands zu einem politischen Gebilde, das kosmopolitische Ideen in einer spezifisch nationalen Form widerspiegelte. Der preußisch-deutsche Nationalstaat repräsentierte nicht allein eine politische Errungenschaft; sondern auch die konkrete Bekundung philosophischer Wahrheit. Der Sieg dieser Idee war das Werk großer einzelner und nicht blinder gesellschaftlicher Kräfte. All das gemahnt an Droysen und Sybel. Aber Ideen - und nicht politische und militärische Gründe - scheinen die beinahe eifrigen Triebfedern politischen Wandels zu sein. Das Gespür, das Sybel und Treitschke in einer von der industriellen Revolution noch weniger berührten Epoche für gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren besessen hatten, fehlte Meinecke gänzlich. Die Männer, die nach seiner Ansicht die deutsche nationale Idee schufen, waren vor allem Denker und Dichter: Moser, Herder, Novalis, Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schlegel, Fichte, Adam Müller, Haller, Hegel und Ranke. Obwohl den Staatsmännern nach 1848, als der deutschen Nationalidee ihre Gestalt durch den preußischen Staat gegeben wurde, eine wichtigere Rolle zukam, waren die Brüder Gagern und Bismarck für Meinecke in erster Linie als Denker von Interesse. Meineckes Geschichtssinn verlangte, daß der Prozeß der nationalen Umwandlung in konkreten, individualisierten Formen dargestellt wurde. Bei dieser Umwandlung wurden natürlich nicht einfach kosmopolitische Ideen durch nationale ersetzt; vielmehr entfaltete sich aus der Spannung zwischen beiden ein neues und echteres Verhältnis zwischen universalen und nationalen Idealen. Das ließ sich nicht als ein dialektischer Vorgang auf der Ebene abstrakten Denkens nachzeichnen; es mußte in einen konkreten Zusammenhang gestellt werden, der keine Untersuchung der Veränderungen innerhalb der öffentlichen Meinung, sondern ein Verstehen der großen Persönlichkeiten erforderte. Um die Umwandlung der deutschen Politik historisch darzustellen, bedurfte es deshalb nicht der Sozialgeschichte der breiten Masse, sondern der Biographien der großen »schöpferischen Denker« 130 . Dennoch kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, daß Meinecke in seinen individuellen Biographien den »historischen Sinn«, den er verlangt, ernstlich verletzt. Meinecke versetzte, wobei er sich dessen nicht ganz bewußt gewesen sein mag, die Rankesche Individualitäisauffassung mit einem gehörigen ' » Vgl. ebd., S. i 4 f .
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Schuß Hegelscher Dialektik. Er hatte Droysen kritisiert, weil dieser aus der Geschichte eine Entwicklungsrichtung herausgelesen hatte. Droysen hatte den Individualitätsbegriff ins Wanken gebracht, indem er in der preußischen Geschichte eine deutsche Aufgabe gesehen und darüber Preußen nicht als »autonome Staatspersönlichkeit«, die seinen eigenen Interessen folgte und seinen eigenen einmaligen Charakter entfaltete, gewürdigt hatte131. Die Denker und Staatsmänner jedoch, die Meinecke vorstellte, erschienen weniger um ihrer selbst willen denn als konkreter Ausdruck bestimmter Ideen, als Entwicklungsstufen eines objektiven Prozesses. Da Meinecke in der deutschen Geschichte nicht eine bloße Umwandlung politischer Formen und Ideen erblickte, sondern die allmähliche Annäherung an den wahren Staat, fand er einen abstrakten Maßstab, mittels dessen er die Akteure des Dramas bewerten konnte. Trotz aller seiner Warnungen vor der Anwendung äußerlicher Prinzipien für die Einschätzung eines einzelnen132 ließ er nicht nach, zu moralisieren und die Charaktere seines Stücks nach dem Ausmaß zu beurteilen, in dem sie sich von den Illusionen des Weltbürgertums befreit hatten. Grundlegend für Meineckes Geschichtsauffassung war seine feste Überzeugung, in dieser besten aller möglichen Welten existiere kein eigentlicher Konflikt zwischen den Machtinteressen des Staates und den Prinzipien der Ethik, zwischen der Entwicklung des Nationalismus und der Entfaltung der individuellen Freiheit. Der Staat, der kein bloßer Machtkomplex oder eine Ansammlung von einzelnen ist, sondern die konkrete Manifestation einer universalen Idee, vermag sich wie alle universalen Ideen nur in einer individualisierten, lebendigen Form zu verwirklichen. Alles real Seiende - so der Staat - war deswegen notwendigerweise gut, weil es der Ausdruck eines Ideals war. Fichte hatte einen bedeutsamen Beitrag zur Überwindung des augenfälligen Widerspruchs zwischen Machiavellis Machtvorstellung und jener seiner Kritiker geleistet, indem von ihm »der Machttrieb des Staates als natürlicher und heilsamer Lebenstrieb anerkannt und in den Zusammenhang einer sittlichen Weltanschauung gestellt« worden war133. Der Staat konnte grundsätzlich kein Unrecht begehen, solange er seiner eigensten Entscheidung folgte. »Denn unsittlich kann nicht 111
Vgl. ebd., S. 3 9 1 ; vgl. auch Meineckcs Kritik an Niebuhr ebd., S. 187. ' " V g l . ebd., S. 83. E b d . , S. 94.
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sein, was aus der tiefsten individuellen Natur eines Wesens stammt.«134 Zugegebenermaßen schienen die Interessen des gesunden Staates den Prinzipien von Sitte und Recht zu widersprechen, denn »nicht Friede und Ruhen, sondern Kampf, Sorge und Reibung ist das Schicksal des echten Nationalstaates«. Dieser Widerspruch ergab sich jedoch nur, sobald Ethik mit abstrakten Prinzipien verwechselt und nicht erkannt wurde, daß »höher als das formale geschriebene Recht . . . das ungeschriebene Recht der großen in der Geschichte sich regenden Kräfte« steht135. Die Entwicklung dieser Kräfte hatte nicht allein den deutschen Nationalstaat, sondern auch liberale Institutionen geschaffen. Wie bei der nationalen Einigung mußte auch hierin ein Preußen die Führung übernehmen, das seine geistige Grundlage aus der Kultur der deutschen Nation bezogen hatte. Rückblickend bedauerte Meinecke das Scheitern der Liberalen anno 1848 nicht. Der Lauf der Ereignisse hatte gezeigt, daß Friedrich Wilhelm IV. und Bismarck recht, Männer wie die Brüder Gagern, Droysen und Dahlmann unrecht gehabt hatten; letzteres galt auch für jene Liberalen von 1848, die eine deutsche Einigung auf Kosten Preußens erreichen wollten oder die im preußischen Verfassungskonflikt 1862 die parlamentarischen Rechte über die militärischen und machtpolitischen Bedürfnisse des preußischen Staates gestellt hatten136. Der Weg, den Deutschland eingeschlagen hatte, war der einzige gewesen, der zu einem starken und unabhängigen Nationalstaat führen konnte. Mit Erfolg hatte Bismarck Deutschland eine konstitutionelle Regierungsform gegeben, die geschickt preußische Führung mit dem weiterhin autonomen Fortbestand der deutschen Kleinstaaten in Einklang brachte und parlamentarische Institutionen durch eine starke monarchische Exekutive aufwog. In der Feuertaufe von 1866 und 1870 hatte Bismarck dem Konstitutionalismus, der in der deutschen öffentlichen Meinung allzusehr in Mißkredit geraten war, wieder Ansehen verschafft187. In dieser Zufriedenheit Meineckes mit der unmittelbaren Vergangenheit spiegelte sich ein Freiheitsbegriff wider, der von dem des klassischen westeuropäischen Liberalismus völlig verm m
Ebd., S. 83. Ebd., S. I 8 J . Siehe insbes. ebd.. Zweites Buch, Viertes und Sechstes Kapitel. Vgl. ebd., S. 420.
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schieden war. Für Meinecke war wie für die gemäßigten preußischen Liberalen des 19. Jahrhunderts die Freiheit nur innerhalb einer starken, geeinten Nation von Bedeutung. Er vermochte Bismarcks deutsche Lösung deshalb zu akzeptieren, weil er eine parlamentarische Suprematie noch ablehnte; sogar die bestehende, arg beschränkte parlamentarische Regierungsform betrachtete er mit ausgeprägter Skepsis. Er vermutete, daß »die Einführung parlamentarischer Institutionen in Preußen das preußische Volk im letzten Ende vielleicht mehr zersplittert als vereinheitlicht« hatte138. Erstrebenswert war eine konstitutionelle, nicht eine parlamentarische Regierung 139 . Meinecke konnte darum der konservativen Verfassung, die der preußische König 1848 nach dem Zusammenbruch der revolutionären Bewegung erließ, einen »hochliberale(n) Inhalt« zuschreiben, da sie konstitutionelle Formen einführte140. Mit Friedrich Naumann stimmte er darin überein, daß die Hegemonie Preußens im Deutschen Reich und die gewichtige Rolle der konservativen Kräfte in Preußen einen unseligen Aspekt im Deutschland seiner Tage ergaben. Die politische Macht des Adels und der Großgrundbesitzer stand 1908 kaum im Einklang mit den modernen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, was bewies, daß der Übergang vom »modernisierten altpreußischen Nationalstaate« zum »deutschen Nationalstaate« nicht vollendet war 141 . Dennoch war Bismarcks Lösung, obwohl »noch nicht schlechthin ideal«142, im Interesse nationaler Macht und nationalen Zusammenhalts durchaus notwendig gewesen. »Das Übergewicht . . . der altpreußischkonservativen Tendenzen . . . beruht auf dem ersten und dringendsten Lebensbedürfnis, das die Regierung eines großen europäischen Staatswesens haben muß«; das galt bis zu dem Augenblick, da »der neudeutsche, liberale, bürgerlich-industrielle Boden stark genug« war, um »Machtpolitik und Machtbedürfnisse . . . zu tragen«143. Somit war erforderlich, daß die mittelständischen Liberalen sich nicht nur der Bedeu1,a E b d . , S. 4 4 J ; zuc Erörterung der Einstellung Meincckes zum Parlamentarismus siehe K o towski ( s . o . A n m . 7); Gustav Schmidt, a.a.O. m Vgl.ebd.,S.4i8. Vgl.ebd.,S. 379. 141 E b d . , S . 4 4 6 ; zu Meineckes Stellung zur Bismarckverfassung siehe K o t o w s k i , Friedrich Meinecke als Kritiker der Bismarckschen Reichsverfassung, in: Forschungen zu Staat und Verfassung (Festgabe f ü r Fritz Härtung), Hrsg. Richard Dietrich, Gerhard Ocstreich, Berlin S . 1 4 J - I 6 Z ; Gustav Schmidt, a.a.O. 1,1 E b d . , S. 4 3 8 . i « E b d . , S. 446; vgl. dazu 1. Aufl. 1908, S. 4 9 i f .
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tung der Macht in der Politik bewußter wurden, sondern daß sie auch den Graben zuzuschütten vermochten, der zwischen ihnen und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bestand. Was Meinecke offensichtlich vorschwebte, wenn er es auch nicht aussprach, war die »temporäre Vertrauensdiktatur«, beruhend auf einem wenige Jahre später von ihm geforderten demokratischen Wahlrecht, als die anzustrebende Regierungsform eines deutschen Nationalstaates. Er ist der gleichen Ansicht wie Max Weber, daß die Parlamente das wichtigste Mittel für die Auswahl und den Aufstieg »bedeutender Talente zur Macht« sind144. Diese optimistische Einschätzung des Wesens der Macht erklärt Meineckes Vertrauen in Deutschlands Zukunft beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Seit 1910 hatte der Historiker den Kurs Friedrich Naumanns durch Zeitungsartikel aktiv unterstützt. E r hatte sich der Hoffnung auf eine Versöhnung der deutschen Linken und Rechten hingegeben, auf die Einsicht der Konservativen hinsichtlich der Notwendigkeit sozialer Reformen und auf das Verständnis der Sozialdemokraten für die nationalen Machtbelange. In den Augusttagen 1914 schien die Nation zum erstenmal in einem realen Sinne geeint zu sein; der Krieg hatte dies über Parteien und Klassen hinweg bewirkt und damit die Erneuerung Deutschlands nahegerückt. Meinecke wurde wie Troeltsch, Lamprecht, Cohen und die meisten reformwilligen Intellektuellen von der Woge der Begeisterung mitgerissen. Dreißig Jahre später - inmitten der Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs - schrieb er: »Am 3. August [1914] erlebte ich . . . einen der schönsten Momente meines Lebens, der mir nun wieder ganz plötzlich tiefstes Vertrauen auf unser Volk . . . in die Seele goß. Wir standen in der Kaiserstraße am Martinstor im Gedränge vor dem Nachrichtenkasten der Freiburger Zeitung und lasen das Telegramm, daß der Reichstag die Kriegskredite einstimmig bewilligt habe . . . Also die deutsche Sozialdemokratie wird das Vaterland nicht im Stiche lassen! Damit war nun besiegelt, was durch zwei Jahrzehnte hindurch mein Sorgen, Sehnen und Hoffen gewesen war. Damit war auch gerechtfertigt, was wir vor zwei Jahren in unserem heißen Freiburger Wahlkampf zum Ärgernis mancher uns Nahestehender erstrebt hatten. Noch 14« Vgl. Meineckc, Der Sinn unseres Wahlkampfes (1912), in: Politische Schriften und Reden, W I I , Darmstadt 1958, S. j i f . Z u Mcineckcs Vorstellung einer plcbiszitärcn Diktatur siehe K o towski (s. o. Anm. 7); Gustav Schmidt, a.a.O.
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heute (1944) im Alter nach all den bitteren Erfahrungen von drei Jahrzehnten und den neuen Zersetzungen, Spaltungen und schließlich Vergewaltigungen unseres Volkslebens bejahe ich die Gefühle, die mich in jenem Momente vor dem Nachrichtenkasten der Freiburger Zeitung bewegten.« 145 Meinecke hatte, wie er bald zugab, die dämonischen Untergründe der nationalen Macht noch nicht erkannt. Unerschüttert glaubte er an »den guten Sinn und Gehalt der Machtpolitik und der kriegerischen Zusammenstöße der Völker . . . In dieser Stimmung«, so schrieb er, »hatte ich in > Weltbürgertum und Nationalstaat < die Befreiung des rein staatlichen Denkens und Handelns von universalistischen und weltbürgerlichen Motiven als eine große Errungenschaft des mittleren 19. Jahrhunderts dargestellt.« 146 Was Meinecke vom Krieg erwartete, war nicht die deutsche Weltherrschaft, sondern eine Läuterung des nationalen Innenlebens. In seiner Aufsatzsammlung >Die deutsche Erhebung von I9i4< verglich er den Geist von 1914 mit dem der Befreiungskriege von 1 8 1 3 ; beide eine Stärkung des Glaubens an Nation und Freiheit. Was Deutschlands territoriale Kriegsziele anbetraf, zählte Meinecke wohl zu den maßvollsten Liberalen. Immerhin trat auch er 1915 für eine Annexion von Teilen Polens und Kurlands ein samt der Aussiedlung der nichtdeutschen Bevölkerung und der Rückkehr der Wolgadeutschen. Außerdem war er für Kontrollbefugnisse über Belgien nach dem Krieg, einen harten Frieden mit Frankreich und das Flottengleichgewicht mit England. Allerdings sah er bald ein, wie wenig dies alles in Frage kam, und forderte einen Verständigungsfrieden 147 . Wie Weber und Troeltsch bekämpfte Meinecke den Chauvinismus und den mangelnden Wirklichkeitssinn der Alldeutschen. Seine journalistische Tätigkeit in den letzten Kriegsjahren diente hauptsächlich der zunehmenden Forderung nach Verfassungsreformen, wenngleich sein eigentliches Anliegen die Reform des preußischen Wahlrechts und nicht die Ausweitung der parlamentarischen Befugnisse auf außenpolitische und 141
Meinecke, Straßburg . . . (s. o. Anm. j), S. 157. " « Ebd., S. 193. Uber Meincekcs Haltung zu den Kriegszielen während der ersten Kriegsphasen siehe insbes. seine Briefe in: Ausgewählter Briefwechsel, W V I , Stuttgart 1962; Brief vom j . Mai 19 i j an Walter Goetz, ebd., S. j8f.; Briefe vom 25. Mai und 3 1 . Juli 1 9 i j an A . Dove, ebd., S. 6 1 , 6 j ; Brief vom 22. Oktober 1915 an W. Goetz, ebd., S. 74. Siehe auch Meinecke, Präliminarien der Kriegszicle ( 1 9 1 ) ) , in: W II, S. 1 0 1 - 1 1 3 ; ebenso seine Distanzienjng von einem annexionistischen Memorandum, ebd., S. 1 2 ; . Nach 1917 drängte Mcinccke auf Verhandlungen über eine wechselweise Umsiedlung deutscher und russischer Volkstcile. 147
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militärische Angelegenheiten blieb148. Das wahre Wesen der deutschen Nationalidee machte, wie er den westlichen Kritikern der deutschen Kultur vertrauensvoll versicherte, eine barsche imperialistische Politik seitens Deutschlands unmöglich. Die Welten von Weimar und von Potsdam, von Kant und von Bismarck, verkörperten nicht 2wei völlig getrennte Traditionen; die deutsche Nationalidee, die im Zeitalter der Reformen und der Befreiungskriege entstanden war, bewies vielmehr, wie stetig die beiden Pole aufeinander bezogen waren. Macht und Geist, Staat und Kultur waren ineinander verflochten. Dies unterschied die »nationale Idee« von ihrem verwilderten Abkömmling, dem »Nationalismus«, der - insbesondere in seinen neodarwinistischen und rassistischen Ausprägungen eine europäische Krankheit geworden war 149 . Zum Unglück war die unbedingt nötige Synthese von Kultur und Staat, von Geist und Macht, noch nicht gelungen. Die Geschichte des Menschen zeigt jedoch, wie Meinecke meinte, »eine langsam ansteigende Entwicklung. Die roheren Mittel und Ziele der Machtpolitik weichen den edleren und menschlicheren.« Solch eine höhere »Menschlichkeit der Machtpolitik« bedeutete nicht, daß der Staat seine Interessen mit geringerer Härte verfolgte, sondern daß er in einem immer größeren Ausmaß Kulturziele verteidigte. Während also »in diesen gewaltigen Tagen unsere Kultur ganz in den Dienst des Staates gepreßt wird, dient im Reiche des Unsichtbaren«, behauptete Meinecke, » . . . unser Staat, unsere Machtpolitik, unser Krieg den höchsten Gütern unserer nationalen Kultur« 150 . Im Jahr 1915 wandte sich Meinecke noch vertrauensvoll gegen die Befürchtungen von Otto Hintze und Eduard Meyer, der Krieg bezeichne den beginnenden Verfall der europäischen Kultur 151 . 1916 räumte er in Naumanns Wochenschrift >Die Hilfe < erstmals ein, daß der deutschen »nationalen Kultur« unter Umständen ausgeprägtere Tendenzen zur Entartung in einen »rücksichtslosen Nationalismus« und zum Mißbrauch 118 Vgl. Meinecke, W V I ; ders-, Straßburg... (s. o. Anm. j ) : den ausführlichen Bericht über seine politische Tätigkeit während des Krieges; ders., W I I ; Kotowski, Einleitung des Herausgebers, W I I , S. 2 1 - 3 2 ; ders. (s. o. Anm. 7); Sterling, a.a.O.; Schwabe, a.a.O.; Gustav Schmidt, a.a.O. 11» Vgl. Meinecke, Nationalismus und nationale Idee, W I I , S. 86; der Aufsatz war kurz v o r Kriegsausbruch verfaßt und zuerst in >Die deutsche Erhebung von 1914* veröffentlicht worden. Vgl. auch: ders., Kultur, Machtpolitik und Militarismus, in; Deutschland und der Weltkrieg, Hrsg. Otto Hintze u. a., S. 617-643. 140 Meinecke, Politik und Kultur, ebd., S. 8of.; der Aufsatz wurde wenige Tage nach Kriegsausbruch geschrieben. 1S1 Vgl. Meinecke, Brief vom 7. November 1 9 1 J an Wiily Andreas, W V I , S. 76.
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geistiger Werte im Dienste der nackten Gewalt innewohnten als dem westeuropäischen Militarismus 158 . Um 1 9 1 7 wurde er sich des furchtbaren Zwiespalts bewußt, der darin bestand, daß der moderne Krieg nicht mehr als »ein taugliches Mittel zur Fortsetzung der Politik, zur Erzwingung bestimmter Lebensbedürfnisse« 153 betrachtet werden dürfe, daß aber der Machtkampf zwischen Staaten und Völkern letztlich eine unausweichliche Bedingung des politischen Lebens und des dem Menschen eingeborenen Machttriebs sei. Der Verlauf des Krieges hatte somit den in > Weltbürgertum und Nationalstaat vertretenen objektiven Idealismus samt seiner optimistischen Voraussetzung einer grundsätzlichen Harmonie von Geist und Macht, von Irrationalismus und Vernunft, widerlegt. Meineckes erstes größeres Werk nach dem Krieg und insgesamt eines seiner bedeutendsten, >Die Idee der Staatsräson Weltbür111 Vgl. Mcinecke, Die deutsche Geschichtswissenschaft und die modernen Bedürfnisse, in: Die Hilfe zz (1916) S. z z j . 1M Meinecke, Dcmobilmachung der Geister, W II, S. 198. Zit. nach Walther Hofer, Einleitung des Herausgebers, W I (s. u. Anm. t;6), S. V I I . 1 » Vgl. Meinecke, Straßburg . . . (s. o. A n m . ; ) , S. 1 9 1 - 1 9 4 .
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D i e » K r i s e d e s H i s t o r i s m u s « II
gertum und Nationalstaat < eine fortschrittliche Lösung der Probleme der Macht und des Geschichtsverständnisses im modernen Nationalstaat erblickt worden war, so wurde in >Die Idee der Staatsräson < das stets wiederkehrende Problem, hervorgerufen durch die Spannungen zwischen Macht und Geist, als einer zufriedenstellenden Lösung unzugänglich gesehen. Politische Macht und Staat erwiesen sich nicht nur als Schöpfer von Kulturwerten, sondern auch als ihre Zerstörer. Nunmehr erschienen Macht und Ethik, Natur und Geist Meinecke als gegensätzliche und einander unablässig bekämpfende Kräfte. Der elementare Machttrieb als solcher ermangelte des geistigen Inhalts. Er war nicht Bestandteil einer Hegeischen Weltökonomie oder konkreter Ausdruck geistiger Kräfte, wie Ranke gemeint hatte. Der objektive Idealismus, der in Meineckes Vorkriegsschriften zutage getreten war, wich jetzt also einer dualistischen Auffassung der Wirklichkeit. Was Meinecke davon abhielt, eine betont pessimistische Theorie des Staates und der politischen Macht zu entwerfen, war seine Definition der »Staatsräson«. Demnach mußte diese »die Maxime staatlichen Handelns« begründen, die »ideale Linie«, nach der sich ein Staat in jedem Augenblick zu richten hatte, um sich selbst zu erhalten und zu wachsen 156 . Die Idee der »Staatsräson«, behauptet Meinecke, ist von einer abstrakten Staatstheorie strikt zu unterscheiden. Sie bestimmt die staatlichen Interessen nicht nach dem Bild eines idealen Staates, sondern gemäß dem konkret existenten Staat 157 . Dennoch ist die »Staatsräson« nicht mit »Machtpolitik« identisch, denn die Behauptung und Schaffung geistiger und moralischer Werte kann eine wichtige Rolle bei der Festigung oder Ausweitung der staatlichen Macht spielen. Die Aufgabe des Staatsmannes ist es, das von jeder Situation geforderte Gleichgewicht von Ethos und Macht zu bewahren. Für Meinecke besteht also eine gewisse Harmonie von Geist und Macht weiter. »Zwischen Kratos und Ethos«, schreibt er, »zwischen dem Handeln nach Machttrieb und dem Handeln nach sittlicher Verantwortung', gibt es auf den Höhen des staatlichen Lebens eine Brücke, eben die Staatsräson, die Erwägung dessen, was zweckmäßig, nützlich und heilvoll ist, was der Staat tun muß, um das Optimum seiner Existenz jeweils zu erreichen.« 158 1,1
Vgl. Meineckc, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, W I , München 1957, S. 1. Vgl. ebd., S. i t . >"Ebd.,S. j.
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Diese Harmonie ergibt sich jedoch nicht von selbst. Meinecke vertraute weiterhin darauf, daß der Staat unmittelbar 2u der Schöpfung höherer Werte beitrage, da er zu seiner Existenz ethischer Kräfte bedurfte. Niemals wäre die Hochkultur entstanden, hätte es nicht den elementaren Machttrieb der alten Despoten gegeben. Solche Macht kann keinesfalls auf schierer Gewalt fußen; sie muß stets, wenn auch in primitiver Weise, dem im Menschen liegenden Bedürfnis nach Vergeistigung des Natürlichen entsprechen158. Um ihrer Selbstbehauptung willen muß die Macht Gesetz und Sittlichkeit schaffen. So tragen die Erfordernisse der Macht dazu bei, den Staat aus dem Zustand willkürlich-persönlicher Gewalt in eine »sittliche Anstalt zur Förderung der höchsten Lebensgüter« zu transponieren180. Weil der Staat jedoch auf dem heiklen Wechselspiel von elementaren Machttrieben und Geist beruht, ist er stets von Rückfällen in die Barbarei bedroht. Diese Rückfälle ergeben sich nicht aus der persönlichen Schwäche der im Staate Mächtigen, sondern aus dem eigentlichen Wesen des Staates. Alle anderen sozialen Gebilde können streng nach idealen Maßstäben aufgebaut und geleitet werden. Ihre Normen mögen in der Praxis zwar verletzt werden, in der Theorie aber bleiben sie unversehrt. Der Staat jedoch verfügt nicht einmal über eine »saubere Theorie des staatlichen Lebens«, insbesondere auf dem Gebiet der Außenpolitik, wo er bereit sein muß, die elementaren und kulturzerstörenden Kräfte des Krieges zur Verteidigung seiner Rechte zu entfesseln. Der Staat muß sich mit Schuld beflecken, indem er Gesetz und Sittlichkeit verletzt. »Das ist die furchtbarste und erschütterndste Tatsache der Weltgeschichte«, bemerkt Meinecke niedergeschlagen, »daß es nicht gelingen will, gerade diejenige menschliche Gemeinschaft radikal zu versittlichen, die alle übrigen Gemeinschaften schützend und fördernd umschließt.«161 Eine Lösung des Problems ist nicht möglich. Der Machttrieb lebt ebenso in allen Epochen wie das Bemühen der Staatsmänner, ihn zu zähmen. Einer Änderung unterworfen sind die jeweiligen Situationen der Staaten, ihre konkreten Interessen in jedem Augenblick, und die Auffassungen der Staatsräson, die sich aus der Wechselwirkung dieser Interessen mit den herrschenden Weltanschauungen ergeben. Ohne zur Lehre von der Staats-
1,1
Vgl. ebd., S. 4 . , 13. Ebd., S. ij. Ebd., S. 14.
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räson etwas Neues beizutragen, konnte Meineckes Buch somit nur den »tragischen« Bericht von den unaufhörlichen Konflikten der Idee der Staatsräson mit den herrschenden Philosophemen und Weltanschauungen des modernen politischen Denkens wiedergeben162. Der Historiker kann also höchstens die Lebensvorgänge im Rahmen der großen, in der Geschichte wirkenden Kräfte betrachten; niemals kann er die Beschaffenheit des Geistes oder das ideale Verhältnis von Geist oder Sittlichkeit zu den konkreten Situationen der geschichtlichen Realität bestimmen163. Meinecke sah das zentrale Thema des politischen Denkens seit der Renaissance in der Spannung zwischen der Naturrechtslehre und den harten, »unvermeidlichen« Tatsachen des geschichtlichen und politischen Lebens164. Die Idee des Staates als Macht, als eine Realität mit vitalen Interessen und einem eigenen Willen, und die Vorstellung vom Staat als einem Mittel zur Wohlfahrt, ethischen Gesetzen untergeordnet, standen einander in einem komplexen Verhältnis gegenüber und durchdrangen sich gegenseitig. Die Bedürfnisse des absoluten Staates weckten in der frühen Neuzeit die Beschäftigung mit der Staatsräson. Diese Idee bereitete, indem sie alle überkommenen ethischen und politischen Normen in Frage stellte, den Weg zur Aufklärung 165 . Letztere wandte sich wiederum gegen die Staatsräson und wirkte zur Zerstörung des nämlichen Absolutismus mit, der die Idee ins Leben gerufen, sie aber auch in Grenzen gehalten hatte. Realitäten und Lebenserfahrungen zwangen den aufgeklärten Staatsmann, ob es sich nun um Friedrich den Großen oder einen Politiker der Französischen Revolution handelte, zur Einsicht, daß der Staat eine »Lebensmacht« war166. Aus dieser wechselseitigen Beeinflussung - die zu komplex ist, um auf eine einfache Entwicklungslinie gebracht werden zu können 167 - erwuchs ein tiefer Geschichtssinn und damit ein weiterreichendes Verständnis des Staates als einer konkreten, historischen Individualität. Ein solches Verständnis für den äußerst individuellen Charakter des Staates war Machiavelli noch abgegangen, als er allgemeine Leitsätze für politisches Handeln aufstellte. Ein umfassendes Verständnis Vgl. ebd., S. 25. Vgl. ebd., s. 10. Vgl. ebd., S. 40)f. Vgl. ebd., S. 241. Vgl. ebd., S. )6ff., 407f. " ' V g l . ebd., S. 245. 1,1
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für das Wesen des Staates beseitigte jedoch keineswegs den Zwist zwischen den staatlichen Interessen und den ethischen Forderungen. In der Identitätsphilosophie hatte das deutsche Denken des 19. Jahrhunderts eine grandiose Synthese von individuellem Willen und universaler Ordnung entworfen, die bis zum Ersten Weltkrieg einsichtig schien. Hegel, der die Quelle der Vernunft in der Geschichte, kaum im individuellen Bewußtsein gesucht hatte, war es zu zeigen gelungen, daß auch der Staat rational ist und mittels der Erfüllung seiner machtpolitischen Bedürfnisse einem höheren moralischen Zweck dient. Indem er aber den Staat in ein großes welthistorisches Schema preßte 168 , unterschätzte Hegel die Individualität des Staates. Noch schwerer wiegt, daß er die Grundlage eines neuen, radikaleren Machiavellismus schuf, weil er die Machtinteressen der souveränen Staaten als die Mittel betrachtete, durch die der absolute Geist zur Vollkommenheit voranschreitet. Machiavelli hatte erkannt, daß die Staatsräson es erforderlich macht, gelegentlich im Widerspruch zu moralischen Prinzipien zu handeln, doch er beanspruchte niemals für solche Taten eine moralische Rechtfertigung. Die Staatsräson blieb für ihn außerhalb der Moral, während sie für Hegel zum Grundstein der ethischen Ordnung wurde. Krieg, Vertragsbruch, Verrat konnte Hegel als »List der Vernunft« bezeichnen, die auf das höchste Ziel gerichtet war. »Es war fast wie die Legitimierung eines Bastards, was hier geschah«, urteilt Meinecke 169 . Allerdings hat auch Ranke das Problem durch die Betonung der Individualität des Staates nicht gelöst. Vielleicht würde gerade dies zu einer »Anarchie der Werte« geführt haben, zu dem ausgeprägten Relativismus, der den deutschen Historismus bedrohte. Daß es jedoch nicht eintrat, war darauf zurückzuführen, daß in Rankes Historismus nicht nur beachtliche Elemente der Identitätsphilosophie enthalten waren, sondern auch naturrechtliche und christliche Bestandteile 170 . Durch seine Werke ging ein tiefreichender, unversöhnlicher Zwiespalt: einerseits Ranke, der Historiker, andererseits Ranke, der Christ. Rankes Geschichtssinn ließ ihn jede Epoche an den ihr innewohnenden Normen beurteilen; sein sittliches Bewußtsein forderte transzendente Werte. Daher >" Vgl. ebd., S. 417. Ebd., S. 411. Vgl. ebd., S. 443.
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vermochte er niemals Machiavellis Prinzipien zu übernehmen oder nur zu entschuldigen, obgleich er die Staatsräson als legitime Lebensäußerung der Staaten - als Persönlichkeiten in einem höheren Sinn - anerkannte171. Hegels »Lehre, wonach der Weltgeist die Dinge gleichsam durch Betrug hervorbringt und sich der menschlichen Leidenschaften bedient, um seine Zwecke zu erreichen, liegt eine höchst unwürdige Vorstellung von Gott und Menschheit zugrunde«172. Dennoch rückt Ranke nahe an Hegel, wenn er optimistischerweise von den Machtkämpfen in der Geschichte meint, sie hätten beinahe stets höheren Werten zum Durchbruch verholfen, und es habe »wenige wichtige Kriege« gegeben, »von denen sich nicht nachweisen läßt, daß die wahre Energie den Sieg behauptet«. Politischer Macht haftete für ihn immer etwas Geistiges an 173 . Was Ranke davor bewahrte, Hegels Schlußfolgerungen über die Unantastbarkeit der Staatsräson und der Machtpolitik nachzuvollziehen, war seine Religiosität. »Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen und das Sittengesetz in seiner Brust hielten ihn ab, den letzten Schritt zu tun, die Weltgeschichte und ihren höchsten Träger, den Staat, zum Gotte zu machen, und die Staatsräson schlechthin über die Moral zu stellen.«174 Extremer noch als Hegels Aufwertung der politischen Macht war jedoch, wie Meinecke nun erkannte, die seines eigenen Lehrers Treitschke, der im Staat nicht nur eine ethische Institution gesehen, sondern in späteren Jahren den Staat mit schierer Macht identifiziert hatte. Das natürliche Element im Machtstreben wurde bei ihm ein sittliches Absolutum, das sich im ewigen Kampf ums biologische Dasein historisch konkretisierte176. Von der Identitätsphilosophie hatten die deutschen Historiker einst die Lösung des Problems des Konflikts von Macht und Ethik erhofft; stattdessen hatte sie zur Verherrlichung der Macht und zum Abbruch der letzten, sie eingrenzenden Barrieren geführt. Erst der Weltkrieg hatte dies, wie Meinecke bekannte, den »historisch Denkenden« einsichtig gemacht. Eine Untersuchung der geistigen und sozialen Tendenzen des 19. Jahrhunderts würde die Gefahren der optimistischen EinVgl. ebd., S. 4J8F. E b d . , S . 449 (Zitataus: Ranke, Uber die Epochen der neueren Geschichte, in: Weltgeschichte, 9. Teil, 2. Abt., Leipzig 1888, S. 7). Ebd., S. 452; Tgl. Ranke, SW 49/50, S. 527. 1,4 E b d . , S. 4J9. • ' • V g l . ebd.. S. 4 7 , - 4 7 7 . 1,1
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Stellung zur Macht und das Ausmaß, in dem die moderne technische Zivilisation sich gegen die europäische Kultur gewandt hatte, offenbar werden lassen. Die Staatsräson hatte zu dieser Entzweiung unmittelbar beigesteuert. Der »Macht- und Lebenswille« der modernen Staaten hatte die wirksam rationalisierte Verwaltungsmaschinerie als Machtinstrument aufgebaut und die geistigen Kräfte wachgerufen, die diesen Übergang ermöglichen: freies Denken, Utilitarismus und Rationalismus. Das Ergebnis war die Zerstörung der überlieferten ethischen und geistigen Einschränkungen der Macht gewesen. An wirksamen geistigen Kräften waren zuerst die Kirche, dann das humanitäre Ideal der Aufklärung und schließlich der ethische Individualismus des 19. Jahrhunderts zusammengebrochen. Die Humanität wurde durch die fortschreitende Rationalisierung und Technisierung des Lebens in Frage gestellt. Die drei neuen Kräfte des Militarismus, Nationalismus und Kapitalismus hatten die Staatsräson radikalisiert und das Wesen des Krieges revolutioniert. Der Aufstieg der modernen Demokratie, von Massenemotionen beherrscht, hatte die Fähigkeit der Staatsmänner, rational die Staatsinteressen zu vertreten, immer mehr eingeengt. Die Idee der Staatsräson rief dämonische Gewalten hervor, die sie nicht mehr loswurde und die Europa und seine Kultur zu zerstören drohten. Gerade diesen Gewalten hatte die deutsche idealistische Philosophie durch ihre optimistische Einschätzung der Macht als einer ethischen Größe geholfen frei zu werden176. Nach der Ansicht Meineckes drängt sich die Folgerung auf, »daß das Vernünftige wohl sein soll, aber nicht schlechthin ist. Die Kluft zwischen Sein und Sollen erscheint uns größer, die tragische Schuld der Machtkämpfe deshalb schwerer als dem älteren deutschen Idealismus, der die Offenbarung Gottes in der Geschichte nicht groß, gewaltig und umfassend genug sich vorstellen konnte und auch die Abgründe des Lebens von ihr beglänzt sah.« 177 Obwohl die europäische Kultur bedroht ist, ist sie doch nicht notwendig zum Untergang verurteilt; das ist Meineckes Trost für seine Leser. Rankes Optimismus hinsichtlich der Staatsräson kann nicht mehr geteilt werden: »Die geschichtliche Welt liegt dunkler und in dem Charakter ihres ferneren Verlaufes ungewisser und gefahrlicher vor uns, als er und die 1,1
Vgl. ebd., S. 481-499. Ebd., S. 477.
