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German Pages [258] Year 2023
JUDITH LAISTER
ÄSTHETISCHE ALLIANZEN IM STÄDTISCHEN RAUM ÜBERSETZUNGSMOMENTE IN RELATIONALER KUNST UND KULTURANTHROPOLOGIE
© 2024 Böhlau Brill Österreich GmbH https://doi.org/10.7767/9783205219101 CC BY-NC 4.0
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Judith Laister
Ästhetische Allianzen im städtischen Raum Übersetzungsmomente in relationaler Kunst und Kulturanthropologie
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2024 Böhlau, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Das Werk ist als Open-Access-Publikation im Sinne der Creative-Commons-Lizenz BY-NC International 4.0 (»Namensnennung – Nicht kommerziell«) unter dem DOI https://doi.org/10.7767/9783205219101 abzurufen. Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz erlaubten Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Mapping ästhetischer Allianzen im Rahmen eines Interviews mit © Margarethe Makovec und Anton Lederer, Details S. 11 Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Lektorat: Evelyn Kraus, Eva-Maria Lerche, Lisa Eidenhammer Satz: le-tex publishing services, Leipzig Druck: Hubert & Co, Göttingen Printed in the EU. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21824-1 (print) ISBN 978-3-205-21910-1 (digital)
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung. Übersetzungsarbeit in Kunst und Kulturanthropologie ............. 7 1.1 Blauer Zwerg, gelbes Haus, schwarze Tafeln. Relationale Kunst als Übersetzungsarbeit ............................................. 7 1.2 Relationale Anthropologie. Ansätze, Methoden und Entwicklungen ........ 15 1.3 Von der Relation zur Translation. „Making connections“ als Übersetzungsarbeit ........................................................................... 24 2. Drei Fälle relationaler Kunst in London, Linz und Graz.............................. 2.1 Genese, Typen und Kritik der relationalen Kunst .................................. 2.2 Relationale Kunst im städtischen Raum. Rahmen und Modi urbaner Partizipation......................................................................... 2.3 Erster Fall. Jean-François Prost: Adaptive Actions, London, 2007–08 ....... 2.4 Zweiter Fall. Fattinger/Orso/Rieper: BELLEVUE. Das gelbe Haus, Linz, 2009 ............................................................................... 2.5 Dritter Fall. Kristina Leko: Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung, Graz, 2013 ........................................... 3. Übersetzung. Begriff, Praxis, Linse .......................................................... 3.1 Gouvernementale Dimension des Übersetzungsbegriffs. Akteure, Macht und Allianzen ............................................................ 3.1.1 La traduction. Soziologie der Übersetzung .................................. 3.1.2 Akteure, Allianzen, Gouvernementalität ...................................... 3.2 Epistemologische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Anthropologie des dritten Raums........................................................ 3.2.1 Kultur als Übersetzung. Third Spaces .......................................... 3.2.2 Anthropologie als Übersetzung. Idee und Kritik ........................... 3.3 Ästhetische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Zwischen Kunst und Nicht-Kunst ...................................................................... 3.3.1 Ästhetik. Produktive Facetten eines vieldeutigen Begriffs ............... 3.3.2 Kunst oder Nicht-Kunst? Übersetzungsarbeit nach dem Tod des Originals .....................................................................
29 31 40 49 57 63 75 77 80 85 90 93 98 105 106 110
4. Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst..................................... 119 4.1 Kapital als Kitt und Spaltkeil .............................................................. 121 4.1.1 Geld, Güter, Zeit ...................................................................... 123 4.1.2 Soziale Kontakte und Beziehungsarbeit ....................................... 126 4.1.3 Kulturelle Kompetenzen, moralischer Gewinn ............................. 128
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Inhaltsverzeichnis
4.2 Versprechen, Erwartungen und Grenzen: Kunst von allen? ..................... 4.2.1 „Get involved!“ in „Everyone’s London 2012“ durch Adaptive Actions ...................................................................... 4.2.2 Treffpunkt BELLEVUE: „Für alle“ .............................................. 4.2.3 Partizipatorische Ideale: „Die Kunst des urbanen Handelns“ .......... 4.3 Arbeit an Atmosphären. Stadträumliche Ein- und Ausschlüsse .............. 4.3.1 Brownfield Land im Lea Valley. Schandfleck, Baugrund, Sehnsuchtsraum ....................................................................... 4.3.2 Besonders vertraut. Leuchtendes Gelb in gewöhnlicher Nachbarschaft .......................................................................... 4.3.3 Plausible Atmosphärik. Wie das Annenviertel Allianzbildungen fördert ........................................................... 4.4 Geteilte Sprech- und Bildakte. Verbale und visuelle Konnektivitäten ............................................................................... 4.4.1 Collective Imaginations. Urbane Praktiken und visuelle Repräsentation ........................................................................ 4.4.2 Die Ausstellung als Contact Zone. Visuelle Erkundungen an der A7................................................................................. 4.4.3 „Eine gemeinsame Sprache, die jeder versteht“. Kunst als Übersetzungsarbeit ................................................................... 5. Relationalitäten zwischen Anthropologie und Kunst ................................. 5.1 Kunst und Anthropologie. Ein exemplarischer Streifzug ........................ 5.2 Sensitive Ethnology. Grenzgänger:innen in und zwischen den Weltkriegen ...................................................................................... 5.3 Ästhetische Anthropologie. Idee, Kritik, Perspektiven............................
132 135 141 146 150 154 157 161 170 173 178 184 189 191 201 212
6. Schluss: Lernen von relationaler Kunst. Für eine ästhetische Anthropologie ........................................................................................ 223 7. Literaturverzeichnis ............................................................................... 229 Danksagung ............................................................................................... 257
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1.
Einleitung. Übersetzungsarbeit in Kunst und Kulturanthropologie
Abb. 1 Kristina Leko: Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung, Graz, 2013. Foto: J. J. Kucek, .
1.1
Blauer Zwerg, gelbes Haus, schwarze Tafeln. Relationale Kunst als Übersetzungsarbeit
„Und dass wir eine gemeinsame Sprache finden, die jeder versteht, einen gemeinsamen Nenner finden, der allen zeigt, warum das jetzt so wichtig ist, diese Geschichte, in diesem Stadtteil. Warum ist das wichtig? […] Und nicht alle haben die gleiche Motivation, [bei diesem relationalen Kunstprojekt mitzumachen, Anm. J. L.]. […] Es sind nicht die gleichen Kategorien von Teilnehmern. Da braucht es eine Übersetzung, für alle.“1
1 Interview mit Kristina Leko, 31.07.2017. Vgl. auch Laister (2020): Gemeinsame Sprache.
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Einleitung. Übersetzungsarbeit in Kunst und Kulturanthropologie
Wenn die international renommierte Künstlerin Kristina Leko für ihre Arbeit den Begriff der Übersetzung gebraucht, so meint sie nicht nur interlinguale Übertragung und Sprachverstehen. Vielmehr bezeichnet sie mit Übersetzung – in einem weiten Verständnis – die Vermittlung zwischen sozialräumlich unterschiedlich positionierten Akteur:innen in einem von ihr initiierten Beziehungsgefüge. Diese „Übersetzungsarbeit“2 praktizieren Vertreter:innen des in dieser Studie fokussierten Genres der „relationalen Kunst“ – von dem Kurator und Kunsttheoretiker Nicolas Bourriaud charakterisiert als temporäre „alliances of collaborative producers“3 – zur Stabilisierung der künstlerischen Akteurswelt4 auf verschiedenen Ebenen: auf visueller Ebene durch den Einsatz einer konnektiven Sprache der Bilder; auf rhetorischer Ebene durch das wiederholte Versprechen von Zugehörigkeit und Miteinander; auf räumlicher Ebene durch die Nutzbarmachung der einenden Wirkung von Atmosphären; auf der Ebene alltäglicher, den Zusammenhalt fördernder Praktiken durch die Bewirtung der heterogenen Akteur:innen mit Speisen und Getränken, durch gemeinsame Stadtspaziergänge oder kreative Aktivitäten; sowie auf Ebene des Kapitals durch ökonomische, soziale, kulturelle und moralische Teilhabe-Angebote. Relationale Kunst – „an art that takes as its theoretical horizon the sphere of human interactions and its social context, rather than the assertion of an autonomous and private symbolic sphere“5 – lässt sich vor diesem Hintergrund als vielgestaltige, multidimensionale Übersetzungsarbeit fassen, deren Ziel nicht die Produktion eines in sich geschlossenen Werks ist, sondern die Gestaltung von Allianzen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Diese Bündnisse sind temporär angelegt, wobei die einzelnen Teilnehmer:innen zwar das projektspezifische Anliegen mittragen, gleichzeitig jedoch ihre je eigenen Interessen wahren und verfolgen.6
2 Zum Begriff der Übersetzung bzw. der Übersetzungsarbeit vgl. Kapitel 3 (Übersetzung. Begriff, Praxis, Linse). 3 Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 26. Für nähere Ausführungen zu Begriff und Kritik der relationalen Kunst vgl. Kapitel 2 (Drei Fälle relationaler Kunst in London, Linz und Graz), zum Begriff der Allianzen vgl. Kapitel 3.1.2 (Akteure, Allianzen, Gouvernementalität). 4 Für nähere Ausführungen zu den Begriffen Allianzen und Akteure vgl. Kapitel 3.1.2 (Akteure, Allianzen, Gouvernementalität). Hier sei lediglich vermerkt, dass der Begriff Akteur nur dann als Akteur:innen gegendert wird, wenn ausschließlich menschliche Akteure und Akteurinnen gemeint sind. Wenn auch nichtmenschliche (Sekundär-Akteure) mitgemeint sind, bleibt der Begriff nicht gegendert (Akteur, Akteurswelt usw.). 5 Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 26. Vgl. Kapitel 2.1 (Genese, Typen, Kritik der relationalen Kunst). 6 Zum Begriff der Allianzbildung im künstlerischen Feld im Vergleich mit anderen Bündnisformen wie Komplizenschaft, Team-Arbeit oder Netzwerken vgl. Ziemer (2013): Komplizenschaft, S. 89–127.
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Blauer Zwerg, gelbes Haus, schwarze Tafeln. Relationale Kunst als Übersetzungsarbeit
Abb. 2 Jean-François Prost: Adaptive Actions, London, 2007/08. Foto: Jean-François Prost.
Abb. 3 Peter Fattinger, Veronika Orso, Michael Rieper: BELLEVUE. Das gelbe Haus, Linz, 2009. Foto: Oliver Jungwirth.
Abb. 4 Kristina Leko: Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung, Cover des Informationsflyers, Graz, 2013.
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Einleitung. Übersetzungsarbeit in Kunst und Kulturanthropologie
Drei in Form, Inhalt, Dimension und Verlauf sehr unterschiedliche Beispiele ästhetischer Allianzgründung im Kontext stadträumlicher Transformation bilden die empirische Basis für die vorliegende Forschungsarbeit. Die Projekte wurden zwischen 2008 und 2013 in London, Linz und Graz realisiert und sollen hier einleitend in drei exemplarischen Schnappschüssen porträtiert werden: (1) Ein unscheinbarer, blau bemalter Gartenzwerg posiert mit geballten Fäusten am monumentalen Bauzaun um den künftigen Olympic Park im Osten Londons (JeanFrançois Prost: Adaptive Actions, 2008). (2) Ein leuchtend gelbes Haus mit Satteldach thront weithin sichtbar auf der neu errichteten Autobahnübertunnelung zwischen den Linzer Stadtteilen Spallerhof und Bindermichl (Peter Fattinger, Veronika Orso, Michael Rieper: BELLEVUE. Das gelbe Haus, 2009). (3) Mehrere großformatige schwarze Texttafeln transferieren im Kontext städtebaulicher Transformationen des Grazer Annenviertels migrantische Biografien und historische Erzählungen zur Arbeiter:innen-Geschichte in den öffentlichen Raum der Bezirke Lend und Gries (Kristina Leko: Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung, 2013).7 Neben dieser ersten Aufführungsebene in der alltäglichen Wirklichkeit des physischrealen Stadtraums treten der blaue Zwerg, das gelbe Haus und die schwarzen Texttafeln noch in anderen Szenerien auf. So dienen sie etwa als Anschauungsobjekte auf Projekt-Websites, als Blickfänge in Kunstkatalogen oder als Marketingsujets von Kulturinstitutionen. Darüber hinaus bilden sie den Stoff für kunsttheoretische Reflexionen, wissenschaftliche Arbeiten sowie filmische Dokumentationen und bieten sich in ihrer visuellen Prägnanz als Referenzbeispiele für andere künstlerische Eingriffe in städtische Räume an. Vor allem aber fungieren die drei Objekte – und das macht sie für eine anthropologisch8 fundierte, transdisziplinär orientierte Forschungsarbeit so interessant – nicht nur als Artefakte, sondern als signifikante Bestandteile eines künstlerisch
7 Realisiert wurden die drei Projekte in Zusammenarbeit mit der Londoner Kunstinstitution [space] (Adaptive Actions), Linz 2009 Kulturhauptstadt Europas (BELLEVUE) und dem Grazer Zentrum für zeitgenössische Kunst (Keine Denkmale). Die Projekte werden im Folgenden in Kurzfassung bezeichnet als: Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale, die entsprechenden Trägerinstitutionen als [space], Linz09 und . 8 Der Begriff anthropologisch wird mit dem Wissenschaftshistoriker Glenn Penny als „general term, encompassing the discipline in its broadest sense“ (Penny 2008: Traditions, 81) sowie mit Bezugnahme auf Gisela Welz im weiten Verständnis von „world anthropologies“ (Welz 2021) verwendet. Differenzierungen des heterogenen Fachspektrums in Kulturanthropologie, Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft, Volkskunde, Ethnografie, Ethnologie oder Sozialanthropologie werden dort vorgenommen, wo dies die historischen oder rezenten Akteur:innen selbst explizit tun. Dieser breite, offene Zugriff auf den Begriff der Anthropologie signalisiert eine Orientierung an einer zunehmend transnational und multilingual geprägten Wissenschaftslandschaft, die deren vielfältig verwobenen Stränge – unter Anerkennung der
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Blauer Zwerg, gelbes Haus, schwarze Tafeln. Relationale Kunst als Übersetzungsarbeit
Abb. 5 Mapping zu Akteurs-Relationen in dem von Kristina Leko initiierten Projekt Keine Denkmale, erstellt von Margarethe Makovec und Anton Lederer, Interview mit Judith Laister, 2017. Foto: Judith Laister.
initiierten Beziehungsgefüges aus Menschen und Dingen, Institutionen und Kapitalsorten, Gesetzen und Regeln, stadträumlichen Atmosphären und Versprechen, Bildern und Worten, Wissenschaft und Kunst. Der kulturanalytischen Annäherung an diese ästhetischen Allianzen, in die auch die Autorin im Zuge ihrer empirischen Recherchen involviert war, ist die vorliegende Arbeit gewidmet. Die vom kanadischen Künstler Jean-François Prost in London initiierte, bis heute andauernde Beziehungsarbeit Adaptive Actions will weltweit Menschen und Institutionen physisch-real wie virtuell verknüpfen, um städtischen Raum anders als vorgesehen wahrzunehmen, zu nützen und zu verändern. Das Kollektiv Fattinger/Orso/ Rieper schuf mit BELLEVUE. Das gelbe Haus nicht nur ein bildtaugliches Zeichen, sondern einen detailliert choreografierten Treffpunkt für Akteur:innen aus verschiedenen Feldern des sozialen Raums – von der lokalen Bewohner:innenschaft über Kunst- und Architekturexpert:innen bis hin zu kunstaffinem Publikum und Urbanist:innen. Und
disziplinären Besonderheiten und fachspezifischen Genesen – nicht voneinander zu separieren, sondern in globaler Perspektive als „world anthropologies“ (Welz 2021) ineinander zu übersetzen sucht.
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Einleitung. Übersetzungsarbeit in Kunst und Kulturanthropologie
Kristina Leko suchte für das Projekt Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung die Zusammenarbeit mit heterogenen Gruppen von Teilnehmer:innen wie migrantischen Bewohner:innen und Vereinen, Studierenden, Stadtforscher:innen, aber auch Hausbesitzer:innen und Verwaltungsbeamt:innen. Ein Teil der Texttafeln ist bis heute im öffentlichen Raum des Grazer Annenviertels präsent und wird im Alltagsleben, bei Führungen mit Schüler:innen sowie im Rahmen von Stadtrundgängen des Graz-Tourismus nach wie vor rezipiert und diskutiert. Forschungsleitendes Charakteristikum der Fallbeispiele Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale war die Tatsache, dass in alle drei Projekte Akteur:innen aus dem wissenschaftlichen Feld als Teile der künstlerisch initiierten Allianzen involviert waren. Historiker:innen wurden mit Recherchen zur Bezirksgeschichte beauftragt, Urbanist:innen kuratierten Ausstellungen, Pädagog:innen initiierten Stadtspaziergänge, Anthropolog:innen führten Interviews und leiteten Studierendengruppen zu Feldübungen in den Projektgebieten an. Auch die vorliegende Arbeit entstand als Forschen in den ästhetischen Allianzen, war aber gleichzeitig immer auch ein Forschen über die mit hergestellten Allianzen und ihr stadträumliches Aktionsfeld. Sie verortet sich im Diskursraum einer ästhetischen Anthropologie sowie im Kontext einer rezenten Konjunktur von emanzipatorisch orientierten Forschungs- und Ausstellungsprojekten an der Schnittstelle zwischen Kunst und Kulturanthropologie.9 Zudem knüpft sie an einer Neudimensionierung des Politischen in der Kulturanthropologie an und versteht sich als Beispiel für eine „eingreifende Wissenschaft“ (Katschnig-Fasch, Bourdieu) bzw. „engagierte Anthropologie“ (Augé) mit Fokus auf das Aktionsfeld Stadt.10 In den Worten der Kulturanthropologin Elisabeth Katschnig-Fasch lässt sich dieser Ansatz wie folgt zusammenfassen: „Eingreifende Wissenschaft bedeutet, kreativ das Wissen der Disziplinen wie das der Menschen für ihre Alltagsbewältigungsstrategien zu nutzen“. Sie ist das „Ergebnis von Arbeit und ernsthafter und engagierter Kommunikation, und von Kreativität, wie spielerisch leicht sie sich auch zuweilen [zu] artikulieren
9 Vgl. z. B. Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie; Schneider und Wright (2006): Contemporary Art and Anthropology; Binder et al. (2008): Kunst und Ethnographie; Greverus und Ritschel (2009): Aesthetics and Anthropology; Hess et al. (2008): Die Kunst des Regierens; Bayer et al. (2009): Crossing Munich; Schneider und Wright (2010): Between Art and Anthropology; Schönberger (2013): Ich sehe was; Holfelder und Ritter (2013): Handyfilme; Sansi (2015): Art, Anthropology; Eisch-Angus (2016a): Unheimlich heimisch; Cuny et al. (2019): Autonomie und Zusammenarbeit; Groth und Ritter (2019): Zusammen arbeiten; Holfelder et al. (2018): Kunst und Ethnografie; Huber (2018a): Kreativität und Teilhabe; Ingold (2018): Anthropology and/as Education; Hamm et al. (2019): Follow the conflict; Holfelder et al. (2020): Dispositiv Kärnten; Hamm und Schönberger (2001): Contentious. 10 Vgl. z. B. Bourdieu (1998): Gegenfeuer 1; Katschnig-Fasch (1998): Möblierter Sinn; Bourdieu (2001): Gegenfeuer 2; Katschnig-Fasch (2003): Das ganz alltägliche Elend; Binder et al. (2013): Eingreifen, Kritisieren, Verändern; Vonderau und Adam (2014): Formationen des Politischen; Hamm (2015): Understanding; Rolshoven (2017b): Die Stadt; Huber (2018b): Kritische Kulturarbeit; Rolshoven und Schneider (2018): Dimensionen des Politischen; Augé (2019): Zukunft der Erdbewohner.
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Blauer Zwerg, gelbes Haus, schwarze Tafeln. Relationale Kunst als Übersetzungsarbeit
vermag“11 . Für eine eingreifende Wissenschaft sind Austausch und Beziehungsarbeit zentral, um im Dialog mit den „Stimmen der Betroffenen […] den Blick auf das Leben neu zu adjustieren“12 . Johanna Rolshoven attestiert der Kulturanthropologie seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert insgesamt eine „Anwendungsorientierung“ sowie eine – ideologisch unterschiedlich gelagerten – Tendenz zur gesellschaftlichen Intervention. Mit Bezug auf Ina-Maria Greverus, die sie als eine der richtungsweisenden Vertreter:innen für „das neue Ethos des Faches“ nach 1968 identifiziert, sieht sie als eines der wesentlichen Anliegen des Fachs die Enthüllung hegemonialer gesellschaftlicher „Strukturen und Manipulationsprozesse“13 . Eine von Greverus’ langjährigen Wegbegleiter:innen war Elisabeth Katschnig-Fasch, die von Rolshoven als führende Kritikerin der gegenwärtig „allseits infiltrierten Ökonomisierung des Sozialen und Kulturellen“ angeführt und für die „Grazer Impulse zur Formulierung einer ‚eingreifenden Wissenschaft‘“14 mitverantwortlich gemacht wird. Die Intention, in kontinuierlichem Austausch mit verschiedenen Menschen, Disziplinen und Praxisfeldern im Sinne einer eingreifenden Wissenschaft „den Blick auf das Leben neu zu adjustieren“, bestimmt die Richtung für die vorliegende Forschungsarbeit. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie zwischen den heterogenen Teilen einer künstlerisch initiierten Akteurswelt – unter besonderer Berücksichtigung der künstlerischen und kulturwissenschaftlichen Akteur:innen – Allianzen gebildet, Konnektivität hergestellt und Konflikte verhandelt werden. Was hält die Beziehungen in einem relationalen Kunstprojekt zusammen? Wo treten Konflikte auf? Wie beeinflussen sich die Akteure wechselseitig? Wie verändern sie sich dabei? Wann und warum werden Allianzen brüchig? Was stärkt sie? Wo passieren Ausgrenzungen? Und welche Rolle spielt die Konzeption des Verhältnisses zwischen Kunst und Nicht-Kunst (Fokus: Wissenschaft) dabei? Zur Erschließung dieser Fragestellungen dient als Leitfigur ein weiter Übersetzungsbegriff, wie er einerseits im Feld zur metaphorischen Rahmung relationaler Kunst- und Forschungspraxis (Kunst als Übersetzungsarbeit, Anthropologie als Übersetzung) vorgefunden wurde, andererseits zur Perspektivierung des forschenden Blicks – basierend auf einem relationalen kulturanalytischen Ansatz – als multifunktionales, mehrdimensionales Analysewerkzeug entfaltet und erprobt wurde. Kapitel 2 bietet einen Einblick in den kunsttheoretischen Diskurs der relationalen Kunst mit Fokus auf partizipative Ansätze im städtischen Raum. Darüber hinaus werden die drei Fallbeispiele in London, Linz und Graz in ihrer Konzeption und Umsetzung dargestellt und die involvierten Akteure vorgestellt. Diese relationalen Kunstprojek-
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Katschnig-Fasch (2013): Wirklichkeit vor Utopie, 94. Katschnig-Fasch (2013): Wirklichkeit vor Utopie, 96. Rolshoven (2018b): Dimensionen des Politischen, 28. Rolshoven (2018b): Dimensionen des Politischen, 30.
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Einleitung. Übersetzungsarbeit in Kunst und Kulturanthropologie
te wurden teilnehmend beobachtet, wobei in bestimmten Phasen gezielt temporäre Allianzen zwischen Künstler:innen und Anthropologin eingegangen wurden. In Kapitel 3 wird für den Gebrauch des Begriffs der Übersetzung im vorliegenden Forschungszusammenhang argumentiert. Sein Einsatz als leitendes sensitizing concept15 und Analysewerkzeug geht auf die Spezifik des untersuchten Feldes zurück und findet in drei korrelational miteinander verknüpften Begriffsdimensionen Einsatz: (1) als „gouvernementale Dimension“ des Übersetzungsbegriffs mit Blick auf das Herstellen von (Macht-)Beziehungen zwischen den heterogenen Teilen der künstlerisch initiierten, mit öffentlichen Geldern geförderten und von spezifischen Regierungstechniken geprägten Akteurswelt; (2) als „epistemologische Dimension“ im Sinne einer selbstreflexiven Konzeption von Anthropologie als Übersetzung zwischen empirischer Erfahrung und wissenschaftlichem Text sowie zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Feldern bzw. Akteuren; (3) als „ästhetische Dimension“ mit Fokus auf das neu zu verhandelnde Verhältnis zwischen künstlerischer und nicht-künstlerischer Wirklichkeit sowie zwischen Kunstschaffenden, Werk und Publikum im Kontext relationaler Kunstproduktion. Kapitel 4 dient der Analyse der Fallbeispiele aus der mehrdimensionalen Perspektive der Übersetzung. Identifiziert und diskutiert werden vier Übersetzungsmomente, konzipiert als signifikante Impulse, die Prozesse der Bildung von Konnektivität und Konflikten in den Projektverläufen anzeigen: (1) Kapital; (2) Wir-Versprechen; (3) Raum-Atmosphären; (4) Geteilte Bild- und Sprechakte. Kapitel 5 fokussiert die vielfältigen Relationalitäten zwischen Anthropologie und Kunst im historischen Rückblick sowie mit dem Versuch einer Positionierung der eigenen forschenden Praxis. Wissenschaft wie Kunst werden dabei im Bourdieu’schen Sinne als soziale Felder konzipiert, die zwar durch die Verteilung von Kapital (ökonomisch, sozial, kulturell) hergestellt werden, diese Verteilung jedoch in emanzipatorischer Absicht neu zu verhandeln suchen, etwa im Sinne einer Erweiterung von Greverus’ Konzeption einer ästhetischen Anthropologie. Der Schlussteil, Kapitel 6, fragt schließlich vor dem Hintergrund der empirischen Forschung in relationalen Kunstprojekten aus der mehrdimensionalen Übersetzungsperspektive sowie mit Blick auf die historischen Beispiele nach den Potenzialen und Grenzen von relationaler Kunst und Kulturanthropologie als Übersetzungsarbeit – und zwar unter besonderer Berücksichtigung der epistemologischen, epistemischen und politischen Produktivkraft von Allianzbildungen zwischen ästhetischer und wissenschaftlicher Praxis.
15 Blumer (1969): Symbolic interactionism.
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Relationale Anthropologie. Ansätze, Methoden und Entwicklungen
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Relationale Anthropologie. Ansätze, Methoden und Entwicklungen
Die vorliegende Studie über relationale – sowie in relationaler – Kunst im Kontext stadträumlicher Transformation baut entsprechend dem Untersuchungsgegenstand auf einem relationalen Verständnis von kulturanthropologischer Forschung auf. Gebildet wird das hier vorgeschlagene relationale Fundament, auf dem in weiterer Folge ein translationales Denkgebäude errichtet wird, aus dem Theoriefundus verschiedener Disziplinen mit Fokus auf die Fachrichtungen Kulturanthropologie, Kunstgeschichte sowie Ästhetische Bildung und Kunstvermittlung.16 Die hier unternommene produktive Verknüpfung dieser Felder versteht sich als wissenschaftliche Übersetzungsarbeit und will durch die aktive Teilhabe an relationalen Kunstprojekten als Beitrag zur produktiven Entgrenzung des Fachbereichs der Kulturanthropologie in andere soziale Felder wirken, vor allem in andere wissenschaftliche Disziplinen, in die Kunst und in städtische Alltagswelten. Während Überlegungen zur relationalen Ästhetik in Kapitel 2 (2.1 Genese, Typen und Kritik der relationalen Kunst sowie 2.2 Relationale Kunst im städtischen Raum. Rahmen und Modi urbaner Partizipation) sowie zur Konzeption eines mehrdimensionalen Übersetzungsbegriffs als Analysewerkzeug in Kapitel 3 angestellt werden, widmet sich dieser einleitende Abschnitt exemplarisch jenen Relationalitäts-Konzeptionen im anthropologischen Feld, die für die vorliegende Studie fruchtbar gemacht und zu einer translationalen Perspektive erweitert wurden. Angesichts der quer durch die Disziplinen beobachtbaren Dichte an Publikationen und Veranstaltungen zur Denkfigur der Relationalität seit den 1990er-Jahren lässt sich mit Rolf Lindner von der „Gefühlsstruktur […] einer Zeit“17 sprechen, die sich im „wiederholten Vorkommen von Topoi“ zeigt und sich durch „historische Gleichzeitigkeit“ im Fokussieren verwandter Begriffe oder Themen auszeichnet. Neben Relation sind dies Termini wie Korrelation, Konfiguration, Konstellation, Netzwerk, Gefüge, Assemblage, Assoziation, Verknüpfung und der für diese Ausführungen – wie weiter unten noch argumentiert wird – titelgebende Terminus der Übersetzung. Einige richtungsweisende Positionen sollen einleitend die Relevanz des Konzepts der Relationalität für ein kulturanthropologisches Forschen
16 Die Fokussierung sowohl auf diese Fachbereiche als auch auf das spezifische Interesse an einer Übersetzung gerade zwischen diesen Feldern – und damit auch zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft, Kunst und Nicht-Kunst – leitet sich aus der interdisziplinären Bildungsbiografie und Situierung der Autorin ab: Studium der Europäischen Ethnologie (Hauptfach im Studium), Kunstgeschichte (Zweitfach mit Spezialisierung auf zeitgenössische Kunst im öffentlichen Raum sowie auf aktuelle bildwissenschaftliche und kunsttheoretische Zugänge), der Bildnerischen Erziehung sowie der Museums-, Ausstellungsund Projektvermittlung im schulischen und außerschulischen Bereich (praxisorientierte Zusatzausbildung mit Lehramt, der berufliche wie institutionelle Vertiefungen in Schulen, Museen, Kunst- und Kultureinrichtungen folgten). 17 Lindner (2003): Kulturanalyse, 183.
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Einleitung. Übersetzungsarbeit in Kunst und Kulturanthropologie
über relationale – sowie in relationaler – Kunst argumentativ untermauern, um in Kapitel 3 (Übersetzung. Begriff, Praxis, Werkzeug) relationales Forschen in Richtung eines translationalen Forschens mit Fokus auf „Übersetzungsmomente“ weiter zu denken. „Alles und jedes verweist auf ein Anderes.“18 Diese Aussage Rolf Lindners, die mit Ernst Cassirer jedes Ding, jeden Akteur, nie „für sich allein […], sondern nur in ihren wechselseitigen Verhältnissen“ begreift, bildet den Wesenskern einer Kulturanalyse, die nach Lindner „ein Denken in Relationen einfordert“. „Sie geht von der Grundannahme aus, dass der Sinngehalt kulturaler Phänomene erst durch die Untersuchung des Beziehungsgeflechts entschlüsselt wird, dem sie ihre spezifische Gestalt verdankt. […] Mit Norbert Elias könnten wir hier von einer ‚Figuration‘ sprechen, d. h. von einer Gestalt, die sich aus Mustern der Interdependenz fügt. […] Nur in einem Beziehungsgeflecht macht Gestalt als Symbolformation überhaupt Sinn; nur im Angesicht des Anderen bildet sich das Eigene (über)prägnant heraus.“19
Auch den für die Kulturanalyse zentralen Begriff des Feldes fasst Lindner in Anlehnung an Ernst Cassirer und Pierre Bourdieu mit dem Bild eines Systems von „Kraftlinien“, wobei er betont, „dass in Feldbegriffen denken relational denken heißt“.20 Mit Bezug auf die Konstituierung der sozialen Felder (wie künstlerisches oder wissenschaftliches Feld) im Bourdieu’schen Sinne spricht Lindner von „Anziehungs- und Abstoßungsprozessen“, die auch den jeweiligen Disziplinen in Wissenschaft und Kunst bzw. deren Akteur:innen ihren jeweiligen Platz im sozialen Raum zuweisen. Jedes untersuchte Objekt, jeder Akteur ist mit Bourdieu gesprochen „in ein Netz von Relationen eingebunden“ und verdankt „seine Eigenschaften […] zu wesentlichen Teilen diesem Relationennetz.“21 Gleichzeitig geht Lindner auf Distanz zu Bourdieus ausgeprägter Parzellierung der verschiedenen Felder im sozialen Raum und fordert im Sinne eines „feldübergreifenden Verständnisses von Feld“ nachdrücklich dazu auf, „Verbindungslinien und Interdependenzen“ zwischen den sozialen Feldern nicht aus dem Blick zu verlieren. Sein Plädoyer für die Sichtbarmachung dieser oft verborgenen Bezüge gilt dem „Zusammendenken des Unmöglichen“, um darin nicht nur Differenzen, sondern auch Gemeinsamkeiten und Relationen zu identifizieren.22 Unter Bezugnahme auf Lindners Überlegungen zu einer relationalen Kulturanalyse und deren Aufforderung zu einem wissenschaftlichen Denken in Konstellationen und Konfigurationen skizziert Jens Wietschorke eine „volkskundliche Kulturanalyse als ‚Be-
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Lindner (2003): Kulturanalyse, 179. Lindner (2003): Kulturanalyse, 180. Lindner (2003): Kulturanalyse, 181, Hervorhebung im Original. Bourdieu (1992/2006): Reflexive Anthropologie, 262. Lindner (2003): Kulturanalyse, 182.
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Relationale Anthropologie. Ansätze, Methoden und Entwicklungen
ziehungswissenschaft‘“23 . Auch er verweist unter anderem auf Pierre Bourdieu und hebt dessen Überzeugung hervor, dass sich durch die präzise Erforschung einer empirischen, räumlich und zeitlich bestimmbaren Realität bedeutende theoretische Probleme erkennen sowie die innere Logik des Sozialen erschließen lassen. Eine Beziehungswissenschaft im Verständnis Wietschorkes bezieht „die alltagsrelevanten Handlungen und Interpretationen der sozialen Welt durch Akteure auf die […] Strukturbedingungen“, wobei er „in diesem komplexen Bedingungsgefüge“ vor allem nach den „Spielräumen“ im „flexiblen Rahmen“ des sozialen Raums fahndet.24 Dieses Interesse an den Überschreitungen der strukturellen Determiniertheit im alltäglichen Handeln der Akteur:innen führt Wietschorke zur Frage nach einer konzeptuellen Auflösung des Dualismus zwischen Struktur und Handlung, wie er sie auch bei Bruno Latour und der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) identifiziert. Latour, so zeigt Wietschorke, setzt Gesellschaft als determinierende Struktur nicht voraus, sondern entwirft sie als das, was im Akteur-Netzwerk aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren permanent hergestellt wird. „Gesellschaft ist nicht, was uns zusammenhält, sondern was selbst zusammengehalten wird.“ Diese Prozesse des Zusammenhaltens von Gesellschaft – von Latour auch Übersetzungsprozesse genannt (vgl. Kapitel 3.1 Gouvernementale Dimension des Übersetzungsbegriffs. Akteure, Macht und Allianzen) – gilt es unter gleichzeitiger Betrachtung von Netzwerk und Akteur im Sinne eines Studiums der Assoziationen und Übersetzungen zu untersuchen. Dabei ruft Latour dazu auf, „von der Hauptstraße abzubiegen, die Autobahnen zu verlassen und stattdessen einem kleinen Weg [zu] folgen, der nicht breiter als ein Trampelpfad ist.“25 Wenn Wietschorke unter anderem die ANT als Referenz für die Konzeption einer Beziehungswissenschaft anführt, so bewegt er sich in einem seit den 2000er-Jahren vielfältig bespielten Diskursfeld. So setzt etwa Stefan Beck in Anknüpfung an Bruno Latours Überlegungen zu einer „symmetrischen Anthropologie“ den Begriff des Relationalen als Leitfigur anthropologischer Forschung. Mit dem Ziel einer veränderten Konzeption der zentralen Fachbegriffe Kultur/Natur bzw. deren Verhältnisses zueinander plädiert er für eine „relationale Anthropologie“, die einerseits „Materialität, Sozialität und Symbolisches symmetrisch“ denkt. Andererseits argumentiert er für „eine neuartige, systematisch auf interdisziplinäre Kooperation angelegte Forschungs-
23 Wietschorke (2012): Beziehungswissenschaft. Den Begriff der „Beziehungswissenschaft“ entlehnt Wietschorke einer Aussage des Schweizers Richard Weiss aus dem Jahr 1946, in der dieser Interdisziplinarität als zentrales Charakteristikum volkskundlichen Arbeitens darlegt: „Nicht nur stofflich, sondern auch methodisch ist die Volkskunde eine Beziehungswissenschaft“, in: Weiss (1946/1984): Volkskunde der Schweiz, 53. 24 Wietschorke (2012): Beziehungswissenschaft, 339. 25 Latour zitiert nach Wietschorke (2012): Beziehungswissenschaft, 342.
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pragmatik, die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Wissenssystemen, Denk- und Forschungsstilen […] organisiert und fruchtbar macht“.26 In ähnlicher Weise und mit Bezug auf die ANT perspektiviert Ignacio Farías „the object of urban studies“ nach „three central principals: radical relationality, generalized symmetry, and association“. Eine Perspektive der radikalen Relationalität behandelt „objects, tools, technologies, texts, formulae, institutions and humans“ nicht als voneinander getrennte Entitäten, sondern als sich wechselseitig bedingende und das Soziale performativ relational konstituierende Beziehungstypen. „The social is thus not a thing, but a type of relation or, better, associations between things which are not social by themselves.“27 Wenn Beck und Farías die Beziehungen im Prozess der Feldforschung sowie zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen untersuchen, um aktuelle Phänomene im technischen bzw. urbanistischen Bereich zu erforschen, knüpfen sie ebenso an die ANT an wie die Stadtanthropologin Alexa Färber.28 Dabei operiert sie, wie auch Farías, mit dem Begriff der urbanen Assemblage, um ihr zentrales Interesse der Betrachtung und Beschreibung von „Stadt und Urbanität als in der Alltagspraxis miteinander verknüpfte Elemente des Urbanen“ begrifflich zu fassen. In der „Hinwendung zur Assemblageforschung“ im Sinne einer „Neubewertung des Urbanen als soziomaterielle Konfiguration“ ortet Färber für die interdisziplinäre Stadtforschung „mindestens drei kritische Impulse“: erstens die Möglichkeit, „die Stadt als (Forschungs-)Gegenstand und Urbanität als multiple Alltagserfahrung“ relational zu betrachten, zu beschreiben und damit „greifbar“ zu machen; zweitens – basierend auf einer „empirisch-ethnografische[n] Grundhaltung“ – „relevante Konflikte analytisch aufzugreifen“ und „überraschende Erkenntnisse zur Verteilung von Akteursmacht“ zu generieren; und drittens eine „uneingeschränkte Interdisziplinarität zwischen Disziplinen mit einer Zuständigkeit für ‚das Soziale‘“ zu befördern, durch die „komplexere Analysen von Konfliktfeldern“ möglich werden.29 Von „relationaler Stadtforschung“ spricht auch die Europäische Ethnologin Brigitta Schmidt-Lauber im Kontext eines Forschungsprojekts zu mittelstädtischer Urbanität: „Städte sind wissenschaftlich und alltagsweltlich nur in Referenz und Bezug zu anderen Städten, also relational zu verstehen und zu beschreiben. Sie stehen in Bezügen zu anderen Räumen, aus denen sich die Position der Stadt in verschiedenen Feldern ergibt.“30 Sie vertritt dabei „einen konsequent praxeologischen Zugang“, um „Städte als relationale kulturelle, materielle und soziale Gebilde“ untersuchen und „Städte und
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Beck (2008): Natur I Kultur, 198. Farías (2010): Decentring, 3. Färber (2014a): Potenziale freisetzen. Färber (2014a): Potenziale freisetzen, 100. Schmidt-Lauber (2018): Relationale Stadtforschung, 19f.
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Relationale Anthropologie. Ansätze, Methoden und Entwicklungen
Stadtkategorien in ihrer fortlaufenden Herstellung in verschiedenen Praxisfeldern“ fassen zu können.31 Auch in Klaus Schönbergers Kulturanalyse als Gesellschaftsanalyse „spielt insbesondere der Begriff des Relationalen eine zentrale Rolle“. Mit Verweis auf Sabine Eggmann (Kultur als „Relationierungsmatrix“), Jens Wietschorke (Kultur als „integraler Modus des Sozialen“) und Rolf Lindner (Analyse „kultureller Konstellationen“) plädiert er für einen Kulturbegriff als relational perspektivierte Analysekategorie. „Es geht darum, die Relationen zwischen Einzelfall, Mikrokontext und allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen aufzuzeigen. Das meint, die jeweiligen Spezifika situierter Felder in ihrer Relation zueinander zu studieren, um gemeinsame wie unterschiedliche Momente in der gegenwärtigen Alltagskultur beschreiben zu können. Ich möchte diese Relationalität als die Perspektive des trans, des Durchquerens, Überschreitens, Verbindens und einander Beeinflussens verstehen.“32
Zur kulturanalytischen Annäherung an die Alpen-Adria-Region setzt Schönberger die „Analyseperspektiven“ der „Transsektorialität als Relationen zwischen den sozialen Strukturkategorien race-class-gender“, der „Transnationalität als Relationen und Hybridformen zwischen Nationalstaaten“, der „Transkulturalität als Relationen zwischen Praktiken“ sowie der „Transversalität als sich kreuzende und querende lokale, regionale wie europäische Imaginationen“.33 Vor dem Hintergrund der Komplexität von Kultur als Gegenstand plädiert er für eine „relationale Kulturanalyse“, die „nach Beziehungen und Kontexten“ fragt und „nach Relationen wie nach Eigensinn“ sucht.34 Dabei vertritt er ein „emanzipatorisches Anliegen“, um „zu einer differenzierten Gesellschaftsanalyse beizutragen, die den sozialen, ökonomischen und politischen Bezugsrahmen von kulturellen Artefakten wie Praktiken zu reflektieren und einzuordnen vermag.“35 Diese hier kursorisch skizzierten Ansätze einer relationalen Kulturanalyse und Stadtforschung mit ihrem Fokus auf multiple Beziehungsformationen, ihren Forderungen nach Interdisziplinarität und ihrer Befragung der sozialen Relevanz von Wissenschaft bieten für eine Forschungsarbeit über relationale – sowie in relationaler – Kunst im städtischen Raum produktive Anschlussstellen – vor allem, wie weiter unten noch gezeigt wird, für die Entfaltung einer translationalen Perspektivierung des forschenden Blicks.
31 Schmidt-Lauber (2018): Relationale Stadtforschung, 16. Weitere Überlegungen zu relationaler Stadtforschung als vergleichende Forschung finden sich in Eckert et al. (2020): Aushandlungen städtischer Größe. 32 Schönberger (2018): Kultur, 23. 33 Schönberger (2018): Kultur, 23. 34 Schönberger (2018): Kultur, 34. 35 Schönberger (2018): Kultur, 36.
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Die hier durchgeführte empirische Forschung über und in den künstlerisch initiierten Akteurswelten Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale folgte demnach konsequenterweise einem multimethodischen Ansatz, wobei die drei Kunstprojekte nicht nur teilnehmend-beobachtend untersucht, sondern in bestimmten Phasen auch aktiv mitgestaltet wurden. Sie knüpft an Konzeptionen der Dynamisierung des Feldkonzepts in aktuellen Methodendiskussionen sowie an eine kollaborative, experimentelle Forschungspraxis mit Akteur:innen aus nicht-wissenschaftlichen Feldern an.36 Als Grundprinzip gilt eine Offenheit gegenüber methodischen Impulsen, die durch feldübergreifende Kooperationen angestoßen werden, wie auch Ina-Maria Greverus anzeigt, wenn sie eine ästhetische Anthropologie mit der Formel des performing culture37 entwirft, oder die George Marcus vorschlägt, wenn er zur Kollaboration mit „paraethnografischen“ Akteuren im Prozess der Feldforschung auffordert.38 Als weitere wichtige Referenz dient Rolf Lindners kritische Adaption des Begriffs der Feldforschung als „Feld-Analyse“. Die notwendige Voraussetzung für diese besteht in einer „totale[n] Immersion des Forschers“, der sich „in ein Thema, einen Gegenstand ‚hineinbegeben‘ […], dieses Thema, diesen Gegenstand auf Zeit ‚leben‘“ soll. „Nicht nur im Sinne klassischer Feldforschung, sondern im totalen Sinne eines Forschers, der alle seine Sinne öffnet, sieht, hört, riecht, schmeckt, fühlt, sich ständig auf der Fährte befindet und Quellen aufspürt […]. Er muß sich heranpirschen an seinen Gegenstand, ihn umkreisen, ihn durchdringen, ihm auf verquere Weise begegnen, ihm zuweilen auch die kalte Schulter zeigen, um aus seinem Gegenteil, dem Antipoden, neue Anregungen zu gewinnen.“39
Dem Zufallstreffer im Sinne eines methodologisch reflektierten serendipity kommt dabei ebenso Aufmerksamkeit zu wie Quellen, denen lange Zeit wenig wissenschaftliche Bedeutung beigemessen wurde, von Comic, Kino und Anekdoten über Belletristik, Theaterstücke und künstlerische Artefakte bis hin zu Rechts-, Experten- und medialen Diskursen. Zentral für jede Feld-Analyse ist es – neben teilnehmenden Beobachtungen, Interviews und Gesprächen –, „die Komplexität des Gegenstandes [zu fassen], die sich gerade in der Vielfalt der Bezüge und Verschränkungen artikuliert“.40 Lindner folgend werden in der vorliegenden Studie die qualitativen empirischen Erhebungen (teilnehmende Beobachtungen, Wahrnehmungsspaziergänge, Gespräche, Interviews, Fotografien, Skizzen, Mappings) symmetrisch verknüpft mit vorgefundenen Repräsentationen wie Besprechungen in Katalogen, kunstkritischen Rezensionen, medialen Berichterstattungen oder weiterführender Literatur zu den künstlerischen 36 37 38 39 40
Vgl. Fußnoten 10 und 11. Vgl. Kapitel 5.3 (Ästhetische Anthropologie. Idee, Kritik, Perspektiven). Vgl. Marcus (2013): New Ends. Lindner (2003): Kulturanalyse, 186. Lindner (2003): Kulturanalyse, 187.
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Relationale Anthropologie. Ansätze, Methoden und Entwicklungen
Ansätzen und den städtischen Schauplätzen. In Kooperation mit den Kunstschaffenden fanden dabei in unterschiedlichen Konstellationen epistemische Interventionen im Sinne von Wissen generierenden Situationen statt – von momenthaften Eingriffen in das zu beforschende Feld über längerfristige Inszenierungen, Stadtspaziergänge und Performances bis hin zu Rauminstallationen, Ausstellungen und experimentellen Labors. Angeregt und ermutigt wurde der hier praktizierte methodische Zugang zum Feld darüber hinaus durch den von Sabine Hess, Johannes Moser und Maria Schwertl im Jahr 2013 herausgegebenen Sammelband Europäisch-ethnologisches Forschen. In den einführenden Überlegungen mit dem Titel Vom „Feld“ zur „Assemblage“? sowie in einem Interview mit George Marcus widmen sich Hess und Schwertl den Perspektiven europäisch-ethnologischer Methodenentwicklung vor dem Hintergrund aktueller ökonomischer, politischer, sozialer und epistemologischer Entwicklungen. Grundanliegen der Herausgeber:innen ist – angesichts der Komplexität der gegenwärtigen globalisierten Gesellschaft – die Neukonzeption des Feldbegriffs im empirischen Forschungsprozess und damit des Verhältnisses der Forscher:innen zur sozialen Realität ihres Untersuchungsgegenstands. „Damit ist die Frage nach ‚Feld‘ nicht mehr alleine eine Frage nach der räumlichen Lokalisierbarkeit, sondern nach dem doing von Feldforschung. Folgt man Ansätzen von Bruno Latour und der Actor-Network-Theory […], die nicht Entitäten, sondern Verflechtungen und Netzwerken folgt, so wird klar, dass die Frage nach dem Feld vor allem auch eine Frage danach ist, welche Konnektivitäten Forscher herstellen können. Feld ist damit aus dieser Perspektive eine praxeologische Konstruktion von Forschenden.“41
Eine Dynamisierung des Feldbegriffs samt Aufrufen zur Kollaboration mit Akteur:innen aus nicht-wissenschaftlichen Feldern, wie sie in den hier exemplarisch dargelegten relationalen Ansätzen kulturanthropologischer Forschung diskutiert wird, setzt eines voraus: eine explizit reflexive Haltung gegenüber der Konzeption von Realität und Repräsentation sowie deren Verhältnis zueinander, wie es spätestens seit der WritingCulture-Debatte das Nachdenken über anthropologisches Forschen bestimmt. Die Frage nach den theoretischen wie auch politischen Implikationen von Repräsentationen (Wer schreibt und macht sichtbar? Wann und warum? Unter welchen Bedingungen? Mit welchem Interesse?) und ihrem Verhältnis zur Konzeption von Realität erweist sich auch im kunsttheoretischen Diskurs seit den 1970er-Jahren – und vor allem in jüngerer Zeit im Kontext des Nachdenkens über „neue Realismen“ oder „Realitätskonzepte“ in der Kunst – als zentral.42 Im Fokus steht dabei die Frage nach dem Verhältnis zwischen wahrgenommener Welt und Repräsentation im Sinne einer Analyse der „normativen
41 Hess und Schwertl (2013): Vom „Feld“ zur „Assemblage“, 32. 42 Vgl. z. B. Knaller (2011): Realitätskonzepte; Rebentisch (2013/2017): Theorien der Gegenwartskunst.
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Einleitung. Übersetzungsarbeit in Kunst und Kulturanthropologie
Ordnung der Darstellung, das heißt mit der geordneten, regulierten Beziehung zwischen dargestellter Wirklichkeit – und den Bildern und Worten, die sie darstellen“43 . Die Philosophin Maria Muhle spricht dabei von „post-repräsentativem Realismus“, dem es nicht darum geht, „möglichst wirklichkeitsgetreu darzustellen“, sondern die „Trennung zwischen dargestellter Wirklichkeit und wirklicher Wirklichkeit“ strategisch „in Schwebe“ zu halten. „Dieses In-der-Schwebe-Halten ermöglicht eine Reflexion auf die allgemeinen Bedingungen, unter denen Realität überhaupt erst erscheinen und zugänglich sein kann, d. h. auf die Bedingungen des Erscheinens von etwas als etwas. Diese Bedingungen möchte ich mit Rancière als eine Aufteilung des Sinnlichen denken, d. h. als ein Regime oder System von Normen, die implizit die Wahrnehmung der gemeinschaftlichen Welt bestimmen.“44
Die Kulturwissenschaftlerin Nora Sternfeld spricht in diesem Zusammenhang von „Postrepräsentativität“ und meint damit die „Möglichkeiten […] für eine künstlerische Form, mit der Realität zu verhandeln.“ Diesen Arbeiten gehe es nicht nur darum, zu „repräsentieren oder den Diskurs [zu] verschieben, sondern in reale Bedingungen ein[zu]greifen.“ Entscheidend für die Postrepräsentativität sei im Vergleich zum Dokumentarischen der Repräsentation, dass sie nicht nur darstellen, sondern explizit „eine reale Intervention schaffen“ und gezielt „verschieben […], was gesagt und gesehen werden kann. […] Eine Herausforderung der Repräsentation von der Realität her.“45 Wie die Repräsentationskritik der Writing-Culture-Debatte und ihre methodologischen Folgen im weiten Feld der Anthropologie, dienten auch die repräsentationskritischen Überlegungen in der Kunsttheorie als Anregung für die vorliegende empirisch fundierte Forschung in relationaler und über relationale Kunst. Integraler Bestandteil des feld-analytischen, repräsentationskritischen Forschungsprozesses waren mehrmalige Feldaufenthalte in London, Linz und Graz. Im Fall von Adaptive Actions erfolgten die Recherchen am blauen Zaun zwischen September 2007 und Juli 2008 im Rahmen eines IFK-Fellowship-Abroad am Londoner Goldsmiths College/Centre for Visual Anthropology; bei BELLEVUE konnte während der gesamten Projektdauer (Juni bis September 2009) im gelben Haus recherchiert werden, mit einer durchgängigen Anwesenheit während der zweiwöchigen BELLEVUE Akademie; die Erhebungen zum Projekt Keine Denkmale bewegten sich zeitlich einerseits im Vorfeld und während der Interviews mit Bewohner:innen des Annenviertels, andererseits im Vorfeld und während der Produktion der Texttafeln für den öffentlichen Raum. Darüber hinaus fanden auch außerhalb der eigentlichen Projektphasen Gespräche und Interviews mit Teilnehmenden sowie Recherchen und teilnehmende Beobachtungen zur Rezeption der drei Arbeiten statt. 43 Muhle (2010): Ästhetischer Realismus, 178. 44 Muhle (2010): Ästhetischer Realismus, 180. 45 Sternfeld (2018): Wenn heute rechte Politik, 318.
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Relationale Anthropologie. Ansätze, Methoden und Entwicklungen
Im Zuge der empirischen Erhebungen in London, Linz und Graz wurden systematisch schriftliche und visuelle Feldnotizen erstellt, Gespräche mit Akteur:innen protokolliert, Interviews und Fotografien aufgenommen, räumliche Situationen skizziert und Projektabläufe grafisch festgehalten. Mit diesen Erhebungen gleich gewichtet war die Recherche nach Projekt-Repräsentationen, Bildern und Texten (z. B. Medienberichte, literarische Texte, Katalogeinträge, theoretische Abhandlungen, Ausstellungsbeiträge usw.), die im Feld bereits vorhanden waren und zur historischen, thematischen, theoretischen oder visuellen Anreicherung des empirisch erhobenen Materials dienten. Im Vergleich mit einer Forschung über Kunstprojekte, in der sich die Forscherin explizit außerhalb des untersuchten Feldes positioniert, war deren Teilnahme an Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale auch programmatisch als Forschung in den Projekten konzipiert. So wirkte sie in den künstlerisch initiierten Dramaturgien immer auch als engagierte Bürgerin mit, die sich an den kreativen Interventionen in die stadträumlichen Transformationsprozesse aus zivilgesellschaftlichem Interesse beteiligte und bei verschiedenen schriftlichen, visuellen und performativen Aktivitäten mitwirkte. Zu nennen sind hier das Verfassen von Katalogbeiträgen, die Mitarbeit an Ausstellungen, die aktive Teilnahme an öffentlichen Diskussionen und Aufführungen, die Aktivierung und Betreuung von beteiligten Studierenden oder die Begleitung konzeptueller Entscheidungsprozesse. Neben dieser klar zielorientierten Partizipation im Sinne eines performing culture galt für die anthropologischen Erhebungen das Prinzip der freischwebenden Aufmerksamkeit. Gleichzeitig wurde der anthropologische Blick von Beginn an entlang der leitenden Forschungsfrage geschärft, nämlich jener nach der Herstellung von Konnektivitäten und dem Auftreten von Konflikten (begrifflich gefasst als Übersetzungsmomente) im Rahmen relationaler Kunstproduktion. Der Begriff der Übersetzung diente in der Recherche-Phase schon früh als sensitizing concept und wurde in weiterer Folge – in der Auswertungs-Phase des gesammelten empirischen Materials sowie der recherchierten, bereits vorhandenen Projekt-Repräsentationen, Projekt-Besprechungen und theoretischen Kontextualisierungen – als mehrdimensionales Analyse-Werkzeug entfaltet und eingesetzt: Durch die Linse der ästhetischen Dimension des Übersetzungsbegriffs rückten Verbindungen zwischen Kunst und Nicht-Kunst in den Fokus, durch die Linse der epistemologischen Dimension des Übersetzungsbegriffs die Verbindungen zwischen empirisch erhobener Realität und wissenschaftlichem Text und durch die Linse der gouvernementalen Dimension des Übersetzungsbegriffs die Verbindungen zwischen relationaler Kunst und staatlichen/kommunalen Regierungstechniken. Der analytische Mehrwert des Übersetzungsbegriffs – im Vergleich zum Begriff der Relationalität – soll in Kapitel 3 entfaltet werden. Das folgende Kapitel 1.3 (Von der Relation zur Translation) dient der einleitenden Argumentation, warum in Theorie, Empirie und Analyse der Übersetzungsbegriff operationalisiert und Prozesse der Allianzbildung in relationaler Kunst – wie auch in der Kulturanthropologie – als Übersetzungsarbeit gefasst werden.
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Einleitung. Übersetzungsarbeit in Kunst und Kulturanthropologie
1.3
Von der Relation zur Translation. „Making connections“ als Übersetzungsarbeit
Nicht nur relationale Kunst, sondern auch Kulturanthropologie – konzipiert als empirisch fundierte, relationale Kulturanalyse – erweist sich als „zeitintensive Beziehungsarbeit“46 , die „relations“ in historischen und rezenten Gesellschaften nicht nur erforscht, sondern vielfache Verbindungen und Verbindlichkeiten in Richtung anderer wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Felder herstellt.47 Diese Produktion von Konnektivitäten in relationalen Kunstprojekten wird in dieser Studie als „Übersetzungsarbeit“ gefasst, wie in Kapitel 3 (Übersetzung. Begriff, Praxis, Linse) detailliert dargelegt wird. Besondere Aufmerksamkeit kommt der connectivity als Modus der Stabilisierung von Beziehungsgefügen in den von George Marcus und James Faubion angestellten Überlegungen zu den ethics of fieldwork as an ethics of connectivity48 zu. Sie konstatieren, dass gerade in einer globalisierten, digitalisierten Welt „on the move“ den Verbindungen im Zuge anthropologischer Forschung besondere Beachtung zu schenken ist. Wer heute, unter veränderten temporalen und territorialen Bedingungen, „a good anthropologist“ sein will, hat sich vor allem einer Neujustierung der verschiedenen Formen von Konnektivität zu widmen. Zwar ist und war Anthropologie immer „about making connections“, mehr denn je geht es jedoch um ein bewusstes, ethisch fundiertes Abwägen, welche Verbindungen eine Anthropologin zu welchen Orten, Szenerien und Akteuren herstellt, mit welchen analytischen Werkzeugen und wissenschaftlichen Orientierungen sie diese eingeht und nicht zuletzt in welchem Verhältnis sie zur „world at large, and by no means least to herself “49 steht. Hieran schließen sich Fragen nach Adressat:innen und Zielen kulturanthropologischer Studien an: An wen – außer an Fachkolleg:innen innerhalb des wissenschaftlichen Feldes – richtet sich eine kulturanthropologische Studie? Wer und was soll erreicht
46 Thelen (2015): Wege einer relationalen Anthropologie, 20. Die Anthropologin Tatjana Thelen beschreitet ihre „Wege einer relationalen Anthropologie“ vor dem Hintergrund ethnografischer Studien zum Verhältnis von Verwandtschaft und Staat. Neben den Protagonisten einer relationalen Perspektive in den Sozialwissenschaften – Thelen hebt hier insbesondere Karl Marx und Georg Simmel hervor – sieht sie im empirischen Ansatz der Anthropologie seit den 1950er-Jahren eine Explizierung und Konzeptualisierung des Forschens in und zu sozialen Relationen. Mit Blick etwa auf Vertreter:innen der Manchester School wie Elisabeth Bott (Family and Social Network, 1957) oder Clyde Mitchell (Social Networks in Urban Situations, 1969) plädiert sie „für eine Rückbesinnung auf die Fragen der frühen Netzwerkanalytiker: Wie werden Beziehungen hergestellt? Und: Wie vermitteln sie zwischen Normen/Institutionen auf der einen und alltäglichen Praktiken auf der anderen Seite?“ 47 Zur Konzeption und Konjunktur des Begriffs relations im englischsprachigen anthropologischen Diskurs vor allem seit den 1990er-Jahren vgl. Strathern (2020): Relations. 48 Faubion (2009): Ethics of Connectivity. 49 Faubion (2009): Ethics of Connectivity, 7.
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Von der Relation zur Translation. „Making connections“ als Übersetzungsarbeit
werden? Mit wem und warum werden Verbindungen inner- wie auch außerhalb des wissenschaftlichen Forschungsprozesses eingegangen? Wer kommt zu Wort? Und nicht zuletzt: Wie steht es um die Machtverhältnisse zwischen den beteiligten Akteur:innen? Am Umgang mit diesem Fragenkomplex erkennt man nach Faubion die good anthropologists unserer Tage. Diese zielen nicht mehr zuerst auf die Eroberung neuer Forschungsterritorien unter den Leitideen des wissenschaftlichen Fortschritts, der Innovation, der Objektivität sowie der Exzellenz durch Konkurrenz ab. Vielmehr stellen sie sich den ethischen Herausforderungen der Zeit. „It is in some part always also due to its engagement beyond those terrains with the morally, ethically, politically, and economically windblown Ecumene.“50 Ein wissenschaftlicher Ansatz, der an der Reflexion und Stabilisierung von Forschungsbeziehungen im Sinne von Konnektivität und Übersetzung orientiert ist, kennzeichnet auch das Werk der Kulturanthropologin Elisabeth Katschnig-Fasch. Unter Bezugnahme auf Pierre Bourdieus Anspruch des Verstehens sowie seinen Aufruf des engagierten Austauschens und Einmischens verfolgt sie gleichermaßen epistemologische wie ethische Ziele. Die Frage nach den Verbindungen der wissenschaftlichen Praxis mit anderen sozialen Feldern geht dabei mit der Forderung einher, den eigenen Standort zu bestimmen und transparent zu machen. „Um zu verstehen“, bedarf es des „Bewusstseins, dass wir selbst ‚positionierte Subjekte‘ sind“51 , wobei diese Positionierung immer auch ein Verhältnis zu anderen, ebenfalls positionierten Akteuren aufspannt. Erst das „Wissen um unseren eigenen Ort, von dem sich uns ein ganz bestimmter Blickwinkel auf ein Thema oder auf unser Gegenüber eröffnet“52 , ermöglicht die „Konstruktionsarbeit der Objektivierung“53 sowie die Möglichkeit einer detaillierteren, tieferen Einsicht in Existenzbedingungen und gesellschaftliche Verbindungen – inklusive der eigenen. Selbstreflexion bildet damit die notwendige Voraussetzung für eine Reflexion der Machtbeziehungen im wissenschaftlichen Feld wie auch im Feld der empirischen Forschung. Eine „annähernd ‚herrschaftsfreie Kommunikation‘, die Einvernehmen herstellt und vor Preisgabe schützt“, bedarf einer „Reflexion der Differenzen zwischen Fragenden und Befragten“54 und somit einer Standortbestimmung des „Ich“, das sich mit einem „Du“ verbindet. So lassen sich Feldforschungen mit Katschnig-Fasch auch als Kreuzungsräume bezeichnen, „in denen die Lebensgeschichten der Befragten mit jenen der Fragenden, auch mit jenen der Leser und Leserinnen, zusammentreffen. Räume, die den Austausch von Erfahrungen und Wissen ermöglichen.“55 Entscheidend dabei ist, dass diese von der Wissenschaft eröffneten Kreuzungsräume nicht nur im Mikrobereich
50 51 52 53 54 55
Faubion (2009): Ethics of Connectivity, 162. Katschnig-Fasch (2003): Das ganz alltägliche Elend, 361. Katschnig-Fasch (2003): Das ganz alltägliche Elend, 360. Bourdieu und Wacquant (1992/2006): Reflexive Anthropologie. Katschnig-Fasch (2003): Das ganz alltägliche Elend, 360. Katschnig-Fasch (2003): Das ganz alltägliche Elend, 361.
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Einleitung. Übersetzungsarbeit in Kunst und Kulturanthropologie
des konkreten Forschungsprozesses nach einer Egalisierung von Machtbeziehungen streben, sondern gezielt den Makrobereich gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse aufzeigen und in Frage stellen. Dass es für diese gesellschaftspolitisch relevanten Verhandlungen unabdingbar ist, sich auch auf außeruniversitäre Kollaborationen in Feldforschung wie Repräsentation einzulassen, zeigt sich nicht zuletzt in Katschnig-Faschs kritisch-aktiver Teilnahme an Grenzüberschreitungen zwischen wissenschaftlichem Feld und anderen sozialen Feldern. Zwar warnt sie vor einer Instrumentalisierung akademischer Akteur:innen als Erfüllungsgehilfen für politische oder ästhetische Interessen. Gleichzeitig ermutigt sie dazu, strategische Allianzen, zum Beispiel mit künstlerischen Akteur:innen, einzugehen. „Austauschen um sich Einzumischen“ betitelt sie etwa einen kurzen, dichten Text zu den „Chancen eines dialogischen Austausches zwischen teilnehmender wissenschaftlicher Beobachtung und kunstambitioniertem Aktionismus“. „Dass es diesen Faden des Austausches nicht wieder abbrechen zu lassen gilt, wird spätestens dann klar, wenn nach dem Sinn und dem gesellschaftlichen Wert der Arbeit im jeweiligen Feld gefragt wird. Im gemeinsamen Begegnungsraum mit je unterschiedlichen Wahrnehmungsund Deutungsmöglichkeiten lässt sich die Herausforderung des politischen Eingreifens als interessiertes Einmischen in der Tradition der engagierten Intellektuellen jedenfalls wunderbar betreiben.“56
Elisabeth Katschnig-Faschs Perspektive hat – mit ihrem Interesse an der Herstellung von Konnektivitäten im Forschungsprozess, an Grenzgängen zwischen den akademischen Disziplinen sowie zwischen Wissenschaft und Kunst – die vorliegende Arbeit entscheidend geprägt. Ihr mit Bourdieu formulierter Aufruf „um zu verstehen“ und der mit ihm eingenommene Blick auf soziale Machtverhältnisse gilt in dieser Studie zu relationaler Kunst im Kontext stadträumlicher Transformation der Frage, wie die Beziehungen zwischen den heterogenen Teilen der künstlerisch initiierten Akteurswelten zu ästhetischen Allianzen stabilisiert bzw. übersetzt werden, wo Risse auftreten und Brüche entstehen. Besonderes Interesse schenkte Katschnig-Fasch den politischen Herausforderungen einer Stadtanthropologie, die sich „im Wirbel städtischer Raumzeiten“ vor allem den Relationalitäten und Verbindungen sowie den sozialen Distinktionen und Ausgrenzungen widmet. Der Begriff der Übersetzung, der in Kapitel 3 (Übersetzung. Begriff, Praxis, Linse) für die vorliegende Studie entfaltet wird, dient als konzeptuelle Leitfigur und analytisches Werkzeug, mit dem signifikante Momente des Herstellens und Stabilisierens – im Sinne von konnektiven Impulsen –, aber auch des Destabilisierens und Brechens der künstlerisch initiierten Beziehungen identifiziert und analysiert werden. Das Themenfeld
56 Katschnig-Fasch (2005): Austauschen um sich Einzumischen, 40.
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Von der Relation zur Translation. „Making connections“ als Übersetzungsarbeit
und die Projekte Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale erwiesen sich als ideale Untersuchungsräume für die Entwicklung und Operationalisierung einer Perspektive der Übersetzung. Dabei wurde mit Pierre Bourdieu versucht, nicht einen „Begriffs- und ‚Theorie‘-Fetischismus“ zu pflegen, „der aus der Neigung entsteht, die ‚theoretischen‘ Instrumente […] an sich und für sich zu nehmen“. Vielmehr ging es darum, den Übersetzungsbegriff in produktiver Weise „sich entfalten zu lassen, mit […] [ihm] zu arbeiten.“57 Drei Gebrauchskontexte bildeten dabei das theoretische Referenzfeld. Als Leitbegriff fungierte die im anthropologischen Feld vertraute Formel von Anthropologie als Übersetzung zwischen empirischer Wirklichkeit und wissenschaftlichem Text bzw. zwischen Akteur:innen aus der Wissenschaft und solchen aus nicht-wissenschaftlichen Feldern. Eine weitere Bezugsebene bildete der translational turn, durch den der Übersetzungsbegriff auch außerhalb der Übersetzungswissenschaft eine andauernde Konjunktur der Aufmerksamkeit quer durch die Geistes- und Sozialwissenschaften erfahren hat. Darüber hinaus boten die Konzeptionen von Bruno Latour und Michel Callon zu Übersetzungsmomenten und Übersetzungsarbeit konzeptuelle Anregungen. Vor dem Hintergrund dieser Projektgenese bietet die vorliegende Schrift nicht nur eine kulturanalytische Annäherung an drei signifikante Fallbeispiele aus dem Feld der relationalen Kunst. Vielmehr will sie auch einen Beitrag zum interdisziplinären Diskurs um den Übersetzungsbegriff – vor allem auch im kulturanthropologischen Feld – leisten. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei seinem theoretischen, methodologischen und epistemologischen Potenzial im Begegnungsraum von Kunst und Anthropologie geschenkt – mit Fokus auf die Möglichkeiten einer ästhetischen Anthropologie als kongenialer Partnerin in ästhetischen Allianzen. Bevor die Ergebnisse dieser Begriffsarbeit dargelegt werden (Kapitel 3. Übersetzung. Begriff, Praxis, Linse), sein Einsatz als analytisches Werkzeug erprobt wird (Kapitel 4. Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst) und künstlerisch-wissenschaftliche Übersetzungsmomente aus der Perspektive der Übersetzung nachgezeichnet werden (Kapitel 5. Relationalitäten zwischen Anthropologie und Kunst; Kapitel 6. Schluss. Lernen von relationaler Kunst. Für eine translationale Anthropologie), gilt im folgenden Kapitel 2 (Drei Fälle relationaler Kunst in London, Linz und Graz) die Aufmerksamkeit dem kunsttheoretischen Diskurs der relational aesthetics sowie dem empirischen Feld der drei Beispiele relationaler Kunst in städtischen Transformationsgebieten: Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale.