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Generationen, die an den Sieg der Vernunft in der Geschichte glaubten, sie sahen.« Angesichts dieser furchtbaren Tatbestände müssen wir neue Dämme gegen die Macht bauen und die Beziehung der Politik zur Moral wiederherstellen, die im Lauf des 19. Jahrhunderts zerbrochen ist178. Das war keine einfache Lösung. Die Beziehung des deutschen Denkens zum westeuropäischen, zum christlichen, zum naturrechtlichen Traditionsstrom, die vom deutschen Historismus und der idealistischen Philosophie abgebrochen worden war, mußte erneuert werden. Eine bloße Rückkehr zur Naturrechtslehre war allerdings nicht möglich. Weder die Naturrechtslehre in ihrer westeuropäischen Ausprägung noch der deutsche Historismus hatten einen wirksamen Wall wider die »moderne Hypertrophie der Staatsräson« errichtet. Das westeuropäische Denken war gescheitert, weil es kein organisches Band zwischen der abstrakt aufgefaßten politischen Ethik und den konkreten Realitäten des politischen Lebens knüpfen konnte. Das deutsche Geschichtsdenken hinwiederum hatte durch die Idealisierung der politischen Macht als Teil einer höheren sittlichen Ordnung den Weg für eine krude, naturalistische und biologische Ethik der Gewalt geebnet179. Das erstere hatte zwar den Dualismus von Geist und Natur, von dem, was sein sollte, und dem, was ist, erkannt, es jedoch versäumt, die beiden in eine organische Verbindung zu bringen. Das letztere hatte das Leben durchaus organisch betrachtet, dabei aber die Trennungslinie zwischen den beiden Bereichen verwischt, die für eine sinnvolle politische Ethik notwendig war. Nach Meineckes Überzeugung bietet sich als Ausweg aus diesem Dilemma die Idee der Individualität an. Zwar war im Lauf des 19. Jahrhunderts diese Idee durch ihren unglückseligen Bund mit der Identitätsidee kompromittiert worden - die Identitätsphilosophie hatte sich als gefährlicher Fehlgriff erwiesen doch Meinecke beharrt darauf, daß die »historische Individualitätsidee sich auch weiter als unentbehrlicher Schlüssel zum Verständnis der geistig-natürlichen Erscheinungen bewährte«. Im Rahmen der Individualitätsidee findet eine Auffassung Platz, die den einzelnen oder den Staat als ein organisches Ganzes ansieht, jedoch eine Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte, anerkennt180. Ebd., S. 4 9 9 . Vgl. ebd., S. Ebd., S. joi.
J02.
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Man vermag Meinecke hier nur schwer zu folgen. Auf der einen Seite zieht er das Bedürfnis nach dem »allgemeinen reinen und strengen Ideal der Sittlichkeit«, nach dem »allgemein verbindlichen Moralgesetz« in Betracht, auf der anderen Seite lehnt er eine sich aus dieser Haltung ergebende rationale Ethik ab. Die Ethik muß allgemein, aber nicht abstrakt sein. Daher verwirft er Kants Formulierung des kategorischen Imperativs. In der Kantschen »generellen Ethik, dem allgemein verbindlichen Moralgesetze, spricht das Göttliche im Menschen rein und unvermischt zu ihm. In der individuellen Ethik hört er es mit den dunklen Untertönen der Natur verbunden . . . Denn Leben ist nichts anderes als die rätselhafte Gemeinschaft von Gott und Natur, die ursächlich miteinander verbunden sind und doch wesenhaft auseinanderklaffen.« 181 Wiederum nähern wir uns hier in bedrohlicher Weise der von Meinecke zurückgewiesenen Identitätsphilosophie. Jeder einzelne muß aus sich heraus verstanden werden, nach Normen, die er unmittelbar und subjektiv versteht. Diese Normen aber, betont Meinecke, sind - obschon von einem einzelnen zum anderen verschieden - Teil einer höheren ethischen Ordnung, eines universalen Sittengesetzes, das sich in individuellen Formen ausprägt. Auf solche Weise vermag Meinecke beachtlich viel von dem zu retten, was dem deutschen Historismus und Idealismus lieb und teuer war. Wenn er auch zugibt, daß eine von der allgemeinen Sittlichkeit abgesonderte politische Moral unhaltbar ist, so plädiert er doch noch für den Staatsmann, der im Sinn einer individualisierten Ethik handelt, indem er die Staatsinteressen über alle anderen moralischen Erwägungen stellt. »Der Staatsmann, der an Konflikte von Politik und Moral glaubt, die Individualität des Staates retten zu müssen auf Kosten der Moral, handelt nicht nach einer besonderen Staatsmoral, sondern aus jener umfassenderen individuellen Ethik heraus.« 182 Wenn dies zutrifft, dann muß zwischen den Machtinteressen der Staaten und einer höheren Ordnung der Dinge irgendeine Art von Identität bestehen. Nach Meineckes Überzeugung geht die ärgste Bedrohung der modernen internationalen Ordnung nicht von der Lehre von den Staatsinteressen aus, sondern von dem Einschleusen emotional-demagogischer Elemente in die Außenpolitik der heutigen Regierungen. Nicht Ebd.,S. JOJ. Ebd., S. J 0 4 .
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Machtpolitik und Wettrüsten haben an den Rand des Abgrunds geführt, sondern Nationalismus und Demokratie. »Wenn überall in der Welt Starke neben Starken wohnten und kein schwacher, fauler Fleck dazwischen übrig bliebe, so wäre das in der Tat eine hohe Bürgschaft für den Weltfrieden.«183 Bismarck war der letzte Staatsmann, der das wirklich wußte; der letzte auch, der die unverfälschte Staatsräson vor nationalistischideologischen Irrwegen zurückhielt184. Demgemäß kehrt Meinecke in gewissem Sinn an seinen Ausgangspunkt zurück, wenn auch als ein älter und weiser gewordener Gelehrter, der die furchtbaren Gefahren, die aus der Lehre von der Staatsräson erwachsen können, erfahren und verstanden hat. Obschon er sich von mancherlei Illusionen befreit hat, beharrt er doch darauf, daß die Staatsinteressen positiv zu begreifen sind. Trotz seines Zugeständnisses, daß eine sinnvolle politische Ethik ein dualistisches Menschenbild erfordere, eine Spannung zwischen dem Seienden und dem Seinsollenden, ist er letztlich auf die einmal verworfene Identitätsphilosophie zurückgekommen. Die Individualitätsauffassung, wie sie Meinecke vertritt, ist unrettbar mit der Identitätsidee verflochten. In der Sphäre individueller Ethik gilt als die vordringlichste Aufgabe die Bewahrung und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Im Bereich internationaler Beziehungen wird dies durch die Voraussetzung kompliziert, mit der Meinecke sein Buch beginnt: »Der Staat ist auch ein individuelles Gebilde mit eigentümlicher Lebensidee« 185 ; also richtet sich der Staat in seinen Beziehungen zu anderen nicht nach einer äußeren Norm wie dem Völkerrecht 186 . Die wichtigste Aufgabe des Staates ist die Entfaltung seiner Möglichkeiten. Meinecke versteht - ganz in der deutschen Tradition des 19. Jahrhunderts - als Möglichkeiten in erster Linie solche politischer und militärischer und nicht wirtschaftlicher, kultureller oder sozialer Natur. Mit der klassischen liberalen Idee vom Staat als einem Mittel zur Wohlfahrt jener Individuen, aus denen er besteht, wollte er sich nicht befreunden; der Staat blieb für ihn Selbstzweck. Obwohl er sich der Schattenseiten des' Staates bewußt geworden war und vor seiner Vergötzung gewarnt hatte, sah er ihn dennoch weiterhin in einer Aura des Heiligen. Von seinen pessimistischen Einsichten in das Wesen poli>•• Ebd., S. 494. Vgl. ebd., S. 497. Ebd., S. 18. " • V g l . ebd., S. 15-17.
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tischer Macht hätte Meinecke logischerweise zu einem eindeutigen Dualismus von Geschichte und Ethik, zur Trennung zwischen der Welt der geschichtlichen Wirklichkeit mit ihren sich widerstreitenden Interessen und einem Reich sittlicher Normen gelangen müssen. In dieser Lage befanden sich die Vertreter des Naturrechts ebenso wie Max Weber mit seinem ethischen Relativismus. Jeder von ihnen - obschon von äußerst unterschiedlichen Ausgangspunkten her - erkannte realistisch den ethischen Irrationalismus, der in der Welt der Geschichte herrscht. Meinecke war damit aber nicht einverstanden. Er glaubte weiterhin fest an die Manifestation realer Werte in der Geschichte. Für ihn gab es keinen Dualismus von Seiendem und Sollendem, von positivem und natürlichem Recht, sondern von Macht und Geist. Der Staat geriet nicht aufgrund der Gegensätzlichkeit von historischer Individualität und moralischen Normen in Konflikt mit den letzteren, sondern »weil er stärker als fast alle anderen historischen Individualitäten an naturhafte, biologische Notwendigkeiten gebunden ist und von ihnen gehindert wird, sich ganz zu vergeistigen und versittlichen«187. Meinecke behielt sein Vertrauen bei, daß der Geist in seinen mannigfachen Entwicklungen den Willen Gottes widerspiegelt und nicht in die Irre führen kann. Die nächsten anderthalb Jahrzehnte konnte Meinecke somit seiner angekündigten Untersuchung des modernen Historismus widmen. Er löste das Problem der Dämonie der Macht, indem er die Verknüpfung von geschichtlichem Denken und Staatstheorie, die seine Vorkriegswerke gekennzeichnet hatte, aufgab. Nun suchte er die Wurzeln des modernen Historismus »in dem ganz unpolitischen Gebiete seelischer und weltanschaulicher Wandlungen«188. Nicht Politik, sondern Religion und Kunst waren die höchsten Kulturwerte, da sie am deutlichsten von der naturhaften, biologischen Welt abgehoben waren; ihnen am nächsten kamen Philosophie und Wissenschaft189. Wenn er auch die Auswirkung dieser Kulturwerte im täglichen Leben und in der politischen Realität anerkannte, galt ihm das reine Kontemplative doch als einer der höchsten Werte190. Er glaubte deshalb, die Geschichte des modernen Meinecke, Kausalitäten und Werte in der Geschichte, W I V , S. 8 j . Meinecke, Straßburg... (s. o. Anm. j), S. 192. Meinccke, W I V , S . 8 j . Vgl. Meineckc, Emst Trocltsch und das Problem des Historismus, W I V , S. 378. Mcinecke tadelt Trocltsch, weil dieser ein praktisches Kultutprogramm von der Geschichtswissenschaft verlangt habe. 1,a
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Historismus müsse als eine Ideengeschichte geschrieben werden. In seiner 1923 geschriebenen Rezension von Ernst Troeltschs >Der Historismus und seine Probleme < legt Meinecke auf wenigen Seiten alle grundlegenden Ideen seines anspruchsvollen Werkes >Die Entstehung des Historismus < dar. Er preist die Abkehr des deutschen Geistes von den Hauptadern der europäischen Kultur im späten 18. Jahrhundert als eine der »größten Revolutionen im menschlichen Denken« 191 . Diese Revolution hat, wie er frohlockt, den Einfluß der engen, starren Philosophie des Naturrechts gebrochen, den letztere bis zum Positivismus auf das abendländische Denken ausgeübt hat. Eine Reihe von Denkern - von Leibniz über Herder, Goethe, Humboldt und die Romantiker bis zu Ranke - war immer tiefer in die dynamisch-lebendige Beschaffenheit der menschlichen Wirklichkeit eingedrungen; das geschah mit Hilfe der Individualitätsidee. Troeltsch beschreibt sie als »die Idee der unnachahmlichen, eigenartigen, nach eigensten organischen Lebensgesetzen sich entwickelnden Individualität, die mit den Mitteln des logischen Denkens, geschweige denn des mechanischen Kausalgesetzes nicht zu begreifen ist, sondern mit der Totalität aller geistigen Kräfte aufgefaßt, angeschaut und erlebt oder nacherlebt sein will« 192 . Meinecke fügt hinzu, diese Idee berge die Gefahr des Relativismus in sich, weil gemäß ihr sich alle Individualitäten - ob nun »einzelne Individuen« oder »die Kollektivgebilde der Geschichte, Staaten, Nationen, Religionen, überhaupt alle Kulturerscheinungen, ja die ganzen Kulturen« 193 - nach ihren eigenen Entwicklungstendenzen und nicht nach allgemeinen Gesetzen entfalten. Das scheint aber nur so zu sein, denn wir entgehen der Anarchie der Werte, indem wir realisieren, daß jede Individualität ihr eigenes Ideal in sich trägt. Damit sind wir zu Ranke zurückgekehrt. Die Einsicht einer solchen »Wertrelativität« ist aber nicht mit Relativismus gleichzusetzen, insofern wir den Glauben »an einen gemeinsamen Urgrund, aus dem alle Individualitäten emporsteigen«, zu behaupten wissen. In jeder Individualität sind das »Faktische« und das »Seinsollende« ineinander verflochten. Unsere ethische Aufgabe ist es, dieses individuelle Ideal zu entdecken und die eine IndiviEbd., S. 371; vgl. W III, S. t. » ' Ebd., S. 373f. Ebd., S. 374. 1,1
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dualität über die ausschließlich naturhafte und biologische Ebene hinaus dem Ideal anzunähern194. Der Strom des Geschichtlichen droht alles zu relativieren. Weder eine romantische Verklärung der Vergangenheit noch eine optimistische Fortschrittsphilosophie vermögen dem Strom zu entrinnen, da beide ihre Ziele im Dahinfließenden fixiert haben. Nur vertikal ist ein Entkommen möglich, indem das Ewige im Historischen gefunden wird. Das war die Absicht Goethes, Rankes und Troeltschs; nach Meineckes Ansicht stellt es die einzige Antwort auf die Probleme des historischen Relativismus dar195. Meinecke schloß mit den politischen Einrichtungen Westeuropas seinen Frieden. Er wurde ein aufrichtiger Verteidiger der Weimarer Republik wider ihre Feinde von rechts und links, obschon seiner politischen Haltung nunmehr die ideologische Begründung in seinen wissenschaftlichen Werken fehlte, die seiner vormaligen Bestätigung des Bismarckreiches zugrunde lag 196 . Politik und Wissenschaft schienen bis zu einem gewissen Grad zwei getrennte Lebenssektoren darzustellen197. Philosophisch blieb er ein ausgeprägter Gegner Westeuropas, insbesondere der aufklärerischen Strömungen, und ein Anhänger der deutschen Tradition. In politischer Hinsicht mochte Deutschland den falschen Weg gegangen sein, doch seine Überlieferung im Reich der Werte und Erkenntnisse war im wesentlichen intakt. Hinter Meineckes Individualitätsbegriff stand ein tiefes Mißtrauen gegenüber aufgeklärtem Rationalismus und Nützlichkeitsdenken, als dessen Fortsetzung er den Positivismus des 19. Jahrhunderts ansah. Wenn er auch Spenglers »groben und rohen Naturalismus« und seine politischen Konsequenzen scharf ablehnte198, so teilte er doch dessen Ansicht, der moderne Rationalismus sei in erster Linie für die Bedrohung der Kultur durch die technische Zivilisation verantwortlich. Der Vorrang des Verstandes behindert das Wachstum der Kultur, die nicht dasselbe wie menschliche Wohlfahrt, Frieden oder Demokratie ist. »Kultur tritt erst da ein, wo der Mensch mit seiner Innerlichkeit, nicht nur mit dem Willen und Verstände den Kampf mit '•< Ebd., s.
376. V g l . Meinccke, Geschichte und Gegenwart, ebd., S. 9Sf. im V g l . Walter Bußmann, Politische Ideologien zwischen Monarchie und Weimarer Republik, in: H Z 190 (i960) S. j 5—77; insbes. aber Georg Kotowski(s. o. Anm. 7 und 1 4 1 ) ; Gustav Schmidt, a.a.O. 1,1
V g l Meinecke, W I V , S. 378. m
V g l . Mcinecke, Über Spenglers Geschichtsschreibung, ebd., S. 186.
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der Natur aufnimmt, wo er wertend im höheren Sinne handelt, das heißt, wo er etwas Gutes oder Schönes um seiner selbst willen schafft oder sucht oder das Wahre um seiner selbst willen sucht.«1*9 Demnach betrachtet Meinecke trotz seiner Betonung der Individualität den einzelnen nicht als konkrete Existenz, als Selbstzweck. Der einzelne existiert für ein Ziel, das allein von dem Ideal, das sich in ihm ausprägt, bestimmt wird. Für diese überpersönlichen Idealwerte muß der einzelne sein Wohlergehen, sein Glück zu opfern bereit sein. Meineckes Individualitätsvorstellung tut der Einzelpersönlichkeit damit weit mehr Abbruch als die Naturrechtslehre, die ein allen Menschen gemeinsames Vernunftelement anerkennt. >Die Entstehung des Historismus < - 1936 veröffentlicht zeichnet die Revolution gegen das aufklärerische Menschenbild im weitgespannten Rahmen der europäischen Geistesgeschichte nach. Angesichts der nationalsozialistischen Machtergreifung, die ihn zutiefst betroffen machte, wollte er den Triumph des deutschen Geistes auf unpolitischem Gebiet zeigen. Wie >Weltbürgertum und Nationalstaat < an Hegelsches Denken gemahnt, so auch >Die Entstehung des Historismus Ideen . . . < als Rückschritt gegenüber >Auch eine Philosophie... < (ebd., S. 42]). " ' E b d . , S. j8o. Vgl. Schulin, a.a.O., S. 1 1 7 . Vgl. Meinccke (s. o. Anm. I, 3), S. 504. 103 !M
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glaubte Goethe objektive Wahrheit zu finden. Meinecke legt dar, wie Goethe sich über die Subjektivität der Geschichtsforschung beklagte, wie sehr ihn das Zufallsmoment in der Geschichte, das nicht auf die Gesetzmäßigkeit der Natur zu bringen war, beunruhigte, wie er es ablehnte, morphologische Strukturen und Entwicklungslinien in der Geschichte zu suchen, was er ja in der Natur und anderen Bereichen menschlichen Lebens tat 208 . Sein Beitrag zur Geschichte war also zum Teil rein negativ. Er verwarf die mechanistische Psychologie der pragmatischen Aufklärungshistoriographie und suchte nach der Bezogenheit aller menschlichen Tätigkeiten und Gedanken zum Strom des Lebens. Anstelle von Newtons abstrakten, transzendenten Naturgesetzen forschte Goethe nach immanenten Wachstumsgesetzen und sah die Natur unter vitalistischen, dynamischen Aspekten. Er begriff, in welchem Ausmaß das Verständnis der Natur oder der Vergangenheit die intuitive Apperzeption ihrer Bedeutung, ihres Inhalts erforderlich machte statt der nur empirischen Wahrnehmung der Fakten und Details. Goethe wirkte also mit, das historische Denken »aus der Erstarrung« zu befreien, in die es »durch Naturrecht, Pragmatismus und Intellektualismus der Aufklärung geraten war« 209 . Sein größter, »weltanschaulicher« Beitrag lag jedoch gerade entgegengesetzt, nämlich im Erkennen des Dauernden im Wechsel. Goethes tiefer Glaube an ein Element im geschichtlichen Wandel, das die Geschichte transzendiert, bewahrte ihn vor dem »Abgrund des Relativismus« 210 . Er sah zwar dieBezogenheit von Wahrheit, Sittlichkeit und Schönheit zum Leben, zur Natur, doch handelte es sich bei seinem Relativismus um einen positiven, da er fähig war, »die Antinomien des Lebens und der Geschichte nicht als Anarchie, sondern als notwendige Dissonanzen innerhalb einer Gesamtharmonie des Weltalls« zu empfinden 211 . Somit repräsentiert Goethe in Meineckes Sicht den Gipfelpunkt, den der Historismus erreicht hat 212 , obwohl Goethe im Grund nicht zu dieser Geistesrichtung gehörte, wie Meinecke zugibt. Er war »nur der größte Wegbahner des werdenden ' * ' Meinecke setzt sich mit G o e t h e s negativer Haltung zur Geschichte ausführlich e b d . , S . 1 0 4 bis J23, u n d i n : G o e t h e s Mißvergnügen an der Geschichte, i n : Preußische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 1 9 5 ) , S . 1 7 8 - 1 9 4 , auseinander. E b d . , S . ) 8 o ; v g l . Z u r E r ö r t e r u n g v o n Goethes Verhältnis zur A u f k l ä r u n g e b d . , S . 4 9 9 - J 0 4 . Ebd., S. J77. , n E b d . , S. J79. 1 1 1 V g l . e b d . , S . 384: Goethe besaß »die erhabenste Position über der Geschichte, die vielleicht möglich i s t « . V g l . auch e b d . , S . 3 8 1 . m
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Historismus«, wobei er »ihn selber noch nicht voll vertrat« 213 . Was aber nach Goethe kam, die eigentliche Historisierung des Lebens und Denkens, bezeichnete einen Abstieg von der Höhe geschichtlichen Begreifens. Sobald der Glaube an den Gesamtsinn der Geschichte im Lauf des 19. Jahrhunderts verlorenging, führte der Historismus zur antiquarisch-seelenlosen Spezialisierung oder zu jenem Relativismus, von dem galt, daß er »zwar alle Weltanschauungen verstehe, aber keine mehr habe«214. Kraft seiner Fähigkeit, »das geschichtliche L e b e n . . . sowohl zeitlich-individuell, als auch überzeitlich sub specie aeterni anzuschauen«, was nur wenige deutsche Historiker des 19. Jahrhunderts konnten, gewann Goethe »die erhabenste Position über der Geschichte, die vielleicht möglich ist«216. Als geschichtlicher Denker steht Goethe in Meineckes Urteil »nicht nur zwischen Aufklärung und späterem Historismus, sondern in gewissem Grade über beiden zugleich«216. Wo sind nun aber die wahren Vertreter des Historismus, auf die Meinecke anspielt, die wenigen großen Repräsentanten des 19. Jahrhunderts, die den seichten Relativismus des späteren Historismus hinter sich gelassen hatten? Meinecke erwähnt allein Ranke, dessen Größe in seiner Fähigkeit bestand, das Empirische und nur Historische zu transzendieren, die in der vergänglichen, individuellen Wirklichkeit verborgenen ewigen Ideen zu ahnen217. Das Buch schließt also widersprüchlich. Zu Beginn erklärt Meinecke den Historismus als »die höchste bisher erreichte Stufe in dem Verständnis menschlicher Dinge« 218 ; der Höhepunkt geschichtlichen Denkens ist aber mit Goethe erreicht, dessen Größe darin bestand, die zeitliche Individualität zu verstehen, sie jedoch sub specie aeterni zu sehen. Sobald geschichtliches Denken sich des Bezugs zum Ewigen entledigt, ist es zur Oberflächlichkeit verurteilt. Melbecke schließt also, indem er die Unhaltbarkeit des Historismus als einer philosophischen Lehre, die alles Wahre und Gültige zerstört, herausstellt. Er schildert den Verfall des deutschen Geschichtsdenkens, das sich zum Historismus wandelte. Selbstverständlich hat der Historismus, insofern er in Meineckes Buch als Lebensanschauung auftritt, nur mehr wenig mit " • E b d . , s. 577. »'« Ebd. Ebd., S. J84. "•Ebd. " ' V g l . ebd., S. 589. " • Ebd., S. 4. 111
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Geschichte zu tun. Meinecke sieht den »Kern des Historismus . . . in der Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung«219. Er hebt das Moment der Individualität stärker hervor als das der Entwicklung. Meinecke gewinnt so eine Haltung, die er als neuplatonisch mit ihrer Auffassung von ewigen, jedoch individualisierten Ideen versteht220. Die Entfernung zu Herders oder Rankes Glauben an die Geschichte als einem konkreten, sinnvollen Prozeß ist damit sehr groß. Das Buch mußte aber auch unter einem anderen Aspekt mit Goethe schließen. Verwirrt durch die Unversöhnbarkeit von Macht und Geist, erblickt Meinecke nun im Historismus eine rein geistige Bewegung ohne Bezug zum politischen Sektor221. Wenn deshalb >Weltbürgertum und Nationalstaat < mit dem Kosmopolitismus Weimars einsetzen mußte, so hatte >Die Entstehung des Historismus < an diesem Punkt aufzuhören. Der folgende Späthistorismus ist von sich aus und durch seine Verfilzung mit der politischen Macht eine Verkehrung des höchsten Kulturideals222. Das Problem des Verhältnisses von politischer Macht und Ethik, das Meinecke in >Die Idee der Staatsräson* aufgeworfen hat, bleibt in >Die Entstehung des Historismus < ungelöst. Meinecke schließt die Frage nach den Interessen des Staates in seinem Buch aus. Ob das so einfach getan werden kann, ist zweifelhaft. Letztlich definiert Meinecke den Staat als eine Individualität, und da jede Individualität von den ihr eigenen immanenten Gesetzen gelenkt wird, kann es keinen Richter über Staaten geben oder irgendwelche von außen herangetragenen ethischen Prinzipien, anhand deren die Handlungen des Staates beurteilt werden können. Meinecke sieht den Staat unter dem gleichen Blickwinkel wie in seinen früheren Werken: der Staat muß sich gemäß der ihm innewohnenden Idee entwickeln. Nur insofern besteht ein Dualismus, als es im Staat eine Spannung zwischen dieser Idee seines besseren Selbst und den elementaren Triebkräften des Staates gibt. Der Staat muß vergeistigt und in die Kiellinie seiner wahren Interessen Ebd., s. 2. • » Vgl. ebd., S. 602. Vgl. Meinecke, S t r a ß b u r g . . . (5. o. Anm. j), S. 191. tss Vgl. Schulin, a.a.O., S. 1 2 1 ; siehe auch Meineckes Brief an S. A. Kaehler Tom 8. Oktober »9JJ, v o r i n er erwähnt, daß er den Verleger darüber beruhigt habe, >Die Entstehung des Historismus< enthalte »nichts Bedenkliches« ( W VI, S. JJO).
ljf.,
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manövriert werden. Indem er aber voraussetzt, daß diese Interessen im Einklang mit der Ethik stehen, kehrt Meinecke im Grunde genommen zu der von ihm verworfenen Identitätsphilosophie zurück, zu der Einstellung, wonach der Staat eine Aufgabe in einem größeren Zusammenhang erfüllt, wenn er seine Interessen verfolgt und seine »Persönlichkeit« entfaltet. Das läuft auf eine Bestätigung der Idee der Staatsräson hinaus, wie er ja die Schuld am dämonischen Machtmißbrauch nicht etwa dieser gab, sondern dem Einfluß der Massenemotionen zuschrieb, die sie verdrängt hatten223. Dennoch überrascht es, in welchem Umfang Meinecke trotz seines Abscheus vor den Nazis mit der Außenpolitik Hitlers sympathisieren konnte. Die NS-Innenpolitik, die Zerstörung des Rechtsstaats, das Abwürgen der geistigen Freiheit: all das bedeutete ihm eine ernsthafte Bedrohung der europäischen Kultur. Niemals bekannte er sich zu dem Regime. 1935 wurde er von seiner Stellung als verantwortlicher Herausgeber der >Historischen Zeitschrift< entbunden; mehrere seiner hervorragenden Schüler mußten emigrieren. Ungeachtet dessen betrachtete er die Expansionspolitik mit beinahe naivem Optimismus. »Die Gewinnung Österreichs«, schrieb er wenige Wochen nach der Annexion an den im Exil lebenden Hajo Holborn, »hat die ganze deutsche Geschichte mit einem Rucke voraus geführt und alte Wünsche und Ideale erfüllt.«224 Im Sommer 1938 erblickte er die bedenklichste Bedrohung des Friedens in der tschechischen »desperaten Militärpartei«225. Der rasche Sieg über Frankreich erfüllte ihn mit patriotischer Begeisterung. »Du hast jetzt Gewaltiges zu leisten«, schrieb er an seinen Schwiegersohn, »als Glied der gewaltigen Gesamtkraft, die jetzt an Frankreich die Strafe vollzieht für den Versailler Frieden. Auch ich bin voller Bewunderung für das, was unser Heer leistet und weit über alle Erwartungen hinausgeht. Daß es möglich war, ein solches Heer in wenigen Jahren aufzubauen, ist die größte positive Leistung des Dritten Reiches. Das erkenne ich unumwunden an, aber vergesse dabei keinen Augenblick, was an Negativem geschehen ist.«226 An Heinrich von Srbik schrieb er, welch »tiefe Bewegung, Stolz und 1 » Vgl. G o l o Manns Kritik an Meineckcs unerschüttertem Glauben an die Staatsräson in seiner 1938 verfaßten Rezension, abgedruckt in: G . Mann, Geschichte und Geschichten, Frankfurt 1961, S. 40-46. « " Meinecke, Brief yora 7. April 1938, W V I , S. 180. 111 Ebd. (Brief an G . Mayer vom 13. Juni 193B). 111 E b d . , S. 192 (Brief an Carl Rabl vom 12. Juni 1940).
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Freude« er ob dieser Ereignisse empfunden habe, und verglich seine Haltung mit jener der liberalen Opposition anno 1866. »Wir möchten wohl, - aber wir können noch nicht.« Es habe beinahe den Anschein, »daß die Triebkraft zu großen und notwendigen Revolutionen mehr aus den schlechten als aus den guten Seiten der menschlichen Natur stamme«227. In der politischen Ordnung Europas müsse es Änderungen geben, fuhr er fort, und es sei zu hoffen, Hitler nehme sie so vor, daß sich Europa wieder erholen, die wirtschaftliche Kraft aufleben und Deutschland sich als eine Amerika ebenbürtige Macht behaupten könne228. Zu keinem Zeitpunkt während des Krieges stand seine Treue zur deutschen Sache in Zweifel. Als sich das Blatt wendete, wollte er den Krieg um jeden Preis fortgesetzt wissen, um den Bolschewismus aufzuhalten229. Obschon er um die Deportation der Juden wußte, sprach er der anglo-amerikanischen Kriegführung doch jede moralische Überlegenheit ab230. Manchmal schlich sich ein pessimistischer Akzent in seine Briefe ein, wenn er sich auf die Zukunft der modernen Kultur bezog, aber dann sah er voll Zuversicht die deutsche Kultur wieder aus der Asche des Krieges erstanden, vorausgesetzt, daß Deutschland nicht dem Bolschewismus preisgegeben würde 231 . >Die deutsche Katastrophe Die Idee der Staatsräson < als eine Überprüfung der deutschen Geistesgeschichte. Eine furchtbare Katastrophe, sowohl geistig wie politisch, war über Deutschland hereingebrochen. Die Wurzeln dieses Unheils mußten aber nicht im klassischen deutschen Geist gesucht werden, sondern in den »optimistischen Illusionen der Aufklärung und der französischen Revolution« 232 . Was in Deutschland geschehen war, durfte eher als ein europäisches denn ein spezifisch deutsches Phänomen betrachtet Ebd., S. I 9 j f . (Brief vom 8. Juli 1940). Vgl. ebd., S. 194. Vgl. ebd., S. 216 (Brief an W. Goetz Tom 18. Mai 1943). Ebd. auch: »So hätte ich auch nichts gegen Verschmelzung mit gewissen Bestandteilen der N.S.-Ideologie einzuwenden, vorausgesetzt nur, da8 der goldene Faden des deutschen und abendländischen Geistes dabei wieder zur Geltung kommt.« Die Herausgeber verweisen hier auf das 9. Kapitel »Vom positiven Gehalte des Hiderismus< in: >Die deutsche Katastrophe*. Z u r Kulturbcdrohung durch den Bolschewismus siehe Brief an W. Goetz vom 27. März 1945 (ebd., S. 214), an H. von Srbik vom 1 j. April 1944 (ebd., S. 122); zur Notwendigkeit, dem Bolschewismus entgegenzutreten, vgl. Brief an Sabine Rabl vom 26. Oktober 1944 (ebd., S. 226) und vom 5. März 194; (ebd., S. 237). 1,4 131 Mt
S.
Vgl. ebd., S. 4 j j (Brief an S. A . Kaehler vom 2. Juni 1944). Vgl. ebd., S. 4 1 1 (Brief an S. A . Kaehler vom 3 1 . Dezember 1942). Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946,
10.
290
Die »Krise des Historismus« II
werden. Hitlers Aufstieg zur Macht stand in keiner tiefen organischen Verbindung mit der deutschen Vergangenheit. Die Machtergreifung am 30. Januar 1933 war ein »Zufall«, der sich in der deutschen Geschichte ereignete, zum großen Teil eine Folge von Hindenburgs Krankheit und miserabler Urteilsfähigkeit233. Die »Hitlerzeit« wurde politisch ermöglicht durch den allmählichen Verfall der Synthese von Geist und Macht, von Kultur und Staat, von Weltbürgertum und Nationalstaat im 19. Jahrhundert234. Die Zerstörung der alten sozialen Bindungen in der Revolution, die neue Suche nach materiellem Wohlstand und Macht, die Radikalisierung von Demokratie und Liberalismus im modernen Imperialismus und Sozialismus machten die Bahn für den Cäsarismus und den »Massenmachiavellismus« frei236. Kultur wurde durch Macht ersetzt, als die bürgerlichen Schichten ihren geistigen Nährboden einbüßten - ein Vorgang, der sich nach Meineckes Eingeständnis in Deutschland in besonders akuter Weise abgespielt hatte236. In Deutschland bildeten sich die extremsten nationalistischsozialistischen Tendenzen heraus, wobei sie von einer Richtung des preußischen Militarismus noch verschärft worden waren237. Die Idee des nationalen Machtstaates erstand jedoch nicht aus dem klassischen deutschen Geist, sondern in Auflehnung wider ihn. Aus der Goethezeit hatte Deutschland die vielleicht einmaligen und tiefsten Einsichten in das wechselseitige Verhältnis von Geist und Natur, von Individualität und Gesellschaft ererbt. Die Zersetzung dieses Erbes war die Tragödie des 19. Jahrhunderts, doch blieb die große Reihe der nationalen Geistesheroen davon unberührt. Dazu zählten die Reformer zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der klassische liberale Kreis um die >Preußischen Jahrbücher< (Meinecke glaubte, Treitschke sei dessen »vielleicht größter . . . Repräsentant« gewesen), Friedrich Naumann und in gewissem Sinn sogar Bismarck238. Bezeichnenderweise entdeckte Meinecke die letzte große Bekundung der »humanen« Idee der Goethezeit in der nationalen Begeisterung der Augusttage 1914 239 . Aus einem m
Vgl. •"Vgl. Vgl. "•Vgl. "'Vgl. «"Vgl. » • Vgl.
1)1
ebd., S. 87-104 (8. Kapitel: Der Zufall und das Allgemeine). ebd., S . 2 1 . ebd., S. 1 0 - 1 8 ; auch ebd., S. 79-86 (7. Kapitel: Der KlassenmachiaveUismus). ebd., S. 19. ebd., S. 23. ebd., S. n f . , i 7 f . ebd., S. 44f.
Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke
291
anderen Blickwinkel hätte man letztere leicht als ein Produkt jener Kräfte der Massenzivilisation, die Meinecke verdammte, sehen können, doch hebt gerade diese Identifizierung die Kluft hervor, die zwischen Meineckes politischen Vorstellungen und dem klassischen Liberalismus Westeuropas und Amerikas besteht. Sogar nach den Katastrophen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs blieb Meinecke bei seiner Überzeugung, daß - alles in allem gesehen - der Nationalismus der deutschen Liberalen samt ihrer Verherrlichung nationaler Macht und ihrem Eintreten für die Unterordnung des individuellen Wohlergehens unter die höheren Belange der Nation richtig war. Der »Hitlerismus« mußte vernichtet werden; der Militarismus besaß jedoch ebenso eine eindeutig positive wie uch eine dämonische Seite. Trotz allem Geschehenen schien iie Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Preußen anno 1814 »als eine . . . national- wie weltgeschichtlich epochemachende Tat«240. Burckhardt hat fälschlich hinter Deutschlands Ringen um Einheit und Macht »ein blindes Massenstreben« gesehen, »dem die Kultur nichts bedeutete. Vielmehr war es, was Burckhardt nicht ganz zu verstehen vermochte, einst getragen von jener großen Idee eines inneren Bundes von Geist und Macht, von Humanität und Nationalität«, ein Bund, der »durch unsere eigene Schuld auseinander gegangen« ist 241 . Die Macht an sich ist nämlich nicht böse, wenn sie der Schaffung großer Kulturwerte dient, wie es beim deutschen Nationalismus des letzten Jahrhunderts der Fall war; sie wird nach Meineckes Ansicht erst böse, wenn sie ihrer Bindung an den Geist verlustig geht und zum Selbstzweck wird242. Der klassische deutsche Geist blieb unversehrt. Deutschland bedurfte nur der Läuterung, der Abkehr von den Irrwegen der modernen Zeit. »Wir bedürfen keiner radikalen Umschulung«, äußert Meinecke abschließend, »um wieder als Glied der abendländischen Kulturgemeinschaft wirksam zu werden. Radikal verschwinden muß nur der nazistische Größenwahn mit seiner Un- und Afterkultur. Aber kein blasses, inhaltsarmes, abstrahiertes Weltbürgertum hat an seine Stelle zu treten, sondern ein von individuellster deutscher Geistesleistung einst mitgeformtes und auch künftig weiter zu form
Ebd., S. 1 J 4 . Ebd., S. 1 J 9 . Vgl. ebd., S.
16t.
292
Die »Krise des Historismus« II
mendes Weltbürgertum. Der deutsche Geist, so dürfen wir hoffen und glauben, hat noch, nachdem er zu sich selbst zurückgefunden hat, seine besondere und unersetzliche Mission innerhalb der abendländischen Gemeinschaft zu erfüllen.«243 Ein Ton, der von einem gewissen Pessimismus kündet, wird in den letzten kurzen Schriften und Vorträgen Meineckes vernehmbar. In seinem berühmten Vortrag, 1948 vor der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin gehalten, warf er die Frage auf, ob Burckhardt mit seinem tiefen Pessimismus hinsichtlich des Menschen, der materiellen Zivilisation, der Macht und der Massen die moderne Welt nicht richtiger als Ranke eingeschätzt habe244. In zwei Aufsätzen, der eine über die Revolution von 1848 (1948 geschrieben), der andere über >Irrwege in unserer Geschichte?< (1949 veröffentlicht), zeichnet Meinecke die tragischen Linien der preußischen Geschichte nach. Wenig nur von den politischen Werten der deutschen Vergangenheit, »außer den höchsten Ideen von 1813«, sind heil geblieben. Einzig und allein die Tradition der Klassik hat überdauert. An drei Entscheidungspunkten, 1819, 1848 und 1866, hat es die preußische Politik versäumt, die Weichen zu stellen, die Deutschland aus einem Obrigkeitsstaat in einen Gemeinschaftsstaat umzuwandeln vermocht hätten245. Waren aber Machtpolitik und Militarismus wirklich verantwortlich für den tragischen Verlauf der deutschen Geschichte? War der »Unglücksweg« auch ein »Irrweg«246? In Worten, die an die Bejahung der Macht in dem fast vierzig Jahre früheren >Weltbürgertum und Nationalstaat < erinnern, hebt Meinecke noch einmal hervor, »was . . . in einem großen und starken Volke einmal erwachen kann, ja wohl erwachen muß, kann nicht als Neigung, einen Irrweg einzuschlagen, verurteilt werden«. Den »sehr natürlichen Drang Deutschlands nach Autonomie« und ebenso »das Unternehmen Preußens, unabhängige Macht zu werden«, darf man nicht als Irrwege einstufen. Sie müssen als Deutschlands »Schicksal« gesehen werden, als die Folge aus seiner geopolitischen Lage in Europa, die es dazu zwang, entweder ein Machtvakuum oder ein Machtstaat zu werden247. Die preu— E b d . , S. 173. 111 Meinecke, R a n k e u n d B u r c k h a r d t , i n : Deutsche A k a d e m i e der Wissenschaften zu Berlin, V o r t r ä g e u n d Schriften, H e f t 2 7 , Berlin 1948. 141 Meinecke, 1848. E i n e Säkularbetrachtung, Berlin 1948, S . 8. Meinecke, I r r w e g e in unserer Geschichte? W I V , S . 205. E b d . , S . io&(.
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ßische Geschichte ist in erster Linie von Tragik, in weit geringerem Umfang nur von Irrtümern erfüllt. Zudem liegen letztere, nach Meineckes Überzeugung, viel weniger in Preußens Ausformung zum Machtstaat als weit eher in seinem Versäumnis, einen Gemeinschaftsstaat zu schaffen 248 . Angesichts der »Betrachtung der historischen Epochen und Gebilde sitb specie aeterni, in ihrem Verhältnis unmittelbar zu Gott«, werden die Fragen nach Erfolg, Scheitern oder Irrtum irrelevant. Was zählt, das sind die ewigen »Kulturwerte des Wahren, Guten, Schönen und Heiligen«. Aus dieser Perspektive wird Preußen trotz seiner Unvollkommenheiten und Machtauswüchse stets eine Schatzkammer bleiben, die an heroischen Individualitäten und dauerhaften Kulturgütern reich ist 249 . Somit endet Meineckes Werk mit einem Mißklang, da er sich des problematischen Charakters seiner philosophischen und politischen Glaubenssätze zwar bewußt, emotional aber nicht fähig ist, die Konsequenzen seiner eigenen Erkenntnisse zu ziehen. Anders als Troeltsch stellte sich Meinecke niemals dem Problem der inneren Widersprüche in der Tradition des Deutschen Idealismus. Für Troeltsch hatte die Welt der klassischen Normen, ob nun aus dem christlichen, dem westeuropäischen oder dem deutschen Denkbereich, seit dem Beginn seines geistigen Weges »gewackelt«. Dagegen war Meineckes Glaube an die zentralen Werte der deutschen Geschichtsauffassung und der politischen Institutionen Deutschlands bis in den Ersten Weltkrieg hinein unerschüttert geblieben, obschon er sich über gewisse Mängel in der politischen und sozialen Struktur des wilhelminischen Reiches im klaren gewesen war. >Die Idee der Staatsräson < bezeichnet zweifelsohne den Höhe- und zugleich den Wendepunkt in Meineckes Denken. Hier anerkennt er offen, wie unzureichend das optimistische Geschichtsbild des Idealismus ist, da es den tragischen Konflikt zwischen kratos und ethos nicht zu sehen imstande gewesen war. Gleich Max Weber begreift er das Ausmaß, in dem der Staat zu irrationalem ethischen Verhalten verdammt ist, und opfert daher die idealistische Geschichtsphilosophie. Die Wertvorstellungen, die untrennbar mit dieser Geschichtsauffassung verfilzt sind, will er jedoch nicht verwerfen. Weiterhin hält er sich an die »Individualitätsidee«, wonach alle Individualitäten, ob Personen oder Institutionen, Bekundungen transzendenEbd., S. 207. — Ebd.. S. 209f.
294
D i e »Krise des Historismus« II
ter Ideen in der Erscheinungswelt sind. Seine politische Philosophie gerät dadurch in eine höchst zweideutige Position. Einerseits beharrt er auf dem scharfen Dualismus von Geist und Macht (nur im Geistigen kann es ein Ideal geben) ; andererseits betrachtet er den Staat auch jetzt noch als eine Individualität, als Selbstzweck, gelenkt nur von den ihm innewohnenden Normen und Interessen und nicht von den von außen herangetragenen Maßstäben der Ethik oder der menschlichen Wohlfahrt. Troeltsch hatte einen Weg vom deutschen Idealismus zu dem gemeinsamen europäischen Erbe zurückfinden wollen, während Meinecke den getrennten Weg des deutschen Geistes seit der Aufklärung stets bejahte, da er im wesentlichen richtig gewesen sei. Dennoch brachte seine Verteidigung der idealistischen Position, die von ihrer Geschichtsphilosophie losgerissen war, Meinecke in unlösbare Widersprüche. In >Die Entstehung des Historismus < hebt er die Leistung der deutschen Geschichtsdenker, die Wechselbeziehung von Geist und Leben zu erkennen, hervor, sucht aber die Kultur von Gesellschaft und Politik zu scheiden. Seine erneuerte Individualitätsvorstellung erlaubt ihm angesichts der Herrschaft der braunen Barbarei, den Triumph des deutschen Geistes auf unpolitischem Gebiet zu feiern und von der nationalsozialistischen Innenpolitik verstört zu sein, gleichzeitig aber Hitlers Außenpolitik als Ausdruck der gesunden Forderungen der deutschen raison d'état zu betrachten. In >Die deutsche Katastrophe < betont Meinecke wiederum, wie heil die klassische Tradition der deutschen Kultur geblieben ist. Während er den Massenmord am europäischen Judentum bezeugt, das er als Opfer eines Fanatismus sieht, der aus einer Entartung deutsch-idealistischer Vorstellungen kam, schiebt er dennoch die Schuld an der Katastrophe fast ausschließlich dem Rationalismus und der Demokratie westeuropäischer Prägung in die Schuhe. Indem diese Kräfte die modernen Lebensbedingungen schufen, zerstörten sie die Harmonie von Geist und Macht. Zudem schreibt er einen beachtlichen Anteil der Verantwortlichkeit für diesen Vorgang der »negativen und zersetzenden Wirkung« der Juden zu 250 . Den tiefen Ernst, der Ernst Troeltschs und Max Webers Bemühen um sinnvolle und geistig haltbare Werte in einer Welt der Krise auszeichnet und der sich auch durch >Die Idee der Staatsräson < zieht, sucht man in Meineckes letzten Schriften vergeblich. w
Meinecke (i. o. Aom. 232), S. 29.
VIII.
D E R
VERFALL DER DEUTSCHEN
DER
EINFLUSS DER BEIDEN
»GESCHICHTSIDEE«
WELTKRIEGE
U N D DES TOTALITARISMUS AUF DAS
DEUTSCHE
GESCHICHTSDENKEN
I.
Der Erste Weltkrieg und der deutsche Zusammenbruch übten zunächst bemerkenswert wenig Einfluß auf die Arbeitsvoraussetzungen der deutschen Historiker aus. Walter Goetz forderte zwar eine gründliche Überprüfung der politischen Grundlagen der deutschen Geschichtswissenschaft und tadelte eine nationale Tradition historischer Forschung, die »seit der Zeit der Freiheitsbewegung so eng mit der Monarchie und mit der Kultur des Hohenzollernschen Hauses verbunden« war, daß sie die Befähigung eingebüßt hatte, die politischen Realitäten der Zeit nach 1918 objektiv zu ergründen 1 . Die Mehrheit jedoch, einschließlich so renommierter Gelehrter wie Georg von Below, Erich Brandenburg, Dietrich Schäfer, Max Lenz, Erich Mareks und Johannes Haller, blieb den überlieferten philosophischen und historiographischen Voraussetzungen ergeben. Niederlage und Kriegsschuldthesen schienen ihnen neuen A n sporn für die Verteidigung der Bismarckschen Lösung und die Richtigkeit der geistigen und politischen Traditionen Deutschlands zu verleihen. Friedrich Meinecke, diesen Traditionen zutiefst verpflichtet, nahm unter seinen Kollegen eine ziemlich isolierte Stellung ein, als er 1924 in >Die Idee der Staatsräson hervorhob, die Staatsinteressen befänden sich oft in Konflikt mit der Sittlichkeit2. E s gab überhaupt verschiedene Richtungen: Otto Hintze befaßte sich mit der Geschichte der Institutionen, Friedrich Meinecke betonte die Bedeutung der Ideen (beide Bestrebungen datierten aus der Vorkriegszeit) und 1 Walter Goetz, Die deutsche Geschichtsschreibung der Gegenwart (erstmals 1924 veröffentlicht), in: Historiker meiner Zeit. Köln 1 9 J 7 , S. 419. a Die Rezensionen, die Meineckes >Idee der Staatsräson zuteil wurden, stellen ein interessantes Barometer des politischen Klimas dar, das in der deutschen Geschichtswissenschaft der 20er Jahre herrschte. Selbst ein Historiker, der sich mit der Weimarer Republik abgefunden hatte wie Hermann Oncken, wies die Vorstellung, deutscher Geist und deutsche Politik hätten in der Vergangenheit der Macht allzu großen Wert beigemessen, energisch zurück (in: Deutsche Literaturzeitung, N F 3 [1916] S. 1 3 0 4 - 1 3 1 ; ) . Carl Schmitt verwarf Meineckes Dualismus von Ethik und Macht (in: Archiv f ü r Sozialwissenschaft ; 6 [1926] S. 226-234). Wohlwollender fiel Gerhard Ritters Rezension aus (in: Neue Jahrbücher f ü r Wissenschaft und Jugendbildung I [ 1 9 2 J ] S. 1 0 1 - 1 1 4 ) .
296
Der Verfall der deutschen »Geschichtsidee«
Franz Schnabel behandelte auf breiter sozial- und geistesgeschichtlicher Basis das frühe 19. Jahrhundert in Deutschland. Schnabel wies sogar darauf hin, die Idee eines deutschen Nationalstaates unter preußischer Führung hätte keine tiefreichenden Wurzeln in der deutschen Vergangenheit3. Dennoch blieben diese neuen Ansätze in der Minderzahl. Hans Herzfeld hat geäußert4, 1917 müsse als »kopernikanisches Jahr« für die deutsche Geschichtswissenschaft angesehen werden. Der Kriegseintritt der USA und die Russische Revolution hätten möglicherweise zu einer Revision des europazentrischen Geschichtsbildes und zu einer bescheideneren Vorstellung von der Rolle Deutschlands in der Welt führen können. Für die meisten Historiker galt das jedoch nicht. Zeitweilig befürchteten Meinecke, Hintze und andere eine angloamerikanische Hegemonie über Europa. Troeltsch sah das Ende des deutschen Großmachtdaseins voraus und hoffte, Deutschland würde eine zweite Schweiz5. Mit dem Rückzug Englands und der USA von ihrer aktiven Politik auf dem europäischen Kontinent kehrten die deutschen Historiker wieder zu den traditionellen Themen der nationalen Geschichte zurück und betonten erneut den Primat der Außenpolitik. Angesichts des Versailler Vertrages und des französischen Drucks hielten sie sich mehr denn je an den Staat als »festes Gerüst der Nation«8. Sogar die Schriften eines Historikers, der die Weimarer Republik akzeptierte, Hermann Oncken, waren im Grunde genommen eine Bestätigung der nationalen Überlieferungen und ein Preisgesang auf Bismarck7. In gewissem Sinn lassen sich zwei Ideenströmungen, die aus der wilhelminischen Epoche in die Weimarer Republik liefen, unterscheiden. Die erste und - zahlenmäßig gesehen an den deutschen Universitäten stärker vertretene umfaßte Männer wie Georg von Below, Dietrich Schäfer, Ernst Mareks und Max Lenz. Weitgehend unkritisch, hatten sie das Vorkriegssystem unterstützt; nun fochten sie ebenso wacker gegen die Republik. Ludwig Dehio und Hans-Heinz Krill haben von 3 V g l . Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert I , Freiburg/Br. 1929, S. loof.; Hans Kohn, German History. Some New German Views, Boston 1934, S. 33. 4 Hans Herzfeld, Staat und Nation in der deutschen Geschichtsschreibung der Weimarer Zeit, in: Ausgewählte Aufsätze, Berlin'1962, S. 5 1 . 1 Troeltsch, Spektatorbriefe . . . ( s . o . A n m . V I I , 7), S . 6 8 f . , I J 3 , 159, l ö j f . , 172; auch E . C. Kollman, Eine Diagnose der Weimarer Republik, in: H Z 182 (1956) S. 303. • Herzfeld, a . a . O . , S. 55. 7 V g l . Hermann Oncken, Der Sinn der deutschen Geschichte (1924), in: Nation und Geschichte. Reden und Aufsätze 1 9 1 9 - 1 9 3 ; , Berlin 1935, S. 13-44, insbes. S. 36.
Der Einfluß der beiden Weltkriege und des Totalitarismus
297
einer neurankeanischen Schule gesprochen, die nach 1890 Rankes Konzeption der großen europäischen Mächte im Zeitalter der imperialistischen Expansion auf Weltebene übertragen wollte 8 . Noch mehr ins Gewicht fällt, daß diese Historiker sich von den liberalen politischen Vorstellungen der »Preußischen Schule«, die sie noch bewunderten, ab- und dem Konservatismus Rankes 9 zuwandten, der seinerseits weder Imperialist noch Nationalist gewesen war. In ihrer Bewunderung der Macht und der nationalen Expansion standen die Neurankeaner dem Treitschke der Jahre nach 1880 zweifellos näher. Sie unterstützten vor dem Krieg eifrig die Flottenpolitik, stemmten sich gegen Verfassungsreformen und drängten während des Krieges auf Annexionen. Eine zweite Gruppe, zu der Meinecke, Troeltsch und Hintze zählten, die sich alle der sozialen Umschichtungen nach 1890 deutlich bewußt waren, wandte sich Friedrich Naumann zu. Sie teilten die Auffassung von der zentralen Rolle des Staates und waren ebenso von der Notwendigkeit überzeugt, daß Deutschland seine machtpolitischen Interessen auf Weltebene vertreten müsse. Größtenteils unterstützten sie auch Flottenpolitik und Imperialismus. In der Anfangsphase des Krieges, als sie noch auf Sieg setzten, wollten sie auf den Weltmeeren und in den Kolonien das Gleichgewicht der Weltmächte wiederhergestellt sehen; sie rechtfertigten den Krieg als einen Kampf gegen die britische Weltherrschaft 10 . Wie ihre konservativen Kollegen identifizierten sie sich mit den traditionellen Methoden der deutschen Geschichtswissenschaft, die sie einst gemeinsam in der >Historischen Zeitschrift < gegen Karl Lamprecht verteidigt hatten, der übrigens wie sie für den Flottenausbau und eine expansive Außenpolitik eintrat. Sie waren Monarchisten und mißtrauten der parlamentarischen Regierungsform. Dennoch verlangten sie gleich ihren liberalen Vorgängern in der Preußischen Schule die Umwandlung der Monarchie aus einem Obrigkeitsstaat in einen Volksstaat 1 Ludwig Dchio, Ranke und der deutsche Imperialismus, in: H Z 170 ( 1 9 J 0 ) S. $07-328 (behandelt werden M a i Lenz, Harn Delbrück, Otto Hintze, Hermann Oncken, Erich Mareks, Friedrich Meinecke); Hans-Heinz Krill, Die Ranke-Renaissance. Max Lenz und Erich Mareks. E i n Beitrag zum historisch-politischen Denken in Deutschland 1 8 8 0 - 1 9 3 J , Berlin 1962. • V g l . Krill, a . a . O . , S. 4. " V g l . den Sammelband: Deutschland und der Weltkrieg, Hrsg. Otto Hintze, Friedrich Meinecke, Hermann Oncken, Hermann Schumacher, Berlin 1 9 1 ; , der diesbezügliche Aufsätze von Hintze, Troeltsch, Delbrück, Mareks, Meinecke u . a . enthält; Tgl. ferner Henry C o r d ' M e y e r , a.a.O.; Schwabe, a.a.O. Siehe zu Delbrück auch Anneliese Thimme, Hans Delbrück als Kritiker der Wilhelminischen Epoche, Düsseldorf 1 5 5 5 .
298
Der Verfall der deutschen »Geschichtsidee«
und kämpften für soziale Reformen und für Demokratisierung. Sie träumten von einem Brückenschlag zwischen Staat und Nation, zwischen Monarchie und Volk. Sie waren viel empfänglicher für die Realitäten der Zeit als ihre konservativeren Kollegen; daher waren sie sich auch der Grenzen der deutschen Macht eher bewußt. Zu einem ziemlich frühen Zeitpunkt des Krieges verlangten sie einen Verständigungsfrieden, wiesen die Forderungen der Annexionisten zurück und suchten den uneingeschränkten U-Boot-Krieg zu verhindern. 1917 organisierten sie sich im »Volksbund für Freiheit und Vaterland«, um dem Einfluß der Alldeutschen zu begegnen. Nach dem November 1918 unterstützten sie die Weimarer Republik, nicht auf ideologischer Basis, sondern weil sie die Republik in der gegebenen Lage als eine »eiserne politische Notwendigkeit« ansahen11. Für sie galt, was Meinecke von sich bekannte: »Ich bleibe . . . Herzensmonarchist und werde . . . Vernunftrepublikaner.«12 Sie betrachteten die Republik als »diejenige Staatsform, die uns am wenigsten trennt«13, zu ihr gab es keine Alternative. Die Anerkennung der Republik bedeutete deshalb nicht notwendig einen Bruch mit den traditionellen historischen Vorstellungen. Die Historiker, die nunmehr die Republik unterstützten und die zu den Kritikern des Wilhelminismus gezählt haben, diagnostizierten Fehler in der deutschen Politik seit 1890 und sogar in Bismarcks Innenpolitik nach 1871. Dagegen stellten sie seine Außenpolitik oder die »Bismarcksche Lösung« kaum in Frage. Walter Goetz stand unter den akademischen Historikern ziemlich allein da, als er die Richtigkeit jener Ansicht der deutschen Geschichte bezweifelte, für die »die Zeit von 1848/49 eine Entgleisung, die Bismarcksche Zeit aber die allein berechtigte Fortsetzung unserer Geschichte war«14. Die Veröffentlichung der diplomatischen Akten in dem 40-bändigen Sammelwerk >Große Politik der europäischen Kabinette< (1922-1927) deckte neue Quellen für die Erforschung der Politik Bismarcks auf. Die Flut der Monographien, die sich daraus ergab, bejahte größtenteils das traditionelle 11 Meinecke. Die deutschen Universitäten und der beutige Staat (1926), W I I , S . 4 0 7 ; vgl. Troeltsch, Spektatorbriefe . . . (s. o. Anm. V I I , 7), S. j o j f . ; Waldemar Besson, Friedrich Meioecke und die Weimarer Republik, in: VierteljahrsheftefürZcitgeschichte7(l959)S. 1 1 3 - 1 2 9 ; Kollman, a.a.O. 11 Meinecke, Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik (im November 1918 geschrieben), ebd., S. 281. " E b d . , S. 282; vgl. Besson, a.a.O. 11 Goetz (s. o. Anm. 1), S. 421.
Der Einfluß der beiden Weltkriege und des Totalitarismus
299
Bismarckbild. Eine Anzahl Untersuchungen allerdings bemühte sich um eine Revision in demokratischem Sinn; dazu gehörten die Arbeiten von Johannes Ziekursch und von Historikern, die sich am Rande oder außerhalb des akademischen Betriebs befanden, wie etwa Veit Valentin, Arthur Rosenberg und Erich Eyck i s . Die zwei wichtigsten neuen Akzente in der deutschen Geschichtswissenschaft wurden zweifelsohne von Meineckes >Idee der Staatsräson < und von Otto Hintzes verstreuten Aufsätzen und Rezensionen gesetzt. In Meineckes Werk, das Altes und Neues verknüpfte, wurde die Individualitätsidee des deutschen Idealismus bejaht, auch im Hinblick auf den Staat. Zugleich wurde darin mit der optimistischen Vorstellung vom Staat als einer ethischen Institution gebrochen und die tragische Gespaltenheit von Macht und Geist herausgestellt. Meinecke verstand die politische Macht als ziemlich isoliert von den sozialen Kräften. Hintzes Herausforderung an die traditionelle Historie war viel entschiedener. Sein Einfluß blieb allerdings gering, weil er während dieser Zeit kein Buch schrieb, ja nicht einmal einen Aufsatz, der seine methodologischen Gedanken systematisch dargeboten hätte. Seine gesammelten Aufsätze wurden erst nach seinem Tod während des Zweiten Weltkriegs von einem Herausgeber ediert, der sie entweder nicht begriff oder es vorzog, die Bedeutung von Hintzes methodologischen Schriften mißzuverstehen; daher nahm er mehrere der wichtigsten Aufsätze nicht in die Sammlung auf 16 . Die Aufnahmebereitschaft für Hintzes Methode war damals weniger groß, als es nach 1945 wohl der Fall gewesen wäre. Gleich Meinecke war auch Hintze tief in preußischen Über11 Zur Bismarckliteratur der 20er Jahre siehe die Bibliographie bei Lawrence D. Stecfel, Bismarck, in: Journal of Modem History 2 (1930) S. 7 4 - 9 1 ; ferner G . P. Gooch, Revisionism in Germany, in: Times Literary Supplement, 6. Januar 1956. Eyck schrieb sein bedeutsames Werk über Bismarck erst nach 1933: Bismarck. Leben und Werk, 3 Bde., Zürich 1941-1944. Vgl. Richard H. Bauer, Veit Valentin, 1885-1947, in: Some 2oth*Century Historians, ed. S. William Halperin, Chicago 1961, S. 1 0 3 - 1 4 1 ; William H. Maehl, Erich Eyck, 1878-1952, ebd., S. 227-253. Von den zu Bismarck kritisch eingestellten Werken ist zu nennen: Johannes Ziekursch, Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreiches, 3 Bde., Frankfurt 1 9 2 3 - 1 9 3 0 ; ferner Arthur Rosenberg, Die Entstehung der deutschen Republik 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , Berlin 1928; H. Kantorowicz, Bismarcks Werk im Lichte der föderalistischen Kritik, Ludwigsburg 1921. Über Ziekursch siehe die ausführliche Bibliographie bei Hans Schleier, Johannes Ziekursch, in: Jahrbuch für Geschichte I I I (1969) S. 1 3 7 - 1 9 6 . " Otto Hintze, Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, 3 Bde., Hisg. Fritz Härtung, Leipzig 1941-1943. Eine umfassendere Ausgabe von Bd. I (»Staat und Verfassung«) wurde von Gerhard Ocstreich besorgt (Göttingen 1962). Siehe auch Bd. I I (»Soziologie und Geschichte«), Göttingen 1964; Bd. I I I (»Regierung und Verwaltung«), Göttingen 1967.
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lieferungen verwurzelt. Der geborene Pommer 17 kam 1880 als Student nach Berlin, wo er von Droysen und vor allem von Schmoller beeinflußt wurde. Jahrelang arbeitete er an einer Geschichte der preußischen Seidenindustrie für Schmollers >Acta BorussicaDie Hohenzollern und ihr WerkDas Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismust), in: Ges. Abh. I I (s. o. Anm. t6), S. 7 1 - 1 2 3 : ders., Wirtschaft und Politik im Zeitalter des modernen Kapitalismus, ebd., S. 124-149.
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303
den sie geschieden49. Hintze lehnt auch Troeltschs Voraussetzung ab, die von der Historischen Schule seit Humboldt und Schleiermacher vertreten wurde, daß nämlich Individuen sich die geistige Wesenheit anderer Individuen, kollektiver Gebilde und Kulturen mittels eines intuitiven Akts des Verstehens erschließen, der sich psychologischer Analyse entzieht. Dies setzt nach Hintzes Ansicht zugleich die unhaltbare metaphysische Vorstellung eines gemeinsamen Verhältnisses des gesamten menschlichen Geistes zum göttlichen Geist, der jenen umfaßt, voraus. In der Geschichte gibt es selten in sich abgeschlossene Prozesse. Das idealistische Bestreben, Wandel und Entwicklung aus einer dem sozialen Gebilde innewohnenden Logik zu erklären, vergißt, daß sich in allen großen sozialen Umschichtungen zielgerichtete und zufällige Faktoren vermengen80. Jede Bemühung, das geschichtliche Leben auf Entwicklungslinien zu reduzieren, schafft nur einen »Idealtypus« oder ein »Schema zur vorläufigen intuitiven Erfassung von historischen Zusammenhängen«31. Letztlich fordert Hintze eine Entmythologisierung des politischen und geschichtswissenschaftlichen Denkens in Deutschland, eine nominalistische Methode zur Erforschung der gesellschaftlichen Institutionen, eine auf breiter Basis vergleichende Methode für die Geschichte, die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Faktoren in ihrer wechselseitigen Beeinflussung berücksichtigt. Hintzes politische Ansichten lassen sich weit weniger deutlich herausschälen als jene Meineckes oder Troeltschs. Vor und während des Ersten Weltkriegs hegte Hintze die feste Überzeugung, die konstitutionelle Monarchie repräsentiere nicht eine Übergangsstufe zur parlamentarischen Regierung, sondern eine relativ stabile Regierungsform für Preußen und Deutschland. Indem er Herbert Spencers Unterscheidung in »industrielle« und »militärische« Gesellschaften (wobei bei Spencer die erstere notwendigerweise im Lauf der Entwicklung die letztere ablöst) abwandelte, verfocht er die Ansicht, die sich aus der geopolitischen Lage Deutschlands ergebenden Erfordernisse der Außenpolitik machten den Übergang von einer »kontinentalen«, durch militärischen Absolutismus und bürokratische Verwaltung geprägten Regierungsform zu einer »industriellen« Gesellschaft, die wie in England durch parlamenHintze (s. o. Anm. VTI, 1), insbcs. S. 209-214, 233 f. Ebd., S. 219, 229f. " Ebd., S. 207. M
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tarische Regierung und Selbstverwaltung gekennzeichnet ist, unmöglich32. Mit dem Kriegsende wandelte sich auch Hintze vom Monarchisten zu einem Befürworter der Weimarer Republik. Obschon er der Demokratie äußerst skeptisch gegenüberstand, war er sich doch der Notwendigkeit einer breiten Basis des Staates im Volk bewußt; er neigte viel weniger als Meinecke, der ein plebiszitäres Präsidialsystem dem Parlamentarismus vorzog, zur Unterstützung der Republik. Gegen Ende der 1920er Jahre büßte Hintze seinen Glauben an die Lebensfähigkeit der Republik weitgehend ein; das politische Klima in Deutschland, das er in erster Linie dem Versailler Vertrag aufrechnete, setzte ihm sehr zu33. Er betrachtete den Totalitarismus in Rußland und in Italien als eine für die Nachkriegswelt charakteristische politische Form - nicht für eine vorübergehende Erscheinung - , glaubte aber noch 1929, Deutschland werde der Faschismus erspart bleiben34. Erwähnung verdienen zwei weitere Aspekte von Hintzes politischem Denken, die den vorherrschenden Ansichten zuwiderliefen. Bis in den Ersten Weltkrieg hinein war Hintze ein eifriger Verfechter der neurankeanischen Auffassung gewesen, wonach das System des europäischen Gleichgewichts auf die Weltebene übertragen werden mußte; Deutschlands Aufgabe bestand darin, das Gleichgewicht herzustellen, indem es die beherrschende weltpolitische Rolle Englands beseitigte und sich selbst als eine der Weltmächte etablierte35. Weit stärker als seine Kollegen fühlte Hintze den Einfluß des Krieges auf die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen und im Hinblick auf den Übergang von einer europäischen auf eine Weltpolitik, in der regionale Bündnisse und Blockbildungen eine wachsende Bedeutung gewinnen würden. Überhaupt würde der Typus des Nationalstaates, den seine Kollegen zum Idol erhoben hatten, in zunehmendem Maß überholt sein36. Er stellte auch die Wichtigkeit in Frage, mit der in Deutschland auf dem Machtstreben als dem bestimmenden Faktor der inter" Vgl. Hintze, Machtpolitik und Regierungsverfassung, in: Staat und Verfassung (s. o. Aom.i6), S. 424-456. " Vgl. Hintze, Kelsens Staatslehre, in: H Z 135 (»927) S. 73; ders., Rezension von Carl Schmitts )VerfassungslehreHistory of England < die Möglichkeit der Anwendung soziologischer Methoden auf die Geschichte ausgeschlossen. Nun verwarf Dietrich Schäfer in seiner Antrittsvorlesung (1888) schärfstens Gotheins Vorstellungen als ungeschichtlich; er verteidigte eine auf Fakten ausgerichtete, vorrangig an Staat und Persönlichkeit interessierte Methode als legitim historisch40. Die von Gothein eingeschlagene Richtung setzten in gewissem Sinn sowohl Lamprecht als auch Breysig fort, obwohl beide es eher als ihre Aufgabe ansahen, über die Untersuchung der sozialen und kulturellen »Zustände« hinaus zu einer Ausarbeitung von Entwicklungsgesetzen zu gelangen. Die akademische Historikerzunft brachte es fertig, Lamprecht schließlich in Deutschland zu diskreditieren - eine ernsthafte Beachtung erfuhr er nur weiterhin im Ausland - und Breysig zu ignorieren. Seit Droysens Kritik an Buckle hatten die der nationalen Tradition verhafteten Historiker in der Soziologie eine grundsätzlich fremde, westeuropäische Methode gesehen, die nicht nur die idealistischen Voraussetzungen der Geschichtswissenschaft, sondern auch die konservativen Werte der deutschen Politik bedrohte41. Sogar Schmollers auf den Staat ausgerichtete und loyal preußische Historiographie entging Angriffen nicht42. Die Ablehnung des Versailler Vertrags und der Weimarer Republik führten nicht allein eine gefühlsmäßig noch heftigere Abneigung gegen Sozialismus und Demokratie, sondern ebensosehr gegen die Sozialgeschichte herbei. Eckart Kehr traf ziemlich genau ins Schwarze, als er eine »groteske Identifizierung von Sozialgeschichte mit sozialistischer Geschichte« konstatierte und erklärte: »Wer Sozialgeschichte schreibt, M Dietrich Schäfer. Das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte, Jena 1888, abgedr. in: A u f sätze, Vorträge und Reden I, Jena 1 9 1 3 , S. 264fr. Gothein entgegnete in: Die Aufgaben der Kulturgeschichte. Leipzig 1889; Schäfers Replik erfolgte in: Geschichte und Kulturgeschichte. Eine Erwiderung, Jena 1891, abgedr. in: Aufsätze . . . ( s . o . ) , S. 29iff. Z u r Kontroverse GotheinSchäfersiehe Oestreich(s. o. Anm. $9),S. 3 2 7 - 3 3 1 . 41 Z u r Beziehung der traditionellen Historiker zur Soziologie siehe D . Fischer, a.a.O. 41 Z u Schäfers und Belows Kritik an Schmoller siehe Oestreich (s. o . Anm. 39), S. 340.
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wird für einen Sozialisten gehalten, selbst wenn er in Wirklichkeit ein Imperialist und ein Konservativer ist.«45 Die Geschichtswissenschaft verengte infolge ihrer politischen und nationalistischen Ausrichtung ihr Blickfeld noch gegenüber der Vorkriegszeit. Selbst die historischen Schriften eines Mannes wie Hermann Oncken, der die Weimarer Republik eindeutig unterstützte, zeichneten sich durch extremen Nationalismus und Franzosenhaß aus. Das bedeutete nicht, daß die Sozialgeschichte vollständig verschwand, obwohl die Kriegsschuldfrage das Hauptinteresse auf die Diplomatiegeschichte konzentrierte. Kurt Breysig schrieb in den 1920er Jahren Universalgeschichte von einem auf breiter Ebene vergleichenden Standort, wenn sie auch in einem metaphysisch-idealistisch klingenden Stil verfaßt war; jedoch wurde zwischen 1909 und 1932 keines seiner Bücher einer Rezension in der > Historischen Zeitschrift < für würdig befunden44. Das lebhafte Anfangsinteresse an der Sozialgeschichte in den 90er Jahren, das sich in einer Überfülle von Universitätsvorlesungen kundtat - die in vielen Fällen von akademischen Außenseitern, vor allem Wirtschaftsfachleuten, gehalten wurden und sich zudem oft mit der Geschichte des Sozialismus und der sozialen Frage beschäftigten anstatt mit der eigentlichen Sozialgeschichte-, war verflogen 45 . Die > Vierteljahrs schrift für Sozial- und WirtschaftsgeschichteVierteljahrsschrift< und ihrer Vorgängerin, der »Zeitschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte^ gehörten Theodor Mommsen, Karl Lamprecht, Kurt Breysig, Georg von Below, Werner Sombart, Henri Pirenne und Paul Winogradoff. Zur frühen Geschichte der Zeitschrift siehe Hermann Aubin, Zum )o. Band der Vierteljahraschlift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, ebd. Jo (1963) S. 1-24. 47 Siehe Oestreich (s. o. Anm. 39). 44 44
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neralisierungen erlaubten, wie er zugab, eine genauere Bestimmung des Individuellen als dem Ziel der historischen Forschung ; Generalisierungen waren jedoch niemals deren Zweck: »Das Allgemeine aber ist etwas Unwirkliches, nur ein Hilfsbegriff, nur ein Idealtypus.«48 In der Praxis verfügten die in der >Vierteljahrsschrift < wohl vertretenen Mediävisten über ein klareres Wissen um die wirtschaftlichen Faktoren und sozialen Strukturen als die modernen politischen Historiker, was vielleicht auf die Beschaffenheit der mittelalterlichen Gesellschaft zurückzuführen war, die den zentralisierten, bürokratischen Staat nicht kannte, mit dem sich die modernen Historiker beschäftigten. Somit verharrte die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der wilhelminischen Zeit und der Weimarer Republik großenteils innerhalb des idealistischen, politisch konservativen Rahmens der klassischen deutschen Geschichtswissenschaft. Eckart Kehrs 1930 veröffentlichtes Buch >Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894 bis 1901. Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus < bedeutete die wohl kühnste Herausforderung der idealistischen Voraussetzungen der historiographischen Tradition. Kehr verwarf die Annahme, Politik sei von den Erfordernissen der Außenpolitik bestimmt. Er unternahm den Versuch, die enge Beziehung zwischen der deutschen Flottenpolitik und dem Imperialismus um die Jahrhundertwende einerseits und wirtschaftlichen Interessengruppen andererseits nachzuweisen. An die Stelle des Primats der Außenpolitik, den die deutschen Historiker seit Ranke vertreten hatten, setzte Kehr den Primat der Innenpolitik. Die deutsche Politik wurde nach seiner Ansicht von dem besonderen Umstand geprägt, daß hier im Gegensatz zu Westeuropa die kapitalistische Industrie und Finanz nicht in der Lage waren, die Herrschaft eines vorkapitalistisch bürokratischen und militärischen Staatssystems zu brechen. Als die deutsche Bourgeoisie ihre wirtschaftlichen Ziele innerhalb der bürokratischen und aristokratischen Regierungsstruktur erreicht hatte, gab sie ihre politischen Ambitionen auf. Der Einfluß, den Kehrs Geschichtsrevision ausübte, blieb minimal. Er starb im Alter von kaum dreißig Jahren 1933 in den USA und wurde erst in den 60er Jahren von einer neuen deutschen Hi41 Below, Zum Streit um das Wesen der Soziologie, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 124 (3.Folge, Bd. 6 9 - 1926) S. 231, vgl. D. Fischer, a.a.O., S. I i i .