57 Bourdieu (1992/2006): Reflexive Anthropologie, 262.
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2.
Drei Fälle relationaler Kunst in London, Linz und Graz
Das empirische Material, das unter Einsatz eines weiten Übersetzungsbegriffs zu einer wissenschaftlichen Arbeit geformt wurde, entstammt drei Beispielen relationaler Kunst, die zwischen 2007 und 2013 in den Städten London, Linz und Graz realisiert wurden. Dabei handelt es sich im ersten Fall um das andauernde Projekt des kanadischen Künstlers Jean-François Prost mit dem Titel Adaptive Actions, das er im Zuge der Bauarbeiten für den Olympic Park in East London in den Jahren 2007/08 initiiert hat. Seither sucht und praktiziert Prost in losen Allianzen mit wechselnden Akteur:innen weltweit verschiedene Weisen der Umnutzung städtischen Raums. Bilder von diesen adaptiven, nicht kommerziell oder politisch reglementierten Praktiken versammelt er auf der virtuellen, interaktiven Plattform aa.adaptiveactions.net.58 Als zweites Beispiel dient BELLEVUE. Das gelbe Haus, ein Projekt von Peter Fattinger, Veronika Orso und Michael Rieper, einem „losen Kollektiv an der Grenze zwischen Architektur, Kunst und Design mit einem Fokus auf Installationen und Interaktionen im öffentlichen Raum“59 . Konzipiert und realisiert wurde BELLEVUE im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt Linz 2009 im frisch angelegten Landschaftspark auf der 2005 errichteten Autobahnübertunnelung Bindermichl/Spallerhof. Knapp drei Monate lang fanden in dem temporär installierten gelben Haus fast rund um die Uhr öffentliche Aktivitäten in enger Verbindung zwischen Kunst und lokaler Nachbarschaft statt. Die dritte beforschte Arbeit initiierte die Künstlerin Kristina Leko unter dem Titel Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung im Kontext des Umbaus der Grazer Annenstraße. Das Kommunikationsprojekt, wie es Leko auch nennt, startete 2011 mit biografischen Interviews zu Mobilitäts- und Arbeitsverläufen von Migrant:innen sowie mit historischen Recherchen zur Arbeiter:innengeschichte der Grazer Bezirke Gries und Lend. Nach einer Ausstellung im Zentrum für zeitgenössische Kunst erfolgte im Jahr 2013 die Installation von großformatigen Texttafeln im Grazer Annenviertel, die bis heute an fünf von ursprünglich neun Standorten zu finden sind.60 Entscheidend für die Selektion der in Bezug auf Schauplatz, Dimension und Methodik höchst unterschiedlichen Projekte waren drei Kriterien: erstens eine Ähnlichkeit in Bezug auf den Entstehungszusammenhang: Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine
58 http://aa.adaptiveactions.net/; Bilder zum Projekt Adaptive Actions am Londoner Olympic Park finden sich unter: http://aa.adaptiveactions.net/action/41/, Zugriff: 18.08.2021. 59 http://www.bellevue-linz.at/index.php?idcatside=79, Zugriff: 19.01.2020. 60 Informationen und Bilder unter: https://www.rotor.mur.at/con_annen6_DENKMALE_Opening_ger. html, Zugriff: 18.08.2021.
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Drei Fälle relationaler Kunst in London, Linz und Graz
Denkmale entstanden im Kontext groß dimensionierter stadträumlicher Transformationsprozesse und standen damit durch mehrfache Verbindung mit gouvernementalen Praktiken im Spannungsfeld zwischen den Interessen von Bewohner:innen und Stadtpolitik. Alle drei Projekte basierten auf der programmatischen Involvierung von sozialräumlich unterschiedlich positionierten Beteiligten. Sie setzten gezielt auf das – kunstwie stadtentwicklungspolitisch propagierte – Prinzip der Partizipation und ließen sich in Orientierung an einer „Kulturanalyse der Gouvernementalität“61 nur unter Berücksichtigung ihrer Konditionierung durch öffentliche Fördermodalitäten befragen. Neben Teilnehmenden aus dem künstlerischen Feld (Künstler:innen, Kurator:innen, Kulturarbeitende, Publikum, …) wurden auch kunstferne Akteur:innen (sozial marginalisierte Bevölkerungsgruppen, engagierte lokale Nachbarschaft, Grundeigentümer:innen, lokale Vereins-Funktionär:innen, …) in die Umsetzung der relationalen Kunstprojekte involviert, wobei Akteur:innen aus Politik und kommunaler Verwaltung die Allianzbildungen mitgestalteten. Das zweite Kriterium für die Auswahl der Projekte war, dass bei allen drei Projekten Stadtforscher:innen, unter anderem auch die Autorin, als deklarierte double agents62 beteiligt waren, und zwar einerseits in ihrer Rolle als interessierte Bürger:innen, andererseits als Wissenschaftler:innen, die verschiedene Arten von Erhebungen durchführten. Das dritte Selektionskriterium bestand darin, dass die jeweiligen Kunstschaffenden bei allen hier beforschten Projekten nicht als autonome Schöpfer:innen eines in sich geschlossen gedachten Werks für kunstaffine Rezipient:innen auftraten, sondern in Zusammenarbeit mit anderen Beziehungsgefüge zwischen den diversen Beteiligten gestalteten. Die ästhetischen Grundkategorien – Künstler:in / Werk / Publikum – und ihr Verhältnis zueinander wurden im Zuge des Projektverlaufs neu verhandelt. Unter Verweis auf diese drei Charakteristika lassen sich Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale mit dem französischen Kurator und Autor Nicolas Bourriaud als Beispiele für relationale Kunst fassen. Diese Einschätzung sowie die projektspezifische Adaption des Begriffs werden im ersten Teil dieses Kapitels hergeleitet und argumentiert. Auf einen Einblick in Genealogie, Typen und Kritik der relationalen Kunst nach Bourriaud folgen im zweiten Teil Überlegungen zu jener spezifischen Erscheinungsform relationaler Kunst, die unter dem Vorzeichen der Partizipation im Kontext von stadträumlichen Transformationsprozessen durchgeführt werden. Vor dem Hintergrund ihrer gemeinsamen Charakteristika sowie der kunsttheoretischen Kontextualisierung werden die Projekte Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale steckbriefartig vorgestellt. Besondere Aufmerksamkeit gilt – im Sinne einer mehrdimensionalen Perspektive der Übersetzung63 – den sozialen und gouvernementalen Konditionierungen 61 Rolshoven (2013a): Stadtentwicklung, 76. 62 König und Steffen (2013): Der dritte Raum, 272f. 63 Eine detaillierte Entfaltung der mehrdimensionalen Perspektive der Übersetzung in eine gouvernementale, eine epistemologische und eine ästhetische Dimension, die als Werkzeug zur detaillierten Analyse der
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Genese, Typen und Kritik der relationalen Kunst
der heterogenen Beziehungsgefüge, den Relationalitäten zwischen Künstler:in, Werk und Publikum sowie der Positionierung von Wissenschaft in den einzelnen Projekten.
2.1
Genese, Typen und Kritik der relationalen Kunst
Im Kontext der zeitgenössischen Kunst stehen Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale nicht isoliert da. Sie sind vielmehr signifikante Beispiele für eine etablierte Kunstpraxis, die nicht – im modernistischen Sinne – einem autonom und geschlossen gedachten Werk gewidmet ist, geschaffen von einer genialen Künstler:in, zur kontemplativen Rezeption durch ein gebildetes Publikum. Vielmehr repräsentieren die drei Arbeiten den verbreiteten Ansatz einer offenen Werkform. Diese legt den Fokus auf die Gestaltung von Beziehungen zwischen Künstler:innen, Rezipient:innen und Akteur:innen, die, mit Bourdieu gesprochen, sozialräumlich teils auch außerhalb des künstlerischen Feldes positioniert sind. Wenngleich jegliche künstlerische Praxis nicht nur in Beziehungsgefüge eingebunden ist, sondern den sozialen Raum immer auch – intentional oder nicht – mitgestaltet, erfährt seit Beginn des 20. Jahrhunderts, verstärkt seit den 1960er-Jahren und in verdichteter Form seit den 1990er-Jahren die Idee programmatische Aufmerksamkeit, sich von der Kreation eines autonomen Artefakts abzuwenden und sich der Bildung sozialräumlich entgrenzender Relationalitäten zuzuwenden.64 Begleitet und mitgestaltet wurden diese Transformationen im Feld der Bildenden Kunst von einem theoretischen Diskurs, der sich einer Neukonzeption der klassischen ästhetischen Kategorien Kunstwerk, Künstler:in und Publikum sowie deren Verhältnis zueinander widmet.65 Für die Phase verdichteter Präsenz offener Kunstformen seit den 1990er-Jahren bis in die Gegenwart66 wurden eine Vielzahl an Bezeichnungen geprägt, die unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in Zielorientierung und Handlungsstrategien der Werke und ihrer Theoretisierungen markieren. Die US-amerikanische Kuratorin, Schriftstellerin, Kunsthistorikerin und Aktivistin Nina Felshin widmet sich etwa der Art as Activism (1995) und hinterfragt den Kunststatus der wachsenden Zahl an drei Fallbeispiele in Kapitel 4 (Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst) dient, findet sich in Kapitel 3 (Übersetzung. Begriff, Praxis, Linse). 64 Erste Tendenzen zeigen sich bei DADA und den Surrealisten, im russischen Konstruktivismus, bei Marcel Duchamp und im Situationismus. Die Kunsthistorikerin Sabine Flach ortet Ansätze relationaler Kunst bereits in der Antike, vgl. Steingassner (2018): Die Kunst des Geschmacks. 65 Eine detailliertere Darstellung von Akteur:innen und Ansätzen dieser Phase der relationalen Kunst vor der relationalen Kunst findet sich in Kapitel 3.3.2 (Kunst oder Nicht-Kunst? Übersetzungsarbeit nach dem Tod des Originals). 66 Zentrale Figuren sind etwa Andrea Fraser, Félix González-Torres, Michael Hieslmair und Michael Zinganel, Thomas Hirschhorn, Kristina Leko, Rimini Protokoll, Isa Rosenberger, Philipp Ruch (Zentrum für politische Schönheit), Christoph Schlingensief, Rirkrit Tiravanija.
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Drei Fälle relationaler Kunst in London, Linz und Graz
dezidiert politisch-interventionistischen Praktiken titelgebend mit But is it art? Die Künstlerin und Kunsttheoretikerin Suzanne Lacy prägte den Begriff der New Genre Public Art (1995), wobei sie mit „neu“ vor allem die Orientierung an demokratischen Kommunikationsprozessen im öffentlichen Interesse statt an autonom platzierten Objekten in frei zugänglichen Räumen bezeichnet. Der amerikanische Kunsthistoriker, Publizist und Kunstkritiker Hal Foster konstatiert The Return of the Real (1995) und identifiziert in seiner Essaysammlung den Artist as Ethnographer – unter direkter Bezugnahme auf Walter Benjamins Autor als Produzent (1934) – als eine der zentralen Leitfiguren der Gegenwartskunst mit besonderem Interesse an sozialräumlich marginalisierten Feldern und dem exotisierten Anderen. Der französische Kurator und Kunstkritiker Nicolas Bourriaud spricht von relational aesthetics (1995) und meint damit eine theoretische Perspektive, die Kunstwerke unter besonderer Berücksichtigung der durch sie hergestellten zwischenmenschlichen Beziehungen betrachtet. Die Kunstkritiker, Autoren und Kuratoren Marius Babias und Achim Könnicke sprechen von einer Kunst des Öffentlichen (1998), die verschiedene Arten sozialer Intervention durch Kunst und die dabei gebildeten Teilöffentlichkeiten umfasst. Die österreichischen Kuratorinnen und Kunsthistorikerinnen Stella Rollig und Eva Sturm fragen angesichts des zunehmenden Agierens von Kunst im sozialen Raum sowie im öffentlichen Interesse: Dürfen die das? (2002). Die Kuratorin und Architekturhistorikerin Miwon Kwon widmet sich in einer viel rezipierten Publikation der site specific art and locational identity (2002). Grant Kestner prägt in seiner dialogical aesthetic den Terminus der conversation pieces (2004), die eine Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Künstler:innen und Publikum diskutieren. Die deutsche Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte (2004) nähert sich der „Entgrenzung der Künste“ seit den 1960er-Jahren. Sie entwirft eine Ästhetik des Performativen und theoretisiert jene Praktiken in Bildender Kunst, Literatur, Theater und Musik, die Ereignisse hervorbringen, statt Werke zu schaffen. Die mazedonische Kunsthistorikerin Suzanna Milevska konstatiert einen Participatory Turn (2006) als Paradigmenwechsel in der Kunst, indem sie sich dem Herstellen von Beziehungen zwischen Subjekten zu- und von der Privilegierung des auratischen Kunstobjekts abwendet. Die britische Kunsthistorikerin und Kuratorin Claire Bishop sieht in Participation Art (2006) die Möglichkeit, mittels der Beteiligung von heterogenen Akteur:innen die Demokratie via Kunst durch „relationalen Antagonismus“ (2004) zu beleben. Der französische Kunstphilosoph Jacques Rancière macht vor dem Hintergrund der wachsenden Zahl partizipativer Praktiken im künstlerischen Feld die Figur des emanzipierten Zuschauers (2008) stark, der auch ohne Aktivierungsprogramm durch einen belehrenden Kunstschaffenden nicht passiv bleibt, sondern im Prozess der Rezeption per se produktiv an der Herstellung des Werkes beteiligt ist. Und in jüngerer Zeit haben sich die Kunsthistorikerin Juliane Rebentisch (2013) sowie der Kunsttheoretiker Max Glauner (2016) dem Desiderat einer differenzierten Ästhetik partizipativer Kunst gewidmet.
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Genese, Typen und Kritik der relationalen Kunst
Die hier lediglich kursorisch und beispielhaft angeführten Beiträge zum dichten, spannungsreichen Diskurs über offene Kunstformen seit Mitte der 1990er-Jahre stehen in enger Wechselbeziehung zur künstlerischen Produktion und zur Repräsentation von künstlerischen Arbeiten in privaten wie öffentlichen Kunsträumen, aber auch zur Etablierung von entsprechenden Einrichtungen und Programmen an Kunstuniversitäten und Museen sowie zur Bereitstellung von öffentlichen Fördertöpfen. Konzeption und Durchführung der drei hier untersuchten Kunstprojekte Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale sind Teil dieses Diskursraums, wobei als begriffliche Klammer für ihre Darstellung und Analyse aus der Vielzahl an verwandten Begriffsprägungen und kunsttheoretischen Annäherungen Nicolas Bourriauds Begriff der „relationalen Kunst“ selektiert wurde. Der Terminus „relationale Kunst“ erweist sich – im Vergleich mit Bezeichnungen wie „partizipative Kunst“, „soziale Kunst“, „aktivistische Kunst“, „politische Kunst“, „Kunst des Öffentlichen“ oder „dialogische Kunst“ – insofern als passfähigster Dachbegriff, da er durch seine konzeptuelle Offenheit die Heterogenität der hier verhandelten Beispiele zu rahmen vermag, ohne methodische, thematische oder politische Tendenzen zu antizipieren. Gleichzeitig bedarf diese Entscheidung einer genealogischen und kritischen Begriffsarbeit, die sich nicht affirmativ zu Bourriauds Konzeption verhält, sondern diese unter Anerkennung ihrer produktiven Impulse kritisch diskutiert und situativ weiterentwickelt. Der französische Autor, Kunstkritiker und Kurator Nicolas Bourriaud prägte und verwendete den Begriff der art rélationelle erstmals im Jahr 1995 im Kontext der von ihm kuratierten Ausstellung Traffic.67 Einige Jahre später stellte er die Definition sowie die Elaboration verschiedener Typen der relationalen Kunst ins Zentrum seiner viel rezipierten und zugleich kritisierten Essaysammlung Esthétique Rélationelle (1998).68 „The possibility of a relational art“ bezeichnet er darin als Bündel von künstlerischen Praktiken, „taking as its theoretical horizon the realm of human interactions and its social context, rather than the assertion of an independent and private symbolic space“.69 Unter Bezugnahme auf konkrete Beispiele70 identifiziert er „interactive, user-friendly and relational concepts“ als zentralen Ansatz der Gegenwartskunst, wobei er diese als „liveliest factor that is played out on the chessboard of art“ einschätzt.71 Sein Wohlwollen und sein Interesse gelten dabei den künstlerischen Praktiken, die soziale Experimente wagen, „hands-on utopias“ erproben und damit an jene emanzipatorischen Kämpfe
67 Katalog der Ausstellung Traffic, CAPC, Contemporary Art Museum Bordeaux, 1995. Vorbereitet wurden der Begriff und seine Definition in dem Aufsatz Relation écran, Katalog der 3. Lyon Contemporary Art Biennial, 1995. 68 Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics. 69 Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 14. 70 Explizit erwähnt werden Künstler:innen wie Rirkrit Tiravanija, Philippe Parreno, Vanessa Becroft, Maurizio Cattelan, Christine Hill oder Félix González-Torres. 71 Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 15 und 8.
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Drei Fälle relationaler Kunst in London, Linz und Graz
gegen „authoritarian and utilitarian forces eager to gauge human relations and subjugate people“ anknüpfen, die schon als Antrieb für die künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts („from Dadaism to the Situationist International“) dienten: „It is evident that today’s art is carrying on this fight, by coming up with perceptive, experimental, critical and participatory models, veering in the direction indicated by Enlightenment philosophers, Proudhon, Marx, the Dadaists and Mondrian.“72 Im Unterschied zu den früheren Initiativen künstlerischer Kritik diagnostiziert Bourriaud den gegenwärtigen Praktiken allerdings eine neue Qualität des Kampfes. Es geht nicht mehr darum, im Gefolge vorgeprägter Ideologien und messianischer Utopien „a future world“ anzukündigen, vorzubereiten und deren Umsetzung zu kontrollieren „like a scout“. Vielmehr arbeiten die Künstler:innen der Gegenwart am konkreten, alltäglichen Modellieren von „possible universes“ und „microtopias“ im Hier und Jetzt: „Otherwise put, the role of artworks is no longer to form imaginary and utopian realities, but to actually be ways of living and models of action within the existing real, whatever the scale chosen by the artist. […] It seems more pressing to invent possible relations with our neighbors in the present than to be on happier tomorrows.“73
Der Künstler heute „bewohnt“ die Gegenwart, „he catches the world on the move“ und generiert aus den sozialen Begegnungen „an art form where the substrate is formed by inter-subjectivity, and which takes being-together as central theme, the ,encounter‘ between beholder and picture, and the collective elaboration of meaning.“74 Diese künstlerisch installierten Interaktionszonen innerhalb existierender Realitäten bezeichnet Bourriaud in Abgrenzung zur herkömmlichen, distinktionsbewussten Kunstwelt als „user-friendly“, „non-elitist“ und „anti-authoritarian“. Als Leitmotto der relationalen Kunst identifiziert er das allen zugängliche Prinzip des „Do-it-yourself “, als Ziel dient der Impuls für soziale Interaktivitäten, die über das eigentliche Ende einer Ausstellung oder eines Kunstprojekts hinausgehen: „It builds a social interstice, scares nobody and serves as tool for opening dialogues and happy interactivity that never ends.“75 Malereien, Zeichnungen, Fotografien, Bilder oder Skulpturen bilden in der relationalen Kunst nur eine von mehreren möglichen Typen künstlerischer Objekte, die im Projektverlauf produziert werden. Bourriaud subsummiert unter dem Begriff der „artistic ,forms‘“ darüber hinaus „all manner of encounter and relational invention thus represent, today, aesthetic objects likely to be looked at as such“, wobei er fünf Typen76 von „ästhetischen Objekten“ in der relationalen Kunst unterscheidet: 72 73 74 75 76
Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 9. Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 13 und 45. Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 15. Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 24. Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 29 ff.
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Genese, Typen und Kritik der relationalen Kunst
(1) „Connections and meetings“ umfassen jede Art von organisierten Zusammenkünften im Projektkontext, von der Performance bis zur Eröffnungsfeier. (2) „Conviviality and encounters“ meint produktive Begegnungen zwischen den Künstler:innen und anderen Menschen, die – geplant oder zufällig, wissentlich oder unwissentlich – Teil des Werkes werden, indem sie etwa Interviews geben, sich abbilden lassen oder auch nur anregend auf den kreativen Prozess wirken. (3) „Collaborations and contracts“ finden dort statt, wo Zusammenarbeit mit Expert:innen vertraglich geregelt und im Sinne einer vordefinierten Auslagerung von Produktionsschritten durchgeführt wird. Hergestellt werden dabei „moments of sociability“ und „objects producing sociability“. (4) „Professional relations: clienteles“ beziehen sich auf jenen „operative realism“, mit dem sich Künstler:innen in bereits bestehende soziale Beziehungsgefüge, Institutionen und Unternehmen einschreiben, um durch ihre Aktivitäten auf die Abläufe in diesen professionellen gesellschaftlichen Bereichen einzuwirken. (5) Mit „How to occupy a gallery“ meint Bourriaud schließlich künstlerische Praktiken, die den alltäglichen Betriebsablauf in der einladenden Kunstinstitution mitgestalten – von der Betreuung des Publikums bis hin zu infrastrukturellen Eingriffen. In werk-, produktions- und rezeptionsästhetischer Hinsicht äußert sich diese relationale Typologie wie folgt: auf Ebene des Werks durch die Konzeption von zwischenmenschlichen Beziehungen als künstlerische Form; auf Ebene der Künstler:innen in der Schwierigkeit, in dem Remix an kreativen Äußerungen verschiedener Teilnehmenden den eigenen Status als Autor:in eindeutig festzumachen; und auf Ebene der Rezeption durch kollektiven Gebrauch und Nähe statt isolierter Kontemplation und Distanz. Damit leistet relationale Kunst für Bourriaud einen Beitrag zur „eradication of the traditional distinction between production and consumption, creation and copy, readymade and original work“.77 Die Grenze zwischen institutionellem künstlerischem Raum und anderen sozialen Räumen wird ebenso in Frage gestellt wie jene zwischen Künstler:innen und Betrachtenden, aber auch zwischen Menschen und Dingen. So stehen auf den Materiallisten von relational-ästhetischen Kunstprojekten in einer Reihe mit „lots of people“78 auch Papier, Stifte oder Klebstoff, die von kreativen Expert:innen und teilnehmenden Laien gleichermaßen eingesetzt werden. Nicolas Bourriauds Konzeption der „art rélationelle“ als signifikante Kunstform der Gegenwart basiert auf zahlreichen, teils kurzen und losen Anleihen in Philosophie und Soziologie, bei Künstler:innen und Schriftsteller:innen. Als prägende Figuren aus dem theoretischen Feld zitiert er wiederholt Louis Althusser, Gilles Deleuze und Felix Guattari, Guy Debord, Michel de Certeau und Walter Benjamin. Argumentativ impulsgebend wirkte vor allem deren Kritik an utilitaristischen sozialen Praktiken sowie
77 Bourriaud (2002): Postproduction. 78 Bishop (2004): Antagonism and Relational Aesthetics, 56.
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Drei Fälle relationaler Kunst in London, Linz und Graz
deren Suche nach Interaktions- und Beziehungsformen „resisting social formatting“79 . Wenngleich sowohl die zitierten Autor:innen als auch ihre politischen Ambitionen im kunsttheoretischen Feld der Gegenwart große Aufmerksamkeit und Anerkennung finden, boten nicht zuletzt Bourriauds kreativer Referenzstil und sein Optimismus in Bezug auf die politische Wirkmacht der relationalen Kunst Anlass für Kritik und Zweifel. Die Kunsthistorikerin Claire Bishop startet ihre Kritik unter Verweis auf die Problematik, den von Bourriaud privilegierten Werktyp „open-ended, interactive, and resistant to closure, often appearing to be ,work-in-progress‘ rather than a completed object“ adäquat zu rezipieren. „Such work seems to derive from a creative misreading of poststructuralist theory: rather than the interpretations of a work of art being open to continual reassessment, the work of art itself is argued to be in perpetual flux. There are many problems with this idea, not least of which is the difficulty of discerning a work whose identity is willfully unstable. Another problem is the ease with which the ‚laboratory‘ becomes marketable as a space of leisure and entertainment.“80
Zwar schätzt Bishop das Konzept der relationalen Ästhetik Bourriauds als „important first step in identifying recent tendencies in contemporary art“. Gleichzeitig stellt sie seine exponierte Doppelrolle als Kurator und Theoretiker ebenso in Frage wie die von ihm in Aussicht gestellte und grundsätzlich positiv bewertete Produktion von sozialen Beziehungen. Im Besonderen zweifelt Bishop an Bourriauds optimistischer „rhetoric of democracy and emancipation“, die seine Überlegungen zur relationalen Kunst prägt. Bourriaud, so Bishops Kritik, wertet die künstlerisch angestoßenen sozialen Interaktivitäten automatisch als „political in implication and emancipatory in effect“.81 Demgegenüber konstatiert sie, „that the relations set up by relational aesthetics are not intrinsically democratic, as Bourriaud suggests, since they rest too comfortably within an ideal of subjectivity as whole and of community as immanent togetherness“.82 Bourriaud versteht diese gemeinschaftlichen Aktivitäten als Kunstform, die soziale Verhältnisse nicht einfach nur künstlerisch reflektiert, sondern produziert – ohne allerdings die Rollenverteilungen zwischen den verschiedenen Akteur:innen im Produktionsprozess zu hinterfragen und die erzeugten Beziehungsmodi zu bestimmen. Zentrales Desiderat der relationalen Ästhetik ist deshalb für Bishop ein detaillierter Blick darauf, welche Arten von Beziehungen wie, für wen und zwischen wem hergestellt werden – vor allem aber, welche Qualität und Verbindlichkeiten diese aufweisen.
79 80 81 82
Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, U4 (Klappentext, hinten innen). Bishop (2004): Antagonism and Relational Aesthetics, 52. Bishop (2004): Antagonism and Relational Aesthetics, 62. Bishop (2004): Antagonism and Relational Aesthetics, 67.
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Genese, Typen und Kritik der relationalen Kunst
„Bourriaud wants to equote aesthetic judgement with an ethicopolitical judgement of the relationships produced by a work of art. But how do we measure or compare these relationships? The quality of the relationships in ‚relational aesthetics‘ are never examined or called into question. […] All relations that permit ‚dialogue‘ are automatically assumed to be democratic and therefore good. But what does ‚democracy‘ really mean in this context? If relational art produces human relations, then the next logical question to ask is what types of relations are being produced, for whom, and why?“83
Bishops Zweifel an der per se als demokratisch gewerteten Form der relationalen Kunst richtet sich vor allem gegen jene Projekte, die eine sozial homogene, gleichgesinnte Gruppe von Menschen („networking among a group of art dealers and like-minded art lovers“) zusammenbringen, „predicated on the exclusion of those who hinder or prevent its realization“.84 Unter Bezugnahme auf Jean-Luc Nancys Kritik der marxistischen Idee einer „community as communion“85 sowie auf Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Theorie der „democracy as antagonism“86 spricht Bishop relationaler Kunst vor allem dann einen intrinsisch demokratischen Status ab, wenn die Produktion von sozialen Beziehungen auf gleichgesinnte Kunstbesucher:innen beschränkt bleibt und damit harmonisierende „feel-good positions“ privilegiert. Erst wo „collaborators from diverse economic backgrounds“ aufeinandertreffen, werden soziale Ausgrenzungsmechanismen sichtbar und politische Strukturen im Sinne eines „relational antagonism“87 herausgefordert. Wie die Kunsthistorikerin Claire Bishop steht auch der Philosoph Jacques Rancière der Konzeption von Bourriauds relationaler Ästhetik kritisch gegenüber, wenngleich unter anderen Vorzeichen. Während Bishop Vorbehalte gegen die Zusammensetzung der beteiligten Akteursgruppen und die demokratiefördernden Qualitäten der gebildeten Relationen äußert, fokussiert Rancière das Verhältnis zwischen sozialer Realität und künstlerischer Repräsentation. Jene neuen Kunstformen, die nicht mehr „anzuschauende Gegenstände“, sondern „aktive Formen der Gemeinschaft erzeugen“, fassen den „Innenraum des Museums“ und „das Außen des Gesellschaftslebens“ als „zwei gleichwertige Orte der Produktion von Relationen“ auf. Diese Gleichsetzung bezeichnet Rancière als „Kurzschluss“, da das „Hinausgehen ins Reale und der Dienst an den Benachteiligten […] selbst nur eine Bedeutung an[nimmt], wenn sie im musealen Raum ihre Beispielhaftigkeit manifestieren.“88 Vor dem Hintergrund dieser Kausalität stellt er auch die politischen Ansprüche einer Kunst infrage, die „Beziehungsformen statt
83 84 85 86 87 88
Bishop (2004): Antagonism and Relational Aesthetics, 65. Bishop (2004): Antagonism and Relational Aesthetics, 67. Bishop (2004): Antagonism and Relational Aesthetics, 68; vgl. auch Nancy (1991): Inoperative Community. Bishop (2004): Antagonism and Relational Aesthetics, 69; Laclau und Mouffe (1985): Hegemony. Bishop (2004): Antagonism and Relational Aesthetics, 79. Rancière (2008/2009b): Paradoxa, 85 ff.
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plastischer Formen erschaffen will“ und die Kunstaktion gleichsetzt „mit der Erzeugung punktueller und symbolischer Subversionen des Systems“89 . Das Ziel der Unterwanderung sozialer, ökonomischer und medialer Herrschaftsstrukturen ist für Rancière dabei insofern ein fragiles, als das Ausstellungs-Setting der konventionellen repräsentativen Logik von Kunst entspricht und ihre sozialräumlich privilegierte Positionierung reproduziert. „Indem der Aktionskünstler die Museumssäle mit Reproduktionen von Gegenständen und Bildern der Alltagswelt oder mit monumentalen Berichten von den eigenen Performances anfüllt, imitiert und antizipiert er seine eigene Wirkung, mit dem Risiko, zur Parodie der Wirksamkeit zu werden, die er für sich beansprucht.“90
Dieses Risiko, die unmittelbare Wirksamkeit trotz des „Hinausgehens ins Außen oder einer Intervention in der ‚wirklichen Welt‘“ zu verfehlen, gründet in dem, was Rancière als „die Politik der Kunst und ihre Paradoxien“91 bezeichnet. Nach Rancière gibt es „keine wirkliche Welt, die außerhalb der Kunst wäre“, und „keine Wirklichkeit an sich, sondern Gestaltungen dessen, was als unser Wirkliches gegeben ist, als Gegenstand unserer Wahrnehmungen, unserer Gedanken und Interventionen. Das Reale ist immer ein Gegenstand der Fiktion, das heißt eine Konstruktion des Raumes, wo sich das Sichtbare, das Sagbare und das Machbare miteinander verknüpfen.“92
Die Grenze zwischen „dem Bereich des Wirklichen und dem der Repräsentationen und Erscheinungen, der Meinungen und der Utopien“ ist aus Rancières Sicht das Produkt der „herrschenden“ „konsensuellen Fiktion“, die ihrerseits ihre fiktionale Eigenschaft leugnet. Denkt man mit Rancière Wirklichkeit als „konsensuelle Fiktion“, so steht Kunst zu ihr in einem Verhältnis der „ästhetischen Distanz“, die durch ihr intrinsisches Abweichen von der herrschenden Fiktion kritisches Potenzial aufweist. Wie sich Kunst zu diesem dominanten, sich historisch wandelnden Wahrnehmungssystem – zur „Aufteilung des Sinnlichen“ sowie der „Ästhetik der Politik“ – verhält, bezeichnet Rancière als „Politik der Kunst“, die wiederum prägend für das ist, was Künstler:innen schaffen. Eine Kunst, die ihre ästhetische Distanz zur Wirklichkeit aufgibt, steht für Rancière damit im Verdacht, „das konsensuelle Gewebe des Realen“ eher zu repro-
89 90 91 92
Rancière (2008/2009b): Paradoxa, 88. Rancière (2008/2009b): Paradoxa, 89. Rancière (2000/2008): Die Aufteilung des Sinnlichen. Rancière (2008/2009b): Paradoxa, 91.
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Genese, Typen und Kritik der relationalen Kunst
duzieren, denn seine Trennlinie zum Fiktionalen zu gestalten, zu verschieben oder durcheinanderzubringen.93 Wie Jacques Rancière und Claire Bishop stellt auch Juliane Rebentisch Bourriauds optimistische Einschätzung von relationaler Kunst als per se demokratisierend und emanzipatorisch grundlegend in Frage. Die Kunsthistorikerin verfolgt im Gegensatz zu Bourriaud nicht eine Verabschiedung, sondern eine Neuformulierung der modernistischen Autonomieforderung und ortet wie Rancière gerade darin das politische Potenzial von Kunst. „Heute identifiziert man die Idee der Autonomie der Kunst häufig per se mit einer apolitischen l’art pour l’art-Position und fordert entsprechend den Einzug ‚des Politischen‘ in die am Autonomiegedanken orientierte Ästhetik. Manche mögen sich dabei auch noch besonders revolutionär vorkommen. Man muss allerdings schon sehr viel ausblenden, um die philosophischen Bemühungen um eine Bestimmung der Autonomie der Kunst den Untersuchungen ihrer politischen und gesellschaftlichen Dimension so entgegenzusetzen, dass es aussieht, als schlössen sie einander aus. Denn die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft ist der Autonomiefrage implizit.“94
Gegen den Anspruch auf politische Wirkung der relationalen Kunst per se wendet Rebentisch ein, dass „Bourriauds Entwurf erschreckend blind für die institutionellen Voraussetzungen seiner relationalen Ästhetik“95 ist. Durch die Inszenierungen teils trister sozialer Verhältnisse im Rahmen der privilegierten Kunstwelt wird soziale Differenz im geschützten Kunstraum nachdrücklich markiert und damit eher reproduziert als minimiert. Darüber hinaus wertet es Rebentisch – wie auch Claire Bishop – als fragwürdig, die Erzeugung von Beziehungsgefügen zu propagieren und zu loben, „ohne nach deren je spezifischer Qualität zu fragen“ und die Art der künstlerisch initiierten Gemeinschaften hinsichtlich ihrer demokratiepolitischen Relevanz zu bewerten. Schließlich wirft Rebentisch noch ein, dass Bourriauds Konzeption einer relationalen Ästhetik wenig Interesse an der „reflexiven Logik des Ästhetischen“ zeigt. Indem er die Aufmerksamkeit auf direkte Partizipation und den vordergründigen Impuls zum Mitmachen lenkt, gerät jener reflexive Anteil ästhetischer Erfahrung ins Hintertreffen, der die Rezipient:innen auf sich selbst zurückverweist und sie ihre Relation zu den anderen kritisch bestimmen lässt. Erst diese distanzierte Art ästhetischer Erfahrung ermöglicht es aber, „die faktische Partikularität einer sich als universal setzenden westlichen Kunstwelt anhand des von
93 Rancière (2008/2009b): Paradoxa, 92. 94 Laleg (2012): Juliane Rebentisch, 26 f., Hervorhebung im Original. 95 Laleg (2012): Juliane Rebentisch, 30.
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ihr Ausgeschlossenen sichtbar zu machen“96 und der in der relationalen Kunst vermeintlich aufgehobenen Trennung zwischen realer und fiktionaler Welt kritisch zu begegnen. Rebentisch privilegiert dementsprechend eine ästhetische Erfahrung, die auf Individualität, Distanz- und Kritikfähigkeit basiert, und tritt der affektiven Ansteckung durch die Dynamik einer Gemeinschaft sowie dem Credo der Partizipation „im Zeichen einer demokratisch verstandenen Utopie der Gleichheit“97 mit Skepsis entgegen. Wenn in dieser Arbeit mit dem Begriff der relationalen Kunst im städtischen Raum operiert und argumentiert wird, so passiert dies nicht in unhinterfragter Affirmation, sondern in kritischer Adaption vor dem Hintergrund des skizzierten Diskursfeldes. Weiters dient zur Begriffsentfaltung ein spezifisches Aufführungsfeld relationaler Kunstprojekte: nämlich das des städtischen Raums.
2.2
Relationale Kunst im städtischen Raum. Rahmen und Modi urbaner Partizipation98
Nicolas Bourriauds Konzeption von relationaler Kunst, so der Grundtenor kritischer Stimmen, vernachlässigt die Frage nach dem Verhältnis zwischen künstlerischer und außerkünstlerischer Realität sowie jene nach der politischen Dimension jeglicher Forderung nach künstlerischer Autonomie. Darüber hinaus blendet Bourriauds relationale Ästhetik die politischen, ökonomischen und sozialen Hierarchien in den künstlerisch initiierten Beziehungsgefügen weitgehend aus. Entstehungskontext und Machtverhältnisse sind allerdings dann von besonderem Interesse, wenn ein Projekt nicht allein im geschützten Kunstraum ein tendenziell privilegiertes, kunstaffines Publikum in den Produktionsprozess involviert, sondern Konnektivitäten mit sozialräumlich außerhalb des künstlerischen Feldes positionierten Akteur:innen sucht. Dieser Konstellation ästhetischer Allianzbildung gelten die folgenden Ausführungen – mit Fokus auf relationale Projekte, die zur Partizipation an stadträumlichen Transformationsprozessen einladen und Beziehungen mit lokalen Bewohner:innen, Stadtforschenden und anderen relevanten urbanen Akteuren eingehen. Die hier untersuchten Beispiele Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale wurden im Kontext groß angelegter stadträumlicher Transformationen entwickelt und fordern eine nähere Betrachtung der spezifischen Verbindung von Kunst und städtischem Raum. Auch Bourriaud bezieht sich in seinen Texten zur relationalen Ästhetik explizit auf die Stadt, wobei sein Interesse weniger dem städtischen Raum als Handlungsfeld relationaler Kunstpraxis gilt. Vielmehr gebraucht er den Begriff der Stadt 96 Laleg (2012): Juliane Rebentisch, 31. 97 Laleg (2012): Juliane Rebentisch, 34. 98 Einzelne Teile aus diesem Kapitel finden sich in Laister (2019c): Stadt anthropologisch betrachtet; Laister (2019b): Zusammenarbeit als Übersetzungskunst.
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Relationale Kunst im städtischen Raum. Rahmen und Modi urbaner Partizipation
als Metapher, um seine Leitfigur der Relationalität argumentativ zu untermauern. Auf euphemistische Weise und unter loser Bezugnahme auf Henri Lefebvres Ausführungen zu einer globalen Verstädterung zeigt er Parallelen zwischen der Entwicklung von relationaler Kunstpraxis und moderner Urbanisierung bzw. Technisierung auf. „To sketch a sociology of this [relational art], this evolution stems essentially from the birth of a world-wide urban culture, and from the extension of the city model to more or less all cultural phenomena. The general growth of towns and cities, which took off at the end of the Second World War, gave rise not only to an extraordinary upsurge of social exchanges, but also to much greater individual mobility (through the development of networks and roads, and telecommunications).“99
Im Zuge moderner Urbanisierung, geprägt von zunehmender sozialer Verdichtung und Zirkulation von Menschen, Gütern, Ideen und Bildern, hat sich für Bourriaud die Stadt vom Symbol der Geschlossenheit und steinernen Massivität hin zum Inbegriff für Mobilität und Relationalität entwickelt. Dabei bildet er eine Analogie zwischen diesen großen Transformationen und den mit dem Terminus der relationalen Ästhetik gefassten Transformationen im künstlerischen Feld. Wie die Stadt verliert auch das künstlerische Werk als statisches Objekt oder territoriale Markierung an Bedeutung. Forciert durch technologischen Wandel generiert es vielmehr fluide Räume und Prozesse intersubjektiver Begegnungen, in denen soziale Bedeutung hergestellt wird. „Art is the place that produces a specific sociability. It remains to be seen what the status of this is in the set of ‚states of encounter‘ proposed by the city. How is an art focused on the production of such forms of conviviality capable of re-launching the modern emancipation plan, by complementing it? How does it permit the development of new political and cultural designs?“100
Unter Bezugnahme auf Theoretiker wie Karl Marx oder Guy Debord definiert Bourriaud relationale Kunst – in Analogie zu seinem relationalen City-Modell – insofern als potenziell emanzipatorisch, als sie durch konsequente Beziehungs- und Vernetzungsarbeit „tiny revolutions“101 gegen die zunehmende Kommodifizierung von Kunst zu setzen vermag. Dabei bedient sich Bourriaud zwar einer Rhetorik der Widerständigkeit. Gleichzeitig lassen sich entscheidende Teile seiner Ausführungen als signifikante Beispiele für den neuen Geist des Kapitalismus lesen, nach Luc Boltanski und Eve Chiapello
99 Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 15. 100 Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 16. 101 Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 17.
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charakterisiert durch die neoliberalen Imperative der Partizipation und Vernetzung, der Selbstaktivierung und Mobilität, der Kreativität und Originalität.102 Wenn Bourriaud eine Parallelisierung von relationaler Kunst und zeitgenössischer Stadt vornimmt, thematisiert er die Ambivalenzen relationaler Kunst – als gleichermaßen kritisch und affirmativ – ebenso wenig, wie er jene Strömungen der Stadtforschung berücksichtigt, die sich einer Kritik der neoliberalen und postpolitischen Stadt widmen.103 Städte sind nicht nur geprägt von globalisierter Mobilität, Dynamik und Vernetzung, sie sind vor allem Schauplätze sozialer, kultureller, politischer und ökonomischer Kämpfe um Raum und Ressourcen. Das Denkmodell der neoliberalen Stadt untersucht diese Kämpfe unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen einer neoliberalen Politik, die seit den 1970er-, vor allem aber seit den 1990er-Jahren die Regierungsweisen der Städte prägt. Deren spezifisches Interesse gilt – unter sukzessivem Rückbau sozialstaatlicher Errungenschaften sowie der zunehmenden Privatisierung und Kommodifizierung einst öffentlicher Güter – der umfassenden Ökonomisierung der Gesellschaft. „Die Neoliberalisierung zeigt sich dabei auf allen Ebenen gesellschaftlichen Handelns. Diese reichen von einzelnen Individuen, die als ‚Unternehmer in eigener Sache‘ (vgl. Bröckling 2007) die Verantwortung dafür tragen, die eigene Marktfähigkeit durch Weiterbildungsmaßnahmen und die ‚richtige Einstellung‘ zu optimieren, bis hin zu den Organisationsformen der globalen Wirtschaft und Umstrukturierungen in Universitäten und Verwaltungen, die ebenfalls kunden- und wettbewerbsorientiert arbeiten sollen und zu diesem Zwecke einer Vielzahl von Evaluierungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen ausgesetzt sind.“104
Die wesentlichen Folgen sind – mit Blick auf das Forschungsfeld Stadt – wachsende soziale Ungleichheit in und zwischen den Städten, eine städtische Kulturpolitik, die an Spektakel, Besucherzahlen und Umsatz orientiert ist, der Umbau öffentlicher Räume in markttaugliche Konsumzonen, der Bedeutungsgewinn des Stadtmarketings sowie die Steuerung der Bewohner:innen durch forcierte, teils subtile Techniken der (Selbst-)Kontrolle.105 Einher gehen diese Entwicklungen mit einer Refeudalisierung politischer Entscheidungsprozesse, begleitet von Prekarisierung und schwindenden Möglichkeiten der
102 Zur Kritik am neoliberalen Imperativ des kreativen Selbsts und der kreativen Stadt vgl. v. a. Boltanski und Chiappello (1999/2003): Der neue Geist; Bröckling (2007): Das unternehmerische Selbst; Färber (2014b): Wer macht mit? 103 Crouch (2004): Post-democracy; Swyngedouw (2013): Postpolitische Stadt; Mayer (2013): Urbane soziale Bewegungen. 104 Mattissek (2008): Die neoliberale Stadt, 12 f. 105 Mattissek (2008): Die neoliberale Stadt; Laimer und Rauth (2014): Catch 22.
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Relationale Kunst im städtischen Raum. Rahmen und Modi urbaner Partizipation
Stadtbewohner:innen, sich in die Gestaltung ihres städtischen Umfeldes einzubringen.106 Zwar wird durch gouvernemental vorgesehene Spielräume bürgerschaftliche Partizipation suggeriert, gefördert und gefordert. Die Handlungsmöglichkeiten sind jedoch klar reglementiert, um offen ausgefochtene Konflikte, Dissens oder unkontrollierbare Widerständigkeit – zum Beispiel im Kontext von Stadtsanierungen oder Großbauprojekten – möglichst früh zu kanalisieren bzw. zu verhindern. Ziel eines postpolitischen Regierens, wie es der Stadtforscher Erik Swingedouw fasst, ist es, die städtischen Akteure auf subtile Weise zu konsenualen Erfüllungsgehilfen bei der Umsetzung kommunaler Pläne zu formen. Erzeugt wird die postpolitische Harmonie durch ein Repertoire an Instrumentarien, das Bürger:innen auf Schiene mit den Interessen der neoliberalen Ordnung bringt. Diese Regierungstechniken umfassen – mit Fokus auf das kulturpolitische Feld – beispielsweise eine wachsende Bürokratisierung sowie einen zunehmenden Wettbewerb um Fördergelder und Aufträge. Ideenfindungen und -umsetzungen werden thematisch und organisatorisch verstärkt reguliert und in politisch klar zugeschnittene Bahnen geführt. Auch partizipative Formate erfahren wachsende Bedeutung, wobei jene Teilhabe-Projekte Konjunktur erfahren, die potenziellen Widerstand gegen stadträumliche Transformationen abzufangen helfen. Relationale Kunst im Kontext städtischer Transformation lässt sich durch die stadttheoretische Linse der postpolitischen Stadt nicht mehr einfach als rebellische Möglichkeit der Vernetzung gegen die – von Bourriaud ins Treffen gebrachte – Kommodifizierung von Kunst betrachten. Vielmehr gilt es auch die politischen und ökonomischen Relationalitäten – vor allem die Verstrickungen mit den Regierungstechniken postdemokratischer stadtpolitischer Tendenzen – abzuwägen. Seit den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er-Jahre,107 die sich vielfach als Reaktion auf stadträumliche Umbauten – wie Abrisse von historischer Bausubstanz, Straßenbauten oder den Verbau von Grünräumen – entwickelten, fordern Künstler:innen und Kunstinstitutionen nicht nur Präsenz im städtischen Raum in Form von Skulpturen, Performances, Arbeits- und Ausstellungsräumen. Vielmehr drängen sie auch auf Mitbestimmung an stadträumlichen Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen.108 Dabei werden auch ästhetische Allianzen mit anderen künstlerischen Akteuren sowie mit engagierten Bewohner:innen und Stadtforscher:innen eingegangen, um in Zusammenarbeit Forderungen zu entwickeln und in die Öffentlichkeit zu tragen.
106 Crouch (2004): Post-democracy. 107 Lefebvre (1968): Le droit; Holm (2011): Recht auf Stadt; Mayer et al. (2011): Cities for People; Harvey (2012): Rebel Cities. 108 Prominente aktuelle Beispiele partizipativen Handelns im Kontext großräumiger städtischer Transformation unter Beteiligung künstlerischer Initiativen sind etwa Stuttgart 21, Gezi Park Istanbul, Berlin Tempelhof, Park Fiction Hamburg, Wien Aspern, Graz Annenviertel oder London Hackney Wick.
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Kunst wird so zum Kommunikationsinstrument für stadträumliche Anliegen, die Kunstschaffenden werden zu Vermittler:innen und Kunsteinrichtungen zu aktivistischen Plattformen, die ihre Infrastruktur für Treffen zur Verfügung stellen. Sie kümmern sich etwa um die Akquise von öffentlichen Fördergeldern oder Sponsoring, engagieren sich in der Kommunikation mit Politik und Behörden, organisieren themenbezogene Ausstellungen oder lancieren Kunstprojekte, die sich den spezifischen Problemlagen eines Stadtteils widmen. Als frühe Ansätze und bis heute zentrale Referenzgrößen gelten in diesem Segment des künstlerischen Feldes die Aktionen und Schriften der Situationistischen Internationalen (1957–1972), einer vor allem in den 1960er-Jahren aktiven Künstler:innen- und Intellektuellengruppe. Mit methodischen Zugängen wie dem der Psychogeografie, des dérive oder des détournement suchten die Situationist:innen nach Alternativen zum kommodifizierten Verhältnis des Menschen zur modernen Stadt. Als weiteres frühes signifikantes Beispiel für eine künstlerische Intervention in städtischen Räumen sei etwa auf Martha Roslers 1989 durchgeführtes Projekt If You Lived Here: The City in Art, Theory, and Social Activism109 verwiesen, das bis heute Anregungen für eine kritische, urbanistisch orientierte Kunstpraxis bildet. Exemplarisch angeführt für eine Vielzahl an ähnlich orientierten relationalen Kunstprojekten im städtischen Raum seien Andreas Siekmanns Platz der permanenten Neugestaltung (1993, Arnheim), das Projekt Park Fiction (1994–2005, Hamburg) um den Künstler Christoph Schäfer, das Projekt der Kölner Frischmacher:innen StadtPläne StattMenschen (1995, Köln), Je et nous von Campement Urbain (2002, Paris), das Projekt Annenviertel! Die Kunst des urbanen Handelns (2009–2011, Graz) des Kunstvereins , das von Nicole Pruckermayr initiierte Kunst-, Forschungs- und Friedensprojekt Comrade Conrade (2018, Graz) sowie die Aktivitäten des amerikanischen Künstlers Theaster Gates in Chicago. Gemeinsam ist diesen urbanistisch orientierten relationalen Kunstprojekten, dass sie sich als politisch im Sinne einer expliziten Kritik an der Warenförmigkeit von Kunst, an der Vorherrschaft von ökonomischem Profitdenken sowie an sozialer Ausgrenzung verstehen. Ihre Durchführung basiert auf der Herstellung von Beziehungen auch mit solchen städtischen Akteur:innen, die sozialräumlich außerhalb des künstlerischen Feldes verortet sind – mit marginalisierten Bewohner:innen ebenso wie mit Aktivist:innen oder Stadtforschenden, die ihr politisches Anliegen der sozialen und stadträumlichen Intervention teilen. Relationale Kunst, die sich in stadträumliche Transformationsprozesse einmischt, gründet zudem – über die Forderung nach kollektivierter Teilhabe an der Stadtgestaltung hinaus – im Unbehagen der agierenden Künstler:innen und Institutionen an den exklusiven Räumen und distinktiven Artikulationsformen zeitgenössischer Kunst sowie an der Vormachtstellung des Kunstmarkts. Gesucht wird dagegen die Nähe
109 Rosler (1991): If You Lived Here.
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Relationale Kunst im städtischen Raum. Rahmen und Modi urbaner Partizipation
zum städtischen Alltag, zu Nachbar:innen und subalternen Akteur:innen, um dem künstlerischen Tun soziale Relevanz zu verleihen. Gleichzeitig, und darauf verweisen sowohl Kunstkritik als auch Stadtforschung, fordert und fördert die öffentliche Hand zunehmend künstlerische wie auch wissenschaftliche Teilhabe im Kontext von großräumigen städtebaulichen Transformationen sowie das gemeinsame Nachdenken über die Zukunft der Städte.110 Unter der Aufforderung, breite Bevölkerungsgruppen zu involvieren, werden Kunst und Wissenschaft stadtpolitisch eingesetzt als kreative und innovative Ideengeberinnen, als Instrumente zur sozialen Befriedung und lokalistischen Identitätsfindung, als Agentinnen der Tourismusindustrie oder als strategische Ablenkungsmanöver bei zeitgleich durchgeführten, kritikwürdigen Großbauprojekten. Die Zahl an Kulturfestivals, Kulturhauptstädten, Kulturstädten, Artist-in-ResidenceProgrammen, Sommerakademien oder spezifischen Ausstellungsformaten steigt stetig und bildet den infrastrukturellen Rahmen für das Engagement von lokalen und internationalen Künstler:innen, temporär vor Ort zu recherchieren, am lokalen Sozialleben zu partizipieren und die jeweiligen Bewohner:innen zur Teilhabe an künstlerischen Gestaltungsprozessen zu aktivieren. Dass mittels relationaler Kunst gleichzeitig das Image problematisierter Stadtteile umgedeutet und aufgewertet werden kann, haben die private wie öffentliche Stadtentwicklung ebenso erkannt wie die Tatsache, dass bildtaugliche Beziehungs-Formate als gewinnbringender Einsatz im interurbanen Wettbewerb um Aufmerksamkeit dienen können. Doch auch solche Stimmen tun der Beliebtheit relationaler Kunst im städtischen Raum keinen Abbruch, welche die demokratischen Möglichkeiten relationaler Kunst und den „Albtraum Partizipation“111 als postpolitisches Phänomen in Frage stellen, die Figur des „emanzipierten Zuschauers“112 den künstlerischen Aktivierungsspraktiken gegenüberstellen oder die neoliberale Ökonomie als Ursache und Profiteur partizipatorischer Formate identifizieren. Wie der Kunsttheoretiker Max Glauner in seinen Überlegungen zur Konjunktur künstlerischer Teilhabeprojekte in und außerhalb des städtischen Raums ausführt, erweist sich die Konjunktur von Partizipation (lat. Teilhabe, Teilnahme, Beteiligung) als Ausdruck einer subtilen „Gouvernementalität der Gegenwart“113 sowie als „Kernparole unserer neoliberalen Lebenswelt“114 , die nicht mehr nur im politischen Feld, sondern in sämtlichen anderen gesellschaftlichen Feldern fortgeschrittener Demokratien präsent ist.
110 Z. B. Kulturjahr Graz 2020, Kulturhauptstädte, Urban Festivals usw.; vgl. v. a. Beyes et al. (2009): ParCITYpate. 111 Miessen (2010): Nightmare of Participation. 112 Rancière (2008/2009a): Der emanzipierte Zuschauer; vgl. Kapitel 5.3 (Ästhetische Anthropologie. Idee, Kritik, Perspektiven). 113 Bröckling et al. (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. 114 Glauner (2016): Get involved, 31.
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Partizipation, so Glauner, gilt als Leitbegriff der Gegenwart. Diese karikiert er in der pointierten Sprache des Kunstkritikers und mit ironischem Verweis auf die zahlreichen zirkulierenden Zuschreibungen als „Risiko-, Erlebnis-, Multioptions-, Kontroll- oder Netzwerkgesellschaft, als reflexive Moderne, Post- oder Post-Postmoderne, als Ära des Postfordismus, Neoliberalismus oder des Empire“115 . In Politik und Wirtschaft, an Schulen und Universitäten, in der Jugendarbeit und Erwachsenenbildung, in Stadtplanung, Architektur, Design und Kunst116 signalisiert Partizipation nach Glauner das demokratische Versprechen der umfassenden Teilhabe an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen – oder kritisch gewendet: den neoliberalen Imperativ zu Eigenverantwortung und gesellschaftlichem Engagement in Zeiten brüchiger sozialer Bindungen und schwindender wohlfahrtsstaatlicher Sicherheiten. Glauner sieht zwar die Konjunktur partizipativer Angebote im künstlerischen Feld „wie zu erwarten von einer Vielzahl an Texten sekundiert“, vermisst aber „einen nachhaltig-kritischen Umgang mit dem Phänomen Partizipation […]. Eine Ästhetik, geschweige eine Theorie der Partizipation ist, trotz gut gemeinter Ansätze, bis heute nicht geschrieben worden.“117 Diesem Desiderat widmet sich Glauner mit dem Ziel einer differenzierten Ausarbeitung verschiedender Modi der Teilhabe in der Kunst. Dabei schreibt er Bourriauds esthétique relationelle zwar Pioniercharakter zu, kritisiert dessen Konzeption von relationaler Kunst jedoch gleichzeitig als „prägend für die affirmative Einschätzung der Partizipation“. Insgesamt ortet er in der Theoriebildung zur partizipativen Kunst, zu deren wesentlichen Figuren er Erika Fischer-Lichte, Juliane Rebentisch und Claire Bishop zählt,118 zwei „Lager“, die sich beide – in unterschiedlicher Lesart – auf Jean-Luc Nancy119 und Jacques Rancière120 berufen: einerseits jenes Lager, das die Autonomie der Kunst als deren zentrales Alleinstellungsmerkmal verteidigt und jeglichen Rezeptionsprozess bereits als Partizipation identifiziert, andererseits das „aktionistische Lager, das Kunst als wirkungsmächtige Waffe gegen die Versagungen der Welt in die Pflicht nehmen will“ und erst dann von Partizipation spricht, „wenn der Betrachter direkt und unmittelbar körperlich involviert wird, seine Position verlässt und zum aktiven Teilnehmer der Kunstproduktion beziehungsweise der Aufführung wird, eine Stimme und Widerspruchsrecht erhält“.121
115 Glauner (2016): Get involved, 38. 116 Verwiesen sei hier auf die steigende Zahl an Partizipations-Programmen auf europäischer, staatlicher, regionaler und kommunaler Ebene. 117 Glauner (2016): Get involved, 38. 118 Fischer-Lichte (2004/2017): Ästhetik des Performativen; Rebentisch (2003): Ästhetik der Installation; Bishop (2006): Participation. 119 Nancy (1986): La communauté désœuvrée. 120 Rancière (2008a): Le spectateur émancipé. 121 Glauner (2016): Get involved, 38.
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Relationale Kunst im städtischen Raum. Rahmen und Modi urbaner Partizipation
Glauner begegnet dem von ihm postulierten Desiderat einer Differenzierung künstlerischer Partizipationsprojekte mit der Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Modi der Partizipation: der Kollaboration, der Kooperation und der Interaktion. Diese zeigen verschiedene Arten von Relationalität an und treten häufig in einem Projekt gleichzeitig als „partizipative Cluster“122 auf. Glauner generierte den Entwurf der drei Partizipationsmodi Kollaboration, Kooperation und Interaktion aus der klassischen Trias der Ästhetik, nämlich der Unterscheidung zwischen Produktionsästhetik (ausgehend von den Künstler:innen und ihren Produktionsmitteln), Rezeptionsästhetik (ausgehend vom Publikum und den verschiedenen Gewohnheiten der Wahrnehmung) und Werkästhetik (ausgehend vom Kunstwerk, seiner formalen Beschaffenheit und seinen historischen Bezügen). Als wesentliches Kriterium für die Einschätzung des jeweiligen Partizipationsmodus weist Glauner die Position aus, die das Publikum und andere teilhabende Laien in Relation zu den Künstler:innen einnehmen, „sprich, welche produktive Rolle ihnen am Zustandekommen des Werks oder der Aufführung jeweils beigemessen wird“.123 Im Detail beschreibt Glauner die kollaborative Partizipation als Beziehungsform zwischen Kunstschaffenden und Teilnehmenden, die einen offenen Prozess der Entscheidungsfindung im Sinne gleichberechtigter Mitbestimmung an Verlauf und Ergebnissen anstrebt. Er leitet diesen Modus insofern aus der produktionsästhetischen Perspektive der Kunstbetrachtung ab, als alle Teilnehmenden die Position von Produzent:innen einnehmen. „Ausgangspunkt und Rahmenbedingungen sind von allen Beteiligten jederzeit verhandelbar und neu zu definieren.“124 Kollaborative Partizipation fasst Glauner auch als „Ko-Produktion“ durch die heterogenen Akteur:innen (lokale Gemeinschaften, Vereine und Institutionen), wobei die Künstler:innen mehr eine moderierende denn kontrollierende Rolle einnehmen. Als kooperative Partizipation bezeichnet Glauner jene Beziehungsform, bei der die Kunstschaffenden zwar mit anderen zusammenarbeiten, Verlauf und Ergebnis des Produktionsprozesses prinzipiell offenlassen, die Entscheidungshoheit über den Projektverlauf allerdings behalten. Den Modus der Kooperation125 leitet Glauner insofern aus der werkästhetischen Perspektive der Kunstbetrachtung ab, als die Teilnehmenden selbst als Kunstwerk, als lebendiger Teil der von den Kunstschaffenden gestalteten Werke gedacht werden. Die Steuerung der Zusammenarbeit bleibt weitgehend in der Hand der Künstler:innen, die wie Spielleiter:innen agieren, entscheidende Weichen stellen und flexibel auf Impulse der teilnehmenden Akteur:innen reagieren. Kooperative Partizipation zeigt sich zum Beispiel im Bereich der Kommunikations- und Organisationsarbeit im Zuge von Verhandlungen mit lokalen Behörden und Institutionen, um 122 123 124 125
Glauner (2016): Get involved, 53; vgl. Christoph Schlingensief, Jonathan Meese oder Christoph Büchel. Glauner (2016): Get involved, 48. Glauner (2016): Get involved, 48. Vgl. z. B. Jeremy Deller, Santiago Sierra, Rirkrit Tiravanija oder Stephen Willats.
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etwa Widerstände gegen ein Projekt zu brechen, Baugenehmigungen einzuholen oder lokale Firmen zu gewinnen. Im Modus der interaktiven Partizipation kann das Publikum in einem vorgegebenen Werk-Setting nach festgelegten Kriterien selbst tätig – oder lediglich in kritischer Reflexion einer bereits vollendeten künstlerischen Arbeit habhaft – werden. Entscheidungsmöglichkeiten und -befugnisse sind klar geregelt und bewegen sich entsprechend einer vordefinierten Struktur. Den Modus der Interaktion126 entwickelt Glauner insofern entlang der rezeptionsästhetischen Perspektive von Kunstwahrnehmung, als bereits eine kritische Rezeption von Kunst als Interaktion und damit als Partizipation gefasst wird. Änderungen im künstlerischen Setting werden „nur in einem vorgegebenen Rahmen wie Zurufe im Theater oder das Aktivieren bestimmter Algorithmen“ zugelassen. Vielmehr intendiert der Modus der Interaktion „die Reflexion auf mögliche Handlungsspielräume, die ein künstlerisches Display eröffnet. […] Sie ist darüber hinaus als der reflektierte Nachvollzug der Entstehung des Kunstwerks oder der Aufführung und damit die kritische Reflexion auf die ins Werk gesetzte Möglichkeit von Teilhabe überhaupt zu charakterisieren“.127
Die Teilhabe des Publikums oder jene von anderen, auch kunstfernen sozialen Akteur:innen am künstlerischen Gestaltungsprozess, so lässt sich aus Glauners Ästhetik der Partizipation schließen, bemisst sich nicht daran, ob jemand „einen Hammer in die Hand nimmt und an einer Hütte zimmert, von der keiner weiß, wie sie am Ende aussehen wird, oder ob er an einer Demonstration vor dem Bundeskanzleramt teilnimmt“. Vielmehr entscheidet die „Anteilnahme an einem künstlerischen Vorgang“ und damit die „Awareness für einen freigesetzten Prozess – sei er nun ausschließlich interaktiv, kooperativ oder kollaborativ angelegt“128 – über die Frage der Partizipation. Für die hier vorgenommene Entfaltung des Konzepts der relationalen Kunst zur analytischen Annäherung an Konnektivitäten und Konflikte in den Projekten Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale bieten Glauners Überlegungen zur Ästhetik der Partizipation produktive Anknüpfungspunkte. Im Besonderen erweisen sie sich für die spezifische Situation ästhetischer Allianzbildungen im Kontext stadträumlicher Transformationen als analytisch anschlussfähig, da Glauner den gouvernementalen und ökonomischen Voraussetzungen von relationaler Kunstproduktion explizit Aufmerksamkeit schenkt. Außerdem bietet sein Hinweis, dass der Begriff der Partizipation weit über das künstlerische Feld hinaus als rhetorische Leitfigur der Gegenwart dient, eine passende Klammer für die Analyse der Allianzbildung zwischen Kunst und
126 Vgl. z. B. Eva Hesse und Carsten Höller. 127 Glauner (2016): Get involved, 49. 128 Glauner (2016): Get involved.
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Erster Fall. Jean-François Prost: Adaptive Actions, London, 2007–08
Stadtforschung. Gemeinsam mit Bishops Fokus auf relationale Antagonismen in den künstlerisch initiierten Beziehungswelten sowie Rebentischs und Rancières Überlegungen zur Konzeption des Verhältnisses zwischen realer und fiktionaler Welt in der relationalen Kunst, bildet Glauners Theoriebildung eine produktive Perspektivierung, die im folgenden Kapitel den Blick auf die drei Fallbeispiele leitet.