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storikergeneration wiederentdeckt49. Auf einem vergleichenden Weg untersuchte Georg Hallgarten in seinem > Vorkriegsimperialismus Ideengeschichte< ein spezifisch deutsches Phänomen, das aus den besonderen gesellschaftlichen Bedingungen in Deutschland erwachsen war, nämlich den Versuch, der unangenehmen Alternative zu entkommen, »die Machtpolitik anzuerkennen und zu unterstützen oder sich ihr als Sozialdemokrat entgegenzustellen«. Da die Ideengeschichte den unangenehmen Tatsachen des politischen und sozialen Lebens nicht begegnen will, sucht sie, um die Welt zu betrachten, Distanz zu gewinnen und die Historie aus einer Wissenschaft in eine Kunst zu verwandeln62. Es ist schwierig, darüber zu spekulieren, welche Richtung die akademische deutsche Historiographie wohl eingeschlagen hätte, wenn kein Drittes Reich gekommen wäre. Der Historikerzunft der Weimarer Republik wurde kein Generationswechsel zuteil. Die Lehrstühle waren weitgehend von denselben Inhabern wie unter dem Wilhelminismus besetzt. Eine jüngere Gruppe von Historikern, zu der Hans Rothfels, Hans S.
" Zu biographischen Angaben über E. Kehr siehe Wehler, Hinleitung, in: Kehr (s. o. Anm. 38), 1-Z9.
u
Georg Hallgarten, Vorkriegs-Imperialismus. Die soziologischen Grundlagen der Außenpolitik europiischer Großmächte vor dem ersten Weltkrieg, z Bde., München 19J1; eine gekürzte Fassung war in Paris 193; erschienen. " Siehe Wehler (s. o. Anm. 49). " Kehr (s. o. Anm. }8), S. 161.
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Herzfeld und Gerhard Ritter zählten, blieb den nationalen Traditionen tief verpflichtet. Wieder andere, so etwa Otto Westphal, verfielen als Reaktion auf die Kriegserfahrung in einen emotionalen Hypernationalismus. Es gab aber auch eine Gruppe vielversprechender junger Historiker, vor allem Schüler Meineckes, zu der Hajo Holborn, Hans Rosenberg, Ernst Simon, Dietrich Gerhard, Gerhard Masur und Felix Gilbert gehörten. Keiner von dieser Gruppe wurde auf einen Lehrstuhl berufen; der eine oder andere konnte sich höchstens habilitieren. Alle verließen infolge der Geschehnisse von 1933 Deutschland und keiner von ihnen ist nach 1945 wieder für dauernd zurückgekehrt. Im Gegensatz zu den Soziologen und Politologen waren die Historiker, die zurückkamen - etwa Hans Rothfels und Hans Joachim Schoeps - konservativnational gesinnt. Golo Mann, der Deutschland inzwischen wieder verlassen hat, ist ein ziemlich einmaliges Beispiel für einen demokratisch orientierten Historiker, der aus der Emigration zurückkehrte53. Ob die Weimarer Republik, hätte sie fortbestanden, an ihren Universitäten demokratisch gesinnten Historikern eine Wirkungsmöglichkeit geboten hätte, ist durchaus fraglich. Jedenfalls konnten sich nur jene Historiker dort durchsetzen, die später bereit waren, mit dem NS-Regime auszukommen, ob sie nun dessen Ideologie bejahten oder nicht.
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Für Philosophen und Kulturwissenschaftler bedeutete der Erste Weltkrieg ebenso wie für weite Teile der gebildeten Schichten in Deutschland einen tiefen Einschnitt; Krieg und Niederlage eröffneten eine ausgeprägt relativistische und pessimistische Perspektive und führten zu einer entschiedenen Kritik an den überkommenen politischen Normen. In der Vorkriegszeit war das deutsche Geschichtsdenken trotz Burckhardt und Nietzsche - von Pessimismus ziemlich unbeschwert gewesen. Der Deutsche Idealismus stellte' eine grundsätzlich optimistische Philosophie dar, der das Kulturbewußtsein in Deutschland bis 1914 ergeben war. Die wachsende Hinwendung zu den Naturwissenschaften im 19. Jahru Von den aus dem Exil zurückgekehrten demokratisch eingestellten Soziologen sind etwa Theodor W. Adorno, Mai Horkheimer, Helmuth Plessner, von den Politologen Ernst Frankel und Ossip K. Flechtheim zu nennen.
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hundert stand dem eigentlich nicht entgegen, denn im Grande genommen besagte der Idealismus nicht, daß die Realität Idee ist, sondern daß die Welt einen sinnerfüllten Prozeß darstellt. Feuerbach und Marx verwarfen diese Auffassung nicht, sondern übersetzten die Grundvorstellungen der idealistischen Philosophie in die Sprache eines wissenschaftlicheren Zeitalters. Denker wie Feuerbach, Marx und Karl Büchner repräsentierten nur Extreme des deutschen Denkens. Der Positivismus als eine philosophische Geschichtsauffassung im Sinne von Gimte oder Buckle besaß keine nennenswerten Vertreter unter den deutschen Historikern akademischer Provenienz, auch wenn gewisse positivistische Ansichten und Begriffe in ein wesenhaft idealistisches Gedankengerüst wie in den Werken von H. von Sybel und Wilhelm Dilthey eingeordnet wurden. Karl Lamprecht trat am ehesten in positivistische Fußstapfen, insofern er auf dem Wege über vergleichende Untersuchungen historische Entwicklungsgesetze entdecken wollte, jedoch gemahnte seine Arbeitsweise mehr an Herder oder Hegel oder selbst Burckhardt als an französische oder englische Vorbilder. Die Herrschaft des Idealismus wurde auch durch den Methodenstreit nicht erschüttert. In ihren wesentlichen Aspekten bewahrten die methodologischen Schriften von Dilthey, Windelband und Troeltsch den Glauben an die Geschichte als einen sinnvollen Prozeß und an die Möglichkeit objektiver Erkenntnis. Max Weber begriff die »ethische Irrationalität« der Welt und die Unmöglichkeit, ethische Fragen wissenschaftlich zu beantworten, aber auch er blieb von der Möglichkeit einer betont objektiven Forschung in den Sozialwissenschaften und der Geschichte überzeugt. Faktisch war er also den wissenschaftlichen und politischen Werten der Tradition verpflichtet. Erst während des Ersten Weltkriegs wurde der Historismus für deutsche Gelehrte zu einem Problem. Die Bestandteile des geistigen Klimas der 1920er Jahre waren schon vor dem Krieg da, aber ihr Einfluß war erst richtig zu spüren, als die anfangliche Zuversicht und die Kriegsbegeisterung nachließen. Vor 1914 nahmen die Zweifel an der Möglichkeit rationalen oder objektiven Wissens stetig zu; das Bewußtsein um die Relativität und Zeitgebundenheit der Normen wuchs. So unterschiedliche Männer wie Max Weber und Nietzsche hatten darauf hingewiesen, daß Werte keine objektive Grundlage in der Wirklichkeit besitzen, sondern daß es sich um Lebensfunktio-
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nen, um Angelegenheiten subjektiver Entscheidung handelte. Die vitalistische Glorifizierung von Willen und Macht, die Übersteigerung des Nationalismus, die Ablehnung nicht nur der »bourgeoisen« Moral, sondern auch von Demokratie und sozialer Wohlfahrt: all das gab es schon vor I9i4 54 . Oswald Spengler begann mit der Abfassung seines >Untergang des Abendlandes < bereits vor dem Krieg 56 , jedoch nicht nur die breiten Massen, sondern auch der akademische Bereich zeigte sich den unterschwelligen Strömungen des Kulturpessimismus gegenüber relativ immun58. Drei Akzente gewannen in der Geschichtsphilosophie der Nachkriegszeit Bedeutung. Der erste bestand darin, den Charakter der Geschichte als eines objektiven Prozesses zu leugnen. Schon Rickert hatte die Geschichte als eine gedankliche Konstruktion betrachtet. Theodor Lessing warf nun die Frage auf, inwiefern Geschichte überhaupt als ein Prozeß existiere57. Alle Rekonstruktionen historischer Entwicklungen waren reine Mythengebilde. Geschichte ist nicht Wissenschaft, sondern Willenschaft. Lessings Buch >Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen < erfuhr massive Kritik, teils weil der Autor demokratische Überzeugungen hegte und überdies jüdischer Herkunft war. Die entschlossen postulierte These, daß die Geschichte nicht in der Realität verankert ist, fand wenig Zustimmung58. Dabei war Lessings Haltung in gewissem Sinn eine logische Folgerung aus der Lehre vom Verstehen, sobald deren metaphysische Basis zusammengebrochen war. Das deutsche Geschichtsdenken von Schleiermacher und Humboldt bis Dilthey und Troeltsch beruhte, indem es einen Akt des subjektiven Verstehens als erforderlich für die Erkenntnis in den Humanwissenschaften ansah, auf der Voraussetzung, daß es eine grundsätzliche Identität zwischen dem subjektiven Erkenntnisakt des Historikers (der selbst Teil eines realen, objektiven 14 V g l . Fritz Stern, The Politics of Cultural Despair. A Study in the Rise of the Germanic Ideology, Berkeley 1961; Georg Lukäcs, a.a.O. Lukics setzt sich in seiner marxistischen Deutung des Irrationalismus im 19. und 20. Jahrhundert insbes. mit Dilthey, Spengler, Max Weber, Heidegger und Carl Schmitt auseinander. " Siehe zum geistigen Klima vor 1914: H. Stuart Hughes, Oswald Spengler. A Critical Estimate, New York 19} 2. " Vgl. Rohlfing, a.a.O. 47 Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1921 (2. Aufl.). " Siehe Lessings Kritik an seinen Kritikern in der Ausgabe Hamburg 1962, S. 9-28. Obwohl Lessing jegliche Rekonstruktion der historischen Entwicklung für Mythenbildung hält, will er die Objektivität des bloßen Geschehens zugeben» es aber nicht als Geschichte betrachten.
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Prozesses ist) und der geschichtlichen Realität gab. Ließ sich diese Identität nicht mehr aufrechterhalten, dann erschien Lessings »erkenntnistheoretischer« Nihilismus als ein unausweichlicher Schluß. Wichtiger war jedoch der zweite Akzent, nämlich der Glaube, daß es nicht eine menschliche Geschichte, sondern nur die Geschichte einzelner, in sich abgeschlossener Kulturen gab; das hieß, daß alle Werte kulturabhängig waren und das Verstehen anderer Kulturen deshalb stets nur partiell oder gar nicht möglich war. Diese Einstellung war bereits in den organistischen Gesellschaftsauffassungen der Romantik bis zu einem gewissen Grad ebenso enthalten gewesen wie in der anthropologischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Sie entwickelte sich weiter aus Rickerts Behauptung, Kulturen seien auf jeweils einmalige Werte ausgerichtet. 1916 äußerte Troeltsch die Ansicht, daß es keine Menschheitsgeschichte gebe und das Verstehen anderer Kulturen immer perspektivisch bedingt sei59. In extremer Form trat diese Haltung in Spenglers U n tergang des Abendlandes < auf; danach vermag wissenschaftliches Denken - sogar einschließlich der Mathematik - niemals die Grenzen seiner Kultur zu überschreiten. Der dritte und zweifelsohne bedeutsamste Akzent bestand in der Umkehrung aller politischen und sozialen Werte, die in breiten Schichten stattfand und sich am radikalsten in Spenglers Buch äußerte. In gewisser Hinsicht ist der Weg von der klassischen Fortschrittsidee zu Spenglers Untergangsvorstellungen nicht so weit, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. In den sehr unterschiedlichen Analysen der geschichtlichen Hauptlinien und des Zeitalters durch Denker wie Condorcet, J . S. Mill, Max Weber und Spengler läßt sich eine bestimmte Kontinuität feststellen. Alle konstatierten die unaufhaltsame Verwissenschaftlichung und Technisierung von Leben und Denken. Vernünftigkeit und Aufklärung aber, die für Condorcet absolut positive Faktoren bei der Befreiung des Menschen gewesen waren, galten jetzt immer mehr als eine Bedrohung der menschlichen Werte. Für Spengler wurden sie zur eigentlichen Antithese von Leben und Geist; bei ihm ersetzten die »heroischen« Tugenden des Ritters und des Priesters die humanistischen und humanitären Normen Westeuropas. >Der Untergang des Abendlandes < schien Troeltsch " Siehe Troeltsch (s. o. Anm. VII, jt), S. 1-47.
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eine Aufforderung zur Barbarei zu enthalten; das Buch war »selbst ein aktiver Beitrag zum Untergang des Abendlandes«60. Dennoch wurden Troeltschs schwerfällige Aufsätze nur von wenigen gelesen, während Spenglers Buch zu einer Art Bibel wurde, zur Geistesnahrung für Zehntausende gebildeter Deutscher der bürgerlichen Schichten in einer Zeit der Verwirrung. Weniger radikal wurden die rationalen und wissenschaftlichen Ideale Europas nun von einer breiten Flut an Literatur voll irrationaler Tendenzen fortgespült. Wie Karl Heussi 1932 in >Die Krisis des Historismus < feststellte61, bestand die große Wandlung im deutschen Geschichtsdenken nach dem Ersten Weltkrieg im Verlust des Glaubens an die Möglichkeit einer objektiven historischen Forschung. Selbst der von Marx beeinflußte Karl Mannheim verneinte diese Möglichkeit hinsichtlich der Sozialwissenschaften. Hatte Max Weber auch die Irrationalität der Werte erkannt, so war er doch überzeugt, daß es nur eine einzige und universale Logik und wissenschaftliche Methode gab62. Mannheim leugnete nun sogar die Allgemeingültigkeit der Methode. Das Denken entfaltet sich nicht deduktiv, sondern drückt »unreflektiertes Leben« aus, wie er mit den Vitalisten meint. Die Kategorien der Vernunft sind nicht überzeitlich, sondern dem Wandel unterworfen. Was Mannheim davor bewahrte, an den Bestrebungen der Wissenschaft zu verzweifeln, war sein dem Deutschen Idealismus entstammender Glaube an die »geheime Beziehung von Denken und Wirklichkeit und die wesenhafte Identität von Subjekt und Objekt«. Obwohl Mannheim die Reduzierung der lebendigen geschichtlichen Wirklichkeit auf logische Beziehungen ablehnte, verwarf er doch auch das irrationalistische Beharren darauf, nichts existiere außer isolierten Kulturepochen. Mannheim hielt gleich Troeltsch an der Überzeugung fest, daß die Geschichte ein sinnvoller Prozeß ist; somit schließt die subjektive Erkenntnis des Historikers oder Soziologen objektive - wenn auch einseitige oder perspektivenbedingte - Ausblicke auf die Wahrheit ein, denn er ist selbst Teil des großen Prozesses63. Mannheim stand mit seinem Interesse an der Rolle der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren in der Ge« Troeltsch, GS IV, S. 684. " Karl Hcussi, Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932. •• Mai Weber, Die Objektivität... S. 15J. " Karl Mannheim, Historismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 52 (1924) S. 1-60.
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schichte außerhalb der eigentlichen Tradition des deutschen Geschichtsdenkens. Weit größeren Einfluß auf die Wissenschaft übten in den 1920er Jahren Eduard Spranger84 und vor allem Erich Rothacker45 aus, die in die Sozialwissenschaften die Grundgedanken der Lebensphilosophie einführten. Rothacker wollte die von Dilthey aufgeworfenen Probleme erneut anpacken. Nach seiner Ansicht ist jede methodologische Kontroverse eine philosophische. Jede methodologische Haltung wird von einer weltanschaulichen Haltung bestimmt. Daher können sich die Kontrahenten in einer wissenschaftlichen Debatte, vor allem in den Sozialwissenschaften, genauso wenig gegenseitig überzeugen wie die Gegner in einem philosophischen Streit. Die Sozialwissenschaft muß sich darauf beschränken, soziologische oder historische Erklärungen nach den von Dilthey aufgestellten drei Grundtypen der Weltanschauungen zu klassifizieren. Gelegentlich war auch Dilthey der Meinung, daß die Wahl der Methoden von einer vorherigen philosophischen Ausrichtung bestimmt wird; in erster Linie befaßte er sich aber mit den Methoden der philosophischen Spekulation, nicht der wissenschaftlichen Untersuchung. Dilthey stand in gewisser Hinsicht Comte und dem Positivismus viel näher, als Rothacker es zugeben will. Sobald es nach Diltheys Ansicht einmal feststand, daß die Antworten auf alle metaphysischen Fragen die Weltanschauung des Philosophen widerspiegeln (und nicht die Forderungen der Logik), konnten die Methoden der einzelnen Kulturwissenschaften ausgearbeitet werden; diese Forschungsgebiete hoben sich damit auf ein wissenschaftliches Niveau. Der Glaube Diltheys an die reale Existenz und Struktur des historischen Forschungsgegenstandes war nun erschüttert worden; dasselbe war dem für das klassische deutsche Geschichtsdenken zentralen Glauben an die wirklich kontinuierliche Entwicklung widerfahren. In Rothackers Augen hat die Lebensphilosophie, die der methodologischen Haltung des Menschen Farbe und Gestalt verleiht, kaum etwas mit Erkenntnis zu tun. Jede Lebensphilosophie und daher jedes »wissenschaftliche« Menschen- und Gesellschaftsbild stellt einen Willens- und Schöpfungsakt dar. Die Geschichte setzt M Eduard Spranger, Kultureyldcntheoric und das Problem des Kulturverfalls, in: Geisteskultur 38 (1919) S. 65-90. u Erich Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 1920; d e n . , Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, München 1926.
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sich - womit Rothacker sich gegen Spenglers Fatalismus wendet - aus der unablässig schöpferischen Tätigkeit einzelner zusammen. Diese Schöpfungsakte werden nicht von einer allgemeinen Logik gelenkt, sondern sie sind konkret, eigenständig und individuell66. Der einzelne muß wählen, sobald er agiert; jede Wahl ist subjektiv und einseitig. Wie Mannheim bewahrt auch Rothacker der beibehaltene idealistische Glaube an die letztliche Identität von Subjektivität und Welt vor der Verzweiflung über die geistigen Unternehmungen des Menschen. Die von Rothacker entworfene Idee der Freiheit kann weiterentwickelt werden, wenn man voraussetzt, daß jeder einzelne, der unablässig in konkreten geschichtlichen Situationen eine Wahl treffen muß, weder die abstrakte Vernunft noch die Tradition als Richtschnur zur Verfügung hat. Es ist wohl nicht verwunderlich, daß eine Generation, die niemals an die letztliche Vernunftbezogenheit des Menschen oder der Welt geglaubt hat, nach den Katastrophen jenes Zeitalters auch ihren Glauben an Geschichte und Tradition verliert. Dieser Glaubensverlust zeigte sich besonders bei dem Politologen Carl Schmitt, dem Schriftsteller Ernst Jünger und dem Philosophen Martin Heidegger - den »politischen Dezisionisten«67. Für Jünger und Schmitt war nur mehr das Leben übriggeblieben; Leben bedeutete aber nichts als Bewegung und Tat. Moral und Zivilisation gelten Jünger nur als Möglichkeiten des Geistes, um Hochverrat am Leben zu begehen. Der einzige verbliebene Wert ist der Kampf. Auf politischem Feld müssen jene gesunden Kräfte, die den Kampf noch bejahen - der Soldat und der revolutionäre Arbeiter - , miteinander verschmelzen, um die Vitalität des Daseins zu erhalten. Preußentum und Bolschewismus sind einander verwandte Bewegungen, die allein wieder das Leben aufrütteln können. Damit war der Historismus als Theorie an seinem logischen Schlußpunkt angelangt. Wenn alle Wahrheiten und Werturteile individuell und historisch sind, dann gibt es keinen festen Punkt mehr in der Geschichte, weder für historische Kräfte im Sinne Rothackers noch für das Leben in Diltheys Sinn. Übrig bleibt nur der subjektive einzelne. Der Begriff der Geschichtlichkeit, der seit dem Erscheinen von Heideggers >Sein und ZeitMein Kampf < oder von Alfred Rosenberg in >Der Mythus des 20. Jahrhunderts < vertretene Geschichtsauffassung war rassisch orientiert, die der Historiker auf den Staat hin. Die erstere war großdeutsch, die letztere der Kontinuität Preußens gewidmet. Die aristokratische Einstellung der Historiker stand im Widerspruch zu dem Massenappell der Nazis. Dachten die konservativen Historiker auch hochpolitisch, so fühlten sie sich doch der kritischen Methode verpflichtet. Die einschlägige Literatur - Werner, Heiber, Ritter, Schieder - stimmt darin überein, daß der Hauptteil der deutschen Historikerschaft sich der NS-Kontrolle weitgehend entziehen 7t Vgl. Bracher u. a. (s. o. Anm. 75), S. 311-316; siehe auch K. D. Bracher. Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 1969, S. 286.
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konnte. Obwohl in den ersten Jahren viele Universitätslehrer Schätzungen sprachen von rund i 5 % 7 9 - entlassen wurden, erfolgten diese Entlassungen unter den Historikern mehr aus rassischen als aus politischen Gründen (mit Ausnahme von Veit Valentin, der seine Stellung am Preußischen Staatsarchiv verlor, und von Walter Goetz und Hermann Oncken, die frühzeitig in den Ruhestand gezwungen wurden). Ritter, Schieder und Werner weisen darauf hin, daß die Historikerschaft während der Nazi-Zeit größtenteils an der Tradition festhielt, daß die nazistischen Bemühungen, der Geschichtswissenschaft die NS-Ideologie zu oktroyieren, in den ersten Jahren weitgehend erfolglos verliefen und später aufgegeben wurden, daß sogar die »gleichgeschalteten« Zeitschriften - die >Historische ZeitschriftDeutsche Archiv < wie nunmehr das >Neue ArchivDie Entstehung der Weimarer Republik Volk im FeldVölkischen Beobachter< zum Opfer 89 ; er mußte vorzeitig emeritieren. Dies trug auch zur Auflösung der »Historischen Reichskommission« bei, deren Leiter Oncken 1934 in der Nachfolge Meineckes geworden war. Franks Angriff auf seinen einstigen Lehrer erfolgte wahrscheinlich weniger wegen Onckens Eintreten für die Weimarer Republik vor 1935 oder wegen der halbverhüllten Kritik an der Diktatur in dessen CromwellVorlesung (1933), als vielmehr aufgrund seines Bestrebens, den Einfluß der gemäßigten Professoren zu zerstören und die Bahn für die Bildung des neuen Reichsinstituts zu ebnen. Frank zieh Oncken des politischen Opportunismus und attakkierte in ihm den »typischen Vertreter« einer »wissenschaftlichen Objektivität«, die für die von der nationalen Revolution geforderte Verpflichtung blind war; der Angriff war natürlich auch auf Meinecke gemünzt. Die Historiker zeigten wenig Neigung, ihren Kollegen in Schutz zu nehmen; nur Gerhard Ritter und Friedrich Meinecke setzten sich für ihn ein. Meinecke tat dies in einer ätzenden Rezension90 von Franks Schrift >Kämpfende Wissenschaft HZ< war damit besiegelt. Allerdings ist Meineckes Verhältnis zum NS-Regime komplexer, als es auf den ersten Blick aussieht, und in verschiedener Hinsicht vielleicht ganz bezeichnend für die Einstellung der gemäßigten Historiker überhaupt. Auf innenpolitischem Gebiet war Meinecke solange ein ausgesprochener Gegner der Nazis gewesen, als eine offene Opposition möglich war 91 . Trotz gewisser Zugeständnisse auf nazistischen Druck hin - wie die Entfernung der jüdischen Mitarbeiter aus der >Historischen Zeitschrift < einschließlich Hintzes Frau Hedwig - suchte " Siehe etwa zur Kontroverse über das »Deutschtum« Karls des Großen bei Werner, a.a.O., S. 74». •• Frank, in: Völkischer Beobachter vom 3. Februar 19)5. Meinecke, in: H Z 11
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Siehe etwa seine Ende Februar 1933 verfaßten Zeitungsartikel in: W I I , S. 479-48*.
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Meinecke die >HZ< von ideologischen Beeinflussungen freizuhalten. Dennoch war die Distanz seiner eigenen Haltung zu jener der Nazis für Meinecke nicht so groß, wie man erwarten könnte. Interessanterweise hat er sich zu Walter Franks Buch über Adolf Stoecker (1928) sehr lobend geäußert92, obwohl darin antisemitische und antidemokratische Züge vorherrschten, und Frank zum Herausgeber seines Zeitschriftenressorts >Moderne Geschichte seit 1 8 7 C X gemacht. Fand Meinecke auch böse Züge am Nationalsozialismus, so erkannte er doch nicht dessen dämonischen Grundcharakter. Wenn er etwa 1935 Gerhard Ritter als seinen Nachfolger bei der historischen Zeitschrift < empfahl, dann glaubte er offenbar, daß ein Mann, der gerade ein Quentchen politisch weiter rechts stünde als er selbst, in der Lage wäre, die >HZ< unter der NaziHerrschaft zu edieren, ohne die »zentralen Überzeugungen« opfern zu müssen93. Diese Spekulation erwies sich zwar im Fall Ritters als falsch, aber sie traf zweifellos auf viele deutsche Historiker zu. Wie unglücklich Meinecke über den Verlauf der Innenpolitik auch war, seine Korrespondenz zeigt, wie bereits erörtert94, daß er mit den offiziellen außenpolitischen Zielen des Regimes einverstanden war, mit der Annexion Österreichs und des Sudetenlandes, mit dem Krieg gegen Frankreich und gegen Rußland. Sein Verhältnis zu Historikern, die dem NSStaat freundlich gegenüberstanden, wie K. A. von Müller und H. von Srbik, blieb herzlich. Die Ereignisse des Mai und Juni 1940 begrüßte er, wie schon erwähnt, »mit tiefer Bewegung, Stolz und Freude«, und meinte mit Bezug auf die liberale Opposition anno 1866: »Wir möchten wohl, - aber wir können noch nicht.«98 Rothfels, Heiber und Schieder haben die Tatsache, daß die >Historische Zeitschrift < Meinecke zu seinem 80. Geburtstag einen Band widmete, als ein Anzeichen für den sinkenden Einfluß der Nazis auf die Historikerschaft gedeutet. Der Band war jedoch einem Mann gewidmet, der das NSRegime nicht mehr offen kritisierte und der die Kriegsbemühungen loyal unterstützte. Die relative Leichtigkeit, mit der nicht nur konservative, sondern auch vorgeblich liberale Historiker sich mit dem Regime abfanden, wirft die Frage auf, ob der Nationalsozialismus für die deutschen Historiker einen >a
Meinecke, in: HZ 140 (1929) S. 131-154. " Vgl. Heiber, a.a.O., S. 28 j. Siehe dazu das 7. Kapitel. •• Meinecke (Brief an H. von Srbik vom 8. Juli 1940), W VI, S. I9)f.
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traumatischen Bruch bedeutete, oder ob er nicht etwa für Männer wie Meinecke und Ritter, die grundsätzlich in Opposition standen, eher ein unglückseliges Geschehnis darstellte, das aber durchaus nicht ganz aus dem Rahmen der nationalen Bestrebungen fiel. Deshalb ist es keine Überraschung, daß der Übertritt vom Dritten Reich in die Nachkriegszeit für die deutschen Historiker ziemlich glatt und schmerzlos verlief. Man kann Wolfgang Mommsen nicht zustimmen, wenn er behauptet, daß »die Ära des Nationalsozialismus - und nicht das Kriegsende den tiefsten Einschnitt in der Entwicklung des deutschen Geschichtsdenkens markierte«94, und daß »die Ungeheuerlichkeit der jüngsten Vergangenheit zu einer absolut ehrlichen Überprüfung der Traditionen und Ansichten der deutschen Geschichtswissenschaft zwang«97. Die deutsche Historikerzunft blieb nach 1945 relativ unverändert und wurde nur durch einige Historiker vermehrt, die ihre Stellungen im Dritten Reich aus rassischen Gründen verloren hatten - Hans Rothfels, Ludwig Dehio und Hans Herzfeld - sowie durch Hans Joachim Schoeps, der deswegen am Beginn seiner Laufbahn aufgehalten worden war. Rothfels, Herzfeld und Schoeps waren jedoch grundsätzlich konservativ eingestellt, obwohl sich die Positionen von Herzfeld und auch von Rothfels gegenüber der Weimarer Zeit verschoben hatten, insofern sie nationale Ziele den europäischen unterordneten und die Richtigkeit der Demokratie - Rothfels etwas zögernd - anerkannten. Von den demokratisch gesinnten Emigranten kehrte nicht einer für immer zurück. Die völkische Tradition war nun zwar erloschen, vor allem an den Universitäten (nicht ganz allerdings in der Populärwissenschaft). Die Männer, die sich entweder aus Opportunismus oder unter Druck oder aus Überzeugung als Geschichtsforscher im Sinne des Nationalsozialismus beteiligt hatten - Heinrich von Srbik, Werner Frauendienst, Hellmuth Rössler, Otto Brunner, Reinhard Wittram, Theodor Schieder, Erwin Hölzle, Fritz Härtung, Walther Hubatsch, Hermann Kellenbenz, Hermann Heimpel, Wolfgang Höfler, Willy Andreas und viele andere wurden im Handumdrehen wieder in die Historikerschaft Westdeutschlands und Österreichs aufgenommen. Einige von ihnen, wie etwa Hellmuth Rössler und Walther Hubatsch, wurden gewichtige Apologeten des Ver•* Wolfgang Mommncn, Historical Study in thc Wat, ed. Boyd Shifcr, New York Historischen Zeitschrift Sein und Zeit« zur Anerkennung der Realität einer Wesenheit, die den existierenden einzelnen transzeodiert. Vgl. dazu Krockow, a.a.O., 3. Kapitel.
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Der Verfall der deutschen »Geschichtsidee«
Schriften Walther Hofers, eines schweizerischen Historikers, der an der FU Berlin lehrte, ehe er i960 auf einen Lehrstuhl in die Schweiz zurückkehrte. Hofer ist ebenfalls von der Geschichtlichkeit aller menschlichen Erkenntnis überzeugt. Dennoch glaubt er nicht mehr daran, daß die Werte in der Geschichte gefunden werden. Der Mensch tritt an die Geschichte mit seinen subjektiven Werten heran. Das ist in gewissem Sinn die Stellung Heideggers, nur daß Hofers Werte die des demokratisch-humanistischen Westens sind. Eine objektive Methode ist nach Hofers Ansicht möglich, doch muß der Historiker, um sich ihrer gewiß zu werden, die Rolle seiner eigenen Vorurteile kennen. Subjektive Interessen dürfen niemals die Ergebnisse der historischen Untersuchungen bestimmen; sie bestimmen aber stets die Formulierung der zu untersuchenden Probleme. Trotz seiner Bewunderung für Meinecke, dem er sein erstes größeres Werk widmete, betont Hofer, daß der Historiker aus der Arbeit an seinem Forschungsgegenstand niemals den Sinn erschließen könne, sondern daß er an die Geschichte stets mit einer zuvor entworfenen Geschichtskon^eption herantreten müsse. Genau das taten die großen Vertreter des Historismus. Ranke und seine Nachfolger standen in keinem Gegensatz zur Philosophie; sie übertrugen vielmehr philosophische Kategorien und politische Normen auf die Geschichte. Ohne derartige Geschichtskonzeptionen wären ihre Werke bloße Chroniken geblieben. »Der denkende Mensch will nicht mehr nur wissen, wie es eigentlich gewesen, sondern was aus ihm und seiner Geschichte werden soll.« 110 Die Historie hat stets unserer »Existenzerhellung« gedient, was für die Gegenwart besonders ins Gewicht fällt. Menschliches Wissen ist immer begrenzt und von der Perspektive abhängig, doch kann diese Einengung in gewissem Ausmaß überwunden werden, wenn der Mensch sich nicht mehr auf die nationale Geschichte beschränkt, sondern einen höheren Grad an Objektivität durch Forschungen von universaler Weite zu erreichen sucht 111 . Hofer glaubte noch an die Geschichtlichkeit aller Werte, doch wurde der Historismus für 110 Walther Hofer, Geschichte zwischen Philosophie und Politik. Studien zur Problematik des modernen Geschichtsdenkens, Basel 1956, S. 10; vgl. ders., Geschichte und Politik, in: H Z 174 (1952) S. 287-306; ders., Geschichtsschreibung und Weltanschauung. Betrachtungen zum Werk Friedrich Meincckcs, München 19 J o. Außerdem hat Hofer Wichtiges zur Erforschung des Nationalsozialismus und der Entstehung des Zweiten Weltkrieges beigetragen; vgl. ders., Die Entfesselung des 2. Weltkrieges, Stuttgart 1954. 111
Hofer, Geschichte und Politik, a.a.O.
Der Einfluß der beiden Weltkriege und des Totalitarismus
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ihn unhaltbar, da er voraussetzt, daß die Werte mittels der historischen Forschung zu finden sind. Der Begriff der Geschichtlichkeit, wie er von Heidegger und in modifizierter Form von Hofer verstanden wurde, bedeutet, daß der Mensch seine Werte in die Geschichte hineinträgt, daß diese subjektiven Normen aber selbst in geschichtlichen Lagen erworben sind. Zum erstenmal seit der Aufklärung wagten es bedeutende deutsche Philosophen, die Stellung des Historismus anzugreifen und auf etwas zurückzugreifen, was dem Naturrecht nahekam, nämlich auf den Glauben, daß es gewisse überzeitliche Werte gibt, die aus der Natur des Menschen hergeleitet werden können. Der Philosoph Gerhard Krüger eröffnete die Attacke auf den Historismus und auf Heidegger in zwei äußerst kritischen Aufsätzen, die er kurz nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches schrieb. Die Geschichte als der Raum menschlicher Freiheit und Schöpferkraft spiegelt die Anarchie der Werte und Meinungen wider. Es hat jedoch überzeitliche Traditionen gegeben, die von den Katastrophen und sozialen Umschichtungen unserer Zeit nicht zerstört worden sind, so der Appell an »Gerechtigkeit, Vaterland und Gemeinwohl, Treue, Menschlichkeit, Freiheit und Wahrheit«. Wichtiger als die Frage, was war, ist die Frage, »was sein soll und was immer ist, die alte platonische Frage nach dem Guten und Rechten und nach der bleibenden Urgestalt der D i n g e . . . Wichtiger als unser wechselndes Schicksal im Fürwahrhalten ist die bleibende Wahrheit.« Das bedeutet für Krüger eine objektive Weltordnung, sowohl im physikalischen als auch im moralischen Bereich. »Es ist damit gesagt, daß die Dinge nicht so sind, wie wir sie souverän ansehen und beurteilen, sondern so, wie sie an sich selbst sind.« 112 Karl Löwith greift das Problem ähnlich auf. Auch er sieht die Geschichte »als ein dynamisches Geschehen . . . von jeder Historie unabhängig« 113 . Innerhalb der Geschichte können wir keinen Sinn entdecken. »Auch geschichtliche Geschehnisse sind nur sinnvoll, wenn sie auf einen Zweck jenseits der tatsächlichen Ereignisse verweisen.« 114 Gleich Krüger ist Löwith der Ansicht, der moderne Mensch könne von der griechischen 111 Gerhard Krüger, Die Geschichte im Denken der Gegenwart, in: Wissenschaft und Gegenwart, Nr. 16, Frankfurt 1947, S. 35F.; vgl. ders., Gcschichtc und Tradition, Stuttgart 1948. 111 Karl Löwith, Die Dynamik der Geschichte und der Historismus, in: Eranos-Jahrbuch 21 (1952) S. 255. 111 L ö v i t h , Weltgeschichte und Hcilsgeschehen, Stuttgart 1953, S. l j .