2.3
Erster Fall. Jean-François Prost: Adaptive Actions, London, 2007–08
Abb. 6 Workshop und Perimeter Walk am blauen Zaun, London, 2008. Foto: Jean-François Prost.
Winter 2008, Baustelle des Olympic Park, East London: Vor dem bis zu drei Meter hohen Bauzaun, gestrichen in markantem Cyan, ist ein Gartenzwerg129 postiert. Er hat exakt dieselbe Farbe wie der Blue Fence und ballt seine Hände kämpferisch zu Fäusten. Entlang des Zauns finden sich noch andere blau bemalte Alltagsgegenstände wie Stühle und Hocker, ein Schaukelpferd und ein Kinderauto aus Plastik, vereinzelt auch blau eingefärbte Gräser und Baumstämme. Diese Artefakte sind nicht – wie das Blau des Zauns – Teil des olympischen Corporate Designs, sondern erste sichtbare Ergebnisse des Kunstprojekts Adaptive Actions, das der kanadische Künstler Jean-François Prost im Rahmen seines Artist-in-Residence-Aufenthalts (September 2007 bis März 2008) an der Londoner Kunstinstitution [space] (Mare Street, London Hackney) entwickelt hat. Mittels der Methode der Adaptive Actions sucht Prost nach individuellen Spielräumen in den hoch kontrollierten Städten der Gegenwart, wobei sein besonderes Interesse jenen anonymen Praktiken gilt, die den gegebenen Raumstrukturen subtil alternative Gebrauchsformen entgegensetzen: Trampelpfade, Schlupflöcher in Zäunen, provisorische Treppenkonstruktionen oder Graffiti-Botschaften, um hier nur einige wenige Beispiele für die Vielzahl an anonymen Adaptive Actions im Prost’schen Sinne zu nennen. Auch Prosts Einfärbung von vorgefundenen Alltagsgegenständen am blauen Zaun versteht
129 Vgl. Abbildung 2, Kapitel 1 (Einleitung. Übersetzungsarbeit in Kunst und Kulturanthropologie).
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sich als Beispiel für das, was er als „space-activating micro acts“ benennt, um künstlerische Kontrapunkte zum werbewirksamen Baustellendesign zu setzen. Nachdem der Künstler bei einem seiner Erkundungsgänge am Blue Fence eine leere Farbdose gefunden hatte, die ihn den genauen Blau-Code des olympischen Corporate Designs entschlüsseln ließ, besorgte er sich Farbe im gleichen Ton und übertünchte Fundgegenstände, Bauteile und Pflanzen in der unmittelbaren Umgebung mit exakt demselben Farbwert. Die Farbe und ihre Träger setzte Prost nicht nur zur Erprobung seines Konzepts der Adaptive Actions ein, vielmehr wirkten die blau bemalten Objekte und ihre visuellen Repräsentationen auch als symbolische Leitfiguren in seinen Collaboration-Events. Während seines halbjährigen Aufenthalts in London lud der Künstler zweimal zum öffentlich ausgeschriebenen Workshop und Perimeter Walk ein. Ziel dieser Veranstaltungen, die als integraler Bestandteil seiner künstlerischen Agenda dienten, war die Herstellung von Verbindungen zwischen urbanistisch interessierten Akteur:innen (vor allem Bewohner:innen, Stadtforschende, Künstlerkolleg:innen und Architekt:innen), um in kollaborativer Absicht seinen Ansatz zu diskutieren, weiterzuentwickeln, zu praktizieren und weltweit zu verbreiten. Die Gruppe an Interessierten war mit dreizehn Männern und vier Frauen überschaubar und relativ homogen. Die Teilnehmenden waren zwischen 25 und 50 Jahre alt, durchwegs kunstaffin, vertraut mit kritischen urbanistischen Diskursen und akademisch gebildet. Von der Veranstaltung hatten sie entweder durch persönliche Kontakte zum Künstler im Rahmen seiner Residency oder durch die Ankündigung des Events auf der Homepage der Kunstinstitution [space] erfahren. Dort fand sich eine unscheinbare Fotografie, die eine provisorische Treppenkonstruktion zur Überwindung eines kleinen Niveauunterschieds im öffentlichen Straßenraum zeigte, ergänzt durch einen kurzen Text, dass Prost für Freitag, den 22. und Samstag, den 23. Februar 2008 zu „AA Open Houses and Workshops – in London East End“ einlädt. Wie auf der Website war auf Aushängen und Flyern vor Ort, in lokalen Zeitungen und Online-Ankündigungen folgender Call for Participation zu lesen: „Artist in residence Jean-François Prost will be holding free workshops at SPACE for interested participants as part of his Adaptive Actions project. The Adaptive Actions project challenges organized space as well as the movements it imposes and is based on a call for collaboration open to all. With a developing website and publication planned later in the year these workshops provide an opportunity for artists and individuals […] to exchange ideas, create work and collaborate.“130
In Reaktion auf diesen Call for Participation trafen sich an zwei Terminen im Februar 2008 insgesamt knapp zwanzig interessierte Personen in den Räumlichkeiten von
130 https://www.artrabbit.com/events/adaptative-actions-1, Zugriff: 18.06.2020.
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[space] im Londoner Bezirk Hackney, um mehr über Prosts Projekt zu erfahren und einen gemeinsamen Spaziergang um den blauen Bauzaun zu unternehmen. Die Hälfte der Teilnehmenden kannte sich von anderen [space]-Events oder arbeitete in der Institution mit, die anderen informierten sich regelmäßig über das [space]-Programm und die stattfindenden Nachbarschaftsaktivitäten. Einer der lokalen Bewohner:innen beschrieb sein Interesse an der Veranstaltung als strategisch, inhaltlich und methodisch motiviert wie folgt: „It was just a meeting of various things what brought me to it. One, I attended that project for social networking. I work as supporting media artist and […] one motivation was a form of advertising, generating business. Two: the politics of being engaged with the Olympics. And the awareness of what’s gonna be called the Cultural Olympiad. The Olympics agenda drives its own festival, its own culture. And quite a few of my friends are working as artists as well. […] And the third reason is, I am quite interested in mapping. And the walk itself was a kind of a mapping exercise.“131
Auch alle anderen Gäste nannten als Hauptmotiv ihrer Teilnahme ein spezifisches Interesse an den stadträumlichen Transformationen im Vorfeld der Olympischen Spiele 2012 und damit an dem, was Prost als kollektiven „Olympic Perimeter Walk and conversation: session exploring singular ways of thinking and activating disused, devided and controlled areas“ im Bereich des Blue Fence angekündigt hatte. Sämtliche Teilnehmenden wussten aufgrund von medialen Berichterstattungen, dicht gestreutem Marketingmaterial, Informations- und Diskussionsveranstaltungen oder auch durch eigenen Lokalaugenschein über die Vorgänge im Lower Lea Valley Bescheid, alle waren – wenngleich unterschiedlich intensiv – in die Geschehnisse involviert. Die lokalen Akteur:innen verfolgten die Planungen, seit die britische Hauptstadt im Jahr 2005 den Zuschlag für die Olympischen Spiele erhalten hatte, vor allem aber seit Beginn der Bauarbeiten samt Errichtung eines knapp zwanzig Kilometer langen Zauns um die Baustelle des Veranstaltungsareals im Jahr 2007. Der Workshop selbst gestaltete sich dialogisch, kollegial und war sowohl theoretisch als auch raumpraktisch orientiert. Nach einer kurzen Einführung durch Jean-François Prost und der Verteilung von Informationsmaterial samt Plan des Gebiets mit markiertem Streckenabschnitt brach die Gruppe um etwa 14:00 Uhr mit der öffentlichen Buslinie zum Olympic Walk ins Explorationsgebiet auf. Im Fokus stand die „blue wall, adjacent to Pudding Mill Lane Station and surrounding area“.132 Bei trübem, kühlem Wetter führte Prost die Teilnehmenden an einen Abschnitt des Bauzauns, der einerseits die visuelle und physische Dominanz der cyan gestrichenen
131 Interview, 24.06.2008. 132 Informationsmaterial, von Prost für die Teilnehmenden zur Verfügung gestellt.
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Sicherheitsarchitektur zeigte, andererseits Einblicke in das künftige Olympia-Areal ermöglichte. Angeregt durch die gebotenen Perspektiven auf Blue Fence und Baustelle begannen die mit dem Gelände vertrauten Personen gleich zu Beginn darüber zu erzählen, was für sie durch die Transformation verloren geht. Erinnerungen aus der eigenen Kindheit und Jugend wurden ebenso ausgetauscht wie Wissen um widerständige Schrebergärtner:innen, delogierte Künstler:innen, eine Initiative, die streunende Katzen vor den Baumaschinen rettete, oder Angestellte der Olympic Delivery Authority (ODA), die den Zustand des blauen Zauns permanent kontrollierten und bei vandalistischen Akten einschritten bzw. Ausbesserungsarbeiten vornahmen. Neben den subjektiven Erzählungen diente die fotografische Dokumentation von Spaziergang und Zaun als verbindende Bildpraxis. Im Anschluss an den Rundgang lud der Künstler zu einem Abendessen in der Canadian Residence ein. In seiner von [space] bereitgestellten Unterkunft am Rande der Parkanlage London Fields servierte er selbst zubereiteten Salat und Getränke. Es wurden Adressen ausgetauscht und mögliche weitere Kollaborationen angedacht. Prost kündigte die Herausgabe einer Publikation zu Adaptive Actions (UK Edition) an, in die er auch Textbeiträge der Teilnehmenden in Form von theoretischen Reflexionen oder subjektiven Erfahrungsberichten zu integrieren gedachte. Das Wissen von Stadt- und Raumexpert:innen, aber auch das Alltagsund Erfahrungswissen der lokalen Bewohner:innen war dabei gefragt, sodass sich auf Anfrage des Künstlers einige spontan bereit erklärten, auch als Autor:innen an der Publikation mitzuwirken. Sie wurden in Folge regelmäßig über den Projektfortschritt informiert und blieben damit über längere Zeit hinweg mit Jean-François Prost und seiner Arbeit in Verbindung. Eine weitere Bild- und Wissenspraxis, die bereits im Workshop präsentiert wurde und bis heute durch eine andauernde Konnektivität zwischen den Teilnehmenden ermöglicht wird, ist die interaktive virtuelle Plattform aa.adaptiveactions.net. Sie dient dem Hochladen und Kommentieren von Fotografien mit vorgefundenen oder selbst entwickelten Adaptive Actions133 und bietet bis heute eine detaillierte Dokumentation sämtlicher Projekte des Künstlers in Wort und Bild. Begleitende Publikationen sind ebenso open access abrufbar wie Informationen zu seinen Workshops und zu Ausstellungen sowie Veranstaltungen in Mexiko, Kanada, Madrid, London oder Tokio. Den institutionellen Rahmen für Prosts relationales Kunstprojekt im Kontext städtischer Transformation bot die bekannte Londoner Kunstorganisation [space]. Sie bildete mit ihrem Artists-in-Residence-Programm für kanadische Künstler:innen, mit Aktivitäten im Rahmen der Cultural Olympiad sowie mit ihrer Geschichte des Einschreibens in stadträumliche Transformationen durch künstlerische Intervention eine ideale Ausgangsbasis für Prosts partizipatorischen und ortsbezogenen Ansatz. Gegründet 1968 von einer Gruppe bildender Künstler:innen um Peter Townsend, Peter Sedgley und
133 www.adaptiveactions.net, Zugriff: 29.03.2018.
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Bridget Riley, versteht sich [space] als „leading visual arts organization providing creative workspace, advocacy, support and promoting innovation“ sowie als erfolgreiches Unternehmen in den Bereichen „studios, artist development, exhibition programme, art + technology, learning“.134 Eine kurze Filmdokumentation aus den frühen 1970erJahren, die auf der Unternehmenswebsite135 zu sehen ist, gibt in stimmungsvollen Bildern und Erzählungen einen Einblick in die ursprünglichen Ziele und Motive der Künstler:innen-Initiative. Auf der Suche nach Arbeitsraum mietete sich eine Gruppe, die sich großteils aus Maler:innen und Bildhauer:innen mit viel Raumbedarf zusammensetzte, in den brachliegenden St Katharine Docks in Sichtweite zur Tower Bridge an der Themse ein. Vor dem Hintergrund der einprägsamen Docklands-Kulisse erzählen verschiedene Protagonist:innen, was sie damals suchten: „What they basicly need is space. What they got is space. Not domestic space, in the corner of a room – there is something better, something bigger, with a better filter.“136
Diesen nicht domestizierten Raum fanden die Künstler:innen im brachliegenden Hafengebiet an der Themse vor, in das sich die Folgen postindustriellen Wandels Ende der 1960er-Jahre bereits deutlich sichtbar eingeschrieben hatten. Inspiriert durch Besuche von Künstler:innen-Studios in New Yorker Lofts, verfassten sie ein Konzeptpapier zur Neunutzung einer leerstehenden Lagerhalle in den Docklands, handelten mit dem Eigentümer (Greater London Council) günstige Mietkonditionen aus und verwandelten den Ort einstiger gewerblicher Betriebsamkeit in einen Ort künstlerischer Produktivität. Wie die Maler:innen und Bildhauer:innen im Dokumentarfilm deutlich hervorheben, war es nicht nur der freie, weite, preiswerte Raum, den sie für ihre Arbeit suchten und fanden, sondern vor allem die spezielle Atmosphäre in den Docklands. Diese wird von den bewegten Bildern des Dokumentarfilms in jeder einzelnen Sequenz stimmungsvoll in Szene gesetzt: „This was what we really wanted!“, spricht etwa Peter Townsend, postiert im Inneren des weiträumigen Speichergebäudes, in das effektvoll helles Tageslicht einfällt. Der Bau, den sich die [space]-Künstler:innen 1968 aneigneten, steht heute noch. Die etwa 80 Raumpionier:innen mussten allerdings bereits 1970 wieder abziehen, um den Umbau- und Aufwertungsplänen der Investor:innen Platz zu machen. Heute trifft man in den St Katharine Docks zwischen Neubauten und generalsanierten Altbauten vor allem Bootseigentümer:innen, deren Schiffe in der modernen Marina vor Anker liegen, Geschäftsleute, die hier in repräsentativen Büroräumen mit Blick auf die Tower Bridge residieren oder in den hochpreisigen Wohnungen an der Themse leben, sowie
134 www.spacestudios.org.uk, Zugriff: 29.03.2018. 135 www.spacestudios.org.uk, Zugriff: 29.03.2018. 136 www.spacestudios.org.uk/about, Zugriff: 29.03.2018.
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Tourist:innen und Londoner:innen, die die Kultur- und Konsumangebote vor der historisierenden Kulisse am Wasser schätzen. Zwar finden sich auch einige wenige Graffiti, Spuren von offiziellen Kreativprojekten und skulpturale Objekte in den St Katharine Docks – Künstler:innen, die einen nicht-domestizierten Raum als inspirierende Arbeitsstätte suchen, sind in der Gegenwart allerdings nicht mehr anzutreffen. Nach dem Abzug aus den St Katherine Docks begab sich die Künstlergruppe [space] erneut auf die Suche nach leerstehenden, ehemals gewerblich genützten Bauten. In Zusammenarbeit mit dem Greater London Council bzw. den entsprechenden Bezirksämtern, dem Arts Council sowie mit privaten Eigentümer:innen verwandelt [space] bis heute zahlreiche Urban Wastelands in leistbare Künstlerstudios. Gegenwärtig managt das Unternehmen londonweit etwa 275.000 Square Feet an Ateliers für über 750 Künstler:innen in mehr als zwanzig Gebäuden und bietet vor Ort jeweils ein öffentliches Kulturprogramm mit dem Anspruch, die lokale Bevölkerung zu erreichen. Es versteht sich als Social Enterprise und „has developed an innovative programme offering artist support (exhibitions, residencies and bursaries, mentoring and an Art + Technology programme) as well as learning and participation programmes inspiring communities around its studio sites.“137
Dass [space] die jeweiligen Räumlichkeiten bis heute lediglich anmietet, steht insofern unter Kritik, als die Gebäude nach erfolgter Wertsteigerung teils wieder für andere Nutzungen freigegeben werden und die eingemieteten Künstler:innen im Zuge der mitangeregten Aufwertungsprozesse absiedeln müssen. Neben seiner Aktivität als Makler und Vermieter spielt [space] mit dem Headquarter an der Mare Street eine aktive Rolle im Kulturleben Hackneys. Es betreibt unter anderem eine Galerie, ein Artist-in-Residence-Programm samt Wohn- und Arbeitsraum und ein Collaboration-Programm, das sich der lokalen Nachbarschaft zuwendet. Von 2005 bis 2012 widmete sich die Organisation den stadträumlichen Transformationen im Zuge der Errichtung des Olympic Park, initiierte Informationsveranstaltungen für Künstler:innen und Bewohner:innen, startete Arbeitsprogramme und beteiligte sich aktiv an der Cultural Olympiad. In diesem gouvernementalen Machtgefüge konnte Prosts Projekt Adaptive Actions durchgeführt werden und Sichtbarkeit erlangen. Auf biografischer und ästhetischer Ebene basierte der Erfolg seiner Bewerbung für das jährlich ausgeschriebene Künstler:innenstipendium auf seinem multidisziplinären Werdegang zwischen Architektur, Design und Kunst sowie auf seinem Interesse an Gestaltung, Gebrauch und visueller Repräsentation städtischen Raums. Seit seinen Studien des Environmental Design an der UQAM in Montreal (B. A. in Design de l’environnement, 1991) und der Architektur
137 www.spacestudios.org.uk/about, Zugriff: 29.03.2018.
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an der Carleton University in Ottawa (BAarch, 1995) untersucht Prost das Verhältnis zwischen Mensch und Raum, mit Fokus auf urbane Transformationsgebiete im internationalen Vergleich. Mittels feiner Eingriffe und alternativer Sehanweisungen fordert er den alltäglichen Blick auf die Stadt heraus, konzentriert vor allem auf „new urban research territories on the fringe of areas rarely explored by artistic intervention and améngement – neglected, underminded spaces, and those overcontrolled, sterile, with no apparent specificity“138 . Mit temporären wie auch dauerhaften Mikro-Aktionen und Interventionen wendet er sich von konventionellen Planungspraktiken, geprägt von Werten wie Fortschritt, Sauberkeit, Ordnung und Sicherheit, ab, um sich im hybriden Raum zwischen Design, Architektur, Urbanismus und Bildender Kunst zu platzieren. Im Rahmen von kollektiven Wahrnehmungsspaziergängen in städtischen Transformationsgebieten versucht er, Raumqualitäten und Aneignungsformen bewusst zu machen und zu stärken, die in den Augen von Investor:innen und Politik wenig Wertschätzung erfahren. Das künstlerische Feld bietet Prost dabei die Möglichkeit, die gebaute Umwelt auf „nicht-disziplinäre Weise“ neu zu denken, wobei er Kunst als „act of resistance, a state of mind, a device to enunciate and exchange ideas“139 konzipiert. Sein Interesse gilt einer egalitären und demokratisch gedachten „presence of art everywhere and at any time“, deren Realisierung er in den zahlreich vorgefundenen subtilen, alltäglichen Rauminterventionen vorfindet – und deren Aktivierung er in Form von Adaptive Actions immer und überall vorantreiben will. Wesentlicher Motor dafür ist für Prost das Herstellen von Beziehungen zwischen Menschen, Räumen und Dingen. Adaptive Actions widmen sich genau diesem Anliegen, nicht nur Impulse für singuläre Ereignisse alternativer Raumaneignung zu geben, sondern die zahlreichen vorgefundenen oder durchgeführten Aktionen sichtbar zu machen und auf einer Online-Plattform zu verknüpfen. Diese „fragments of action and engagement in the city“ versteht er als „signs of participation“, die in Relation zueinander ein „reservoir of actions“ bilden, getragen von der Idee „of creating networks of exchange around them“. „Part of the idea is that an action by a single individual is already an adaptation of a context, and in that sense it is already collective. It becomes an opportunity for others to appropriate those actions, or fragments of actions, for themselves and to relocalize and/or recontextualize them.“140
138 http://jean-francoisprost.blogspot.co.at/2008/11/franais-jean-franois-prost-est-un.html, Zugriff: 29.03.2018. 139 http://jean-francoisprost.blogspot.co.at/2008/11/franais-jean-franois-prost-est-un.html, Zugriff: 29.03.2018. 140 Massumi et al. (2010): Action Fragments for the City, 1.
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Damit wendet sich Prost von der herkömmlichen Gebrauchsweise des Begriffs Adaptierung ab, die von einer vorgegebenen Ausgangsform mit determinierten Möglichkeiten der Bearbeitung ausgeht. Der Architekturtheoretiker Brian Massumi beschreibt Prosts Adaptive Actions als Praxis der Produktion überraschender Situationen außerhalb festgefügter Zusammenhänge, welche die Betrachtenden dazu auffordern, den Kontext – und damit auch das Objekt – erst zu erzeugen bzw. zu ergänzen. Mit Bezug auf Prosts Blue-Fence-Interventionen der blau bemalten Gartenzwerge, Schaukelpferde und Sitzhocker hält er fest: „The blue made the objects stand out from the context. They became cut-outs, things that didn’t quite belong. Because they stood out, because they were oddly out of place, presuppositions about their meaning and their value were suspended. The blue also made them interesting and inviting. They were like fragmentary attractors. They invited people to reconstruct a context for them that gave them a new meaning. But not in the abstract. The new meaning was the way in which they convoked people’s actions to organize themselves around them. They had no meaning outside that convocation, outside the collective activity they triggered.“141
Der kämpferische Gartenzwerg und seine blau bemalten Konsorten lassen sich mit Brian Massumi als Akteure fassen, die Konnektivitäten in relationalen Kunstprojekten stärken und kollektive Aktivitäten anregen wollen. Sie sind – wie auch der Workshop mit Walk, die Web-Plattform www.adaptiveactions.net, Prosts Film All aboard oder die Publikation zum Projekt – konnektivitätsstiftende Teile eines künstlerisch initiierten Beziehungsgefüges, das sich mit Bourriaud als relationale Kunst bezeichnen lässt. Damit bewegt sich Prost in einem künstlerischen Diskursfeld, das die klassischen Konzeptionen von Werk, Künstler:in und Publikum insofern herausfordert als nicht ein isoliertes Original von einem genialen Schaffenden für gebildete Rezipient:innen hergestellt und zirkuliert werden will. Vielmehr geht es dem Künstler um eine radikale Demokratisierung und Kollektivierung des kreativen Prozesses, der in letzter Konsequenz auf die Auflösung von Kunst als distinkte soziale Praxis abzielt. Als pionierhaft für diese Entwicklung betrachtet Prost die anonymen stadträumlichen Mikro-Praktiken, die mittels kleiner urbanistischer Nadelstiche – und den großen Gesten zum Trotz – ihr demokratisches Recht auf Stadt und öffentliche Mitgestaltung des städtischen Raums ausleben.
141 Massumi et al. (2010): Action Fragments for the City, 2f.
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Zweiter Fall. Fattinger/Orso/Rieper: BELLEVUE. Das gelbe Haus, Linz, 2009
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Zweiter Fall. Fattinger/Orso/Rieper: BELLEVUE. Das gelbe Haus, Linz, 2009
Abb. 7 BELLEVUE. Das gelbe Haus, Linz, 2009. Foto: Judith Laister.
A7, Stadtautobahn Linz, 25. Juni bis 13. September 2009: Über der Einfahrt in den Bindermichl-Tunnel, Fahrtrichtung Norden, thront ein schlankes, signalgelbes Haus. Dreigeschoßig, mit mehreren Balkonen und Terrassen, Satteldach und Gaupen, trägt es den großformatigen Schriftzug BELLEVUE in der Geländerzone und das Kulturhauptstadt-Logo für Linz09 im Giebelfeld. Alle Autofahrer:innen, die auf diesem meistbefahrenen Streckenabschnitt nach und durch Linz unterwegs waren, blickten geradewegs auf das ungewöhnliche und gleichzeitig vertraute Zerrbild eines klassischen Einfamilienhauses. Im Rahmen des einjährigen Events Linz09, Kulturhauptstadt Europas, war es im Landschaftspark auf der neu errichteten Überplattung der bekannten Verkehrsstrecke aufgestellt worden. Entworfen und 82 Tage lang durchgehend mit Veranstaltungen bespielt wurde diese Raumintervention von Peter Fattinger, Veronika Orso und Michael Rieper, einem zwischen Architektur, Kunst und Design verorteten Kollektiv. Geplant als temporäre, niederschwellige Begegnungs- und Kommunikationszone im touristisch unbedeutenden Linzer Stadtteil Bindermichl/Spallerhof, diente das Projekt BELLEVUE. Das gelbe Haus gleichzeitig als Wahr- und Werbezeichen für Linz09: „ein
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schmückender Aufsatz des Autobahnportals […]. Es steht dort, wie ein Mercedesstern auf der Motorhaube, kurz vor dem Abgrund zur Straße, immer ausgesetzt und in Gefahr“142 . Im Verlauf des Kulturhauptstadtjahrs entwickelte sich BELLEVUE zu einem der beliebtesten Bildsujets und meistbesuchten Projekte von Linz09. Das gelbe Haus avancierte sowohl zum Treffpunkt für die lokale Nachbarschaft als auch zum Magnet für internationale Kulturtourist:innen. Verantwortlich für den hohen Aufmerksamkeitsgrad zeichneten seine distinkte – und doch populäre – Form („das gelbe Haus kokettiert mit seinem Satteldach“143 ), eine Vielfalt an kulinarischen und raumästhetischen Angeboten sowie ein kontinuierliches Programm mit Gästen aus der Kunst- und Kultur-, ebenso wie aus der lokalen Freizeit- und Vereinsszene. „So entsteht BELLEVUE als Freiraum, der allen offen steht und als Volkshaus, Jugendzentrum, Galerie, Pension, Gasthaus oder einfach nur als Ausflugsziel in einem fungiert“144 . Gegen Projektende formierte sich eine breit unterstützte Medienkampagne, die Stimmung für den Erhalt des gelben Hauses machte. Wenngleich die Initiative erfolglos blieb und das gelbe Haus nach Projektende wieder abgetragen wurde, bespielte ein Folgeprojekt mit dem Titel Déjà vu im Juli 2011 den nahen Kreisverkehr „A7, Muldenstraße“. Ein dichtes partizipatives Veranstaltungsprogramm145 machte den urbanen Nicht-Ort im Zentrum eines Kreisverkehrs zur temporären Bühne und bot den Bewohner:innen wie bei BELLEVUE. Das gelbe Haus die Möglichkeit der Teilhabe an einem künstlerisch initiierten Beziehungsgefüge – und darüber hinaus eine neue Wahrnehmungsperspektive auf den vertrauten Ort des Kreisverkehrs. Dass ein alltägliches Park-Areal an der städtischen Peripherie im Zuge des Kulturhauptstadtjahrs zu einem temporären Hauptschauplatz künstlerischer Aktivität wurde, resultierte aus den stadträumlichen Transformationen eines von der Bevölkerung geforderten Großbauprojekts. Die Übertunnelung Bindermichl/Spallerhof (2005 eröffnet) verband die beiden bislang durch die Autobahn getrennten Bezirke und deren Bewohner:innen durch einen geräumigen Landschaftspark. Dieser neu geschaffene Erholungsund Begegnungsraum stellte sowohl für die städtische Politik und Verwaltung als auch für das beauftragte Kollektiv Fattinger/Orso/Rieper ein attraktives Gebiet für Forschung und Intervention dar. Gleichzeitig garantierte der exponierte Standort des gelben Hauses an der meistbefahrenen Stadteinfahrt nach Linz ein weithin sichtbares Werbezeichen für die Kulturhauptstadt Linz09, die darüber hinaus – entsprechend ihres öffentlichen Auftrags der Demokratisierung von Kulturangeboten – ein Bevölkerungssegment an der städtischen Peripherie erreichen konnte. Unter diesen gouvernementalen und institutionellen Voraussetzungen wirkte BELLEVUE als eines der höchst dotierten Projekte des
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Fattinger et al. (2010c): Oberhalb der Stadtautobahn, 22. Fattinger et al. (2010c): Oberhalb der Stadtautobahn, 21. Fattinger et al. (2010c): Oberhalb der Stadtautobahn, 26. Kuratiert von Johanna Reiner vom Künstlerkollektiv „collabor.at“.
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Zweiter Fall. Fattinger/Orso/Rieper: BELLEVUE. Das gelbe Haus, Linz, 2009
Kulturhauptstadtjahrs für drei Monate lang als Kunstwerk und Kunstschauplatz, Treffpunkt und Kommunikationszone für Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft, Interessen und akademischer Felder. „Wir wollen den Versuch unternehmen, mit unterschiedlichen kulturellen Interessen an einund demselben Ort gemeinsam zu arbeiten. Einerseits laden wir AnrainerInnen ein, bei Bellevue zu Gast zu sein und mitzuwirken. Andererseits arbeiten KünstlerInnen und WissenschafterInnen vor Ort und beziehen sich mit ihren neu entstehenden Konzepten und Werken auf die Befindlichkeiten am Bindermichl/Spallerhof.“146
Ziel ist es, so das BELLEVUE-Team, „Phänomene des urbanen Lebens und Formen der Kommunikation vor Ort zu hinterfragen (…), die Sichtweise auf einen bestehenden Ort zu verändern“, vor allem aber „soziokulturelle Interaktion von AnrainerInnen, GastkünstlerInnen und BesucherInnen“ zu initiieren, wobei Fattinger/Orso/Rieper selbst regelmäßig vor Ort und aktiver Teil des Beziehungsgefüges waren. Für knapp drei Monate wurde täglich von 11:00 bis 24:00 Uhr Programm gemacht. Die BELLEVUE Kantine bot von 12:00 bis 23:00 Uhr variierende, frisch zubereitete Gerichte; Schüler:innen der HLFS Elmberg legten einen BELLEVUE Garten an; im BELLEVUE Fahrradverleih konnten sich Gäste des gelben Hauses Räder zur Erkundung der städtischen Umgebung ausborgen; mit dem BELLEVUE Magazin erschien ein vor Ort produziertes Bindermichl/Spallerhof-Druckwerk mit Informationen aus der Gegend; bei den regelmäßig angebotenen BELLEVUE Workshops wurden kostenlos verschiedene Aktivitäten (vom Stencil-Workshop über Mix- und Scratchtechniken bis hin zu Butoh und Kochkursen) angeboten; und der BELLEVUE Audioguide konnte für kostenlose Hörexkursionen in die Umgebung gratis ausgeliehen werden. Jeden Montag wurde BELLEVUE zum Kino; dienstags fand jeweils eine Talkshow zum Mitreden statt, die live aufgezeichnet und im lokalen Fernsehen übertragen wurde (BELLEVUE erzählt); am Mittwochabend legten DJs unterschiedliche Musik auf (BELLEVUE legt auf ); jeden Donnerstag forderte BELLEVUE kocht zum Austausch und gemeinsamen Kochen von Lieblingsrezepten auf; am Freitag bot BELLEVUE tanzt „Tanzvergnügen für jeden Geschmack“; der Samstag war der Live-Musik gewidmet und versprach „Saturday Night Fever der Extravaganz“ (BELLEVUE spielt auf ); und sonntags lud BELLEVUE zum Brunch mit Berichten vom jeweiligen „Kulturhauptstadtteil des Monats“ (BELLEVUE lädt ein). Des Weiteren wurden Schulprogramme, Stadtteilführungen, Lesungen, Projektpräsentationen von Studierenden, Schreibwerkstätten, Vorträge, Künstler:innenGespräche, gemeinsames Tatort-Schauen und Tauschbörsen angeboten. Es fanden
146 Fattinger, Orso und Rieper im Interview: http://spotsz.servus.at/artikel/jul-1-2013-0818/sommerlicherush-hours, Zugriff: 19.07.2015.
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Mode-Performances mit Mitmach-Möglichkeit für alle statt, Spielaktivitäten mit den lokalen Pfadfindern, interreligiöse Treffen und Liederabende. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei der Zusammenarbeit mit Vereinen vor Ort, mit lokalen Jugendclubs, Musikgruppen, Unternehmer:innen oder sozialen Initiativen. Diese mit internationalen Akteur:innen des künstlerischen und wissenschaftlichen Feldes in Beziehung zu bringen, war Ziel der Unternehmung, um „BELLEVUE zu einem Zentrum künstlerischer Interaktion werden [zu lassen], das AnrainerInnen, PassantInnen und andere Interessierte zum Sehen, Kommunizieren und Handeln auffordert.“147 So waren für mehrere Tage, teils auch Wochen, im Gästetrakt des gelben Hauses insgesamt dreizehn Gastkünstler:innen im Rahmen eines Artist-in-Residence-Programms148 untergebracht, deren Aufgabe es war, „aus der Recherche über den Ort künstlerische Projekte und Strategien zu entwickeln. Diese reichen von ortsspezifischen Interventionen bis hin zu partizipativen Konzepten, umgesetzt als Comics, Videos, Installationen usw.“149
Darüber hinaus wohnten die Veranstalter:innen der vier BELLEVUE Akademien über mehrere Wochen im gelben Haus, um in Workshops mit Studierenden von Universitäten aus der ganzen Welt vor Ort Stadtrecherche zu betreiben. „Unter dem Titel BELLEVUE Akademie finden vier Workshops mit Studierenden von verschiedenen internationalen Universitäten, unter anderem aus den Bereichen Architektur, Soziologie, Anthropologie, Urbanismus, statt, die Stadtrecherche mit jeweils angepassten Methoden und Umsetzungsformen betreiben.“150
Eine dieser BELLEVUE Akademien151 wurde von der Autorin gemeinsam mit dem Künstler Michael Hieslmair und einer Gruppe von neun Studierenden der Technischen
147 Fattinger et al. (2009): Programmfolder. 148 Gastkünstler:innen: eSeL (Lorenz Seidler): BELLEVUE kommuniziert; Institut für transakustische Forschung (Matthias Meinharter, Jörg Pieringer): Abstellkammermusik; Guda Koster: Hochzeit; Kurt Lackner: Sammeln, Ordnen, Bewahren; Elke Krasny: Reise in die Nachbarschaft; David Moises: AutotrainerHeimrennen; Iris Andraschek: 30 reasons a girl should call it a night; Maruša Sagadin: Meine Chefs; Anna Witt: Arbeitermonumente; Ulli Lust: Engramme; Juan López Diez: Retrovisores: 20 Yellow Cars in 20 Minutes; Department für öffentliche Erscheinungen (Peter Boerboom, Carola Vogt, Gabriele Obermaier): Die persönliche Meinung als öffentliche Erscheinung; Adelheid Rumetshofer, Wolfgang Schreibelmayr: Über die Schulter geguckt. 149 Fattinger et al. (2010a): BELLEVUE, 101. 150 Fattinger et al. (2010a): BELLEVUE, 157. 151 Judith Laister, Michael Hieslmair: Besonders sehenswert. Architektonisch-ethnografische Erkundungen an der A7; Angelika Fitz: Workshop Städtedating. Beziehungen auf der Autobahn; public works/Andreas Lang: Workshop Honesty Shop; Thomas Edlinger: Workshop Du filmst die Welt.
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Zweiter Fall. Fattinger/Orso/Rieper: BELLEVUE. Das gelbe Haus, Linz, 2009
Universität Graz (Architektur, Institut für Stadt- und Baugeschichte) und der Universität Graz (Europäische Ethnologie, Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie) durchgeführt. Ziel des forschenden Lernens war der Versuch, methodische Instrumente der Stadtforschung in Architektur, Kunst und Kulturanthropologie zur stadträumlichen Erkundung des Gebiets Bindermichl/Spallerhof in wechselseitigem Austausch einzusetzen und auf ihr transdisziplinäres Potenzial hin zu überprüfen. Thematisch wendeten sich die ethnografisch-architektonischen Erkundungen an der A7 dem zu, was die Forschenden selbst sowie die Bewohner:innen in dem touristisch unspektakulären Gebiet als besonders sehenswert identifizierten. Dabei galt es, das lokale städtische Terrain zu erkunden, Beziehungen zu Bewohner:innen herzustellen und die erhobenen Daten auf sichtbare Weise in den stetig wachsenden Pool an künstlerischen, architektonischen, alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Vor-Ort-Recherchen einzuspeisen. Wie zahlreiche andere Gastkünstler:innen, Forschende oder Köch:innen war das BELLEVUE Akademie-Team engagiert, das gelbe Haus zu beleben, eine Botschafter:innen-Funktion einzunehmen, seine Sichtbarkeit sowohl im lokalen Alltags- als auch im internationalen Kulturgeschehen zu erhöhen. Vor allem aber war das Ziel, Beziehungen zu den Bewohner:innen der Bezirke sowie zu den Besucher:innen des gelben Hauses – ob künstlerisch oder nicht-künstlerisch – herzustellen. Das Ergebnis war eine Ausstellung, ein Fanzine sowie einige Artikel und Vorträge, die das transdisziplinäre Experiment zwischen Wissenschaft, Architektur und Kunst in die akademische Sprache und Logik übersetzten. Zwischen verschiedenen sozialen Feldern vermittelte auch das Planungsteam von BELLEVUE, das Kollektiv Fattinger/Orso/Rieper. Das gelbe Haus war von ihnen nicht nur als gebauter Container konzipiert, sondern als Akteur, der Beziehungen zwischen unterschiedlichen sozialen Feldern herzustellen imstande ist. Ihre relationale Arbeit verortet das Team im „Umfeld einer Flut an künstlerischen sowie architektonischen, aber auch sozialen Interventionen im öffentlichen Raum, von denen viele mittlerweile einen aktiven Beitrag zur Stadtentwicklung leisten.“ Den „künstlich angelegten Landschaftspark“ auf einem „künstlichen Tunnel“ betrachten sie als „Inbegriff von Künstlichkeit“, der gleichzeitig vorgibt, mit dem „Natürlichen“ sowie dem gegebenen städtischen Gefüge zu verschmelzen. Dieses „organisierte Raumgefüge und deren Bewohner:innen“ machen sie zum Thema. Sie beziehen sich auf historische Projekte der 1970er-Jahre, wie Haus-Rucker&Co oder COOP Himmelb(l)au, die sich der „Verschmelzung von Natürlichem und Künstlichen widmen“, wenngleich sie BELLEVUE im Vergleich dazu als „weniger intellektuell, dafür aber umso kontaktfreudiger“ beurteilen.152 Gleichzeitig knüpfen sie an aktuelle partizipative Stadtentwicklungsprojekte wie Park Fiction in Hamburg an und verweisen auf zeitgleiche Projekte wie Emscherkunst 2010. Dieses
152 Fattinger et al. (2010c): Oberhalb der Stadtautobahn, 22.
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„Spannungsfeld von Investoreninteressen, StadtplanerInnen und VertreterInnen verschiedenster Gegenkulturen“ wird mittlerweile „von der öffentlichen Hand unterstützt“ wird, womit „die Assimilation von Gegenkulturen mit ihrem möglichst subversiven Charakter durch etablierte Gesamtkulturen […] Programmatik“ ist, konstatieren die Initiatoren des gelben Hauses. Ebenso betonen sie ihre Intention, „ein temporäres Landmark als Tor zur Stadt“ und damit ein „markantes Zeichen auf Zeit“ für die Dauer des Großereignisses Kulturhauptstadt zu setzen.153 BELLEVUE führte die Reihe von stadträumlichen Eingriffen mit dezidiert relationaler Orientierung fort, die das Kollektiv Fattinger/Orso/Rieper seit Beginn der 2000er-Jahre in verschiedenen Städten unternommen hatte. Charakteristikum des Linzer Projekts war der Fokus auf die Produktion eines „sozialen Gebildes“, wie es die Künstler Constant Nieuwenhuis und Guy Debord in ihrer Amsterdamer Deklaration aus dem Jahr 1958 formulierten: „Unser Hauptgedanke ist der einer Konstruktion von Situationen – d. h. der konkreten Konstruktion kurzfristiger Lebensumgebungen und ihrer Umgestaltung in eine höhere Qualität der Leidenschaft.“154 Die hergestellten sozialen Situationen enthielten, um hier in der Terminologie Max Glauners zu sprechen, in ihren vielfältigen Ausformulierungen sowohl kollaborative als auch kooperative und interaktive Partizipationsmomente, wobei im partizipativen Cluster BELLEVUE der Beziehungsmodus der Interaktion ebenso dominierte wie das Bemühen um Harmonie und sommerliche Urlaubsatmosphäre. Doch traten immer wieder antagonistische Akteur:innen auf der zentralen Schaubühne des Großevents Kulturhauptstadt auf. Aufgrund des dicht geknüpften Beziehungsnetzes an freundlichen, unterstützenden, kreativ mit Konflikten umgehenden Primärakteur:innen sowie einer aktivierenden und kontrollierenden Vielfalt an Sekundärakteuren – vom Gelb des Hauses bis zur omnipräsenten Kamera von eSeL – gestaltete sich ein Aufenthalt im gelben Haus „für alle“ als kurzweilige Auszeit vom „wirklichen Leben“. Wie bei JeanFrançois Prosts Adaptive Actions war der Reflexionsgrad der Projektverantwortlichen gegenüber der eigenen Rolle als Teil gouvernementaler Praktiken groß. Während Prost jedoch seine Agenten-Funktion sowie das von ihm initiierte Beziehungsgefüge als strategische Grundlage für kollektive tiny revolutions nutzte, schufen Fattinger/Orso/ Rieper mit den BELLEVUE’schen Relationalitäten im gelben und um das gelbe Haus ein repräsentatives Bild für inszenierte und kontrollierte Partizipation als Vorzeigepraxis gegenwärtiger Kulturpolitik.
153 Fattinger et al. (2010c): Oberhalb der Stadtautobahn, 21. 154 Referenz des Kollektivs Fattinger/Orso/Rieper, http://spotsz.servus.at/artikel/jul-1-2013-0818/sommer liche-rush-hours, Zugriff: 19.07.2015.
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Dritter Fall. Kristina Leko: Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung, Graz, 2013
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Dritter Fall. Kristina Leko: Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung, Graz, 2013
Graz, 5. Bezirk, Ägydigasse 12, Ecke Pflastergasse: An den beiden Außenfassaden im Bereich der ausladenden Stiegenhäuser eines mehrgeschoßigen Wohnblocks sind zwei großflächige schwarze Tafeln angebracht. Darauf finden sich in weißer und roter Handschrift mehrere Textpassagen. Die Bildsprache der Installation zitiert eine Schultafel, auf der mit Kreide in sorgfältiger Schönschrift drei Kurzbiografien von eingewanderten Bewohner:innen zu lesen sind: „Mercy emigrierte aus Ghana, wo sie Schneiderin war. In Graz angekommen, wurde sie in einer der oststeirischen Lederfabriken aufgenommen. Fast alle AfrikanerInnen beginnen dort ihr österreichisches Berufsleben. Wegen der miserablen Arbeitsbedingungen musste Mercy jedoch nach einem Jahr kündigen. Zurzeit arbeitet sie für sieben Stunden pro Woche als Reinigungskraft für die Caritas. Das Geld reicht nicht. Ihr Sohn braucht auf dem Schulweg Begleitung. Da der Arbeitsmarkt aber nicht an die Bedürfnisse von alleinerziehenden Müttern angepasst ist, ist eine Arbeitsstelle mit passenden Arbeitszeiten schwer zu finden. Trotzdem konnte Mercy in den letzten Jahren alleine für den Lebensunterhalt ihrer zwei Kinder sorgen.“ „Aus einem Asylheim in der Nähe von Bruck an der Mur ging ich nach Italien, da ich arbeiten wollte. Und ich fand auch Arbeit: als Teppichverkäufer. Wegen fehlender Arbeitserlaubnis musste ich aber weiterziehen. Die nächste Station war London. Ich fand Arbeit in einer Pizzeria. Doch auch da durfte ich nicht bleiben. Seit meiner Rückkehr nach Österreich mache ich Gelegenheitsjobs, arbeite als Maler und Anstreicher. Eigentlich war ich im Iran Goldschmied. Abgesehen von der Arbeit spielt Gott in meinem Leben eine große Rolle. Als ich hierherkam, habe ich viel gebetet und Gott hat auf mich aufgepasst. Welcher Religion ein Mensch angehört oder welche Hautfarbe er hat, macht keinen Unterschied. Gott, glaube ich, schaut auf alle Menschen.“ „Ich wurde in einer kinderreichen Familie in Mazedonien geboren. Mit 16 musste ich das Elternhaus verlassen. Unser Leben war ein ununterbrochener Kampf gegen die Armut. Aus der Armut raus in die schöne weite Welt, wie meine Mutter sagte. Ich bemühe mich deswegen sehr, meinen Kindern etwas zu hinterlassen, damit sie nicht wie ich von Null beginnen müssen. Mein Mann und ich haben immer fleißig gearbeitet und gespart, trotzdem haben wir nicht viel. Es ist nicht einfach. Zur vielen Arbeit gibt es auch Haushaltsarbeit. Seit Jahren arbeite ich als Helferin im Pflegedienst. Eine harte Arbeit, aber ich bin zufrieden, Geld zu verdienen und anderen Menschen helfen zu können.“
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Drei Fälle relationaler Kunst in London, Linz und Graz
Abb. 8 Kristina Leko: Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung, Standort Annenstraße (bis 2020), Graz, 2017. Foto: Judith Laister.
Auf der zweiten Tafel, die in gleicher Bildsprache auf dem zweiten Treppenhausturm appliziert ist, bietet eine Inschrift Informationen zur Geschichte des Standorts: „Im 16. Jahrhundert sind zahlreiche italienische (damals ‚welsche‘ genannte) Wanderarbeiter als Maurer, Steinmetze, Stukkateure, Pflasterer etc. in Graz tätig. Damals wird die Stadt zum Schutz vor osmanischen Angriffen zur größten Festung Innerösterreichs ausgebaut.“ „Bekannte italienische Baumeister wie Sigmund de Pretta oder Domenico dell’Allio wirken in der Stadt. Die Maurerzunft wird von 1550 bis 1650 beinahe vollständig von italienischen Handwerkern dominiert. So erreicht die Regierung 1662, dass abwechselnd ein deutscher und ein italienischer Meister in die Zunft aufzunehmen sind.“ „Gleichzeitig gibt es viele einfache italienische Festungsbauarbeiter und Gesellen, die als Tagelöhner ohne ihre Familien in ärmlichen Verhältnissen in der Murvorstadt leben. Die Pflastergasse erinnert an den Wohnort von damaligen italienischen Pflasterern. In unmittelbarer Nähe am Griesplatz erbauen sie sich eine Kirche – die ‚Welsche Kirche‘.“ „Bereits ab 1572 wettern die steirischen Landstände gegen eine ‚zunehmende Verwelschung des öffentlichen Lebens‘. Es wird beklagt, dass die Befestigungsbauten Fremden ‚auslendischer Nation‘ anvertraut würden, die sich ihre Taschen mit steirischem Bargeld füllen. Erzherzog Karl wird aufgefordert, einheimische Baumeister und Arbeiter einzusetzen. Im Gegensatz zu den mehrheitlich protestantischen Grazer BürgerInnen sind die Italiener Katholiken. Ein Flugblatt
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Dritter Fall. Kristina Leko: Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung, Graz, 2013
aus dem Jahre 1581 meint, die katholischen Welschen kämen ins Land, um die protestantisch gesinnten Einheimischen zu verdrängen. Heute ist Graz stolz auf die ‚südliche‘ Prägung der Stadt, die durch italienische Baumeister, Künstler und Bauarbeiter im 16. und 17. Jahrhundert ins Leben gerufen worden ist.“
Neben den beiden Texttafeln ist ein metallenes Schild mit Kurzinformationen über den Projektkontext platziert: „Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung. Eine Serie von Textkunstwerken im Grazer Annenviertel. Von Kristina Leko in Zusammenarbeit mit Judith Laister (wissenschaftliche Betreuung), Yemi Adesuyi Ojumo, Evelyn Fischer, Bianca Flecker, Tanja Fuchs, Ayten G., Peter Gillmayr, Michael Jabbour, Kennedy, Robin Klengel, Emir Mao Liyi, Elisabeth Matlschweiger, Aline Marques, Fatima Maria N., Wolfgang Oeggl, Anna Orgler, Piso, Angela Prassl, Hildegard Ruhdorfer, Barbara Schmid, Mustafa Seyhan, Kadir Smailovic, Heide Spitzer, Nora Steinbach, Kristina Stocker, Daniela Stradner, Karoline Walter, Katrin Wankhammer, Michael Windisch (biographische Forschung), Joachim Hainzl, Leo Kühberger (historische Recherche). Standorte des Projekts: Ägydigasse 12 und 14, Griesgasse 50, Dreihackengasse 2, Idlhofgasse 36, Niesenbergergasse 67–69, Hanuschgasse 3, Annenstraße 22, im Styria Center, Annenstraße 10. Realisiert 2013 in Kooperation von Zentrum für zeitgenössische Kunst, Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark, Stadtbaudirektion Graz – Stadtteilmanagment Annenviertel, Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz.“
Insgesamt finden sich bis heute an sechs (von ursprünglich neun) öffentlich zugänglichen Orten der Grazer Bezirke Gries und Lend großflächige Installationen des Projekts Keine Denkmale. Alle weisen dieselbe Bildsprache auf und geben einerseits Einblicke in die Arbeitsbiografien von Menschen mit Migrationshintergrund, andererseits bieten sie Informationen zur lokalen Arbeiter:innengeschichte von der Renaissance bis zur Gegenwart. So gibt etwa die Tafel in der Ägydigasse, nahe der Welschen Kirche, Einblick in die Geschichte der italienischen Wanderarbeiter, die wesentliche repräsentative Bauten im Graz des 16. und 17. Jahrhunderts errichtet hatten. An anderen Orten wird über die Entstehung der Arbeiterbewegung, über die Einrichtung der Arbeiterkammer oder Arbeiter:innenaufstände im Bezirk berichtet. Auf einem begleitenden Folder finden sich zusätzliche Informationen zu Genese und Ziel des Projekts: „ArbeiterInnen haben seit jeher das Grazer Annenviertel bewohnt. In Zeiten der Industrialisierung begann sich die aufkommende ArbeiterInnenschaft hier auch zu organisieren, um für ihre Rechte und soziale Verbesserungen zu kämpfen. Die Geschichte der Arbeit und damit untrennbar verbunden die Geschichte der Einwanderung haben im Annenviertel Spuren
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hinterlassen. Bis heute gilt, dass das Annenviertel ein wesentliches Gebiet für Einwanderung in Graz geblieben ist.“
Lokalisiert ist das Projekt Keine Denkmale in den ehemaligen Vorstadtbezirken Lend und Gries, in einem Bereich, der seit 2009 als Annenviertel bezeichnet wird. Der Stadtteil liegt etwa zehn Gehminuten vom Grazer Hauptplatz entfernt, auf der dem Fluss Mur gegenüberliegenden Seite der einst befestigten Kernstadt. Die ehemalige Murvorstadt, die sich als unbefestigter Stadtteil historisch zum Arbeiter:innen- und Einwanderungsviertel entwickelte, erfährt seit Beginn des 21. Jahrhunderts erhöhte Aufmerksamkeit von Seiten der Stadtplanung. Die Annenstraße, die Mariahilferstraße, der Lend- und jüngst der Griesplatz stehen im Fokus stadtplanerischer und auch kulturpolitischer Ambitionen, mit allen Folgen: der Formierung von Bürgerinitiativen, die sich an den Umgestaltungsplänen beteiligen wollen; dem Sich-Einmischen der Künstler:innen, die hier schon seit langem aufgrund der günstigeren Mietpreise wohnen und arbeiten; den Diskursen über soziale Ungleichheit und Verdrängung. Namensgebend für das Annenviertel ist die zentrale Verkehrsader Annenstraße, die vom Hauptbahnhof ins Zentrum der Stadt führt. Angelegt wurde die Straße im 19. Jahrhundert als erste verkehrstechnisch hochmoderne Geometerstraße der Stadt im Zuge des Anschlusses von Graz an die Südbahnstrecke und der Errichtung des Hauptbahnhofes. Namensgeberin der „Annastraße“ ist die habsburgische Kaiserin Maria Anna von Savoyen (1803–1884), die als Gemahlin des damaligen Kaisers Ferdinand die Straße im Jahr 1847 feierlich eröffnete. Galt die Straße bis in die 1970er-Jahre als repräsentative Geschäftsadresse mit mondänem Charakter, so hat sie durch veränderte Mobilitäts- und Konsumgewohnheiten zunehmend an Bedeutung verloren. Nach langjährigen Diskussionen um Zustand und Zukunft der einst prominenten Flaniermeile wurde Ende 2010 ein Architekturwettbewerb initiiert. Ziel war die Neugestaltung der Annenstraße „mit urbanem Anspruch, nach den Prinzipien der Fußläufigkeit und mit der Intention, die kleinteilige Wirtschaftsstruktur dieses Gebietes zu unterstützen“155 . Als wesentliche Ziele definierte ein Gemeinderatsbeschluss aus dem Jahr 2010 die „Erhöhung der Lebens-, Erlebnis- und Aufenthaltsqualität“, die „Entwicklung einer eigenen urbanen Corporate Identity zur Imageverbesserung durch Stadtmöblierung, Beleuchtung, Beschilderung etc.“ sowie die „Förderung von kreativen Milieus vor Ort“156 . Besonders hervorgehoben wurde in Wettbewerbsunterlagen und öffentlicher Kommunikation die Charakteristik des Annenviertels als „stark multikulturell geprägt“ sowie als „Anziehungspunkt für ein neues, zumeist junges, urban orientiertes Publikum“. Als eine wesentliche Leitstrategie
155 http://www.architekturwettbewerb.at/data/media/med_binary/original/1298739565.pdf, Zugriff: 13.01.2014. 156 Gewinner des Wettbewerbs war das Berliner Büro Mettler Landschaftsarchitektur. Baubeginn war im Mai 2012, die Fertigstellung erfolgte Ende 2013.
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Dritter Fall. Kristina Leko: Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung, Graz, 2013
galt die „Aktivierung und Miteinbeziehung der Bevölkerung“, was zur Initiierung des Pilotprojekts „Stadtteilmanagement Annenviertel“ führte. In dieser spezifischen stadträumlichen Situation, geprägt von baulichen Transformationen und kulturellen Initiativen, wurde zwischen 2011 und 2013 das Projekt Keine Denkmale entwickelt. Die Eröffnung der Arbeit fand in Form eines performativen Happenings am 1. Mai 2013 statt. Als Präsentationsform diente ein alternativer MaiAufmarsch, der am Griesplatz startete und einen Rundgang zu allen neun Stationen umfasste. Dabei wurden Textauszüge aus den Biografien und der Arbeiter:innengeschichte, verstärkt durch ein Megafon, von Teilnehmenden der öffentlichen Veranstaltung vorgelesen. Bis zu insgesamt 200 Personen, darunter viele am Entstehungsprozess der Installation Beteiligte, folgten in verschiedenen Etappen dem Umzug, der mit einer Eröffnungsfeier und kurdischem Buffet im Internationalen Kurdistanzentrum endete. Die Installationen im öffentlichen Raum sind Ergebnis einer Zusammenarbeit der Künstlerin Kristina Leko mit verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren. Als zentraler Akteur und Projektträger wirkte das Zentrum für zeitgenössische Kunst mit Sitz in der Volksgartenstraße im Bezirk Lend. Das Team um Anton Lederer und Margarethe Makovec, die den Verein gegründet haben und geschäftsführend leiten, widmen sich im Zuge der Kuratierung von Ausstellungen und Projekten zeitgenössischer Kunst bis heute auch der Geschichte und sozialen Struktur ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Durch zahlreiche Projekte im Kontext stadträumlicher Entwicklung sind sie mit unterschiedlichen Personen aus der lokalen Vereinsszene, aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft bestens vernetzt, was eine fundierte Basis für die intensive Kommunikationsarbeit und die Bildung von Allianzen im Rahmen des Projektverlaufs darstellte. Weiters war das Institut für Kunst im öffentlichen Raum, eine Einrichtung des Universalmuseums Joanneum in Graz unter der damaligen Leitung des Kunsthistorikers Werner Fenz157 , als Fördergeber beteiligt sowie die Stadtbaudirektion Graz, die das Vorhaben über das Stadtteilmanagement Annenviertel – eine temporäre Einrichtung des Amtes im Zuge des großflächigen Umbaus der zentralen Verkehrsachse Annenstraße – sowohl finanziell als auch infrastrukturell unterstützte. An individuellen Akteur:innen aus dem Bereich der Stadtforschung wirkten der Historiker, Kulturanthropologe und Stadtaktivist Leo Kühberger sowie der Sozialpädagoge und Künstler Joachim Hainzl mit. Gemeinsam mit den beiden wählten das -Projektteam, Kristina Leko und Judith Laister signifikante Schauplätze der Arbeiter:innengeschichte in den Stadtbezirken Lend und Gries aus, zu denen Kühberger und Hainzl historische Recherchen durchführten. Finanziell unterstützt wurde dieser historische Rechercheteil zur Arbeiter:innengeschichte durch die Gesellschaft
157 Keine Denkmale wurde von Kristina Leko als Fortsetzung des 2006/07 im Grazer Landhaushof realisierten Kunstprojekts Missing Monuments (ein Projekt mit dem Institut für Kunst im öffentlichen Raum / Werner Fenz) konzipiert.
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für Kulturpolitik Steiermark, die als Institution der Sozialdemokratischen Partei Österreichs ein inhaltliches Interesse an Recherchen zu diesem Themenfeld sowie am Ansatz relationaler Kunstpraxis zeigte. Weitere wesentliche Beteiligte waren 20 Menschen mit Migrationshintergrund, mit denen biografische Interviews zu ihrer persönlichen Geschichte der Arbeit und Einwanderung geführt wurden. Der Kontakt zu den interviewten Personen erfolgte einerseits durch die Vermittlung migrantischer Einrichtungen und persönliche Bekanntschaften zum Projektteam, andererseits per Zufall (serendipity) durch direktes Ansprechen von Passant:innen an den entsprechenden Schauplätzen. Das zentrale Kriterium für die Auswahl bestand darin, dass die interviewten Personen in der Gegend wohnen oder arbeiten sowie aus möglichst unterschiedlichen Ländern der Welt aus unterschiedlichen Gründen nach Graz eingewandert waren. Durchgeführt wurden die Interviews – unter Anleitung und Begleitung durch die Künstlerin Kristina Leko und die Kulturanthropologin Judith Laister – von einer Gruppe Studierender des Faches Europäische Ethnologie an der Universität Graz. Als Basis des forschenden Lernens diente eine Lehrveranstaltung am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, die im Wintersemester 2011/12 unter dem Titel „Keine Geschichte – Keine Denkmäler. Visuelle Ethnographie und Repräsentationskritik in Kunst und Kulturanthropologie“ angeboten wurde: „‚Who speaks? Who writes? When and where? With or to whom? Under what institutional and historical constraints?‘ (Clifford, Marcus, 1986). Spätestens seit der Writing-Culture-Debatte der 1980er-Jahre werden die Machtverhältnisse im Prozess ethnographischen Arbeitens diskutiert und neue Wege dialogischer Forschung beschritten. Mit dem Bedeutungsgewinn visueller Techniken bei der Feldforschung stellen sich diese Fragen auch im Bereich der Visuellen Ethnographie verstärkt. An dieser Stelle ist es ein logischer Schritt, sich mit KünstlerInnen als ExpertInnen visueller Repräsentation über deren Bildstrategien, empirische Forschungs- und Darstellungsmethoden auszutauschen. Genau das soll in der vorgeschlagenen Lehrveranstaltung passieren. Basierend auf einem Vorlesungsteil über repräsentationskritische Ansätze im kulturanthropologischen Feld (Judith Laister) werden im Übungsteil visuell ethnographische Erhebungen unter der Leitung einer sachkundigen Künstlerin durchgeführt. Kristina Leko, die in zahlreichen Projekten dialogische Recherchen und Repräsentationen vor Ort praktiziert hat, wird einerseits Einblick in ihre Arbeitspraxis geben. Andererseits werden unter ihrer Anleitung visuell ethnographische Erhebungen durchgeführt und entsprechende Darstellungsformen erprobt. Inhaltlich fokussiert der Übungsteil die Geschichte von ArbeiterInnen und MigrantInnen im Grazer ‚Annenviertel‘. In gemeinsamen und individuellen ethnographischen Lehrausgängen sollen Lebensgeschichten von MigrantInnen und ArbeiterInnen aus dem Stadtteil dialogisch erhoben, mit dazugehörigen Orten und Bildern verwoben und in visuelle Repräsentationen transformiert werden. Ziel ist es, in Theorie und Praxis gemeinsam mit einer Künstlerin die Möglichkeiten und Grenzen künstlerisch-ethnographischer Feldforschung
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Dritter Fall. Kristina Leko: Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung, Graz, 2013
auszuloten. Die Ergebnisse der VU werden in ein Ausstellungs- und Buchprojekt einfließen, das die Künstlerin Kristina Leko in Kooperation mit dem Kunstverein umsetzt.“158
Die rund 20 Lehrveranstaltungs-Teilnehmenden trafen sich während des Semesters regelmäßig mit dem Projekt-Team, um Arbeitsfortschritte zu besprechen und den Verlauf zu reflektieren. Gleichzeitig starteten die Studierenden nach ersten gemeinsamen Feldbesuchen und Interviewführungen ihre eigenen Erhebungen samt Bilddokumentationen und Tagebuchaufzeichnungen. Vom biografischen Interview bis zur Erstellung eines ersten Kurztexts erfolgte ein mehrmaliges Hin- und Herspielen der Darstellungen zwischen den Lehrveranstaltungs-Leiterinnen, den Studierenden und den interviewten Personen. Die Intention, möglichst alle erhobenen Biografien anonymisiert zu publizieren und sie in Form von großformatigen Texttafeln in den öffentlichen Raum zu transferieren, war im Team sowie in Richtung der Interviewten von Anfang an kommuniziert. Nach dieser ersten Recherchephase fand am 18. Februar 2012 zur Präsentation der Zwischenergebnisse eine Ausstellung im Kunstverein statt. Das von Kristina Leko bereits in anderen Projekten erprobte Vermittlungssetting sah vor, dass neben der großformatigen Applikation des dialogisch verfassten Kurztexts auch Bildmaterial und Gebrauchsgegenstände aus dem alltäglichen Umfeld der interviewten Personen an der Wand präsentiert wurden. So hatten die Studierenden im Rahmen ihrer Erhebungen auch private Fotografien mit den dazugehörigen Erzählungen recherchiert, sie fertigten selbst Zeichnungen und Bildaufnahmen von Schauplätzen und Akteur:innen an, erbaten Verkaufsobjekte aus dem Geschäft eines befragten Ladenbetreibers, Dekorationsstücke aus dem Bestand eines Restaurantbesitzers, für die Interviewten symbolträchtige Kleidungsstücke oder Dinge aus deren individuellem Fundus. Begleitet durch die Künstlerin drapierten sie die Objekte zusammen mit den Texten im Ausstellungsraum. An der Veranstaltung selbst nahmen neben Kristina Leko und Judith Laister, dem Team des Kunstvereins , Vertreter:innen der Kooperationspartner:innen und den Studierenden auch einige der interviewten Bewohner:innen teil. In einem gemeinsamen Rundgang stellten die Studierenden das arrangierte Material vor und diskutierten mit den Anwesenden Prozessverlauf und Ergebnis. Im Anschluss an die Lehrveranstaltung erarbeitete das Projektteam (Kristina Leko in Zusammenarbeit mit dem -Team, Judith Laister und einigen Studierenden) Kurzversionen ausgewählter Biografien und historischer Informationen zur Arbeiter:innengeschichte der Bezirke. Das Projekt Keine Denkmale erweist sich vor diesem Hintergrund als Beispiel einer künstlerisch initiierten Allianzbildung, die auf verschiedenen Ebenen Institutionen,
158 https://online.uni-graz.at/kfu_online/wbLv.wbShowLVDetail?pStpSpNr=295806, Zugriff: 10.08.2019.
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Drei Fälle relationaler Kunst in London, Linz und Graz
menschliche und nicht-menschliche Akteure verbindet. Kristina Leko fasst ihre Arbeiten als „partizipatorische Kunstprojekte“, wobei sie ergänzend oder alternierend auch Bezeichnungen wie Nachbarschaftsprojekt oder Kommunikationsprojekt verwendet. Geboren 1966 in Zagreb, lebt und arbeitet sie heute als Universitätsdozentin und freie Künstlerin in Berlin. Sie beschreibt sich selbst als „artist specialized in community art, participatory art practices and art in public space“: „Kristina Leko, Künstlerin. Studium: Freie Grafik, Philosophie, Indologie, Universität Zagreb; Kunst im Kontext, UdK Berlin. Schwerpunkt: sozial bezogene kritische partizipatorische künstlerische Projekte und Projekte im öffentlichen Raum. Ihre Arbeit umfasst Video-Installationen, Dokumentarfilme, Fotografien, Texte, Objekte, Zeichnungen, während soziale Interaktion und Empowerment die Hauptziele dieser oft im öffentlichen Raum verorteten künstlerischen Praxis sind. Sie hat mehrere umfangreiche partizipatorische Kunstprojekte in verschiedenen Ländern initiiert und realisiert.“159
Die Auseinandersetzung Lekos mit partizipativen Praktiken geht auf ihre Masterarbeit am Institut für Kunst im Kontext an der Universität der Künste Berlin aus dem Jahr 2004 zurück, die den Titel „Begriff der Demokratie in meiner künstlerischen Praxis“ trägt. Darauf aufbauend organisierte und konzipierte sie im Jahr 2006 am Museum für zeitgenössische Kunst Zagreb gemeinsam mit Katharina Jedermann und in Kooperation mit dem Goethe Institut Kroatien in Zagreb das Symposium „Der partizipatorische Imperativ“. Als Grundhaltung ihres Arbeitens dienen die von ihr entworfenen „zwölf Grundregeln einer Ethik für Künstlerinnen“, die auch Teil und Essenz ihrer Masterarbeit sind. Mit dem Titel „Was soll ich tun? Zwölf Grundregeln einer Ethik für Künstler/innen“ entwirft sie eine Paraphrase auf Lenins bekannte Frage „Was tun?“ und indiziert damit eine Bezugnahme auf jene Vorstellung von Kunst, die entschieden gegen jeglichen bürgerlich-elitären Autonomieanspruch auftritt. „REGEL 1 Beginne, steigere, bereichere und gestalte durch deine Kunst/Aktivität eine öffentliche Diskussion/eine Kommunikation von öffentlichem Interesse, die ansonsten nicht stattfinden würde/n, zwischen Menschen, die dich umgeben. (Eine soziale Definition von freier und bildender Kunst.) REGEL 2 Finde mit deiner künstlerischen Arbeit/Aktivität Themen und Probleme, die an diesem Ort und in dieser Gemeinschaft nützlich und relevant sind, d. h. Themen von öffentlichem Interesse. (Die Verneinung der abstrakten Kunst. Für Dokumentarismus.) REGEL 3 Bereichere die öffentlichen Diskussionen mit deinem ausgewählten Thema, indem du neue Standpunkte zur allgemeingültigen Wahrnehmung hinzufügst. Wenn die allgemeingültige Wahrnehmung einer wichtigen Frage/eines wichtigen Themas beeinflusst worden ist, dann
159 http://www.kunstimkontext.udk-berlin.de/lehrende/kristina-leko/, Zugriff: 26.05.2023.
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Dritter Fall. Kristina Leko: Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung, Graz, 2013
verändert sich auch die Wirklichkeit. (Die Pflicht einer kritischen/unabhängigen Meinung. Über Wahrnehmung und Pluralismus.) REGEL 4 Mache deine Arbeit/Aktivität/Ereignisse für alle zugänglich. Beziehe jene ein, die normalerweise ausgeschlossen sind. (Für kulturelle Demokratie. Ein unbegrenztes Gebrauchsrecht für öffentliche Veranstaltungsorte.) […] REGEL 10 Achte die Menschen, um die es in deiner Arbeit geht und die mit dir zusammenarbeiten, behandle sie mit aller Würde, nenne immer ihre Namen, behandle sie in jeder Hinsicht so wie dich selbst. (Für echte kulturelle Demokratie.) REGEL 11 Achte den Geschmack und die ästhetischen Vorstellungen der Personen, mit denen du arbeitest. So entstandene Kunstwerke/Artefakte haben den gleichen Stellenwert wie die eines Künstlers/einer Künstlerin. (Die Verneinung des Meisterwerkes.) REGEL 12 Deine Handlung soll reale/konkrete Folgen haben und zu bleibenden Auswirkungen führen. Schaffe in Zusammenarbeit pragmatische, nützliche, sozial interaktive, menschenfreundliche Kunstwerke und Ereignisse, vor Ort und für die Gemeinschaft, mit aussagekräftigen Zielen, die auf die realen/konkreten Bedürfnisse eingehen. Diese hast du zuvor systematisch recherchiert. (Eine weitere gebrauchsorientierte Definition für Kunstwerke. Über Aktivismus.) (K. L., 2004)“160
Leko tritt emphatisch für eine künstlerische Praxis ein, die Beziehungen mit anderen sozialen Akteur:innen anvisiert – und zwar nicht nur in Bezug auf die Rezeption von Kunst im Sinne einer Kunst für alle, sondern auch in Bezug auf die Produktion im Sinne einer Kunst von allen. Als zentrale Referenzen nennt sie neben Berthold Brecht und Joseph Beuys vor allen Suzanne Lacy, Christoph Schlingensief und Julian Rappaport. „Also philosophisch oder ideologisch oder von der Frage: ,Was soll man machen?‘, das ist natürlich: Brecht. Dann, die Erweiterung des Kunstbegriffs, natürlich Beuys. Und ich mag sehr, was Schlingensief gemacht hat. Und im Arbeitsansatz bin ich natürlich sehr nah an Suzanne Lacy. Die ist mein Vorbild.“161
Ihr Interesse an diesen Positionen speist sich aus deren „komplexer Positionierung zwischen Theorie und Praxis. […] Ihre Theorie ist immer praxisorientiert. Theorie allein interessiert mich nicht. Das ist für mich irgendwie langweilig.“ Sie betont auch, dass ihr Ansatz weniger aus theoretischen Positionen resultiert, als sich vielmehr aus deren praktischen Lehrstücken in Kombination mit ihrer politischen Haltung heraus entwickelt hat.
160 Leko (2004 und 2006): Was soll ich tun. 161 Interview mit Kristina Leko, 31.07.2017.
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Drei Fälle relationaler Kunst in London, Linz und Graz
„Obwohl: Ich habe begonnen partizipatorisch zu arbeiten, bevor ich ihre Arbeiten kennengelernt habe. Aber das ist so: Man kommt zu diesen Formen, wenn man eine bestimmte politische Haltung hat. Wenn man mit Brechts Lehrstücken anfängt und überlegt, wie man mit dem Politischen umgeht und dass das Publikum aktiv sein soll, dann endet man logischerweise in solchen Formen, die ich anwende. Und das tun auch andere Leute, die eine ähnliche politische Haltung haben.“162
Diese „politische Haltung“ beschreibt Leko in einem Interview als Nachdenken darüber, „in welchem Verhältnis das Soziale und das Politische“ stehen. Darüber hinaus geht es ihr um die Frage der „Machtdistanzen“ zwischen Kunst und Gesellschaft: „Und was ist die Zielsetzung der eigenen Tätigkeit? Und welches Publikum spreche ich an und so weiter. Also sozial im Sinne: Wen spreche ich an, mit wem kommuniziere ich und was ist dann die Zielsetzung der Arbeit?“ Dabei „muss man nicht so hoch gehen“, gleich die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern zu wollen, vielmehr spricht sie von einem „Imprint in die gesellschaftlichen Strukturen“ im Sinne eines „Ausbaus der demokratischen Verhältnisse“. Mit ihrem Interesse am „gesellschaftlichen Transformationspotenzial“ von Kunst erreicht sie „bestimmte Leute und andere nicht“. Das sind weniger diejenigen, „die viel Geld haben, um eine Arbeit teuer zu kaufen“ und mit denen „die Bildende Kunst sehr stark verbunden ist“, sondern andere, die weniger auf „soziale Profilierung“ aus sind und in Kunst mehr als „ästhetische Erfahrung“ suchen. Darüber hinaus interessiert sich Leko für eine „Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Berufen“, im Besonderen auch für eine Zusammenarbeit zwischen Kunst und Wissenschaft. Als Argument für diese kollaborative Praxis führt sie an, dass „die partizipatorischen Kunstprojekte immer in einem sozialen Raum stattfinden und sich mit sehr komplexen Phänomenen, sehr unterschiedlichen Problemen beschäftigen.“ Die Erhebung eines „fundierten Wissens über die verschiedenen Akteure“ bildet dabei die „Voraussetzung für eine gute Arbeit“. Diese gründet für die Künstlerin in der Zusammenarbeit mit Expert:innen aus den jeweiligen Professionen und Bereichen – von der Wissenschaft, über die Erziehung oder Erwachsenenbildung bis hin zur Landwirtschaft oder zum Handwerk. Ziel ist es schließlich, Allianzen zu schließen, um aktiv zur Gestaltung der sozialen Verhältnisse beizutragen. Als wesentliche Referenz nennt sie „die Position von Julian Rappaport“ (Art of social change) mit der zentralen Frage, „ob und wie die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen durch Kunstproduktion möglich ist“. Mit Verweis auf den Psychologen Rappaport und seine Konzeption von Empowerment schreibt Leko der „Veränderung von Narrativen in der Gesellschaft eine zentrale Rolle für gesellschaftliche Veränderungen zu“. Diese Veränderung der Narrative lässt sich dabei „nur in Zusammenarbeit mit verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren“ erreichen.
162 Interview mit Kristina Leko, 31.07.2017.
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Dritter Fall. Kristina Leko: Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung, Graz, 2013
„Und wenn man jetzt ein Projekt als Künstlerin in Berlin macht und bewirbt sich für Projektgelder im Rahmen von kultureller Bildung und so, da ist man sofort Teil von einem großen Zusammenhang, an dem auch Akteure aus anderen Gebieten teilhaben – aus Wissenschaft, aus Sozialarbeit – also dieser Rahmen ist schon da, der ist einfach schon so aufgebaut. Dabei sehe ich mich als echte Künstlerin, die dann die Zusammenarbeit mit Historikern, mit Soziologen, mit Kulturanthropologen braucht, um gemeinsam an einer Veränderung dieser Narrative zu arbeiten.“163
Der „große Zusammenhang, an dem auch AkteurInnen aus anderen Gebieten“ als dem der Kunst teilnehmen, gestaltete sich im Projekt Keine Denkmale als – mit Glauner gesprochen – partizipativer Cluster. Zum Einsatz kamen sowohl kollaborative als auch kooperative und interaktive Modi der Partizipation, wobei die Künstlerin inhaltliche und formale Vorstellungen aus ihrer bisherigen Praxis einbrachte. Der vielfach eingesetzte Begriff der Partizipation erwies sich zudem als wirksames Bindeglied zwischen den Idealen des Projektteams auf der einen Seite und aktuellen gouvernementalen Strategien auf der anderen Seite. Zwischen dem Versprechen der Partizipation im künstlerischen und wissenschaftlichen Feld sowie der partizipativen Rhetorik der städtebaulichen Politik und Verwaltung, mit dem Ziel, lokalen Bewohner:innen Teilhabe an städtischen Umgestaltungsprozessen in Aussicht zu stellen, zeigten sich zahlreiche konnektive Interferenzen. Dass im Projektgebiet zeitgleich eine städtische Straßensanierung im Zusammenhang mit den politischen Ambitionen der Aufwertung der Bezirke Lend und Gries stattgefunden hat, war kein Zufall, sondern produktive Voraussetzung für die künstlerische Allianzbildung. Allianzen zwischen heterogenen Akteur:innen zu bilden, bedarf dabei nicht zuletzt einer „Sprache, die jeder versteht“164 , und zwar im Sinne einer künstlerischen Übersetzung, wie es Kristina Leko formuliert – und wie sie auch für Adaptive Actions und BELLEVUE gesucht wird. Dabei geht es nicht nur um verbale Äußerungen, vielmehr bezieht sich der Versuch konnektiver Verständlichkeit auch auf die Sprache von visuellen Artefakten (Sprache der Bilder, Sprache der Kunst), von räumlichen Atmosphären (Sprache des Raumes), von sozialen Praktiken (Sprache alltäglicher Handlungen) und anderen nonverbalen Ausdrucksformen (Sprache des Geldes, Sprache der Freundschaft usw.). Um diese umfassenden Übersetzungsprozesse im Kontext relationaler Kunstprojekte erschließbar zu machen, widmet sich das folgende Kapitel dem Übersetzungsbegriff als analytisches Werkzeug.
163 Alle Zitate: Interview mit Kristina Leko, 31.07.2017. 164 Vgl. Kapitel 4.4.3 („Eine gemeinsame Sprache, die jeder versteht.“ Kunst als Übersetzungsarbeit).
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3.
Übersetzung. Begriff, Praxis, Linse
Im Feld der Sozial- und Geisteswissenschaften erfährt der Begriff der Übersetzung seit den 1990er-Jahren auch außerhalb der Translationswissenschaft eine veritable Konjunktur. Angesichts der praktischen und theoretischen Herausforderungen einer zunehmend vernetzten Welt, geprägt von einer verdichteten Zirkulation von Menschen, Ideen, Sprachen, Gütern und Daten quer durch geografische und soziokulturelle Kontexte, gebrauchen und verhandeln Forschende verschiedener Disziplinen einen weiten, über die Text- und Sprachsphäre hinausweisenden Übersetzungsbegriff. Begleitet werden translation turn, translational turn oder translational transitions165 von metaphorischen Aneignungen und semantischen Transformationen, von Aufrufen zur transdisziplinären Kollaboration und kontroversen Diskussionen um disziplinäre Deutungshoheiten. Gleichzeitig finden sich vermehrt Bedenken gegen die „inflationäre und unpräzise Verwendung des Übersetzungsbegriffs“, da diese „nicht nur der Erkenntnis nicht förderlich“ ist, sondern auch zur „Verflachung der Forschungsperspektive“ führt.166 Welche Position man zwischen Adaption, Zusammenarbeit und Skepsis auch einnimmt, fest steht die anhaltende Beliebtheit des Begriffs mit einer gewissen Neigung zum Klischee: „Wo auch immer es ein Problem gibt, etwa einen Engpass im Denken, einen Kurzschluss zwischen Theorie und Praxis, eine Sackgasse im politischen Handeln oder, was am häufigsten der Fall ist, eine unerklärte kulturelle Wende mit weitgehenden politischen Konsequenzen, greift man zum Begriff der Übersetzung, als ginge es um eine Art konzeptuellen Universalkleber für allerlei Risse in der gegenwärtigen Reflexion.“167
Auch die vorliegende Studie gebraucht und entwickelt zur Ordnung und Analyse der heterogenen Akteurswelten in relationalen Kunstprojekten einen weiten Übersetzungsbegriff in lediglich partieller Anknüpfung an seine dominante Bedeutung als interlinguale
165 Vgl. v. a. Bassnett (1990): Translation Turn; Bachmann-Medick (2006): Cultural Turns; Wolf (2006): Übersetzung als Brücke; Dizdar (2009): Translational transitions; Wagner et al. (2012): Übersetzungen; sowie die Konjunktur von Publikationen, Forschungsschwerpunkten (IFK: Kulturen der Übersetzung), neuen Lehrgängen, Graduiertenkollegs und anderen Motoren für den Bedeutungsgewinn eines interdisziplinär verhandelten Übersetzungsbegriffs. 166 Wagner et al. (2012): Übersetzungen unterscheiden, 8. 167 Buden und Nowotny (2008): Übersetzung, 7.
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Übersetzung. Begriff, Praxis, Linse
Übertragung (translation proper 168 ). Seine Funktion ist die eines analytischen Werkzeugs im Sinne eines sensitizing concept, das mit Herbert Blumer „directions in which to look“ vorschlägt und „a general sense of reference and guidance in approaching empirical instances“ bietet.169 Sensibilisierende Konzepte sind nicht eindeutig und vordefiniert, sondern werden in den verschiedenen Phasen einer wissenschaftlichen Untersuchung adaptiv eingesetzt und zwischen Feldforschung, Kontextualisierung und Analyse kontinuierlich weiterentwickelt. Durch diese Unbestimmtheit bleibt das interdependente Verhältnis zwischen untersuchtem Feld und positionierter Forschungserfahrung durchgängig präsent, wobei auf Verstehen im Sinne eines „tacit cultural knowledge“ abgezielt wird. Für das spezifische Forschungsfeld der relationalen Kunst im Kontext stadträumlicher Transformationsprozesse konnten im Verlauf der Studie drei interdependente, sich vielfach überlagernde Dimensionen des Übersetzungsbegriffs entfaltet werden, die den kulturanalytischen Blick für drei „directions in which to look“ sensibilisieren: erstens die gouvernementale Dimension, die Übersetzung als das Herstellen von Zusammenhalt zwischen den heterogenen, hierarchisierten Teilen eines relationalen Kunstprojekts vor dem Hintergrund regierungstechnischer Dynamiken versteht; zweitens die epistemologische Dimension, die Wissenschaft als soziales Feld konzipiert und die Rolle von Anthropolog:innen als Übersetzer:innen des Forschungsfeldes in einen wissenschaftlichen Text untersucht; und drittens die ästhetische Dimension, die sich relationalen Kunstprojekten als Übersetzungsarbeit widmet und dabei die programmatisch herausgeforderte modernistische Trennung zwischen Kunst und Nicht-Kunst sowie die Neu-Konzeption des Verhältnisses zwischen Original, Kunstschaffenden und Publikum ausleuchtet. Die Entwicklung dieses mehrdimensionalen, projektspezifischen Übersetzungsbegriffs als sensitizing concept und analytisches Werkzeug erfolgt unter Rückgriff auf drei Gebrauchskontexte, in denen der Terminus der Übersetzung bereits lange vor dem translational turn konzipiert und angewandt wurde. Die erste wesentliche Bezugsquelle bildet das anthropologische Feld, in dem bereits seit den 1920er-Jahren wiederholt Überlegungen zur Anthropologie als Übersetzung des Forschungsfeldes in wissenschaftliche Texte angestellt werden. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei der Kritik an der cultural translation im Kontext der Writing-Culture-Debatte und ihrer selbstreflexiven Auseinandersetzung mit anthropologischem Forschen und Schreiben als poetische wie politische Praxis zu.170 Weiters dient der Übersetzungsbegriff aus der „Soziologie der Übersetzung“, wie er von Michel Callon und Bruno Latour seit
168 Vgl. Dizdar (2009): Translational transitions. Die Kritik an der Dichotomisierung zwischen translation proper und anderen Dimensionen des Übersetzungsbegriffs bildet den zentralen Motor für seine interdisziplinäre Konjunktur. 169 Blumer (1969): Symbolic interactionism, 148. 170 Asad (1986): Cultural Translation.
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Gouvernementale Dimension des Übersetzungsbegriffs. Akteure, Macht und Allianzen
den 1980er-Jahren entwickelt wurde, als theoretische Referenz.171 „La traduction“ wird hier als Etablierung von Allianzen zwischen den heterogenen Teilen einer Akteurswelt gefasst. Zur expliziten Verfolgung der Risse und Brüche in den Übersetzungsketten relationaler Kunstproduktion findet eine Verknüpfung des Theorems der traduction mit dem der distinction nach Bourdieu statt. Als drittes Referenzfeld dienen jene Positionen in der Translationswissenschaft und den angrenzenden Feldern der Linguistik, Sprachphilosophie und Literaturwissenschaft, die das Verhältnis von Ausgangstext (Original) und Zieltext (Translat) aus einer akteurszentrierten Perspektive und unter besonderer Berücksichtigung von Macht und sozialem Kontext neu verhandeln.172 Ziel dieses Kapitels ist das Aufnehmen und Verknüpfen jener Diskursstränge des Übersetzungsbegriffs, die für seine dreidimensionale Entfaltung zur systematischen Annäherung an das vorliegende Untersuchungsfeld als produktiv eingeschätzt werden. Für eine detaillierte Darstellung und Analyse der verschiedenen Gebrauchskontexte und der historischen wie aktuellen Konzeptualisierungen des Übersetzungsbegriffs sei auf die entsprechende Literatur verwiesen.
3.1
Gouvernementale Dimension des Übersetzungsbegriffs. Akteure, Macht und Allianzen
Die Gestaltung von Allianzen zwischen künstlerischen und nicht-künstlerischen Akteuren bildet das zentrale Motiv relationaler Kunstprojekte. Dabei handelt es sich nicht nur um konkrete Interessen, welche die relationalen künstlerischen Praktiken leiten, wie etwa im Kollektiv stadträumliche Interventionen durchzuführen (Adaptive Actions), nachbarschaftliche Beziehungen in einer neuen Parkanlage zu etablieren (BELLEVUE) oder politische Botschaften zu Arbeit und Migration im öffentlichen Stadtraum zu platzieren (Keine Denkmale). Vielmehr finden die Zusammenschlüsse im Kontext einer weitreichenden Entgrenzung der Künste in verschiedene soziale Felder statt. „Tatsächlich prägen mittlerweile medial übergreifende Künste in Allianzen mit anderen Kunstformen und Bildkulturen wie etwa Comics und Games, Forschungsprojekten oder sozialen und politischen Praktiken, die manchmal kaum noch künstlerische Merkmale aufweisen, den Eindruck der Biennalen und anderer Kunstgroßveranstaltungen oft am nachhaltigsten.“173
171 Callon und Latour (1981/2006): Leviathan. 172 Vgl. v. a. Wolf (1999): Translation; Hermans (1999): Translation in Systems; Prunč (2011): Entwicklungslinien; Buzelin (2005): Unexpected Allies. 173 Seidel (2019): Borderlines, 2.
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Übersetzung. Begriff, Praxis, Linse
Alle drei Kunstprojekte stehen zudem in Verbindung mit städtebaulichen Regierungshandlungen und deren Intention, zwischen den Interessen der Bewohner:innen und denen der städtischen Raumpolitik zu vermitteln. Die Teilnahme der sozialräumlich ungleich positionierten Akteur:innen folgte dabei – teils gleichzeitig, teils in unterschiedlichen Projektphasen – verschiedenen Modi der Involvierung (vgl. Kapitel 2.2): von einfachen Interaktionen über temporäre Kooperationen bis hin zu tatsächlichen Kollaborationen zwischen sozialräumlich nahestehenden Beteiligten. Die partizipierenden Gruppen rangierten vom klassischen Kunstpublikum über kunstferne, sozial marginalisierte Bewohner:innen bis hin zu Grundeigentümer:innen, kommunalem Verwaltungspersonal, lokalen Vereins- und politischen Funktionär:innen oder politisierten Bürger:innen mit besonderem Interesse an ihrer Nachbarschaft, an Umverteilung von Kapital und an der Mitgestaltung des städtisch-öffentlichen Raums. Der zentrale künstlerische Gestaltungsakt umfasste in allen drei Fällen eine langfristige Beziehungsarbeit – oder um hier den Übersetzungsbegriff der Soziologen Michel Callon und Bruno Latour zu verwenden: Konnektivität zwischen den heterogenen Teilen einer künstlerisch initiierten Akteurswelt herzustellen und damit temporäre Allianzen zur Durchführung des Projekts zu bilden. Ziel der Untersuchung ist es, die komplexe Gemengelage aus Individuen (Künstler:innen, Bewohner:innen, Politiker:innen, Publikum, Forschende, Gewerbetreibende, …), Institutionen (Kunstvereine, Galerien, politische Verwaltung, NGOs, Sozialeinrichtungen, Universitäten, Wirtschaftsbetriebe, …), Materialitäten (Kunstwerke, Bilder, Geräte, …) und Immaterialitäten (Atmosphären, Symbole, Emotionalitäten, …) unter besonderer Berücksichtigung der herrschenden Machtverhältnisse zu ordnen und künstlerisches Handeln im Kontext der Konzeption von „Stadtentwicklung als Regierungsmodus“174 zu verstehen. Zu diesem Zweck wurde der Übersetzungsbegriff in seiner gouvernementalen Dimension entfaltet. Für deren Konzeption bieten die Schriften von Michel Callon und Bruno Latour aus den 1980er- und 1990er-Jahren175 produktive Anknüpfungspunkte. In teils gemeinsam, teils getrennt verfassten Texten definieren sie Übersetzung einerseits als Prozess der Bildung von Zusammenhalt zwischen den heterogenen Teilen einer Akteurswelt, andererseits als analytisches Werkzeug, mit dem diese Prozesse der Allianzbildung untersucht werden. Aufgabe einer „Soziologie der Übersetzung“176 ist es, die Strukturierung von Machtverhältnissen zu analysieren, wobei auch die Rolle der
174 Rolshoven (2013a): Stadtentwicklung, 76. 175 Vgl. Callon und Latour (1981/2006): Leviathan; Callon (1986/2006): Soziologie der Übersetzung; Latour (1991/2008): Wir sind nie modern gewesen; Latour (2005/2010): Eine neue Soziologie; Latour (2012/ 2014): Existenzweisen. In Letzerer ersetzt Latour den Übersetzungsbegriff vor allem durch den Terminus der Assoziationen. Gleichzeitig bedauert er, dass sich die Bezeichnung „Übersetzung“ vor allem im Englischen nicht durchgesetzt hat. 176 Callon (1986/2006): Soziologie der Übersetzung, 136. Diese Bezeichnung wurde später aufgegeben und durch den Begriff der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) ersetzt.
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Gouvernementale Dimension des Übersetzungsbegriffs. Akteure, Macht und Allianzen
Wissenschaft in diesen Übersetzungsprozessen in den Blick genommen wird. Wissenschaft wird dabei nicht mehr als ein von seinem Gegenstand sowie den anderen Teilen der Akteurswelt getrennter, sondern als ein mit ihnen vernetzter Teil gedacht. Während in der Moderne, so die Grundidee dieser Übersetzungskonzeption, das Prinzip der Reinigung vorherrscht, das klare dichotome Unterscheidungen privilegiert – etwa jene zwischen Natur und Kultur, nicht-menschlichen Wesen und menschlichen Wesen, Subjekten und Objekten, Vernunft und Emotion, Wissenschaft und Kunst, Realität und Repräsentation, Faktischem und Fiktion – fördert die Nicht-Moderne durch permanente Übersetzungsprozesse die Sichtbarmachung und Entwicklung von „Mischwesen“, „Hybriden“ oder „Quasi-Objekten“.177 Die Differenzierung zwischen Moderne und Nicht-Moderne markiert dabei weder eine eindeutige Grenze noch eine chronologische Abfolge. Vielmehr herrschen stets beide Prinzipien – das moderne der Reinigungsarbeit und das nicht-moderne der Übersetzungsarbeit – gleichzeitig und in wechselseitiger Bedingung vor. Dabei stellt Latour folgende Überlegung an: „Je mehr man sich verbietet, die Hybriden zu denken, desto mehr wird ihre Kreuzung möglich – darin besteht das große Paradox der Modernen, mit dem sich die besondere Situation, in der wir uns heute befinden, endlich erfassen lässt.“178
Die vorliegende Studie widmet sich in der gouvernementalen Dimension des Übersetzungsbegriffs der Konzeption und Gestaltung dieser „hybriden Netzwerke“, die hier in ihrer Erscheinungsform als relationale Kunstprojekte untersucht werden. Sie beleuchtet, wie künstlerisch initiierte Beziehungsgefüge zwischen vormals getrennt gedachten Entitäten hergestellt werden, welche Rolle die Wissenschaft sowie andere staatliche und nicht-staatliche Institutionen dabei spielen – und wo Risse und Brüche in den temporären Bündnissen auftreten. Als Leitidee dient dabei die Latour’sche Vorstellung, dass in der Moderne zwar Reinigungsprozesse und Dichotomisierungen privilegiert, diesen aber gleichzeitig widersprüchliche, heterogene und hybride Formen der Übersetzungsarbeit entgegengesetzt werden.179 Wenngleich die Frage nach der Fragilität von Allianzbildungen auch bei Callon und Latour ein konstitutives Moment ihrer Übersetzungskonzeption darstellt, blenden sie strukturell wirkmächtige Faktoren für Konflikte und Brüche aufgrund der fluiden Konzeption von Akteuren, Netzwerken und Macht weitgehend aus. Aus diesem Grund erhält die Soziologie der Übersetzung nach Callon und Latour mit Alfred Gells Kunst-
177 Callon (1986/2006): Soziologie der Übersetzung, 19 f. 178 Latour (1991/2008): Wir sind nie modern gewesen, 21. 179 Als aussagekräftiges Beispiel sei hier etwa die moderne Kunst erwähnt, die sich permanent von innen dynamisiert, wie in Kapitel 3.3 (Ästhetische Dimension des Übersetzungsbegriffs) näher dargelegt wird.
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anthropologie und Pierre Bourdieus Soziologie der Distinktion in dieser Studie einen „unerwarteten Bündnispartner“180 , um sowohl strukturelle Determinanten als auch die Effekte kontingenter Interaktionen relational zu untersuchen. 3.1.1 La traduction. Soziologie der Übersetzung Erstmals für den wissenschaftssoziologischen Zusammenhang gebraucht hat Michel Callon den Begriff traduction im Jahr 1975 (L’Opération de traduction181 ) in Anlehnung an Michel Serres philosophische Schrift La Traduction182 . Callon führt das Konzept der Übersetzung in die Wissenschaftssoziologie ein, um die dort dominante Opposition zwischen Sozialem und Kognitivem aufzulösen und die Produktion von Wissen als „System sozialer Interaktionen“ darzustellen. „Wir finden nicht auf der einen Seite soziale Akteure und auf der anderen Wissen. Es gibt eine gemeinsame, programmatische Organisation sowohl von Wissen als auch von sozialen Akteuren. Daraus folgt die Idee der Sozio-Logik.“183 Als „Sozio-Logik der Übersetzung“ bezeichnet Callon jene besondere Logik, „durch die [wissenschaftliche] Probleme direkt mit [sozialen] Gruppen verbunden werden“.184 Am Anfang jeglicher Übersetzung in Wissen generierenden Prozessen steht die Frage, was überhaupt als wissenschaftliches Problem identifiziert wird, also die Grenzsuche zwischen dem, was unproblematisch (gesichertes Wissen) und was problematisch (unsicheres Wissen) ist. Das Problematisieren in den Wissenschaften definiert Callon als parasitäre Praxis, die wiederum von anderen wissenschaftlichen Problematisierungen parasitiert wird. Jedes parasitäre Problematisieren braucht einen Wirt. Es setzt die Produktion von Unterschieden zu etwas, aktive Kritik an etwas bis hin zur Vernichtung von etwas voraus, was gleichzeitig die Parteinahme für etwas sowie das Aufrechterhalten von Verbindungen zu etwas bedeutet.185 Seine Rolle als Wissenschaftler definiert Callon damit als die eines Parasiten, „der von anderen Parasiten lebt“. Diese „Sozio-Logik des Parasitismus […] wird genährt von dem ewig wiederkehrenden Parasitismus, den er um sich herum erforscht“.186 Die thematischen, theoretischen und methodologischen Abgrenzungen und Zuordnungen im Zuge wissenschaftlicher Arbeit versteht Callon als soziale Prozesse, da die Formulierung wissenschaftlicher Probleme durch heterogene Kräfte, verortet in verschiedenen Territorien, stattfindet. Teilen die diversen Akteure das Interesse an der
180 181 182 183 184 185 186
Buzelin (2005): Unexpected Allies. Callon (1975): Traduction. Serres (1974): Hermes III. Callon (1980/2006): Sozio-Logik der Übersetzung, 66. Callon (1980/2006): Sozio-Logik der Übersetzung, 65. Vgl. Callon (1980/2006): Sozio-Logik der Übersetzung, 71 f. Callon (1980/2006): Sozio-Logik der Übersetzung, 72.
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gemeinsamen Lösung eines Problems, so bedarf dies der Verlagerung der jeweiligen Problemstellung in die einzelnen Territorien sowie der Bearbeitung mit den dort gängigen Forschungsansätzen. Diese relational orientierte Problemlösung verlangt, so Callon, nach einer Übersetzung zwischen den jeweiligen Territorien. „Obwohl Übersetzung die Existenz von Divergenzen und Differenzen, die nicht ausgeglichen werden können, anerkennt, bekräftigt sie dennoch die zugrundeliegende Einheit zwischen voneinander verschiedenen Elementen. Übersetzung beinhaltet die Schaffung von Konvergenzen und Homologien, indem sie zuvor verschiedene Dinge verbindet.“187
Durch die notwendigen Umwege in unbekannte Gebiete müssen sowohl Probleme als auch Akteure ihre „Bereiche der Gewissheiten“ verlassen und in eine „Zone des Zweifels“ eintreten. In dieser problematischen „Zone der Fusion“ (ein „Schmelztiegel, in dem praktische Kategorien ausgearbeitet werden“) vermischen sich „das Kognitive und das Soziale in derselben Logik“.188 Je nach Akteurs-Konstellation sind verschiedene Reaktionen möglich, wie Konsens durch Mitläufer:innenschaft oder Verhandlung, aber auch Widerstand und Opposition, falls die Situation als Ganzes angezweifelt wird. Der Erfolg der Übersetzungen kann variierende Grade annehmen. Diese bestimmen sich danach, wie stark die einzelnen Interessen in ein gemeinsames Gesamtes integriert werden können. Eine erfolgreiche Übersetzungsarbeit verbindet demnach die heterogenen Elemente aus den verschiedenen Territorien unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Interessen. Divergenzen werden respektiert statt ausgelöscht, wird doch „letztendlich die Integrität der individuellen Elemente nicht in Frage gestellt […]. Anerkennung für diese Elemente ist der Preis, der im Verlauf der Problematisierung bezahlt werden muss. Die Fusion funktioniert nur, wenn sie von Spaltungen umgeben ist“189 . Wie stark die Inkorporation von heterogenen Interessen erfolgen kann, steht dabei weniger in Verbindung damit, welches bzw. wieviel Kapital – im Sinne von Pierre Bourdieu als Besitz an sozialem, ökonomischem und kulturellem Kapital konzipiert – zur Verfügung steht. Von Bedeutung ist vielmehr, wie das vorhandene Kapital in transformativer Absicht eingesetzt wird. Dabei geht Callon dezidiert auf Distanz zu Bourdieus Kapital-Konzept, das er als strukturdeterministisch und damit als wenig brauchbar für die dynamische Orientierung einer Soziologie der Übersetzung einschätzt.190 „Diese Valorisierungsstrategien müssen erforscht werden, wenn die Kraft
187 188 189 190
Callon (1980/2006): Sozio-Logik der Übersetzung, 66. Callon (1980/2006): Sozio-Logik der Übersetzung, 71. Callon (1980/2006): Sozio-Logik der Übersetzung, 67. Dass Bourdieu selbst wiederholt der strukturdeterministischen Einschätzung seines Kapitalbegriffs entgegengetreten ist und die von verschiedenen Seiten – so auch von Callon und Latour – vorgebrachte
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der Problematisierung und ihre Macht, Unterstützung aufzubieten, eingeschätzt werden sollen.“191 In ähnlicher Weise verwenden Callon und Latour den Übersetzungsbegriff ein Jahr später in ihrem gemeinsamen Aufsatz Die Demontage des großen Leviathan192 . Mit Bezug auf Thomas Hobbes’ (1651) Idee des Gesellschaftsvertrags193 als disziplinierende wie friedenssichernde Aufhebung der Kluft zwischen Individuum und Institution (Mikround Makroebene) konzipieren Callon und Latour Übersetzung als jenen Prozess, durch den „viele wie eine/r handeln“194 . Diese paradoxe „Transaktion (Übersetzung)“ steht im Zentrum ihrer Untersuchung, die der dominanten soziologischen Trennung zwischen Makro- und Mikro-Akteuren den flexiblen Analyserahmen einer „Isomorphie der Akteure“ entgegensetzt. Ziel dieser Zurückweisung der rigorosen Differenzierung zwischen Individuen und Institutionen ist es, die Hegemonie der Makro-Akteure weder durch die Antizipation ihrer Stärke (Makro-/Mikro-Analyse) noch durch die Leugnung ihrer Existenz zu stärken, sondern sie durch die Analyse von Übersetzungsprozessen und damit ohne die Bestätigung von Größenunterschieden zu dynamisieren. „Übersetzung umfasst alle Verhandlungen, Intrigen, Kalkulationen, Überredungs- und Gewaltakte, dank derer ein Akteur oder eine Macht die Autorität, für einen anderen Akteur oder eine andere Macht zu sprechen oder zu handeln, an sich nimmt oder deren Übertragung auf sich veranlasst. ‚Unsere Interessen sind dieselben‘, ‚Tu, was ich will‘, ‚Du kannst ohne mich keinen Erfolg haben‘ – immer wenn ein Akteur von ‚uns‘ spricht, übersetzt er oder sie andere Akteure in einen einzigen Willen, dessen Geist und Sprecher/-in er oder sie wird. Er oder sie beginnt, für mehrere zu handeln – nicht nur für eine/-n –, wird damit stärker, wächst. Der soziale Vertrag zeigt in einer Rechtsterminologie, am Ursprung der Gesellschaft in einer unumstößlichen Alles-oder-Nichts-Zeremonie, welche Übersetzungsprozesse sich in empirischer und umkehrbarer Weise, in einer Vielzahl detaillierter, alltäglicher Verhandlungen offenbaren.“195
Damit sich soziale Interaktionen verstetigen können, bedarf es nicht nur menschlicher und institutioneller Akteure, sondern „dauerhafter Materialien“. Diese nichtmenschlichen „Verbündeten“ – wie „Techniken, Werkzeuge, Gesetze, Bauten, Wörter, Rituale, Eisen, Holz, Samenkörner oder Witterungsbedingungen“196 – gelten Callon
191 192 193 194 195 196
Kritik unter Verweis auf die dynamische Orientierung seiner Konzeption des sozialen Raums dekonstruiert hat, sei hier nur am Rande erwähnt. Callon (1980/2006): Sozio-Logik der Übersetzung, 71. Callon und Latour (1981/2006): Leviathan. Hobbes (1651/2011): Leviathan. Callon und Latour (1981/2006): Leviathan, 76. Callon und Latour (1981/2006): Leviathan, 77. Callon und Latour (1981/2006): Leviathan, 82 f.
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Gouvernementale Dimension des Übersetzungsbegriffs. Akteure, Macht und Allianzen
und Latour als notwendige Akteure bei der Herstellung zwischenmenschlicher Verbindungen in Übersetzungsprozessen. Sie bilden die Basis für Konnektivität und Wachstum von Akteurs-Beziehungen und führen zu deren machtvollem Status als unhinterfragbar und abgeschlossen. Die Möglichkeit, scheinbar selbstverständliche Verstetigungen von Relationen durch Übersetzungsprozesse herzustellen (Black-Boxing), steht in Zusammenhang mit Position, Größe, Einfluss, Stabilität und Handlungspotenzial eines Akteurs. Dieser Akteur wird in Callons und Latours Ansatz jedoch nicht statisch gedacht und entweder dem Mikro- (z. B. Mensch oder Ding) oder dem Makrobereich (Institution) zugeordnet, was wiederum machtbestätigend und -reproduzierend wirken würde. Vielmehr fokussieren sie jene Übersetzungen, durch die ein Akteur mittels erfolgreichen Deponierens von Elementen in Black Boxes „dauerhafte Asymmetrien schafft“ und damit gleichzeitig sich selbst und das Beziehungsgefüge zu transformieren vermag. Dadurch wird der Blick für jene Elemente geschärft, die „für zukünftige Verhandlungen offen zur Verfügung stehen“.197 Ziel dieser Soziologie der Übersetzung ist die Öffnung von Black Boxes im Sinne eines Enthüllens und Verstehbar-Machens von hegemonialen Konstellationen und damit die Dekonstruktion der Produktion von Machtungleichgewicht. Die Untersuchung, auf welche Weise Machtverhältnisse sowohl im Forschungsprozess als auch gesamtgesellschaftlich gebildet werden, ist für Callon und Latour zentrales Ziel einer Soziologie der Übersetzung. In dem „inzwischen geradezu mythischen Artikel“198 über „die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht“ führt Callon „einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung“ im Detail aus. Sein zentrales Interesse gilt einer meeresbiologischen Kontroverse über Rückgang und Regenerationsmöglichkeiten von Kammmuscheln an der französischen Küste. Der Begriff Übersetzung (dieser ist „zuallererst ein Prozess“, „bevor er zu einem Resultat wird“199 ) dient ihm zudem als „analytisches Werkzeug […] zur Untersuchung der Rolle von Wissenschaft und Technik bei der Strukturierung von Machtverhältnissen“.200 Gleichzeitig betont Callon, dass das „gewählte Vokabular“ der „Übersetzung“ beobachterspezifisch und austauschbar ist, selektiert aus einer „unendlichen Anzahl von Repertoires“: „Es ist Sache des Soziologen, das für seine Aufgabe passende zu wählen und dann seine Kollegen von der Richtigkeit seiner Wahl zu überzeugen. Nachdem wir uns in diesem Text für ein Vokabular der Übersetzung entschieden haben, wissen wir, dass unsere Erzählung nicht mehr – aber auch nicht weniger – wert ist als jede andere.“201
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Callon und Latour (1981/2006): Leviathan, 84. Latour (2005/2010): Eine neue Soziologie, 183. Callon (1986/2006): Soziologie der Übersetzung, 170. Callon (1986/2006): Soziologie der Übersetzung, 136. Callon (1986/2006): Soziologie der Übersetzung, 142.
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Mit dem Terminus der Übersetzung fokussiert Callon das Streben nach Durchsetzung einer spezifischen Position in einem Forschungsprozess, wobei er vier einander überlappende „Momente“ der Übersetzung unterscheidet, die in unterschiedlicher Reihenfolge auftreten können: (1) Problematisierung: Die Forschenden machen sich unentbehrlich, indem sie durch entsprechende Fragestellungen unsicheres Wissen identifizieren und andere Akteur:innen von der Notwendigkeit wissenschaftlicher Forschung sowie der gemeinsamen Lösung eines Problems überzeugen. (2) Interessement: Die Forschenden teilen ihren Alliierten (dem „System von Allianzen oder Assoziationen zwischen Entitäten“202 ) der Problematisierung entsprechende Rollen zu und fixieren sie in diesen Positionen durch Erzeugung von Interesse dafür – zum Beispiel durch Verführung, Überredung, Bitte oder Gewalt. (3) Enrolment: Die Forschenden definieren die zugewiesenen Rollen und koordinieren die Beziehungen zwischen ihnen, wobei durch erfolgreiches Enrolment die Akteur:innen ihre Rollen akzeptieren, an sie glauben und damit das von den Forschenden entworfene Bündnis mittragen. (4) Mobilisierung: Die Forschenden lassen Gruppensprecher:innen bestimmen oder identifizieren repräsentative Gesprächspartner:innen, die für eine Vielzahl an Individuen der einzelnen Entitäten sprechen bzw. deren Rollen repräsentieren. Erfolgreiche Mobilisierung bedeutet, dass die verschiedenen Akteur:innen in Bewegung geraten sind und die Forschenden aktiv bei ihrem Anliegen unterstützen. Am Ende der vier Momente des Übersetzungsprozesses sind die Akteur:innen so geformt, dass „ein zwingendes Netzwerk von Beziehungen“ geknüpft ist, wobei „dieser Konsens und die dadurch implizierten Allianzen […] jedoch jederzeit angefochten werden [können]. Die Übersetzung wird zum Verrat“.203 Dieser Frage nach den Dissident:innen, die Kontroversen erzeugen und damit die Repräsentativität ihrer Sprecher:innen in Frage stellen, wendet sich Callon am Ende seiner Ausführungen zu. Das durch Übersetzungsprozesse entstandene Beziehungsgefüge (Allianz) kann – durch Betrug oder andere Ereignisse – gefährdet und nur durch zeitintensive Verhandlungen wieder stabilisiert werden. Diese Unbestimmtheit nachdrücklich zu betonen, begründet den Einsatz des Übersetzungsbegriffs, denn „Übersetzen bedeutet Verschieben“. Diese unabdingbaren Verschiebungen – in physisch-räumlicher wie in metaphorischer Bedeutung – ortet Callon in den unterschiedlichen Phasen des Forschungsprojekts, auf und zwischen unterschiedlichen Akteursebenen, strategisch eingesetzt oder auch ungewollt geschehen.
202 Callon (1986/2006): Soziologie der Übersetzung, 150. 203 Callon (1986/2006): Soziologie der Übersetzung, 164.
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Gouvernementale Dimension des Übersetzungsbegriffs. Akteure, Macht und Allianzen
Diesen dynamischen, transformativen Charakter, der nach Callon jeglicher Übersetzung innewohnt, betont auch Bruno Latour in seiner Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie.204 In Anknüpfung an Callons Beispiel der Jakobsmuschel-Fischerei in Frankreich hebt er die Tätigkeit des „Mittlers“ hervor, der „Verkettungen“ zwischen menschlichen wie nicht-menschlichen Akteuren herstellt. Mittler:innen initiieren Beziehungen, die „andere dazu bringen, unerwartete Dinge zu tun“, was Latour als „soziales Ding“ (etymologisch bezogen auf die ursprüngliche Bedeutung von „socius“ als Gefolgsmann, Gefährte, Gesellschafter, associate) bezeichnet. Sein Interesse an diesen Übersetzungen gilt dabei nicht der Kraft eines Akteurs oder der „Kraft hinter allen Akteuren“, sondern den durch deren Verknüpfungen bewirkten Veränderungen.205 Der Begriff Übersetzung bezeichnet demnach nicht einfach eine Beziehung, die vorhersagbare, routinemäßige Kausalitäten transportiert, sondern eine Beziehung, die „zwei Mittler dazu veranlasst zu koexistieren“ und durch diese Koexistenz Transformationen der einzelnen Akteure und des gesamten Netzwerks einleitet. „Es gibt keine Gesellschaft, keinen sozialen Bereich und keine sozialen Bindungen, sondern es existieren Übersetzungen zwischen Mittlern, die aufzeichenbare Assoziationen generieren können.“206 In Übersetzungsprozessen, so lässt sich zusammenfassen, kommen die „verschiedenen Interessen und Positionen der Akteure miteinander zur Übereinkunft“.207 Sie verbinden sich zu fluiden Allianzen aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, wobei diese Beziehungsgefüge als kontinuierlich fluktuierend gedacht werden. Diese fluktuierenden Relationen gilt es durch Feldstudien unter dem Motto „follow the actors“ empirisch und mit Blick auf kleinste Handlungsdetails zu erheben, wobei – so lautet eine vielfach geübte Kritik an der Soziologie der Übersetzung – fixierenden kontextuellen Faktoren wie Normen, Institutionen oder sozialen Ungleichheiten zwischen den Akteuren zu wenig Beachtung geschenkt wird. 3.1.2 Akteure, Allianzen, Gouvernementalität Die Idee der Temporalität jeglichen Übersetzungsresultats, das stets in Frage gestellt werden und wieder in einen Prozessstatus umschlagen kann, geht in der Soziologie der Übersetzung einher mit einer fluiden, hybriden und performativen Konzeption des Akteursbegriffs. Einerseits gelten sowohl menschliche als auch nicht-menschliche Entitäten als Akteure, das heißt, neben Personen sind als „Mittäter“ auch Institutionen, Dinge, Tiere, Pflanzen, Naturerscheinungen, Zeichen, Bilder, Gesten, Gefühle, Begriffe oder Rhetorik gemeint. Andererseits werden die Möglichkeiten der Interaktion, 204 205 206 207
Latour (2005/2010): Eine neue Soziologie. Latour (2005/2010): Eine neue Soziologie, 185. Latour (2005/2010): Eine neue Soziologie, 188. Gießmann (2013): Verunreinigungsarbeit, 137.
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Übersetzung. Begriff, Praxis, Linse
ihre Interessen und Handlungsspielräume nicht als a priori habituell vorgeprägt angenommen, sondern als erst im Verlauf des Handelns geformt, ausgehandelt, angepasst und kontinuierlich transformiert. Akteure stehen in klarer Abgrenzung zu strukturdeterministischen Sichtweisen nie außerhalb der Beziehungen, die sie eingehen. Diese dynamischen, jederzeit anfechtbaren Beziehungsgefüge, in denen heterogene Akteure durch relationale Momente der Übersetzung („Assoziationsketten“) miteinander verknüpft werden, bezeichnet die Soziologie der Übersetzung als „Allianzen“, wobei der Begriff „unterschiedslos für alle Akteure“208 angewandt wird, das heißt für Allianzen, die sowohl aus menschlichen wie nicht-menschlichen Teilen bestehen. In diesem Sinne gelten auch Artefakte – wie sie etwa im Kontext relationaler Kunstprojekte hergestellt werden (der blaue Gartenzwerg, das gelbe Haus, die schwarze Schultafel) – als Akteure im Prozess von Allianzbildungen. Deren jeweiliger Wert lässt sich nicht als intrinsische Objekteigenschaft fassen, sondern als performativ hergestellte Artikulation sozialer Bedürfnisse und Interessen. Kunst gilt in dieser Sichtweise als Teil eines fluiden Netzwerks, nicht als autonome Sphäre, wobei die Soziologie der Übersetzung generell eine dichotome Unterscheidung zwischen den sogenannten weichen Projektionsflächen für Gesellschaft (gemeint sind damit die in den Humanities beforschten Bereiche wie Kultur, Religion, Konsum oder Folklore) und den als hart definierten Determinanten von Gesellschaft (die in den Sciences beforschten Bereiche wie Natur, Ökonomie, Genetik, Hirnforschung oder Technik) ablehnt. Vielmehr werden im Gegensatz zu den modernistischen Trennungen – etwa zwischen Kunst und Wissenschaft – sämtliche weichen wie harten Bestandteile des Lebens gleichermaßen „als arbiträre Konstruktionen, die von Interessen und Erfordernissen einer Gesellschaft sui generis bestimmt“209 sind, betrachtet. Sie gelten nicht als soziales Produkt, sondern als „Koproduzenten“ von Gesellschaft, schließlich muss „die Gesellschaft, bevor sie sich auf Dinge projizieren“ kann, „gemacht, aufgebaut, konstruiert werden“ – und zwar auch „aus nicht-sozialen, nicht-menschlichen Ressourcen“.210 Aus der Perspektive einer Soziologie der Übersetzung gilt auch Kunst als Akteurin und – wie auch Wissenschaft, Politik, Religion oder Technik – Koproduzentin von Gesellschaft, wobei für die vorliegende Studie über relationale Kunst eine erweiterte Konzeption des Akteursbegriffs entlang der kunsttheoretischen Ansätze von Alfred Gell und Pierre Bourdieu vorgeschlagen wird. Der britische Kunstanthropologe Alfred Gell untersucht in seiner richtungsweisenden Schrift Art and Agency211 die Rolle von Kunstwerken bei der Strukturierung sozialer Beziehungen. Dabei unterscheidet er zwischen Primärakteuren (primary agents) als menschlichen Akteuren, deren Konstituierung er in unabdingbarer Wechselbeziehung mit Sekundärakteuren (secondary agents) denkt. 208 209 210 211
Callon (1986/2006): Soziologie der Übersetzung, 167. Latour (1991/2008): Wir sind nie modern gewesen, 75. Latour (1991/2008): Wir sind nie modern gewesen, 73. Gell (1998): Art and Agency.
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Gouvernementale Dimension des Übersetzungsbegriffs. Akteure, Macht und Allianzen
„I am prepared to make a distinction between ‚primary‘ agents, that is, intentional beings who are categorically distinguished from ‚mere‘ things or artefacts, and ‚secondary‘ agents, which are artefacts, dolls, cars, works of art, etc. through which primary agents distribute their agency in the causal milieu, and thus render their agency effective.“212
Die Bezeichnung von Kunstwerken als Sekundärakteuren nimmt Gell nicht vor, um „a form of material-culture mysticism“ voranzutreiben, „but only in view of the fact that objectification in artefact-form is how social agency manifests and realizes itself, via the proliferation of fragments of ‚primary‘ intentional agents in their ‚secondary‘ artefactual forms.“213 Wenn Gell neben Personen auch „things, animals, divinities, in fact anything at all“ als „social agents“ bezeichnet, so denkt er diese beiden Akteursgruppen einerseits wechselseitig aufeinander bezogen. Andererseits steht dem Akteur – primary wie secondary – im Gell’schen Sinne stets ein patient relational gegenüber, das heißt, jemand oder etwas, mit dem er oder es etwas macht, im Sinne von „various possibilities and combinations of agency/patiency“. „The concept of agency I employ here is exclusively relational: for any agent, there is a patient, and conversely, for any patient, there is an agent. This considerably reduces the ontological havoc apparently caused by attributing agency freely to non-living things, such as cars. Cars are not human beings, but they act as agents, and suffer as patients ‚in the (causal) vicinity‘ of human beings, such as their owners, vandals and so on.“214
Auch patients denkt Gell in diesen „agent/patient interactions“ weder als determiniert statisch noch als völlig passiv, denn „they may resist“. Sie können widerständig und schwierig werden, und damit „a form of (derivative) agency“215 vollziehen, wie es Gell vor allem für künstlerische Artefakte und Prozesse feststellt. „Art objects are characteristically ‚difficult‘. They are difficult to make, difficult to ‚think‘, difficult to transact. They fascinate, compel, and entrap as well as delight the spectator. Their peculiarity, intransigence, and oddness is a key factor in their efficacy as social instruments. Moreover, in the vicinity of art objects, struggles for control are played out in which ‚patients‘ intervene in the enchainment of intention, instrument, and result, as ‚passive agents‘, that is, intermediaries between ultimate agents and ultimate patients.“216
212 213 214 215 216
Gell (1998): Art and Agency, 21. Gell (1998): Art and Agency, 21. Gell (1998): Art and Agency, 22. Gell (1998): Art and Agency, 23. Gell (1998): Art and Agency, 23.
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Der konzeptuelle Hintergedanke für die agent/patient-Unterscheidung besteht für Gell in der Notwendigkeit, „nested hierarchies“ in den Akteursbeziehungen nicht aus dem Blick zu verlieren. Ob „ultimate agents“, „ultimate patients“ oder – dazwischen – „passive agents“: Akteursbeziehungen finden nie in symmetrischen Relationen statt, sondern sind eingebettet in bestehende soziale Machtbeziehungen, die es in einer anthropology of art in Gell’scher Ausprägung zu berücksichtigen gilt. Wenngleich Gell – wie auch Latour und Callon – die vernetzten Primär- und Sekundärakteure als menschlich/nicht-menschliches Handlungsgefüge konzipiert, ist sein Akteursbegriff weniger fluide als jener der Soziologie der Übersetzung. Der britische Anthropologe setzt eine gesellschaftliche Struktur voraus, die über habituelle Konditionierungen erwartbare Handlungen hervorbringt. In Anlehnung an Bourdieus „invaluable concept of the ‚habitus‘“217 sind Handlungsmöglichkeiten und Interaktionsprozesse der Primär- und Sekundärakteure nicht allein im konkreten Tun wechselseitig hergestellt und damit strukturell frei und voraussetzungslos gedacht. Vielmehr handeln Primärakteure im Bourdieu’schen Sinne habituell konditioniert, das heißt entsprechend ihrer jeweiligen Dispositionen für Wahrnehmen, Denken, Werten und Entscheiden. Deren agency wird weniger von persönlichen Motiven der Handelnden in ihren unmittelbaren Beziehungssituationen angetrieben, sondern von kulturellen und sozialen Institutionen als „external, interactive, processual, historical realities“. Gell fordert in seiner Kunstanthropologie und mit Bezug auf die Konzeption von Primär- und Sekundärakteuren nachdrücklich dazu auf, „to consider the institutional framework of the production and circulation of artworks, in so far as such institutions exist“.218 Dabei fusioniert er Bourdieus „sociological/institutional perspective“ mit seiner „anthropological/relational one“ und fokussiert die Frage der sozialen Hierarchisierungen, die jeder agency/patiency zugrunde liegen. Die vorliegende Studie sucht nach den produktiven Überschneidungen der Akteurskonzepte von Callon/Latour und Gell bzw. Bourdieu. Sie findet diese dort, wo sich Risse in den Übersetzungsketten bzw. Grenzen freier, lokaler Interaktionen manifestieren, sowie dort, wo Gestaltungsspielräume in Form von Handlungen zu Tage treten, die inkorporierte Strukturen außer Kraft setzen. Die gouvernementale Dimension des Übersetzungsbegriffs will im empirischen Feld der relationalen Kunst genau diese transformativen Zonen orten, wo Akteure und ihre Handlungen entweder die strukturell vorgegebenen Grenzen in Frage stellen oder an die Grenzen der (vermeintlichen) Freiheit (zum Beispiel der Kunst) stoßen. Der Begriff der Gouvernementalität bezieht sich dabei auf Michel Foucaults Überlegungen zur politischen Ökonomie der Macht bzw. auf seine Konzeption von Gouvernementalität, die sowohl Bourdieus als auch Callons und Latours Handlungskonzeptionen geprägt hat.
217 Gell (1998): Art and Agency, 127. 218 Gell (1998): Art and Agency, 8.
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Gouvernementale Dimension des Übersetzungsbegriffs. Akteure, Macht und Allianzen
Die Foucault’sche Theorie der Gouvernementalität, seit Ende der 1970er-Jahre begrifflich gefasst, vielfach rezipiert, kritisiert und weiterentwickelt219 , geht aus von einer Untersuchung der Macht als Mechanismus, der „das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt, ihm ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muss und das andere in ihm anerkennen müssen“220 . Mit dem Begriff der Gouvernementalität markiert Foucault nachdrücklich jene Machttechniken des Staates, mit denen dieser – im Zuge des Bedeutungsverlusts der kirchlichen Autoritäten – die Leitung, Kontrolle und Verwaltung der Bevölkerung in ihrer alltäglichen Lebensführung, ihrem Zusammenleben, ihrem Glück und ihrem Wohlstand übernimmt. „Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. Zweitens verstehe ich unter Gouvernementalität die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttyps, den man als ‚Regierung‘ bezeichnen kann […], geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zur Folge gehabt hat.“221
Foucault fragt damit nach jenen Regierungstechniken des modernen Staates, welche die Bedingungen für ein freies Handeln der Menschen sowie die Grenzen dieser Freiheit im Sinne des Allgemeinwohls organisieren. Dem Individuum kommt in der Foucault’schen „Mikrophysik der Macht“ insofern die Möglichkeit der Mitgestaltung zu, als Macht immer erst in der Interaktion zwischen Individuen, und damit dezentral permanent im alltäglichen Handeln, hergestellt wird. Die Frage nach der Produktion von Macht im Rahmen lokaler Interaktionen steht auch im Zentrum der Soziologie der Übersetzung nach Callon und Latour. Dabei wird mit Foucault das Handeln der menschlichen Akteur:innen nicht deterministisch als Folge staatlicher Gewalt gedacht, vielmehr gilt es, die „Gewaltenteilung“ und damit auch die Handlungsspielräume der Akteur:innen im Blick zu behalten. Das Übersetzungsmodell konzipiert Macht nicht als etwas, das Akteur:innen haben und damit vor einer Handlung – als ihre Ursache – steht, sondern als etwas, das ausgeübt wird und damit nach der Handlung – als ihre Konsequenz – steht.
219 Lemke (1997): Gouvernementalität; Bröckling et al. (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. 220 Foucault (1982/1987): Das Subjekt und die Macht, 246. 221 Foucault (1978/2000): Die Gouvernementalität, 64 f.
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Übersetzung. Begriff, Praxis, Linse
Das Forschungsinteresse gilt damit nicht den machtvollen Anordnungen des Staates, die andere gehorchen lassen, sondern den „vielen verschiedenen Gründen, die andere dafür haben, etwas anderem zu gehorchen oder etwas anderes zu tun“222 . Ziel der Soziologie der Übersetzung ist es nicht, staatliche „Machtbeziehungen hinter jeder noch so harmlosen Aktivität“ zu enthüllen und sowohl Analytiker:innen als auch Akteur:innen durch die Antizipation dieser Macht „zu anästhesieren“, sondern die Bestandteile, aus denen sich Macht zusammensetzt, analytisch zu zerlegen.223 Die vorliegende Arbeit kombiniert bei der gouvernementalen Dimension des Übersetzungsbegriffs Foucaults Vorstellung von Gouvernementalität mit Gells kunstanthropologisch informierter Differenzierung des Akteursbegriffs und setzt diese hybride Konzeption als Mittler ein, um zwischen den unterschiedlichen Konzeptionen des Akteur-Struktur-Verhältnisses bei Callon/Latour einerseits und Bourdieu andererseits zu übersetzen. Zwar stehen die unmittelbaren Interaktionen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren im Prozess der Durchführung eines relationalen Kunstprojekts im Fokus der Aufmerksamkeit, jedoch werden Akteure sowohl symmetrisch (Utopie) als auch im Bourdieu’schen Sinne sozialräumlich positioniert (Praxis) konzipiert, ausgestattet mit unterschiedlichen Bedingungen der Möglichkeit zur agency/patiency im konkreten Handeln. Gleichzeitig gilt der Blick aber vor allem jenen Momenten im Projektverlauf, in denen erwartbare agency in patiency – und vice versa – umschlägt und somit unerwartete Transformationen der Akteurskonditionierung stattfinden. Da, mit Foucault gesprochen, die Mikrophysik der (staatlichen) Macht bei Forschungen über Kunst im Licht des dominanten Narrativs ihrer Freiheit gerne übersehen wird, soll der Begriff der Gouvernementalität diese Dimension durchwegs präsent halten.
3.2
Epistemologische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Anthropologie des dritten Raums
In einer gezielt in Schwebe gehaltenen agency/patiency-Rolle bewegt sich auch die Kulturanthropologin im Forschungsfeld der relationalen Kunst. Die vorliegende Arbeit basiert auf teilnehmenden Beobachtungen, wobei sich die Forscherin als multiple agent positioniert – sowohl in der Rolle als interessierte und engagierte Stadtbürgerin, die an einem relationalen Kunstprojekt im Kontext städtischer Transformationsprozesse teilnimmt, als auch als Wissenschaftlerin, die empirisch grundierte Untersuchungen durchführt, diese in eine fachspezifische Sprache überträgt und gleichzeitig Teile der Untersuchungsergebnisse in den künstlerischen Projektverlauf zurückspielt.
222 Latour (1986/2006): Die Macht der Assoziation, 200. 223 Latour (2005/2010): Eine neue Soziologie, 148.
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Epistemologische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Anthropologie des dritten Raums
Die epistemologische Dimension des Übersetzungsbegriffs reflektiert die Bedingungen dieser spezifischen Form der engagierten wissenschaftlichen Wissensproduktion224 im Verhältnis zu anderen im Projektverlauf wirksamen Wissensmodi, wie dem je praktischen Wissen der außerkünstlerischen Akteur:innen sowie den Kenntnissen, welche die Künstler:innen, Kurator:innen, Kunsttheoretiker:innen sowie das Kunstpublikum in das Projekt einbringen. Angeknüpft wird dabei an einen Translationsbegriff, der Anthropologie als Übersetzung zwischen dem Untersuchungsfeld und dem wissenschaftlichen Text fasst: „Whatever else an ethnography does, it translates experience into text“225 , wobei es mit George Marcus und James Clifford vor allem die poetischen und politischen Anteile dieses Übersetzungsprozesses („the poetics and politics of ethnography“) zu untersuchen gilt. Als zentrale Referenz dient der erweiterte Übersetzungsbegriff der Writing-Culture-Debatte, die Mitte der 1980er-Jahre sowohl die Idee einer „originalen Kultur“ (vgl. Kapitel 3.2.1 Kultur als Übersetzung. Third Spaces) als auch die Möglichkeit ihrer neutralen und authentischen Übersetzung in einen wissenschaftlichen Text (vgl. Kapitel 3.2.2 Anthropologie als Übersetzung. Idee und Kritik) grundlegend in Frage gestellt hat. „Cross-cultural translation is never entirely neutral; it is enmeshed in relations of power (Asad, 1986). One enters the translation process from a specific location, from which one only partly escapes. In successful translation, the access to something alien – another language, culture, or code – is substantial. Something different is brought over, made available for understanding, appreciation, consumption.“226
Die Übersetzung der Erhebungen im Feld in einen wissenschaftlichen Text, so die in dieser Studie verfolgte Konzeption, bildet die erforschte Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern stellt sie im Prozess der Feldforschung sowie des wissenschaftlichen Schreibens überhaupt erst her (writing culture). Gleichzeitig gilt die beforschte Wirklichkeit selbst als in ständiger Transformation begriffen und lässt sich damit nur fragmentarisch und momenthaft darstellen. Neben diesen epistemologischen Anmerkungen zu den konstruktiven und fiktiven Anteilen der anthropologischen Wissensproduktion (poetics of ethnography) widmet sich die Writing-Culture-Debatte auch den politics of ethnography: Anthropologie als Übersetzung wird als Teil herrschender Machtverhältnisse (Wer übersetzt wen bzw. was unter welchen Bedingungen?) und damit als privilegierte soziale Praxis identifiziert und diskutiert. Im Zuge der Konjunktur des Übersetzungsbegriffs in den Geistes- und Sozialwissenschaften seit den 1990er-Jahren dienten der weite Übersetzungsbegriff der Anthro-
224 Vgl. Fußnote 10. 225 Clifford und Marcus (1986): Writing Culture, 115. 226 Clifford (1997): Routes, 182.
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Übersetzung. Begriff, Praxis, Linse
pologie, seine politische Dimensionierung sowie die Kritik an einer essentialistischen Kulturkonzeption als wesentliche Referenzen. Doris Bachmann-Medick führt mit Bezug auf die Writing-Culture-Debatte die Anthropologie als Leitdisziplin im Zuge der Herausbildung eines translational turn an und würdigt sie „in besonderer Weise“ als „die Wissenschaft […], die das Übersetzungsverständnis […] in Sphären der Kulturvermittlung ausgedehnt hat“. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin definiert Kulturanthropologie als „Wissenschaft der Übersetzung […] von und zwischen den Kulturen“, die – als soziale Praxis wie als interkulturelle Kommunikationsform – „je nach sozial-kulturellem Kontext, Situation oder Verwendungszusammenhang eine Vielschichtigkeit von Bedeutungen freilegt“.227 Auf der Writing-Culture-Debatte sowie auf der postkolonialen Theoriebildung baut die Translationswissenschaftlerin Michaela Wolf ihre Kritik an der dominanten Vorstellung von interlingualer Übersetzung als verbindender „Brücke zwischen Kulturen“ auf. Sie plädiert für eine „Sicht von Übersetzung als Beitrag zur Konstruktion von Kulturen“ und betont, unter Bezugnahme auf die Übersetzungswissenschaftler:innen Susan Bassnett und André Lefevere, den fluiden und konstruktiven Charakter jeglicher Übersetzungsebenen sowie die Wirkmacht von „institutionellen Zwängen“.228 „Unter Einbeziehung postkolonialer Denkfiguren bedeutet dies für die translatorische Praxis, dass allein durch die Auseinandersetzung der involvierten AkteurInnen mit diesen institutionellen Zwängen alle beteiligten Faktoren (Personen, Zeichen, Praktiken) Bedeutungsveränderungen erfahren, die sie in einen nicht rückführbaren Status bringen und die zur Konstituierung kultureller Neukontextualisierungen wesentlich beitragen.“229
Mit Bezug auf Homi K. Bhabhas Konzept eines hybriden third space spricht Wolf vom „wechselseitigen, dialogischen, polyphonen und interaktionsbetonten Charakter von Übersetzung“. Sie fasst interlinguale Übersetzer:innen mit der Denkfigur der „translatorischen ‚Mittelsperson‘“ und plädiert zur Erforschung dieser dritten Räume für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit jenseits identitärer Grenzziehungen zwischen Disziplinen und sozialen Feldern.230 Der hier skizzierten translatorischen Perspektivierung wissenschaftlicher Produktion als konstruierende, situierte und in Machtverhältnisse eingebettete Praxis folgt die epistemologische Dimension von Übersetzung. Sie leuchtet vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Theoriebildung jene Areale des empirischen Feldes relationaler Kunst aus, in denen die Anthropologin in aktive, dialogische Beziehung mit den Kunstschaf-
227 228 229 230
Bachmann-Medick (2006): Cultural Turns, 260. Wolf (2006): Übersetzung als Brücke, 10. Wolf (2006): Übersetzung als Brücke, 14. Wolf (2006): Übersetzung als Brücke, 14.