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Der Verfall der deutschen »Geschichtsidee«
Geschichtsauffassung lernen. Die Griechen betrachteten die Geschichte als eine Sphäre des Irrationalen, bar allen Sinnes; Sinnfulle war nur der Natur eigen. Die Beschaffenheit der Geschichte wurde vom jüdisch-christlichen Denken grundlegend mißverstanden, als es sie in erster Linie als Heilsgeschehen auffaßte. In säkularisierter Form lebte dieser Glaube an den Sinn der Geschichte in der Fortschrittsidee und im Historismus weiter. Der heutige Mensch bedarf des Abbaus »unserer weltgeschichtlichen Konstruktionen theologischer Herkunft und der Wiedergewinnung eines natürlichen Weltbegriffs, der sich nicht an der Natur der modernen Naturwissenschaft, sondern unmittelbar an der Natur selbst, als dem Maßstab aller Natürlichkeit, orientieren müßte«115. Auch Leo Strauss, der sich vor den Nazis in die USA rettete und nach dem Krieg nicht mehr zurückkehrte (obwohl seine Bücher in ihren deutschen Übersetzungen mehr Aufmerksamkeit fanden als die englischsprachigen Ausgaben), beruft sich gegen den Historismus auf das Naturrecht. »Dem vorurteilslosen Historiker offenbarte sich der >Geschichtsprozeß < als ein sinnloses Gewebe, welches ebensosehr durch die Taten, Schöpfungen und Gedanken der Menschen gesponnen wurde wie durch reinen Zufall - ein Märchen, von einem Idioten erzählt.«114 Natur und Menschennatur, Wahrheit und Gerechtigkeit sind das, was bleibt. Die Folgerung des Historismus, alle menschlichen Werte seien an geschichtliche Situationen gebunden, verwirft er völlig; die Geschichte »scheint eher zu beweisen, daß alles menschliche Denken und sicherlich alles philosophische Denken sich stets mit den gleichen Grundthemen oder mit den gleichen Grundproblemen beschäftigt und daß deshalb ein unveränderlicher Denkrahmen existiert, welcher allen Wechsel in der menschlichen Erkenntnis von Tatsachen und Prinzipien übersteht... Wenn die Grundprobleme über jeden geschichtlichen Wechsel hinweg bestehen, dann ist das menschliche Denken fähig, seine historische Beschränkung zu transzendieren und etwas jenseits der Geschichte Bestehendes zu erfassen.«117 In der Aufforderung Krügers, Löwiths und Strauss', zu den griechischen Vorbildern des Naturrechts zurückzukehren, hat sich eine etwas überspitzte Form des Antihistorismus niederLöwith (j. o. Anm. 113), S. 247. Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1936, S. 19. "'Ebd.,S.ijf.
ua
Der Einfluß der beiden Weltkriege u n d des Totalitarismus
335
geschlagen; das Interesse am Naturrecht hat offensichtlich in den letzten Jahren nachgelassen118. Immerhin scheinen zahlreiche Historiker und Sozialphilosophen nun die Uberzeugung zu haben, daß es grundlegende Züge gibt, die allen Menschen gemeinsam sind, und daß sich aus dieser gemeinsamen menschlichen Natur eine gemeinsame Moral herleitet, mittels deren geschichtliche Institutionen beurteilt werden können. Vor einiger Zeit hat Karl Ludwig Rintelen in einem Aufsatz die große Leistung des Historismus in seiner Erkenntnis der Individualität und der Entwicklung gesehen, den großen Irrtum dagegen in seiner Identifizierung von historischer Individualität und Norm. Seit dem Auftreten der großen Propheten im Osten und Westen vor mehr als zweitausend Jahren (also seit der Jasperschen »Achsenzeit«) hat die ganze Menschheit bestimmte Normen wie »Besonnenheit, Maßhalten, Friedwilligkeit, Nächstenhilfe, Kompromißbereitschaft, Freiheit und Menschlichkeit« anerkannt118. Aus diesen Normen hat sich der Kern sowohl des Naturrechts als auch der christlichen Ethik entwickelt. Zwar muß der Historiker sein Gespür für Individualität behalten, es aber mit einer auf diese gemeinsame menschliche Moral bezogenen Urteilsfähigkeit verbinden. In ihrer Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte haben deutsche Historiker in zunehmendem Maß eine derartige Einstellung gewonnen. Rintelen zählt Friedrich Meinecke, Hans Herzfeld, K. D. Bracher, Walther Hofer, Hans Rothfels, Theodor Eschenburg und Ludwig Dehio zu jenen Historikern, denen diese Synthese von Historismus und Naturrecht gelungen ist. Die meisten von ihnen lieferten Beiträge zu den Veröffentlichungen des »Instituts für Zeitgeschichte« und dessen Zeitschrift, den >Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte •• Vgl. W. Conze (s. o. Anm. 103), S. 18. Meinecke (s. o. Anm. V I I , 244), S. 4. i«i vfagner, Rankes Geschichtsbild . . . (s. o. Anm. 103), S. 6f.
Der Einfluß der beiden Weltkriege und des Totalitarismus
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stritten. Bezeichnenderweise war es eine Gruppe bedeutender Historiker der älteren Generation - Gerhard Ritter, Hans Rothfels, Hans Herzfeld und der (1954 verstorbene) greise Friedrich Meinecke: alle in verschiedenem Grad aus politischen und bzw. oder rassischen Gründen Opfer der NS-Verfolgung - , die den deutschen Traditionen am wenigsten kritisch gegenüberstand. Gerade diese Männer sollten die wichtigsten Altmeister der deutschen Historikerzunft in den Jahren nach 1945 werden. Jeder von ihnen war tief in der nationalen Überlieferung des historischen und politischen Denkens verwurzelt. Weil sie selbst der NS-Ideologie nicht verfallen waren, erkannten sie wohl nicht die Verantwortlichkeit der deutsch-idealistischen Tradition für die geistige Wegbereitung des Nationalsozialismus. Hans Rothfels war eine große Ausnahme unter den Emigranten, als er für dauernd zurückkehrte; gewöhnlich behielten sie ihre akademischen Stellungen im Ausland bei und übten höchstens einen Einfluß am Rande des akademischen Lehrbetriebs in Deutschland als zeitweilige Gastprofessoren aus 132 . Radikale Umschreibungen der deutschen Geschichte gab es kaum; vor allem nicht außerhalb der DDR. Die wenigen Versuche, einen »Irrweg« 133 in der Deutschland eigenen politischen Entwicklung aufzudecken, wurden von Außenseitern unternommen, so etwa von Heinrich Heffter 134 und F. C. Seil 135 . Wichtige Deutungen entstanden im Ausland: Erich Eycks Darstellungen Bismarcks, der wilhelminischen Ära und der Weimarer Republik, Hans Kohns Schriften über Nationalismus und Geschichtsschreibung in Deutschland, Hans Rosenbergs Werk >Bureaucracy, Aristocracy, and Autocracy. The Prussian Experience 1660-1815 Historischen Zeitschrift < nach dem Krieg. Wie Ritter und Rothfels wuchs er in der nationalen Tradition der Geschichtswissenschaft auf. Er registriert jedoch eine deutlich sichtbare Kontinuität der deutschen Politik vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg184. Deutschlands Schicksal im späten 19. und im 20. Jahrhundert verlief »typisch« wie das aller hegemonialen Mächte, die aufgrund der Dämonie der Macht zur Expansion und in die Katastrophe getrieben werden. Außer dieser »typischen« Bedingung, die vom Wesen der Macht, nicht vom deutschen Charakter herrührt, gab es auch ein »einzigartiges« deutsches bzw. preußisches Element, das zur Furchtbarkeit der deutschen Gefahr beitrug. Dehio hält Friedrich den Großen und Bismarck nicht für die unmittelbaren Vorläufer Hitlers, aber er verweist auf die vorhandene Kontinuität; »altpreußische« Vorstellungen über die Macht beherrschten das politische Denken Deutschlands im 20. Jahrhundert und verschmolzen mit den neuen Tendenzen zu einer hochexplosiven Mischung 185 . Uneingeschränkte Versuche einer unkritischen Rehabilitierung der deutschen Vergangenheit finden sich in der wissenschaftlichen Literatur kaum. Sie tauchen häufiger in der populären Geschichtsdarstellung und den Memoiren über die Zeit des Zweiten Weltkriegs auf. Ritter, Meinecke, Rothfels und Hans Herzfeld betonen, daß die deutsche Geschichte, spätestens seit Bismarcks Entlassung, einen unglücklichen Verlauf genommen hat, wobei allerdings Deutschlands Irrwege nur aus einer allgemeinen Krise Europas erklärt werden können. Nach 1890 steuerte Deutschland auf Untergangskurs zum Teil deswegen, weil es sein idealistisches Erbe vergessen und seiner Diplomatie gestattet hatte, sich dem Druck der Massenmeinung zu beugen. Ubereinstimmung herrscht darüber, daß die nationale Tradition die Dämonie der Macht unterschätzt hatte. Walther Hubatsch (geb. 1915) steht dagegen den konser' » Ebd., S. 1 0 3 . Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie, Krefeld 1948; den., Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert, München 1955. IM v g l . auch Dehio, Deutschland und die Epoche der Weltkriege, in: H Z 173 ( 1 9 J 2 ) S. 77-94; ders.,Preußisch-deutsche Geschichte 1640-194;. Dauer im Wechsel, in: Das Parlament, 18. Januar 1961, Beilage, S. 2 5 - 3 1 . 1M
348
Der Verfall der deutschen »Geschichtsidee«
vativen nationalen Historikern der Weimarer Zeit mit seinem Bestreben, die preußisch-deutschen politischen und militärischen Traditionen vom Großen Kurfürsten bis 2ur Eroberung Norwegens zu verteidigen, recht nahe196. Auch noch in den sechziger Jahren, als die Fischer-Kontroverse (s. u. S. 3 5 9 f.) neue Fragen aufwarf, betrachtete er den Ausbruch des Krieges 1914 als »so gut durchforscht«, daß er seine älteren Thesen von der relativen Unschuld Deutschlands aufrechterhielt. In der Einführung zur Neuauflage der Hindenburg-Biographie, die Erich Mareks 1932 schrieb, sucht Hubatsch den Mythos von dem »monumentalen Charakter« und der »weltgeschichtlichen Größe« Hindenburgs wieder zu beleben. Wenn er auch auf die »Abgründe der Bewegung Hitlers« hinweist, hat er doch sehr großes Verständnis für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Hindenburg. Auch Hitlers Außenpolitik bis 1938 schien ihm großenteils gerechtfertigt. Deutschlands jahrhundertelanger »Drang nach dem Osten« war - vor allem im 20. Jahrhundert - nichts als eine Legende. Erst 1938 schwenkte Deutschland nach Hubatschs Ansicht von einer gerechtfertigten Politik der nationalen Sicherung auf eine unrechte der imperialistischen Expansion um168. Obgleich Hubatsch im akademischen Bereich heute eigentlich recht isoliert ist, beauftragte ihn die Bundeswehr damit, eine deutsche Geschichte herauszugeben16®. Doch nicht einmal Hubatsch will Deutschland von der Hauptverantwortung am Zweiten Weltkrieg lossprechen. Dies blieb zwei nichtdeutschen Historikern vorbehalten, A. J . P. Taylor 170 und David Hoggan 171 . Beider Werke wurden in Deutschland kritisch aufgenommen. Die Grundthesen wurden 1,6
D i e in der ersten deutschen A u f l a g e dieses Buches erwähnte Übernahme zweier Forschungs-
aufträge des Reichsinstituts hat sich als unrichtig erwiesen. Über Hubatschs Verbindung mit dem Reichsinstitut und mit der geplanten Massenausgabe einer A u s w a h l aus K l e o Pleyers »Volk im Feld« Tgl. Heiber, a . a . O . , S . 3 9 7 , J 4 6 , 5 5 3 . 167
E r i c h Mareks/Walthor Hubatsch, Hindenburg, Göttingen 1963. Siehe auch Hubatsch, H i n -
d e n b u r g u n d d e r Staat. A u s d e n P a p i e r e n d e s G e n e r a l f e l d m a r s c h a l l s u n d R e i c h s p r ä s i d e n t e n v o n 1 8 7 8 bis 1 9 3 4 , G ö t t i n g e n 1 9 6 6 . V g l . a n d e r e W e r k e H u b a t s c h s : E c k p f e i l c r E u r o p a s . P r o b l e m e d e s Preußenlandes in geschichtlicher Sicht, Heidelberg 1 9 5 3 ; D a s Problem der Staatsräson bei Friedrich dem Großen, Göttingen 1 9 5 6 ; >WeserübungDeutsche Geschichte Diskontinuität< in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts« 173 . Hitler fügt sich nicht in den Rahmen der nationalen Geschichte ein und muß als ein europäisches, den deutschen Traditionen wesenhaft fremdes Phänomen betrachtet werden. So konnte der deutsche Konservatismus rehabilitiert werden. Jeder Versuch, den preußisch-deutschen Machtstaat zu glorifizieren oder die Demokratie herabzusetzen, wie es bei deutschen Historikern bis 1945 weidlich der Brauch gewesen war, steht nunmehr außer Debatte. Völkische Geschichtsauffassungen sind undenkbar geworden.. Die historiographische Überlieferung der ultranationalistischen Rechten, die in der Weimarer Republik von Otto Westphal, Johannes Haller, Dietrich Schäfer u. a. repräsentiert worden war, ist ein- für allemal tot; mit ihr erlosch auch die Dolchstoßlegende. Die Helden von gestern (einschließlich LudendorfT) sind die Schurken von heute, indessen Bethmann Hollweg, der im Ersten Weltkrieg die annexionistischen Kriegszielbestrebungen zu dämpfen suchte, aufgewertet worden ist. Was also die von Gemäßigten (Meinecke, Hintze, Oncken, Goetz) vertretene Einstellung der Minderheit in der Weimarer Republik war, ist jetzt zur Hauptrichtung des Geschichtsdenkens geworden 174 . 1T>
Hellmuth Rössler, Deutsche Geschichte. Schicksal des Volkes in Europas Mitte, Gütersloh
1961. 1,1
Imanuel Geiss. Der polnische Grenzstreifen. Wilhelminische Expansionspläne im Lichte heutiger Geschichtsforschung, in: Der Monat 1 7 1 . Dezember 1962, S. j8. " « Ebd.
350
Der Verfall der deutschen »Geschichtsidee«
Diese neuerdings vorherrschende Richtung ist aber trotzdem konservativ und nationalistisch; sie steht in der traditionellen Linie des deutschen Historismus. Viel Mühe wird darauf verwendet, um das Bild Preußens aufzupolieren. Es gab aber bis vor kurzem kaum einen ernsthaften Versuch, das Bild Bismarcks zu korrigieren oder die Problematik der Reichsgründung von 1871 darzustellen. Erich Eyck hat sich darum bemüht, doch seine monumentale Biographie 175 , die Gerhard Ritter als »die erste große Biographie Bismarcks, die auf kritischer Quellenforschung beruht«, bezeichnete176, wurde ablehnend beurteilt und beeinflußte die spätere Bismarck-Literatur in Deutschland erstaunlich wenig. Historiker wie Walter Bussmann, Hans Rothfels, Werner Conze u. a. halten an der Überzeugung fest, daß Bismarcks Lösung des deutschen Problems die einzig mögliche in der damaligen Situation war 177 und es sich bei dem von ihm begründeten Staatswesen um ein eigentlich gesundes handelte178. Bismarck darf für die Fehler seiner Nachfolger nicht verantwortlich gemacht werden. Natürlich sind am Bild Bismarcks Modifizierungen vorgenommen worden; er erscheint nunmehr weniger als Deutscher denn als Europäer, als der letzte große Kabinettspolitiker. Für Rothfels repräsentiert Bismarck den selten anzutreffenden Staatsmann, der fähig war, der öffentlichen Meinung seiner Zeit zum Trotz die Grenzen des Nationalismus zu sehen. Der Staat verkörperte für Bismarck einen höheren Wert als die Nation. Rothfels hebt hervor, daß Preußen niemals ein rein deutscher Staat war, sondern in seinen Ostgebieten als Vielvölkerstaat gleichermaßen Deutsche, Slawen und Balten umfaßte. Das so als Glied der europäischen Staatengemeinschaft gesehene Zweite Reich Bismarcks bildete den genauen Widerpart des Dritten Reiches179. 1,8
Erich Eyck, Bismarck, Leben und Werk, 3 Bde., Zürich 1941-44. Zit. nach Hans Kohn, Rethinking Recent German History, in: German History. Some N e w German Views, ed. Hans Kohn, Boston 1954, S. 3 J . Vgl. Bussmann (s. o. Anm. I , 33); Werner Conze, Die deutsche Nation, Göttingen 1963; Rothfels, Z u m l j o . Geburtstag Bismarcks, in: Vierteljahrehefte für Zeitgeschichte 13 (196;) S. 329-343. Z u r Aufwertung Bismarcks in der deutschen Geschichtswissenschaft seit 1945 siehe insbes. Otto Pflanze, The Bismarck Problem (Introduction), in: Bismarck and the Development of Germany. The Pcriod of Unification, 1 8 1 5 - 1 8 7 1 , Princeton 1963; Dorpalen, The German Historians and Bismarck, in: Review of Politlcs 15 (1953) S. 53-67; ferner verschiedene Beiträge in: German History, ed. H. Kohn (s. o. Anm. 176). 17a Conze (s. o. Anm. 177) anerkennt (wie auch Schieder, Das Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln 1961) die Unausgewogenheit des Bismarck-Staates im Hinblick sowohl auf die unvollständige Nationalstaatlichkeit als auch die undemokratischen Institutionen. 111 Rothfels, Bismarck und das 19. Jahrhundert, in: Schicksalswege deutscher Vergangenheit (Festschrift für Siegfried Kaehler), Hrsg. Walther Hubatsch, Düsseldorf 1950, S. 247; vgl. auch
Der Einfluß der beiden Weltkriege und des Totalitarismus
351
Die nationale Tradition der deutschen Geschichtswissenschaft lebte somit in den historischen Darstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg weiter. Gleich2eitig wurden jedoch auch Neuansät2e in der Themenwahl der Historiker, in ihren methodischen Voraussetzungen und in ihren politischen Wertungen sichtbar. Das neue Interesse an der Strukturgeschichte zog eine deutlichere Scheidelinie zu den althergebrachten Praktiken der Geschichtswissenschaft. Eine gewichtige Gruppe deutscher Historiker - darunter Theodor Schieder, der Herausgeber der >HZAnnales. Économies, Sociétés, Civilisations < (zu der Lucien Febvre, Marc Bloch und Fernand Braudel gehören), die sich mit Problemen der strukturellen Kontinuität und der sozialen Ursächlichkeit in der Martin Gühring, Bismarcks Erben 1890-194;. Deutschlands Weg von Wilhelm II. bis Hitler. Wiesbaden 1959. 1M Schieder (s. o. Anm. 103). S. 177. 111 Vgl. ebd.; auch Conze (1. o. Anm. loj), S. 18.
352
Der Verfall der deutschen »Geschichtsidee«
Geschichte beschäftigt hat, erregte das Interesse deutscher Historiker 182 . Keinen Widerhall fanden in Deutschland jedoch die weiterreichenden Folgerungen der Schule um die >AnnalesL'Historiographie Allemand Depuis la Guerre f
Siehe J ö r n Rüsen, G r u n d z ü g e einer Historik, 3 Bde., G ö t t i n g e n 1 9 8 3 - 1 9 8 9 .
34
D a r u n t e r W o l f g a n g H a r d t w i g , J ü r g e n K o c k a , W o l f g a n g Küttler, C h r i s t i a n Meier, J o s e f
Meran, W o l f g a n g J . M o m m s e n , Ulrich M u h l a c k , O t t o G e r h a r d Oexle, W i n f r i e d Schulze, R u d o l f von T h a d d e n , R u d o l f Vierhaus u. a.
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
413
Grundlagen der historischen Praxis zu untersuchen. 3 5 Für die Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik bedeutete dies, sich ihrer theoretischen Voraussetzungen klarer bewußt zu werden, als sie traditionell getan hatte.' 6 Der kritische Standpunkt der »Historischen Sozialwissenschaft« setzte voraus, daß der herkömmliche Imperativ der Wertfreiheit, wie er in der klassischen deutschen Geschichtswissenschaft, aber auch in den anglo-amerikanischen Sozialwissenschaften vertreten wurde, eine Illusion sei, die die Subjektivität und die ideologische Funktion jeglicher Wissenschaft verschleiere. Statt dessen plädierten die Verfechter einer kritischen Wissenschaft für eine offene Darlegung der Erkenntnisinteressen, die aber keineswegs den Verzicht auf methodisch saubere und ehrliche Forschung ausschloß. 3 7 Explizit wurde in den von Wehler zwischen 1971 und 1982 herausgebenen neun Bänden, »Deutsche Historiker«, klargemacht, daß es außer den Vertretern der herkömmlichen nationalen Richtung der akademischen Geschichtswissenschaft eine ganze Anzahl von Außenseitern gab, die andere politische Ziele und andere methodische Strategien verfolgten, und die nunmehr für eine demokratische, gesellschaftsorientierte Geschichtswissenschaft von Bedeutung geworden waren. 3 8
4-
Die problemorientierte kritische Sozialgeschichte blieb aber nicht unangefochten. So wurden schon sehr bald Stimmen laut, die erneut die Eigenständigkeit der Politik betonten und die Rückkehr zu einer wertneutralen »Objektivität« forderten. In Aufsätzen von Andreas Hillgruber, Klaus Hildebrand, Hans Günter Zmarzlik und Lothar Gall in der »Historischen Zeitschrift« und in der in »Geschichte und Gesellschaft« erschiene-
i5
Siehe
München j6
die
Studiengruppe
«Theorie
der
Geschichte«,
Theorie
der
6
Geschichte,
Bde.,
1977-1990.
Siehe Josef
Meran, Theorien
in
der
Geschichtswissenschaft.
Die
Diskussion
über
die
W i s s e n s c h a f t l i c h k e i t d e r G e s c h i c h t e , G ö t t i n g e n 1 9 8 5 , s o w i e J ü r g e n K o c k a ( H r s g . ) , T h e o r i e n in d e r P r a x i s d e s H i s t o r i k e r s , G ö r t i n g e n 1 9 7 7 , G e s c h i c h t e u n d G e s e l l s c h a f t , S o n d e r h e f t 3. 17
Z u m P r o b l e m der W e r t f r e i h e i t siehe R e i n h a r t Kosetleck, W o l f g a n g J . M o m m s e n und J ö r n
Rüsen (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit, M ü n c h e n 1977, Bd. 1 von T h e o r i e der Geschichte (siehe
Anm.
35);
Sozialwissenschaften
auch und
Detlef
Junker,
Über
die
der G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t ,
Legitimität in:
von
Historische
Werturteilen Zeitschrift
S. 1 - 3 3 . '8
Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.). Deutsche Historiker, 9 Bde., Göttingen
1971-82.
211
in
den
(1970),
414
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
nen Besprechung von Thomas Nipperdey 39 , die sich alle auf Wehlers »Deutsches Kaiserreich« bezogen, wurde Wehlers Begriff einer als »Historische Sozialwissenschaft« konzipierten Gesellschaftsgeschichte abgelehnt. Geschichte, so betonten alle fünf Kritiker, müsse wertfrei sein. Durch seinen Gegenwartsbezug habe Wehler die Geschichte des Kaiserreichs verzerrt. In einer besonders scharfen Kritik bezichtigte Nipperdey Wehler, ein »Treitschke redivivus« zu sein, der gegen die Urgroßväter prozessiere. So meinte Nipperdey: Indem Wehler sich auf »nur eine Kontinuitätslinie fixiert... deformiert sich sein historisches Urteil«. Das Kaiserreich müsse unter den Bedingungen seiner Zeit verstanden werden. Wo Wehler »die Erklärung aller Phänomene aus ihrer Funktion für die Herrschaftsstabilisierung« herleite, übersehe er die Parallelen zwischen Entwicklungen in Deutschland und in anderen europäischen Ländern, wie z. B. Schutzzollpolitik, Sozialdarwinismus, Antisemitismus und Imperialismus. 40 Nipperdey und Zmarzlik behaupteten, man könne im deutschen Kaiserreich ganz andere Kontinuitätslinien entdecken, die zur Weimarer Republik und der Bundesrepublik führten. Hillgrubers und Hildebrands Kritik ging über diejenige Nipperdeys und Zmarzliks hinaus, indem sie die Rolle der Theorie in der Geschichtsschreibung radikal in Frage stellte. Die Geschichte müsse wieder zur Erzählung zurückkehren und die Selbständigkeit der Geschichte der internationalen Beziehungen müsse anerkannt werden. Zwar war für Hillgruber der traditionellen personalisierten Geschichtsschreibung eine Absage zu erteilen, doch »(bestimmen) trotz aller Bedeutung langfristiger Entwicklungen auch im 19. und 20. Jahrhundert die Gegensätze zwischen den Groß- und Weltmächten wesentlich den Verlauf der allgemeinen Geschichte.« 41 Die internationale Politik sei auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht bloße Funktion des Industrialisierungsprozesses geworden, was Wehler auch nie behauptet hatte. Noch radikaler als Hillgruber betonte Hildebrand die Rolle individueller Persönlichkeiten ,9
Andreas Hillgruber, Politische Geschichte in moderner Sicht, in: Historische Z e i t s c h r i f t 2 1 6
(1973), S. 529-552; K l a u s H i l d e b r a n d , Geschichte oder »Gesellschaftsgeschichteis D i e N o t w e n digkeit einer politischen Geschichtsschreibung von den internationalen Beziehungen, in: H Z , S. 223 ( 1 9 7 6 ) , S. 3 2 8 - 3 5 7 ; H a n s - G ü n t e r Z m a r z l i k , D a s Kaiserreich in neuer Sicht, in: H Z , 2 2 2 (1976),
S. 1 0 4 - 1 2 6 ;
Lothar
Gall,
S. 6 1 8 - 6 3 7 ; T h o m a s Nipperdey,
Bismarck
und der B o n a p a r t i s m u s ,
in:
HZ
222
(1976),
Wehlers »Kaiserreich«. E i n e kritische Auseinandersetzung, in:
Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 5 3 9 - 5 6 0 . 40
T h o m a s N i p p e r d e y (s. A n m . 39), S. 551.
41
Andreas Hillgruber, Politische Geschichte in moderner Sicht (s. A n m . 39), S. 533.
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
415
und die Grenzen jeder Theorie. Die Geschichte befasse sich mit dem Einmaligen. Theorie sei nicht anwendbar, »solange die unberrechenbare Größe des Menschen als Subjekt und Objekt im Mittelpunkt ihres Handelns und Interesses steht«. 42 Hier bahnte sich die Trennung der achtziger Jahre zwischen »Intentionalisten« und »Funktionalisten« an. Fruchtbarer als eine Theorie des Faschismus sei die »Frage nach Politik und Persönlichkeit Hitlers« als Ausgangspunkt zu einem Verständnis des Nationalsozialismus, befand Hildebrand. Diese Rückkehr zu traditionellen historistischen Positionen erfreute sich der Unterstützung eines breiten Spektrums innerhalb der bundesdeutschen Historikerschaft, wie die Erklärung des Verbandes der Historiker Deutschlands aus dem Jahr 1975 zum Studium des Faches Geschichte an den Hochschulen verdeutlicht. 4 3 Diese Erklärung forderte, das Geschichtsstudium so zu gestalten, daß die philologisch-hermeneutische Rolle der Geschichtswissenschaft auf Kosten eines die Sozialwissenschaften stärker einbeziehenden problemorientierten Studiums hervorgehoben würde. Zwischen einem solchen Neohistorismus und einem Verständnis von Geschichte als einer kritischen Sozialwissenschaft im Wehlerschen Sinn stehen die Arbeiten der siebziger Jahre von Wolfgang J . M o m m s e n 4 4 über den Imperialismus am Vorabend des Ersten Weltkrieges und den Kriegsausbruch sowie Hans Mommsens 4 5 Versuch einer Analyse der Weimarer Politik im Kontext der Probleme einer hochindustrialisierten Gesellschaft - Themen, die beide Forscher in ihren Arbeiten der achtziger und neunziger Jahre weiter verfolgten. In ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit stehen sie der Wehlerschen Richtung nahe, betonen aber stärker die wenn auch begrenzte - Eigenständigkeit der Politik. An dieser Stelle sollte ferner eine Kritik an dem Wehlerschen Modell erwähnt werden, die 1980 aus einer ganz anderen Ecke kam, nämlich von zwei jungen neomarxistischen englischen
41
K l a u s H i l d e b r a n d , G e s c h i c h t e o d e r » G e s e l l s c h a f t s g e s c h i c h t e « (s. A n m . 3 9 ) , S . 3 4 1 , 3 5 2 , 355.
4
E r k l ä r u n g des V e r b a n d e s der H i s t o r i k e r D e u t s c h l a n d s z u m S t u d i u m des Faches G e s c h i c h t e
'
a n d e n H o c h s c h u l e n , 1 4 . 1 0 . 1 9 7 5 , i n : G e s c h i c h t e in W i s s e n s c h a f t u n d U n t e r r i c h t 2 7 S. 2 2 3 - 2 2 5 , 2 9 7 - 3 0 4 , 44
(1976),
566-569.
W o l f g a n g J . M o m m s e n , Der europäische Imperialismus, G ö t t i n g e n 1979; ders., Imperialis-
m u s t h e o r i e n , G ö t r i n g e n 1980; ders., Bürgerstolz und Weltmachtstreben 1 8 9 0 - 1 9 1 8 , Berlin 1995. 45
H a n s M o m m s e n , D i e verspielte Freiheit 1 9 1 8 - 1 9 3 3 , Berlin 1989.
4i6
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
Sozialhistorikern, David Blackbourn und G e o f f Eley. 4 6 Eley und Blackbourn stellten weniger die kritische Einstellung Wehlers gegenüber den autoritären Z ü g e n der wilhelminischen Gesellschaft in Frage als die These des deutschen Sonderwegs. Dieser setzte einen normalen Weg der Modernisierung voraus, in dem politische Demokratisierung die normale Folge des Industrialisierungsprozesses ist. Die N o r m , von der Deutschland abwich, war für Wehler England. Eley und Blackbourn verneinten jedoch, daß es einen einheitlichen Weg der Modernisierung gäbe. Die von Wehler als gescheitert angesehene bürgerliche Revolution von 1848, die die Weichen für Bismarcks autoritäre Lösung der deutschen Frage stellte, führte zur Durchsetzung von vielen der wirtschaftlichen und sozialen Ziele des deutschen Bürgertums. Ahnlich wie Nipperdey betonten Eley und Blackbourn den bürgerlichen Charakter der wilhelminischen Gesellschaft und gleichzeitig die aristokratischen Z ü g e und die zögernde politische Demokratisierung der englischen Gesellschaft. In seiner Analyse des Flottenvereins der wilhelminischen Ä r a 4 7 lehnt Eley die Kehrsche und Wehlersche These ab, daß die Reichsregierung den Flottenbau als ein Instrument der sozialen Stabilisierung gegen die Gefahren der Sozialdemokratie verfolgt habe. Statt dessen sah er die Regierung dem D r u c k einer breiten ultranationalistischen, mittelständischen Bevölkerungsschicht ausgesetzt, die durch die ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Modernisierung verunsichert wurde. Der Nationalsozialismus wurde von Eley weiterhin im Zeichen der Kontinuität gesehen, aber einer Kontinuität, die weit mehr Faktoren zu berücksichtigen hatte, als dies bei Kehr der Fall war.
5-
In diesen Kontroversen der siebziger Jahre lassen sich bereits die Fronten der achtziger und neunziger Jahre unter den deutschen Historikern und der deutschen Öffentlichkeit erkennen. Die radikal nationalistische Strömung unter der Historikerschaft der Weimarer Republik, die das Geschichtsbewußtsein einer 46
D a v i d B l a c k b o u r n und G e o f f Eley, M y t h e n deutscher Geschichtsschreibung. D i e geschei-
terte bürgerliche R e v o l u t i o n von 1848, F r a n k f u r t / M a i n 1980. 47
G e o f f Eley, Reshaping the G e r m a n Right: Radical N a t i o n a l i s m and Political C h a n g e , N e w
H a v e n 1980.
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
417
sehr breiten Bevölkerungsschicht teilte, hatte in der Bundesrepublik nur sehr vereinzelte Vertreter. Z u einem Bekenntnis zum Nationalsozialismus trauten sich keine deutschen Historiker mehr, obwohl es vereinzelte Apologeten der nationalsozialistischen Außenpolitik und sogar der NS-Kriegsführung bis 1941 gab. 4 8 Der Antisemitismus, der im Kaiserreich und weitaus höherem Maße in der Weimarer Republik salonfähig war, war nunmehr streng tabuisiert. Die Historiker - bis jetzt spielten Historikerinnen nahezu keine Rolle in der Z u n f t - spalteten sich auf in jene, die das Naziregime als einen Kontinuitätsbruch in der deutschen Geschichte verstanden und weiterhin der Bismarckschen Reichsgründung positiv gegenüberstanden, und denen, die in der Weise, in der sich diese Gründung vollzog, die Wurzeln der katastrophalen deutschen Entwicklung angelegt sahen. Es ist bemerkenswert, wie sehr die Beschäftigung mit dem Holocaust in den letzten Jahren zugenommen hat. Sie führte in den achtziger Jahren zu dem berühmten »Historikerstreit«. Hierbei geht es um die Frage, ob der vom nationalsozialistischen Regime durchgeführte Massenmord als ein Phänomen der Modernisierung des 20. Jahrhunderts verstanden werden muß, der mit Massenmorden in anderen totalitären Regimen vergleichbar ist, z. B . in Stalins Sowjetunion und Pol Pots Kambodscha, oder ob dieser in einem spezifisch deutschen Rahmen gesehen werden soll. 4 9 Unabhängig von der Frage nach der Vergleichbarkeit des Holocausts ist die von Martin Broszat, dem damaligen Direktor des »Instituts für Zeitgeschichte«, Mitte der achtziger Jahre gestellte Forderung nach einer »Historisierung« des Nationalsozialismus. N u r durch eine Historisierung, meinte Broszat, lasse sich der Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte genauer bestimmen und »das scheinbar nur NS-Spezifische ... in die weitere Perspektive periodenübergreifender Veränderungen in der deutschen G e sellschaft« einfügen. 5 0 Das bedeutete keine Leugnung der Einmaligkeit des Holocaust, aber doch eine Entdämonisierung der N S - Z e i t , die ohne den Nationalsozialismus zu normalisieren, es
48
Siehe Walter Hubatsch, >Weserübung'. D i e deutsche Besetzung von Dänemark und
wegen, Göttingen 49
Siehe »Historikerstreit«, D i e D o k u m e n t a t i o n der K o n t r o v e r s e um die Einzigartigkeit der
nationalsozialistischen Judenvernichtung, M ü n c h e n 50
Nor-
i960. 1987.
M a r t i n Broszat, N a c h Hitler. D e r schwierige U m g a n g mit unserer Geschichte, N e u a u f l a g e ,
M ü n c h e n 1988, S. 277.
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
418
doch möglich machte, den NS-Alltag in seiner Normalität zu untersuchen, wie dies Broszat 51 , Detlev Peukert und Lutz Niethammer - letzterer in ausführlichen Interviews mit Arbeitern und deren Frauen aus dem Ruhrgebiet 5Z - unternommen hatten. Der israelische Historiker Saul Friedlander warnte aber vor der Gefahr einer Relativierung der NS-Verbrechen durch eine periodenübergreifende Alltags- und Sozialgeschichte. 53 Historisierung bedeutet jedoch noch nicht Normalisierung. U m Normalisierung ging es aber im »Historikerstreit«, der 1986 mit Aufsätzen von Michael Stürmer 54 und Ernst Nolte 5 5 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« und der Replik von Jürgen Habermas über »Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung« 56 in »Die Zeit« begann. In seinem kurzen Aufsatz, »Geschichte in geschichtslosem Land«, 57 bedauerte Stürmer den Verlust einer normalen deutschen Identität. »Die Suche nach der verlorenen Geschichte« sei jetzt »politisch notwendig«, wenn Deutschland seine Rolle als »Mittelstück im europäischen Verteidigungsbogen des atlantischen Systems« behaupten wolle. Weitaus extremer war Noltes Aufsatz »Vergangenheit, die nicht vergehen will«. 58 In der Auseinandersetzung, die nun folgte, standen sich zwei Positionen zur Bewertung der NS-Vergangenheit gegenüber, die nicht allein die deutschen Fachhistoriker, sondern vor allem die deutsche Öffentlichkeit spalteten. Im Zentrum der Debatte stand zwar
51
M a r t i n Broszat u n d Elke F r ö h l i c h , B a y e r n in der N S - Z e i t , M ü n c h e n 1 9 7 7 .
51
Z . B . L u t z N i e t h a m m e r ( H r s g . ) , L e b e n s g e s c h i c h t e u n d S o z i a l k u l t u r i m R u h r g e b i e t 1930 bis
i 9 6 0 , z B d e . , B e r l i n 1983. S i e h e a u c h D e t l e v P e u k e r t , D i e K P D i m W i d e r s t a n d : V e r f o l g u n g u n d U n t e r g r u n d a r b e i t an R h e i n u n d R u h r 1933-1945, W u p p e r t a l
1980; d e r s . , V o l k s g e n o s s e n
Gemeinschaftsfremde: Anpassung, Ausmerze und A u f b e g e h r e n unter dem
und
Nationalsozialismus,
K ö l n 198z: d e r s . , S p u r e n d e s W i d e r s t a n d s : d i e B e r g a r b e i t e r b e w e g u n g i m D r i t t e n R e i c h u n d i m Exil, M ü n c h e n 1987. 5i
M a r t i n Broszat u n d Saul Friedlander, U m die » H i s t o r i s i e r u n g des
Nationalsozialismus«,
B r i e f w e c h s e l , in: V i e r t e l j a h r s h e f t e f ü r Z e i t g e s c h i c h t e 36 (1988), S. 3 3 9 - 3 7 2 ; s i e h e a u c h D a n D i n e r (Hrsg.),
Ist
der
Nationalsozialismus
Geschichte?
Zu
Historisierung
und
Historikerstreit,
F r a n k f u r t / M a i n 1987. 54
M i c h a e l Stürmer, G e s c h i c h t e in g e s c h i c h t s l o s e m L a n d , in: F r a n k f u r t e r A l l g e m e i n e Z e i t u n g ,
25. A p r i l 1986, a u c h in: H i s t o r i k e r s t r e i t (s. A n m . 4 9 ) , S. 3 6 - 3 8 . 55
E r n s t N o l t e , V e r g a n g e n h e i t , d i e n i c h t v e r g e h e n w i l l , i n : F r a n k f u r t e r A l l g e m e i n e Z e i t u n g , 6.
J u n i 1986, a u c h i n : H i s t o r i k e r s t r e i t (s. A n m . 4 9 ) , S. 3 9 - 4 7 . 56
Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung.
D i e a p o l o g e t i s c h e n T e n d e n z e n in
der
d e u t s c h e n Z e i t g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g , in: D i e Z e i t , 11. J u l i 1 9 8 6 , a u c h i n : H i s t o r i k e r s t r e i t (s. A n m . 4 9 ) , S. 6 2 - 7 6 . i7
S i e h e o b e n , A n m . 54.