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Epistemologische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Anthropologie des dritten Raums
fenden und anderen sozialen Akteur:innen tritt. Dabei situiert sie sich nicht außerhalb der künstlerisch initiierten Akteurswelt, die es neutral in einen wissenschaftlichen Text zu übersetzen gilt, sondern als transformativer Teil davon. 3.2.1 Kultur als Übersetzung. Third Spaces Den diskursiven Rahmen für die Konjunktur eines weiten Übersetzungsbegriffs bilden jene theoretischen Ansätze, die seit den späten 1960er-Jahren das Verhältnis von Wirklichkeit und Repräsentation unter poststrukturalistischen Vorzeichen neu verhandeln. Seither formieren sich zwischen kultur- und sozialwissenschaftlichem Feld verschiedene Transdisziplinen (Cultural Studies, Postcolonial Studies, Gender Studies), die sich den Wirklichkeit herstellenden – und nicht nur abbildenden – Anteilen von Sprache und Bild im alltäglichen Gebrauch zuwenden und hegemoniale Darstellungskonventionen in Wissenschaft, Kunst, Politik und Alltag analysieren. In diesem kritischen Diskursraum erfährt ein erweiterter Übersetzungsbegriff in wechselseitiger Beziehung zur Dekonstruktion eines essentialistischen Kulturbegriffs besondere Aufmerksamkeit. Kultur wird nicht länger als in sich geschlossene, homogene, statische Entität gedacht, die als solche erforscht und in einen wissenschaftlichen Text übersetzt werden kann. Vielmehr wird ihre Offenheit, Prozesshaftigkeit und Hybridität unter den Vorzeichen von Begegnung, Austausch, Überlappung und Verknotung betont, wobei die Frage von Macht als konstitutives Moment kultureller Formation fokussiert wird. Als Protagonisten des Zusammendenkens von Kultur und Übersetzung gelten der Anthropologe Talal Asad und der Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha. Während sich Asad selbstreflexiv und in epistemologischer Absicht dem Konzept von Anthropologie als kulturelle Übersetzung zuwendet (vgl. Kapitel 3.2.2 Anthropologie als Übersetzung. Idee und Kritik), gilt Bhabhas Interesse der postkolonialen Kritik eines essentialistischen Kulturkonzepts. Er konstatiert in expliziter Abgrenzung zu evolutionistischen und relativistischen Vorstellungen von pluralen, abgeschlossenen Kulturen, zwischen denen übersetzt werden kann: „Culture is translational.“231 Der Begriff Kultur beschreibt für Bhabha einen prozesshaften third space der Hybridität und Differenzen, der als rastloses Dazwischen dem permanenten, konfliktgeladenen Verhandeln hegemonialer Ansprüche dient. Die Suche nach einer originären Kultur, aber auch die Vorstellung von originären Ideen, Konzepten oder Symbolen wird abgelöst durch eine Idee von Kultur als Übersetzung, der keine wie immer geartete Originalität zugrunde liegt, sondern die sich durch steten Wandel, Vermischung und eine Polyvalenz der Zeichen auszeichnet. In seiner Aufsatzsammlung The Location of Culture verfolgt er die Verortung von Kultur in Übergangsräumen des in-between, beyond und displacement, wobei er Repräsentation
231 Bhabha (1994/2006): The Location of Culture, 247.
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Übersetzung. Begriff, Praxis, Linse
nicht als Widerspiegelung, sondern als fortlaufendes Verhandeln von Identität im Sinne einer dynamischen Nicht-Identität fasst. Wie bei – und teils auch unter direkter Bezugnahme auf – Homi K. Bhabha steht die Konjunktur des Übersetzungsbegriffs im sozial- und geisteswissenschaftlichen Feld in Wechselbeziehung mit der Konzeption eines dekonstruktivistischen Kulturbegriffs. Unter Verweis auf Bhabhas Idee von Kultur als Übersetzung und mit dezidiert politischer Stoßrichtung kritisiert etwa der Philosoph Boris Buden Modelle kultureller bzw. „inter-kultureller Übersetzung“ im „multikulturellen Paradigma“, sofern „die Stabilität der liberalen Ordnung […] nur auf der Grundlage der friedlichen, interaktiven Beziehungen zwischen verschiedenen Kulturen in Begriffen der sogenannten multikulturellen Kohabitation erlangt werden kann“. Kulturelle Übersetzung als erwünschte und strategisch geförderte Praxis dient dabei lediglich „einer identitären Politik, die hilflos von kultureller Diversität besessen ist“.232 Buden entlarvt in Anlehnung an die postkoloniale Kritik Bhabhas die Vorstellung einer multiplen Einzigartigkeit kultureller Formationen als Konstruktion, die lediglich der Stabilisierung der herrschenden Ordnung – durchaus auch zum vermeintlichen Schutz von Minderheiten – zuarbeitet. Aus dieser Perspektive ist Kultur nach Buden nie zeitlose Essenz mit stabilen Grenzen, sondern ein Instrument, das in bestimmten Phasen der Geschichte, unter spezifischen sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen, zu bestimmten Zwecken produziert und machtstrategisch eingesetzt wird. Mit Bhabha plädiert Buden für eine Befreiung des Kulturkonzepts aus den Fängen identitärer Politik und unterstützt das Konzept des third space als Raum der Übersetzung und Hybridität jenseits von strikten Dualismen. In diesem Bhabha’schen dritten Raum – offen für Subversion, Transgression, Blasphemie oder Häresie – liegt für ihn das Potenzial für Veränderung: „Statt des alten dialektischen Konzepts der Negation spricht Bhabha über Verhandlung und Übersetzung als einzig möglichen Weg, die Welt zu verändern und politisch Neues zu bewirken.“233 Auch die Philosophin Judith Butler bezieht sich explizit auf postkoloniale Konzeptionen von kultureller Übersetzung, wenn sie Denkmöglichkeiten eines nichtexkludierenden und gleichzeitig nicht-unterwerfenden Universalitätsanspruchs auslotet. Mit Verweis auf Bhabha, vor allem aber auf die Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak, fragt sie nach jenen locations of culture, an denen Subalterne „Handlungsfähigkeit innerhalb der herrschenden Konzeptualisierung von Handlungsfähigkeit“ erzielen, ohne dass ihre sichtbar gewordenen Existenzweisen vereinnahmt und homogenisiert werden. Sie betont, dass „angesichts der Menge konkurrierender Normen, die das
232 Buden (2008): Eine Tangente. 233 Buden (2008): Eine Tangente.
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Epistemologische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Anthropologie des dritten Raums
internationale Feld konstituieren, keine Behauptung geltend gemacht werden kann, die nicht zugleich eine kulturelle Übersetzung erforderlich macht“.234 Diese Übersetzung birgt Chancen wie Gefahren und bedarf der grundlegenden Befragung der Konzeption von Universalität. Deshalb schließt Butler die Fragen an: Was ist im Begriff der „Universalität“ eingeschlossen? Was ist das Ausgeschlossene, das eingeschlossen werden soll bzw. will – und in welcher Weise muss sich der Universalitätsbegriff verändern, um auch das Ausgeschlossene ohne Zwang zur (Selbst-)Aufgabe einzuschließen? Mit Übersetzung bezeichnet Butler dabei die „Rückkehr des Ausgeschlossenen“ in eine emanzipatorisch konzipierte Universalität, wodurch im Prozess der Inklusion des Exkludierten neue demokratische Räume entstehen. Indem sich das Ausgeschlossene „through a difficult labor of translation“ Zugang zur Universalität verschafft, treibt es Demokratie transgressiv voran und verändert kulturelle Differenzen und soziale Beziehungen stetig. Diese Übersetzungsarbeit „seeks to transform the very terms that are made to stand for one another, and the movement of that unanticipated transformation establishes the universal as that which is yet to be achieved and which, in order to resist domestication, may never be fully or finally achieveable.“235
Eine grundlegende Kritik an einem essentialistischen Kulturkonzept als perilious idea236 samt einer kontroversen Suche nach Auswegen (wie etwa Lila Abu-Lughods Plädoyer für ein Writing against Culture237 ) prägt auch die Fachdiskussionen im anthropologischen Feld. Als Alternative zu jenen, die „zum Rotstift greifen“238 , um den Kulturbegriff als eines der Schlüsselkonzepte der Anthropologie zu streichen, erweist sich auch hier ein Nachdenken über Kultur als Übersetzung. Der Anthropologe Werner Schiffauer spricht in seinen Ausführungen zum cultural turn in der Ethnologie und Kulturanthropologie239 von einem Kulturverständnis, das Kultur pragmatisch als „Arbeit“ im Sinne des Herstellens „einer zweiten Natur“ fasst. Das Interesse gilt dabei jenen Differenzen und Transformationen, die Kultur permanent verändern, wobei Schiffauer mit Verweis auf Callon und Latour den Übersetzungsbegriff als zentrale Analysekategorie markiert: „Dabei tritt die Verknüpfung von Repräsentationen und Praktiken ins Zentrum des Augenmerks: Das Machen von Repräsentation und das Repräsentieren von Praktiken. Der Begriff der
234 235 236 237 238 239
Butler (2000/2013): Reinszenierung des Universalen, 46. Butler (1996): Universality in Culture, 52. Wolf (2001): Perilious Ideas. Abu-Lughod (1991): Writing against Culture. Hann (2007): Abschaffung des Kulturbegriffs. Schiffauer (2011): Der cultural turn.
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Übersetzung wird in diesem Zusammenhang zu einem Schlüsselbegriff, um die verschiedenen Facetten dieses Hin und Her zu fassen.“240
Auch die Überlegungen des Kulturanthropologen Klaus Schönberger zu kulturellen Übersetzungen schließen an die seit den 1970er-Jahren formulierten Kritiken und Re-Definitionen des Kulturbegriffs an,241 wobei er für eine Wendung des Kultur- sowie des Übersetzungsbegriffs in Richtung sozialer Fragestellungen plädiert. Er konstatiert eine „Tendenz der Homogenisierung alles Kulturellen“ und problematisiert die damit einhergehende „Kulturalisierung sozialer Sachverhalte“.242 Nichtsdestotrotz gibt Schönberger den Kulturbegriff nicht auf, sondern benutzt ihn als Anker zur Fixierung des Sozialen im kulturwissenschaftlichen Diskurs. Diesen sozial kontextualisierten Kulturbegriff grenzt Schönberger klar von einer tendenziell essentialisierenden, exkludierenden und verandernden Rede von „Kulturen“ (im Plural) ab. Darüber hinaus unterscheidet er seine Kultur-Konzeption von einem „artefakt- und produktbezogenen Kulturbegriff “, der Kultur – wie das häufig in den sprachwissenschaftlich fundierten Kulturwissenschaften der Fall ist – als Text im Sinne eines mentalen, sprachlichen und symbolischen Bedeutungsgewebes konzipiert, und zwar weitgehend unabhängig von den handelnden Menschen bzw. sozialen Akteuren. Schönberger definiert Kultur mit Maderthaner und Musner243 hingegen als „andere Seite des Sozialen“, was auch eine sozial gewendete Konzeption von „kultureller Übersetzung“ verlangt. Diese versteht Schönberger nicht als „Transfer, Übertragung oder Übernahme von Praktiken oder Diskursen aus einem fremden Kontext in den eigenen“244 . Vielmehr fordert er dazu auf, „soziale Aneignungen, Umnutzungen oder Umcodierungen von kulturell codierten hegemonialen Praktiken und Diskursen“245 zu fokussieren und als „kulturell codierte Übersetzungen“ sozial zu decodieren. Aus dieser Perspektive untersucht er etwa, wie mittels künstlerisch-ästhetischer Praktiken „soziale und politische Übersetzung im Sinne von Aneignung, Gebrauch und Eigensinn hegemonialer kultureller […] Praktiken“246 passiert. Während Schönberger den sozialen und subversiven Anteilen kultureller Übersetzung nachspürt, setzt die Europäische Ethnologin Katharina Eisch-Angus den Übersetzungsbegriff ein, um die Konsolidierung der Sicherheitsgesellschaft zu untersuchen. In ihrer Studie Absurde Angst – Narrationen der Sicherheitsgesellschaft 247 fragt sie,
240 241 242 243 244 245 246 247
Schiffauer (2011): Der cultural turn, 513. Schönberger (2012): Übersetzungen. Schönberger (2012): Übersetzungen, 227. Maderthaner und Musner (2007): Selbstabschaffung, 103. Schönberger (2012): Übersetzungen, 227. Schönberger (2012): Übersetzungen, 227 f. Schönberger (2012): Übersetzungen, 230. Eisch-Angus (2019): Absurde Angst.
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Epistemologische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Anthropologie des dritten Raums
wie Diskurse, Mechanismen und Politiken von Sicherheit über öffentlich installierte Dispositive „in alle Winkel des Alltagslebens transportiert“248 und durch kulturelle Übersetzungsprozesse zum entscheidenden Macht- und Kontrollmechanismus der „gouvernementalen Gesellschaft“ werden. Den Übersetzungsbegriff entlehnt Eisch-Angus der Kulturtheorie des Literaturwissenschaftlers und Semiotikers Jurij M. Lotman, der in seinen Überlegungen zur „Semiosphäre“ das Kulturelle ausschließlich prozessual als Übersetzung – und damit als in kontinuierlicher Veränderung befindlich – denkt. Lotmann gilt als strukturalistisch orientierter Vertreter einer dynamischen Kulturtheorie, „die die Räume des Kulturellen von ihren Grenzen her denkt und sie aus ihrer Verunsicherung, aus Grenzüberschreitung, Normenbruch, Risiko und Subversion heraus versteht“249 . Im Gegensatz zu den Zeichentheorien von Ferdinand de Saussure und Charles Sanders Peirce geht er nicht vom singulären Zeichen aus, sondern von der „Gesamtheit aller Zeichenbenutzer, Texte und Kodes einer Kultur“, die er als „Semiosphäre“ bezeichnet. „Die Semiosphäre ist gekennzeichnet durch ihre Individualität und Homogenität, den Gegensatz von Innen und Außen und die Ungleichmäßigkeit in der Struktur des Inneren. Die Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren einer Semiosphäre wird durch die gegenseitige Fremdheit der Zeichenbenutzer, Texte und Kodes aufrechterhalten und ist durch Übersetzungsprozesse partiell überwindbar.“250
Im Kern des Inneren sind die dominierenden Zeichensysteme lokalisiert, geprägt von elaborierter Nutzung. An der Peripherie finden sich Zeichen-Nutzer:innen, „die kaum einen Kode gemeinsam haben, Texte, die unverständlich sind, weil ihre Kodes verloren gegangen sind, und Kodes, die heterogen und fragmentarisch sind“. Die Produktion neuer Codes ortet Lotman in den Übersetzungsprozessen, die im „Austausch zwischen Innerem und Äußerem sowie zwischen Kernbereich und Peripherie“ stattfinden.251 Unverständnis und Unordnung innerhalb einer Semiosphäre bzw. zwischen Innen und Außen verlangen nach permanenter, nach Verständnis und Ordnung strebender Übersetzungsarbeit. Gleichzeitig ist diese geprägt von Sinnverschiebungen und Deutungskonflikten zwischen den Zeichen-Nutzer:innen, woraus nicht nur besseres Verstehen, sondern stets auch neue Unordnung resultiert. Eisch-Angus knüpft in ihrer Verwendung des Übersetzungsbegriffs an Lotmans Konzeption der „Ungeordnetheit der Kultur“ an, die durch Übersetzungsprozesse „Ordnung hervorbringt – und dadurch immer neu und unaufhebbar für Unordnung sorgt“.252 In 248 249 250 251 252
Eisch-Angus (2012): Übersetzungsprozesse, 203. Eisch-Angus (2019): Absurde Angst, 23. Lotman (1990): Über die Semiosphäre, 287. Lotman (1990): Über die Semiosphäre, 287. Eisch-Angus (2012): Übersetzungsprozesse, 206.
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ihrer ethnografischen Studie zu Narrationen der Sicherheitsgesellschaft beschreibt sie „Alltagsbereiche, in denen Diskurse und Erfahrungen aufeinandertreffen, als Zonen der kreativen Übersetzung und der nicht immer einlinigen und nicht immer kontrollierbaren Veränderung von Kultur“. Den Begriff der Übersetzung verwendet Eisch-Angus einerseits zur Verdeutlichung der umfassenden Durchsetzung „eines neuen Diskurses der Sicherheit“, indem sie fragt, „wie sich eine neue Sprache der Sicherheit in Alltagserfahrung übersetzt und Realität herstellt“, und zwar im Sinne von „Übersetzungen von Mediendiskursen in lokale Alltagskommunikation, von individueller Erfahrung in kollektive Praxen und Symbolsysteme, von Subjektivität und Emotion in Kultur“. Andererseits gebraucht sie den Übersetzungsbegriff in Bezug auf den methodisch fundierten „Verständigungsprozess mit dem Feld […], der in die fortlaufende ethnografische Übersetzung und deren Reflexion mündet“.253 Übersetzung meint dabei einen „Prozess des Verstehens“ im Sinne einer „dialogische[n] Bewegung zwischen Annäherung und Distanzierung, Gemeinsamkeit und Fremdheit“.254 Auch für diesen methodologisch orientierten Gebrauch des Übersetzungsbegriffs greift Eisch-Angus auf Lotmans dynamische Kulturals-Übersetzung-Konzeption zurück: „Für Jurij M. Lotman kann das Kulturelle überhaupt erst als Prozess von Übersetzung und Veränderung im Spannungsverhältnis grenzüberschreitenden Dialogs und ordnungsschaffender Grenzziehung entstehen. Dieses Konzept stellt die kulturschaffende Aktivität des Alltagsindividuums ins Zentrum – und bindet folgerichtig auch die wissenschaftlich-ethnografische Erkenntnis an die kreative Interpretations- und Reflexionsleistung des forschenden Subjekts innerhalb dialogischer Forschungsprozesse.“255
3.2.2 Anthropologie als Übersetzung. Idee und Kritik Wenn Eisch-Angus Übersetzung sowohl als Charakteristikum kultureller Formation als auch als Kern empirischen Forschens fasst, berührt sie jenen diskursiven Raum, der auf Feldforschung basierende Anthropologie als cultural translation umschreibt – nach Talal Asad „since the 1950s […] an almost banal description of the distinctive task of social anthropology“256 . Bereits der Ethnologe Bronislaw Malinowski (1884–1942) führte im Kontext seiner Überlegungen zur „translation of untranslatable words“ einen erweiterten Übersetzungsbegriff ein, indem er seine wissenschaftliche Praxis als „translation of whole contexts“ beschreibt.257 Für die adäquate Darstellung von empirischen Daten in 253 254 255 256 257
Eisch-Angus (2012): Übersetzungsprozesse, 205. Eisch-Angus (2012): Übersetzungsprozesse, 206. Eisch-Angus (2019): Absurde Angst, 43. Asad (1986): Cultural Translation, 141. Malinowski (1935): Coral Gardens, 11 f.
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Epistemologische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Anthropologie des dritten Raums
einer wissenschaftlichen Sprache bedarf es eines „sachkundigen Kommentators“, wobei Malinowski die Notwendigkeit betont, moralische und ästhetische Werte, Handlungen, Interessen oder Bedingungen des Sprechens selbst kontextspezifisch zu differenzieren bzw. zu deuten. Wenngleich er bereits auf die Problematik der Bedeutungsverschiebungen zwischen sozialer Realität und wissenschaftlichem Text hinweist, situiert sich der Forscher jedoch weiterhin als außerhalb der als statisch und abgeschlossen gedachten, fremden Kultur – vorgestellt als ursprüngliche Gemeinschaft, die es mit entsprechender Sachkundigkeit in die wissenschaftliche Sprache der Ethnologie möglichst treu zu übersetzen gilt. Der Wissenschaftler bleibt in diesem Transferprozess unangefochtene, distanzierte Autorität mit legitimierter Deutungshoheit über die Anderen. In ähnlicher Weise verwendet und mit besonderer Aufmerksamkeit versehen, wird der Übersetzungsbegriff in der britischen Sozialanthropologie seit den 1950er-Jahren, angeregt vor allem durch Edward Evans-Pritchard (1902–1973). Basis – und in weiterer Folge Gegenstand der Kritik – ist auch bei ihm ein essentialistischer Kulturbegriff, der von einer stabilen, kohärenten Kultur der Beforschten ausgeht und die möglichst objektive, mimetische Repräsentation dieser „originalen“ Ethnien in einem (fremdsprachigen wissenschaftlichen) Text verfolgt. Den Fokus bildet die Fragestellung, wie Anthropolog:innen die im Prozess der Feldforschung erhobenen Daten (beobachtete Aktivitäten, Gespräche, Begriffe usw.) in einen wissenschaftlichen, das heißt in Sprache und Denkstruktur von denen der Erforschten differenten Text übersetzen können. Oder um mit den Worten des britischen Anthropologen Godfrey Lienhardt (1921–1993), einem der Pioniere des anthropologischen Übersetzungsparadigmas zu sprechen: wie „primitives Denken“ und die ihm entsprechende Sprache „so klar wie möglich in unserer eigenen zur Geltung zu bringen“ sei.258 Eine deutliche Verschiebung im Gebrauch des Übersetzungsbegriffs – zu verstehen als Kritik der Idee, Alltagsleben „der Anderen“ bedeutungskongruent in einen wissenschaftlichen Text zu übersetzen –findet sich in dem vielfach rezipierten Artikel Concepts and Society259 des Anthropologen Ernest André Gellner (1925–1995). Mit kritischem Verweis auf Lienhardt porträtiert er den Anthropologen-Übersetzer als Verzerrer und thematisiert nachdrücklich die Machtverhältnisse zwischen den Positionen des Forschers und der Beforschten: „Es gibt keine dritte Sprache, die zwischen der Sprache der Einheimischen und seiner eigenen vermitteln könnte, eine Sprache, in der Gleichwertigkeit ausgedrückt werden und die die Fallstricke vermeiden könnte, die sich daraus ergeben, daß seine eigene Sprache auch ihre eigene Art und Weise besitzt, mit der Welt umzugehen, eine, die nicht die der einheimischen
258 Lienhardt (1954): Modes of Thought, 97. 259 Gellner (1970): Words and Things.
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und zu erforschenden Sprache ist und die infolgedessen dazu neigt, das was übersetzt wird, zu verzerren.“260
Als mögliche Strategie der Entzerrung wissenschaftlicher Repräsentationen fordert Gellner die differenzierte Einbindung der Feldforschungserfahrungen in den wissenschaftlichen Text, gepaart mit einem grundlegenden Zweifel an universal gültigen Rationalitätskriterien sowie am damals dominanten anthropologischen Paradigma, dass Wirklichkeit objektiv und unabhängig von Sprache existiert. Diese Thematisierung der hegemonialen Position der Forschenden steht im Zentrum der Writing-Culture-Debatte, die, wie weiter oben erwähnt, Mitte der 1980er-Jahre einen ersten Höhepunkt der epistemologischen und ethischen Überlegungen zur Übersetzung sozialer Wirklichkeit in einen wissenschaftlichen Text markiert. Ein Forschungsseminar mit dem Titel The Making of Ethnographic Texts im US-amerikanischen Santa Fe (1984) lancierte eine bis heute nachwirkende Debatte über die schreibende Konstruktion von Kultur, den autoritären Gestus von Ethnografie und die Frage nach ihrer Rückbindung an die gesellschaftliche Wirklichkeit der untersuchten Subjekte. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse des Seminars zwei Jahre später in dem von James Clifford und George Marcus herausgegebenen Sammelband Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, in dem die Autor:innen ethnografische Repräsentationen als hegemoniale Halbwahrheiten (partial truth) diskutieren und nach konzeptuellen wie praktischen Alternativen zum wissenschaftlichen Paradigma suchen, kulturelle Entitäten adäquat darzustellen. Als Voraussetzung dafür fordert Clifford, eine grundlegende Reflexion der Sprecher:innen-Position und somit der wissenschaftlichen Autorität zu repräsentieren: „Who speaks? Who writes? When and where? With or to whom? Under what institutional and historical constraints?“261 Ethnografische Repräsentation, so der Kern der Debatte, ist nie neutral, sondern geprägt vom forschungsleitenden Einsatz theoretischer Konzepte und rhetorischer Strategien sowie von wissenschaftlichen Darstellungskonventionen und der sozialen Positionierung der Autor:innen. Darüber hinaus gilt die Kritik ganz allgemein der Idee, Kultur in Fremdrepräsentationen als Ganzes festhalten zu können, was Clifford in dem vielzitierten Satz „‚Cultures do not hold still for their portraits“262 umschreibt. In seinem Beitrag zur Writing-Culture-Debatte bezeichnet der britische Anthropologe Talal Asad „cultural translation“ als „process of power“ und fragt nach den Implikationen eines Forschens als „institutionalized practice given the wider relationship of unequal societies“.263 Dabei übt er mit Bezug auf die Anfänge der anthropologischen 260 261 262 263
Gellner (1970): Concepts and Society, 24f. Clifford (1986): Partial Truths, 20. Clifford (1986): Partial Truths, 10. Asad (1986): Cultural Translation, 148.
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Epistemologische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Anthropologie des dritten Raums
Übersetzungskonzeption Kritik an der anhaltenden Privilegierung der wissenschaftlichen Sprache als dominanter Form ethnografischer Repräsentation und fragt, „why such a scholarly style should capture so many intelligent people“. Die Ursache ortet er im Streben nach Objektivität, dem jede etablierte universitäre Disziplin nachzugehen hat, um überhaupt Legimitation im akademischen Feld zu erzielen. Im Besonderen macht er auf die grundlegende „inequality of languages“ aufmerksam. Dabei stellt er fest, dass Gellners Ansatz eine „doctrinal position that is still popular today“ repräsentiert, und kritisiert, dass sich ethnografische Texte und Analysen zwar an den „(authoritative) anthropologist“ richten, aber „not to the people being written about“. Interessiert sich Talal Asad vor allem für die „relations and practices of power“264 bei der Übersetzung empirischer Forschung in einen wissenschaftlichen Text, so sondiert der Kulturwissenschaftler Wolfgang Alber die Möglichkeiten der Objektivierung anthropologischer Übersetzungsprozesse. In einer Abhandlung über qualitative Methoden in der Kulturanalyse, publiziert in dem von Utz Jeggle herausgegebenen Band Feldforschung. Qualitative Methoden in der Kulturanalyse (1984), fragt er nach „der angemessenen ‚Übersetzung‘ von Daten, die in der spezifischen Interaktion“265 des Interviews gewonnen werden. Als unabdingbare Voraussetzung für die adäquate Beurteilung des Aussagewerts betrachtet er, wie vor ihm schon Gellner, die „Sichtbarmachung der Kontextbedingungen“, in denen das Interview stattfindet. Nur durch diese „Relativierung des gewonnenen Wissens selbst“ können die im Interview erhobenen Aussagen als „situative ‚Erscheinung‘“ – nicht als „Realität“ – identifiziert werden. Mit dem Begriff der „Übersetzung“ problematisiert Alber damit die „Variationsbreite des Verstehens“ im Interaktions-, Kommunikations- und Interessensprozess der Feldforschung, in der die Objektivität des Beobachteten, Gehörten und Gesehenen nicht a priori gegeben, sondern durch die „Beurteilung vorgängiger Bedeutungs- und Relevanzstrukturen bei beiden Gesprächspartnern“ zu fassen ist.266 Übersetzung als wesentliche Herausforderung anthropologischen Forschens wird, wie das Beispiel Alber zeigt, nicht nur in Bezug auf die Untersuchung und Darstellung „fremder Kulturen“ thematisiert, sondern generell in Bezug auf die „Übersetzung“ von empirischen Daten in einen wissenschaftlichen Text. Orvar Löfgren stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Notwendigkeit kultureller Übersetzung von „European ethnologists“ gerade dort unterschätzt werde, wo sie „subcultures within our own society“267 untersuchen: „We may try to analyse teenage culture, religious world views, or working class life through our own middle class academic lenses, using categories and cognitive frameworks which are alien to them. In this case we underestimate the need for cultural translation.“ Kulturelle Übersetzung, so Löfgren, ist Ziel und Voraussetzung 264 265 266 267
Asad (1986): Cultural Translation, 164. Alber (1984): Feldforschung, 122. Alber (1984): Feldforschung, 122. Löfgren (1981): Anatomy of Culture, 26.
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für eine Schärfung der wissenschaftlichen Wahrnehmung für jene „epiphenomenal […] cultural patterns and life-styles“, die jenseits der hegemonialen Ordnung existieren, und damit jenseits dessen, was durch Massenmedien und andere dominante Kanäle offensichtlich vor Augen geführt wird. Erst durch kulturelle Übersetzung – konzipiert als Blickwechsel „from within and through its own cultural categories“ – können kulturelle Muster identifiziert werden, die durch die akademische Mittelklasse-Brille nicht wahrgenommen werden können.268 Sowohl Alber als auch Löfgren dient der Übersetzungsbegriff als Metapher für den Transfer von im Prozess der Feldforschung erhobenen Aussagen und Beobachtungen in einen akademischen Text. Ihr Hauptinteresse gilt den Möglichkeiten und Modi der Darstellung von empirischen Daten durch entsprechende Reflexion und Kontextualisierung. Fragen von Macht und Dialog im Prozess wissenschaftlicher Forschung und Repräsentation, wie sie vor allem im Kontext der Writing-Culture-Debatte den anthropologischen Diskurs prägen, finden bei ihnen wenig Beachtung. Diesem Aspekt wendet sich Elisabeth Katschnig-Fasch in dem Text Das Andere, das Umgebung schafft zu, der Ina-Maria Greverus und die von ihr vertretene „ethnografische Anthropologie als Wissenschaft des Dialogs“ würdigt. Im Fokus der Ausführungen steht die Neuverhandlung von Dominanz- und Beziehungsstrukturen zwischen Forschenden und Erforschten, wobei sie mit dem Begriff der Übersetzung nicht die möglichst treue Übertragung von Daten in einen wissenschaftlichen Text markiert, sondern das, was zwischen Forschenden und Beforschten im Prozess der Begegnung und Befragung passiert. „Sie [die dialogische Anthropologie, Anm. J. L.] schafft Umgebung durch Offenheit und damit eine Identität, die auf Zuordnung und Geschlossenheit verzichten will, auf Allgemeingültigkeit ebenso wie auf Vollständigkeit und auf die vermeintliche Autorisierung durch ein Beweisverfahren. Eine Identität jedenfalls, die Lust und Gewinn des Vagabundierens einbringt, sich in der wissenschaftlichen Arbeit auf Spürbares und Erfahrbares einzulassen – ohne Netz theoretischer Endgültigkeiten.“269
Aus Perspektive einer dialogischen Anthropologie ist die Kernaufgabe von Gesprächen und Interviews im Prozess der Feldforschung nicht die Erhebung objektiver Daten, sondern ein Austausch, der „immer das Ergebnis von Projektionen, sozusagen das Produkt einer Übersetzung“ ist. In diesem Übersetzungsprozess sieht Katschnig-Fasch weniger ein „Problemfeld, eine ‚Kontaminationsquelle‘ (Tyler), die es zu überwinden gilt“270 ,
268 Löfgren (1981): Anatomy of Culture, 26. 269 Katschnig-Fasch (1997): Das Andere, 86. 270 Katschnig-Fasch (1997): Das Andere, 91. Den Begriff der „Kontaminationsquelle“ entlehnt KatschnigFasch dem Anthropologen Stephen Tyler (1993/1999): Sprechen für, 291.
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Epistemologische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Anthropologie des dritten Raums
wie jene Forschenden, die in positivistischer Absicht eine möglichst große Distanz zum beforschten Gegenüber einnehmen. Vielmehr bildet die dialogisch kontaminierte Übersetzung zwischen Anthropolog:in und Informant:in die Voraussetzung dafür, dem Gegenüber „eine gleichberechtigte Stimme [zu] geben“271 . Der Kritik, dass durch den Dialog als epistemologisches und methodisches Prinzip Hierarchien lediglich verschleiert werden und die Repräsentationsmacht letztlich doch bei den Anthropolog:innen bleibt, entgegnet Katschnig-Fasch in vollem Bewusstsein des Dilemmas: „Eines ist gewiß: Nur der Dialog kann aus sich heraus den autorisiert-autoritären akademischen Monolog brechen. Die anderen greifen ins Gespräch ein und zwingen uns, auf ihr Denken zu reagieren und aus einer festgelegten Denktradition und Sprache herauszutreten.“272
In konsequenter Weise widmet sich Ina-Maria Greverus der Krise ethnografischer Repräsentation als Krise der Übersetzung im Feld sowie zwischen der Vielstimmigkeit des Feldes und der Einstimmigkeit des wissenschaftlichen Texts.273 Unter Verweis auf das bekannte Denkrätsel „Ziege, Wolf und Kohl“ vergleicht sie Kulturanthropolog:innen mit der Figur des „guten Fährmann“274 und beschreibt in assoziationsstarken Bildern das „feldforschende ethnografische crossing over“ als ambivalentes, Geduld erforderndes translating culture zwischen dem Vertrauten, Eigenen und dem Fremden, Andersartigen: „Der gute Fährmann ist ein Vermittler, ein Übersetzer, der Umwege in Kauf nimmt, der seine Zeit, sein Wissen und seine Kraft zur Verfügung stellt.“275 Dabei thematisiert Greverus räumliche ebenso wie zeitliche Grenzüberschreitungen und imaginiert Ethnografie als Übersetzungsprozess, in dem „die erzählten Geschichten in die Gegenwart hineinragende (Lokal-)Geschichte werden“.276 „Übersetzen hat etwas mit Grenzerfahrungen zu tun, ist eine Bewegung in Zeit und Raum, findet im Zwischenraum sich begegnender Kulturen statt. Übersetzen als translating culture ist ein ästhetischer Prozess, ein verbales, visuelles und auditives Berührtwerden mit allen Sinnen.“277
271 Katschnig-Fasch (1997): Das Andere, 91. 272 Katschnig-Fasch (1997): Das Andere, 92. 273 Die von Katschnig-Fasch und Greverus unter Bezugnahme auf die Writing-Culture-Debatte diskutierte Thematik einer „Übersetzung“ der Vielstimmigkeit des Feldes in einen wissenschaftlichen Text verbindet auch Rolshoven in ihrer „Diagnose und Prognose einer kultur- und sozialwissenschaftlichen Volkskunde“ mit dem Feld der Europäischen Ethnologie, vgl. Rolshoven (2004): Europäische Ethnologie, 85. 274 Greverus (2006): Übersetzen. 275 Greverus (2006): Übersetzen, 5. 276 Greverus (2006): Übersetzen, 6. 277 Greverus (2006): Übersetzen, 8.
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Die Konzeption anthropologischen Übersetzens als multisensualer Prozess führt Greverus zum Vergleich von wissenschaftlicher Arbeit mit künstlerischer Praxis. Mit Bezug auf den Philosophen Ernst Bloch („Malen ist Auftauchen in einem anderen Ort“278 ) entwirft sie die Paraphrase von anthropologischer Forschung als „Auftauchen in einem anderen Ort“279 : „Ein Bild ist eine Übersetzung, eine dichte Beschreibung (Geertz 1995), die wiederum übersetzt werden muss. Wie kann das Auge des Ethnographen (Leiris 1978) übersetzen? Können sich sein Ohr und sein Auge als Sensoren für das Andere in der Repräsentation zu ‚deep clues‘ (Greverus 2002) verbinden? Kann der ethnographische Zwischenraum, der Grenzraum, ästhetisch vermittelt werden? Ohr und Auge, ja, der ganze Mensch, sind in einem anderen Ort gewesen, sind berührt worden. Im Übersetzen taucht der Ethnograph auf.“280
Greverus sucht mit ihrem sinnlichen Ansatz nach Auswegen aus der ethnografischen Repräsentationskrise und findet sie in einer „ästhetischen Anthropologie“, die sich der Frage der Übersetzung zwischen Wirklichkeit und Text mit allen Sinnen und in Kollaboration mit Akteur:innen aus anderen sozialen Feldern, nicht zuletzt dem künstlerischen, annähert. Vor dem Hintergrund der exemplarisch ausgewählten Zugänge zu Kultur als Übersetzung und Anthropologie als Übersetzung im Prozess der Feldforschung sowie zwischen beforschter Wirklichkeit und wissenschaftlichem Text leuchtet die epistemologische Dimension des hier erarbeiteten und verwendeten Übersetzungsbegriffs zwei Bereiche relationaler Kunstproduktion aus: einerseits die Rolle wissenschaftlicher Forschung, die sich nicht mehr als abgeschlossene Entität im Kontext objektiver Wissensproduktion versteht, sondern als mitgestaltender Teil der gleichzeitig zu untersuchenden, künstlerisch initiierten Akteurswelt; andererseits die Strategien einer partiell als hybride Praxis konzipierten Anthropologie, die sich dem Feld der Kunst nicht nur in objektivierender, sondern auch in kollaborativer Absicht zuwendet. Zur Bestimmung des ästhetischen Anteils dieses Forschungszugangs dient die ästhetische Dimension des Übersetzungsbegriffs, die im folgenden Kapitel entwickelt wird.
278 Bloch (1954/1959): Hoffnung, 929. 279 Greverus (2006): Übersetzen, 8. 280 Greverus (2006): Übersetzen, 9.
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Ästhetische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Zwischen Kunst und Nicht-Kunst
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Ästhetische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Zwischen Kunst und Nicht-Kunst
Wie in der epistemologischen Dimension des Übersetzungsbegriffs die Situiertheit der Forschenden, die Differenzen zwischen unterschiedlichen Wissensbereichen sowie jene zwischen Forschungsfeld und wissenschaftlichem Text beleuchtet werden, so dient die ästhetische Dimension der Erkundung des Verhältnisses zwischen Kunst und NichtKunst. Diese Perspektivierung ist für das vorliegende Forschungsfeld insofern von besonderer Relevanz, als der zentrale Gestaltungsakt in der relationalen Kunst – so auch bei den drei hier verhandelten Fallbeispielen Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale – diese Dichotomie programmatisch neu verhandelt. Diese Neuverhandlung äußert sich darin, dass die jeweiligen Kunstschaffenden nicht nur ein ästhetisches Objekt kreieren, wie etwa ein gelbes Haus im neuen Landschaftspark am Linzer Bindermichl, einen cyan bemalten Gartenzwerg als symbolische Protestfigur am Bauzaun in East London oder eine schwarze Schultafel als politische Textinstallation im öffentlichen Raum des Grazer Annenviertels. Vielmehr motivieren die Kunstschaffenden in verschiedenen Projektphasen diverse soziale Akteur:innen explizit zur Teilnahme und gestalten durch sie bzw. mit ihnen ein temporäres Ordnungssystem des Miteinanders, titelgebend als Ästhetische Allianzen bezeichnet. Diese entgrenzende künstlerische Praxis verfolgt nicht die modernistische Idee eines in sich geschlossenen Werks als auratisches Original, von isolierten Kunstschaffenden als genialen Schöpfer:innen und eines distanzierten Publikums in kontemplativer Betrachtung. Vielmehr wird das Original als Erfindung bürgerlich-kapitalistischer Produktionslogik diskutiert,281 die distanzierte „unhinterfragte Sicherheit der Zuschauerposition“ durch Überlegungen zur aktiven „Teilnahme an Kunst“282 in Frage gestellt und die Figur des distinguierten Kunstschaffenden als Genie mit der des „Autors als Produzenten“283 kontrastiert. Diese veränderten Denkfiguren reflektiert die ästhetische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Sie fragt nach dem Feld der Kunst im Zusammenspiel mit anderen sozialen Feldern (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Alltag usw.), wobei der Fokus auf die jeweils dominanten Denk- und Wahrnehmungsmodi sowie die sozialen Bedingungen gerichtet ist, die ermöglichen, auf die eine oder andere Weise zu denken, wahrzunehmen und zu handeln. Was macht ein relationales Kunstprojekt als künstlerische Arbeit identifizierbar – und eben beispielsweise nicht als Sozialarbeit? Die Perspektive der ästhetischen Dimension des Übersetzungsbegriffs beleuchtet das Verhältnis zwischen künstlerischem und außerkünstlerischem Feld – oder um hier mit Erika Fischer-Lichte284 zu sprechen: die Mehrfachcodierungen außerkünstlerischer Prakti281 282 283 284
Benjamin (1935/2006): Das Kunstwerk; Weibel (1998): Jenseits von Kunst. Laleg (2012): Juliane Rebentisch, 33. Benjamin (1934/1977): Der Autor als Produzent. Fischer-Lichte (2004/2017): Ästhetik des Performativen.
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ken durch entsprechende Rahmungen als Kunst. Um den Standort, von dem aus die ästhetische Dimension des Übersetzungsbegriffs gedacht wird, näher zu bestimmen, ist dieses Kapitel einerseits dem Begriff der Ästhetik mit Fokus auf seinen Gebrauch im anthropologischen Feld gewidmet, andererseits gilt es, Kunst als Übersetzungsarbeit zu denken. Insgesamt basiert die Konzeption der ästhetischen Dimension des Übersetzungsbegriffs auf einem Ästhetik-Begriff, der eine unabdingbare Relationalität zwischen der sinnlichen Wahrnehmung von künstlerischer und außerkünstlerischer Wirklichkeit sowie von rationaler und sinnlicher Erfahrung markiert. Das titelgebende Begriffspaar Ästhetische Allianzen meint demnach nicht einfach künstlerische Allianzen, Allianzen in der Kunst oder sinnliche Anteile bei der Bildung von Allianzen, vielmehr bezeichnet dieser Terminus ein Wahrnehmungsregime, das den Blick auf Kunst in Relation zum wissenschaftlich-analytischen Blick sowie zu anderen Formen der Wahrnehmung von Welt richtet. 3.3.1 Ästhetik. Produktive Facetten eines vieldeutigen Begriffs „Ästhetik“, so formuliert der französische Kunsttheoretiker Jacques Rancière sein „Unbehagen in der Ästhetik“ mit einer bildstarken Beschreibung, „ist das Wort, das den einzigartigen, schwierig zu denkenden Knoten benennt, der sich vor zwei Jahrhunderten zwischen der Erhabenheit der Kunst und dem Geräusch einer Wasserpumpe, zwischen einem verschleierten Streichertimbre und dem Versprechen einer neuen Menschheit gebildet hat.“285
Wenn hier titelgebend von Ästhetischen Allianzen in der relationalen Kunst die Rede ist, über ästhetische Dimensionen des Übersetzungsbegriffs nachgedacht wird und schließlich die Potenziale einer Zusammenarbeit zwischen Kunst und Anthropologie ausgelotet werden, bedarf es zuallererst einer Lockerung dieses „schwierig zu denkenden Knotens“. Dabei wird auf jene Anteile des weiten Diskursfeldes der Ästhetik Bezug genommen, die sich für die vorliegende Forschung als passfähig erwiesen haben. Die besondere Aufmerksamkeit gilt – entsprechend der Spezifik der drei Fallbeispiele relationaler Kunst – dem Verhältnis zwischen dem, was als Kunst und dem, was als Nicht-Kunst identifiziert wird, und damit dem konzeptuellen Status des Werks, der Künstler:innen und der Rezipient:innen sowie deren Verhältnis zueinander. Die Einführung und der Aufstieg des Begriffs Ästhetik sowie die Konstituierung von Ästhetik als eigenständiger Bereich der Philosophie gehen zurück auf die kulturellen, politischen, sozialen und ökonomischen Umbrüche im 18. und 19. Jahrhundert. Im
285 Rancière (2007): Unbehagen, 24.
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Zeichen der vom aufstrebenden Bürgertum getragenen Aufklärung, die der als gottgegeben gesetzten Vorherrschaft von Kirche und Adel das vernunftgeleitete Denken und Handeln gegenüberstellte, rückte das Verhältnis zwischen Rationalität und Sinnlichkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit. Bildung, Wissenschaft und Kunst sowie das Nachdenken darüber, wurden zu einem zentralen Agitationsfeld bürgerlicher Identitätsfindung und Emanzipation im Sinne einer Befreiung aus feudalen und klerikalen Abhängigkeitsverhältnissen. Mit den fortschreitenden Industrialisierungs- und Demokratisierungsprozessen entwickelte sich die Akkumulation kulturellen Kapitals zudem zum Instrument der Distinktion von der wachsenden Arbeiter:innenschicht sowie vor dem Hintergrund evolutionistischer Kulturkonzepte zur Selbstlegitimierung der aufgeklärten Bürger:innen als höchster Stufe der Menschheit. In den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde der Begriff Ästhetik von Alexander Gottlieb Baumgarten286 Mitte des 18. Jahrhunderts. In Analogie zur philosophischen Disziplin der Logik – der im Zeitalter der Aufklärung dominanten Lehre von der rationalen Erkenntnis – bezeichnete er mit Ästhetik einen Denkraum der Erkenntnis durch Sinneswahrnehmung und Imagination. Diese sinnliche Erkenntnis stufte er zwar als weniger scharf und damit als der Klarheit einer Erkenntnis durch Vernunft unterlegen ein, gab ihr allerdings einen erkenntnistheoretisch relevanten Wert jenseits dessen, was rational verarbeitet und in Worte gefasst werden kann. Den Sinnen wird damit ein spezifisches Urteilsvermögen – der Geschmack – zugeschrieben, wodurch auch der Kunst eine Neubewertung als Medium zur Vermittlung von Erkenntnis zukommt. In der dualistischen, hierarchisierten Unterscheidung zwischen Ästhetik (sinnliche, niedere Erkenntnis) und Logik (rationale, höhere Erkenntnis) gründet auch die moderne Trennung zwischen Kunst und Wissenschaft. Diese bildet mit Annemarie Gethmann-Siefert287 die Grundlage für jene bis heute wirkmächtige Denktradition in der Ästhetik, die Kunst als autonome Wahrnehmungs- und Erkenntnisform fokussiert und Leitbegriffe wie Schönheit, Authentizität, Genius oder Original privilegiert. Zudem zeugen Konzepte wie das interesselose Wohlgefallen oder der reine Geschmack vom Streben nach einer streng normativen Beurteilung von Kunst, wobei die Idee eines intrinsischen Werts des als in sich geschlossen gedachten Werks auch die Voraussetzung für den Ruf nach Freiheit und Autonomie der Kunst bildet. Neben diesem Verständnis von Ästhetik, das sinnliche Wahrnehmung (von Kunst) als eigenständige Erkenntnisform fokussiert, zeigt sich für Gethmann-Siefert eine zweite Hauptvariante, nämlich die einer Konzeption der sinnlichen Wahrnehmung (von Kunst) als soziales Handeln und damit als gleichzeitig sozial geprägter wie prägender Faktor menschlichen Zusammenlebens. Als paradigmatisch gilt hier Schillers Idee der
286 Vgl. Baumgarten (1750/58): Aesthetica. 287 Vgl. Gethmann-Siefert (1995): Ästhetik.
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„ästhetischen Erziehung“, die zwischen sinnlichem und sittlichem (rationalem) Handeln vermitteln und zur Humanisierung des Menschen beitragen will. Die Variante von Ästhetik als Lehre vom Verhältnis zwischen sinnlicher Wahrnehmung (der Kunst) und gesellschaftlicher Konditionierung kommt dort zum Tragen, wo der soziale Status Quo als frag- und veränderungswürdig erscheint, wie etwa in Schillers pädagogischer Orientierung der Ästhetik, in den marxistischen Konzeptionen von Ästhetik als Beitrag zur Entfremdungs- und Gesellschaftskritik oder in Bourdieus Identifikation der Ästhetik als bürgerliches Distinktionsinstrument. Beide Hauptvarianten der Ästhetik – im Sinne Gethmann-Sieferts idealtypisch konzipiert als relational verknüpfte sowie sich teils überlappende Auseinandersetzung mit sinnlicher Wahrnehmung (von Kunst) als Erkenntnis oder als soziales Handeln – fanden in unterschiedlicher Intensität Eingang in wissenschaftliche Felder jenseits der philosophischen Disziplin. Im weiten Feld der Anthropologie (mit Fokus auf die Kulturanthropologie), so zeigt ein Blick auf deren Schlüsselbegriffe und Forschungsschwerpunkte, kommt dem Begriff der Ästhetik sowie der Auseinandersetzung mit Kunst insgesamt eine untergeordnete und ambivalente Rolle zu,288 wobei in den letzten Jahren eine verstärkte Hinwendung zur Ästhetik zu verzeichnen ist. Dabei werden vor allem jene Anteile des Ästhetik-Begriffs für das kulturanthropologische Denken produktiv gemacht, die in Rückgriff auf den griechischen Wortstamm „aisthesis“ (Sinneswahrnehmung) die Bildung von sinnlicher Wahrnehmung und Geschmacksurteilen in globaler Perspektivierung als soziale Handlung befragen. Einer, der den Begriff unter klarer Abgrenzung von den bürgerlich-distinktiven Implikationen westlicher Kunstgeschichtsschreibung einsetzt, ist der Kunstanthropologe Alfred Gell. Er fordert vor dem Hintergrund seiner Kritik am Ästhetik-Begriff als „native ideology“289 , dass anthropologische Forschungen zur Kunst dem „westlichen“290 „art-cult“ dezidiert zu widerstehen und einem „methodological philistinism“ zu folgen haben. In Gells Sichtweise dient die „westlich“-modernistische Auseinandersetzung mit Kunst (Kunstbetrachtung, Fragen des guten Geschmacks, Kontrolle der Sinne usw.) als Religion der Eliten im säkularen, bürgerlich-kapitalistischen Zeitalter. Die moderne Ästhetik identifiziert er dabei als Komplizin „westlicher“ Kunstproduktion, die vor allem als soziales Distinktionsmittel und zunehmend als ökonomisch gewinnbringende Ware gefördert und eingesetzt wird. Daher, so Gells Appell, gilt es, den Bereich der Ästhetik und Kunst in der Anthropologie ausschließlich als Untersuchungsgegenstand zu fassen – und zwar unter klarer Distanz zu jeglicher Konzeption einer modernistischen Ästhetik, die zentralen „westlichen“ Kulten wie der geistigen Kontemplation, der Kontrolle der Sinne und der künstlerischen Autonomie gewidmet ist. 288 Sansi (2015): Art, Anthropology. 289 Gell (1999): Art of Anthropology. 290 Der problematische, weil essentialisierende Begriff „westlich“ (vgl. etwa Stuart Hall: The west and the rest) wird – im Gegensatz zu Gell – in weiterer Folge in distanzierenden Anführungszeichen geführt.
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Ästhetische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Zwischen Kunst und Nicht-Kunst
Was Gell in seiner Kritik der „westlichen“ Kunst und Ästhetik nicht berücksichtigt, ist einerseits, dass die von ihm beanstandete Ideologisierung von Kunst als neuer Religion der „westlichen“ Moderne auch im künstlerischen und kunsttheoretischen Feld von Beginn an, vor allem aber seit den Avantgarden im frühen 20. Jahrhundert, in Frage gestellt wird, sich Konstituierung und Kritik damit permanent wechselseitig nähren und antreiben.291 Andererseits schenkt Gell der am rationalen Denken orientierten Wissenschaft, die sich in wechselseitiger Abgrenzung zur Kunst als zweite dominante native ideology der Aufklärung entwickelte, keine Beachtung im Sinne einer wissenschaftlichen Selbstreflexion. Wie der Brite Alfred Gell eine Praxis der Anthropologie als „Anti-Kunst“ einfordert, so finden sich – inspiriert von der US-amerikanischen postmodernen Anthropologie, vor allem seit den 1990er-Jahren – Fachvertreter:innen, die Anthropologie ebenfalls unter Rückgriff auf eine Auseinandersetzung mit Kunst und Ästhetik als „Anti-Wissenschaft“ andenken. Infolge der repräsentationskritischen Debatte (WritingCulture-Debatte, vgl. Kapitel 3.2) werden einerseits verstärkt Forderungen nach einer Konzeption von Wissenschaft als soziales und politisches Handeln laut. Andererseits werden, wie bereits in der sensitiven Anthropologie der 1920er-Jahre, vor allem aber seit den späten 1980er-Jahren, neue Wege zu einer „ästhetischen Anthropologie“292 beschritten, welche die Integration wie Reflexion von Sinnlichkeit und Kreativität im Prozess der wissenschaftlichen Forschung fordern und praktizieren. Außerdem wenden sich in jüngerer Zeit Anthropolog:innen im Zuge eines „Sensory Turn“ zunehmend den „Kulturen der Sinne“293 oder den „Ordnungen der Sinnlichkeit“294 zu, nicht zuletzt, um im Zeitalter der Digitalisierung den Stellenwert des menschlichen Körpers als Medium und Resonanzraum visueller, akustischer, olfaktorischer und haptischer Eindrücke neu zu befragen. Wenngleich sich relationale Kunst gerade auch durch die Infragestellung der Privilegierung distanzierter, interesseloser Kunstbetrachtung zugunsten einer aktiven Rezeption auszeichnet, kommt diesem Aspekt in den vorliegenden Betrachtungen ein untergeordneter Stellenwert zu.295 Im Fokus steht vielmehr die Frage nach der Konzeption von Kunst als „Übersetzungsarbeit“ (Weibel 1998), die das „heilige Original“296 als Leitfigur modernistischer Kunstproduktion vom Sockel stürzt und künstlerisches Handeln in andere soziale Felder entgrenzt.
291 292 293 294 295 296
Vgl. Sansi (2015): Art, Anthropology. Vgl. z. B. Ina-Maria Greverus, George Marcus oder Anja Schwanhäuser. Arantes und Rieger (2014): Ethnographien der Sinne; Braun et al. (2017): Kulturen der Sinne. Chakkalakal et al. (2017): Aisthetik – Ästhetik – Medialität. Näheres dazu in Kapitel 4.3 (Arbeit an Atmosphären. Stadträumliche Ein- und Ausschlüsse). Vgl. Wolf (1997): Translation; Wolf (2006): Übersetzung als Brücke; Prunč (2011): Entwicklungslinien.
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3.3.2 Kunst oder Nicht-Kunst? Übersetzungsarbeit nach dem Tod des Originals Die Konzeption relationaler Kunst, so der Kurator und Kunsttheoretiker Nicolas Bourriaud, zeichnet sich zum einen aus durch eine gezielte „eradication of the traditional distinction between production and consumption, creation and copy, readymade and original work“297 ; zum anderen, so betont Bourriaud an anderer Stelle, durch die Auflösung der Trennung zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Nicht mehr ein als in sich geschlossen gedachtes Original gilt als Ideal künstlerischen Schaffens, sondern eine programmatische Verknüpfung von Kunst über die eigenen Feldgrenzen – über nationale, generationale, materiale, stilistische und disziplinäre Grenzen – hinaus. Der Künstler, Kurator und Theoretiker Peter Weibel spricht mit Fokus auf den künstlerischen Impetus zur Grenzüberschreitung, vor allem auch zur Wissenschaft hin, von Kunst als „Übersetzungsarbeit“298 . Er fasst Kunst dabei als „wissensproduzierendes System“, dem eine „stete Transgression“ eigen ist und „[…] deren Entwicklung stets von legitimierenden Prozessen der Beobachtung und Selbstbeobachtung begleitet wird. […] Kritische Selbstreferenz ist in der Wissenschaft und in der Kunst der Neuzeit gleichermaßen zu beobachten und hat insbesondere in der Kunst dazu geführt, ständig Grenzen zu überschreiten und die Grenzen des Kunstbegriffs bis zur Selbstauflösung zu erweitern.“299
Selbstuntersuchung und Überschreitung als Grundprinzipien der modernen Kunst sind nach Weibel Ausdruck für die analytischen Tendenzen des Projekts der internationalen Moderne. Verfolgt wird nicht mehr ein „naiver Realismus“, der die Wirklichkeit als absolut und ihre Betrachtung als objektiven Prozess voraussetzt. Vielmehr werden die Beobachtenden – wie in Relativitätstheorie und Quantenphysik – in die künstlerische Erfassung der Wirklichkeit einbezogen. So finden sich laut Weibel in der modernen Kunst gezielt gelegte Spuren der künstlerischen Aktivität als Reflexion auf die Positionierung der beteiligten sozialen Akteur:innen im kreativen Prozess. Gleichzeitig „wird der Betrachter Teil des Bildes, das er beobachtet, und verändert es durch seine Beobachtung“300 . Zur „zentralen Bewegung“, so Weibel, werden die selbstreflexiven und entgrenzenden Verfahren in der Kunst seit den 1990er-Jahren, wobei er eine intensivierte Wende hin zu Fragen der gesellschaftlichen Konditionierung der Wirklichkeit beobachtet. Künstler:innen widmen sich zunehmend den eigenen Rahmenbedingungen und beginnen, 297 Bourriaud (2002): Postproduction. 298 Weibel (1998): Jenseits von Kunst, 76. Den Hinweis auf die Verwendung des Begriffs der „Übersetzungsarbeit“ bei Peter Weibel verdanke ich Wolf (2006): Übersetzung als Brücke, 10 und 14. 299 Weibel (1998): Jenseits von Kunst, 76. 300 Weibel (1998): Jenseits von Kunst, 80.
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„entschieden auch an anderen Diskursen (Ökologie, Ethnologie, Architektur, Politik) zu partizipieren und damit die Grenzen der Institution Kunst extrem zu erweitern.“ „Die Kritik der Repräsentation wurde zu einer Kritik der Macht und der Kultur, aber vor allem der durch die diversen Diskurse konstruierten Wirklichkeit. So wurde aus dem Entschleiern […] der Konstruktion von Kunst […] die Konstruktion von Realität, die Wiedergewinnung von Teilbereichen der Wirklichkeit.“301
Die Kritik an den dominanten Realitätskonstruktionen führt nach Weibel unweigerlich zur Infragestellung des Begriffs des künstlerischen Originals. Betrachtet man Kunst nicht als in sich geschlossen, sondern im gesellschaftlichen Kontext seiner Entstehung, so erweist sich „der Begriff Original […] an den Begriff des Kapitals gebunden“. „Es hat also mit den Imperativen des Kunsthandels zu tun, dass überhaupt das Bedürfnis entsteht zu sagen: ‚Das ist das Original. Dieses Kunstwerk ist nur hier und jetzt vorhanden.‘ Der Originalbegriff hat also nur Sinn im Kontext des Eigentumbegriffs des Bürgerlichen Gesetzbuches. […] Aber es gibt politische und ökonomische Gründe, die Frage nach dem Original virulent zu halten.“302
Denn obwohl der „Tod des Originals“ – ähnlich wie „Gott ist tot!“ – wiederholt festgestellt wurde, bleibt das Original virulent und wirkmächtig. Was Peter Weibel hier für die Kunst feststellt, zeigt sich auch in anderen Feldern, in denen das Original als Gründungsfigur fungierte: in der Anthropologie mit ihrer initialen Suche nach ursprünglichen Kulturen, dem original Menschlichen oder authentischen Lebensformen, vor allem aber in der Translationswissenschaft mit ihrer Frage nach der treuen Übersetzung des „heiligen und unverrückbaren Originals“303 . Ein Ausflug in diese relativ junge Disziplin der Translation Studies bietet produktive Anknüpfungspunkte zur Entfaltung einer ästhetischen Dimension des Übersetzungsbegriffs. Im Zuge dekonstruktivistischer Ansätze, wie dem Aufruf zum Writing against Culture304 oder der Neukonzeption des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 305 , entwickelte die Translationswissenschaft vor dem Hintergrund des postulierten Tods des Originals neue Sichtweisen auf Praxis und Konzept der Übersetzung. Der Grazer Translationswissenschaftler Erich Prunč sieht im „toten Original“ nicht nur die Grundlage für „die Geburt des Lesers, sondern mit ihm auch [für] die
301 302 303 304 305
Weibel (1994): Kontextkunst, 57. Vgl. Weibel (2006): Ich bin ein Original, A1. Prunč (2011): Entwicklungslinien, 274. Abu-Lughod (1991): Writing against Culture. Benjamin (1935/2006): Das Kunstwerk.
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Geburt des Translators“306 . Als den „eigentlichen Widerpart“ im Übersetzungsprozess identifiziert er nicht mehr den „Autor und sein Original, sondern alle übrigen Interpreten, mit denen er [der Übersetzer] in Konkurrenz tritt“.307 Die Konsequenzen dieser konzeptuellen Expansion der am Übersetzungsprozess beteiligten Akteur:innen beschreibt Prunč als power turn, den die Translationswissenschaften in den 1990er-Jahren vollzogen haben und der nicht zuletzt ihre „success story“ begründet. „Für alle Wissenschaften, die sich mit Zeichen und Texten befassen, wurde nunmehr ein naiver Rückgriff auf das tertium comparationes einer real existierenden und allen gemeinsamen Welt nicht mehr möglich. Die Übersetzbarkeit der Signifikanten durch andere Signifikanten, hinter denen sich keine objektiven Wahrheiten verbergen, ließ Übersetzen zur Metapher für Dekonstruktion und Dekonstruktion zur Metapher für Übersetzen werden […]. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass Wissen und Wahrheit, wie Foucault […] es formuliert, nicht in einem machtfreien Raum konstituiert werden. Sie können nicht unabhängig von Geschichte und Ideologie […] entdeckt und erworben werden. Vielmehr stellen ‚Wahrheiten‘ stets konventionalisierte ideologie- und zeitbedingte Konstrukte dar.“308
Auch die Translationswissenschaftlerin Michaela Wolf widmet sich der Konzeption und Praxis von Übersetzung unter Dekonstruktion der Idee des Originals und unter besonderer Berücksichtigung sozialer Machtverhältnisse. Geprägt von postkolonialen Denkströmungen stellt sie das harmonisierende Bild von Übersetzung als ‚Brücke zwischen Kulturen‘ 309 grundlegend in Frage und entwirft eine Konzeption von Übersetzung, die „nicht mehr mimetisch als sekundäres Produkt eines sakrosankten Originals […] als reproduktive […] Variante eines Ausgangstextes“ gilt, „sondern als Produkt einer pluridimensionalen Handlung“.310 Den Kern aktueller translatorischer Reflexionen bildet nicht mehr die bis weit in die 1980er-Jahre herrschende dichotome Konzeption eines originalen Ausgangstextes, der in einem Zieltext von „unveränderter Gleichheit der übermittelten Nachricht“ sein Äquivalent findet. Vielmehr kam es – angeregt auch durch die kulturanthropologische Writing-Culture-Debatte und die postkoloniale Theoriebildung – zu einer „richtungsweisenden Erweiterung des Beobachtungsrahmens“. Nachdem bereits in einem ersten Schritt, unter Einfluss funktionaler Ansätze, „das heilige Original entthront“ und „starre hierarchische und rein textbezogene Vorstellungen“ aufgebrochen wurden, gelten im
306 Prunč (2011): Entwicklungslinien, 275. Zur Kritik dieses essentialisierenden Ansatzes zur „Geburt des Translators“ vgl. Arrojo (1997): The „death“ of the author. 307 Prunč (2011): Entwicklungslinien, 275. 308 Prunč (2011): Entwicklungslinien, 275. 309 Wolf (2006): Übersetzung als Brücke. 310 Wolf (2006): Übersetzung als Brücke. Zur Kritik an der dichotomen Konzeption von Übersetzung und an der translatorischen Brückenmetapher vgl. auch Bachmann-Medick (2004).
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Ästhetische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Zwischen Kunst und Nicht-Kunst
aktuellen Diskursfeld jene translatorischen Konzeptionen als diskursprägend, die auch die „kontextuelle Situation und historische Zusammenhänge“ berücksichtigen.311 Die Basis dafür bildet, wie bereits weiter oben312 im Detail ausgeführt wurde, ein Kulturbegriff, der Kultur nicht mehr als Original im Sinne eines essentialistisch gedachten Ganzen fasst, sondern als „bereits in sich kontaminiert“, als hybrid, dynamisch, fluid – oder wie es Bhabha formuliert – als „translational“ verstanden werden muss. Vor diesem Hintergrund plädiert Michaela Wolf dafür, „den Fokus auf die konstruktionsrelevanten Faktoren von Übersetzung“313 sowie auf deren „wechselseitigen, dialogischen, polyphonen und interaktionsbetonten Charakter“314 zu legen. Nicht mehr das Original und die Vermittlung einer äquivalenten Botschaft bilden den zentralen Kern translatorischen Erkenntnisinteresses, sondern Übersetzung als Prozess des permanenten Aushandelns von Spannungen und Konflikten in einem „Dritten Raum“. Parallelen zu Peter Weibels Konzeption von Kunstproduktion als „Übersetzungsarbeit“, Homi K. Bhabhas Überlegungen zu Kultur als „translational“ und Michaela Wolfs Vorstellung von Übersetzung als konfliktuöses Verhandeln von Differenzen in einem antagonistischen Raum finden sich bereits in Walter Benjamins kunsttheoretischen und übersetzungsästhetischen Schriften aus den 1920er- und 1930er-Jahren. Zentrale Anknüpfungspunkte für die Konzeption der ästhetischen Dimension des in dieser Arbeit situativ entfalteten Übersetzungsbegriffs sind Teile der sprachphilosophischen Überlegungen in dem viel rezipierten Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers (1923) sowie die beiden kunsttheoretischen Texte Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935) und Der Autor als Produzent (1934). Benjamins Kunstund „Übersetzungsästhetik“315 bietet im Kontext einer Analyse relationaler Kunst als Übersetzungsarbeit insofern eine produktive Basis, als er in allen drei Aufsätzen der Neukonzeption der klassischen Trias moderner Ästhetik – Original, Künstler:in und Publikum – sowie deren Verhältnis zueinander breite Aufmerksamkeit schenkt und damit eine wesentliche Referenz-Grundlage für die Begründung, Entwicklung und kunsttheoretische Fundierung der Konzeption, Praxis und Analyse von relationaler Kunst legt. Vor dem Hintergrund der technischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen stellt Benjamin nicht nur die Aufgabe des Übersetzers als möglichst mimetische Mitteilung des Ausgangstextes grundlegend in Frage. Vielmehr liefert er Denkanstöße für all jene kommenden Theorien und Praktiken, die Sprache und Kunst nicht als in sich geschlossene Entitäten fassen, sondern in
311 Wolf (2008): Translation – Transkulturation. 312 Vgl. Kapitel 3.2 (Epistemologische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Anthropologie des dritten Raums). 313 Wolf (2006): Übersetzung als Brücke, 10. 314 Wolf (2006): Übersetzung als Brücke, 14. 315 Abel (2014): Übersetzungsästhetik.
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Bezug auf ihr Verhältnis zu außerkünstlerischen und -sprachlichen Wirklichkeiten befragen. Erich Prunč bezeichnet Benjamins Aufsatz als „Kulttext“, dessen „Interpretation geradezu zur Pflichtübung jedes Autors gehörte, der in der Gemeinschaft der Dekonstruktivisten etwas gelten wollte“316 . Unter Bezugnahme auf Jacques Derrida und Paul de Man zeigt er die Widersprüchlichkeiten des Textes auf und betont, dass sich Dekonstruktion in Anschluss an Benjamin gar nicht bemüht, „Widersprüche aufzulösen. Im Gegenteil. Eine ihrer Analysemethoden besteht darin, Widersprüche aufzudecken und sie schrittweise bis zu einem unauflösbaren Widerspruch, einer Aporie, zu führen.“317 Wenn in der vorliegenden Studie aus einer kulturanthropologisch fundierten, transdisziplinär orientierten Perspektive auf Walter Benjamins Text Die Aufgabe des Übersetzers Bezug genommen wird, so gilt das Augenmerk nicht den Widersprüchlichkeiten, Unzulänglichkeiten und Mysterien dieses Aufsatzes oder seinen variantenreichen Interpretationen. Vielmehr interessiert Benjamins Eindeutigkeit in Bezug auf den exponierten Status des Originals, dem er einen radikalen Absolutheitsanspruch attestiert. Ein Original ist nur dann Original, wenn es keine Rezipient:innen, also auch keine Übersetzer:innen, hat. Sobald das Original, zum Beispiel durch Übersetzer:innen oder ein Publikum, wahrgenommen und bearbeitet wird, erfährt es Wandlung und Erneuerung. Es ändert sich und erweist sich damit als Original unübersetzbar. Diese Unübersetzbarkeit gründet in seiner unwiederbringlichen Positionierung im Kontext der originären historischen Situation seiner Herstellung und Rezeption. Das Fortleben des Originals erfordert seine Abstraktion, da nicht nur ein Text übersetzt werden muss, sondern auch die in ihm enthaltene, durch Transformationen verfremdete historische Erfahrung. Benjamin geht noch einen Schritt weiter, wenn er auch das Gemeinte der Sprache selbst als „in stetem Wandel begriffen“318 sieht. Es lässt sich nie zur Gänze fassen, ist notwendig defizitär, da Signifikat und Signifikant nie übereinstimmen, eine nicht zu überbrückende Kluft zwischen ihnen besteht. Die Aufgabe des Übersetzers kann damit lediglich darin liegen, die Differenz zwischen den unterschiedlichen Arten des Meinens des Originaltextes und des Zieltextes sichtbar zu machen, denn „alle Übersetzung [ist] nur eine irgendwie vorläufige Art […], sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen. Eine andere als zeitliche und vorläufige Lösung dieser Fremdheit, eine augenblickliche und endgültige, bleibt den Menschen versagt oder ist jedenfalls unmittelbar nicht anzustreben. […] Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkte berührt und wie ihr wohl diese Berührung, nicht aber der Punkt, das Gesetz vorschreibt, nach dem sie weiter ins Unendliche ihre gerade Bahn zieht, so berührt die Übersetzung flüchtig
316 Prunč (2011): Entwicklungslinien, 257. 317 Prunč (2011): Entwicklungslinien, 254. 318 Benjamin (1923/1963): Die Aufgabe des Übersetzers, 187.