58
I n : F r a n k f u r t e r A l l g e m e i n e Z e i t u n g , 6. J u n i 1986; a u c h in: H i s t o r i k e r s t r e i t (s. A n m . 4 9 ) ,
S- 3 9 - 4 7 -
419
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
nicht die Akzeptanz des Nationalsozialismus, wohl aber die Rolle, die die N S - Z e i t in der deutschen Geschichte spielte. 59 Die Auseinandersetzungen im »Historikerstreit« hatten in gewisser Weise bereits in den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges im M a i 1985 ein Vorspiel. A m Sonntag, den 5. Mai, besuchten Bundeskanzler Helmut Kohl und der amerikanische Präsident Ronald Reagan den Soldatenfriedhof Bitburg, auf dem auch Mitglieder der Waffen-SS begraben sind, sowie das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Die Trennung zwischen Opfern und Tätern wurde damit verwischt. A m 8. M a i hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker seine berühmt gewordene Rede, in der er die Deutschen daran erinnerte, daß der 8. M a i 1945 auch für sie die Befreiung von der Gewaltherrschaft bedeutet hatte. Die Kontroverse, die im darauffolgenden Jahr einsetzte, hatte dezidiert politische Implikationen, die über die wissenschaftliche Diskussion hinausgingen. Noltes eigentliche These, daß der NaziGenozid eine unmittelbare defensive Reaktion auf den Bolschewismus war, fand keine direkte Zustimmung, wohl aber seine Herausstellung der Vergleichbarkeit von NS-Verbrechen mit denen anderer totalitärer Regime. 6 0 »Die sogenannte Vernichtung der Juden während des Dritten Reiches«, schrieb er, »war eine Reaktion oder eine verzerrte Kopie, aber nicht ein erstmaliger Vorgang oder ein Original.« »Mit Ausnahme des technischen Vorgangs der Vergasung« wäre all dasjenige, was die Nationalsozialisten später taten: »Massendeportationen und -erschießungen, Folterungen, Todeslager, Ausrottung ganzer Gruppen«, schon von Stalin in den Gulags durchgeführt worden. M i t seiner Behauptung, daß die Solidaritätserklärung des jüdischen Weltkongresses 1939 mit den westlichen Allierten, die er als »Kriegserklärung« bezeichnete, Hitler dazu berechtigt habe, die Juden als Kriegsgefangene zu behandeln und zu internieren, 6 1 bewegte Nolte sich in eine Richtung, die keiner der
'»
Ebd.
60
N o i t e hatte diese Ideen schon 1980 verkündet. Siehe E m s t N o l t e , Z w i s c h e n
Geschichts-
l e g e n d e u n d R e v i s i o n i s m u s ? D a s D r i t t e R e i c h im B l i c k w i n k e l des J a h r e s 1 9 8 0 , in:
Frankfurter
A l l g e m e i n e Z e i t u n g , 24. 7. 1 9 8 0 ; a u c h in: H i s t o r i k e r s t r e i t , S. 1 3 - 3 5 . S i e h e a u c h J ü r g e n Nationalsozialismus,
Nationalbewußtsein
und
deutsche
Identität.
Eine
Erinnerung
Elvert, an
den
Historikerstreit von 1986, in: Z e i t s c h r i f t f ü r G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t 45. J g . (1997), S. 4 7 - 6 2 . 61
E r n s t N o l t e , Z w i s c h e n G e s c h i c h t s l e g e n d e ( w i e A n m . 6 0 ) u n d i n : H i s t o r i k e r s t r e i t (s. A n m .
49), S. 24; siehe auch ders.. D i e Sache a u f den K o p f gestellt. G e g e n den negativen
Nationalismus
in d e r G e s c h i c h t s b e t r a c h t u n g , i n : D i e Z e i t , 3 1 . O k t o b e r 1 9 8 6 ; a u c h i n : H i s t o r i k e r s t r e i t (s. A n m . 49), S. 228.
420
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
übrigen Beteiligten im »Historikerstreit« teilte. Anklang fand jedoch seine Behauptung, daß »normalerweise jede Vergangenheit vergeht« und daß die Greueltaten der Nationalsozialisten mit anderen vergleichbar seien und im Rahmen der industrialisierten Massengesellschaft gesehen werden müßten. Die Historiker, die sich gegen Wehlers kritische Sozialgeschichte ausgesprochen hatten - Hillgruber, Hildebrand, Stürmer, aber auch Joachim Fest, der Hitlerbiograph und Mitherausgeber der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« - fanden sich in ihrer Verteidigung Noltes gegenüber Habermas erneut zusammen. Was von ihnen als eine wissenschaftliche Auseinandersetzung verstanden wurde, war gleichzeitig dezidiert politisch. So konnte Hans M o m m s e n kritisch anmerken, daß es um »ein ganz im Sinne Helmut Kohls equilibriertes deutsches G e schichtsbild« 6 2 ginge. Wie Jürgen Elvert später im Rückblick meinte, wurden im Ausland »die Diskussionen eine Zeitlang als Spiegel eines Versuchs gewertet, mit dem eine G r u p p e regierungsnaher deutscher Historiker die Deutschen aus ihrer historischen Verantwortung befreien wollte«. 6 3 Es war auch kein Z u f a l l , daß die konservative »Frankfurter Allgemeine Zeitung« in den achtziger Jahren zunehmend eine Plattform f ü r Vertreter der Revision des kritischen deutschen Geschichtsbildes wurde und daß viele der Erwiderungen in der liberalen »Die Zeit« erschienen. Habermas' Kritik an Nolte richtete sich gleichzeitig gegen Hillgrubers 1986 erschienenes Buch, »Zweierlei Untergang. Die Zerstörung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums«. 6 4 In separaten Abschnitten beschrieb Hillgruber den nach seiner Sicht heroischen K a m p f der deutschen Wehrmacht vor dem sowjetischen Vormarsch und den an den Juden verübten Genozid. Ersterer sei berechtigt gewesen, um die deutsche Zivilbevölkerung gegen den sowjetischen Ansturm zu schützen. Daß dieser K a m p f , indem er den Krieg verlängerte, den Deutschen die Möglichkeit gab, den M o r d an den Juden weiter zu betreiben, war für ihn kein Thema. So wurden die Vertreibung der Deutschen und der M o r d an den Juden nebeneinandergestellt.
61
H a n s M o m m s e n , Neues Geschichtsbewußtsein und Relativierung des Nationalsozialismus,
i n : H i s t o r i k e r s t r e i t (s. A n m . 4 9 ) , S . 1 7 5 . 63 6
J ü r g e n E l v e r t , N a t i o n a l s o z i a l i s m u s ( s i e h e A n m . 6 0 ) , S . 56.
< Berlin r986.
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
421
6. Während anfangs die Kritik an der »Historischen Sozialwissenschaft« hauptsächlich von der rechten, konservativen Seite kam und mit der Rekonstruktion eines nationalen Geschichtsbildes zusammenfiel, erfolgte sie im Laufe der achtziger Jahre zunehmend von links; allerdings von einer Linken, die keineswegs in das Schema des klassischen Marxismus paßte. Bereits angesprochen wurde die Kritik von englischen Neomarxisten an der Sonderwegsthese. Die neue Kritik betonte, daß die »Historische Sozialwissenschaft«, indem sie den Schwerpunkt ihrer Forschung fast ausschließlich auf anonyme Strukturen und Prozesse lege, die subjektiven Erfahrungen der Menschen innerhalb dieser Strukturen und Prozesse vernachlässige. Wie Jürgen Kocka 1987 einräumte, hatte die kritische Sozialgeschichte die kulturellen Aspekte der Gesellschaft und ihrer Geschichte nicht genügend berücksichtigt.65 Die Kulturgeschichte, meinte Kocka nunmehr, müßte über die Sozialgeschichte kultureller Institutionen hinausgehen und Kultur sei »als ein System ... von Zeichen« zu begreifen, das für eine größere Anzahl von Menschen »Wirklichkeit sinnvoll deutet«. Dabei setzte er Kultur weder mit der »hohen« Kultur der Eliten noch mit den Erfahrungen einzelner Menschen gleich, sondern sah die Aufgabe der durch die Einbeziehung kultureller Aspekte ergänzten Sozialgeschichte vielmehr in der »Entschlüsselung einer kulturellen Struktur, die immer nur partiell in den Erfahrungen einzelner zu erfassen ist«.67 Diese Forderung wurde indes nur beschränkt in die Praxis umgesetzt. An dieser Stelle seien die beiden großen Syntheseversuche erwähnt, die in den achtziger Jahren begonnen wurden, Wehlers »Deutsche Gesellschaftsgeschichte«,68 die sich als »Historische Sozialwissenschaft« verstand, und Nipperdeys »Deutsche Geschichte«,69 die sich von dieser absetzte. Obwohl Wehler in der »sozialen Ungleichheit«70 einen Grundaspekt jeder Gesellschaft erkennt, der allerdings in einer vernünftigen Gesellschaft gemindert werden kann, und im Sinne Webers eine Ana65
J ü r g e n K o c k a , S o z i a l g e s c h i c h t e . B e g r i f f - E n t w i c k l u n g - P r o b l e m e . 2. e r w e i t e r t e A u f l a g e ,
G ö t t i n g e n 1986, S. 152-153. "
E b d . , S. 153. E b d . , S. 155.
68
V i e r B ä n d e , M ü n c h e n 1987. Bis jetzt sind drei B ä n d e erschienen.
69
Deutsche G e s c h i c h t e 1 8 0 0 - 1 8 6 6 , M ü n c h e n 19S3; Deutsche G e s c h i c h t e l 8 6 6 - r 9 i 8 , 2 Bde.,
3. A u f l . , M ü n c h e n 70
1993.
D e u t s c h e G e s e l l s c h a f t s g e s c h i c h t e (5. A n m . 2 5 ) , B d . I, S . 1 6 .
422
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
lyse fordert, die Kultur und Herrschaft als gleichermaßen wichtige Dimensionen der Gesellschaft betrachtet wie die Wirtschaft, 71 stellt er Kultur dann doch vornehmlich im Rahmen von Institutionen und nicht in den Kontext konkreter menschlicher Erfahrungen. Im Gegensatz zu Wehler hatte Nipperdey in seiner Deutschen Geschichte von 1800 bis 1918 seine Darstellung mit dem personalistischen Satz begonnen: »Am Anfang war Napoleon.« 72 Obwohl er die Politik stärker hervorhob, gab er dem kulturellen Leben größeren Raum als Wehler. Ein wichtiger Übergang vom Marxismus und von der »Historischen Sozialwissenschaft« zur »Alltagsgeschichte« stellen die Mitte der siebziger Jahre am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen begonnenen Forschungen zur ländlichen Protoindustrialisierung dar. Die theoretische Ausgangsposition dieser Arbeiten hatte ihre Wurzeln in der marxistischen Auffassung, daß Produktions- und Reproduktionsverhältnisse die Grundlage sozialer Strukturen und Prozesse seien. Der methodische Grundgedanke dieser Arbeiten war der »Historischen Sozialwissenschaft« verpflichtet und bestand in dem Bemühen, »die Theorie über den Zusammenhang von wirtschaftlichem, sozialem und demographischem Wandel im frühneuzeitlichen Europa« empirisch zu bestätigen. 73 Der 1977 erschienenen Arbeit »Industrialisierung vor der Industrialisierung« 74 mit Beiträgen von Peter Kriedte, Hans Medick, Jürgen Schlumbohm, Herbert Kisch und Franklin Mendels, die aus diesem Projekt hervorgegangen war, ging es in erster Linie um die Verknüpfung eines theoretischen Rahmens ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels mit der sorgfältigen Untersuchung, wie sich dieser Wandel auf lokaler und regionaler Ebene auf die Lebensweise einer ländlichen Bevölkerung ausgewirkt hat. So wurden gleichzeitig die strukturelle und die subjektive Seite des Wandels in Betracht gezogen. Medick etwa war es wichtig, dem Konsumverhalten der kleinen Leute und die Rolle, die Luxusgüter für diese spielten, nachzugehen. Letzlich handelte es sich eher um eine Erweiterung als um die prinzipielle Ablehnung einer analytischen Sozialgeschichte. Zur Herausforderung der »Historischen Sozialwissenschaft« kam es erst in den 71
E b d . , S. 6 - 7 .
71
Dcutschc Geschichte 1 8 0 0 - 1 8 6 6 (s. A n m . 69), S. 1 1 .
73
Jürgen
Schlumbohm,
L e b e n s l ä u f e , Familien,
Höfe.
Die
Bauern
und Heuerleute
des
Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Z e i t . 1 6 5 0 - 1 8 6 0 , G ö t t i n g e n 1994, S. 1. 74
Peter Kriedte u. a., Industrialisierung vor der Industrialisierung. G e w e r b l i c h e
produktion a u f dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, G ö t t i n g e n 1 9 7 7 .
Waren-
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
413
achtziger Jahren mit der Herausbildung der »Alltagsgeschichte« als Programm. »Alltagsgeschichte« beinhaltet keine geschlossene Doktrin, sondern schließt eine Reihe von höchst unterschiedlichen Richtungen ein. Ein wichtiges Manifest der »Alltagsgeschichte« war der 1984 in »Geschichte und Gesellschaft« erschienene Aufsatz von Hans Medick, »Missionare im Ruderboot«, 7 5 in dem dieser die Grundanschauungen der »Historischen Sozialwissenschaft« in Frage stellte. Während »Industrialisierung vor der Industrialisierung« noch analytisch vorging und vieles von den systematischen Sozialwissenschaften, einschließlich der quantitativen Historischen Demographie, rezipierte, setzte sich Medick in diesem Aufsatz mit den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der »Historischen Sozialwissenschaft« prinzipiell auseinander. Er versuchte, die Forschungsstrategien der Kulturanthropologie in die historische Forschung zu integrieren: Die Menschen mit ihren Erfahrungen seien abstrakten Theorien geopfert worden. Es sei jetzt wichtig, so betonte Medick, die Menschen, um die es in der Geschichte gehe, als Subjekte »von innen« zu verstehen und nicht nur als Objekte anonymer Strukturen und Prozesse. Bei diesem neuen Interesse an konkreten Menschen gehe es aber nicht mehr um die führenden Persönlichkeiten wie in der herkömmlichen Politik- und Kulturgeschichte, sondern um die kleinen und durchschnittlichen Leute. U m deren Betroffenheit zu verstehen, reiche die Strategie der analytischen Sozialwissenschaften nicht aus. Begriffe und Theorien würden den Inhalt dieser Betroffenheit verzerren. M a n müsse die Menschen direkt sprechen lassen. Allerdings geschehe dies nicht in Form von bewußten Aussagen. Ihr Leben, Denken und Fühlen bewege sich innerhalb des Rahmens einer Kultur, die im Geertzschen Sinn »ein Gewebe von Bedeutungen« sei, das sich in symbolischen und rituellen Handlungen ausdrücke, die über die Unmittelbarkeit der einzelnen Absichten und Handlungen hinausgehen und einen »Text« bilden, der einen Z u g a n g zu der Kultur ermögliche. Was die Soziologie und Ökonomie für die »Historische Sozialwissenschaft« bedeutete, war f ü r Medick die Anthropologie. »Der Ethnologe verfügt über keinen unmittelbaren Z u g a n g zur fremden Erfahrung. Deshalb bleibt er darauf beschränkt, die fremde Kultur und 7
'> » M i s s i o n a r e i m R u d e r b o o t « ? E t h n o l o g i s c h e E r k e n n t n i s w e i s e n als H e r a u s f o r d e r u n g a n d i e
S o z i a l g e s c h i c h t e , i n : G e s c h i c h t e u n d G e s e l l s c h a f t 1 0 ( 1 9 8 4 ) , S . 2 9 5 - 3 1 9 ; in ü b e r a r b e i t e t e r a u c h in: A l f L ü d t k e ( H r s g . ) , A l l t a g s g e s c h i c h t e , F r a n k f u r t / M a i n 1 9 8 9 , S. 4 8 - 8 4 .
Form
424
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
Lebensweise indirekt zu entschlüsseln.« 76 Der Schlüssel zu der »sozialen Logik«, die die Handlungen der Menschen innerhalb der Kultur verständlich macht, sei die »dichte Beschreibung« (Geertz), in der der Forscher seinen Gegenstand unmittelbar rezipiere, ohne ihn zu beeinflussen. Kocka kritisierte Medicks »neo-historistische Ablehnung analysierender Theorien und Begriffe mit dem irregehenden Anspruch, das vergangene Leben der kleinen Leute aus seinen eigenen Voraussetzungen heraus zu rekonstruieren ,..«. 7 7 Fragestellungen, Erkenntnisziele und Darstellungskontexte drängten sich aus den Quellen nicht eindeutig auf und würden von der untersuchenden Wirklichkeit nicht völlig diktiert. Medick und Geertz setzen voraus, daß die »dichte Beschreibung« durch sympathisierend teilnehmende Erkenntnis nach dem Vorbild ethnologischer Feldforschung die »soziale Logik«, die das Verhalten der Menschen in der Kultur bestimmt, verständlich mache. Für Kocka gibt es aber »nicht die soziale Logik einer vergangenen Konstellation, sondern mehrere«, die nur durch die theoriegeleiteten Fragen des Forschers zugänglich würden. 78 Hinter der Kritik der »Alltagsgeschichte« an der »Historischen Sozialwissenschaft« verbirgt sich indes nicht nur eine erkenntnistheoretische, sondern auch eine politische und kulturelle Kritik. Während Wehler die positiven Seiten der Modernisierung hervorhebt, betont Medick deren Kosten. Der Rationalismus der modernen Sozialwissenschaften ist eng verbunden mit dem Fortschrittsgedanken und der sozialen Marktwirtschaft. Viele Arbeiten nicht nur der deutschen Alltagshistoriker, sondern auch der Mikrohistoriker in Italien und anderswo entstehen vor dem Hintergrund der Zerstörung einer vorindustriellen, vormodernen Gesellschaft. Politisch unterscheidet sich die »Alltagsgeschichte« scharf von der völkischen Romantik durch ihre demokratische Bezugnahme auf die kleinen Leute. Während die »Historische Sozialwissenschaft« immer noch die Geschichte als einen einheitlichen und sinnvollen Prozeß sah, betonte Medick die Diskontinuität in der Geschichte. Es gebe nicht eine Geschichte, sondern viele Geschichten, keine großen geschlossenen Zentren der Gesellschaft, die eine einheitliche Erzählung möglich machen, sondern viele Zentren und viele
76
Siehe in: Alltagsgeschichte, S. 8i.
77
J ü r g e n Kocka, Sozialgeschichte, S. 174.
7
' E b d . , S. 175.
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
4 2 5
Geschichten. 7 9 Anstelle des Glaubens an das industrielle Wachstum tritt jetzt ein ausgeprägtes ökologisches Bewußtsein. Allerdings hat sich seit den achtziger Jahren die K l u f t zwischen der »Alltagsgeschichte« und der »Historischen Anthropologie« einerseits und den analytischen Sozialwissenschaften andererseits verkleinert — mit der Integration beider Strömungen in eine historische Kulturwissenschaft, die sozialgeschichtliche und kulturanthropologische Ansätze verbindet. ° Schon seit den siebziger Jahren haben sich wichtige Arbeiten über den Industrialisierungsprozeß der Erkundung des Alltags zugewandt. Dazu gehören die Untersuchungen von Lutz Niethammer, Klaus Tenfelde, Dieter Langewiesche und Franz-Josef Brüggemeier über die Lebensbedingungen der Bergarbeiter an der Ruhr, die sich u. a. mit Aspekten des Wohnens, der Gesundheit und der Freizeit beschäftigten. 8 ' Hier sind auch die Arbeiten von Adelheid von Saldern zur Arbeiterkultur zu erwähnen, die von den objektiven Bedingungen des Alltagslebens ausgehen, - z. B. der Wohnung im sozialen Wohnungsbau nicht nur als gegenständlicher möblierter R a u m , sondern auch mitsamt seiner Farben, Geräusche und Gerüche - gleichzeitig aber berücksichtigen, wie diese subjektiv erlebt werden und überdies eng in einen politischen Herrschaftsrahmen eingebettet sind. Der Webersche Rationalisierungsgedanke, der in der »Historischen Sozialwissenschaft« einen zentralen Platz einnimmt, bekommt hier eine stärker ausgeprägte gesellschaftliche, kulturelle und geschlechtsspezifische Komponente. Die Wohnung wird ein Instrument der sozialen Disziplinierung ihrer Bewohner
79
Hans
Medick,
Entlegene
Geschichte?
Sozialgeschichte
im
Blickfeld
der
Kulturanthro-
p o l o g i e , in: K o n r a d J a r a u s c h u. a., G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t v o r 2 0 0 0 . P e r s p e k t i v e n d e r H i s t o r i o graphiegeschichte, Geschichtstheorie, Sozial- und Kulturgeschichte.
Festschrift für Georg
G.
Iggers z u m 65. G e b u r t s t a g , H a g e n 1 9 9 1 , S. 3 6 0 - 3 6 9 . B
°
Z u frühen kulturanthropologischen Arbeiten, siehe W o l f g a n g K a s c h u b a u n d C a r o l a
Lipp,
D ö r f l i c h e s Ü b e r l e b e n . Z u r G e s c h i c h t e m a t e r i e l l e r u n d s o z i a l e r R e p r o d u k t i o n i m 18. u n d f r ü h e n 20. Jahrhundert, T ü b i n g e n 1982; W o l f g a n g Kaschuba, Volkskultur zwischen feudaler und bürgerlicher Gesellschaft. Z u r G e s c h i c h t e eines Begriffs und seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit, F r a n k f u r t / M a i n 1988. - B e i d e w a r e n S c h ü l e r v o n H e r m a n n B a u s i n g e r , d e m D i r e k t o r des L u d w i g Uhland-lnstituts
für empirische
Kulturwissenschaft
in T ü b i n g e n .
Siehe auch Jürgen
Kocka
(Hrsg.), Arbeiterkultur im 19. J a h r h u n d e r t , H e f t 1 von Geschichte und Gesellschaft 5 (1979) und W o l f g a n g H a r d t w i g ( H r s g . ) , W e g e zur K u l t u r g e s c h i c h t e , H e f t 1 von G e s c h i c h t e und G e s e l l s c h a f t 23 ( 1 9 9 7 ) . 81
S i e h e L u t z N i e t h a m m e r u n d F. B r ü g g e m e i e r , W i e w o h n t e n d i e A r b e i t e r i m K a i s e r r e i c h ? , i n :
Archiv für Sozialgeschichte
16 (1976), S. 2 0 5 - 2 7 2 :
dies.,
Schlafgänger, Schnapskasinos
und
schwerindustrielle K o l o n i e . A s p e k t e der A r b e i t e r w o h n u n g s f r a g e im R u h r g e b i e t vor d e m Ersten Weltkrieg,
in: J . R e u l e c k e u n d W . W e b e r ( H r s g . ) , F a b r i k - F a m i l i e - F e i e r a b e n d . B e i t r ä g e zur
S o z i a l g e s c h i c h r e des Alltags im I n d u s t r i e z e i t a l t e r , W u p p e r t a l 1 9 7 8 , S. 1 3 5 - 1 7 5 .
426
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
und der Definition der Geschlechterrollen - mit sehr unterschiedlichen Resultaten im Alltag. 82 Hatte die kritische Sozialgeschichte politische Entwicklungen primär im Rahmen von anonymen Strukturen und Prozessen gesehen, so untersuchten die neuen kulturgeschichtlichen Ansätze Herrschaft nicht nur als politische und soziale, sondern auch als kulturelle Praxis. Kocka sowie in den letzten Jahren auch Wehler 83 haben eingesehen, daß sich die »Historische Sozialwissenschaft« bislang nicht genügend mit kulturellen Aspekten beschäftigt hat. So schrieb Kocka: »Sozialgeschichte ohne Erfahrungsgeschichte (ist) einseitig und unvollständig«, obwohl »die Erkenntnis der historischen Zusammenhänge primär struktur- und prozeßgeschichtliche Zugriffe (braucht)«. 84 Das bedeutende interdisziplinäre Projekt, das Kocka in den achtziger Jahren über das deutsche Bürgertum im internationalen europäischen Vergleich unternahm,85 beschäftigte sich umfassend mit der bürgerlichen Kultur. Die in den siebziger Jahren begonnenen Lokalstudien von Schlumbohm, Kriedte, Medick und Sabean, 86 die in den neunziger Jahren abgeschlossenen wurden, verbanden anthropologische Ansätze mit intensiver empirischer, computergestützter Forschung. Ferner beschäftigte sich ein großer Teil der »Alltagsgeschichte« kritisch mit dem Phänomen des Nationalsozialismus - hierbei denke ich an die Arbeiten von Alf Lüdtke, die sich auch mit der Vorgeschichte des Nationalsozialismus im 19. Jahrhundert befassen, 7 und den auf intensiven Interviews beruhenden Darstellungen von Lutz Niethammer und seinen 81
Siehe A d e l h e i d von Saldern, A u f dem Weg zum A r b e i t e r - R e f o r m i s m u s . Parteialltag in so-
zialer Provinz. G ö t t i n g e n ( 1 8 7 0 - 1 9 2 0 ) , F r a n k f u r t 1984; dies., Stadt und M o d e r n e . H a n n o v e r in der Weimarer R e p u b l i k , H a m b u r g 1989; dies., Ein Tag im Leben der Frieda. E i n e Faction-Story ( M e d i e n p r o j e k t ) 1 9 9 1 ; dies., Neues W o h n e n . W o h n u n g s p o l i t i k und W o h n k u l t u r in H a n n o v e r in den
zwanziger
Jahren,
Hamburg
1993;
dies.,
Häuserleben.
Zur
Geschichte
städtischen
A r b e i t e r w o h n e n s v o m Kaiserreich bis heute, B o n n 1995. 8j
Siehe seine Rede zur Emeritierung: R ü c k b l i c k und A u s b l i c k oder: arbeiten, um überholt zu
werden?, Bielefelder Universitätsgespräche und Vorträge 6 (1996), S. 5 - 1 4 ; siehe auch ders., K o m m e n t a r , in: T h o m a s Mergel u n d T h o m a s Welskopp ( H r s g . ) , Geschichte zwischen K u l t u r und Gesellschaft. Beiträge zur T h e o r i e d e b a t t e , M ü n c h e n 1 9 9 7 , S. 3 5 1 - 3 6 4 . 84
J ü r g e n K o c k a , Sozialgeschichte (s. A n m . 65), S. 1 7 1 .
85
Siehe J ü r g e n K o c k a ( H r s g . ) , B ü r g e r t u m im 19. J a h r h u n d e r t im europäischen Vergleich,
3 B d e . , M ü n c h e n 1988. 86
J ü r g e n S c h l u m b o h m , L e b e n s l ä u f e (siehe A n m . 73); Peter Kriedte, E i n e Stadt am seidenen
Faden. H a u s h a l t , H a u s i n d u s t r i e und soziale B e w e g u n g in K r e f e l d in der M i t t e des 19. J a h r hunderts, G ö t t i n g e n 1 9 9 1 ; Hans M e d i c k , Weben und Überleben in Laichingen
1650-1900.
Lokalgeschichte als A l l g e m e i n e G e s c h i c h t e , G ö t t i n g e n 1996; D a v i d S a b e a n , Property, Production, and Family in Neckarhausen 1 7 0 0 - 1 8 7 0 , C a m b r i d g e 1 9 9 0 . 87
A l f L ü d t k e , E i g e n - S i n n . Fabrikalltag, A r b e i t e r e r f a h r u n g e n und Politik v o m Kaiserreich bis
in den Faschismus, H a m b u r g 1993; ders., Täter, M i t - T ä t e r , Opfer? Z u den B e d i n g u n g e n des deutschen Faschismus, in: ders., Herrschaft als soziale Praxis, G ö t t i n g e n 199t, S. 559-590.
427
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
Mitarbeitern. 8 8 Auch die etwas älteren Arbeiten von Martin Broszat 89 und Hans M o m m s e n 9 0 über den Alltag im Dritten Reich sind zu erwähnen. Auch die in den achtziger Jahren sich verbreitende Geschichtswerkstättenbewegung, 9 1 die sich sehr für eine Einbindung der Bürger und Bürgerinnen in eine außeruniversitäre Beschäftigung mit Geschichte engagierte, widmete sich intensiv der Geschichte des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung. So setzte sich die »Alltagsgeschichte« gleichermaßen kritisch mit der deutschen Vergangenheit auseinander wie die kritische Sozialgeschichte. Die »Alltagsgeschichte« unterschied sich jedoch von der kritischen Sozialgeschichte in ihrer Beschäftigung mit dem konkreten Leben auf lokaler Ebene und der größeren Einbeziehung von Frauen als Mitarbeiterinnen und als Forschungsgegenstand. Dagegen spielten Frauen und Frauenthemen trotz der Schaffung vereinzelter Lehr- und Forschungsstellen an den bundesdeutschen Hochschulen im internationalen Vergleich nach wie vor eine sehr bescheidene Rolle. Obwohl Frauen vereinzelt berufen wurden, waren sie immer noch völlig unterrepräsentiert. Das Interesse der Alltagshistoriker und -historikerinnen für das Leben von Frauen brachte es mit sich, daß Aspekte, die vorher vernachlässigt worden waren, nun ernst genommen wurden. Ahnlich wie in der Arbeitergeschichte bewegte sich die Frauengeschichte seit A n f a n g der siebziger Jahre zunehmend von der Frauenbewegung weg hin zu den existentiellen Lebensverhältnissen von Frauen, wobei der politische und soziale Rahmen berücksichtigt wurde und die hierarchischen Aspekte der Geschlechterbeziehung im Vordergrund standen. Karin Hausen leistete schon in den siebziger Jahren mit ihren Arbeiten, in denen sie die Auswirkungen der Technisierung, z. B. die Einführung der Nähmaschine, auf das Arbeitsleben von Frauen im Industrialisierungsprozeß untersuchte, 9 2 einen wichtigen
88
Siehe oben, A n m . 44.
89
S i e h e A n m . 51.
90
Hans
Mommsen
und
Susanne
Willems
(Hrsg.),
Herrschafrsalltag
im
Dritten
Reich,
D ü s s e l d o r f 1988. 91
Siehe die beiden Z e i t s c h r i f t e n »Geschichtswerkstatt« und » WerkstattGeschichte« und
ihr
Vorbild, die englische Z e i t s c h r i f t » H i s t o r y W o r k s h o p « . 91
Siehe Karin
Hausen, Technischer Fortschritt und Frauenarbeit
im 19. J a h r h u n d e r t .
Zur
S o z i a l g e s c h i c h t e der N ä h m a s c h i n e , in: G e s c h i c h t e u n d G e s e l l s c h a f t 4 ( 1 9 7 9 ) , S. 1 4 8 - 1 6 9 ;
dies.,
( H r s g . ) , F r a u e n s u c h e n ihre G e s c h i c h t e . S t u d i e n z u m 19. u n d zo. J a h r h u n d e r t , M ü n c h e n
1983;
dies, und G e r t r a u d e Krell ( H r s g . ) , Frauenarbeit. F o r s c h u n g e n zur G e s c h i c h t e und München
1993; Karin
Hausen
(Hrsg.), Geschlechterhierarchie
und Arbeitsteilung,
Gegenwart, Göttingen
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
428
Beitrag zu diesen Forschungen; Ute Daniels Arbeit zu Arbeiterfrauen im Ersten Weltkrieg ist auch zu erwähnen. Barbara Duden betonte demgegenüber stärker biologische Aspekte. 93 Zunehmend wurde die Geschichte der Frauen im Rahmen einer allgemeinen Geschlechtergeschichte gesehen und auch spezifische Männerrollen untersucht, wie z. B. von Ute Frevert in ihrer Arbeit »Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft«. 94
7-
Wie stand es aber um die Auseinandersetzung mit der nationalen Geschichte und der nationalen Geschichtsschreibung in der D D R bzw. in der SBZ? Hierbei ist im Auge zu behalten, daß die D D R ein autoritärer Staat war, in dem die Partei eine strenge ideologische Kontrolle über Geschichtslehre und -forschung ausübte und diese als Instrumente ihrer Machtausübung betrachtete. Andererseits bestanden auch wichtige Freiräume für Historiker, die zwar nicht immer wahrgenommen wurden, die aber das Bild von einer monolithischen Geschichtswissenschaft in Frage stellten. Allerdings sollte man beim Vergleich der beiden deutschen Staaten keineswegs vergessen, daß auch in der Bundesrepublik erst Ende der sechziger Jahre eine pluralistische Geschichtswissenschaft möglich wurde, obwohl sich die Disziplinierungsmechanismen gegenüber nonkonformistischen Historikern in der Bundesrepublik als einem Rechtsstaat und der D D R als einer Diktatur grundlegend unterschieden. In der D D R kam es im Laufe der fünfziger Jahre im Gegensatz zur Bundesrepublik zu einer nahezu vollständigen personellen Erneuerung, nachdem zunächst noch einzelne »bürgerliche« (d. h. nichtmarxistische) Historiker ihre Lehrstühle behalten hatten. 9 5 Dies bedeutete auch einen Bruch mit den 1993; U t e D a n i e l , A r b e i t e r f r a u e n in d e r K r i e g s g e s e l l s c h a f t . B e r u f , F a m i l i e u n d P o l i t i k i m E r s t e n W e l t k r i e g , G ö t t i n g e n 1 9 8 8 ( K r i t i s c h e S t u d i e n zur G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t 8 4 ) - Z u r G e s c h l e c h tergeschichte auch Anne-Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. F r a u e n u n d M ä n n e r im H a m b u r g e r B ü r g e r t u m z w i s c h e n 1770 u n d 1840, G ö t t i n g e n 1996. Barbara D u d e n , Geschichte u n t e r der H a u t . Ein Eisenacher Arzt u n d seine P a t i e n t i n n e n u m 1730, S t u t t g a r t 1987; d i e s . , B o d y h i s t o r y : a r e p e r t o r y , W o l f e n b ü t t e l 1990. 94
M ü n c h e n 1991.
95
Siehe G ü n t h e r H e y d e m a n n , G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t im g e t e i l t e n D e u t s c h l a n d , F r a n k f u r t /
M a i n 1980; A l e x a n d e r Fischer u n d G ü n t h e r H e y d e m a n n ( H r s g . ) , G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t in d e r DDR,
z B d e . , B e r l i n 1 9 8 8 - 1 9 9 0 ; G e o r g G . Iggers ( H r s g . ) , E i n a n d e r e r h i s t o r i s c h e r
B e i s p i e l e o s t d e u t s c h e r S o z i a l g e s c h i c h t e , F r a n k f u r t / M a i n 1991.
Blick.
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
429
Traditionen der bis dahin etablierten nationalen Geschichtsschreibung. Zusammengefaßt lassen sich drei Phasen in der Bewertung der nationalen Vergangenheit unterscheiden: Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgte die S E D (bzw. vor 1946 die K P D ) eine kritische Linie gegenüber der deutschen Vergangenheit, die Ähnlichkeiten mit der »Sonderswegsthese« in der westdeutschen Historiographie besaß. Nach der Entscheidung der Komintern von 1935, zu einer Volksfront mit bürgerlichen demokratischen Parteien aufzurufen, sah die K P D die Ursachen der Entwicklung Deutschlands in dem Versäumnis, den Weg der demokratischen Entwicklung, wie sie in den westlichen Ländern erfolgte, zu beschreiten. In mancher Hinsicht stand diese Berufung auf ein historisches Bewußtsein in scharfem Widerspruch zu der von der Komintern zur selben Zeit verkündeten Dimitroff-These, die den Faschismus als Folge des Monopolkapitalismus erklärte und damit die deutsche Entwicklung undifferenziert in einen internationalen Rahmen einbettete. Die Partei vermied es daher auch, die Frage nach der Unterstützung des N S - R e g i m e s durch breite Bevölkerungsschichten, einschließlich der Arbeiterschaft, zu berühren. Die Ansicht, daß die Abkehr Deutschlands im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert von den demokratischen Traditionen der Aufklärung und der Französischen Revolution zu der deutschen Katastrophe geführt habe, wurde von Alexander Abusch in seinem 1946 in Ostberlin veröffentlichten Buch »Der Irrweg einer Nation« 9 6 vertreten. Sehr bald distanzierte sich die S E D - F ü h r u n g aber von dieser als antinational betrachteten Einstellung. Walter Ulbrichts Rede 1952 über die politische Rolle der Geschichtswissenschaft folgte ein langer Aufsatz, in dem Leo Stern Richtlinien für die D D R - H i s t o r i k e r vorlegte: 9 7 Die deutsche Geschichte sollte nicht länger als eine andauernde Misere aufgefaßt werden; »progressive« Elemente in der deutschen Vergangenheit sollten von »reaktionären« unterschieden und hervorgehoben werden. Die D D R - H i s t o r i k e r hatten die Aufgabe, »die Traditionen der Freiheit und des Kampfes des deutschen Volkes ins Hochmittelalter« zurückzuverfolgen und eine Verbindung zwischen den großen deutschen Errun-
"
Berlin 1946.
97
S i e h e G e o r g i V e r b e e c k . K o n t i n u i t ä t u n d W a n d e l im D D R - G e s c h i c h t s b i l d , in: A u s Politik
u n d Z e i t g e s c h i c h t e , 9 . M ä r z 1 9 9 0 , S . J Z , A n m . IZ a u c h G ü n t h e r H e y d e m a n n , s c h a f t i m g e t e i l t e n D e u t s c h l a n d (s. A n m . 9 5 ) , S . 1 4 7 f.