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und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinnes das Original, um nach dem Gesetze der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen.“319
Bereits in dieser frühen übersetzungsästhetischen Schrift zeigt sich einer der zentralen Gedanken Walter Benjamins: Die Idee des (künstlerischen) Originals ist insofern fragwürdig, als jedes Objekt (ein Artefakt, ein Ausgangstext) seine Wirkung erst im Kontext der jeweiligen historischen und institutionellen Verankerung sowie der sozialräumlich fundierten Rezeption entfaltet. Benjamin entlarvt die Einzigartigkeit eines auratischen Originals (seinen „Kultwert“) als Illusion und wendet den Blick auf den „Ausstellungswert“, das heißt auf die Rezeptionsbedingungen und -effekte, und damit auf die sozialen Erwartungshaltungen und Wahrnehmungsweisen. Die Vorstellung von Kunst als autonomen Raum in Frage zu stellen, sie vielmehr als gesellschaftliche Institution zu identifizieren und zu kritisieren, intendiert auch Walter Benjamins Aufsatz Der Autor als Produzent. In einer Rede, die er im Jahr 1934 am Institut für Studien des Faschismus in Paris gehalten hat, fordert er Künstler:innen und Intellektuelle dazu auf, ihre Autonomie und Freiheit aufzugeben, um sich in den Dienst von Klasseninteressen zu stellen und gegen die Dominanz des bürgerlichen Produktionsapparats anzukämpfen. Die Konsequenz ist für Benjamin klar: „Da ist’s denn nun mit seiner Autonomie aus. Er richtet seine Tätigkeit nach dem, was für das Proletariat im Klassenkampf nützlich ist. Man pflegt zu sagen, er verfolgt eine Tendenz.“320 Benjamin widmet seine Ausführungen in weiten Teilen der Schwierigkeit, wenn nicht sogar Unmöglichkeit, aus privilegierter Position Seite an Seite mit den Unterdrückten zu kämpfen. Er verweist dabei einerseits auf das bürgerliche Bildungsprivileg, das die gesellschaftlichen Klassen voneinander trennt, andererseits auf die rasche Indienstnahme kultureller, auch revolutionärer Produktionen durch die herrschende Klasse und den kapitalistischen Verwertungsapparat. Mit Bezug auf die dadaistischen Photomontagen bzw. die sozialkritischen Fotografien der Neuen Sachlichkeit meint er: „Nun aber verfolgen Sie den Weg der Photographie weiter. Was sehen Sie? Sie wird immer nuancierter, immer moderner, und das Ergebnis ist, dass sie keine Mietskaserne, keinen Müllhaufen mehr photographieren kann, ohne ihn zu verklären.“321 Das Elend, so Benjamin, ist in seinen kritischsten Repräsentationen zum Gegenstand des Konsums geworden; der kapitalistische Produktionsapparat wird beliefert, ohne ihn zu verändern. Die Ursache liegt für Benjamin vor allem in der Schwierigkeit, einen Ort „neben dem Proletariat“ zu finden: „Was ist das aber für ein Ort? Der eines Gönners, eines ideologischen Mäzens?
319 Benjamin (1923/1963): Die Aufgabe des Übersetzers, 188. 320 Benjamin (1934/1977): Der Autor als Produzent, 684. 321 Benjamin (1934/1977): Der Autor als Produzent, 693.
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Ein unmöglicher.“ Auf alle Fälle einer, der mit Benjamin „nur aufgrund seiner Stellung im Produktionsprozeß festzustellen oder besser zu wählen ist.“322 Benjamins Forderung insbesondere an Künstler:innen und Intellektuelle, Stellung gegen die Zumutungen des kapitalistischen Produktionsapparats samt Privilegierung des Originals zu beziehen, verweist ebenso auf ein verändertes (Selbst-)Verständnis von Kunst wie seine Metapher von Übersetzung als „Form“, die das Original – wie die Tangente den Kreis – nur „flüchtig und […] in dem unendlich kleinen Punkte“323 berührt. In Abgrenzung zu Hegels rigider Werkästhetik, die am Klassischen orientiert ist und im idealen Kunstschönen die sozialen Gegensätze aufgehoben sieht, fasst Benjamins Ästhetik Kunst als widersprüchliches Zeugnis gesellschaftlicher Konflikte, Dissonanzen und Antagonismen. Die Möglichkeiten der Marktgesellschaft sowie der technischen Reproduktion wertet er dabei insofern als potenziell demokratisierend, als sie es ermöglichen, die im geschlossenen Werkbegriff des Originals angelegte „kontemplative, auratische Distanz zwischen Kunstwerk und Rezipient zu eliminieren und gegensätzliche Qualitäten miteinander zu verknüpfen.“324 Benjamins Denken in ambivalenten Konstellationen und Konfigurationen propagiert in Anschluss an Michail Bachtin einen vielstimmigen, offenen Werkbegriff, der nicht die „individuelle, private Rezeption des Bildungsbürgers“ privilegiert, sondern den Zugang zu „Kunst für breite Bevölkerungsschichten“325 fordert. Seine materialistische Ästhetik der widersprüchlichen Konstellationen erfährt in den relationalen Kunstpraktiken und deren theoretischen Fundierungen seit den 1990er-Jahren neue Aktualität. Benjamins Aufsätze dienen – neben den Ausführungen von Umberto Eco über Das offene Kunstwerk (1962), von Roland Barthes zum Tod des Autors (1967) oder von Peter Bürger zur Negation der künstlerischen Autonomie durch die Avantgarde (1974)326 – als wesentliche Referenz für relationale Ansätze in der zeitgenössischen Kunst. Diesen Variationen der (Selbst-)Definition von Kunst nicht als autonome Praxis, sondern als Übersetzungsarbeit widmet sich die ästhetische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Sie leuchtet die andauernde Differenzierung zwischen Kunst und Nicht-Kunst aus und fragt mit Blick auf die drei Beispiele relationaler Kunst nach Neubestimmung und Verhältnis von Original, Künstler:in und Publikum. Ihr Anliegen ist die differenzierte und transparente In-Bezug-Setzung der Realität von Kunst und anderen Realitätsebenen, wobei im Benjamin’schen Sinne jene Zonen von besonderem Interesse sind, in denen sich soziale Dissonanzen manifestieren und die relationalen
322 323 324 325 326
Benjamin (1934/1977): Der Autor als Produzent, 691. Benjamin (1923/1963): Die Aufgabe des Übersetzers, 188. Zima (1991): Ästhetik, 142. Zima (1991): Ästhetik, 131. Eco (1962/1973): Das offene Kunstwerk; Barthes (1967/2000): Tod des Autors; Bürger (1974): Theorie der Avantgarde.
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Ästhetische Dimension des Übersetzungsbegriffs. Zwischen Kunst und Nicht-Kunst
Gefüge nicht als harmonische, sondern als ambivalente Konstellationen greifbar werden. Damit steht die ästhetische Dimension des Übersetzungsbegriffs in vielfacher Wechselbeziehung einerseits mit der gouvernementalen Dimension des Übersetzungsbegriff, die sich der Herstellung von Konnektivitäten sowie der Genese von Konflikten zwischen den heterogenen Akteuren des künstlerisch initiierten Beziehungsgefüges widmet; andererseits mit der epistemologischen Dimension, die sich der Situiertheit von Forschenden als Übersetzer:innen des Forschungsfeldes in einen wissenschaftlichen Text zuwendet.
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4.
Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst
Der Übersetzungsbegriff weist in unterschiedlichen Gebrauchskontexten unterschiedliche Bedeutungen auf. Zentral für die vorliegende Studie ist ein weites Verständnis von Übersetzung, das einerseits im Forschungsfeld vorgefunden wurde, wenn Künstler:innen oder Anthropolog:innen in metaphorischer Weise von Kunst oder von Anthropologie als Übersetzung im Sinne von Übertragung, Vermittlung oder Verknüpfung sprechen. Andererseits wird der Übersetzungsbegriff als analytisches Werkzeug konzipiert und eingesetzt, um Impulse des Herstellens von Konnektivität („Übersetzungsmomente“) zwischen den heterogenen Teilen einer – im vorliegenden Fall künstlerisch initiierten – Akteurswelt zu untersuchen. Zur Identifikation und Analyse signifikanter Übersetzungsmomente in den beforschten Fallbeispielen relationaler Kunst (Adaptive Actions, BELLEVUE, Keine Denkmale) wurde im Zuge des Forschungsprozesses und entlang der involvierten Hauptakteure (Kunst, Wissenschaft, Stadtregierung und -bewohner:innen) ein mehrdimensionaler Übersetzungsbegriff als analytisches Werkzeug entwickelt. Dieses lässt sich als Brille denken, vor die sich drei verschiedene konzeptuelle Linsen schieben lassen: (1) die Linse der gouvernementalen Dimension des Übersetzungsbegriffs, die in allen drei hier untersuchten Projekten die städtebaulichen und kulturpolitischen Regierungshandlungen sowie die explizite Aktivierung und künstlerische Verknüpfung von sozialräumlich unterschiedlich positionierten Beteiligten in den Blick nimmt; (2) die Linse der epistemologischen Dimension des Übersetzungsbegriffs, welche die in das künstlerisch initiierte Beziehungsgefüge involvierten Anthropolog:innen und andere Forschende fokussiert; (3) die Linse der ästhetischen Dimension des Übersetzungsbegriffs, welche die Konzeption und das Verhältnis von künstlerischem Feld und nicht-künstlerischen Feldern in den drei Fallbeispielen ausleuchtet. Durch diese drei konzeptuellen Linsen – Produktion von Allianzen unter besonderer Berücksichtigung von Regierungstechniken als Übersetzung, Anthropologie als Übersetzung und Kunst als Übersetzung – werden in diesem Kapitel jene Übersetzungsmomente identifiziert, die Konnektivität zwischen den heterogenen Teilen der künstlerisch initiierten Akteurswelt herstellten bzw. jene Momente, die zu Konflikten, Rissen und Brüchen in den Allianzgefügen führten. Mit Moment (lat. momentum: Bewegung, Grund, Einfluss, Impuls, Kraft) ist in Anlehnung an Michel Callon (vgl. Kapitel 3.1.1 La traduction. Soziologie der Übersetzung) ein ausschlaggebender Faktor gemeint, der etwas bewirkt bzw. zu etwas führt und der damit eine Kraft bezeichnet, die auf das Handeln einwirkt. Callon bezeichnet die Impulse, die zuvor voneinander getrennte Akteure zu Allianzen zusammenfügen und in diesen komplexen sozialen Gefügen Konnektivität schaffen, als Momente der Übersetzung. Er differenziert dabei
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Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst
verschiedene Übersetzungsmomente, nämlich die Identifikation eines Problems, das Erzeugen von Interesse zur Lösung dieses Problems bei verschiedenen sozialen Akteuren, die Verteilung von Rollen zwischen den involvierten Teilnehmenden sowie deren Mobilisierung zur gemeinsamen Lösung des Problems. Diese aufeinander einwirkenden Übersetzungsmomente fasst Callon als Mobilisierungsstufen, deren Ziel die Herstellung von – zumindest temporärem – Zusammenhalt in einem Allianzgefüge ist. Gleichzeitig betont Callon die Fragilität und Vorläufigkeit jeglichen Übersetzungsresultats. Wo Übersetzungsmomente zu wenig wirksam sind, folgen Konflikte und Brüche, die in relationalen Kunstprojekten zwar vorkommen, in den offiziellen Repräsentationen der Arbeiten – auf der zweiten Aufführungsebene der Galerie, des Museums oder des Katalogs – jedoch kaum thematisiert werden. Diesen wenig thematisierten Kräften des Verbindens und Spaltens widmet sich dieses Kapitel unter adaptiver Bezugnahme auf Callons Begriff der Übersetzungsmomente. Dieser wird dabei insofern spezifiziert, als die einander überlappenden Mobilisierungsstufen auf ihre konkrete Ausgestaltung hin befragt werden: Auf welche Weise und mit welchen Mitteln werden – unter durchgängiger Berücksichtigung gouvernementaler Dynamiken – Akteure in ein relationales Kunstprojekt involviert und miteinander verbunden? Wo treten Konflikte, Risse und Brüche auf? Zur Annäherung an diese Fragen wurden aus dem empirischen Material der drei untersuchten Fälle sowie unter Zugriff auf weitere Beispiele der zeitgenössischen relationalen Kunst vier signifikante Übersetzungsmomente destilliert: (1) das Kapital (mit Pierre Bourdieu: ökonomisches, soziales und kulturelles bzw. in Erweiterung von Bourdieu: moralisches Kapital), das verfügbar ist und zwischen den Beteiligten verteilt und ausgetauscht wird; (2) die Raum-Atmosphären, die aufgesucht bzw. inszeniert werden und Zusammengehörigkeit vermitteln oder distinktiv wirken; (3) das Versprechen eines egalitären „Wir“, das erzeugt und transportiert wird; sowie (4) geteilte Bild- und Sprechakte – in der Konzeption von Horst Bredekamp (2015) visuelle und verbale Äußerungen im Kontext praktischer Verrichtungen. Neben diesen vier kategorial unterschiedlichen, wechselseitig aufeinander bezogenen Impulsen der Allianzbildung gilt das forschende Interesse jeweils auch den kontinuierlich wirksamen Übersetzungsmomenten alltäglicher Beziehungspraktiken. Aktivitäten wie gemeinsames Essen und Trinken, kollektive Spaziergänge, Alltagsgespräche und Spiele, der beiläufige Austausch von Dingen (boundary objects327 ) oder Ideen vermochten durch ihre kontinuierliche Präsenz eine hohe, allianzstabilisierende Wirkkraft zu
327 Cécile Cuny, Alexa Färber und Sonja Preissing sprechen im Kontext von Team-Forschungen zwischen Ethnografinnen und Fotografinnen etwa auch Dokumentationsprotokollen die Funktion zu, „unterschiedliche soziale Welten […] miteinander zu verbinden“. Mit Verweis auf Susan Leigh Star und John Griesemer sprechen sie von boundary objects, die „verbindlich und flexibel genug“ sind, um „nichtkonsensuelles Zusammenarbeiten“ zu ermöglichen. Cuny et al. (2019): Autonomie und Zusammenarbeit, 73.
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Kapital als Kitt und Spaltkeil
entfalten. Sowohl diesen alltäglichen als auch den vier signifikanten Übersetzungsmomenten gilt – jeweils erhoben in den drei Fallbeispielen – die Aufmerksamkeit der folgenden Seiten.
4.1
Kapital als Kitt und Spaltkeil
Relationale Kunstproduktion ist Beziehungsarbeit. Um die Beziehungen zwischen den heterogenen Teilen der künstlerisch initiierten Akteurswelt – im Sinne einer Übersetzungsarbeit – zu stabilisieren, braucht es Kapital, das als Übersetzungsmoment verstetigend wirken, gleichzeitig auch zu Konflikten und Brüchen führen kann. Die Qualität und Intensität der erzeugten Konnektivitäten, so zeigt die Analyse von Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale aus der Perspektive eines mehrdimensionalen Übersetzungskonzepts, steht in Zusammenhang mit dem Reziprozitätsgrad, der im Prozess des Kapitalaustauschs entfaltet wird. Die Frage nach dem Grad der Reziprozität bezieht sich sowohl auf materielle (Geld, Güter, Waren) als auch auf nicht-materielle Transaktionen (soziale, kulturelle bzw. moralische Werte) und umfasst damit messbare wie nicht-messbare Einheiten. Mit Marshall Sahlins muss Reziprozität in diesem erweiterten Sinne nicht notwendigerweise symmetrisch, äquivalent und unmittelbar sein („balancierte Reziprozität“). Sie schließt auch immaterielle Dimensionen ein, wie sie vor allem das nahe soziale Umfeld prägen („generalisierte Reziprozität“). Darüber hinaus können die stattfindenden Kapitaltransfers unfreiwillig sein, etwa wenn Individuen ihren eigenen Nutzen auf Kosten anderer zu maximieren versuchen („negative Reziprozität“).328 Das im Rahmen von relationalen Kunstprojekten eingesetzte und ausgetauschte Kapital zeigte sich im Sinne Pierre Bourdieus „in all seinen Erscheinungsformen“329 als ökonomisches (materielles Eigentum, vgl. Kapitel 4.1.1), soziales (Verwandt-, Bekanntund Freundschaften, vgl. Kapitel 4.1.2) und kulturelles Kapital (Bildung, Ethos, vgl. Kapitel 4.1.3). Die Interdependenz der verschiedenen Kapitalarten erwies sich dabei als konnektive Kraft, die sowohl auf die „objektiven und subjektiven Strukturen“ („vis insita“) als auch als „grundlegendes Prinzip der inneren Regelmäßigkeiten der sozialen Welt“ („lex insita“) wirkte.330 Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von einer „Alchemie“ zwischen den Kapitalsorten, die entscheidend für den Zusammenhalt der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist. Die Verfügbarkeit von Kapital entspricht dabei nicht „dem Bild eines Universums vollkommener Konkurrenz und Chancengleichheit, einer Welt ohne Trägheit, ohne Akkumulation und ohne Vererbung von
328 Sahlins (1972): Stone Age Economics. 329 Bourdieu (1992/1997): Macht, 50. 330 Bourdieu (1992/1997): Macht, 49.
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Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst
erworbenen Besitztümern und Eigenschaften“. Vielmehr denkt Bourdieu Kapitalstrukturen als Produkt einer Politik der Beharrung und Demobilisierung, „die dafür sorgt, daß nicht alles gleich möglich oder gleich unmöglich ist“.331 Für die Analyse von relationaler Kunst332 aus der Perspektive eines mehrdimensionalen Übersetzungsbegriffs ist Bourdieus erweiterter Kapitalbegriff insofern produktiv, als er neben dem von Eigennutz geleiteten Austausch von Gütern auch jene Formen konnektiven sozialen Austauschs einschließt, die als „nicht-ökonomische, uneigennützige Beziehungen“333 verbucht werden können. Diese Ökonomie der „doppelten Buchführung“ in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft basiert laut Bourdieu einerseits auf einer wirtschaftlichen Praxis des „bloßen Warentauschs, der objektiv und subjektiv auf Profitmaximierung ausgerichtet und vom (ökonomischen) Eigennutz geleitet ist“. Andererseits schafft sie „die Vorstellung vom reinen und vollkommenen Universum des Künstlers und Intellektuellen […], wo das ‚L’art pour l’art‘ und die reine Theorie uneigennützig regieren“. Die „Angehörigen der herrschenden Klasse“ sichern sich dabei exklusive, sakrosankte „Quasi-Monopole“, die „dem ‚kalten Hauch‘ des egoistischen Kalküls […] entzogen wurden“. Die Einrichtung dieser privilegierten Zonen der „ausdrücklichen Verneinung des Ökonomischen“ bedarf eines großen Aufwands der „Verschleierung oder, besser, Euphemisierung“ der materiellen Matrix sämtlicher Praxisformen, also auch jener der scheinbar nicht-ökonomischen, uneigennützigen Beziehungen. Voraussetzung für Bourdieus „ökonomische Praxiswissenschaft“, die auf eine Freilegung der beharrlichen Interdependenzen zwischen eigen- und uneigennützigen Formen sozialen Austauschs abzielt, ist ein Kapitalbegriff, der Kapital und Profit nicht nur materiell, sondern auch in ihren kulturellen und sozialen Dimensionen konzipiert. Besonderes Augenmerk gilt der Frage, wie „die verschiedenen Arten von Kapital (oder, was auf dasselbe herauskommt, die verschiedenen Arten von Macht) gegenseitig ineinander transformiert werden“334 . Vor dem Hintergrund dieses Theorems der „doppelten Buchführung“ der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft erweisen sich relationale Kunstprojekte als idealer Untersuchungsgegenstand: Einerseits verstehen sie sich als Teil der zeitgenössischen Kunstwelt und reklamieren deren Ideale wie Freiheit, Autonomie und Uneigennützigkeit für sich. Sie widersetzen sich ostentativ der zunehmenden Transformation von Kunst zu teuer gehandelter Ware auf einem globalisierten Kunstmarkt und der Zurichtung des Künstlers als gewinnorientiertem „homo oeconomicus“. Gleichzeitig distanzieren sich die Projekte von einem Verständnis von Kunst als autonomer Zone und vertreten eine Konzeption von Kunst als soziale Handlung. Ziel dieses Kapitels ist eine Annäherung an dieses Paradoxon relationaler Kunst, das als Grundlage sowohl für Konnektivität als 331 332 333 334
Bourdieu (1992/1997): Macht, 49 f. Teile aus diesem Abschnitt in Laister (2019a): Kunst und Gabe. Bourdieu (1992/1997): Macht, 51, Hervorhebung im Original. Bourdieu (1992/1997): Macht, 50 ff., Hervorhebung im Original.
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Kapital als Kitt und Spaltkeil
auch für Konfliktbildung zwischen den heterogenen Teilen der künstlerisch initiierten Allianzen identifiziert werden kann. 4.1.1 Geld, Güter, Zeit Notwendige Voraussetzung für die Realisierung der untersuchten Projekte Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale war ökonomisches Kapital. Zur Umsetzung der künstlerischen Ideen bedurfte es eines Budgets (für Infrastruktur, Material, Honorare, Reisekosten, Spesen, Bewirtung u. a.), das in allen drei Fällen großteils aus öffentlichen Fördergeldern und Kooperationen akquiriert wurde. Die Durchführung der Arbeiten basierte auf einer institutionellen Anbindung an Kulturbetriebe, die als Rechtspersonen befugt waren, öffentliche oder private Fördermittel einzuwerben, über diese zu verfügen und damit die Realisierung der künstlerisch-relationalen Ideen innerhalb eines legitimierten gouvernementalen Rahmens zu tragen und abzurechnen. Obwohl sich die drei Projekte sowie die projektverantwortlichen Institutionen [space], Linz09 und in Größe und Struktur deutlich voneinander unterschieden,335 zeigten sich im Hinblick auf die operativen Abläufe signifikante Ähnlichkeiten. Die Produktion der Kunstprojekte war jeweils begleitet von Aushandlungsprozessen über Honorare, Reise- und Aufenthaltskosten, Materialgelder, Zuständigkeitsbereiche und Arbeitsteilung. Im Laufe dieser Projekt- und Budgetverhandlungen hatten die Künstler:innen ihre Konzepte wiederholt zu präsentieren, ihren gesellschaftlichen und künstlerischen Wert zu argumentieren und entlang der jeweiligen Förderzusagen, Infrastrukturen und Vorstellungen der verantwortlichen Kurator:innen bzw. Auftraggeber:innen zu rekonzeptualisieren und zu redimensionieren. Kernstück, boundary object 336 und zentraler secondary agent dieser Verhandlungen waren Kalkulationen, in denen die notwendigen finanziellen Ressourcen (inklusive Humankapital) eingeschätzt und nach ihren Verwendungszwecken aufgelistet waren. Diese Kalkulationen und ihre kontinuierlichen Anpassungen bildeten in den prozessorientierten relationalen Kunstprojekten nach innen ein entscheidendes Kommunikations- und auch Konfliktmoment, blieben nach außen hin jedoch weitgehend unsichtbar. Risse im Beziehungsgefüge traten vor allem dann auf, wenn Kalkulation und Wirklichkeit (sprich: vermuteter und tatsächlicher ökonomischer Kapitalbedarf) aufgrund ungeplanter Projektverläufe, situativ entstandener Ideen oder unrealistischer Kosteneinschätzungen divergierten. Hohe Gesamtprojektsummen und komplexe Abrechnungsvorgaben (zum Beispiel bei EU-Projekten) führten dort zu Konflikten, wo sie auf Strukturen und Ak-
335 „SPACE is a social enterprise constituted as a company limited by guarantee and a registered charity no. 267021“ (http://www.spacestudios.org.uk/about/), Linz 2009 Kulturhauptstadt Europas war eine OrganisationsGmbH und agiert als eingetragener Kunstverein (NGO). 336 Leigh in Cuny et al. (2019): Autonomie und Zusammenarbeit.
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Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst
teur:innen trafen, die mit der Logik hochbürokratischer Wirtschaftssysteme wenig vertraut waren oder diese aus politischen Gründen gezielt herausfordern wollten. Als dominantes Konfliktfeld erwies sich die Verteilung von Honoraren und Humanressourcen, da relationale Kunst eine intensivierte Kommunikations-, Organisationsund Recherchearbeit zwischen sozialräumlich unterschiedlich positionierten Akteur:innen mit unterschiedlichen Interessen und Kapitalbesitz mit sich bringt. Die projektverantwortlichen Institutionen respektive deren Kurator:innen und Mitarbeiter:innen fungierten dabei als Schnittstelle zwischen den Vorstellungen der Künstler:innen, den institutionellen Ressourcen und Kapazitäten sowie den für die Realisierung notwendigen Kontakten und Aktivitäten. Kurator:innen, Assistent:innen und Praktikant:innen traten – gemeinsam mit den Künstler:innen – als wesentliche Akteur:innen im Gefüge relationaler Kunst auf. Ihre Tätigkeiten waren zwar arbeitsvertraglich geregelt, folgten jedoch tendenziell weniger der Logik einer balancierten Reziprozität im Sinne eines symmetrischen, zeitnahen Austauschs zwischen Arbeitskraft und Lohn. Vielmehr dominierten nicht-materielle, generalisierte Motive – etwa soziale Nähe, Engagement, ethische Haltungen und Leidenschaft für künstlerisches, soziales und politisches Handeln. Gleichzeitig zeigten sich in allen drei Projekten Konflikte und Brüche vor allem dann, wenn die generalisierte Reziprozität, charakterisiert durch geringe materielle Entlohnung bei ausgeprägter sozialer Nähe zwischen den Akteur:innen, an die Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit ging. Wenn Künstler:innen oder andere Akteur:innen privat unter pekuniärem und zeitlichem Druck standen, weil sie etwa eine Familie zu versorgen oder kleine Kinder zu betreuen hatten, führte das ebenso zu Belastungsproben des Beziehungsgefüges wie gefestigte ethische bzw. politische Haltungen. Darüber hinaus stellten Perfektionismus und spontane Ideen von Künstler:innen, deren Realisierung hartnäckig eingefordert wurde, den Zusammenhalt der Allianzen auf die Probe. Derartige Konflikte führten zwar immer wieder zu Ausstiegen von Akteur:innen – Brüche, die das Gesamtgefüge bedrohten, waren allerdings trotz der hohen Belastungen in allen drei Projekten nicht zu verzeichnen. Das bereits investierte Kapital sowie moralische Werte wie Verantwortung, vor allem aber vertragliche Bindungen mit den Fördergebern wirkten als Übersetzungsmomente und stabilisierten die ästhetischen Allianzen. Den Zusammenhalt in partizipativen Prozessen, in die Akteur:innen Zeitkapital ohne adäquate materielle Entlohnung investieren, diskutiert Alexa Färber vor dem Hintergrund der neoliberalen Figur des „unternehmerischen Selbst“. Sie zeigt auf, dass sich vor allem jene durch freiwilliges Engagement auszeichnen, denen es gelingt, „die mit Teilhabe verbrachte Zeit mehrfach auszuwerten“. Am Beispiel einer Berliner Mieter:inneninitiative am Kottbusser Tor analysiert sie den Zusammenhang zwischen städtischem Engagement und dem „unternehmerischen Ideal der Selbstverwirklichung
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Kapital als Kitt und Spaltkeil
und Selbstausbeutung“337 , dem Streben nach Autonomie und einem Leben in flachen Hierarchien, in dem sich Arbeits- und Freundschaftsbeziehungen überlappen. Ihr zufolge sind „Selbst-Aktivierung“ und Ausdauer im Kontext der Zusammenarbeit bei jenen Stadtbewohner:innen besonders ausgeprägt, die der „spätmodernen Figur des ,unternehmerischen Selbst‘“ entsprechen und denen eine Bewertung der eingebrachten Zeit „als Arbeitszeit, als Freizeit, als Projektzeit“ möglich ist338 . Färber interpretiert partizipativen Einsatz für den städtischen Raum dabei nicht zuletzt als Funktion einer neoliberalen Stadtpolitik, die lokales Wissen abfragt, öffentlich aufwertet und damit koproduziert. Wie Färber mit Bezug auf Angela McRobbie feststellt, „bleiben durch projektförmige Arbeit einzelne ausgrenzende Klassifizierungen durchaus bestehen, wie Geschlecht und soziale Herkunft, die in Folge der Emanzipationsbewegungen als bereits überkommen erachtet wurden“.339 Diese ausgrenzenden Klassifizierungen wurden in den drei Projekten dort manifest, wo Künstler:innen im Zuge des Werkprozesses die Finanzierung zunächst nicht budgetierter Kosten forderten. Wie erfolgreich sie bei den (wiederkehrenden) Verhandlungen über eine möglichst umfassende Abdeckung oder progressive Adaption der kalkulierten Ausgaben waren, korrelierte in allen drei Fällen mit ihrem bereits vorhandenen Besitz an sozialem und kulturellem Kapital. Ihre Durchsetzungschancen waren umso höher, je privilegierter ihre Positionierung im künstlerischen Feld war. Mit Pierre Bourdieu steht diese sozialräumliche Verortung in Relation zu den besuchten Ausbildungsstätten und entsprechenden Abschlüssen, mit einer repräsentativen Ausstellungs- und Projekt-Performance und Sichtbarkeit in facheinschlägigen Zeitschriften. Bei den hier untersuchten relationalen Kunstprojekten erwies sich darüber hinaus der Besitz an kulturellem Kapital in Form von erlerntem Kommunikations- und Verhandlungsgeschick für die materielle Kapitalakquise von großer Bedeutung. Wer Hartnäckigkeit, Überzeugungskraft, Überredungskünste, Verführungs- und Manipulationsstrategien gekonnt einsetzte und materielles Kapital selbstbewusst einforderte, konnte auch nicht budgetierte Forderungen durchsetzen. Weiters stellten sich bestehende Konnektivitäten mit einflussreichen Mitspieler:innen im künstlerischen, ökonomischen oder politischen Feld ebenso als förderlich für erfolgreiche Budgetverhandlungen heraus wie freundschaftliche und/oder familiäre Verbindungen, die Türen in (monetär) einflussreiche Sphären öffneten. Die Verfügbarkeit von sozialem und kulturellem Kapital wirkte damit auf den Verlauf der Verhandlungen um materielles Kapital ein. Gleichzeitig erwies sie sich auch als Übersetzungsmoment bei der Herstellung von Beziehungen zu Akteur:innen aus weniger privilegierten, kunstfernen Arealen.
337 Färber (2014b): Wer macht mit, 263. 338 Färber (2014b): Wer macht mit, 261. 339 Färber (2014b): Wer macht mit, 257; McRobbie (2001): Vom Club zum Unternehmen.
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Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst
4.1.2 Soziale Kontakte und Beziehungsarbeit Die hier untersuchten Fallbeispiele relationaler Kunst basierten auf der Teilnahme von Stadtbewohner:innen in London, Linz und Graz mit Fokus auf die lokale Nachbarschaft, das heißt auf soziale Akteur:innen ohne direkten Bezug zum künstlerischen Feld. Bei Prost bestand dieses zivile Segment der Allianz großteils aus im Bezirk ansässigen, am olympischen Stadtumbau in East London interessierten Menschen; bei Fattinger/ Orso/Rieper waren es Anrainer:innen der neuen Parkanlage zwischen den Stadtteilen Bindermichl und Spallerhof; und im Fall von Leko Migrant:innen, die im Annenviertel lebten und arbeiteten. Um diese zentrale Zielgruppe der lokalen Bewohner:innenschaft überhaupt zu erreichen, bedurfte es entsprechender Beziehungsarbeit: Kontakte zu potenziell Interessierten mussten hergestellt und Menschen zum Mitmachen aktiviert werden. Die Schnittstellen zu den Bewohner:innen wurden je nach Aufenthaltsdauer der Künstler:innen und deren Vertrautheit mit den lokalen Gegebenheiten teils von ihnen selbst, teils von den Kunstinstitutionen bzw. deren Mitarbeiter:innen hergestellt. Vor allem jene Künstler:innen, die sich – wie es im hochmobilen, schnelllebigen Kunstbetrieb der Gegenwart üblich ist – im Rahmen einer Residency oder als Auftragskünstler:innen für ein Festival nur für kurze Zeit am Projektort aufhielten, waren angewiesen auf die Kenntnisse und Kontakte der lokalen Akteur:innen. Deren soziales Kapital wirkte als signifikantes Übersetzungsmoment im Projektverlauf relationaler Kunst. Gleichzeitig stellte für die Künstler:innen die Kontaktaufnahme und Beziehungsarbeit vor Ort – strategisch über Institutionen wie auch durch zufällige Begegnungen im öffentlichen Raum, allein wie in Zusammenarbeit mit anderen – einen wesentlichen Teil des künstlerisch-relationalen Ansatzes dar. Neben diesen persönlich hergestellten Kontakten wurden Teilnehmende über öffentliche Aufrufe zur Partizipation akquiriert, gestreut über Informationskanäle wie Flyer, Broschüren, Anzeigen in Zeitungen oder social-media-Einträge.340 Zwar verlief beim Linzer Großprojekt BELLEVUE die Kontaktaufnahme anfangs ebenfalls im sozialen Nahbereich der Projektverantwortlichen, wobei sich die Konnektivität der Beziehungsnetze durch die ungleich höhere monetäre Ausstattung des Projekts mit entsprechendem Personalstab als stärker als in den anderen beiden untersuchten Projekten erwies. Gleichzeitig ermöglichte die professionelle PR-Arbeit von Linz09 eine größere Informationsreichweite durch gezielte Kampagnen in bezirksrelevanten Medien. Und
340 Die Bedeutung von social media spielte zur Zeit der Durchführung aller drei Projekte noch eine untergeordnete Rolle. In den vergangenen Jahren hat die digitale Form des Aufbaus von Konnektivitäten im Rahmen von relationalen Kunstprojekten sowohl in Bezug auf die Akquise von Teilnehmenden als auch auf den Zusammenhalt der Allianzen an Bedeutung gewonnen und würde besondere Aufmerksamkeit verdienen.
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Kapital als Kitt und Spaltkeil
auch das stadt- und europapolitische Siegel „Kulturhauptstadt Europas“ erhöhte die Sichtbarkeit, erleichterte die Kontaktaufnahme und stärkte die Verbindlichkeiten. Neben der zentralen Zielgruppe der Projekte Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale – nämlich den bislang nicht mit zeitgenössischer Kunst befassten, teils marginalisierten Bewohner:innen der jeweiligen Projektgebiete – ließen sich zwei weitere Hauptsegmente innerhalb der beforschten Allianzgefüge ausmachen: erstens im kulturellen Feld verortete Akteur:innen, das heißt die Hauptprotagonist:innen selbst (Künstler:innen, Kurator:innen) sowie Sub-Protagonist:innen aus dem künstlerischen und wissenschaftlichen Feld, die beschäftigt wurden, um inhaltliche und organisatorische Nebenaufgaben zu übernehmen. Diese Funktionen reichten von persönlichen Assistenzen der Künstler:innen über das beauftragte Recherchieren zu spezifischen Themenstellungen bis hin zu Tätigkeiten von Freiwilligen, Praktikant:innen, Schüler:innen, Student:innen oder engagierten, ehrenamtlich tätigen Bürger:innen. Zweitens zählten zum Allianzgefüge all jene Akteur:innen, deren aktive Mitarbeit die materielle und infrastrukturelle Umsetzung ermöglichte: Professionist:innen und Dienstleister:innen verschiedener Art, wie jene, die Broschüren gestalteten, Holztribünen bauten, Suppen kochten, Tafeln strichen und ähnliche Arbeiten gegen Entlohnung übernahmen. Zu diesem Allianzsegment zählten auch entscheidungsmächtige Akteur:innen wie Eigentümer:innen von Liegenschaften und Sponsor:innen, politische Ressortleiter:innen (Kultur, Stadtentwicklung, Soziales) sowie zuständige Beamt:innen und Mitarbeiter:innen diverser Ressorts in der Stadtverwaltung. Soziale Beziehungen zu Letzteren bildeten den Schlüssel für eine erfolgreiche Stabilisierung von relationalen Projekten, wenn genehmigungspflichtige Aktivitäten im öffentlichen Raum umgesetzt werden sollten. Das Einholen von Genehmigungen für das Anbringen von Objekten oder für das Durchführen von Aktionen erforderten nicht nur Wissen, Routine und Zeit, sondern vor allem auch Kontaktpersonen, die als Türöffner fungierten und das Gesamtgefüge stabilisierten. Soziales Kapital in Form von bereits erprobten Konnektivitäten, persönlichen Verbindungen zu entscheidungsmächtigen Akteur:innen oder Kooperationen mit sozialräumlich privilegierten Partner:innen stützte die Allianzbildung. Als wesentliches Übersetzungsmoment in den untersuchten Kunstprojekten erwies sich die Frage, welche Aussicht auf die Akquise sozialen Kapitals jenen geboten wurde, die – teils unbezahlt – mitmachten. Vor allem jüngere studentische Teilnehmende und Forschende rahmten ihr Engagement als Eintrittskarte in das künstlerische Feld, das als exklusiver Sozialraum mit interessanten Akteur:innen und prospektiv bezahlten Beschäftigungsangeboten oder nicht minder begehrten unbezahlten Praktikumsstellen wahrgenommen wurde. Wie bei jüngeren Freiwilligen und Studierenden bildete auch bei sozial marginalisierten oder kapitalschwachen Teilnehmenden das Bedürfnis nach sozialer Kapitalakquise eine zentrale Motivation, sich zu beteiligen und dabeizubleiben. Die Möglichkeit, von offiziellen Institutionen (wie Kunstvereinen, Stadtpolitik oder Universität) wahrgenom-
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Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst
men zu werden, sowie die Aussicht auf potentielle Unterstützung durch kapitalstärkere Akteur:innen bei Anliegen wie Asylanträgen, Arbeits- oder Wohnungssuche motivierte auch wenig kunstaffine Bewohner:innen zur Teilnahme an einem Kunstprojekt. Diese strategisch auf Sichtbarkeit und Kapitaltransfer angelegte Partizipation wirkte zwar konnektiv, eröffnete jedoch gleichzeitig ein potenzielles Konfliktfeld innerhalb der Allianzen, da keines der untersuchten Projekte dezidiert auf konkrete Hilfestellungen im Alltagsleben der beteiligten Bewohner:innen ausgerichtet war. Je größer die soziale Distanz zwischen den Teilnehmenden war und je dringlicher Forderungen nach Unterstützung gestellt wurden, desto ausgeprägter zeigte sich das Problem der Abgrenzung und Distanzierung. Gleichzeitig konnten Teilnehmende aus fordernden Begegnungen im Rahmen des künstlerisch initiierten Allianzgefüges persönlich profitieren. Gerade herausfordernde Situationen ermöglichten mit Blick auf die eigene berufliche Zukunft etwa ein „Lernen fürs Leben“. Als Entlohnung für die investierte Zeit – und damit als Motiv dabeizubleiben – konnte soziales Kapital nicht nur in Form von Begegnungen mit interessanten Menschen und lehrreichen Einblicken in Institutionen verbucht werden, sondern auch als Persönlichkeitsbildung, forciert durch die Austragung und Bewältigung von Konflikten im Projektverlauf. 4.1.3 Kulturelle Kompetenzen, moralischer Gewinn Kulturelles Kapital zirkulierte in den hier beforschten Projekten Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale in seinen drei zentralen Existenzformen als (1) inkorporiertes („in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus“), (2) objektiviertes („in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten oder Maschinen, … Theorien und deren Kritiken, Problematiken usw.“) und institutionalisiertes (in Form von schulischen Titeln und ähnlichem) Kapital.341 Wer mitmachte, so eine in Gesprächen wiederholt geäußerte Begründung für eine Teilnahme, erwartete nicht nur Begegnungen mit interessanten Menschen und damit die Akkumulation sozialen Kapitals, sondern auch Möglichkeiten zur Persönlichkeitsbildung und Wissensakquise. Gefragt war dabei Expert:innen-Wissen über die jeweiligen Stadtteile, deren Geschichte und soziale Zusammensetzung sowie über andere verhandelte Themen wie die Olympischen Spiele bei Adaptive Actions oder Migration und Arbeit bei Keine Denkmale. Die Bildungsansprüche der Teilnehmenden trafen dabei auf ein Angebot, das einerseits von legitimierten akademischen Akteur:innen wie Forschenden und Studierenden oder Kunstvermittler:innen im Sinne eines „Wissens für alle“ bereitgestellt wurde; andererseits vertraten alle drei Projekte explizit den Ansatz eines „Wissens von allen“, erhoben als Alltagswissen von Bewohner:innen, die als Expert:innen der eigenen
341 Bourdieu (1992/1997): Macht, 53.
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Kapital als Kitt und Spaltkeil
Erfahrungen gefragt waren. Die künstlerischen Aktivitäten erwiesen sich damit als Formen der Wissensvermittlung, wobei als Indikatoren für die Produktion, Bereitstellung und Zirkulation kulturellen Kapitals Begriffe wie „Labor“, „Akademie“, „Stadtspaziergang“ oder „Workshop“ in Selbstbeschreibung und Programm eingesetzt wurden. Ziel war es, durch weite Themenstellung und niederschwellige Wissensformate möglichst viele, auch kunstferne soziale Akteur:innen zur Teilhabe zu motivieren. Das Angebot, mehr über die Stadt und den Stadtteil zu erfahren und gleichzeitig eigene Erzählungen in den Wissensfundus einspeisen zu können, wirkte in allen drei Projekten als Übersetzungsmoment zwischen den heterogenen Teilen der künstlerisch initiierten Akteurswelten. Nicht nur studentische Mitforschende oder interessierte Anrainer:innen, sondern auch einflussreiche Schlüsselakteur:innen konnten durch die Aussicht auf mehr Wissen über ihren Stadtteil, aber auch auf aktive Mitsprache bei der Gestaltung von Stadt als Akteur:innen gewonnen werden, wodurch Konnektivität generiert werden konnte. Das Themenfeld Stadtgeschichte hatte sowohl als objektiviertes Kulturkapital in Form von offiziellen Bildungsangeboten als auch als inkorporiertes Kulturkapital in Form von subjektivem Erfahrungswissen über die Stadt einen stärkenden Impakt auf die künstlerisch initiierten Allianzen. Verinnerlichtem Kulturkapital kam nicht nur in Form von geteiltem Wissen über die Stadt oder den Bezirk eine konnektive Funktion zu, sondern auch in Bezug auf andere Kompetenzgebiete. Neben geteiltem Sachwissen waren es vor allem Handlungskompetenzen und Soft Skills wie Intuition, Durchhaltevermögen, Resilienz, Höflichkeit und Freundlichkeit, welche die Bindungskraft zum Projekt und seinen Akteur:innen stärkten. Der Zusammenhalt erwies sich dort als stabil, wo die Akteur:innen im Besitz jenes inkorporierten – erlernten und wiederholt eingesetzten – Kulturkapitals waren, das es ihnen ermöglichte, fordernde Situationen produktiv als Lernprozess zu begreifen. Diejenigen, die Durchhaltevermögen eintrainiert hatte, ihre Teilhabe als Lernen im Umgang mit herausfordernden sozialen Situationen oder als politische Bildung im Kontext stadträumlicher Transformationen verbuchen konnten, erwiesen sich in allen drei Projekten als stabilisierende Akteur:innen. Stärkung erfuhr das Gefüge auch dann, wenn einzelne Akteur:innen Experimentierfreude, einen spielerischen Zugang, Mut und Interesse, Neues auszuprobieren, in den Arbeitsprozess einbrachten. Auch wer über das inkorporierte Kulturkapital verfügte, seine Rolle innerhalb des partizipativen Prozesses eigenständig und selbstbewusst zu definieren, selbstständig zu arbeiten, konstruktiv mit Konflikten und Irritationen umzugehen, erwies sich als Katalysator für eine starke Gruppierung der Allianzen. Als weiteres Übersetzungsmoment in Form von kulturellem Kapital wirkte der Kommunikations- und Leitungsstil der projektverantwortlichen Akteur:innen. Kompetenzen wie Klarheit und Redegewandtheit, Wertschätzung, Freundlichkeit und Offenheit gegenüber anderen stärkten die Konnektivität zwischen den heterogenen Teilen der Allianzen. Darüber hinaus erwiesen sich Einfühlungsvermögen für individuelle
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Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst
Befindlichkeiten von Teilnehmenden und Intuition bei gruppendynamischen Abläufen als tragende Faktoren für die Produktion von Konnektivität sowie für das Abfedern von Konflikten – oder für das Eskalieren eben dieser, wenn die entsprechenden Fähigkeiten fehlten. Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale zeichneten sich durch die Teilnahme sozialräumlich heterogen verorteter Akteur:innen und damit durch ungleich verteiltes Kapital aus. In Bezug auf das Kulturkapital zeigten sich die projektspezifischen Differenzen im ungleichen Wissen der Akteur:innen über die jeweiligen Stadtteile, über lokale Machtverhältnisse und über Kunst, sodass sich die Frage des strategischen Umgangs mit diesen unterschiedlichen Voraussetzungen des Wissens über Welt und des sinnlichen Wahrnehmens von Welt als entscheidend für die Konnektivität in den Projekten herausstellte. Das galt nicht nur für die Unterschiede zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Teilnehmenden, sondern auch für die Unterschiede zwischen den verschiedenen Wissensgruppen, die in den Projekten aufeinandertrafen, wie etwa jene zwischen Akteur:innen aus dem wissenschaftlichen und aus dem künstlerischen Feld. Verinnerlichtes Kulturkapital in Form von Bildung, von Wissen und im Sozialisationsprozess Gelerntem prägt mit Pierre Bourdieu auch die moralische Disposition sozialer Akteur:innen. Wer Zeit in ein relationales Kunstprojekt mit Aussicht auf geringen materiellen Kapitalgewinn investiert, folgt einer inkorporierten alltäglichen Moral (Bourdieu spricht von Ethos), die Geben – von Zeit, von Gütern, von Wissen – nicht als balanciert reziprok im Sinne einer messbaren, unmittelbaren Gegengabe fasst. Vielmehr zählen auch die Intention sowie die Selbst- und die Fremdeinschätzung, moralisch richtig im Sinne von sozial und solidarisch zu handeln, als Gewinn, was die Grundlage einer „moralischen Ökonomie“342 bildet. Übertragen auf das künstlerische Feld strebt eine moralische Ökonomie nicht nach materieller, kultureller oder sozialer Profitmaximierung, sondern erprobt solidarische Formen der kulturellen Produktion, geleitet vom Prinzip der wechselseitigen Unterstützung in lokalen Gemeinschaften und dem Wunsch nach sozialer Beziehungsarbeit zwischen heterogenen Akteur:innen. Grundidee ist es, gegen ökonomische Ungleichheit und Dominanz durch solidarisches Agieren aufzutreten und Umverteilung zu erwirken. Diese solidarische Form relationaler Kunst hat sich seit den 1990er-Jahren zu einem fixen Bestandteil der zeitgenössischen Kunstwelt entwickelt.343 Ihr Aufstieg von den Rändern lokal agierender Community Art in die Zentren von Kunstfestivals und -biennalen weltweit geht einher mit der institutionellen Verstetigung dieses Genres in Form von eigenen Abteilungen für relationale und partizipative Kunst in großen Ausstellungshäusern, Lehrgängen an Kunstuniversitäten – oder privaten, öffentlich
342 Vgl. z. B. Frevert (2019): Kapitalismus, Märkte und Moral. 343 Vgl. Kapitel 2.1 (Genese, Typen und Kritik der relationalen Kunst).
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Kapital als Kitt und Spaltkeil
geförderten Einrichtungen wie oder [space]. Neben einem klassischen Ausstellungsbetrieb, in dem Kunstwerke präsentiert werden, widmen sie sich programmatisch solidarischen relationalen Ansätzen, deren Ergebnis nicht auf ein vermarktbares Produkt, sondern auf ethische und politische Relevanz durch soziale Beziehungsarbeit abzielt. Wenngleich auch aus diesen Prozessen stets Werke (visuelle Dokumentationen, Zeichnungen, Objekte usw.) hervorgehen, die gesammelt werden können, im künstlerischen Feld zirkulieren, ausgestellt und vermarktet werden können, zeichnen sich relationale Praktiken durch eine ostentative Distanz zu einem Verständnis von Kunst als elitärer Luxusware aus. Vielmehr lassen sie sich mit Sabine Flach als Kunstform fassen, in der sich ein Akt der Gabe im Sinne von Marcel Mauss entfaltet. Gerade in der relationalen Kunstpraxis zeigt sich, dass die handelnde Akteur:in „im Geben einen Teil von sich gibt und im Nehmen der Gabe eine Fremderfahrung des Anderen macht.“344 Zeitgleich mit dem Aufstieg der gebenden Praxis relationaler Kunst und ihrer Theoretisierung im Kontext einer moralischen Ökonomie lässt sich ein zunehmender Einfluss von Investor:innen auf das künstlerische Feld verzeichnen. Ein Zusammenhang wird jedoch – wenn überhaupt – als negativer im Sinne einer kritischen Replik auf die fortschreitende Sichtbarkeit kapitalistischer Profitmaximierung im künstlerischen Feld hergestellt. Gleichzeitig mehren sich Studien über die vielfältigen und vielfach ambivalenten Verflechtungen zwischen den glamourösen, distinktiven und gewinnorientierten Praktiken des spätmodernen Kunstmarkts einerseits, und den programmatisch uneigennützigen, dem öffentlichen Interesse dienenden, sozialpolitisch ambitionierten Tätigkeiten von Künstler:innen im Kontext staatlicher Museen, öffentlicher Kunstförderung und privaten Vereinen andererseits. Kunst steht, so konstatieren skeptische Stimmen einer ökonomischen Reinheit relationaler Kunstpraxis, auch in ihren politischsten Ausformungen in Wechselbeziehung mit dem profitorientierten Teil des künstlerischen Feldes, entsprechend der Bourdieu’schen Metapher der doppelten Buchführung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Kunstwerke – ob isoliert im Atelier oder im Rahmen von relationalen Prozessen hergestellt, ob auf Auktionen und Kunstmessen, in Galerien, öffentlichen Museen, privaten Sammlungen oder Kunstvereinen präsentiert, ob am Genie, am Markt oder am Gemeinnutzen orientiert – sind gemeinsame Teile einer moralischen Ökonomie, in der monetärer Wert und moralischer Wert stets neu – und in wechselseitiger Bezugnahme aufeinander – ausverhandelt werden.345 Deutlich manifestiert sich die Dominanz einer moralischen Ökonomie im Bereich des Galerienmarkts, vor allem aber im Bereich der Museen und Kunstvereine. Dabei rücken beim Sprechen über Kunst materielle Werte in den Hintergrund, während ideelle und moralische Aspekte den Diskurs bestimmen. Im Zentrum stehen etwa „qualitative, persönliche Langzeitbeziehungen“ zwischen Künstler:innen, Galerist:innen
344 Flach (2016b): Wenn es die Gabe gibt, 4, zitiert nach Steingassner (2018): Die Kunst des Geschmacks, 39. 345 Fillitz (2017): Der Erfolg des globalen Kunstmarkts.
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Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst
und Sammler:innen, die „Liebe zur Kunst“, „Kunst als geistige Auseinandersetzung“346 , Kunst als kulturelles Gut und Gegenstand der Bildung, aber auch die existentielle Unterstützung bzw. Förderung von Künstler:innen durch Ankäufe, die Förderung kultureller Werte in einer Gesellschaft oder – wie vor allem im Fall der relationalen, projektorientierten Kunst – das Auftreten gegen soziale Exklusion, Diskriminierung oder Ungerechtigkeit. Vor dem Hintergrund der konzeptuellen Figur einer moralischen Ökonomie lässt sich die Konnektivität zwischen den beteiligten Akteuren in allen drei beforschten Projekten auch aus ähnlichen moralischen Dispositionen ableiten. Gleichzeitig entstanden Konflikte genau dort, wo die moralische Tendenz die dominanten Logiken anderer Felder und ihrer beteiligten Akteur:innen – dem wissenschaftlichen, dem wirtschaftlichen oder ästhetischen Feld – zu überblenden begann und das politisch-moralische Fundament der Projekte im Laufe des Arbeitsprozesses nicht mehr mit dem der Beteiligten konvergierte. In allen drei Projekten – Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale – kam der moralischen Disposition im Sinne eines solidarischen Handelns eine entscheidende Funktion als Übersetzungsmoment zu. Gleichzeitig – und darauf konzentriert sich das nächste Kapitel – bildeten Enttäuschungen aufgrund nicht eingelöster moralischer, kultureller und sozialer Tausch-Versprechen die Grundlage für Risse in den künstlerisch initiierten Allianzen.
4.2
Versprechen, Erwartungen und Grenzen: Kunst von allen?
Das Selbstverständnis und der Zusammenhalt von relationaler Kunst basieren, wie in den drei hier beforschten Beispielen deutlich wird, auf dem Versprechen einer aktiven Teilhabe an einem kreativen Produktionsprozess. Relationale Kunst präsentiert sich als „user-friendly“, „non-elitist“ und „anti-authoritarian“. Sie gibt vor, für alle da und von allen gemacht zu sein, nach nicht-hierarchischen Allianzbildungen zwischen kollaborativen Produzent:innen zu streben sowie „models of sociability“ und „happy interactivity“ zu fördern.347 Mit Bourriaud wendet sich relationale Kunst – signifikantes Phänomen einer „society of extras“ – nicht an Zuschauer:innen als passive Kosument:innen, wie in der „society of the spectacle“. Vielmehr verspricht sie die Kreation von „new areas of conviviality […] where everyone finds the illusion of an interactive democracy in more or less truncated channels of communication“.348 Dieses demokratische Versprechen, von Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale vielfach in Worten und Bildern
346 Fillitz (2017): Der Erfolg des globalen Kunstmarkts, 389. 347 Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics. 348 Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 26.
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Versprechen, Erwartungen und Grenzen: Kunst von allen?
transportiert, motivierte sozialräumlich unterschiedlich positionierte Akteur:innen zur Teilnahme. Als gemeinsames Motiv kunstnaher wie kunstferner Akteur:innen unterschiedlicher sozialer Positionierung lässt sich die Aussicht auf aktive Teilhabe an einem weit verzweigten, sozial engagierten Beziehungsgefüge identifizieren. So begegneten einander so „unterschiedliche Menschen“ wie Verwaltungsbeamt:innen, die in Genehmigungsverfahren Entscheidungen trafen, Türen öffneten, verschlossen hielten oder aktiv verschlossen; Haus- und Grundeigentümer:innen, die Zusagen für Interventionen auf ihrem privaten Besitz erteilten oder sie verwehrten; Bürger:innen, die Zeit, Wissen und Kontakte aufgrund ihres Selbstverständnisses als engagierte Stadtbewohner:innen bereitstellten; Menschen, die sich Unterstützung und Sichtbarkeit erhofften oder einfach sozialen Anschluss und Integration in eine Gemeinschaft suchten; Forscher:innen, die Daten und neue Erkenntnisse im partizipativen Prozess generieren wollten. Damit Konnektivität hergestellt werden kann, das heißt zumindest temporär stabile Allianzen gebildet werden können, bedarf es einer Übersetzung zwischen den heterogenen Teilen der künstlerisch initiierten Akteurswelt. Ein signifikantes Übersetzungsmoment besteht im wiederholten Versprechen der demokratischen Teilhabe an einem künstlerischen Gestaltungsprozess, wenngleich dieses, wie etwa die Kunsthistorikerin Suzana Milevska in ihrer Kritik an relationaler Kunstproduktion hervorhebt – und wie sich auch am Beispiel der drei hier beforschten Projekte zeigte –, vielfach „uneingelöst“ bleibt. „Viele der ursprünglichen Versprechen partizipatorischer Kunst und der Erwartungen an sie erscheinen heute als überbewertet bzw. als überhöht […]: Das Ziel etwa, die klare hierarchische Trennung zwischen KünstlerIn […] und Publikum […] aufzulösen; das Ziel, durch die Einbeziehung verschiedener Publikumssegmente […] demokratische Veränderungen in der Gesellschaft voranzutreiben […]; das Ziel soziale Ungerechtigkeiten in kulturellen, sozialen und politischen Strukturen aufzudecken.“349
Milevska, die mit dem Text Partizipatorische Kunst. Überlegungen zum Paradigmenwechsel vom Objekt zum Subjekt 350 diskursprägend auf die bis heute kontroversen Auseinandersetzungen über relationale Kunst gewirkt hat, äußert Zweifel an den Versprechen partizipatorischer Kunst. Weder sei es gelungen, „Hierarchien zwischen ‚Hochkultur‘ und ‚Massenkultur‘ (bzw. Kunst) zu dekonstruieren“ noch „eine demokratischere Gesellschaft zu schaffen“. Ihr Interesse gilt dabei nicht dem ästhetischen Diskurs, sondern „den Lücken zwischen den Versprechungen der Partizipation in der Theorie und ihren Unzulänglichkeiten in konkreten Kunstprojekten […] im Hinblick auf bestimmte
349 Milevska (2015): Auf der neoliberalen Bühne. 350 Milevska (2006): Partizipatorische Kunst.
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Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst
einzigartige Beziehungen zwischen den Subjekten und die in ihnen geweckten Hoffnungen“. Vor dem Hintergrund „gegenwärtiger, neoliberaler Gesellschaften“ betrachtet Milevska das „Versprechen auf Demokratie und Emanzipation“ als „mission impossible“. Ob – wie bei partizipatorischer Kunst häufig der Fall – pädagogisch orientiert oder in Kollaboration mit zivilgesellschaftlichem Aktivismus: „Der größere soziopolitische und ökonomische Kontext, in dem Kunst produziert und praktiziert wird, überschreibt die ambitionierten Ziele partizipatorischer Kunst.“351 Auch Max Glauner widmet in seiner Ästhetik partizipativer Kunst dem „Versprechen der Partizipation“ und dessen konnektiven Effekten gesonderte Aufmerksamkeit. Er fragt nach den Ursachen für die zunehmende Empfänglichkeit sozialer Akteur:innen für dieses Versprechen, das es seiner Einschätzung nach im Zuge der modernen Individualisierungs- und Säkularisierungsprozesse neu zu bestimmen gilt. Jeglicher Aussicht auf Partizipation attestiert er „von Haus aus Scheinhaftigkeit“, die dem Menschen Zugehörigkeit und Konnektivität lediglich suggeriert. Vor allem die Moderne, so Glauner, bringt mit der zunehmenden Auflösung familiär und religiös fundierter Gemeinschaftsangebote einen gefühlten „Verlust an Teilhabe“ mit sich, der mit „Massenkonsum und Massenmedien und endgültig mit Web 2.0 wettgemacht wird“. Als mögliche Ursache für das steigende Angebot an relationalen bzw. partizipativen Projekten quer durch alle gesellschaftlichen Bereiche – ob Politik, Wirtschaft, Unterhaltungsindustrie, social media, das akademische Feld oder den Kunst- und Kulturbetrieb – führt Glauner die wachsende „Unfähigkeit des Menschen zu Empathie und sozialen Beziehungen“ an. Das „neoliberale Wirtschaftssystem“ stellt dabei „erfindungsreich unzählige digitale und analoge Partizipationsmodelle“ bereit, wobei auch die TeilhabeKonjunktur im künstlerischen Feld den partizipativen Imperativ spätmoderner Prägung reflektiert.352 Wird das Versprechen der Teilhabe als illusorisch oder gar gebrochen identifiziert, stehen – zur Kompensation des gebrochenen Versprechens – zahlreiche neue Partizipationsangebote bereit, zwischen denen der flexible Mensch353 wählen kann. Das Versprechen der Teilhabe wird temporärer und fluider. Es überlagert Formen langfristiger Zugehörigkeit, deren Existenz ohnehin immer schon zweifelhaft und gleichfalls durchsetzt von Rhetorik und Imagination war. Auch das künstlerische Feld, so konstatiert Glauner, stellt im Kontext neoliberaler Partizipationsrhetorik zunehmend wechselnde, kurzfristige Beziehungsangebote bereit, die – über das klassische Kunstpublikum hinaus – auch Akteur:innen aus sozialräumlich kunstfernen Arealen adressieren. Diese von Glauner postulierten Tendenzen zeigen sich in Bezug auf die Korrelation zwischen dem „Versprechen der Partizipation“ und dessen reality check auch in den
351 Milevska (2015): Auf der neoliberalen Bühne. 352 Glauner (2016): Get involved. 353 Sennett (1998): Der flexible Mensch.
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Versprechen, Erwartungen und Grenzen: Kunst von allen?
hier beforschten Projekten Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale. Einerseits bildete allein das Versprechen der Mitbestimmung sowie der gesellschaftlichen Intervention ein zentrales Übersetzungsmoment – im Sinne eines Impulses zur Teilnahme und zum Dabeibleiben. Andererseits stellte sich die Überprüfung der Umsetzung dieses Versprechens in den Projektverläufen als Auslöser für Konflikte oder aber als Katalysator für Zusammenhalt heraus.354 4.2.1 „Get involved!“ in „Everyone’s London 2012“ durch Adaptive Actions
Abb. 9 Werbekampagne Olympic Games, London, 2008. Foto: Judith Laister.
Relationale Kunst, wie Jean-François Prosts Projekt Adaptive Actions, findet immer wieder in Anbindung an städtische Großereignisse statt, die möglichst viele Bewohner:innen involvieren wollen. „Everyone’s London 2012“ und „Get involved!“ lauteten die zentralen, vielfach zirkulierenden Werbeslogans, die seit 2007 die Olympischen Som-
354 Glauner (2016): Get involved. Zur weiterführenden Konzeption des Begriffs des Versprechens im Kontext kulturwissenschaftlicher Stadtforschung vgl. v. a. Färber (2019): The city and its promises; Färber (2021): Tracking the multiple scales of urban promises.
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Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst
merspiele 2012 als sozial integratives und partizipatives Sportereignis ankündigten.355 Die von der Olympic Delivery Authority (ODA)356 lancierte Marketingkampagne versprach in Wort und Bild, dass die städtische Landschaft im Lower Lea Valley weit über das Großevent hinaus für alle Londoner:innen nachhaltig verändert werden sollte. Als kollektiven Blickfang, der die Olympic Games 2012 als Versprechen globaler wie lokaler Zusammengehörigkeit inszenierte, ließ die Stadtregierung einen rund zwanzig Kilometer langen, drei Meter hohen, cyan-farbenen Bauzaun installieren. Über vier Jahre lang wurde auf dem etwa 20 Quadratkilometer großen Areal hinter der monumentalen Sicherheitsarchitektur ein von Grund auf neuer Stadtteil errichtet. Das gouvernementale Interesse galt dabei nicht nur den stadträumlichen Transformationen, sondern auch der Überzeugung breiter Teile der Londoner Bevölkerung, die Austragung des globalen Sportfests und die damit verbundenen Veränderungen mitzutragen. Das wortwie bildreich kolportierte Versprechen, dass in die Olympischen Sommerspiele „everyone“ involviert sein würde, lässt sich als zentrales Übersetzungsmoment in der Zeit der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele lesen, wobei vor allem gouvernementale und ästhetische Komponenten den konnektiven Prozess prägten. Genau hier setzte auch Jean-François Prosts relationales Projekt Adaptive Actions an. Auch er versprach die Herstellung von Zusammenhalt und Teilhabe, wobei seine kollektivierenden ästhetischen Interventionen nicht dem Erhalt und Ausbau, sondern der Infragestellung regierungsmächtiger Praktiken dienen wollten. Der blaue Zaun wirkte im Kontext der gouvernementalen wie künstlerischen Versprechen als wesentlicher verbindender wie trennender Akteur. Zwar wurde er laut Presseinformation der ODA errichtet „for health and safety reasons, primarily (…). With demolition work on the Olympic Park acceleration it is essential we install hoardings around the site to protect the safety of local residents and our workforce.“357 Gleichzeitig diente seine Oberfläche als offizielle Informations- und Werbefläche, versehen mit den Logos der Hauptsponsoren sowie mit großformatigen Renderings zur Zukunft des Lower Lea Valley. Die markante Farbe Cyan war Teil des offiziellen Logos für London 2012 und kennzeichnete Bauzaun wie Baustelle als integrative Bestandteile des Corporate Design für das Großevent und seine Versprechen. Angeregt durch die herausfordernde Sicherheits- und Marketingsprache entwickelte sich der blaue Zaun auch zur idealen Projektionsfläche für kritische Stimmen, die den
355 Passagen dieses Kapitels finden sich veröffentlicht in Laister (2008b): Everyone’s London; Laister (2008c): Blue Fence Actions; Laister (2009b): Tiny Revolutions. 356 Die Olympic Delivery Authority bestand von 2006 bis 2014. Sie war als öffentlich-rechtliche Körperschaft für „ensuring the delivery of venues, infrastructure and legacy for the 2012 Summer Olympic and Paralympic Games in London“ verantwortlich. https://en.wikipedia.org/wiki/Olympic_Delivery_ Authority, Zugriff: 03.02.2020. 357 Informationstafeln am blauen Zaun.
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Versprechen, Erwartungen und Grenzen: Kunst von allen?