Geschichtswissen-
430
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
genschaften in Kultur und Wissenschaft und der »progressiven« Gesellschaft der D D R herzustellen. Einerseits beinhaltete die Bezeichnung »reaktionär« eine Distanzierung von antidemokratischen Traditionen, andererseits legte sie der D D R Geschichtswissenschaft ein Schema auf, das die Forschung zwang, den Siegeszug der sozialistischen Diktatur in der D D R nachzuzeichnen. Dies schloß keineswegs sorgfältige Archivforschung aus, führte aber, da es nur einen sehr beschränkten Freiraum auf dem Gebiet der Theorien gab, dazu, daß diese Forschung häufig einen rein positivistischen, faktologischen Charakter annahm. M i t der Ablösung Walter Ulbrichts als Erster Sekretär der S E D , die etwa mit den Ostverträgen der frühen siebziger Jahre zusammenfiel, vollzog sich eine Neuorientierung in der Bewertung der deutschen Vergangenheit. Die S E D betonte, daß die Grundlage der Nationalität nicht in der Sprache oder der Volkszugehörigkeit bestehe, sondern in der Klasse und im Gesellschaftssystem, mit anderen Worten, daß die D D R eine »sozialistische deutsche Nation« repräsentiere. A u f der anderen Seite beanspruchte die S E D die gesamte deutsche Vergangenheit als das »Erbe« der sozialistischen Nation. Dieses »Erbe«, das die gesamte deutsche Geschichte einschloß, unterschied sich von der positiven »Tradition«, auf der die D D R ihr Verständnis von nationaler Identität aufbauen sollte. 98 Diese Neuorientierung koinzidierte mit dem Bestreben der D D R , auf internationaler Ebene Anerkennung für ihre Geschichtswissenschaft zu erreichen. Sie beinhaltete einen A u f r u f an die Historiker, auf allen Gebieten der deutschen Geschichte aktiv zu werden und mit einer methodischen Sauberkeit zu arbeiten, die international Anerkennung finden würde. W i e der amerikanische Historiker Andreas D o r p a l e n " in den frühen achtziger Jahren in einem ersten großen Uberblick über D D R - A r b e i t e n zu allen Epochen der deutschen Geschichte bemerkte, hat es, sieht man einmal von ideologischen Verzerrungen ab, auf allen Gebieten sorgfältige Archivarbeit gegeben, die durchaus ernst genommen werden müsse. Die neue Beschäftigung mit dem »Erbe« und der »Tradition« 98
Ü b e r » E r b e u n d T r a d i t i o n « g i b t es e i n e u m f a n g r e i c h e L i t e r a t u r . E i n e S a m m l u n g w i c h t i g e r
B e i t r ä g e e n t h ä l t : H e l m u t M e i e r u n d W a l t e r S c h m i d t ( H r s g . ) , E r b e u n d T r a d i t i o n in d e r
DDR.
D i e D i s k u s s i o n der Historiker, Berlin 1988. 59
A n d r e a s D o r p a l e n , G e r m a n H i s t o r y in M a r x i s t P e r s p e c t i v e . T h e E a s t G e r m a n
Detroit 1985.
Approach,
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
431
der sozialistischen D D R führte zu einer größeren Aufgeschlossenheit gegenüber der deutschen und besonders der preußischen Geschichte. Sie führte aber keineswegs zu einer kritischen Auseinandersetzung mit autoritären Traditionen in der deutschen Geschichte, wie sie die kritische Sozialgeschichte in der Bundesrepublik angestrebt hatte, sondern eher zu einer Annäherung an die neokonservative Geschichtsschreibung in der Bundesrepublik. Angesichts des autoritären Charakters des D D R - R e g i m e s war dies zu erwarten gewesen. Die nationale und die preußische - Geschichte wurde jetzt herangezogen, um den D D R - S t a a t zu legitimieren. In seltsamer Ubereinstimmung teilten D D R - I d e o l o g e n und Historiker mit konservativen westdeutschen Verteidigern der preußisch-deutschen Vergangenheit die Uberzeugung, daß der Nationalsozialismus keine dezidiert deutschen, sondern allgemein westliche Wurzeln besäße. Diese Wurzeln wurden allerdings nicht wie bei Ritter in der Französischen Revolution, sondern im Monopolkapitalismus gesehen. Der proklamierte »Antifaschismus«, 1 0 0 der seit 1945 als G r ü n dungsmythos des ostdeutschen Regimes gedient hatte, verhinderte mit seinem pauschalen Geschichtsbild eine ernsthafte Erforschung der sozialen Ursachen des Nationalsozialismus. Die Tatsache, daß der Nationalsozialismus eine breite Basis in der Bevölkerung gehabt hatte, wurde weitgehend kategorisch negiert. 1 0 1 Erst mit Kurt Pätzolds Untersuchungen über Judenverfolgung und -Vernichtung nahm die Beschäftigung mit dem Holocaust in der DDR-Geschichtswissenschaft nach 1975 ihren schleppenden A n f a n g . 1 0 2 N o c h 1977 klagten die Autoren des Bandes »Unbewältigte Vergangenheit. Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung der B R D « über die »Überhöhung« der Rolle des Antisemitismus in der westdeutschen N S - F o r schung. 1 0 3
100
S i e h e J . H . B r i n k s , P o l i t i c a l A n t i - F a s c i s m in t h e G e r m a n D e m o c r a t i c R e p u b l i c , i n : J o u r n a l
o f C o n t e m p o r a r y H i s t o r y 32 ( 1 9 9 7 ) , S. 2 0 7 - 2 1 8 . 101
Siehe Gerhard
schichtsschreibung Faschismus,
Lozek in
die diese
der
u.
a., U n b e w ä l t i g t e
BRD,
Berlin/Ost
Interpretation
Dietrich Eicholz, Kurt Gossweiler,
Vergangenheit.
1977.
modifizieren,
-
Zu
ohne
Kritik der bürgerlichen
späteren sie aber
Faschismus-Forschung,
Abhandlungen in
Berlin/Ost
über
F r a g e zu s t e l l e n , 1980; J o a c h i m
Geden siehe
Petzold,
D i e D e m a g o g i e des H i t l e r - F a s c h i s m u s , B e r l i n / O s t 1983; K u r t G o s s w e i l e r , A u f s ä t z e zum Faschismus, 2 B d e . , B e r l i n / O s t 1988. 101
Kurt
Pätzold,
Verfolgung,
Vertreibung,
Vernichtung.
Dokumente
des
faschistischen
A n t i s e m i t i s m u s 1 9 3 3 - 1 9 4 2 . Ü b e r d i e f r ü h e r e A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t J u d e n v e r f o l g u n g u n d "Vernichtung,
Berlin/Ost
1984;
siehe
auch
Mario
Keßler,
Die
SED
und
die J u d e n
R e p r e s s i o n u n d T o l e r a n z . Politische E n t w i c k l u n g e n bis 1 9 6 7 , B e r l i n 1995. 105
L o z e k u. a . , U n b e w ä l t i g t e V e r g a n g e n h e i t ( s i e h e A n m . 1 0 1 ) , S . 335.
-
zwischen
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
432.
M i t der neuen »Erbe und Tradition«-Richtung fanden Aspekte der deutschen und besonders der preußischen Geschichte Anerkennung, die zuvor als reaktionär angesehen worden waren. 1 0 4 So wurde z. B. Luther zu einem fortschrittlichen Denker stilisiert, ohne daß man den vormodernen Z ü g e n seines Denkens — und auch seinem vehementen Haß auf die Juden genügend Rechnung trug. 1 0 5 Als symbolisches Zeichen eines Einverständnisses mit der nationalen »Tradition« konnte die Statue Friedrichs des G r o ß e n 1 0 6 an ihrem früheren Standort »Unter den Linden« wieder aufgestellt werden. Die schrillen chauvinistischen und rassistischen T ö n e sowie die Deutschtümelei von Jahn, Arndt und Fichte und später der Burschenschaften wurden zwar erkannt, aber als Randerscheinungen einer im Grunde progressiven Bewegung betrachtet. Bismarcks Lösung der deutschen Frage wurde von Ernst Engelberg als »Sieg im Interesse des geschichtlichen Fortschrittes« gewertet. 1 0 7 Seine Bismarck-Biographie wurde gleichzeitig im Akademie-Verlag in Ost-Berlin und im konservativen SiedlerVerlag in West-Berlin veröffentlicht. 1 0 8 Während die politische Geschichtsschreibung eher als opportunistisch denn marxistisch bezeichnet werden könnte, opportunistisch in dem Sinn, daß sie den zeitbedingten Interessen des SED-Staates diente, haben marxistische Fragestellungen andererseits zu Untersuchungen geführt, die nicht nur auf dem Gebiet der empirischen Forschung wichtige Beiträge leisteten, sondern auch Fragen aufwarfen, die zu einer fruchtbaren Diskussion mit nichtmarxistischen Historikern führten. So fand die dreibändige Geschichte »Deutschland im Ersten Weltkrieg« von Fritz Klein, Willibald Gutsche und Joachim Petzold, 1 0 9 die auf der Basis sorgfältiger archivalischer Forschung die Rolle industrieller und finanzieller Interessen in den politischen und militärischen Entscheidungen der Reichsregierung am Vorabend des Kriegsaus104
Siehe J a n H e r m a n B r i n k s , D i e D D R - G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t auf dem Weg zur deutschen
Einheit. Luther, Friedrich II. und Bismarck als Paradigmen politischen Wandels, F r a n k f u r t / M a i n 1992. toi
G e r h a r d Brendler, M a r t i n Luther. T h e o l o g i e und R e v o l u t i o n . E i n e marxistische
Dar-
stellung, Berlin/Ost 1983, erwähnt allerdings Luthers J u d e n h a ß . 106
E i n e sehr ausgewogene D a r s t e l l u n g bietet Ingrid M i t t e n z w e i , Friedrich II. E i n e Biogra-
phie, B e r l i n / O s t 1983. 107
Ernst E n g e l b e r g , Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, B d . I, B e r l i n / O s t und West ^ 8 5 ,
S.726. 108
B a n d 1 (siehe A n m . 1 0 7 ) . B d 2, B i s m a r c k . D a s Reich in der Mitte Europas, B e r l i n / O s t und
West 1 9 9 0 . Berlin/Ost 1968-1969.
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
433
bruchs und im Krieg aufzeigte, trotz ihrer bisweilen marxistischleninistisch gefärbten Sprache im westlichen Ausland ein positives Echo. 1 1 0 Wichtig waren ferner einige Beiträge, die besonders in den achtziger Jahren auf dem Gebiet der Sozialgeschichte erarbeitet wurden. Paradoxerweise wurde der Begriff »Sozialgeschichte« wie der Begriff »Soziologie« lange als bürgerlicher Begriff abgelehnt. Obwohl sich eigentlich eine marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft mit den materiellen gesellschaftlichen Grundlagen der Politik hätte beschäftigen müssen, geschah dies meist nur in einer rein schematischen Form. Die Geschichte der Arbeiter war die der Arbeiterbewegung, wie sie von den leitenden Persönlichkeiten in der Partei vertreten wurde, 1 1 1 also eine Geschichte von oben. Jürgen Kuczynski, der Doyen der Wirtschaftsgeschichte in der D D R , beklagte sich 1980 in dem Vorwort zu seiner »Geschichte des Alltags des deutschen Volkes«, daß es in der D D R im Gegensatz zur nichtmarxistischen Historiographie im Westen keine eigentliche Geschichte der existentiellen Lebensbedingungen der Arbeiter gebe. 1 1 1 Ähnliches gilt für die Frauengeschichte. Eine Fülle von Arbeiten, die zwar von marxistischen Positionen ausgingen, aber doch sehr unabhängig von den Vorgaben der Partei waren, entstand in den späten siebziger und in den achtziger Jahren. Hierbei ist zu bemerken, daß nunmehr - ähnlich wie in Westdeutschland — kulturelle Aspekte zunehmend in die Sozialgeschichte integriert wurden. Zwei wichtige strukturgeschichtliche Arbeiten sind hier zu nennen: Hartmut Zwahr, »Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchungen über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution« 1 1 3 und Helga Schultz, »Berlin 1 6 5 0 1800. Sozialgeschichte einer Residenz«." 4 Zwahrs Arbeit geht von einem marxistischen Begriff der Klassenbildung aus, geht dann aber in zwei wichtigen Punkten über die traditionelle mar110
Siehe G e o r g G .
Iggers,
Die
Bedeutung
heute. Fritz Klein zum 70. Geburtstag,
des M a r x i s m u s
f ü r die
Geschichtswissenschaft
in: Z e i t s c h r i f t f ü r G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t 43
(1995),
s. 485-494111
G e s c h i c h t e d e r d e u t s c h e n A r b e i t e r b e w e g u n g in a c h t B ä n d e n , B a n d 1 - 8 , h r s g . v o m I n s t i t u t
für M a r x i s m u s - L e n i n i s m u s beim Zentralkomitee der S E D , Berlin/Ost 1966. m
Jürgen
Kuczynski,
Geschichte
des
Alltags
des
Deutschen
Volkes,
6
Bde.
Berlin/Ost
1 9 8 0 - 8 5 ; siehe a u c h S i g r i d u n d W o l f g a n g J a c o b e i t , Illustrierte A l l t a g s g e s c h i c h t e des d e u t s c h e n V o l k e s , B d . 1 u n d z ( 1 5 0 0 - 1 9 0 0 ) s i n d n o c h zu D D R - Z e i t e n in B e r l i n / O s t 1 9 8 6 - 8 7 d e r d r i t t e B a n d ist u n t e r d e m T i t e l
»Illustrierte Alltags- und Sozialgeschichte
{ 1 9 0 0 - 1 9 4 5 ) « 1 9 9 5 in M ü n s t e r e r s c h i e n e n . "»
Berlin/Ost 1978.
1,4
Berlin/Ost 1987.
erschienen,
Deutschlands
434
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
xistische Arbeitergeschichte hinaus: in ihrem empirischen A n satz und in ihrer Erweiterung einer strukturellen Sozialgeschichte um die Rolle kultureller Faktoren. Die Entstehung einer proletarischen Klasse wird von Zwahr nicht a priori aus der marxistischen Gesellschaftslehre abgeleitet, sondern auf der Grundlage einer sorgfältigen Analyse quantitativer Daten untersucht, in diesem Fall der Aufbereitung von über zweitausend Schutzakten in den Beständen des Leipziger Stadtarchivs, die persönliche Informationen zu der Einwohnerschaft enthalten. Aus diesen Akten erarbeitete Zwahr dann die vielfältigen Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen der ökonomischen, sozialen und politisch-ideologischen Konstituierung einer Klasse. In seiner Analyse von Informationen zur Patenwahl, die in den Akten vorhanden waren, wurden dann Aspekte des familiären Lebens und der freundschaftlichen Beziehungen von Arbeitern ersichtlich. Wies auch Zwahrs Studie in vielerlei Hinsicht Parallelen zu westlichen neo-marxistischen Arbeiten, z.B. zu Edward P. Thompsons »The M a k i n g of the English Working Class« 1 1 5 auf, ohne daß er diese rezipiert hatte, so betonte demgegenüber Schultz, daß eine moderne marxistische Sozialgeschichte ohne eine Berücksichtigung der neueren Ansätze aus der westlichen Sozialgeschichte nicht denkbar sei. In ihrer Sozialgeschichte Berlins 1650—1800 wollte sie eine umfassende Geschichte eines genau definierten Bezirks aus marxistischer Sicht schreiben, eine »histoire totale« im Sinne der »Annales«, wobei sie Wert auf die langfristigen Strukturen der Bevölkerung und auf die politischen und sozialen Prozesse legte, die zu deren Veränderung führten. A u f der Basis von Daten aus 150.000 Eintragungen aus den Kirchenregistern zweier Berliner Pfarreien aus diesen Jahren rekonstruierte sie dann nicht allein die Bevölkerungsstruktur, sondern auch verschiedene Aspekte des Lebensstils, wie z. B. Kleidung, Nahrung, Wohnung, Haushalt, Kinder, Sexualität und Freizeit. Schließlich widmete sie sich der Aufklärung mit einer Diskussion über Intellektuelle und über die Emanzipation von Juden und Frauen. In ihrem folgenden B u c h , " 6 einer kommentierten Ausgabe der Chronik eines Berliner Bäckermeisters aus dem 18. Jahrhundert, ging sie dann von der Makro- zur Mikrohistorie über, indem sie das Leben eines einzelnen in den konkreten Verhältnissen von Berlin in dieser Übergangsperiode behan115
D e u t s c h e Ausgabe: D i e Entstehung der englischen Arbeiterklasse, F r a n k f u r t / M a i n 1987.
116
Helga Schultz, D e r Roggenpreis und die Krise des großen K ö n i g s , B e r l i n / O s t 1988.
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
435
delte. Auch Z w a h r bewegte sich in »Herr und Knecht« 1 1 7 auf der Basis bildlicher und literarischer Quellen von den großen Strukturen hin zu den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen vom frühen Mittelalter bis zur Reformation. Bemerkenswert ist die enge Zusammenarbeit zwischen Volkskundlern und Wirtschaftshistorikern, die in dieser Form im Westen selten anzutreffen war. Drei große Projekte zur Modernisierung von Regionen - der Magdeburger Börde, der Oberlausitz in Sachsen und des mecklenburgischen Landes - im Übergang vom späten 18. zum 19. Jahrhundert verknüpften Veränderungen in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Struktur mit Kultur im weitestesten Sinne: Essen, Haus, Mode, Sprache, Schule, Vereine, Freizeit und Feste. Alle diese Arbeiten untersuchten den Alltag im Rahmen der ökonomischen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse, in denen der Kapitalismus eine zentrale Rolle spielt. Aber im Gegensatz zu zahlreichen westlichen Arbeiten war hier von einer Sehnsucht nach einer vergangenen Welt nichts zu spüren. Ahnlich frei von Nostalgie waren die Arbeiten von Dietrich Mühlberg und seiner Gruppe zur »Arbeiterkultur« in Berlin um 1900. 1 1 8 Modernisierung wurde in allen diesen Arbeiten nicht primär als Verlust, sondern auch als Befreiung und Bereicherung des Lebens angesehen. In seinen Untersuchungen von Religion und Religiosität auf dem pommerschen Land im 17. J a h r h u n d e r t " 9 rezipierte Jan Peters programmatisch die »Mentalitätsgeschichte« der »Annales«. 1 2 0 Was für ihn die Gemeinsamkeit von Historischem Materialismus und »Annales« ausmachte, war die Verbindung von Bewußtsein und Kultur mit ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen. Religion wurde von Peters weniger als Lebenseinstellung, denn als Spiegel verinnerlichter Normen des gesellschaftlichen Standes und der gesellschaftli1,7
H a r t m u t Z w a h r , H e r r u n d K n e c h t . F i g u r e n p a a r e in d e r G e s c h i c h t e , Berlin 1990.
118
W i c h t i g e A r b e i t e n dieses Kreises: D i e t r i c h M ü h l b e r g u n d H o r s t G r o s c h o p p , A r b e i t e r l e b e n
u m 1900, B e r l i n / O s t 19&3; H o r s t G r o s c h o p p , Z w i s c h e n B i e r a b e n d u n d B i l d u n g s v e r e i n :
Zur
K u l t u r a r b e i t in d e r d e u t s c h e n A r b e i t e r b e w e g u n g vor 1914, 2. A u f l . B e r l i n / O s t 1987; D i e t r i c h M ü h l b e r g , P r o l e t a r i e r , K u l t u r u n d L e b e n s w e i s e im 19. J a h r h u n d e r t , B e r l i n 1986. 119
Siehe J a n P e t e r s , S o n n t a g s v e r b r e c h e r in S c h w e d i s c h - P o m m e r n . Z u r b ä u e r l i c h e n
Belast-
b a r k e i t d u r c h A r b e i t s r e n t e , i n : J a h r b u c h f ü r W i r t s c h a f t s g e s c h i c h t e , 1982, H e f t 4, S. 89-113; d e r s . , D e r P l a t z in d e r K i r c h e . Ü b e r soziales R a n g d e n k e n
im S p ä t k a p i t a l i s m u s , i n : J a h r b u c h
für
V o l k s k u n d e u n d K u l t u r g e s c h i c h t e 2$ ( N e u e Folge 13) (1985), S. 7 7 - 1 0 6 . 110
J a n P e t e r s , D a s A n g e b o t d e r A n n a l e s u n d das Beispiel Le R o y L a d u r i e . N a c h d e n k e n s w e r t e s
ü b e r f r a n z ö s i s c h e S o z i a l g e s c h i c h t s f o r s c h u n g , in: J a h r b u c h f ü r W i r t s c h a f t s g e s c h i c h t e 1989, H e f t t, S., I39-"S9-
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
43 6
chen Kontrolle aufgefaßt. Alltagsgeschichte wurde in der D D R Historiographie viel stärker als in der Bundesrepublik in einen ökonomisch-gesellschaftlichen Rahmen eingebettet, ohne in diesem Rahmen aufzugehen. Andererseit ist auffallend, wie weitgehend diese Form der »Alltagsgeschichte« in der D D R entpolitisiert war. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Alltag, wie wir dies in den Arbeiten von Niethammer, Lüdtke und in den Geschichtswerkstätten finden, fehlt fast vollständig. 1 2 1 Im Gegensatz zu der Zeit nach 1945, in der das Gros der Historiker, die in der N S - Z e i t im A m t waren, ihre Stellen in der Bundesrepublik behalten konnten oder nach kurzer Unterbrechung rehabilitiert wurden, wurde die große Mehrheit der Historiker und Historikerinnen der ehemaligen D D R nach der Wende fristlos entlassen. Die Akademie der Wissenschaften der D D R wurde im Dezember 1991 laut Vereinigungsvertrag aufgelöst; die Institute an den ostdeutschen Hochschulen wurden umstrukturiert, und die meisten ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen durch Westdeutsche ersetzt. O b w o h l vor der Wende in der alten Bundesrepublik viel von der Notwendigkeit einer Hochschulreform die Rede war, wurde den ostdeutschen Hochschulen einfach das unreformierte westdeutsche System übergestülpt. Dies bedeutete das Ende der marxistischen Geschichtswissenschaft der D D R . N u r wenige Historiker oder Historikerinnen aus der ehemaligen D D R wurden übernommen oder neu berufen, darunter Hartmut Zwahr (Leipzig), Helga Schultz (Frankfurt/Oder), Jan Peters (Potsdam) und Hartmut Harnisch (Humboldt Universität - Berlin). Wolfgang Küttler, der sich in der D D R mit der Verbindung marxistischer und Weberscher Ansätze in der Geschichtstheorie beschäftigt hatte, wurde 1996 in das neugegründete Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte aufgenommen. Kocka hatte 1991 in seiner Evaluierung der geisteswissenschaftlichen Akademieinstitute für den Wissenschaftsrat betont, daß es trotz der politischen Instrumentalisierung und häufigen Mittelmäßigkeit auch in der Geschichtswissenschaft der ehemaligen D D R A n sätze gab, die im Westen ernst genommen werden müßten. Er wirkte maßgeblich am Vorschlag des Wissenschaftsrats (1991) 111
Eine
Ausnahme
bildet
der
vorzügliche
Aufsatz
von
Sigrid
Jacobeit,
Zur
Kleidungs-
g e s c h i c h t e im f a s c h i s t i s c h e n D e u t s c h l a n d , in: G e o r g G . Iggers ( H r s g . ) . E i n a n d e r e r h i s t o r i s c h e r B l i c k (s. A n m . 95), S . 1 3 9 - 1 5 4 , d e r v o r d e r W e n d e g e s c h r i e b e n w u r d e , a b e r e r s t d a n a c h e r s c h i e n . D e r A u f s a t z u n t e r s u c h t die M o d e p o l i t i k der N a t i o n a l s o z i a l i s t e n im Z e i c h e n des A n t i s e m i t i s m u s .
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1 9 9 7
437
mit, der die Errichtung von sieben geisteswissenschaftlichen Forschungsschwerpunkten vorsah, die Forschern aus der D D R den Übergang in die bundesdeutsche Wissenschaft ermöglichen sollten. Diese Institute wurden tatsächlich mit Unterstützung der Max-Planck-Gesellschaft gegründet. Für die Geschichtswissenschaft war der Forschungsschwerpunkt für zeithistorische Forschung in Potsdam, an dem ost- und westdeutsche Historiker und Historikerinnen arbeiteten, von Bedeutung für die besondere Erforschung der Geschichte der D D R . 1 2 2 Eine Fortführung von Projekten, die in der D D R begonnen worden waren, gab es aber kaum. D a ß Jan Peters in Potsdam in der Außenstelle des Max-Planck-Institutes für Geschichte seine Forschungen fortsetzen konnte, war eine Ausnahme. So bewegte sich die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik nach 1989 in alten Bahnen, ohne Anregungen aus der Geschichtswissenschaft der ehemaligen D D R zu rezipieren. 123
8.
Der Mauerfall im November 1989 und die rasche Wiedervereinigung 1990 kamen für die Historiker völlig unerwartet. Die große Mehrheit hatte vor dem Herbst 1989 keine Wiedervereinigung erwartet. 1 2 4 Selbst Historiker, die national dachten, wie Hagen Schulze, bezweifelten, daß der Nationalstaat noch eine Z u k u n f t hätte. 1 2 5 Für die Historiker der kritischen Schule gehörte der Nationalstaat, wie er vor 1945 bestanden hatte, der Vergangenheit an. Die Bundesrepublik, wie sie am Vorabend der Wiedervereinigung bestand, war für diese Historiker eine politische Gemeinschaft, mit der man sich positiv identifizieren konnte. Sie konnten sich Jürgen Habermas' Formulierung anschließen, als er 1986 im »Historikerstreit« schrieb: »Die vorbehaltlose Ö f f n u n g der Bundesrepublik gegenüber der politischen 111
V g l . J ü r g e n K o c k a , V e r e i n i g u n g s k r i s e . Z u r G e s c h i c h t e der G e g e n w a r t , G ö t t i n g e n
1995.
S- 4 7 - S 5 - 6 4 - 8 0 ; M a r y F u l b r o o k , T h e F o r s c h u n g s s c h w e r p u n k t Z e i t h i s t o r i s c h e S t u d i e n , in: G e r man History 12 (1994), S. 2 0 3 - 2 0 7 . Fast alle
methodisch
innovativen
Ansätze
in der e h e m a l i g e n
DDR
endeten
mit
der
W i e d e r v e r e i n i g u n g . Aufgelöst wurde die k u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e G r u p p e u m D i e t r i c h M ü h l b e r g an der H u m b o l d t - U n i v e r s i t ä t , die v e r g l e i c h e n d e u n i v e r s a l g e s c h i c h t l i c h e G r u p p e um
Manfred
K o s s o k in Leipzig u n d das I n s t i t u t für W i r t s c h a f t s g e s c h i c h t e der A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n der D D R , aus d e m w i c h t i g e A r b e i t e n , die V o l k s k u n d e u n d W i r t s c h a f t s g e s c h i c h t e v e r b a n d e n , hervorgegangen waren. 114
Siehe Jürgen Elvert, Nationalsozialismus (Anm. 6 0 ) , S. 5 7 - 6 0 .
I2S
H a g e n S c h u l z e , G i b t es ü b e r h a u p t e i n e d e u t s c h e G e s c h i c h t e ? , B e r l i n
1989, S . 6 3 - 7 0 .
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
438
Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte ... Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus.« 126 Es ist bemerkenswert, daß die Wiedervereinigung wider Erwarten bisher zu keiner grundsätzlichen Veränderung im deutschen Geschichtsverständnis geführt hat. Die Fronten, die sich im »Historikerstreit« abzeichneten, bestanden nach der Wiedervereinigung weiter. Auch auf der politischen Ebene blieb das Verhältnis zwischen den Parteien zumindestens in den alten Bundesländern stabil. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern blieb der rechtsradikale Ultranationalismus bei den Wählern ohne Bedeutung, wenn es auch unter Jugendlichen besonders in den neuen Bundesländern ein Gewaltpotential gab. Der Protest gegen die neuen Verhältnisse drückte sich in den neuen Bundesländern auf dem linken Flügel in Stimmen für die PDS, der Nachfolgepartei der S E D , aus. Trotz der Kontroverse über die Einführung einer einheitlichen europäischen Währung erhielt die Anbindung an Europa stärkere Unterstützung in der Bundesrepublik als in anderen europäischen Ländern. Die breite Übereinstimmung der deutschen Bevölkerung in dieser Hinsicht wurde im Frühjahr 1995 in den Gedenkveranstaltungen und den Diskussionen in den Medien zum 50. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs sichtbar. Die Kluft zwischen denen, die, wie Kanzler Kohl zum 40. Jahrestag im Friedhof von Bitburg, die gefallenen Soldaten, deren Schicksal sie mit dem der Opfer gleichsetzten, in eine normalisierte deutsche Geschichte einfügen wollten, und denen, die von dieser Geschichte kritischen Abstand nahmen, blieb erhalten. Damit war auch die Frage verbunden, ähnlich wie etwa bei der Neueinweihung der »Neuen Wache« in Berlin, wer als Opfer der Gewalt gelte. Die Bundestagskoalition tat sich immer noch schwer damit, die Urteile der NS-Kriegsgerichte aufzuheben und die Deserteure zu rehabilitieren. 1995 war aber im Vergleich mit 1985 eine kritischere Einstellung gegenüber der deutschen Vergangenheit zu beobachten. Der Versuch einer Gruppe von rechtskonservativen Historikern, darunter Ernst Nolte und Rainer Zitelmann, am 8. Mai 1995 eine Demonstration »Gegen das Vergessen« in Frankfurt zu organisieren, bei der Alfred Dregger, der Vorsitzende der C D U / 116
J ü r g e n H a b e r m a s , E i n e A r t S c h a d e n s a b w i c k l u n g , in: Die Z e i t , 11. J u l i 1986; auch in:
Historikerstreit (s. A n m . 49), S. 75.
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
439
CSU-Bundestagsfraktion, der Hauptredner sein sollte, um den Deutschen bewußtzumachen, daß der 8. M a i 1945 nicht in erster Linie der Tag ihrer Befreiung vom Nationalsozialismus war, sondern der der Demütigung Deutschlands, welcher Teilung und Vertreibung folgten, scheiterte am Widerstand der öffentlichen M e i n u n g . 1 2 7 Ahnlich war die Situation im Frühjahr 1997, als die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, trotz vehementer Opposition von rechts, in breiten Kreisen der Bevölkerung auf Unterstützung stieß. Bisher hat es in der Tat nach 1989 keine neuen Ansätze in der Geschichtsscheibung in bezug auf die deutsche nationale Vergangenheit gegeben. Die Diskussionen der achtziger Jahre wurden fortgesetzt. A m rechten Flügel bemühten sich Ernst Nolte und Rainer Zitelmann, den Nationalsozialismus nicht nur zu relativieren, sondern in gewissem Maße auch zu entschuldigen. Zitelmann hatte schon vor 1989 die modernisierenden Aspekte des Regimes hervorgehoben, z. B. die Schaffung eines effizienten Sozialstaats, die Reformen im Bildungssystem und die Rationalisierung von Industrie und Wirtschaft; 1 2 8 die Kriegsund Rassenpolitik des Regimes wurde damit an den Rand gedrängt. Nolte vertrat die These, daß es 1933 keine Alternative zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus gegeben habe. 1 2 9 Noltes und Zitelmanns Einfluß auf die allgemeine Ö f fentlichkeit und auf das Fach Geschichte war jedoch beschränkt. Andererseits beauftragte Zitelmann als Lektor des Propyläen Verlags Karlheinz Weißmann, der ähnliche Positionen vertrat, die Geschichte Deutschlands in den Jahren 1933 bis 1945 zu schreiben. Der Band erschien, 1 3 0 wurde dann zurückgerufen und Hans M o m m s e n anvertraut. Weniger extrem vertraten andere Historiker und Politologen, darunter Michael Stürmer, Klaus Hildebrand, Hans-Peter Schwarz, T h o m a s Nipperdey, Joachim Fest und Arnulf Baring, Positionen, 1 ' 1 die sie schon vor 1989 vertreten hatten, aber nun117
F r a n k f u r t e r A l l g e m e i n e Z e i t u n g , 5. M a i 1 9 9 5 .
118
Siehe Rainer Zitelmann,
Hitler: Selbstverständnis
eines Revolutionärs,
Hamburg
ders. und Michael Prinz (Hrsg.), Nationalsozialismus und M o d e r n i s i e r u n g , D a r m s t a d t 119
Siehe
auch
Christian
Striefler,
Kampf
um
die
Macht:
Kommunisten
und
1987;
1991. National-
sozialisten am E n d e der W e i m a r e r R e p u b l i k , Berlin 1993. 130 1,1
K a r l h e i n z W e i ß m a n n , D e r W e g in d e n A b g r u n d 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , B e r l i n 1 9 9 5 . S i e h e S t e f a n B e r g e r , H i s t o r i a n s a n d N a t i o n - B u i l d i n g in G e r m a n y a f r e r R e u n i f i c a r i o n , i n :
Past and Present, N o . 148 (August 1 9 9 s ) , S. 2 0 2 - 2 0 3 , auch ders., T h e S e a r c h f o r N o r m a l i t y a n d H i s t o r i c a l C o n s c i o u s n e s s in G e r m a n y S i n c e 1 8 0 0 , e r s c h e i n t 1 9 9 7 b e i B e r g h a h n B o o k s , P r o v i d e n c e und O x f o r d ; siehe auch T h o m a s N i p p e r d e y , D i e D e u t s c h e n wollen und d ü r f e n eine N a t i o n sein., in: F r a n k f u r t e r A l l g e m e i n e Z e i t u n g , 13. J u l i 1 9 9 0 .
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
mehr durch die Wiedervereinigung bestätigt sahen. Michael Stürmer wiederholte seine Kritik an einem deutschen Sonderweg und sah in der »Mittellage« Deutschlands die Erklärung für die schicksalhafte Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. 1 ' 2 Z u m Schluß dieses Überblicks stellt sich die Frage, wo die kritische Sozialgeschichte am Ende der neunziger Jahre steht. Wehler hat in der Rede zum Anlaß seiner Emeritierung auf die ursprünglichen Positionen der kritischen Sozialgeschichte zurückgeblickt und bemerkt, wie sich diese im letzten Vierteljahrhundert verändert haben. 1 3 3 Ähnlich hat sich Kocka kürzlich geäußert. 1 3 4 Beide räumen ein, daß sie ihre These vom deutschen Sonderweg in ihrer ursprünglichen Form mit einem zu einfachen Modernisierungsbegriff verbunden hatten. 1 3 5 Auch erkennen sie an, daß sich die deutsche Geschichte nicht mehr so ausschließlich auf den »Primat der Innenpolitik« reduzieren lasse, wie sie dies ursprünglich angenommen hatten. »In den Jahren 1989/90 konnte kaum übersehen werden,« schreibt Kocka, »wie sehr ... die innere Geschichte der einzelnen Länder mitbestimmt wird von Veränderungen in der internationalen Arena.« 1 3 6 Andererseits hat die kritische Sozialgeschichte dazu beigetragen, daß die Außenpolitik nicht mehr in demselben Maße unabhängig von gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren betrachtet werden konnte, wie dies zuvor in der deutschen Geschichtswissenschaft üblich war. Es blieb der kritische Blick auf die verhängnisvolle Entwicklung, die zum Nationalsozialismus führte und das Bekenntnis zu einer demokratischen, sozial gerechten Demokratie. Ein zweites Defizit, das Wehler und Kocka im Rückblick erkennen, ist die Uberbetonung sozialer Strukturen auf Kosten von kulturellen Faktoren. 1 3 7 Aber wie wir bereits sahen, haben sich Sozialgeschichte und Kulturgeschichte in den achtziger und neunziger Jahren einander angenähert. Andererseits haben 131
Michael Stürmer, D i e Grenzen der M a c h t : B e g e g n u n g der Deutschen mit der G e s c h i c h t e ,
Berlin 1992; siehe auch G r e g o r S c h ö l l g e n , D i e M a c h t in der M i t t e Europas: Stationen deutscher A u ß e n p o l i t i k von Friedrich dem G r o ß e n bis zur G e g e n w a r t , M ü n c h e n 1992. 133
H a n s - U l r i c h Wehler, R ü c k b l i c k u n d Ausblick oder: arbeiten, um überholt zu werden?, in:
Bielefelder Universitätsgespräche und Vorträge 6, Bielefeld, 1996, S. 14. 134
J ü r g e n K o c k a , Gesellschaftsgeschichte: Profil, Probleme und Perspektive, in: Festschrift f ü r
Michael Mitterauer, hg. von J o s e f E h m e r und T. K . Hareven, voraussichtlich 1 9 9 7 . 135
H a n s - U l r i c h Wehler (siehe A n m . 133), S . 10.
136
Jürgen Kocka (Anm.134). H a n s - U l r i c h Wehler ( A n m . 133), S. 1 0 - 1 1 .