Zaun als verbindendes Symbol und „reminder how divisive the games are“358 umdeuteten. Die Interpretation des Zauns als Zeichen für die gespaltene Haltung der Londoner Bevölkerung zur Großveranstaltung sowie für intransparente Informationspolitik und großflächige Propaganda zeigte sich nicht nur in unzähligen Presseartikeln und Web-Einträgen, sondern auch in widerständigen Interventionen in Form von GraffitiBotschaften wie „Fuck the Olympics“, „Fact: This wall costs 450 thousand pounds to build“ oder „Needless consumption causes climate changes“.359 Um die öffentliche Anbringung samt medialer Verbreitung derartiger Gegenbotschaften zu verhindern, patrouillierten permanent private, vom ODA beauftragte Sicherheitsdienste um das Gelände. Anonyme Markierungen wurden umgehend durch Neuanstrich zensuriert und „verdächtige“ Spaziergänger:innen oder Fotograf:innen von Security-Mitarbeiter:innen aufgehalten und zu ihrem Verhalten befragt. Trotz dieser verschärften, kommunal angeordneten Kontrollen zur Wahrung der ungeteilten Zustimmung als Scheinversprechen bildete der Bauzaun nicht nur für Baustellentourist:innen einen geradezu magischen Anziehungspunkt. Vielmehr zog die ostentative Grenz- und Kontrollzone zahlreiche Künstler:innen und Aktivist:innen an, um – teils legale, teils illegale – räumliche Interventionen, visuelle Markierungen und Bilddokumentationen vorzunehmen. Die beachtlichen Dimensionen des Zauns, das markante Cyan seines Anstrichs, die plakativen PR-Botschaften und Baustelleninformationen, vor allem aber seine Funktion als Zugangs- und Blicksperre machten den blauen Zaun zur prominentesten Ikone des prä-olympischen London. Seit seiner Errichtung stimulierte er Fantasien und Verschwörungstheorien, regte Bildproduktionen und Rauminterventionen an, provozierte (illegalen) Aktionismus und politische Statements, evozierte wissenschaftliche Studien und sozialräumliche Grenzgänge. Wenngleich die zahllosen Aktionen am und um den blauen Zaun offiziell durch ein engmaschiges Monitoring samt Gegenmaßnahmen begleitet wurden, entsprach die landesweite Aufmerksamkeit den erklärten Zielen der ODA. Schlüssel-Slogans wie „Everyone’s 2012“, „Get involved!“ oder „Sustainable legacy“ spiegeln die Versprechen der Inklusion und Nachhaltigkeit wider, wobei diese bereits in der Bewerbung stark gemacht und letztlich als ausschlaggebend für den Zuschlag gewertet wurden. Wie die im Vorfeld der Olympischen Spiele eingesetzten Marketinginstrumente – die ästhetische Inszenierung der Baustelle samt blauem Zaun, die virtuelle Dokumentation des Baufortschritts360 oder geführte Bus- oder Bootstouren durch das Areal – diente auch die Cultural Olympiad als Instrument zur breiten Zirkulation des Versprechens
358 Beckett (2007): Cordon blue. 359 Die vorliegenden Beobachtungen und Beschreibungen entstanden im Zuge von mehreren Recherchen am blauen Zaun zwischen Herbst 2007 und Frühjahr 2008, teils in Begleitung des Künstlers Jean-François Prost, teils in Eigenregie. 360 www.london2012.com, Zugriff: 03.02.2020.
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Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst
umfassender Teilhabe. Bereits 2008, vier Jahre vor dem sportlichen Großereignis, startete sie mit einem dichten Programm, um eine kollektivierende internationale, vor allem aber auch lokale Begeisterung für die Olympischen Spiele herzustellen. „The London 2012 Cultural Olympiad is the largest cultural celebration in the history of the modern Olympic and Paralympic Movements. Since 2008, the Cultural Olympiad has featured programmes and projects inspired by London 2012, funded by our principal funders and sponsors. As part of the Cultural Olympiad, more than 16 million people across the UK took part in or attended performances. Over 169.000 people attended more than 8.300 workshops. More than 3.7 million people took part in nearly 3.700 Open Weekend events. Some 2.500 cultural projects have been awarded the London 2012 Inspire mark.“361
Knapp 100 Millionen Pfund wurden vom Arts Council England, der Legacy Trust UK und dem Olympic Lottery Distributor zur Verfügung gestellt. Beiträge von prominenten Künstler:innen wie Lucian Freud, David Hockney, Rachel Whiteread oder Bridget Riley waren ebenso involviert wie partizipative Produktionen unter Teilnahme möglichst vieler Bewohner:innen, initiiert von über 50 Museen und Kulturinstitutionen – unter anderem von [space] London. Einen ersten Höhepunkt der Öffentlichkeitsarbeit im Vorfeld der Olympic Games bildete das Open Weekend (26. bis 28. September 2008) mit über 500 Veranstaltungen, die großteils an den bzw. nahe den künftigen Schauplätzen der Olympischen Spiele stattfanden. Gleichzeitig diente das letzte Septemberwochenende 2008 dem offiziellen Auftakt zur Cultural Olympiad: „Get involved!“ lautete die kollektive Aufforderung, während der nächsten vier Jahre aktiver Teil einer großen Bewegung zu werden. „New opportunities are being created to inspire young people and encourage participation from communities across the UK and around the world.“362 So widmeten sich lokale Veranstaltungen in Baustellennähe, wie das erstmals stattfindende Hackney Wick Festival, vor allem der Aktivierung lokaler Bewohner:innen. Auf Initiative der East-Londoner-Kunst-Institution [space] lautete das Motto „Local produce!“ mit dem Versprechen „It celebrates the lifes and the life in Hackney Wick“. Organisiert von „The Wick Coalition, a steering group of local residents, artists and organisations led by space“ und anderen Kultur- und Bildungsinstitutionen, feierte das Hackney Wick Festival den Stadtteil vor dem Hintergrund der olympischen Transformationen.
„Hackney Wick Festival has been selected as one of only a few cultural events to be awarded the inspire mark by LOCOG (London Organising Committee of the Olympic
361 https://web.archive.org/web/20120321172831/http://www.london2012.com/cultural-olympiad, Zugriff: 03.02.2020. 362 www.london2012.com/culture, Zugriff: 03.02.2020.
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Versprechen, Erwartungen und Grenzen: Kunst von allen?
Games). Only the most accessible, participative, inspiring and stimulating projects and events will achieve the mark – across sport, culture, education, environment, volunteering and business skills.“363 Nicht architektonische Ikonen wie Zaha Hadids Aquatic Centre standen im Fokus, sondern das Alltagsleben in jenem Londoner Stadtteil, dessen räumliches und soziales Gefüge sich durch die Errichtung des Olympic Park radikal verändern sollte. Die Cultural Olympiad versprach, durch ein diverses, niederschwelliges und partizipatives Programm „alle“ zu integrieren, was im Lichte der gouvernementalen Dimension des Übersetzungsbegriffs auch als strategische Antizipation und Beruhigung potenzieller kritischer Stimmen unter Herstellung möglichst umfassender, stabiler Bindungen zum Großevent Olympia interpretiert werden kann. Vor dem Hintergrund dieses gouvernementalen „Wir-Versprechens“ („Everyone’s London 2012“) der ODA lässt sich auch das Projekt Adaptive Actions (2007/08) des kanadischen Künstlers Jean-François Prost platzieren. Zwar gab er in den Calls for Participation zu seinen Adaptive Actions-Workshops keine großen Versprechen ab, stellte den potenziellen Teilnehmenden aber doch Partizipation und subtile kollektive Interventionen im städtischen Raum in Aussicht. Angekündigt war ein gemeinsamer Spaziergang um das Baustellenareal des künftigen Olympic Park in East London sowie die Möglichkeit, in Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten kleinteilige Aktionen bottom up gegen die Übermacht der städtebaulichen Transformationen am blauen Zaun zu konzipieren, durchzuführen und auf einer virtuellen Plattform364 zu versammeln. Weder lang andauernde noch laute oder widerständige Partizipation als urbaner Protest war angesagt, sondern die beiläufige Setzung von micro revolutions vor Ort und im World Wide Web. Der versprochene Perspektivenwechsel auf die Stadt gab sich realistisch, praxisbezogen und auf Augenhöhe als „shift of focus from representation and aesthetics to use possibilities“365 . Interaktionen mit lokalen Bewohner:innen und interessierten internationalen Urbanist:innen bildeten den essenziellen Teil des Projekts mit dem Ziel, möglichst viele Menschen weltweit dazu zu ermutigen, „to act and engage with their environment“ und ein „Gegen-Wir“ der Olympia- und Baustellen-Kritik zu unterstützen. Gleichzeitig war Prosts Arbeit von Beginn an Teil des ODA-Versprechens, ein London 2012 „für alle“ zu veranstalten. Als der kanadische Gastkünstler in die britische Hauptstadt kam, war zwar die konzeptuelle Ausrichtung seines Projekts Adaptive Actions als unspektakuläre bottom up-Raumaneignung vorüberlegt, nicht jedoch der konkrete Schauplatz definiert. Gleich zu Beginn seines [space]-Aufenthalts wurde Prost mit den Themenfeldern Stadterneuerung, soziales Engagement und Olympische Spiele konfrontiert und seine Aufmerksamkeit auf die lokale Nachbarschaft und den soeben errichteten
363 Programm des Hackney Wick Festival, September 2008. 364 http://aa.adaptiveactions.net, Zugriff: 03.02.2020. 365 http://aa.adaptiveactions.net, Zugriff: 03.02.2020.
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blauen Zaun gelenkt. Bereits seit 2005 veranstaltete [space], deren Headquarter etwa zwei Kilometer vom Olympischen Areal entfernt lag, das Programm „Legacy Now!“, „to address the need to consider the impact of the Olympic Games and redevelopment on the East End“. Weiters unterhielt [space] Arbeitsbeziehungen mit dem „Olympic Artist Forum“, definiert als „an information and events platform for artists and creative practitioners engaging with the Olympics and the changing cultural landscape of London“.366 Mit diesen Initiativen knüpfte [space] an seine Mission an, nicht nur Arbeitsraum und Ressourcen für Künstler:innen zur Verfügung zu stellen, sondern sich auch in den Bereichen der Kunstvermittlung sowie der Arbeit in und an der lokalen Nachbarschaft („Collaborations“) zu engagieren. Die Einladung bzw. Auswahl der Gastkünstler:innen erfolgte nach den Kriterien der Passfähigkeit mit ihrer partizipativen Programmatik, weswegen Prost, mit seinen relationalen Ansätzen zwischen Kunst, Architektur und öffentlichem Raum angesiedelt, den Zuschlag für das Stipendium erhielt. Seine Zusammenarbeit mit Bewohner:innen vor Ort, unter Berücksichtigung der Vorgänge um den Bau des Olympic Park, war damit institutionell vorgezeichnet, wie auch die potenziellen Teilnehmenden an seinem Projekt vor allem durch den Publikumsradius der Kunstinstitution präfiguriert waren. [space] war und ist ein signifikantes Beispiel für den Aufstieg der community art zum staatlich geförderten social enterprise, wie sie in Großbritannien, der Wiege neoliberaler Kulturpolitik, bereits seit den späten 1960er-Jahren gegründet und ausgebaut wird. In diesem thematischen und methodischen Umfeld wurde Jean-François Prost bereits zu Beginn seines Aufenthalts in die Olympia-Aktivitäten von [space] involviert, und auch die offiziellen Projektpräsentationen fanden in diesem Kontext statt. So präsentierte er etwa beim dritten Olympic Artist Event im März 2008, an dem auch offizielle Repräsentant:innen von London 2012 teilnahmen, eine Video-Dokumentation von Adaptive Actions London.367 Auch die Publikation zum Projekt wurde im Kontext von Veranstaltungen vorgestellt, die auf Aufbau und Stärkung von Beziehungen zum Großprojekt London 2012 abzielten. „All Aboard – a Blue Fence event“ (15.06.2009, Counter Café and Wick Waterfront), bei dem Prost eine filmische Kurzdoku über sein Projekt in London präsentierte, gestaltete sich als „evening of food, drink, debate, a book launch and films projected onto boats made from the Olympic blue fence“. Im Zentrum standen „Blue movies on the move“ in Form von „film screenings onto one of the last remaining pieces of blue fence Olympic border“.368 Ebenfalls im Counter Café fand im Herbst 2009 Prosts Buchpräsentation statt. „Accompanied by tapas and drinks“ wurden unter dem Motto „Inside The Counter“ ver-
366 www.spacestudios.org.uk, Zugriff: 03.02.2020. 367 www.adaptiveactions.net/event/all-aboard, Zugriff: 03.02.2020. 368 http://www.gamesmonitor.org.uk/node/833, Zugriff: 03.02.2020.
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schiedene „works made in direct response to the changing area“ vorgestellt. Dabei trafen in Wort und Bild verschiedene Perspektiven auf Blue Fence, die Olympic Games und die Transformationen im Lower Lea Valley aufeinander – und repräsentierten das zentrale Versprechen der Olympischen Spiele „Everyone’s London 2012“. Obwohl das Projekt den Teilnehmenden kleine, aber wirksame Gegenstrategien zu offiziellen Raum- und Bildpraktiken rund um den künftigen Olympic Park in Aussicht gestellt hatte, fanden sie sich letztlich als legitimierter und goutierter Teil derselben. Die versprochenen „individual space-activating micro-actions“ dienten als Kollaborateurinnen der machtvollen Repräsentationspolitik der Cultural Olympiad, involviert durch die kalkulierte visuelle Kraft des blauen Zauns, die ästhetische Wirkung einer kolossalen Baustelle und den gouvernementalen Aufruf an Institutionen wie [space], sich an der Cultural Olympiad zu beteiligen. Doch auch Prosts Versprechen, in imaginierter Verbindung mit möglichst vielen Menschen stadträumliche tiny revolutions durch permanente Nadelstiche in Form von unscheinbaren Adaptive Actions zu initiieren, erwies sich als nicht völlig gebrochen. Im Lichte der ästhetischen Dimension des Übersetzungsbegriffs wurde es – über die Ereignisse im Vorfeld von Olympia 2012 hinaus – immer und überall dort eingelöst, wo soziale Akteur:innen den städtischen Raum anders wahrnahmen und nutzten als vorgesehen. Die unspektakulären Repräsentationen adaptiver Aktionen auf einer pragmatisch und interaktiv angelegten Internet-Plattform wirkten nicht nur konnektiv, sondern überschritten die klassische Konzeption der ästhetischen Trias Werk/AutorIn/Publikum in mehrfacher Hinsicht. Sie negierten die Idee des Originals, des genialen Autors und der kontemplativen Rezeption nicht nur, sondern fungierten als verbindender, visueller Impulsgeber für all jene künstlerischen wie nicht-künstlerischen Akteur:innen, die der Vision eines selbstbestimmten Stadtgebrauchs folgten und dabei weltweite Allianzen suchten. 4.2.2 Treffpunkt BELLEVUE: „Für alle“ Wie im Fall der Cultural Olympiad lautete auch bei Linz09 Kulturhauptstadt Europas das zentrale Versprechen, nicht nur internationale Gäste und Künstler:innen, sondern auch möglichst viele lokale Bewohner:innen aktiv in das Geschehen zu involvieren. BELLEVUE. Das gelbe Haus galt als offizielles Vorzeigebeispiel für dieses partizipative Anliegen des mit öffentlichen – europäischen, nationalen, regionalen und kommunalen – Geldern finanzierten Großereignisses. Ein proklamiertes Anliegen der städtischen Kulturpolitik war es, im Sinne der Idee der Kulturhauptstadt Europas neben künstlerischen, touristischen, wirtschaftlichen und Stadtmarketing-Interessen vor allem Bürger:innen verschiedener Herkunft – geografischer wie sozialer – zu verbinden: „den Reichtum und die Vielfalt sowie die Gemeinsamkeiten der europäischen Kulturen herauszustellen und einen Beitrag zu einem besseren Verständnis der Bürger Europas füreinander
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zu leisten“369 sowie „Netzwerke und Allianzen auf den verschiedensten Ebenen“ zu schaffen.370 BELLEVUE verkörperte dieses Versprechen als eines der höchstdotierten und meistrezipierten Projekte des Kulturhauptstadtjahrs auf formaler wie auf inhaltlicher Ebene. Es „lebte“ für einen Sommer lang das Versprechen eines Kulturangebots „für alle“, wobei diese Verbundenheit über zwei Monate hinweg durch detaillierte Regieanweisungen inszeniert wurde. Zentrale Idee von BELLEVUE war es, ein offenes, integratives Haus zu sein – für Künstler:innen wie Nachbar:innen, Gebildete und Ungebildete, Kunstnahe und Kunstferne, Junge, Alte, Tourist:innen, Expert:innen und Laien: „Als integrativer Bestandteil der gesamten Installation BELLEVUE liegt ein Schwerpunkt des Programms darin, eine möglichst breite Öffentlichkeit anzusprechen und verschiedenste Bevölkerungsgruppen aktiv an das Projekt zu binden.“371
Nicht nur die Gäste der Kulturhauptstadt sowie jene, die auf der Stadtautobahn Richtung Norden fuhren, sollten durch die exponierte Lage und das auffallende Aussehen auf das gelbe Haus aufmerksam gemacht und als Besucher:innen gewonnen werden, sondern vor allem auch jene, die in unmittelbarer Nachbarschaft wohnten. Sie galt es – mit dem formal, inhaltlich und medial transportierten Versprechen, „für alle“ da zu sein –, „aus der Reserve zu locken“372 . Die vertraute architektonische Form, angelehnt an ein gewöhnliches Wohnhaus mit Satteldach, sowie die einnehmende Farbe Gelb markierten den neu geschaffenen Landschaftspark als verbindenden Treffpunkt „für alle“. „So steht es verschroben am südlichen Rand des Landschaftsparks und empfängt Gäste zu ebener Erde in einer Bühne, die sich, wie mit offenen Armen, trichterförmig zum Landschaftspark hin öffnet.“373 Empfangen wurden die Besucher:innen an einem Info-Kiosk, in dem freundliche junge Menschen für Orientierung und Zugehörigkeit sorgten.374 Eine Kantine mit Balkon direkt über der Autobahn bot vor Ort zubereitete Snacks und Getränke. Weiters luden ein Mehrzweckraum, eine Werkstatt, ein großzügiger Ausstellungsraum, ein Medienraum, eine abenteuerliche Wendeltreppe, die zu Wohnzimmer, Kinderzimmer und stubenähnlichen Räumen führte, zu Aufenthalt und Gebrauch ein. In einem Nutzgarten wurden Pflanzen gezüchtet und der Innenhof beherbergte Schlafmöglichkeiten für geladene Gäste. Die Menschen, so die Idee des BELLEVUE-Teams, sollten durch die
369 370 371 372 373 374
https://www.linz09.at/de/kulturhauptstaedte.html, Zugriff: 18.04.2020. https://www.linz09.at/de/ziele.html, Zugriff: 18.04.2020. Fattinger et al. (2010b): 82-Tage-Programm, 97. Fattinger et al. (2010c): Oberhalb der Stadtautobahn, 26. Fattinger et al. (2010c): Oberhalb der Stadtautobahn, 28. Die folgenden Beschreibungen basieren auf mehreren Aufenthalten im gelben Haus, vor allem im Rahmen der BELLEVUE Akademie mit Studierenden im Juli 2009.
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Inszenierung von frei zugänglichen Gemeinschaftsflächen ohne Konsumationspflicht aus der Privatheit ihrer Wohnungen, Höfe und Gärten in den öffentlichen Raum geholt werden. So präsentierte sich das gelbe Haus als „Freiraum“, „der allen offen steht und als Volkshaus, Jugendzentrum, Galerie, Pension, Gasthaus oder einfach nur als Ausflugsziel“375 dient. Neben der räumlichen Infrastruktur versprachen das permanent präsente Personal und ein breites Programm rund um die Uhr Zugehörigkeit und Verbundenheit. Kontinuierlich anwesende Hausmeister:innen, die Kantinen-Bediensteten, die „Multitalente am Info-Kiosk“ sowie oft auch die Projektautor:innen selbst kümmerten sich um die Gäste, versorgten sie mit Informationen, beantworteten Fragen, boten Anregungen für verschiedenste Aktivitäten, stellten Imbisse und Getränke zur Verfügung. „So schaffte es das gelbe Haus, immer wieder auch Stubenhocker anzulocken und manche sogar täglich als Stammgäste zu begrüßen. So sympathisch kann das Leben im Park sein.“376 Ziel von BELLEVUE war eine „Identifikation mit der Umgebung“, durch die ein gemeinschaftsprägendes „Bezugssystem der Kommunikation“ in Aussicht gestellt wurde. Ein breites Spektrum an Programmpunkten bewirkte eine Vielzahl an Interaktionsmomenten zwischen den Künstler:innen, dem Kunstpublikum sowie den Anrainer:innen, wobei das klassische Rollenverhältnis (Künstler:in produziert, Publikum schaut zu) herausgefordert und Wiedererkennbares wie Unbekanntes in ein produktives Wechselspiel zueinander gesetzt wurden. Als Grundlage für die Programmentwicklung war vorab eine Recherche über die sozialen, kulturellen und historischen Charakteristika der Stadtteile Bindermichl und Spallerhof durchgeführt worden. Lokal ansässige Institutionen und Vereine konnten in unterschiedlicher Intensität als Partner gewonnen werden. Sie führten einzelne Veranstaltungen durch, boten fachliche oder organisatorische Beratung oder wirkten kontinuierlich über die gesamte Projektdauer aktiv an der Programmgestaltung mit. Darüber hinaus wurden dreizehn Artists in Residence eingeladen und vier studentische Sommerakademien veranstaltet, wobei diese geladenen Akteur:innen aus dem künstlerischen und universitären Feld für einige Tage oder Wochen vor Ort lebten, Recherchen zum städtischen Umfeld anstellten und Projekte in Interaktion mit lokalen Bewohner:innen und Einrichtungen entwickelten. Um vor allem die unmittelbaren Nachbar:innen vom Spallerhof und Bindermichl in das gelbe Haus zu locken, gab es sonntagvormittags ein Gratis-Frühstück und sonntagabends die Möglichkeit, gemeinsam eine Folge der Krimi-Reihe Tatort zu sehen. Das Spektrum der regelmäßigen Musikdarbietungen reichte von der lokal ansässigen Ziehharmonikagruppe Linzer Quetschnspüla über populäre DJs bis hin zu experimenteller Musik von Live-Bands. Populäre Sportangebote wie Tischtennis, Kochworkshops
375 Fattinger et al. (2010c): Oberhalb der Stadtautobahn, 26. 376 Fattinger et al. (2010c): Oberhalb der Stadtautobahn, 28.
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und Tanzkurse richteten sich ebenso dezidiert an die lokale Bewohner:innenschaft wie das wöchentliche Medien-Highlight: eine Live-Talk-Show mit Unterhaltungswert (produziert von eSeL alias Lorenz Seidler), die im lokalen Fernsehen übertragen wurde und in der unterschiedliche, lokal relevante Themenfelder aufgegriffen und mit Anrainer:innen diskutiert wurden. Darüber hinaus bewohnten den gesamten Sommer hindurch zahlreiche Künstler:innen das gelbe Haus, entwickelten lokalspezifische Partizipations-Formate, produzierten und präsentierten in Kollaboration mit der Nachbarschaft Ausstellungen oder Aufführungen verschiedener Art. „Personen werden mit ihnen eigentlich fremden Kulturgütern konfrontiert, es ist eine Art offensives Verstecken und Entdecken von Kulturlandschaften.“377 Ziel ist eine „grenzüberschreitende Kommunikation“, um mit „Engagement und […] Idealismus […] Barrieren bzw. Vorurteile zu bearbeiten und somit Anknüpfungspunkte zu schaffen, von deren Existenz zuvor kaum Erfahrungen vorgelegen haben.“378 Das gelbe Haus lässt sich – mit Blick auf die Rückmeldungen nicht nur der Betreibenden, sondern auch der Politik, der Kunst, der Medien sowie weiter Teile der lokalen Nachbarschaft – als Vorzeigebeispiel für ein glaubwürdig umgesetztes Versprechen interaktiver Partizipation betrachten. Am Ende der 82 Tage Programmierung „mit mehr als 700 Akteuren unter hoher lokaler Akzeptanz“ stand die Forderung nach einer dauerhaften Einrichtung des gelben Hauses, was für das BELLEVUE-Team als Zeichen gewertet wurde, „dass es jenseits von Konsum- und Hochkultur einen Spielraum gibt, den es zu besetzen gilt“ – eine „Vision des eigentlich Möglichen“379 nach dem „Prinzip von Wissensvermittlung und Expertenwissen auf Augenhöhe“380 . Für Stella Rollig, zu dieser Zeit Leiterin des Kunstmuseums Lentos Linz, lag die Ursache für die breite Verbundenheit mit dem gelben Haus darin, dass der „Spielraum, den seine Betreiber:innen errichtet hatten, von vielen genutzt und mit Leben gefüllt wurde.“ Nicht wie so oft in partizipativen Prozessen „wollten KünstlerInnen besser wissen, was gebraucht wird, als die Zwangsbeglückten“, vielmehr verstanden sie es, „die Adressierten ins Boot [zu] holen. […] Das gute Leben und die schöne Form – in perfekter Allianz“.381 Martin Heller, Intendant von Linz09, nennt als „einzige Möglichkeit, dieser Zielgruppe ‚für alle‘ gerecht zu werden […], unterschiedliche Wahrnehmungs- und Betätigungsebenen anzubieten: Damit für jene, die ein kennerhaftes Verhältnis zu temporärer Architektur mitbringen, und für jene, die sich auf einer Metaebene
377 378 379 380 381
Fattinger et al. (2010c): Oberhalb der Stadtautobahn, 28. Fattinger et al. (2010c): Oberhalb der Stadtautobahn, 29. Fattinger et al. (2010c): Oberhalb der Stadtautobahn, 29. Ulrich Fuchs im Interview mit Angelika Fitz, in: Fitz (2010): BELLEVUE, 90. Rollig (2010): Erinnerst du dich?, 16.
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für Sozialarbeit interessieren, bis zu jenen, die einfach nur essen gehen, gesorgt ist – und die Bedürfnisse sich untereinander nicht konkurrenzieren, sondern ergänzen.“382
Wenngleich der direkte Austausch zwischen Künstler:innen und Anrainer:innen von beiden Seiten vielfach als zurückhaltend beschrieben wurde, nahmen die Bewohner:innen das Programm sehr gut an. Durch gezielte Inszenierungen kam es immer wieder zu ungewohnten Begegnungen zwischen den verschiedenen Publikumsgruppen. Nordic Walking-Begeisterte trafen auf die Probeeinheit einer lokalen Rockband, SchuhplattlerGruppen in Lederhosen fanden ebenso ihr Publikum wie Vertreter:innen von BalkanRhythmen oder elektronischem Sound. „Hier mischt sich Alt und Jung und keiner tritt dem anderen auf den Fuß. Es lässt jeder den anderen sein und das findet man sehr selten. Wenn ich jetzt zu einer Vernissage gehe, dann tun dort alle irgendwo so wahnsinnig gut und jeder spricht noch mit dem Herrn Doktor Sowieso. Hier spricht jeder mit dir, ganz gleichgültig in welchem Outfit du kommst.“383
Das Versprechen einer Teilhabe am dichten und vielfältigen Programm für möglichst breite Bevölkerungsgruppen wurde in BELLEVUE für die Dauer von knapp drei Monaten in Außen- wie Innensicht überzeugend eingelöst. Das Angebot an unterschiedlichen Formaten und Modi der Partizipation ermöglichte distanziertes Zusehen oder Konsumieren ebenso wie kurze Interaktionen, langfristige Kooperationen oder egalitäre Kollaborationen. Dass die Konnektivität hoch und Konflikte geringgehalten wurden, stand darüber hinaus in Zusammenhang mit der Temporalität und Atmosphäre des Schauplatzes, vor allem aber mit der Rolle von BELLEVUE als hochdotiertem Leitprojekt von Linz09. So waren nicht nur Aussehen (leuchtendes Gelb), Lage (prominente Einfahrtsstraße) und Programm (genau getaktet für die Zielgruppe „Alle“) auf möglichst große Reichweite und Visibilität angelegt, auch genaue Regeln und permanent kontrollierende Blicke lenkten das Verhalten der Gäste auf subtile Weise. Fast omnipräsente Film- und Fotokameras hielten das Geschehen fest, den bemühten Hausmeister:innen entging wenig, die Projektträger:innen waren oft vor Ort und begleiteten das Geschehen in dialogischer Absicht mit Wohlwollen und Interesse. BELLEVUE inszenierte das Versprechen einer Teilhabe für möglichst viele in weiten Projektphasen glaubwürdig, was sich in der positiven Resonanz vor Ort wie auch medial widerspiegelte. Judith Kästner, die den Großteil der Zeit als Projektkoordinatorin und Programmentwicklerin vor Ort verbrachte, beschrieb das gelbe Haus als „eine Art Basiscamp für partizipative Prozesse“384 , in dem unterschiedliche Akteur:innen
382 Martin Heller im Interview mit Angelika Fitz, in: Fitz (2010): BELLEVUE, 86. 383 Besucherin von BELLEVUE im Gespräch mit Judith Kästner, in: Kästner et al. (2010b): Ich glaube, 284. 384 Kästner et al. (2010a): Basiscamp für partizipative Prozesse, 287.
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aufeinandertrafen und verschiedene Formen der Teilhabe – vom einfachen Zusehen bis zum aktiven Mitmachen – friedlich erproben konnten. Trotz der weitgehenden Harmonie dieser partizipativen Aufführung erwies sich das gelbe Haus nicht als das, was Markus Miessen als „Albtraum Partizipation“385 bezeichnet. „The nightmare of participation“ zeigt sich für den Architekten und Autor dort, wo Partizipation zum kontrollierten, harmonisierten Mitmach-Spektakel geriert und eine agonistische Teilhabe als „produktive[s] Engagement zur Störung des Konsens“386 verunmöglicht. Vor dem Hintergrund einer Idee von Demokratie als Streitraum plädiert Miessen – angesichts der zunehmenden Bedeutung einer „romantischen Vorstellung von Partizipation“ – für eine „konfliktuelle Partizipation als produktive Form einer Interventionspraxis“.387 In dieser Lesart wird Partizipation erst dann „zu einer Form des kritischen Engagements“, wenn sie „zum Konflikt wird“.388 Im gelben Haus, das als gelebtes Versprechen eines Linz09 „für alle“ inszeniert wurde, fand der Konflikt „als strategisches Werkzeug“389 gesellschaftskritischer Intervention Platz. 4.2.3 Partizipatorische Ideale: „Die Kunst des urbanen Handelns“ Wie bei den Projekten BELLEVUE und Adaptive Actions wirkte auch bei Keine Denkmale das Versprechen egalitärer Teilhabe als Impuls für die Herstellung von Zusammenhalt und damit als Übersetzungsmoment. Auch die Arbeit im Grazer Annenviertel wurde von öffentlichen und privaten Institutionen getragen, die sich – aus je spezifischen Gründen und in verschiedenen Formaten – der Partizipation städtischer Bewohner:innen an der Gestaltung des urbanen Raums widmen. Kuratiert wurde Keine Denkmale vom Zentrum für zeitgenössische Kunst , das zur Zeit des Projektstarts ein von der Europäischen Union gefördertes Großprojekt mit dem Titel Die Kunst des urbanen Handelns betrieb. „‚The Art of Urban Intervention‘ is dealing with the possibilities of art in public space related to the transformation processes in communities and neighbourhoods. Engagement and participation are crucial items. Analysing what needs to be done and discovering what can be done in a local environment and together with the inhabitants will be the challenge of the project.“390
Wenngleich Keine Denkmale nicht expliziter Teil des EU-Projekts war, bestanden sowohl inhaltliche als auch strukturelle und personelle Überlappungen, vor allem aber
385 386 387 388 389 390
Miessen (2010/2012): Albtraum Partizipation. Mouffe zitiert nach Miessen (2010/2012): Albtraum Partizipation, 99. Miessen (2010/2012): Albtraum Partizipation, 100. Miessen (2010/2012): Albtraum Partizipation, 78. Miessen (2010/2012): Albtraum Partizipation, 84. Projektunterlagen: The Art of Urban Intervention, .
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entsprach die Arbeit der leitenden Projektidee eines künstlerischen Engagements in der lokalen Nachbarschaft. Schauplatz waren die Grazer Stadtteile Gries und Lend im Bereich um die Annenstraße, die im Zuge kommunaler Umbaupläne im Fokus von Stadtpolitik und Öffentlichkeit standen. Im Kontext dieser städtischen Transformationen plante , motiviert durch die an lokaler Partizipation und Vernetzung orientierten Ausschreibungskriterien der EU, die Einbindung der Bevölkerung in Fragen der Mitgestaltung des städtischen Raums. Das Grazer Stadtbauamt installierte ein Stadtteilmanagement, um die Identifikation der Bewohner:innen mit dem Baugeschehen zu stärken und potenziellen Protesten bereits im Vorfeld zu begegnen. Begriffe wie Partizipation oder Bürger:innenbeteiligung bildeten damit im Umfeld des Projekts Keine Denkmale einen etablierten Bestandteil sowohl im künstlerischen als auch im gouvernementalen Jargon der Stadtpolitik. Die zunehmende Präsenz des Versprechens der Partizipation in verschiedenen Segmenten des öffentlichen Diskurses (, Stadt, EU) weist den Begriff nicht nur als travelling concept 391 aus, das in unterschiedlichen Feldern mit je anderen Bedeutungsdimensionen und Funktionen zirkuliert. Es prädestiniert ihn auch als signifikantes Übersetzungsmoment, da der Begriff Partizipation durch seine semantische Breite und nahezu uneingeschränkt positive Konnotation – vergleichbar mit dem Begriff der Kreativität – Anschlussmöglichkeiten an verschiedene Gebrauchskontexte eröffnete: Einerseits ließ sich an die öffentliche Kunstförderung auf kommunaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene anknüpfen, in der Partizipation seit den 1990er-Jahren zu einem Schlüsselbegriff für identitäts- und demokratiepolitische Ausgabenorientierung avancierte; andererseits konnte der Kunstverein mit dem Begriff der Partizipation an das internationale künstlerische Feld anschließen, in dem „participation“ längst nicht mehr nur an den marginalisierten Rändern der community art angesiedelt ist.392 Der kunstimmanente Gebrauchszusammenhang des Begriffs Partizipation bildete auch den wesentlichen Anknüpfungspunkt zum Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark am Universalmuseum Joanneum, das den Projektinitiator:innen neben der Stadtbaudirektion und dem Institut für Kulturanthropologie der Universität Graz als Kooperationspartner zur Seite stand. Zugrunde lag dieser Kooperationspartnerschaft, dass „Partizipation als eine zielführende Methode nicht nur für die Akzeptanz von Kunst […], sondern auch generell für das Handeln im öffentlichen Raum“ eingesetzt werden kann. Das Versprechen der Partizipation, wie es das Projekt Keine Denkmale abgab, war zudem mit jenen Ansätzen im städtebaulichen Feld kompatibel, die bei Großbauprojekten auf Bürger:innenbeteiligung als politische Strategie setzten.
391 Bal (2002): Travelling Concepts. 392 Zum Begriff der Partizipation im künstlerischen Feld vgl. Kapitel 2.2 (Relationale Kunst im städtischen Raum. Rahmen und Modi urbaner Partizipation).
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„Im Sinne einer integrierten Stadtentwicklung soll ein Stadtteilmanagement für festgelegte Stadtteilentwicklungsprojekte als eine Brückeninstanz zwischen lokalen AkteurInnen und der Verwaltung dienen. Aktivierung und Beteiligung der betroffenen Personengruppen sowie eine transparente Informationsvermittlung und die Förderung der Stadtteilidentität sind die wesentlichen Hauptziele.“393
Das Stadtteilmanagement Annenviertel, installiert von der Stadtbaudirektion Graz, diente im Zeitraum von 2009 bis 2013 als kommunales Begleitprojekt zur Neugestaltung der Annenstraße. Initiiert oder unterstützt wurden zahlreiche partizipative Aktivitäten: thematische Stadtspaziergänge, Baustelleninformationen, Bürger:innenstammtische, ein Straßenflohmarkt oder künstlerische Beteiligungsprojekte wie etwa Kristina Lekos Keine Denkmale. Das Stadtteilmanagement schrieb seiner Tätigkeit eine „Brückenfunktion“ zu und verstand sich als „Übersetzer“394 zwischen Stadtplanung und ansässiger Bevölkerung. Aus Sicht des Stadtbaudirektors Bertram Werle war das Stadtteilmanagement Annenviertel insofern erfolgreich, als durch die engmaschige Beteiligung unterschiedlichster Akteur:innen – von partizipatorisch orientierten Künstler:innen über Journalist:innen und aktivistische Bürger:innen bis hin zu migrantischen Vereinen oder Kulturinstitutionen – die Bauphase weitgehend ungestört ohne laute kritische Stimmen verlief: „Oft erntet man bei Baumaßnahmen viel Kritik. Die ist eigentlich ausgeblieben, obwohl wir so massiv in das Lebensumfeld zahlreicher Menschen eingegriffen haben. Da denkt man sich doch, da haben wir etwas besser gemacht als früher.“395 Mithilfe partizipatorischer Programmatik und Rhetorik stellte die Stadtbaudirektion Graz mit dem „Thema Kunst“ strategische Anschlussknoten zu den Akteur:innen aus dem kreativen Feld her, wobei die Präsenz des Vereins – in unmittelbarer Nachbarschaft zum Baustellengebiet angesiedelt – sowie deren EU-Projekt Annenviertel! Die Kunst des urbanen Handelns für die enge Kooperation ausschlaggebend waren. „Also, ich kenn ja den Verein schon länger, ist ja in Graz nicht ganz unbekannt, und die waren irgendwie von Anfang an auch sehr aktiv […], auch sehr engagiert, weil sie ja in diesem Viertel, im Quartier, mitten drin auch ihr Büro haben und ihre Galerie. Und so hat man sich einmal getroffen, wie man die Initiativen ja auch kennenlernt. Und wir verstehen uns auch irgendwo auf einer persönlichen Ebene sehr gut und haben uns durchs Annenviertel-Projekt sehr oft getroffen […]. Für ein Projekt ist es immer gut, wenn man einen Titel hat, und der Annenviertel-Begriff kommt ja vom Verein . Und dann haben wir angefragt, ob wir
393 www.graz.at, Informationen zur Baustelle Annenstraße, Zugriff: 13.03.2012. 394 www.graz.at, Informationen zur Baustelle Annenstraße, Zugriff: 13.03.2012. 395 Bertram Werle im Gespräch mit Judith Laister und Thomas Wolkinger, in: Wolkinger und Laister (2014): Man tastet sich heran, 55.
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den Begriff einfach verwenden dürften. […] Und dann haben sie zugestimmt und so ist die Kooperation einfach sehr sehr eng geworden, durch das Annenviertel-Projekt Die Kunst des urbanen Handelns. Das eine ist ein Kunstprojekt und das andere ist das Stadtprojekt.“396
Auch Stadtbaudirektor Werle hebt die Vorteile einer Kooperation zwischen Kunst und städtischer Bautätigkeit hervor und betont die Möglichkeit, durch die Einbindung von Kunst eine höhere Akzeptanz eines Bauprojekts im Quartier zu erreichen: „Wir unterstützen gerne zielführende Maßnahmen, die zu mehr Akzeptanz eines Bauprojekts im Quartier führen. Kunstschaffende und die Kulturszene können genauso Partner sein. Wir haben traditionell das Thema Kunst immer wieder als Thema auch bei Baustellen dabei.“ Im Besonderen hebt er Projekte hervor, die sich durch „wunderschöne, künstlerische Gestaltung“ auszeichnen. Um Akzeptanz zu erreichen, so Werle, sind „fast alle Mittel recht“ – Kooperationen mit der Kirche genauso wie mit der Kunst. Nur: „Die Kirche braucht keine Förderung“, ergänzt Stadtteilmanagerin Reis.397 Wie sich das Versprechen der Partizipation im Projekt Keine Denkmale mit Blick auf die politischen und künstlerischen Allianz-Partner (, Stadtbaudirektion Graz, Institut für Kunst im öffentlichen Raum, Europäische Union) aus gouvernementaler Perspektive als signifikantes Übersetzungsmoment erwies, so bildete es auch die entscheidende Verbindung zum universitären Kooperationspartner, dem Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Graz. Als Basis diente die im kulturanthropologischen Feld dominante Methode der teilnehmenden Beobachtung, die fachspezifischen Diskussionen über eine „eingreifende Wissenschaft“ sowie die kritischen methodologischen und epistemologischen Selbstbefragungen seit der Writing-Culture-Debatte. Dieses Diskursfeld bot die Grundlage für die curriculare Legitimation eines Lehrangebots, das zwischen den Bereichen der Kunst und der Stadtanthropologie398 angesiedelt war. Auch für die Studierenden, die sich für die Lehrveranstaltung einschrieben, lag das Hauptmotiv ihrer Teilnahme im Versprechen der Partizipation begründet – im Sinne eines in Aussicht gestellten Mitwirkens an einem Kunstprojekt mit sozialer Relevanz. Von konnektiver Wirkung für das ästhetische Allianzgefüge war neben der rhetorischen Bindekraft des Begriffs Partizipation, dass sich das Vorhaben einem atmosphärisch aufgeladenen Stadtteil von Graz zuwendete.
396 Simone Reis und Bertram Werle im Gespräch mit Judith Laister und Thomas Wolkinger, Mai 2013. 397 Simone Reis und Bertram Werle im Gespräch mit Judith Laister und Thomas Wolkinger, Mai 2013. 398 Vgl. dazu Kapitel 5 (Relationalitäten zwischen Anthropologie und Kunst).
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4.3
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Wie die Verteilung von Kapital und das Versprechen einer egalitären Teilhabe die Konnektivität zwischen den heterogenen Akteuren der künstlerisch initiierten Akteurswelten prägten, wirkten auch die Atmosphären der Schauplätze – Stadtteile wie andere Aufführungsorte – der drei untersuchten Projekte als signifikante Übersetzungsmomente. Das sozial deprivierte Lower Lea Valley als künftiger Schauplatz der Olympic Games in East London; ein neu gestalteter Landschaftspark auf der Autobahnübertunnelung zwischen den Linzer Wohnquartieren Bindermichl und Spallerhof; die historische Murvorstadt, deren zentrale Verkehrsachse Annenstraße großräumig umgebaut wurde: Alle drei relationalen Kunstprojekte fanden im Kontext urbanen Umbaus statt und schrieben sich in die räumliche Gestaltung und Nutzung dieser Areale ein. Die Arbeit an den Atmosphären dieser Stadtteile zog Teilnehmende an und motivierte sie zum Mitmachen. Das „bewegte und hochinteressante Stadtviertel“, „der Ruf dieser urbanen Wildnis“, „der multikulturelle Mikrokosmos“, „viele interessante Persönlichkeiten, die sich in diesen Bezirken niedergelassen haben“, „die alltägliche Tristesse und soziale Deprivation“399 und viele vergleichbare Einschätzungen der Schauplätze in London, Linz und Graz dienten im Zuge der ästhetischen Allianzbildungen als konnektive secondary agents. Alle drei Projekte positionierten sich offensiv in oppositioneller Relation zu den folgenden dominanten Wahrnehmungen der Stadtteile in Politik und Medien: das Lower Lea Valley als Schandfleck und Sanierungsgebiet, die Autobahnüberplattung Bindermichl/Spallerhof als einladend gestaltete Parkfläche und das Annenviertel als innenstadtnahes Arbeiter:innen- und „Ausländerviertel“ mit wirtschaftlichem Entwicklungspotenzial. Diesen zirkulierenden Stimmungsbildern begegneten die Projekte jeweils durch die Stärkung und Erzeugung alternativer Atmosphären. Auf konzeptueller Ebene lässt sich dieses wechselseitig – teils auch abgrenzend – produktive doing atmospheres mit einer Konzeption von Atmosphären400 fassen, die auf deren Gemachtheit und Wahrnehmungsabhängigkeit fokussiert. Eine theoretische Annäherung an den Begriff Atmosphäre ermöglicht Gernot Böhme. Er betrachtet „Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik“ und betont die enge Verknüpfung zwischen dem „Ausdruck ‚Atmosphäre‘ und dem ästhetischen Diskurs“.401 Dabei stellt er fest, dass im künstlerischen Feld „mit ‚Atmosphäre‘ etwas Unbestimmtes, schwer Sagbares bezeichnet werden soll“, wobei er diese vage Verwendungsweise auf „den eigentümlichen Zwischenstatus von Atmosphären zwischen Subjekt und Objekt“
399 Aussagen aus Interviews und Gesprächen mit Teilnehmenden aus den drei beforschten Projekten über ihre Wahrnehmung der jeweiligen städtischen Räume. 400 Zur Konjunktur des Atmosphären-Begriffs in den Kulturwissenschaften vgl. v. a. Böhme (1992): Atmosphäre; Kuckuck. Notizen zur Alltagskultur, 26, 2/2011; Egger (2013): Stadt und Atmosphäre; Hasse (2012): Atmosphären; Rolshoven (2017a): Atmospheres and Mobilities. 401 Böhme (1992): Atmosphäre.
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Arbeit an Atmosphären. Stadträumliche Ein- und Ausschlüsse
zurückführt. Ziel von Böhmes neuer Ästhetik ist es, im Gegensatz zur herkömmlichen normativen Ästhetik diese schwer greifbare „Beziehung von Umgebungsqualitäten und menschlichem Befinden“ zu erkunden. Im Fokus steht dabei „die ästhetische Arbeit in ihrer vollen Breite“: „Sie wird allgemein bestimmt als Produktion von Atmosphären und reicht insofern von der Kosmetik über Werbung, Innenarchitektur, Bühnenbildnerei bis zu Kunst im engeren Sinne. Die autonome Kunst wird in diesem Rahmen nur als spezielle Form ästhetischer Arbeit verstanden, die auch als autonome ihre gesellschaftliche Funktion hat. Und zwar soll sie in handlungsentlastender Situation (Museum, Ausstellung etc.) die Bekanntschaft und den Umgang mit Atmosphären vermitteln.“402
Böhmes „allgemeine Theorie ästhetischer Arbeit“ bietet für die Konzeption von Atmosphären als Übersetzungsmoment in den künstlerisch initiierten Akteurswelten im gegebenen Forschungskontext in zweierlei Hinsicht einen produktiven theoretischen Rahmen: Einerseits fordert die Auseinandersetzung mit relationaler Kunst nachdrücklich die bereits von Walter Benjamin konstatierte Abwendung von einer Ästhetik, die sich rein der Bestimmung dessen widmet, „was Kunst ist oder ein Kunstwerk“. Andererseits bildet Böhmes Blick auf „die ästhetische Arbeit in ihrer vollen Breite“, wie er die Herstellung von Atmosphären bezeichnet, zahlreiche Knotenpunkte zum kulturanthropologischen Feld. So versteht er „Wahrnehmung“ im anthropologischen Sinne „als die Erfahrung der Präsenz von Menschen, Gegenständen und Umgebungen“, wobei er bei der Wahrnehmung von Atmosphären den räumlichen Charakter betont: „räumlich‚ randlos, ergossen, dabei ortlos, d. h. nicht lokalisierbar, sie sind ergreifende Gefühlsmächte, räumliche Träger von Stimmungen.“ „Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Sie ist die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimmter Weise leiblich anwesend ist.“403
Böhme bezeichnet eine Atmosphäre als „primären Gegenstand der Wahrnehmung“, wobei „Wahrnehmen im Grunde […] die Weise [ist], in der man leiblich bei etwas ist, bei jemandem ist oder in Umgebungen sich befindet“. Mit Bezug auf Martin Heideggers und Maurice Merleau-Pontys phänomenologische Anthropologie spricht er vom „eigenleiblichen Spüren“ einer „ergreifenden Gefühlsmacht“, die „unbestimmt in
402 Böhme (1992): Atmosphäre. 403 Böhme (1994): Anthropologie, 199.
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die Weite ergossen“ ist.404 Atmosphären zeigen das an, „was zuerst und unmittelbar wahrgenommen wird“405 und was in dieser Unmittelbarkeit Umgebung und sozialen Zusammenhalt herstellt. Dieser Soziabilität von Atmosphären und damit ihrem Potenzial, „Vertrauen zwischen Menschen“406 herzustellen, widmet sich Böhme in seinem vielzitierten Text Die Atmosphäre der Stadt. Dabei geht es ihm um die Erkundung der „anderen Dimension urbaner Räume“, denn „irgendwie spürt man, daß neben Raumordnung und Verkehr, neben Funktionsteilung und Organisation da noch etwas anderes sein muss“.407 Wenn Böhme von der „Atmosphäre einer Stadt“ spricht, meint er das „für eine Stadt Charakteristische“, das gleichzeitig vom „Bewohner […] durch sein Leben ständig mitproduziert wird“. Da sie „aber erst für den Fremden als Charakteristikum auffällt“, ist „die Atmosphäre einer Stadt […] nicht dasselbe wie ihr Image. […] Das Image einer Stadt ist das bewußt nach außen gekehrte Bild ihrer selbst bzw. die Gesamtheit der Vorurteile, die man draußen von einer Stadt hat.“408 Während sich dieses Bild zirkulieren und ortsunabhängig wahrnehmen lässt, bedarf die Atmosphäre der leiblichen Präsenz der Rezipient:innen. „Das soll aber nicht heißen, daß man über Atmosphären nicht reden könnte […], sondern nur, daß die Atmosphäre etwas ist, das man spüren muß, um zu verstehen, worum es in solchen Reden eigentlich geht. Die Atmosphäre einer Stadt ist eben die Art und Weise, wie sich das Leben in ihr vollzieht.“409
Eine „Stadtästhetik“, die sich dem Studium der Atmosphären zuwendet, fragt nach dem, „was von einem anderen Menschen, den Dingen oder der Umgebung ausgeht“. Sie widmet sich damit etwas Subjektivem, „das man mit anderen teilen kann und über das man sich mit anderen verständigen kann“, und damit den Teilnehmer:innen „am städtischen Leben, die durch ihre eigenen Aktivitäten die städtische Atmosphäre mitproduzieren“.410 Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Vermittlungsmedien der Atmosphären: der Sprache, die „ungezählte Ausdrücke zur Charakterisierung von Atmosphären“411 bereitstellt, aber auch – wie der Humangeograf Jürgen Hasse mit
404 405 406 407 408 409 410 411
Böhme (1994): Anthropologie, 199. Böhme (1995): Atmosphäre als Grundbegriff, 39. Böhme (1998): Atmosphäre der Stadt, 150. Böhme (1998): Atmosphäre der Stadt, 151. Böhme (1998): Atmosphäre der Stadt, 153. Böhme (1998): Atmosphäre der Stadt, 154. Böhme (1998): Atmosphäre der Stadt, 156. Böhme (1998): Atmosphäre der Stadt, 155.
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Verweis auf Böhme betont – den Bildern etwa in Form von „Gesten, Mimik, Malerei, Bildhauerei, Musik und Architektur“412 . Der Vielfalt dieser atmosphärischen Medien wendet sich Hasse zu. Während Böhme den Blick auf das Ganze einer Stadt richtet und deren „Anmutungsqualitäten“ verfolgt, die „gespürt“413 und mit anderen Bewohner:innen geteilt werden, unternimmt Hasse einen Perspektivenwechsel auf verschiedene urbane Atmosphären.414 Vor dem Hintergrund der Konzeption von Städten als „Räume[n] pluraler Intensitäten“ interessiert ihn die atmosphärische Diversität einer Stadt, sowohl in Bezug auf soziale Geschmackslagen als auch auf stadtgeografische Areale. Um diese diversen Atmosphären konkret zu lokalisieren, widmet sich Hasse „überschaubaren Orten“ und dem, „was in einer Gegend zur Erscheinung kommt“. Dabei identifiziert er „eine tendenziell endlose Vielfalt der Formen und Stile“ von Atmosphären, die sich „in einem kaleidoskopischen Bild des städtischen Raums“415 verbinden. „Sie sind an diesem Ort anders als an jenem, konstituieren sich aus der Präsenz der Dinge und Dynamik des Lebens von selbst oder werden zum Gegenstand interessengeleiteter Herstellung. Sie haben ihre je eigene Bedeutung im Leben der Menschen wie in der Eigenart und Geschichte eines Ortes. Wo sie nach einem systemischen Kalkül oder Interesse produziert werden, erfüllen sie als affektive Dispositionen in einem ideologischen, ökonomischen oder politischen Kontext Funktionen.“416
Wie diese inszenierten Atmosphären der Macht auf die Konstruktion „gemeinsamer Situationen […], auf eine Gleichschaltung kollektiven Stadterlebens“ abzielen, so baut auch die Produktion künstlerisch initiierter Gegenatmosphären auf Allianzbildungen auf. Künstler:innen lassen sich als „ästhetische Arbeiter“ zur legitimierten Produktion von Atmosphären fassen. Diese soziale Rolle als atmosphärische Professionist:innen weist ihre Arbeit als Generierung „affektiven Kapitals“417 aus und ermöglicht es, die hergestellten Atmosphären zu ökonomisieren. Adaptive Actions am blauen Zaun um eine Londoner Wildnis mit Schrebergärten und Künstlerlofts; das gelbe Holzhaus BELLEVUE mit Balkon, Satteldach und Ausblick auf Landschaftspark und Autobahn; Keine Denkmale für Arbeit und Einwanderung in Form von schwarzen Schultafeln – positioniert im angesagten Arbeiter:innen-, Migrations- und Kreativviertel: Alle drei Projekte stellen durch ihre jeweils spezifischen Stimmungswerte sowohl sozialen Zusammenhalt wie auch Distinktion her. Sie regen jene zur Zusammenarbeit bzw. zum Bleiben an, die
412 413 414 415 416 417
Hasse (2012): Atmosphären. Böhme (1998): Atmosphäre der Stadt, 157. Hasse (2012): Atmosphären. Hasse (2012): Atmosphären. Hasse (2012): Atmosphären. Sauer und Penz (2016): Affektives Kapital.
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Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst
bestimmte Codes dechiffrieren können, und halten jene fern, die aufgrund von wenig vertrauten räumlichen, visuellen und verbalen Atmosphären keine Zugehörigkeit zu entwickeln vermögen. Der unscharfe Begriff der Atmosphäre ist damit nicht essentialistisch als eindeutig definierbar konzipiert, sondern als prozesshaft, sozialräumlich konditioniert und performativ. Diese Fluidität macht die empirische Greifbarkeit von Atmosphären zur methodischen Herausforderung, der sich dieses Kapitel stellt. Es fasst Atmosphären in der Terminologie Alfred Gells als nicht-menschlichen secondary agent und widmet die besondere Aufmerksamkeit den pluralen, affirmativen wie widerständigen atmosphärischen Übersetzungsmomenten im Prozess der künstlerisch initiierten Allianzbildungen. 4.3.1 Brownfield Land im Lea Valley. Schandfleck, Baugrund, Sehnsuchtsraum Dass London im Jahr 2005 den Zuschlag für die Austragung der Olympischen Sommerspiele 2012 erhielt, gründete – vom Erfüllen grundlegender Voraussetzungen und erfolgreichen Lobbyismus abgesehen – in einem detaillierten Entwicklungs- und Nachhaltigkeitskonzept, das auf stadträumliche und soziale Veränderung fokussierte. Zwar wirken sportliche Großereignisse stets auch als Katalysatoren für „urban renewal and regeneration“, doch bereits in den Bewerbungsunterlagen aus dem Jahr 2003 markierte die Candidate City London das Ziel einer nachhaltigen baulichen wie sozialen Erneuerung des Londoner Ostens als zentrales Alleinstellungsmerkmal. Erreicht werden sollte dieses Ziel sowohl durch eine umfassende Einbindung der lokalen Bevölkerung als auch durch eine enge Zusammenarbeit und Neustrukturierung der zuständigen politischen Ressorts.418 Als Hauptschauplatz der Olympischen Spiele war das Lower Lea Valley im Osten der Stadt definiert, ein ehemals großteils gewerblich genutztes, seit den 1980er-Jahren von Industriebrachen, Bodenkontamination, Arbeitslosigkeit und Armut geprägtes Areal um den River Lea. Die atmosphärischen Zuschreibungen dieses Gebiets, das sich über die sozial deprivierten Bezirke Hackney, Newham, Tower Hamlets und Waltham Forest erstreckte, changierten zwischen stadthygienischem Schandfleck, sozialem Brennpunkt, ungenutztem Brachland und lukrativem Sanierungsgebiet für die einen, sozialem Biotop, wenig reguliertem Grün-Raum und leistbarem Rückzugsort für die anderen. Zustand und Ruf des Lower Lea Valley spaltete und verband die Bevölkerung entlang der unterschiedlich konditionierten Möglichkeiten, durch die sie Qualitäten und Atmosphären von Stadtteilen auf die eine oder andere Weise erfahren bzw. herstellen konnten. Diese atmosphärische Spannung diente sowohl der Stadtregierung als auch dem Künstler Jean-François Prost als zentrales Übersetzungsmoment, um soziale Akteur:in-
418 Poyntner (2009/2016): London, 183 ff.
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Arbeit an Atmosphären. Stadträumliche Ein- und Ausschlüsse
nen für ihre jeweils spezifischen Anliegen zu interessieren und zu verknüpfen. So nutzte die Londoner Stadtregierung im Zuge ihrer Bewerbungs- und Vorbereitungsarbeiten für die Olympischen Sommerspiele 2012 das Bild der kontaminierten Brache, das in einen sauberen, modernen, urbanen Raum transformiert werden sollte, gezielt als Impuls zur breiten Identifikation mit dem rigorosen Stadtumbau. Seit 2004 belegte die London Thames Gateway Development Corporation, die sich bis 2013 der „Regeneration for East London“ widmete,419 die Beschreibung des Lower Lea Valley mit Fakten und ließ sie wort- wie bildreich in der Öffentlichkeit zirkulieren. „The Lower Lea Valley has been described as ‚the largest remaining regeneration opportunity in inner London‘. Much of its land is taken up with derelict industrial land and poor housing, often divided by underused waterways, unattractive pylons, roads, the London Underground and heavy rail lines. […] The aim is to create a better place to live, to train people living in the area and to provide them with jobs. The plan is to transform the large number of underused canals and waterways into a new ‚water city‘. They also want to create an integrated park system that celebrates the Gateway’s natural attributes, creating a space for people to relax.“420
Die Olympischen Spiele dienten der Stadtregierung als wesentlicher Motor für die Sanierung des Lower Lea Valley, die bis zum Jahr 2012 Verbesserungen wie „over 2,000 jobs and 4,500 new homes […], landmark architecture and public spaces“, „130.000 square metres of new workspace in the media centres after the Games“, „110 hectares of new open space created“ und „8 km of waterways renewed breathing new life into the local area“ versprach. „Change!“ und „Demolish, dig, design!“ lauteten zentrale Werbeslogans, mit denen die Bewohner:innen von der großflächigen Sanierung des Gebiets im Vorfeld der Olympischen Spiele 2012 überzeugt werden sollten. Der städtische „Schandfleck“, so kommunizierte die Marketingabteilung der ODA in dicht kursierenden Hochglanzbildern, wird nach dem Großereignis zum innovativen Stadtteil, angeschlossen an das öffentliche U-Bahnnetz und frei zugänglich für alle. Die kolportierten Renderings, vielfach auf den blauen Bauzaun appliziert und medial verbreitet, zeigten Sport- und Freizeitanlagen in hochwertiger architektonischer Gestaltung – wie die von Zaha Hadid geplante Schwimmhalle, das Olympische Stadion oder das Internationale Medienzentrum – und wurden begleitet von Zahlen, Fakten und Erzählungen, die Nachhaltigkeit und Innovation als wesentliche Kriterien bewarben. Während große Teile der Stadtbevölkerung die offizielle, von Politik und Wirtschaft lancierte Wahrnehmung des Lower Lea Valley als sanierungsbedürftiger Schandfleck teilten, fanden andere soziale Akteur:innen – unter ihnen auch Jean-François Prost –
419 www.ltgdc.org.uk, Zugriff: 03.04.2008. 420 BBC (2014): Thames Gateway.
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durch die Identifikation mit bzw. Erzeugung von alternativen atmosphärischen Qualitäten desselben Gebiets zusammen. Basierend auf der Erfahrung des Areals als erhaltenswert traten sie gegen die rigorosen Umbaupläne auf und gründeten Initiativen zum Erhalt des kaum kommodifizierten und regulierten Gebiets. In diversen Aktionen formierte sich eine kritische Gegenöffentlichkeit, die auf den Wert der sozialen, kulturellen, architektonischen und ökologischen Vielfalt hinter dem blauen Zaun hinwies, sich gegen den Abriss der etwa 220 teils bauhistorisch interessanten Liegenschaften wehrte und den Erhalt der historischen Geh- und Radwege entlang des „good old River Lea“ forderte.421 Außerdem richtete sich der Protest gegen die Absiedelung der rund 1000 wenig kapitalstarken Bewohner:innen des Areals – darunter zahlreiche Künstler:innen und Squatter:innen, die leerstehende Gewerbehallen zu Atelier- und Wohnräumen umfunktioniert hatten – sowie die Auslagerung traditioneller „Gypsy Camps“, die im Lea Valley angesiedelt waren. Breiter Widerstand formierte sich auch gegen die Schleifung der 1924 gegründeten, historisch, soziokulturell wie architektonisch bemerkenswerten Kleingartenanlage „Manor Garden Allotments“422 , deren Erhalt – letztlich erfolglos – gefordert wurde. Zahlreiche prominente Expert:innen, wie der Autor und Stadthistoriker Ian Sinclair, erhoben ihre Stimmen gegen die großflächige Säuberung und Ästhetisierung des Areals und verwiesen auf die kulturelle Vielfalt und Lebendigkeit des offiziell als kontaminierter, sozial deprivierter Schandfleck denunzierten Gebiets. „The promoters of the great Olympic profect keep telling us there was nothing here before they started – that it was a wasteland. But knowing the area for so long, I’m at a loss because what was here was not a wasteland. It was a place with all kinds of interesting human possibilities – industries, nature, and a wilderness that you could enjoy and be part of, as an escape from the density of east London. We’re now in danger of losing all that for some concrete arcadia. It was one of the most magic margins of London, reduced by their activities to a toxic wilderness.“423
Sinclair beschreibt die spezielle atmosphärische Qualität des Areals als „mixed decaying industrialism with grunge pastoral – something for everybody. A wild nature of wild orchards that everyone was free to wander“. Sein besonderes Bedauern gilt dabei dem Verlust für die zahlreichen Menschen, „who used to be here – living in warehouses, walking on the marshes, cycling and fishing. They all had to make way. The whole population was dispersed.“ Sinclairs atmosphärisch gefärbten Texte wurden zur verbindenden Botschaft für jene, die während der Bauphase des Olympic Parc laut Kritik
421 Vgl. z. B. „Debunking Olympics Myths“, „Games Monitors“ (http://www.gamesmonitor.org.uk/), Planners Network UK (PNUK, www.pnuk.org.uk), Zugriff: 03.04.2008. 422 www.lifeisland.org, Zugriff: 03.04.2008. 423 Sinclair (2012): Olympic.
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Arbeit an Atmosphären. Stadträumliche Ein- und Ausschlüsse
an der „privatisation of public space and the huge growth in the apparatus of security“ übten – letztlich erfolglos, wie Sinclair traurig („I am sad about that“) anmerkte: „We have created an area that has to be protected then we demand the money to do it. So this is the legacy that all the fuss has been about: a flat-pack stadium, an aquatic centre that looks like a concrete factory, a gigantic artwork and an enormous shopping mall. I don’t think that it’s been worth. I think back to the wonderful wilderness that was here before – not a wasteland – and one of the most manifest, rich and deserving parts of London and I’m sorry to lose it.“424
Der Londoner Autor Ian Sinclair, der Hackney und dem Lower Lea Valley über Jahrzehnte in leiblicher Präsenz verbunden war, leistete über das Vermittlungsmedium Sprache ebenso atmosphärische Arbeit am blauen Zaun wie die ODA in Form von Hochglanzrenderings und Arkadia-Versprechen. Dieser öffentlich ausgetragene, mit höchst ungleichen Mitteln bestrittene Kampf um die Produktion und Zirkulation atmosphärischer Übersetzungsmomente im Lower Lea Valley regte auch den Künstler Jean-François Prost dazu an, sich im Rahmen seiner Residency in London/Hackney dem Gebiet hinter und um den blauen Zaun zuzuwenden. Mit seinem Projekt Adaptive Actions – der Installation von blauen Gartenzwergen, Plastikstühlen oder Schaukelpferden, der Durchführung kollektiver Perimeter-Walks und der medialen Verbreitung visualisierter Stimmungsbilder – trug er zur Aktivierung einer ergreifenden Gefühlsmacht bei, die als verbindender Impuls zwischen den Kritiker:innen der Olympischen Pläne fungierte. Die dabei physisch real umgesetzten oder imaginierten Adaptive Actions verstanden sich als subtile Kommentare zu Gegenwart und Zukunft des Areals und bildeten in ihrer zurückhaltenden Präsenz einen gezielten Kontrast zu den Hochglanzbildern der kommunalen top-down-Planungen. Durch die gouvernementale Linse des mehrdimensionalen Übersetzungsbegriffs betrachtet, erweisen sich Prosts Adaptive Actions weniger als starke Allianzbildung im Kampf gegen die Dominanz gouvernemental erzeugter und wirkmächtiger Atmosphären, sondern als poetische Versuche eines zwar weltweit vernetzten, jedoch wenig erfolgversprechenden Widerstands. 4.3.2 Besonders vertraut. Leuchtendes Gelb in gewöhnlicher Nachbarschaft Die Arbeit an Atmosphären als zentraler Impuls künstlerischer Allianzbildung prägte auch das Kulturhauptstadt-Projekt BELLEVUE. Das gelbe Haus, das für drei Monate sozialräumlich unterschiedlich verortete Akteur:innen auf einer leuchtend gelben Bühne in einem unspektakulären Teil der Stadt Linz relativ reibungsfrei versammelte. Von der lokalen Nachbarschaft über Sponsor:innen und Politiker:innen bis hin zu
424 Sinclair (2012): Olympic.
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Künstler:innen und Kunstpublikum wurden die Teilnehmenden je nach Programmpunkt neben- oder miteinander aktiv. Medial wurde das Projekt ausführlich als Beispiel für eine gelungene Beteiligung vor allem der Linzer Bevölkerung am Programm der Kulturhauptstadt besprochen. Wesentliches Übersetzungsmoment dieses temporären Beziehungsgefüges war die Inszenierung einer Atmosphäre der Offenheit und Besonderheit bei gleichzeitiger Suggestion von Gemeinschaft und Vertrautheit. Generiert werden konnte dieses breite Interesse durch ein vereinnahmendes Bühnenbild, alltägliche Requisiten und eine Vielfalt an Rollenangeboten – bei gleichzeitigem Einsatz von außergewöhnlichen und überraschenden Elementen. Dieser spannungsreiche Kontrast ermöglichte den Teilnehmenden neue Blickwinkel auf vertraute Räume, Dinge und Praktiken, wobei die spezielle Atmosphäre den verbindenden Rahmen für die sozialräumlichen Grenzgänge des relationalen Kunstprojekts bildete. „Am schönsten war es in der Nacht. Man kam von einer Reise in die Stadt zurück, und da thronte es [Das gelbe Haus] über der Autobahn. Seine gelbe Farbe ließ es auch in der Dunkelheit strahlen. Der Blick darauf war immer zu kurz. Da ist es! Und dann fuhr man in den Bindermichl-Tunnel ein.“425
Die Kunsthistorikerin und Kuratorin Stella Rollig erinnert sich, wie viele andere auch, zuerst an das signifikante Gelb, das „leuchtete […] in der Dämmerung. Wie eine Erscheinung.“426 Haus und Farbe interpretierte sie als Bilderrahmen für populärkulturelle Praktiken unterschiedlicher Art, die gleich der realistischen Genremalerei als soziale Aufführung gelesen, gleichzeitig betreten und auf Distanz gehalten werden konnten. „Ich erinnere mich an eine Nacht, als wir durch den Landschaftspark auf das gelbe Haus zu radelten, und da war Rock’n’Roll in der Luft, da knisterte und krachte es, und wir trauten unseren Augen nicht: Der Tanzboden glühte, Herrschaften gesetzten Alters schwangen die Beine und DJ Fatsy zeigte, wie man einer Fangemeinde einheizt. Es war ein Riesenspaß.“427
Das Kulturhauptstadtjahr an einen Ort zu bringen, an dem kein Großevent zeitgenössischer Kunst und Kultur vermutet wurde, war die Intention dieses viel beworbenen und weithin bekannten Leuchtturmprojekts. Als Schauplatz diente eine gewöhnliche vorstädtische Nachbarschaft: weder Gentrifizierungs-Gebiet noch verruchte Dark Side, weder besonders arm noch außergewöhnlich hässlich, ohne Ruinenästhetik oder wildes Brachland, ohne ansässige Creative Class oder atmosphärische Anreize für diese.