441
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
die Ereignisse von 1989/90 nicht nur die Rolle der Politik neu betont, sondern gleichzeitig auch die enge Verflechtung von politischen, sozialen und kulturellen Faktoren offensichtlich gemacht. 1 3 8 Wenn wir von den späten neunziger auf die frühen sechziger Jahre zurückblicken, sehen wir, daß sich die Tradition des klassischen deutschen Historismus, die das Kernstück dieses Buchs bildet, aufgelöst hat und an die Stelle eines nationalen Konsenses ein Pluralismus an Vorstellungen getreten ist, wie man deutsche Geschichte zu sehen und zu schreiben hat. Abgesehen von den Positionen Noltes und Zitelmanns besteht dennoch eine Gemeinsamkeit in der Befürwortung einer demokratischen Bundesrepublik mit engen politischen und kulturellen Beziehungen zu der westlichen Welt. Auch Historiker, wie Michael Stürmer oder der verstorbene T h o m a s Nipperdey, die den Nationalstaat wieder aufwerten wollten, hatten nicht die Absicht, die bundesrepublikanische politische Kultur durch eine autoritäre zu ersetzen, wie sie noch vielen national gesinnten Historikern in der Weimarer Republik vorgeschwebt hatte. Nipperdeys »Deutsche Geschichte« hat bewiesen, in welchem Maße sogar eine Geschichtsschreibung, die zur politischen Erzählung zurückstrebte, struktur- und kulturgeschichtliche Perspektiven übernommen hat. In diese historiographische Szene platzte 1996 die Arbeit eines jungen amerikanischen Politologen, Daniel Goldhagen, über die von ihm behauptete Verstrickung der gesamten deutschen Bevölkerung in den N S - M o r d an den Juden. 1 3 9 Nie zuvor in der Bundesrepublik hat ein historisches Werk ein derartiges Aufsehen erregt. Z u einem neuen »Historikerstreit« hat es nicht geführt, eher zu einem »Abwehrkonsens«, 1 4 0 der ein ganzes Spektrum an Historikern von Arnulf Baring bis Hans M o m m sen und Reinhard R ü r u p einschloß. Geschlossen lehnten die deutschen Historiker - und übrigens auch alle amerikanischen und israelischen Spezialisten für die Geschichte des National1,8
J ü r g e n K o c k a , Sozialgeschichte der neunziger Jahre, in: D i e neue G e s e l l s c h a f t / F r a n k f u r t e r
Hefte 40 (1993),
S.1125-1129.
Daniel Goldhagen,
Hitlers willige Vollstrecker. G a n z normale Deutsche und der
Holo-
caust, Berlin 1996, erschienen im Siedler Verlag. 140
S i e h e H a n s - U l r i c h W e h l e r , W i e ein S t a c h e l i m F l e i s c h . E s g i b t s e c h s g u t e G r ü n d e , s i c h
ernsthaft mit
Daniel
Goldhagens
Buch
zu b e f a s s e n -
und
ebenso viele, w a r u m
man
seine
E r k l ä r u n g des H o l o c a u s t scharf kritisieren m u ß , in: J u l i u s H . Schopps ( H r s g . ) . , E i n V o l k v o n Mördern?
Die
Dokumentation
zur G o l d h a g e n
H o l o c a u s t , H a m b u r g 1 9 9 6 , S. 193.
Kontoverse
um
die
Rolle
der Deutschen
im
442
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
Sozialismus und des Holocaust - die These von einem besonderen deutschen Antisemitismus ab, der nach Goldhagen der deutschen politischen Kultur seit der Aufklärung immanent gewesen sei und dessen konstantes Ziel es gewesen sei, die Juden zu vernichten; einen »eliminatorischen Antisemitismus«, wie ihn Goldhagen nannte, der sich von dem aller anderen europäischen Länder unterschieden habe. Dennoch brachte das Buch die Darstellung des Genozids auf eine Ebene, die bis jetzt in der deutschen und der internationalen Forschung, mit Ausnahme von Christopher Brownings Studie über die Rolle des Hamburger Polizei-Reservebataillons 101 bei der Erschießung von Juden in Polen (1992), 141 vernachlässigt worden war. In drei konkreten Fallstudien - über Polizeieinheiten bei der Massenermordung von Juden in Polen und Rußland in den frühen Phasen des Uberfalls auf die Sowjetunion, über Arbeitslager für Juden und über die Todesmärsche in den letzten Wochen des Krieges - ging Goldhagen von den anonymen Analysen der »Funktionalisten«, die den Judenmord als Resultat eines durch die Dynamik des Kriegs radikalisierten institutionalisierten Apparats verstanden, und der »Intentionalisten«, die die Entscheidungen führender Eliten verantwortlich machten, zum Alltag des Mordens über. Es war nicht die »Banalität des Bösen«, die Hannah Arendt in ihrem Buch über den EichmannProzeß 141 beschrieben hatte, noch die Industrialisierung des Massenmordes, 143 sondern es waren die Taten von identifizierbaren Tätern, die die Morde aus einer sadistischen Lust, die in einem fanatischen Antisemitismus verwurzelt war, ausführten — einem Antisemitismus, der Teil der deutschen politischen Kultur war. Die These einer in der deutschen Geschichte verankerten Kollektivschuld ließ sich leicht zurückweisen. Nicht aber die bis dato zu wenig anerkannte Tatsache, daß hinter dem System und seinen Verbrechen Abertausende von Menschen standen und daß deren Zustimmung zum NS-System mit ihren eingefleischten nationalen und politischen Vorstellungen zusammenhing. Die wissenschaftliche Diskussion war in gewisser Weise irrele141
C h r i s t o p h e r B r o w n i n g , G a n z n o r m a l e M ä n n e r . D a s R e s e r v e - P o l i z e i b a t a i l l o n IOI u n d die
» E n d l ö s u n g « in Polen, R e i n b e k bei H a m b u r g 1 9 9 4 . 142
Hannah
Arendt,
Eichmann
in J e r u s a l e m .
Ein
B e r i c h t v o n der B a n a l i t ä t
des
Bösen,
München 1964. 143
S i e h e R a o u l H i l b e r g , D i e V e r n i c h t u n g der e u r o p ä i s c h e n J u d e n . D i e G e s a m t g e s c h i c h t e des
H o l o c a u s t , 3 B d e . , 2. A u f l . , F r a n k f u r t / M a i n , 1 9 9 0 (englisch I 9 6 I ) . _
Nachwort zur deutschen Neuauflage von 1997
443
vant. Trotz der Kritik wurde das Buch über Nacht für Monate zum Bestseller in Deutschland. Es bewies, wie auch die Diskussion über die Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, daß die Vergangenheit noch nicht vergehen will, und daß die Normalisierung der deutschen Geschichte, die die Revisionisten im »Historikerstreit« erhofften, weiter auf sich warten läßt.
REGISTER
Abel, Wilhelm 403 fr. Absolutismus 29 Abusch, Alexander 396 Acton, Lord 15, 21 Adams, Brooks 86 Adams, George Burton 87 Adams, Henry 86 Adams, Herbert Baxter 86 Adel, preußischer 30-33, 36, 76, 128, 22of., 265 Adorno, Theodor W. 405 Albert, Hans 408 Ancillon, Johann Peter Friedrich 97 Andreas, Willy 327 >Annales< 351, 355f., 378 Antoni, Carlo i j f . , 47f., 216, 230, 246, 252 Aristoteles 43 Arndt, Ernst Moritz 59 Arnold, Gottfried 47, 50, 283 Aubin, Hermann 403 Augustinus 104 Bajor, Georg 404 Baumgarten, Hermann 36, 1 2 1 , 158, i 6 i f . Beethoven, Ludwig van 167 Below, Georg von 25, 172, 257f., 29 j f . , 307 Bentham, Jeremy 55, 373 Berghahn, Volker 398 f. Berkeley, George 189 >Berliner Politisches Wochenblatt< 95-97 Bernstorff, Christian Günther Graf von 95 fr. Berthold, W. 408 Bismarck, Otto Fürst von 35, 37, 40, 1 1 5 , 122, 124, 156—159, 161, 220, 223, 255, 262, 264^, 268, 278, 290, 295, 298, 3 4 i f . , 344, 347f., 3jo, 362 Boeckh, August 89 Böhm, Ekkehard 400 Böhme, Helmut 362, 398 f. , 4 0 1 Bopp, Franz 89 Borchardt, Knut 403 Bosanquet, Bernard 372 Bracher, Karl Dietrich 335, 359 Brandenburg, Erich 295, 320, 322 Brecht, Arnold 163, 165 Breysig, Kurt 3o6f. Brunner, Otto 327, 351, 353f. Bucholz, E . W. 405 Buckle, Henry Thomas 86, 144, 146, 153, 1 7 1 , 214, 306, 3 1 1 , 380 Büchner, Karl 3 1 1 Buhr, Manfred 397 Burckhardt, Jacob 12, 23, 1 6 8 - 1 7 1 , 198, 223, 237, 260, 2 9 i f . , 306, 3 i o f . , 329, 338, 378, 381
Burke, Edmund 15, 47f., 102, 133, 283 Bußmann, Walter 123, 350 Carlyle, Thomas 15, 170 Carr, Edward Hallett 383 Cohen, Hermann 168, 189-193, 197fr., 210, 266 Comte, August 15, 52, 86, 1 7 1 , 177, 181, 184, 214, 257, 3 1 1 , 315, 38of., 383f. Condillac, Etienne Bonnot de 5 5 Condorcet, Jean Antoine Marquis de 190, 313, 381, 383f. Constant, Benjamin 15 Conze, Werner 329, 350-354, 357, 364, 398,402 Coulanges, Numa Denis Fustel de 21 Craig, Gordon 344 Dahlmann, Friedrich Christoph 35, 1 2 1 , 124, 1 3 3 f f . , 142, 264 Danilewski, Nikolai J . 169 Dehio, Ludwig 296, 327, 335, 347, 349, 353, 364 Delbrück, Hans 27, 229, 254, 322 Descartes, René 46, 49 Dilthey, Wilhelm 20, 1 2 1 , 144, 147, 163, 165 ff., 1 7 5 - 1 7 8 , 180-190, 202, 209f., 226, 255, 3 i i f . , 315, 317, 35 1, 356, 380 Döllinger, Ignaz von 12 Drittes Reich 23, 288^,309, 319, 321, 323, 327, 33°» 333. 347. 349» 353» 357» 3 6 4 s. a. Nationalsozialismus, NS-Regime Droysen, Johann Gustav 19, 34f-, »21, 124, i26f., 137f., 140-145, 157fr., i66f., 169, 174, 178, 181, 183, 222, 254f., 262fr., 300, 306, 401, 403 Duncker, Max 1 2 1 , 157 Eichhorn, Johann Albrecht 96 Eichhorn, Karl Friedrich 89 Empirismus 103, 172, 177 Engel, Wilhelm 322 Engelberg, Ernst 408 Engels, Friedrich 21 Engelsing, Rolf 405 Erkenntnistheorie 20, 84, 179 empirische 106 Eschenburg, Theodor 335, 357 Eudämonismus 56, 66 Eyck, Erich 38, 299, 339, 350, 396 Faber, K . - G . 408 Febvre, Lucien 379 Feuerbach, Ludwig 3 1 1 Fichte, Johann Gottlieb 22, 56, 58fr., 262f. Ficker, Julius von 12
Register Fischer, Fritz 398 ff.
445 328,
530, 359-362, 364 395,
Fischer, Wolfram 404 f. Fiske, J o h n 86 Frankel, Ernst 398 Frank, Walter 3 2 2 - 3 2 6 , 348 Französische Revolution 14, 16, 23, 3 3 f . , 48, 52, 57, 62, 98f., 1 1 1 , 1 1 4 , i 2 8 f f . , 20t, 289, 309, 322, 343, 353, 357, 3 8 6 Frauendienst, Werner 327 Freud, Sigmund 163, 165, 2 1 0 Freyer, Hans 353 Friedmann, Wolfgang 174 Friedrich I I . , der Große, K ö n i g v o n Preußen 3 1 , 323, 341 ff., 347 Fueter, Eduard 1 1 6 Gadamer, Hans-Georg 331 G a g e r n , M a x Joseph L u d w i g 262, 264 Gagern, Wilhelm Heinrich August 262, 264 Geiss, Imanuel 349, 398, 4o6f. Gentz, Friedrich 62 Gerhard, Dietrich 3 1 0 , 355 Gerlach, Ernst L u d w i g v o n 95 Gerlach, Leopold v o n 9$ Gervinus, G e o r g Gottfried 1 2 1 f . , 124, 1 3 5 f . , 144, 156, i59 G i b b o n , E d w a r d 17, 43, 46, 283 Gierke, Otto v o n 172 fr. Gilbert, Felix 3 1 0 Gneisenau, Neithard Graf v o n 16 Goerdeler, Carl 345 f. Goethe, Johann Wolfgang 2 1 , 46, 5 4 f . , 6 1 , 64, 7 3 f . , 167, 28of., 2 8 3 ^ , 286f. Göttinger Schule 89 Göttinger Sieben 1 2 1 Goetz, Walter 40, 295, 298, 3 z i f . , 32$, 349 Gollwitzer, Heinz 328 Gothein, Eberhard 3o6f. G r a b , Walter 406 Grebing, Helga 405 Greene, Theodore 3 72 f. G r o h , Dieter 399, 408 Gutsche, W. 407
Hegel, G e o r g Wilhelm Friedrich 19, 22, 52, 5 6 f f . , 60, 89f., 93, 104, 107, 1 1 0 , 1 1 3 , 1 1 8 , 126 f . , 134, 136, 138, 150, 154, 169, 1 7 1 , 174, 182fr., 1 9 1 , 199, 227, 234, 242, 257, 262, 270, 27?f-> 283» 302» 3 U . 3®3 Hegelianer 66 Heiber, Helmut 3 1 9 ^ , 326 Heidegger, Martin 39, 3 1 6 f r . , 3 3 1 f r . Heimpel, Hermann 3 2 7 f . , 337 Herder, Johann Gottfried 19, 2 1 , 4 4 f . , 48, 50 bis 55, j 8 f . , 6 1 , 64, 79, 98, 1 3 5 , 1 7 1 , 225, 262, 280, 2 8 3 f . , 287, 3 1 1 , 375, 377 Herzfeld, Hans 296, 310, 327, 335, 339, 347, 353. 357, 364, 398 Heuß, Alfred 172, 32* Heussi, Karl 3 1 4 Hildebrand, Bruno 305 Hildebrandt, Klaus 400 Hilger, Dietrich 405 Hintze, Otto 2 1 , 40, 227, 229, 258, 268, 2 9 j f f . , 2 99~3°5» 3 " . 337, 349. 351» 3 S l >Historisch-Politische Zeitschrift« 89, 95-88, 109 Historische Schule 89, 94, 98, 102, 126, 173, i 7 6 f . , 179, 1 8 1 , 193, 199, 203, 2 1 1 , 2 1 5 , 227, 303. 3 7 7 f - , 3 8 o f - . 385f* »Historische Z e i t s c h r i f t 254, 2 j 6 f . , 260, 288, 297, 3°7» 3 2 » f . , 3 2 5f-> 328ff., 347, 3 J 1 , 361 Historismus 1 2 - 2 1 , 24-29, 36-40, 4 2 - 6 1 , 62 bis 85, 8 6 - 1 1 9 , 167, 207, 225, 228, 230, 24Óf., 250, 273, 2 7 6 f . , 2 7 9 ^ , 284-287, 3 1 1 , 3 1 6 f f . , 3 2 9 - 3 3 5 , 350, 365-370, 374-379, 385
Hitler, Adolf 288ff., 294, 320, 3 3 1 , 341 f., 345, 3 4 ® f - . 35 3. 3 58 Hobsbawm, Eric 404^ Höfler, Wolfgang 327 Hölzle, E r w i n 327 Hofer, Walther 332, 335 Hoffman, Waither 403 Hofmann, Werner 405 Hoggan, D a v i d 348 Holborn, Hajo 32, 288, 3 1 0 , 3 2 1 , 339 Hubatsch, Walther 327, 347 fr. Hughes, Stuart 163, 2 1 0 Humanismus 43
Häusser, L u d w i g 1 2 1 Haller, Johannes 320, 349 Haller, Karl L u d w i g v o n 58, 96, l o o f f . , 262, 29$ Hallgarten, George W. F. 309, 3 2 1 , 362 Hamann, Johann G e o r g 50 Hardach, Karl W. 405
Humanitätsideal 54f., 57, 62, 64, 73, 84, 369 Humboldt, Wilhelm v o n 1 1 , 13, 16, 1 9 - 2 3 , 27, 3 2 f . , 54-85, 98, ì o o f f . , 1 1 4 , 128, 1 3 5 f . , 139, i 4 4 f . , 147, 166, 180, 199, 225, 262, 280, 303, 3 1 2 > 3 3 ° . 367, 369 Hume, D a v i d 46, 55, 177
Hardenberg, Karl August Fürst v o n 33, 58, 73» 128 Hartmann, L u d o Moritz 307 Hartwell, R . M. 404 Härtung, Fritz 309, 324, 327 Haym, Rudolf 1 2 1 , 157 Hcffter, Heinrich 339 Hedinger, H . - W . 408
Idealismus, Deutscher 1 1 , 25, 38, 40, j 4 f . , $8, 6 6 f . , 79, 168, 187, 189, 205, 2 1 2 , 2 1 5 , 220, 233, 237, 2 4 1 , 257, 2 6 9 f . , 277, 2 9 3 f . , 299, 301, 3 i o f . , 314, 318, 330 Identitätsphilosophie 2 7 3 ^ , 276fr., 288 Ideologie, politische 25, 29 Individualität, historische 44, 4 6 - 5 1 , 55, 6 1 , 67, 7 1 , 7 7 f - , 80, 82, 136, 145, 180, 244, 250,
446
2j2, 258^, 262f., 2*72f., 276-284, 287, 290, 293f., 299, 302, 335, 337, 365, 369 Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 354 Institut für Zeitgeschichte 335, 357
Register
Lozek, G. 408 Ludendorff, Erich 344 Luetge, Friedrich 403 Lukacs, Georg 29, 396 Macaulay, Thomas Babington 15
Jaeger, Hans 398f. Jantke, Carl 405 Jaspers, Karl 336, 383 Jefferson, Thomas 127 Jellinek, Georg 237 Jünger, Ernst 39, 316, 318, 368 Jung, Carl Gustav 163
Machiavelli, Niccolo 18, 9if., 263, 269, 273f. Maistre, Joseph de 170 Mann, Golo 310, 336 Mannheim, Karl 314, 316 Marburger Schule 189, 192, 210 Mareks, Erich 25,170, 295^, 320, 322, 324, 348 Marx, Karl 21, 52, 238, 311, 383f. Masur, Gerhard 163, 310
Kaelble, Hartmut 398 f. Kant, Immanuel 21,56f., 66, 78, 135, 167, 175,
Max-Planck-Institut für Geschichte 355 Mayer, Gustav 321
I77f., 183, i88f., 191, 2ojf., 268, 336, 383 Karlsbader Beschlüsse 72, 101 Kaufhold 404
Meinecke, Friedrich 14^, 19, 21, 23, 26-29, 34, 38, 40, 44ff., 47f., 56, 66, 84f., i66ff., 171, 227-230, 253-257, 259-299, 303f., 318, 32off., 325f., 332, 335, 338-341, 343» 345» 347, 349, 353, 355^, 367^, 3^9 Meyer, Eduard 268 Michelet, Jules 15, 17 Mill, James 55
Kehr, Eckart 37, 305f., 3o8f., 362, 398fr. Kellenbenz, Hermann 327, 396 Kelsen, Hans 27f., 301 Kierkegaard, Sören 381 Klaus, Georg 397 Klein, Fritz 407 Knies, Karl 305 Kocka, Jürgen 402 Koehl, Robert 335 Köllmann, Wolfgang 403 Kohn, Hans 339, 396 Kolb, E. 406 Koselleck, Reinhart 354, 402, 408 Kraus, Antje 405 Krieck, Ernst 324 Krieger, Leonhard 31, 123 Krilt, Karl-Heinz 296 Krüger, Gerhard 333f. Kuczynski, Jürgen 407 Kulturpessimismus 166 f.
Mill, John Stuart 125, 127, 159, 170, 177, 257, 313, 372f., 381 Möller, Helmut 404f. Moser, Justus 48, 50, 262, 283f. Moltke, Konrad von 398 Mommsen, Hans 354f., 407 Mommsen, Theodor 36, 121, 124, löoff., 172 Mommsen, Wilhelm 323 Mommsen, Wolfgang 327, 356, 407 Montesquieu, Charles de Secondat Baron de 46, 128, 283 Mosse, George 396 Müller, Adam 262 Müller, Karl Alexander von 32off., 324, 326, 328
Lachmann, Karl 89
Napoleon I. Bonaparte 16, 58, 62, 73, 127, 142,
Lafayette, Marie Joseph Marquis de 134 Lamprecht, Karl 12, 21, 38, I7if., 256-260, 266, 297, 301, 3o6f., 311, 35 j, 356, 380 Lasaulx, Ernst von 169 Laue, Theodore von 113 Leber, Julius 345 Lehmann, Max 12
309 Nationalismus 16, 19, 22, 27, 33, 45, 58f., 120,
Leibniz, Gottfried Wilhelm 47, 49, 93, 227, 252, 280, 283 Lenz, Max 170, 257, 29jf. Leo, Heinrich 91-94 Lessing, Theodor 312 Liberalismus 16, 25, 28, 33fr., 37, 52, 6zff.t 76f., 97f., 115, 121 ff., i 2 j f . , i28f., 132, 141, 161, 165, 241, 255, 264, 29of., 368-374, 376 Lipset, Seymour M. 396 Litt, Theodor 33of. Locke, John 28, 5 5, 63, 130, 177, 373 Löwith, Karl 333f.
192, 263, 268, 275, 278, 291, 307, 342, 368 Nationalsozialismus 40, 282, 291, 324, 326, 33°» 339, 341» 345, 353, 357 s. a. Drittes Reich, NS-Regime Natorp, Paul 168, 189, 193 Naturrechtslehre 14, 22, 26, 42, 44f., 49, 52, 54, 58, 124, i28f., i8of., 207, 24if., 272, 276, 279f., 282, 285, 333ff., 366 fr, 37if., 374 Naumann, Friedrich 23, 27, 162, 167, 219, 221, 228f., 244, 255, 265^, 268, 290, 297, 369 Neo-Rankeaner 171, 260, 297, 304 NS-Regime 318, 32if., 324^, 346 s. a. Drittes Reich, Nationalsozialismus Neukantianer 25, 189, 210, 215, 251, 257, 317 Neuloh, Otto 399 Neumann, Carl 260 Newton, Sir Isaac 49, 164, 285
Register Niebuhr, Barthold Georg 89F., 96 Nietzsche, Friedrich 12, 23, 163, 168, 204, 225, 310 f. Nipperdey, Thomas 356, 408 Noack, K.-H. 408 Novalis 262 Nussbaum, Helga 400, 407 Oertzen, Peter von 406 Oncken, Hermann 170, 296, 307, 309, 320-323, 325> 349 Oppenheimer, Franz 301 Parsons, Talcott 401 Perthes, Friedrich 97, 138f. Pestalozzi, Johann Heinrich 73 Pfizer, Paul Achatius 131 ff. Pietismus 50, 54 Politologie 3 5 8 f. Positivismus 163ff-, 167, 171, 177, 2J7, 281, 3 i j , 380 Pressefreiheit 101, 124, 132 Pressezensur loof. Preuß, Hugo 369 »Preußische Jahrbücher< 121, i j 7 f . , 254, 290 Preußische Schule 120-162, 171, 229, 261, 297 Puhle, Hans Jürgen 398-401 Quinet, Edgar 125 Rachfahl, Felix 170 Radowitz, Joseph Maria von 95 Ranke, Leopold von n , 13, 17-23, 25, 29,56f., 60, 8 4 - H 9 f . , 125, 127, I39f., I44f., 147, 153, 162, 166, 169-172, i8of., 184, 200, 225, 227, 234, 239, 242, 245, 247, 250, 256, 258, 261 f., 273fr., 28of., 286f., 297, 3oof., 330, 332, 338» 35*. 368, 375. 377, 379. 39« Rathenau, Walther 229 Raumer, Friedrich von 95 Realismus, philosophischer 103 Relativismus, erkenntnistheoretischer 228 ethischer 166, 199, 228, 279 historischer 39, 42, 46, 53, 198, 207, 273, 28of., 285 f. radikaler 166 subjektiver 2 1 ; unbegrenzter 247 Renouvier, Charles 3 72 f. Revolution von 1848 22, 267, 292 Rickert, Heinrich 166, 175 f., 189, 193, 198 bis 209, 2 1 1 , 225-228, 233-237, 251, 257f., 301, 3 i 2 f . , 317, 338, 351 Rintelen, Karl Ludwig 335 Ritsehl, Albrecht 230 Ritter, Gerhard 23, 29, 310, 318, 32of., 323, 3 2 5 f-t 330, 337, 339-347, 35°. 353. 355. 358. 361, 364 Ritter, Gerhart A. 398 Robespierre, Mazimilien 16, 129
447 Robinson, James Harvey 87 Rochau, August Ludwig von 160 Rössler, Hellmuth 327, 349 Rosseau, Jean-Jaques i29f. Roscher, Wilhelm 305 Rosenberg, Alfred 320, 324 Rosenberg, Arthur 38, 299, 321 Rosenberg, Hans 33, 35, 310, 321, 339^, 363, 398-401, 404 Rothacker, Erich 315 f., 33of. Rothfels, Hans 309^, 318, 322, 326, 335, 339, 345ff-, 35°. 353. 357*"., 3 6 4 Rotteck, Karl von j8, 121, i28f., 131 Rude, Georg 405 Ruegg, Walter 399 Rürup, R. 406 Rüsen, Jörn 408 Rust, Bernhard 322 Saalfeld, W. A. 404 Saint-Simon, Claude Henri Graf von 52, 142, 381 Savigny, Friedrich Karl von 58, 68, 89f., 96, 98, 114, 125, 127, 173 Schäfer, Dietrich 295f., 306, 349 Scharnhorst, Gerhard Johann David von 16, 33 Schelling, Friedrich Wilhelm Josef 56, 257 Schieder, Theodor 318, 32of., 326-329, 336, 351-355. 357, 364, 398 Schiller, Friedrich 54, 59, 64 Schlegel, Friedrich 262 Schleier, Hans 1 1 7 , 408 Schleiermacher, Friedrich 20, 89, 96, 303, 312 Schlenke, Manfred 356 Schlosser, Friedrich Christoph 139 Schmid, Karl 396 Schmidt, Gustav 400 Schmitt, Carl 39, 301, 316, 318, 368 Schmoller, Gustav 23, 160, 1 7 1 f r , 300, 305fr. Schnabel, Franz 12, 296, 323 Schoeps, Hans Joachim 310, 327 Schopenhauer, Arthur 12, 168 Schulin, Ernst 113 Seifert, Helmut 408 Seil, F. C. 339 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Earl of 283 Simmel, Georg 175 Simon, Emst 310 Smend, Rudolf 301 Sombart, Werner 301, 305, 381 Sontheimer, Kurt 357 Sozialismus 124, 159, 165, 290 Spencer, Herbert 15, 125, 303, 374, 380 Spengler, Oswald 259, 281, 305, 3t2f., 314, 316, 318, 368, 381 Spranger, Eduard 315, 33of. Srbik, Heinrich von 170, 288, 324, 326f. Stegmann, Dirk 398 fr. Stegmann, Franz Josef 405
Register
448
Stein, Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum 33, 58, 72^., 128 Stein, Lorenz von 12, 16, 2 1 , loof. Stern, Fritz 396 Stöcker, Adolf 162, 326 Strauss, Leo 334 Stürmer, Michael 399
Valentin, Veit 38, 299, 321, 396 Varnhagen von Ense, Karl August 96 Vester, Michael 406 Vico, Giambattista 44, 48, 283 Vierhaus, Rudolf 116, 3 5 j f. >Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte< 335, 357 Voltaire 17, 43, 46f., 283
Waitz, Georg 121 Webb, Walter Prescot 87 Weber, Max 2 1 , 23, 27, 147, 165-168, i 7 5 f . , 184, 200, 204, 208-229, 2 3 7 f * . 244, 255, 266f., 293f., 301 f., 305, 3 1 1 , 3 1 3 f . , 3 i 7 f . , 337» 35», 3 6 7, 3^9» 381, 402 Wehler, Hans-Ulrich 363, 398f., 401, 404, 407f. Weimarer Republik 222, 281, 296, 298, 304, 306, 308fr., 320, 325, 327, 344, 349, 357f., 364, 370 Welcker, Karl i 2 i f . , 128, 130 Weltkrieg, Erster 22, 38, 40, 47, 166, 168, 175, 191, 228, 255, 266, 274, 293, 295, 302fr., 3 i o f . , 314, 318, 336, 342f., 347, 3Öof., 364, 367 Zweiter 23, 40, 266, 291, 330, 347f., 351 Werner, Karl Ferdinand 319fr., 324, 396 Westphal, Otto 310, 349 White, Andrew 86 Wilhelm I I . , deutscher Kaiser 167, 2 2 1 , 255, 320, 341 Wiener Kongreß 72, 75 Winckelmann, Johann Joachim 54, 73 Windelband, Wilhelm i66f., i 7 5 £ . , 189, 192 bis 200, 228, 257, 3 1 1 , 3 1 7 Winkler, Heinrich August 398 fr. Witt, Peter-Christian 398f. Wittram, Reinhard 327^, 337, 408 Wolf, Friedrich August 89 Wolff, Christian 50
Wagner, Fritz 338, 35 i f . , 364, 377 Wahl, Adalbert 320
Ziekursch, Johannes 299 Zorn, Wolfgang 403
Sybel, Heinrich von 23, 118, 1 2 1 , 127, 152 bis 157, 159, 162, 230, 242, 245, 254, 258, 260ff., 3»» Tacitus 173 Taylor, Alan John Percivale 348 Thierry, Augustin 15 Thompson, E . J . P. 405 Tocqueville, Alexis de 2 1 , 170, 329 Tönnies, Ferdinand 381 Treitschke, Heinrich von 25, 28, 88, 118, 1 2 1 , 127, 157-160, 162, 172, 222, 230, 242, 2 J 4 f . , 258, 262, 274, 290, 297 Troeltsch, Ernst 14, 23, 27, 39, 49, 166ff., 226, bis 255, 259, 266f., 281, 293^, 296f., 3 0 i f f . , 3 1 1 - 3 1 4 , 3 i 7 f . , 367, 369 Turner, Friedrich 2 1 , 87
REGISTER ZUR N E U A U F L A G E VON 1 9 9 7
Abusch, Alexander Arendt, Hannah
Goldhagen, Daniel
429
Grebing, Helga
442
Arndt, Ernst Moritz
Groh, Dieter
432
441-442
411
405
Gutsche, Willibald Bambach, Charles Baring, Arnulf
Habermas, Jürgen
439, 441
Below, G e o r g von
VII
Berding, Helmut
405
Berthold, Werner
IX
Blackbourn, David
401, 409, 416
VII
Hintze, Hedwig
Broszat, Martin
417, 418, 427
Browning, Christopher Brüggemeier, Franz-Josef
442
4 1 3 - 4 1 5 , 4 2 0 , 439
Burckhardt, Jacob
Hintze, Otto
VII
Hitler, Adolf
400, 415, 419 407
Horkheimer, Max Huch, Ricarda
II
413-414, 420
II, 4 0 7
Holborn, Hajo
411, 425
III, 403
410
II
Humboldt, Wilhelm von Cohen, Hermann Conze, Werner
Husserl, E d m u n d
VII
400, 402-406,
402-403
428
Dehio, Ludwig
Jaeger, Friedrich
401
Diesener, Gerald
Dorpalen, Andreas
430
438
Duden, Barbara
429
Kaelble, Hartmut
411
Kahler, Siegfried
400
Kantorowicz, Ernst
Droysen, Johann Gustav
Kehr, Eckart
VI
416
Engelberg, Ernst
422
I X , 432
Kocka, Jürgen 420
III
V I I , 406, 416
Kisch, Herbert
428
Klein, Fritz Elvert, Jürgen
IX, 405, 411, 421, 424, 426,
436, 440
432
Kohl, Helmut
4 1 9 - 4 2 0 , 438
Koselleck. Reinhart Faber, K a r l - G e o r g Fest, J o a c h i m
432
VII
Dimitroff, Georgi Michailowitsch Dregger, Alfred
II
Jahn, Friedrich Ludwig
IX
Dilthey, Wilhelm
Eley, G e o f f
II
VII
408-409 Ipsen, G u n t h e r
Daniel, Ute
V
405, 408
Hillgruber, Andreas
II
Brunner, Otto
Heidegger, Martin
Hildebrand, Klaus
411
Breysig, Kurt
436
427
Herzfeld, Hans
411
Braun, Rudolf
407
Harnisch, Hartmut
Herder, Johann Gottlieb
416
411
Bock, Gisela
410, 418, 420, 437
Hallgarten, George Hausen, Karin
Bismarck, O t t o Fürst von Blasius, Dirk
432
VI
4 2 0 , 439
Fichte, J o h a n n Gottlieb
412
K r i e d t e , Peter 422, 426
412 432
Kuczynski, Jürgen
433
Küttler, Wolfgang
IX, 436
Fischer, Fritz 4 0 1 - 4 0 2 , 407 Frankel, Ernst Frevert, Ute
408
Langewiesche, Dieter
411, 428
L ü d t k e , A l f 4 2 6 , 436
Freyer, H a n s
402-405
Friedlander, Saul
Ludwig, Emil
418
Friedrich der G r o ß e
Luther, Martin
Gatterer, Johann Christoph Geiss, Imanuel
424 407
432
II, 4 1 2
Medick, Hans
413
Geertz, Charles
II
432 Marx, Karl
Gall, Lothar
4 1 1 , 425
III
Meinecke
422-424, 426
II, IV, 4 0 0 - 4 0 1 , 406
Mendel, Franklin
422
Middell, Matthias
IX
450
Register zur Neuauflage von 1997
Mitterauer, M i c h a e l 411
Schieder, T h e o d o r 4 0 0 , 403, 4 0 6 , 4 0 8 - 4 0 9
M o m m s e n , Hans 4 1 1 , 415, 4 2 7 , 441
Schleier, H a n s
M o m m s e n , T h e o d o r III—IV, V I
S c h l u m b o h m , J ü r g e n 422, 426
M o m m s e n , W o l f g a n g J . 405, 4 1 1 , 415
Schmoller, G u s t a v von
Mooser, Josef 4 1 1
Schultz, H e l g a 433, 436
M u h l a c k , U l r i c h II
Schulze, H a g e n
M ü h l b e r g , Dietrich N a t o r p , Paul
435
VII
Nietzsche, Friedrich
VII
N i p p e r d e y , T h o m a s I I I , 4 1 4 , 4 1 6 , 4 2 1 , 439, 441
437
Schulze, W i n f r i e d 4 0 2 , 4 0 4 Simmel, Georg V Stalin, J o s e f 4 1 7 Stein, Lorenz von
Oberkrome, Willi
402
Oexle, O t t o G e r h a r d
VI
II
Stern, Leo 429 Stürmer
N o l t e , Ernst 4 1 8 - 4 1 9 , 438, 441
420
Stürmer, M i c h a e l 418, 4 2 0 , 4 3 9 - 4 4 1 S y b e l , H e i n r i c h von
III
Tenfelde, Klaus 405, 4 1 1 , 425 T h a d d e n , R u d o l f von
Pätzold, K u r t 431
411
T h o m p s o n , E d w a r d P. 434
435-437
Petzold, J o a c h i m
IV
Schwarz, Hans-Peter 439
N i e t h a m m e r , Lutz 418, 4 2 5 - 4 2 6 , 436
Peters, J a n
IX
432
Peukert, D e t l e v 418
Tilly, R i c h a r d
411
Treitschke I I I - I V , V I Troeltsch, Ernst
Pol Pot 4 1 7 Puhle, H a n s - J ü r g e n 405, 411
VI
U l b r i c h t , Walter 429
R a n k e , L e o p o l d von I I - I V , V I Reagan, R o n a l d
419
R i c k e r t , Heinrich Ringer, Fritz
Vierhaus, Rudolf
IX
VII Weber, M a x I I I , V I , 4 0 7 , 4 1 0 , 4 1 2
IV-V
Ritter 406
Weber, W o l f g a n g V
Ritter, G e r h a r d A . II, IV, 4 0 0 - 4 0 1 , 403,
Wehler, H a n s - U l r i c h I I , V I , I X , 4 0 5 - 4 0 8 , 4 1 0 , 4 1 4 , 4 2 0 , 421, 424, 4 2 6 , 4 4 0
4 0 5 - 4 0 6 , 408 Rosenberg, A r t h u r
407
W e i ß m a n n , Karlheinz 439
Rosenberg, Hans 405, 4 0 7 - 4 0 8 , 4 1 0
Weizsäcker, Richard von
Rothacker, Erich
W i l l a m o w i t z - M o e l l e n d o r f , Ulrich von
400
R o t h f e l s , Hans IV, 4 0 0 , 4 0 4 , 4 0 6
Windelband, Wilhelm
419
VII
R ü r u p , Reinhard 4 1 1 , 441
W i n k l e r , Heinrich
R ü s e n , J ö r n II, 4 1 2
Wittkau, Annette
Sabean, D a v i d
Z i t e l m a n n , Rainer 438, 441
416
411 VI
Saldern, Adelheid von 4 1 1 , 425
Z m a r z l i k , Hans G ü n t e r 413
Schewe, T o n j a
Z w a h r , H a r t m u t 433, 435, 436
IX
III