425 Rollig (2010): Erinnerst du dich?, 15. 426 Rollig (2010): Erinnerst du dich?, 16. 427 Rollig (2010): Erinnerst du dich?, 16.
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„Wie auch immer, als Grundintention fungiert die Ambition, die Kulturhauptstadt dorthin zu bringen, wo Menschen leben, die nicht zu den typischen BesucherInnen einer Kulturhauptstadt zählen. […] BELLEVUE entzieht sich diesem innerstädtischen Kunstrummelplatz und positioniert seine Aktivität in der Vorstadt.“428
Betont wurde in der öffentlichen Bewerbung des Projekts die ausgewogene demografische Situation dieses Teils von Linz: rund 26.000 Bewohner:innen, überdurchschnittlich alt, ein relativ niedriger Anteil an Migrant:innen, „ein funktionierendes Stadtensemble mit einem ausgewogenen sozialen Umfeld.“429 Auch stadträumlich und architektonisch standen die Bezirke bislang nicht im touristischen Rampenlicht, zeigten sie doch eine durchschnittliche Lage zwischen städtischer Peripherie und Innenstadt, getrennt durch die Stadtautobahn, nahe dem ausgedehnten Industriegelände im Linzer Osten gelegen und aus diesem Grund Standort von charakteristischen Wohnsiedlungen aus der NS-Zeit („Hitlerbauten“), Hochhausblöcken aus den 1960er-Jahren und verdichteten Flachbauten aus den 1980er-Jahren, dazu einige Schrebergärten, ein Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg und ein markanter Kirchenbau aus den 1950er-Jahren. Die Bezirksnamen Spallerhof und Bindermichl bezeichnen ehemalige Hofnamen und verweisen auf die landwirtschaftliche Vergangenheit des Areals. Was bislang kaum erwähnenswert erschien, erfuhr durch die Sichtbarmachung lokaler Besonderheiten im Rahmen von BELLEVUE kollektive Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Die Suche nach Attraktionen und Atmosphären im touristisch bislang kaum erschlossenen Stadtteil stieß bei geübten Kunsttourist:innen, vor allem aber bei der lokalen Bewohner:innenschaft auf Interesse. Zu beobachten war ein „extrem lokales“ Publikum, das zu einer Aneignung führte, „die teilweise fast an Vereinnahmung gegrenzt“ hat, sodass neben der üblichen „Kunst-Karawane“ die Anrainer:innen das Geschehen dominierten.430 Wie sich die spannungsreiche Atmosphäre des leuchtend gelben Hauses in einer unspektakulären städtischen Nachbarschaft quer durch die Publikumsgruppen als signifikantes Übersetzungsmoment herausstellte, so erwies sich auch die Atmosphäre der Vorläufigkeit als produktiv für die Bildung der zeitlich begrenzten Allianzen zwischen den heterogenen Akteur:innen. Die Einrichtung von BELLEVUE als temporäre Inszenierung von drei Monaten war einerseits die Voraussetzung für seine Realisierung an sichtbarer Stelle direkt über der Autobahneinfahrt zum Bindermichl-Tunnel, wie Martin Heller, Intendant von Linz09, betont: „Neuralgische Orte sind durch juristische Vorgaben geschützt, also kommst du an die nicht heran, außer im Zeichen des Ephemeren. Und deswegen ist das Temporäre immer noch ein wichtiger Schutzschild.“431 428 429 430 431
Fattinger et al. (2010c): Oberhalb der Stadtautobahn, 22. Fattinger et al. (2010c): Oberhalb der Stadtautobahn, 22. Fitz (2010): BELLEVUE, 88. Martin Heller im Interview mit Angelika Fitz, in: Fitz (2010): BELLEVUE, 92.
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Andererseits machte gerade das Wissen um die zeitliche Begrenztheit und Fragilität der provisorischen, gelb gefärbten Holzkonstruktion die atmosphärische Besonderheit von BELLEVUE aus. „Ich glaube, man muss das Temporäre wirklich als Möglichkeit sehen, der Gesellschaft das vorzuführen, was sie sonst nicht sehen kann und nicht sehen darf […] – darin liegt ein wesentlicher Teil des Nutzens.“432 Die Atmosphäre der Temporalität erwies sich als Qualität, die Neugierde hervorrief und Akzeptanz des weithin sichtbaren, neuen Gebildes ermöglichte. Auch der Stammgast Alfred Hirsch, den anfänglich die „Hässlichkeit“ des auffälligen „Knallgelbs“ von BELLEVUE zum Besuch motiviert hatte, beschreibt die zeitliche Begrenztheit als besondere Qualität: „Es ist aufgetaucht, war da und wird wieder gehen. Es waren angenehme, schöne drei Monate.“433 Als das besonders Angenehme und Schöne an dieser Zeit führt er die Möglichkeit an, „alleine unter Leuten zu sein“, sowie die zahlreichen Musikveranstaltungen, die ihn „magisch anzogen“. Vor allem aber faszinierte ihn „das Lockere, das Natürliche“ der Stimmung in diesem speziellen Raum: „Jeder kann mit jedem reden und das Programm läuft eigentlich irgendwie von selbst nebenher. Es wirkt nun weiß Gott nicht inszeniert und es ist auch mal der eine oder andere Fauxpas dabei.“434 Auch die Gastkünstlerin Ulli Lust schreibt dem „Haus eine extrem gute Atmosphäre“ zu, mit „netten Leuten“ und „interessanten Gesprächspartnern“.435 Obwohl sie sich während ihres Aufenthalts in BELLEVUE Hitze, Wind und Regen recht ungeschützt ausgesetzt sah, räumliche Enge und soziale Kontrolle empfand, fühlte sie sich „so behütet wie in einem Schiffsrumpf “. „Wenn ich rein theoretisch die ganzen äußeren Faktoren addieren würde, wäre mein Urteil eher nicht so begeistert, weil ich mittlerweile nicht mehr so aufs Campen stehe. Aber wie gesagt, das wurde aufgehoben. Ich finde es ist einfach eine schöne Realitätsblase, in der man sich hier befindet. Das ist so ein bisschen surreal, dieses gelbe Ambiente.“436
Neben Farbe, Form und Nachbarschaft übte auch auf die Künstlerin vor allem das „flüchtige Wesen“ von BELLEVUE als „temporärer Raum, der dann wieder verschwindet“, besondere Faszination aus. Die integrative Atmosphäre des gelben Hauses inmitten eines gewöhnlichen Stadtteils wirkte als Übersetzungsmoment zwischen den Feldern im hierarchisierten sozialen Raum und konnte deren distinktive Wirkmacht kurzfristig außer Kraft setzen. Leuchtendes Gelb, einfache und doch signifikante Form, Aktivierung des touristischen Blicks
432 433 434 435 436
Martin Heller im Interview mit Angelika Fitz, in: Fitz (2010): BELLEVUE, 92. Alfred Hirsch im Interview mit Judith Kästner, in: Kästner (2010b): Mein Gott, 272. Alfred Hirsch im Interview mit Judith Kästner, in: Kästner (2010b): Mein Gott, 270. Ulli Lust im Interview mit Judith Kästner, in: Kästner (2010a): Das ist so ein bisschen surreal, 276. Ulli Lust im Interview mit Judith Kästner, in: Kästner (2010a): Das ist so ein bisschen surreal, 276.
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Arbeit an Atmosphären. Stadträumliche Ein- und Ausschlüsse
in einer peripheren Zone, Temporalität, Sommerstimmung, Parklandschaft, ungewöhnliche Ausblicke auf Stadt und Nachbarschaft, gemeinsames Essen, Trinken, Feiern und Spielen, kurz: die „ungezwungene sommerliche Freiheit der Atmosphäre des gelben Hauses“437 stellte Verbindungen zwischen den Teilnehmenden her, eröffnete wie nebenbei die Möglichkeit der Kommunikation mit Fremden und ermutigte dazu, Praktiken zu erproben, die abseits der alltäglichen Routinen lagen. 4.3.3 Plausible Atmosphärik. Wie das Annenviertel Allianzbildungen fördert438
Abb. 10 Annenviertel. Die Kunst des urbanen Handelns, Graz, 2013. Foto: .
Jede Stadt, so lässt sich mit Gernot Böhme festhalten, ist charakterisiert durch eine schier unüberschaubare Pluralität an Raum-Atmosphären. Diese existieren dabei nie als abgeschlossene Entitäten, vielmehr werden sie kollektiv und prozesshaft hergestellt und – im Gegensatz zur verwandten Kategorie des Images – erst durch leibliche
437 Lang (2010): Workshop Honesty Shop, 168. 438 Überarbeitete Teile dieses Kapitels finden sich publiziert in Laister (2013a): Plausible Bilder.
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Präsenz vor Ort entfaltet. Als plausibel gilt eine stadträumliche Atmosphäre dann, wenn sie von heterogenen städtischen Akteur:innen geteilt wird und als Impuls für sozialen Zusammenhalt – als Übersetzungsmoment – dient. Für diesen performativkonnektiven Prozess bedarf es multipler Vermittlungsmedien wie der Sprache, Bildern oder sinnlicher Kommunikations- und Gestaltungsformen, die sich zur wechselseitigen Verständigung eignen. Als solche atmosphärischen Mittler erweisen sich auch relationale Kunstprojekte wie Adaptive Actions, BELLEVUE oder Keine Denkmale, die an der Herstellung der Pluralität städtischer Atmosphären mitwirken und damit Impulse für soziale Konnektivität setzen. Diesem atmosphärisch plausiblen, stadtgeografisch verankerten und gouvernemental gestützten Übersetzungsmoment, das auch impulsgebend für den Zusammenhalt innerhalb des Projekts Keine Denkmale wirkte, gilt – mit Fokus auf die erfolgreiche, atmosphärisch fundierte Denkfigur „Annenviertel“ – die Aufmerksamkeit dieses Kapitels. Das von Kristina Leko initiierte relationale Kunstprojekt Keine Denkmale. Zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung (2011–2013) wurde im Umfeld des mehrjährigen EU-Projekts Annenviertel! Die Kunst des urbanen Handelns (2009–2011) und zeitgleich mit dem großangelegten Umbau der Grazer Annenstraße (2009–2013) realisiert. Projektträger war das Zentrum für zeitgenössische Kunst , das seit dem Jahr 2000 in der ehemaligen Murvorstadt439 (seit 2007 in der Volksgartenstraße, einer Querstraße zur Annenstraße) ansässig ist und „kontinuierlich […] kommunikative Kunst- und Kulturprojekte […] für den öffentlichen und sozialen Raum der Nachbarschaft“440 entwickelt. Diese Nachbarschaft, die sich stadtgeografisch nördlich und südlich der zentralen Verkehrsachse Annenstraße ausdehnt, umfasst die historischen Arbeiter:innenund Einwandererbezirke Lend und Gries, wobei der Kunstverein „während der Projektvorbereitungen […] etwas Verbindendes entlang der Bezirksgrenze Annenstraße“ suchte. „Und dann war plötzlich der Begriff Annenviertel da, eine Wortschöpfung, die einen städtischen Raum rund um die zentrale Achse skizziert. Wir haben den Begriff als Denkfigur konzipiert, als einen offenen Rahmen, innerhalb dessen konkrete Projekte realisierbar werden, aber auch abstrakte Überlegungen und kritische Diskurse stattfinden können. Das von ausgedachte Annenviertel […] ist räumlich bewusst nicht eindeutig definiert. Wo es beginnt und wo es aufhört wird nicht ausgeführt, es bleibt zunächst Fiktion.“441
439 „Murvorstadt“ ist die historische Bezeichnung für die Grazer Bezirke Gries und Lend, die sich, westlich der Mur, als Gegenüber der historischen Innenstadt auf der anderen Seite des Flusses entwickelten. 440 Makovec und Lederer (2014): Nachbarschaft und Empowerment, 23. 441 Makovec und Lederer (2014): Nachbarschaft und Empowerment, 25.
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Arbeit an Atmosphären. Stadträumliche Ein- und Ausschlüsse
Die geografische und konzeptuelle Offenheit der Denkfigur Annenviertel gründet für die Projektleiter:innen Margarethe Makovec und Anton Lederer in der Charakteristik dieses urbanen Gebiets als „internationalste[m] Teil der Stadt Graz“, der sich auszeichnet durch eine konstante Durchlässigkeit „für Einflüsse von außen, vor allem für die Einwanderung in die Stadt“, durch die historische „Präsenz der ArbeiterInnen bzw. deren Organisationen“ sowie durch die Ansässigkeit „von eher einkommensschwachen Bevölkerungsschichten“.442 Nachdem den Neologismus Annenviertel im Jahr 2009 in verschiedenen Veranstaltungen öffentlich gemacht hatte, dauerte es „nur zwei oder drei Monate, bis die Stadtbaudirektion um Genehmigung zur Verwendung des Begriffs“ anfragte. Durch die offizielle Verwendung und mediale Verbreitung erfuhr der Begriff in kurzer Zeit eine große Reichweite und Beliebtheit bei der Bevölkerung. „Es dauert nicht lange, da bietet ein erstes Café ‚Frühstück im Annenviertel‘ an, dann entdecken auch Immobilienentwickler das ‚Wohnen im Annenviertel‘ als Marke. Nicht alle Verwendungen finden in einer Weise statt, die unseren Intentionen entsprechen – der Begriff hat sich selbstständig gemacht. Es war zu erwarten, dass das geschehen würde, aber keinesfalls sicher, und vor allem nicht, dass das Annenviertel so rasch in den Alltagsgebrauch Eingang finden würde.“443
Die Denkfigur Annenviertel basiert auf der spezifischen Atmosphäre eines Stadtteils, die sie gleichzeitig mit herstellt und räumlich konkretisiert. Auch das Projekt Keine Denkmale arbeitete mit und an der Atmosphäre des Annenviertels, geprägt von Narrativen der Buntheit und Offenheit, der Kreativität und Widerständigkeit, und förderte die Bildung von Allianzen zwischen den heterogenen Teilen der künstlerisch initiierten Akteurswelt. In Analogie zu Rolf Lindners Überlegungen zum Image einer Stadt lässt sich die Herstellung urbaner Atmosphären vor allem dann als überzeugend, vielfach geteilt und damit kollektivierend – das heißt als plausibel – bezeichnen, wenn Letztere in Relation zum Sinn-Ganzen einer Stadt, dem imaginaire, stehen. Städte, so Lindner in seinem Aufsatz Textur, imaginaire, Habitus, sind „individuelle Gebilde […], mit einer eigenen Biografie (sprich: Geschichte), einer eigenen Sinnesart (state of mind) und ihr eigenen Mustern der Lebensführung“.444 Als „narrative Räume“ sind ihnen „bestimmte Geschichten (von bedeutenden Personen und wichtigen Ereignissen), Mythen (von Helden und Schurken) und Parabeln (Tugenden und Laster) eingeschrieben. […] In ihrem Gesamt bilden die historisch gesättigten Vorstellungen das Imaginäre
442 Makovec und Lederer (2014): Nachbarschaft und Empowerment, 29. 443 Makovec und Lederer (2014): Nachbarschaft und Empowerment, 29. 444 Lindner (2008): Textur, imaginaire, Habitus, 83.
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der Stadt.“445 Das Imaginäre beschreibt Lindner mit Verweis auf Autoren wie Pierre Sansot, Émile Durkheim oder Noam Chomsky als niemals einer Sache dienend, als „verborgene Schicht der Realität“, als „kollektive Vorstellungen“, „latente Dispositive“ oder „städtische Tiefengrammatik“. Diese „poetisch-bildhafte Art und Weise“ des Verhältnisses zur Realität stellt Lindner in Kontrast zur Logik des Images, das er als „geplant und gestaltet“, „der politischen Ideologie verwandt“ und somit als „entwicklungsrelevantes Steuerungsinstrument“ von ökonomischen Interessen beschreibt. Ob diese gemachten, gouvernemental zunehmend an Bedeutung gewinnenden Images erfolgreich sind, hängt ab von ihrer Verknüpfung mit dem Imaginären einer Stadt. „Alle Strategien der Inszenierung, Repräsentation und Rekodierung haben sich, so meine These, an den Kriterien der Plausibilität, das heißt der Vorstellbarkeit und Glaubwürdigkeit von ‚Aussagen‘ zu orientieren, die mit dem Imaginären verbunden sind.“446
Auch Alexa Färber bezeichnet mit Verweis auf Lindner „Urbanes Imagineering“447 als „zentralen Gegenstand der Stadtpolitik“ in der postindustriellen Stadt, wobei sie nachdrücklich betont, dass in diesem „ausdifferenzierten Praxisfeld zunehmend professionalisierte Akteursgruppen aktiv beteiligt sind“. Um Erfolg zu haben, das heißt mit Färber, um „nach außen erfolgreich oder […] nach innen plausibel“ zu sein, „müssen diese Images das Spezifische der jeweiligen Stadt vergegenwärtigen, eben jenen ‚kulturellen Charakter‘, der Paris von London, New York oder Tokyo unterscheidet“: „Mit Blick auf urbanes Imagineering bedeutet dies, daß ein gezielt eingesetztes Bild der Stadt sich nur dann als plausibel und damit auch erfolgreich erweist, wenn es mit dem Imaginären der Stadt korrespondiert.“448
Fasst man stadträumliche Atmosphären als dem Image verwandte, zunehmend gezielt für kommerzielle und gouvernementale Zwecke erzeugte, allerdings an leibliche Präsenz in der physisch-realen Welt gebundene Erfahrungsräume, stellt sich auch die Frage nach deren Plausibilität als Frage nach deren Relationalität zum Imaginären der Stadt oder, um mit Elisabeth Katschnig-Fasch zu sprechen: zur „Eigenart der Stadt“, ihrem
445 Lindner (2008): Textur, imaginaire, Habitus, 86. 446 Lindner (2008): Textur, imaginaire, Habitus, 87. 447 Der Kulturwissenschaftler und Journalist Tom Holert verwendet den Begriff „Imagineering“ in Anlehnung an die Disney’schen Imagineers zur „Beschreibung der Bildprozesse in der gegenwärtigen visuellen Kultur. Imagineering betont die Gemachtheit der Bilder, die das Produkt technischer Planung und gestalterischer Kompetenzen sind.“; Holert (2000): Imagineering, 9. Zum professionellen Imagineering urbaner Atmosphären vgl. auch Laister (2004): Imagineering Linz; Laister (2005b): Blendend! 448 Färber (2008): Urbanes Imagineering, 279 f.
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Arbeit an Atmosphären. Stadträumliche Ein- und Ausschlüsse
„ganz spezifischen Habitus“449 . Diese Eigenart, so Katschnig-Fasch, bestimmt ganz maßgeblich, „wie Menschen leben, welche Alternativen sich ihnen bieten, welche sie nutzen“450 . Mit Verweis auf Werner Schiffauers (1994) Theorie einer Logik von kulturellen Strömungen in Großstädten beschreibt Katschnig-Fasch städtische Eigenart als Produkt eines permanenten „symbolischen Kampfes“, der sich aus einer Überlagerung der horizontalen Bewegung von Kommunikation und Netzwerkbildung mit den vertikalen Bewegungen der Hierarchiebildung und Distinktion zwischen verschiedenen städtischen Gruppen ergibt. „Jede Stadt hat ihre Besonderheit in ihrem Flair, in ihrem Aussehen, ihren ganz spezifischen Habitus als ein sich stets veränderndes Mosaik ihrer Kulturen, als eine Summe all jener differenten Lebensstile, die sie in sich birgt und die ihr den besonderen Charakter verleihen – als Ergebnis ihrer verschiedenen kulturellen Geschwindigkeiten in ihren Lebensrhythmen.“451
Fragt man nach der Plausibilität der Atmosphäre des Annenviertels als starkem Übersetzungsmoment, so gründet diese in ihrer Anschlussfähigkeit an den Habitus der Stadt Graz. Dabei lassen sich zumindest drei gewichtige latente Dispositive herausschälen, die zwischen der Atmosphäre des Annenviertels und der städtischen Tiefengrammatik von Graz vermitteln. Sie sollen hier komprimiert mit den drei Kurzformeln (1) Residenzstadt, (2) Bürger(beteiligungshaupt)stadt und (3) geteilte Stadt benannt werden. Mit Bezug auf die historische Bedeutung von Graz als kaiserliche Residenzstadt sowie ihre geografische Lage zwischen zwei Sprachräumen verweist Katschnig-Fasch zunächst auf die wechselhafte, widersprüchliche Positionierung der Stadt im politischen Gefüge Europas, die bis heute ihre charakteristische Ausprägung bestimmt. „Den Glanz ihrer Vergangenheit hat die Stadt ohne Hinterland am äußersten Rande Mitteleuropas nie vergessen. So ist sie einem Mythos verpflichtet geblieben. Traditionell und avantgardistisch zugleich, bürgerlich-bürokratisch und experimentell, das sind ihre Charakteristiken: jedenfalls eine altösterreichische Stadt, die ihr historisches Gewicht auch in ihren gegenwärtigen Versuchen, den Anschluss an die urbane Internationalität nicht zu versäumen, selten verleugnen kann […].“452
Darin gründet für Katschnig-Fasch die Grazer Spezifik einer „konflikthaften Ungleichzeitigkeit“, die sich immer wieder im Kampf zwischen der bürgerlichen Beharrungskraft
449 450 451 452
Katschnig-Fasch (1998): Möblierter Sinn, 94. Katschnig-Fasch (1998): Möblierter Sinn, 85. Katschnig-Fasch (1998): Möblierter Sinn, 87 f. Katschnig-Fasch (1998): Möblierter Sinn, 94.
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einer traditionellen Beamtenstadt und jenen (oftmals ebenfalls bürgerlich sozialisierten) Akteur:innen manifestierte, „die über die Zwänge der symbolischen Ordnung von Graz hinausgehen und ihre Wahrheit radikal infragestellen“453 . Das bürgerliche Beharrungspotenzial, das sich in der „Abwehr jeglicher Modernität“ und „einer regelrechten Abschottung nach außen“ zeigte, verhinderte „lange jede Öffnung in die Internationalität“. Erst im Geiste der 1968er-Generation konnten – auch das eine Grazer Spezifik – die „linksintellektuellen Nachkommen der wertkonservativen Bildungsbürgerschaft […] den Traditionalismus stören und mit neuen Ideen den politischen Stil dieser Stadt bewegen“454 . Seit den 1960er-Jahren und in den 1970er- und 1980er-Jahren entwickelte sich Graz „zu einem regelrechten Biotop avantgardistischer Literatur und Architektur“. In Verbindung mit diesen symbolischen Kämpfen gegen die konservativen Kräfte wurden international viel beachtete Ansätze einer „menschengerechten Stadtentwicklung“ erarbeitet, die sich gegen die Vorherrschaft von Ökonomie und Autoverkehr stellten. Der Ruf nach einer menschlicheren Stadt, Bürger:inneninitiativen, Beteiligungsprojekte sowie Initiativen zur umweltverträglichen Verkehrspolitik, gegen Spekulationsbauten und für die Altstadterhaltung prägten bis in die 1980er-Jahre politische Entscheidungsfindungen. Unter dem Schlagwort Bürger:innen(beteiligungshaupt)stadt schrieben sie sich nachdrücklich in die gouvernementale und physische Struktur von Graz ein. Wenngleich Katschnig-Fasch vor allem seit den 1980ern parallel zum Aufstieg einer marktorientierten Logik den Niedergang dieser kritischen Haltungen und Handlungen konstatiert, haben sie sich in das Gedächtnis der Stadt eingeschrieben und wirken nicht nur in institutionalisierter Form (Referat für Bürger:innenbeteiligung, Beirat für Bürger:innenbeteiligung, Zeit für Graz usw.), sondern auch als Bezugsrahmen für partizipative Projekte bottom up, wie etwa vom Kunstverein immer wieder initiiert. Historisch ebenfalls weit zurückreichend und fest im Imaginären von Graz verankert, ist die Trennung der Stadt „in zwei soziale Hälften“, die geografisch links („konservativbürgerliche Hälfte“) und rechts („rote Hälfte“) der Mur verortet sind. Zwar sind viele Städte durch einen trennenden Fluss auch sozialräumlich geteilt, in Graz jedoch bestimmen diese konträren Lebenswelten „noch heute das kulturelle und soziale Gefüge dieser Stadt“.455 Die ungleiche Bewertung der beiden Stadthälften zeigt sich nicht zuletzt in deren physischer und symbolischer Prägung, wobei Katschnig-Fasch das Phänomen beschreibt, dass gerade die Atmosphärik der ehemaligen Murvorstadt „seit den 80ern wiederum einen besonderen Reiz“ auf bestimmte soziale Milieus ausübt.
453 Katschnig-Fasch (1999): Im Wirbel, 17. 454 Katschnig-Fasch (2003): Das ganz alltägliche Elend, 12 f. 455 Katschnig-Fasch (2003): Das ganz alltägliche Elend, 14.
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Arbeit an Atmosphären. Stadträumliche Ein- und Ausschlüsse
„Man zieht in diese Viertel, weil man eben hier noch ein Leben zu spüren glaubt […]. Man spricht von der Buntheit der Viertel und ist von der Spontaneität fasziniert. ‚Hier riecht man das Leben noch.‘, wie sich einer ausdrückte, der eben erst, wie in den letzten Jahren viele andere auch, Künstler und junge Intellektuelle vorwiegend, in die Vorstadt Lend gezogen war.“456
Wenngleich seit der Jahrtausendwende massive städtebauliche Eingriffe zur ökonomischen und symbolischen Aufwertung des rechten Murufers vorgenommen wurden, ist die Vorstellung von Graz als geteilte Stadt zentraler Teil der städtischen Tiefengrammatik. Die drei hier kurz umrissenen dominanten Dispositive der Stadt Graz – als Residenzstadt, als Bürger:innen(beteiligungshaupt)stadt und als geteilte Stadt – stehen in mehrfacher Beziehung zur Plausibilität der Atmosphäre des Annenviertels. In Bezug auf das Dispositiv Residenzsstadt erweist sich die statistische Tatsache als konnektiv, dass der Name der Kaisers-Gattin Anna, nach der das Annenviertel benannt ist, bis heute der dritthäufigste – bei Neugeborenen der häufigste – Vorname der Grazerinnen ist. Darüber hinaus haben sich die katholisch-aristokratischen Anteile der städtischen Tiefenstruktur auch in das physische Bild und das Selbstverständnis von Graz deutlich sichtbar eingeschrieben und stellen einen wesentlichen touristischen Faktor dar.457 Mit der Bürger:innen(beteiligungshaupt)stadt als zweitem Anker für die Plausibilität des Übersetzungsmoments Annenviertel lässt sich anführen, dass sich bürgerschaftliches Engagement spätestens in den 1970er- und 1980er-Jahren nachdrücklich in die Tiefengrammatik der Stadt Graz eingeschrieben und ihr den Ruf als „Bürgerbeteiligungshauptstadt“ eingebracht hat. In den Transformationsprozessen rund um die Annenstraße förderte diese Eigenart der Stadt insofern Allianzbildungen, als sich seit der Problematisierung der Annenstraße in den 1980er-Jahren einerseits jene Bürger:innen engagierten, denen ein Aufleben der ehemaligen Pracht- und Promeniermeile von besonderer Bedeutung war (siehe dazu: Annenstraße als Leitprojekt der kommunal verankerten Initiative „Zeit für Graz“ oder das „Projekt Annenstraße neu“). Gleichzeitig wurde jene Generation aktiv, die unter Kritik der kapitalistisch-modernistischen Prinzipien vor allem Interesse an der Lösung sozialer und ökologischer Problemlagen zeigte. Während Erstere die konservativ-bürgerliche Spezifik der Stadt repräsentierten und
456 Katschnig-Fasch (1999): Im Wirbel, 23. 457 Die Annenstraße bildet die direkte Verbindungsachse zwischen der Grazer Altstadt (UNESCO Weltkulturerbe) und dem Schloss Eggenberg im Westen der Stadt. 2010 wurde auch das Schloss Eggenberg zum UNESCO Weltkulturerbe ernannt, was seinen touristischen Stellenwert und somit auch die Sichtbarkeit der Annenstraße als Wegstrecke zwischen den UNESCO-Kulturerbe-Trägern erhöht. Dass in der einstigen Residenzstadt Graz das habsburgisch-katholische Erbe als Symbolträger noch immer höchst wirksam ist, zeigt zudem die 2009 erfolgte Umbenennung der Grazer Hauptbrücke in „Erzherzog Johann Brücke“ anlässlich des 150. Todestages des steirischen Prinzen.
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reproduzierten, verkörperten Letztere die von Katschnig-Fasch beschriebene Eigenart von Graz „als bürgerlich-konservativ und avantgardistisch zugleich“. Die Orientierung des Kunstzentrums an den Prinzipien des Widerstands gegen herrschende Strukturen bei gleichzeitiger Verfolgung des bürgerlichen Prinzips, konstruktiv Verantwortung bei der Gestaltung des sozialen und physischen Stadtraums zu übernehmen, spiegelt die Grazer Eigenart als Stadt der Gegensätze wider.458 Darüber hinaus stellt allein der Begriff des „Viertels“ die Möglichkeit von Beteiligung in Aussicht und macht ein klares Angebot zur Identifikation. Er konnotiert Zugehörigkeit und Teilhabe an einem kohärenten Ganzen, verweist symbolisch auf ein „solidarisches Wir“ und suggeriert jenseits sozialer Differenzen ein Gefühl von Gemeinschaft und Nachbarschaftlichkeit. Zudem entfaltet das Annenviertel sein atmosphärisches Übersetzungsmoment, indem es auf die Eigenart von Graz als durch den Fluss Mur sowohl geografisch als auch sozialräumlich geteilte Stadt referenziert. Im Zuge der Etablierung der Bezeichnung, unter Aktivierung seiner atmosphärischen Dimensionen, wurde nachdrücklich auf die Spezifik der ehemaligen Murvorstadt als „andere“ Seite der Stadt, als Stadtteil der Zuwanderung, der Arbeit und Armut verwiesen. Eine plausible Atmosphäre verdankt mit Lindner und Färber ihren Erfolg der multiplen Bezugnahme auf das Imaginäre der Stadt. Am Beispiel der konnektiven Wirkung des atmosphärisch grundierten Sprachbildes Annenviertel bestätigt sich diese Aussage. Gleichzeitig, so lässt sich das Konzept der beiden Stadtforscher:innen kritisch zuspitzen, zeigt sich deutlich, dass das Imaginäre selbst nicht außerhalb der hierarchisierten Logik des sozialen Raums liegt, sondern Produkt derselben ist. Elisabeth Katschnig-Fasch hebt diesen Aspekt in ihren Überlegungen zum Habitus der Stadt insofern hervor, als sie städtische Eigenart als Resultat eines symbolischen Kampfes beschreibt, den unterschiedliche urbane Gruppen in Form von permanenten Zuordnungs- und Abgrenzungsprozessen führen. Die besten Chancen auf Plausibilität haben demnach solche Atmosphären, die – wie jene des Annenviertels – an dominant positionierte Schichten des hierarchisierten Imaginären anschließen und durch Rückgriff auf diese die jeweils herrschenden Politiken der Sichtbarkeit stärken.459
458 Ein weiteres Beispiel sind die Feierlichkeiten zum 100. Todestag Erzherzog Johanns im Jahr 1959, in deren Rahmen ebenfalls ein historischer Akt von ambivalenter Symbolik stattfand: Das Forum Stadtpark wurde von Künstler:innen der „Jungen Gruppe“ gegründet, kurz darauf das Avantgardefestival steirischer herbst. Gestützt wurde es von einer bürgerlich-konservativen Kulturpolitik unter der „Schirmherrschaft“ des Erzherzogs, wie es Hanns Koren, Volkskundler und damaliger Landeskulturrat der Steiermark formulierte. Stadtspezifisch für Graz sind dabei die initialen Allianzen zwischen zeitgenössischer Kunst und bürgerlich-konservativer Politik, wie sie auch im Kontext des Projekts Annenviertel deutlich werden. Laister (2005a): Städtische Störzonen, 41 ff. 459 Laister (2004): Imagineering, 25.
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Arbeit an Atmosphären. Stadträumliche Ein- und Ausschlüsse
Die Atmosphäre des Annenviertels verdankt ihre Plausibilität dem synergetischen Zusammenwirken aktueller und historischer Gouvernementalität, was sie für Akteur:innen affirmativer wie kritischer Bildproduktion – vom Stadtbaudirektor bis zur Stadtaktivist:in – gleichzeitig suspekt und strategisch interessant macht. Als entscheidendes Übersetzungsmoment in diesem Prozess der Allianzbildung zwischen heterogenen städtischen Akteursgruppen erwies sich allerdings nicht nur die dichte Verknüpfung der stadträumlichen Atmosphärik mit dem Imaginären der Stadt, sondern auch die performative Konzeption des Annenviertels. Das Konzept Annenviertel zirkulierte nicht nur als Denkfigur und Sprachbild, sondern es aktivierte verschiedene Praxisformen im real-physischen, geografisch definierten Stadtraum, die Stimmungslagen transportierten und sozial integrativ wirken wollten. Zu Beginn der Implementierung des Begriffs Annenviertel und seiner spezifischen Atmosphäre konnte man etwa ein „Annenvierterl“ in Form einer Sonderedition steirischen Weins käuflich erwerben und trinken. Das Annenviertel begegnete als nostalgischer Schriftzug auf Rechnungsblöcken in Gasthäusern, es begegnete als bunter Aufdruck auf einem markanten Lastenfahrrad oder tauchte an Hausmauern als legale Wandmalerei im Graffiti-Stil auf. Im Rahmen von Annenviertel-Spaziergängen konnte das Gebiet stadträumlich erkundet werden, es wurde zum Schauplatz des neu eingerichteten Annenviertel-Flohmarkts und zirkulierte als Aufdruck auf pinkfarbenen Einkaufstaschen. Unter Rückgriff auf ein historisches Foto, das die englische Queen Elizabeth II zeigt, wie sie im Cabriolet winkend durch die Annenstraße chauffiert wird, wurde eine Postkarten-Edition aufgelegt, mit der „Viele Grüße aus dem Annenviertel!“ verschickt werden konnten. Weiters fanden im Rahmen verschiedener, von der Stadtbaudirektion initiierter oder geförderter Veranstaltungen Annenviertel-Treffen mit Kindern oder Annenviertel-Diskussionen mit empörten oder engagierten Bürger:innen statt. Einen Höhepunkt der Produktion einer plausiblen Annenviertel-Atmosphäre mit stadtweiter Beachtung bildete eine von kuratierte Ausstellung im GrazMuseum, die das Viertel, seine Bewohner:innen und Besonderheiten im gouvernementalen Rahmen des offiziellen Stadtmuseums repräsentierte. In diesem Kontext der multisensual angelegten Produktion einer spezifischen Annenviertel-Atmosphäre ist auch Kristina Lekos Projekt Keine Denkmale angesiedelt. Die künstlerisch initiierte Akteurswelt erfuhr sowohl durch seine inhaltlichen Bezüge zur Tiefengrammatik der Stadt Graz als auch durch die plausible Atmosphäre des Schauplatzes Annenviertel konnektive Impulse. Gleichzeitig gelang der Initiative eine nachhaltige Sichtbarmachung jener Akteur:innen, denen trotz ihrer Produktivität und Präsenz bislang keine Denkmale im öffentlichen Raum des Annenviertels gesetzt worden waren: den Arbeiter:innen und Einwander:innen, physisch-real im Zuge der biografischen Befragungen sowie symbolisch in Form von bild-textlichen Narrativen.
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Geteilte Sprech- und Bildakte. Verbale und visuelle Konnektivitäten
Relationale Kunst – mit Nicolas Bourriaud „artworks on the basis of the inter-human relations which they represent, produce or prompt“460 – basiert auf einer handlungstheoretischen Konzeption künstlerischer Bildproduktion. Diese fasst Artefakte nicht als in sich geschlossene Objekte, sondern als aktive Teile – als secondary agents461 – einer künstlerischen Praxis, die Beziehungen zu anderen Akteuren (menschlichen wie nicht-menschlichen) eingehen und unmittelbar gestaltend in die soziale Wirklichkeit eingreifen: „Making a work involves the invention of a process of presentation. In this kind of process, the image is an act.“462 Wie Bourriaud entwickelt auch der Kunsthistoriker Horst Bredekamp463 in seiner Theorie des „Bildakts“ eine „verlebendigte“ Konzeption visueller Darstellungen. In Anknüpfung an Henri Lefebvres Überlegungen zur „Eigentätigkeit der Bilder und Artefakte“, die dieser mit Bezug auf Karl Marx’ Überlegungen zum Fetischcharakter der Ware in der Formel „L’image est acte“464 bündelte, widmet sich Bredekamp der Geschichte und Konzeption des Begriffs „Bildakt“ in verschiedenen wissenschaftlichen Feldern. Im Zentrum steht für ihn die Frage, „ob den Bildern eine autonome Aktivität zugesprochen werden kann oder ob sie erst durch die handlungsstiftenden Aktivitäten der Benutzer zum Bildakt veranlaßt werden“465 . Bredekamp bezieht sich dabei auf einen „weitergefaßten Begriff des Anthropos […], als es eine okularzentristische, auf das Subjekt bezogene Moderne gestattet hat“466 . Er studiert Bilder mit Blick auf ihre soziale Wirkmacht und untersucht produktive „Bündnisse des Bildes mit der Sprache und dem Körper“467 im Sinne einer „‚sprechenden‘ Lebendigkeit des Kunstwerks“468 . Mit der Einschätzung, dass das Bild „den Gestalter und Betrachter mit eigener Physis“ konfrontiert oder gar manipuliert, reagiert der Autor nicht zuletzt auf die „zunehmende Visualität der gegenwärtigen telemedialen Kulturformen“469 . Aufgrund der „hypostasierten Bilderfluten“, der „Myriaden von Bildern, die Tag für Tag über die Mobiltelefone, die Fernsehkanäle, das Internet und die Printmedien um die Erde schießen“,470 bedürfen Sprache und Körper als unabdingbare „Verbündete“ des Bildes einer besonderen Aufmerksamkeit. Wenngleich auch frühere Epochen von Bilderflut, Mediokratie und Ikonoklasmus 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470
Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 112. Gell (1998): Art and Agency. Vgl. hier Kapitel 3.1.2 (Akteure, Allianzen, Gouvernementalität). Bourriaud (1998/2002): Relational Aesthetics, 111. Bredekamp (2010/2015): Der Bildakt. Lefebvre (1947/1974): Kritik des Alltagslebens, 290. Bredekamp (2010/2015): Der Bildakt, 57. Bredekamp (2010/2015): Der Bildakt, 10. Bredekamp (2010/2015): Der Bildakt, 17. Bredekamp (2010/2015): Der Bildakt, 19. Bredekamp (2010/2015): Der Bildakt, 17. Bredekamp (2010/2015): Der Bildakt, 23.
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geprägt waren, Bilder als naturwissenschaftliches Darstellungsinstrument und Analysemittel dienten, als Waffen in kriegerischen Auseinandersetzungen gebraucht oder bildwirtschaftlich verwertet wurden, so verlangt die aktuelle Omnipräsenz des Bildes als Begriff und Phänomen nach einer vertieften Reflexion über den Status der Bilder. „Die Medien, die Politik, der Krieg, die Wissenschaften und das Recht – in all diesen Bereichen hat sich in den letzten Jahrzehnten die Entwicklung vollzogen, daß Bilder, die zuvor als geschätzte und geförderte, aber auch kritisierte und bisweilen verbotene Sekundärphänomene galten, nun als Elemente der Primärzone des gestalteten Lebens erfahren und behandelt werden.“471
Mit dem Begriff des Bildakts, der in Anknüpfung an John L. Austins SprechaktTheorie472 aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven konzeptualisiert und eingesetzt wurde,473 wendet sich Bredekamp diesem forcierten „Prozeß der bildlichen Ausstattung von Primärzonen des gemeinschaftlichen Lebens“ zu. Das Verhältnis des Konzepts des Bildakts zu dem des Sprechakts bewertet der Kunsthistoriker als sowohl produktiv als auch problematisch. Produktiv ist, in Analogie zu Austin, die Betrachtung des performativen Aspekts von Bildern, vermögen sie doch – wie gesprochene Sätze – „unhintergehbare Fakten“ zu schaffen. Als problematisch erweist sich der konzeptuelle Versuch, „die Wörter als Instrumente des Sprechakts gegen Bilder einzutauschen oder beide in ihren Wirkungen miteinander zu verkoppeln.“ „Der ‚Sprechakt‘ bezieht sich auf das als Kontinuum entfaltete Sprechen, nicht aber auf das einzelne Wort, das dem Bild in seiner inneren Konsistenz entsprechen würde. In Analogie zu einem so definierten ‚Bildakt‘ müßte daher von einem ‚Wortakt‘ gesprochen werden“.474
Unter Berücksichtigung dieser begriffslogischen Unstimmigkeiten setzt Bredekamp „das ‚Bild‘ nicht an die Stelle der Wörter, sondern an die des Sprechenden.“475 Er verlagert damit den „Impetus in die Außenwelt der Artefakte“, die „im Wechselspiel mit dem Betrachter von sich aus eine eigene, aktive Rolle“476 spielen. Dem Bild kommt damit eine „aktive Qualität“ zu, es wird zum Akteur, der „bei Betrachtung oder Berührung aus der Latenz in die Außenwirkung des Fühlens, Denkens und Handelns“477 springt.
471 Bredekamp (2010/2015): Der Bildakt, 25. 472 Austin (1955/1986): How to Do Things with Words. 473 Vgl. z. B. Bakewell (1998): Image Acts; Sachs-Hombach (2003): Das Bild; Seja (2009): Handlungstheorien; Kjörup (1978): Pictorial Speech Acts. 474 Bredekamp (2010/2015): Der Bildakt, 58. 475 Bredekamp (2010/2015): Der Bildakt, 59. 476 Bredekamp (2010/2015): Der Bildakt, 59. 477 Bredekamp (2010/2015): Der Bildakt, 60.
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Konzipiert und verwendet der Kunsthistoriker Bredekamp den Begriff Bildakt für die Analyse historischer wie zeitgenössischer Kunstwerke klassischer Prägung (Malerei, Skulptur, Fotografie, Video), so markiert die Anthropologin Liza Bakewell mit dem Terminus „Image Acts“ alle „humanmade images […] from body gestures to ‚great works of art‘ and everything in between“. Unter Bezugnahme auf Austin versteht sie ein Bild zumindest teilweise als „its own referent. Thus it is an authentic, original document, a presentation rather than a re-presentation.“478 Wenn Bakewell Bilder als Handlungen („images as actions“) definiert, so stellt sie deren Wirkung einerseits in eine unabdingbare Wechselbeziehung mit Sprache und deren sozialen Effekten. Andererseits weist sie hin auf die „crucial role images play in human cognition and social interaction“.479 Wie Liza Bakewell betrachtet auch der Anthropologe Alfred Gell Bilder als zentrale Akteure sozialer Kommunikation und Interaktion. Wenngleich er weder den Begriff des Bildakts verwendet noch auf Austins Sprechakt-Theorie Bezug nimmt, spricht er in seiner Schrift Art and Agency. An anthropological theory480 Bildern und Artefakten Handlungsmacht sowie das Potenzial der Produktion sozialer Konnektivität zu. Gleichzeitig geht er nachdrücklich auf Distanz zu jeglicher Idee einer „language of art“ oder einer „separate ‚visual‘ language“. „In place of symbolic communication, I place all the emphasis on agency, intention, causation, result, and transformation. I view art as a system of action, intended to change the world rather than encode symbolic propositions about it. The ‚action‘-centred approach to art is inherently more anthropological than the semiotic approach because it is pre-occupied with the practical mediatory role of art objects in the social process, rather than with the interpretation of objects ‚as if ‘ they were texts.“481
Dieser relationale Ansatz, der Bildern und Artefakten den Status von Sekundärakteuren bei der Herstellung sozialer Beziehungsgefüge zuschreibt, stellt für Gell das Charakteristische einer anthropologischen Kunsttheorie dar. „My view is that in so far as anthropology has a specific subject-matter at all, that subject-matter is ‚social relationships‘ – relationships between participants in social systems of various kinds.“482 Insofern lässt sich eine anthropologische Theorie der Kunst definieren als Auseinandersetzung mit „social relations in the vicinity of objects mediating social agency“483 . Wenngleich Gell auch Institutionen untersucht, die den Kontext für die Produktion und
478 479 480 481 482 483
Bakewell (1998): Image Acts, 22. Bakewell (1998): Image Acts, 26. Gell (1998): Art and Agency. Gell (1998): Art and Agency, 6. Gell (1998): Art and Agency, 4. Gell (1998): Art and Agency, 7.
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Zirkulation von Kunst bilden (Museen, Kunstkritik, Kunstakademien, Kunstförderung usw.), so steht im Zentrum seines kunstanthropologischen Interesses „the network of relationships surrounding particular artworks in specific interactive settings“.484 Auch Klaus Schönberger konzipiert im Rahmen einer relational perspektivierten Kulturanalyse als Gesellschaftsanalyse – unter Bezugnahme auf Selfies – Artefakte und Bilder sowie „die mit ihnen verbundenen Praktiken als Ausdruck und Katalysator von sozialen Beziehungen“. Dabei untersucht er das Zusammenspiel „von ökonomischen Bedingungen, Technik, Medienforschung und Alltagspraktiken“ und fragt nach deren Beitrag, „soziale Kontexte zu per-formieren“. Aus dieser kulturanalytischen Sichtweise lassen sich Bildproduktionen wie Selfies entlang von „Fragen nach dem Doing Gender, nach hegemonialen Geschlechterbildern, sozialer Teilhabe, Inklusion wie Exklusion, kulturellem Kapital oder Macht“ beforschen.485 Bilder fungierten sowohl bei Adaptive Actions als auch bei BELLEVUE und Keine Denkmale als Sekundärakteure, die Übersetzungsmomente im Sinne von Konnektivitäten zwischen den unterschiedlichen Akteuren herzustellen oder in Frage zu stellen vermochten. Sie motivierten die Teilnehmenden zum Mitmachen oder Dabeibleiben, bewegten sie zu Kritik oder veranlassten sie zum Ausstieg. Neben dem verfügbaren Kapital, den Versprechen der Teilhabe an einem sozialen Beziehungsgefüge und den Atmosphären der Schauplätze, deren sensuelle Spezifik die Übersetzungsqualität zwischen den Teilnehmenden prägte, waren es auch die im Projektverlauf produzierten und distribuierten Bilder, die Konnektivität zwischen den heterogenen Teilen der künstlerisch initiierten Akteurswelten herstellten oder Konflikte produzierten. Als wesentliche Übersetzungsmomente fungierten etwa Video- und Fotoaufnahmen, die in verschiedenen physisch-realen und virtuellen Sphären zirkulierten, ebenso wie historische Bildwelten, partizipative visuelle Ansätze wie kollektives Zeichnen und Werken, die interaktive Produktion einer Ausstellung oder die Installation von Denkmalen im öffentlichen Raum. Bilder wirkten als Akteure, die kollektivierende Prozesse stützten und Tätigkeiten im Sinne von „creative activities to transform the urban fabric“ anregten. 4.4.1 Collective Imaginations. Urbane Praktiken und visuelle Repräsentation Bilder und deren Wahrnehmung wirken in Jean-François Prosts Adaptive Actions in verschiedenartiger Weise als signifikante Übersetzungsmomente zwischen den heterogenen Teilen der künstlerisch initiierten Akteurswelt. In den Jahren 2007–2008 dienten als bildförmige secondary agents: ein kollektiver Perimeter Walk mit Fokus auf visuelle Raumwahrnehmung samt fotografischer Bilddokumentation und narrativem Austausch darüber; eine virtuelle Plattform zum Upload von visuellen Repräsentationen
484 Gell (1998): Art and Agency, 8. 485 Schönberger (2018): Kultur, 13.
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verschiedener Adaptive Actions, auf der bis heute Bilder von weiteren Adaptive Actions hochgeladen werden können; ein gedruckter, bebilderter Katalog sowie eine filmische Dokumentation der Aktionen in London. Darüber hinaus zirkulierten die produzierten Bildmaterialien in Präsentationen und Ausstellungen, fanden sich in Portfolios bei Bewerbungen um Stipendien, Fördergelder oder Projektstellen und fungierten als Anschauungsmaterial in Workshops und Wahrnehmungsspaziergängen. Auch die Perimeter Walks am blauen Zaun in London leitete Prost mit einer Präsentation von Bildern zu seiner Arbeit und dem Projektgebiet ein, die der Künstler den Teilnehmenden via Notebook vorführte. Dieser visuellen Einführung in das Themenfeld folgte ein gemeinsamer Spaziergang am blauen Zaun in East London, um sich vor Ort über Stadtwahrnehmungen, unterschiedliche Erfahrungen und Praktiken im alltäglichen Raumerleben auszutauschen. Wenngleich die Route und einige ausgewählte Aufenthaltsorte vom Künstler vorab festgelegt worden waren, trat dieser während der Tour nicht als Guide zur monologischen Vermittlung von historischem, lokalem oder fachlichem Wissen auf. Vielmehr waren alle Teilnehmenden eingeladen, sich als Stadtexpert:innen mit ihren jeweils spezifischen Raumwahrnehmungen, Erfahrungen, Erinnerungen und Reflexionen einzubringen. Während der gemeinsamen Wanderung, die etwa fünf Stunden dauerte, stoppte die Gruppe dort, wo der Blick der Spaziergänger:innen hängenblieb, wo aufgrund spezifischer Raumqualitäten ein Erzählimpuls aktiviert wurde oder der Künstler Raumeingriffe identifizierte, die seiner Konzeption von Adaptive Actions entsprachen. Alle Teilnehmenden setzten zur Dokumentation der Tour Kameras ein, die gemeinsam mit dem verbalen Austausch über das Wahrgenommene eine verbindende kommunikative Rolle spielten. In den Gesprächen über die Bildmotive wurden einerseits Fakten und Daten zur offiziellen Geschichte des Lower Lea Valley ausgetauscht. Andererseits prägten individuelle, oft autobiografische Erzählungen den Kommunikationsverlauf. Vor allem dort, wo der Zaun Einblicke in das umgrenzte Baustellenareal bot, übten angesichts der massiven Transformationen jene Kritik, die persönliche Beziehungen zu diesem Stadtraum mitbrachten. Durch die leibliche Erfahrung der gemeinsamen Raumwahrnehmung, das Gehen im Kollektiv und das wechselseitige Erzählen von Geschichten wurden Bilder und Imaginationen aktiviert, die sich mit den Worten der Stadtforscherin Elke Krasny als „Narrativer Urbanismus“ bezeichnen lassen. Diese Praxis umfasst das „Verhältnis zwischen den Schritten und den Worten, die jenen Raum eröffnen, in dem Städter:innen ein Übersetzen in den Verhältnissen ihres Raums zwischen Sozialem, Politischem, Kulturellem und Imaginiertem zu artikulieren beginnen“.486 Krasnys Konzeption eines Narrativen Urbanismus basiert auf Michel de Certeaus Überlegungen zur Kunst des
486 Krasny (2010): Reise in die Nachbarschaft, 254.
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Geteilte Sprech- und Bildakte. Verbale und visuelle Konnektivitäten
Handelns, insbesondere auf dessen Parallelisierung des Gehens in der Stadt und des Sprechens als soziale Handlung. „Der Akt des Gehens ist für das urbane System das, was die Äußerung (der Sprechakt) für die Sprache oder für formulierte Aussagen ist. Auf der elementarsten Ebene gibt es in der Tat eine dreifache Funktion der Äußerung: zum einen gibt es den Prozeß der Aneignung des topographischen Systems durch den Fußgänger (ebenso wie der Sprechende die Sprache übernimmt oder sich aneignet); dann eine räumliche Realisierung des Ortes (ebenso wie der Sprechakt eine lautliche Realisierung der Sprache ist); und schließlich beinhaltet er Beziehungen zwischen unterschiedlichen Positionen, das heißt pragmatische ‚Übereinkünfte‘ in Form von Bewegungen (ebenso wie das verbale Aussagen eine ‚Anrede‘ ist, die den Angesprochenen festlegt und die Übereinkünfte zwischen Mitredenden ins Spiel bringt). Das Gehen kann somit fürs erste wie folgt definiert werden: es ist der Raum der Äußerung.“487
Wenn Krasny in Anlehnung an de Certeau „Narrativen Urbanismus als hybrides Verfahren der Stadtforschung auf dem Weg zwischen Theorie und Praxis“ definiert, so lässt sich Jean-François Prosts Perimeter Walk ebenso als hybrides Verfahren der Erkundung von Stadt – im Sinne einer künstlerischen Verknüpfung von Stadtraum, bewegten Körpern, Erzählungen und Bildern – fassen. Prost setzte bei seinen Walks auf der Ebene des Austauschs über eine physische Raumerfahrung an, wobei die leibliche Erfahrung des Gehens und des Erzählens in Kombination mit der bildhaften Repräsentation zum relational-ästhetisch motivierten Übersetzungsmoment wurde. Integraler Bestandteil seiner narrativen Stadtspaziergänge war zwar die Suche nach, die Produktion von und der Austausch über Adaptive Actions im physisch-realen Stadtraum. Diese Praxis steht allerdings in unabdingbarer Wechselbeziehung mit den visuellen Repräsentationen auf der bis heute aktiven virtuellen Plattform https://aa.adaptiveactions.net, mit der das London-Projekt über den Zeitraum 2007–2008 hinaus fortgeführt und ergänzt wird. Die adaptiven Raumspuren – ob vorgefunden oder im Zuge von kollektiven Stadtwanderungen hinterlassen – werden fotografiert und als Aufforderung zur Veränderung der Wahrnehmung sowie der eigensinnigen Aneignung städtischer Räume gebündelt repräsentiert. Die Plattform versammelt dabei nicht nur Prosts Bilder, vielmehr fordert sie (bis heute) alle Interessierten dazu auf, vorgefundene oder selbst produzierte und fotografierte Adaptive Actions hochzuladen. Unter Angabe von „actor“ (teils anonym, teils Pseudonyme, teils Klarnamen), „location“ (meist gut identifizierbare Angaben von konkreten Städten, urbanen Quartieren oder Landstrichen) und „action“ (Kurzbezeichnung der adaptiven Raumhandlung) finden sich Darstellungen gewöhnlicher Alltagsräume, die durch überraschende Raumpraktiken neu akzentuiert wurden, ebenso
487 De Certeau (1988): Kunst des Handelns, 189.
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wie monumentale Architekturen, deren Strenge von kaum wahrnehmbaren Zeichensetzungen ironisch durchbrochen wurde. Die Plattform Adaptive Actions versammelt – ohne gesonderte Hervorhebung oder privilegierte Positionierung – amateurhafte Einzelbilder genauso wie sorgfältig komponierte, serielle Beiträge, die in Bezug auf Ortswahl, räumliche Intervention und Bildaufbau künstlerische Qualitäten aufweisen und konzeptuell gerahmt sind. Prosts Aktionen und deren Repräsentationen im virtuellen Raum lassen sich dabei nur durch Vorwissen oder nähere Recherche von jenen unterscheiden, die durch andere User:innen hochgeladen wurden. Ob er selbst, andere Künstler:innen oder Nicht-Künstler:innen als Bildautor:innen auftreten, spielt für die Berechtigung zum Upload der Fotografien auf die Plattform ebenso wenig eine Rolle wie formale Kriterien der Bildkomposition oder der Aufnahmequalität. Auch die ästhetische Besonderheit und Bildfähigkeit der Orte spielt bei jenen Adaptive Actions, deren Abbilder auf der Website zu finden sind, nur bedingt eine Rolle. Zudem erweist sich die Qualität der Fotos – Auflösung, Schärfe oder Bildaufbau – als höchst unterschiedlich und bewegt sich von amateurhaften Schnappschüssen bis hin zu sorgfältig arrangierten Kompositionen. Klassische Fragen der Ästhetik – wie die nach Original und Genie, Form oder „Schönheit“ – werden zugunsten der Frage nach der repräsentierten Raumpraxis obsolet. Prosts künstlerisch initiierte Adaptive Actions und deren Abbilder wollen den anonym produzierten gleichwertig gegenübertreten. Im Zusammenspiel wirken die fotografischen Darstellungen als relational-ästhetisch motivierte Übersetzungsmomente, die Impulse für die Formierung eines globalen Beziehungsgefüges von alternativen Stadtnutzer:innen geben sollen. Egalität und Konnektivität will Prost auch mit dem Arrangement der Fotografien auf der Startseite seines virtuellen Ausstellungsraums suggerieren. Die hochgeladenen Repräsentationen von Adaptive Actions sind zu einem animierten Mosaik aus gleichwertig dimensionierten, hochformatigen Farbfotos geformt: Bilder von Trampelpfaden in städtischen Grünstreifen; eine Sitzbank, deren fehlende Latte notdürftig und unbeauftragt durch einen ausrangierten Ski ersetzt wurde; ein Schlupfloch im Zaun; ein Graffiti auf einem Verkehrsschild; auf einem Mistkübel deponiertes Kinderspielzeug; Schlafplätze unter Brücken und auf Parkbänken; Zelte auf Hochhausdächern; bunte Zeichen auf den blinden Fenstern eines verlassenen Industriegebäudes; verzierte Stromkästen; Blumen, die durch den Asphalt brechen, und Bäume, die durch Gitter wachsen; blau bemalte Plastikstühle und Schaukelpferde in öder Stadtlandschaft sowie zahlreiche andere Spuren individueller Umgestaltung von urbanen Raumsituationen. Die kleinen Bilder können durch Anklicken vergrößert und – nach Registrierung und Login – von den Betrachter:innen mit Kommentaren versehen werden. Es gibt somit keine Unterscheidung zwischen künstlerischen und nicht-künstlerischen Autor:innen, sondern lediglich eine Unterscheidung zwischen nicht registrierten Gästen und registrierten User:innen mit der Berechtigung, Bilder und Kommentare unter Einhaltung der Conditions in den vorgegebenen Rahmen zu stellen.
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Geteilte Sprech- und Bildakte. Verbale und visuelle Konnektivitäten
Knapp 300 Adaptive Actions wurden bislang von rund 100 Teilnehmenden aus verschiedenen Städten – von Amsterdam bis Miami, von Sheffield bis New York, von Barcelona bis Dakar – auf der Plattform versammelt. Ziel der visuellen Akkumulation und digitalen Zirkulation ist nicht allein die Dokumentation der Fülle an Möglichkeiten, Raum anders zu nutzen als gewohnt, sondern vor allem die Anstiftung und Verbindung vieler Menschen zu kollektiver und veränderter Raumwahrnehmung und -nutzung. Die Plattform mit ihren visuellen Vertretern will in Form eines Bildaktes Konnektivität herstellen und zum Eingreifen in städtische Raumsituationen anregen, um diese durch weitere „punctual space-activating micro-actions“ zu überformen. Diese Kausalbeziehung zwischen Raumpraxis, Bildpraxis und Kollektivierung thematisiert Prost, wenn er nicht die kurzfristige, offensichtliche Veränderung des physischen Raums als oberstes Ziel formuliert, sondern die Infiltration unserer „collective imagination, to promote feelings of identity and a sense of cultural belonging“.488 „Adaptive Actions points to how urban phenomena impact on residents’ perception of the environment and their relation to it. By offering a space to share experiences, ideas, forms of actions and specific accomplishments, Adaptive Actions creates an inventory of alterations rarely visible to the public. Printed documents and organized events are being planned to increase visibility of the selected actions to the public eye, and build affiliations and communal thinking.“489
Wenngleich – auf den ersten Blick – der physisch-reale Stadtraum, die leibliche Erfahrung sowie die subjektiven Erzählungen im Fokus von Prosts Perimeter Walks standen, so schafft erst das fotografische Bild die Möglichkeit der Rezeption der Aktionen in Kunst und Öffentlichkeit, ihrer Versammlung auf einer Website, der Verknüpfung von Menschen in diesem relationalen Prozess und der Anregung zur weiteren Raum-Initiative. Schließlich beschränkten sich die Augenzeug:innen der temporären Markierungen im städtischen Raum auf Spaziergänger:innen und Teilnehmende der Stadtspaziergänge. Erst das Bild ermöglicht ihre Zirkulation in Ausstellungen, Katalogen, auf Websites oder Facebook und damit ihre Entfaltung als Übersetzungsmoment, das weltweit Verbindungen zwischen adaptiven Aktionen und ihren potenziellen Produzent:innen herstellen will.
488 www.adaptiveactions.net, Zugriff: 07.08.2012. 489 www.adaptiveactions.net, Zugriff: 07.08.2012.
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4.4.2 Die Ausstellung als Contact Zone. Visuelle Erkundungen an der A7490
Abb. 11 BELLEVUE. Das gelbe Haus, Ausstellung „Besonders sehenswert. Ethnologisch-architektonische Erkundungen an der A7“, Linz, 2009. Foto: Judith Laister.
Wie bei Adaptive Actions, so zeigt sich auch bei BELLEVUE eine ähnlich privilegierte Position des Bildes als Sekundärakteur. So raumgreifend, ortsbezogen und praxisorientiert das relationale Projekt BELLEVUE auch konzipiert war, als grundlegendes Übersetzungsmoment lässt sich die Produktion und Zirkulation von Bildern unterschiedlicher Art identifizieren. Das gelbe Haus war Blickfang, Bühne und Aussichtsplattform, es wollte in seiner geografischen und visuellen Exponiertheit gesehen, fotografiert, gefilmt, gezeichnet und mit Bildwerken bestückt werden. Gleichzeitig bot das Gebäude ungewohnte Ausblicke auf die Stadt und ihre Umgebung, wie die Autobahn, das Industriegebiet oder die benachbarten Wohnblöcke. Die physische Präsenz und Funktionalität des gebauten Objekts stand in unabdingbarer Wechselbeziehung mit seiner Bildfähigkeit sowie den visuellen Repräsentationen und entfaltete erst in den bildorientierten Nutzungen seine breite konnektive Wirkung.
490 Überarbeitete Teile dieses Kapitels finden sich publiziert in Laister und Hieslmair (2013): Relationale Ethnografie.
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Geteilte Sprech- und Bildakte. Verbale und visuelle Konnektivitäten
Der Name BELLEVUE – die schöne, bildtaugliche Aussicht – deutete nicht nur auf den erhabenen Blick auf die Stadtautobahn und den Landschaftspark hin, sondern umfasste alles, was im Haus und um es herum vorging. Neben den beauftragten Filmund Fotoaufnahmen für PR, Marketing und Dokumentation produzierten die einzelnen Veranstaltungen zahllose Bilder, die einerseits medial (Internet, TV, Publikationen) verbreitet, andererseits im zentralen Ausstellungsraum des gelben Hauses vor Ort präsentiert wurden. Gastkünstler:innen, Sommerakademien und Workshops hinterließen in der geräumigen Schauzone im ersten Stock des Gebäudes temporär visuelle Spuren, wobei die Heterogenität der Besucher:innen – vom klassischen Kunstpublikum über jugendliche Nachbar:innen bis hin zu Projektsponsor:innen und verantwortlichen Politiker:innen – in der Heterogenität der Bildangebote adäquate Übersetzungsmomente fand. Einer dieser kollektivierenden Bildakte war die Ausstellung Besonders sehenswert. Ethnografisch-architektonische Erkundungen an der A7. Konzipiert und durchgeführt wurde das interdisziplinäre Experiment von Michael Hieslmair (Künstler und Architekt) und Judith Laister (Kulturanthropologin) in Zusammenarbeit mit neun Studierenden der Universität Graz (Kulturanthropologie) und der Technischen Universität Graz (Architektur), die Anfang Juli 2009 im Rahmen einer zweiwöchigen Sommerakademie im gelben Haus gemeinsam forschten, diskutierten und eine Ausstellung samt Begleitheft produzierten.491 Das forschende Lehr- und Lernformat diente einerseits der Einschreibung in die inszenierten Bildproduktionen des gelben Hauses, durch die temporäre Beziehungen zwischen möglichst vielen Akteursgruppen hergestellt werden sollten; andererseits nahm die interdisziplinäre Gruppe Nicolas Bourriauds Konzeption einer relationalen Kunst zum Ausgangspunkt einer kollaborativen Forschung zwischen Anthropologie, Kunst und Architektur. Wie durch den Impuls von Bildern Konnektivität zwischen den heterogenen Teilen der Akteurswelt – im Lichte der epistemologischen Dimension des Übersetzungsbegriffs mit Fokus auf die wissenschaftlichen Akteur:innen – hergestellt wurde, steht im Zentrum dieses Kapitels über die interdisziplinäre Produktion einer Ausstellung als Kontaktzone. Vorauszuschicken ist, dass alle an der BELLEVUE Akademie beteiligten Forschenden ein spezifisches Interesse an den Randzonen ihrer jeweiligen Fachbereiche mitbrachten. Nicht Grenzhüter:innen einer „wahren“ Kulturanthropologie, Kunst oder Architektur
491 Team der Sommerakademie: Architektur: Bernhard Gilli, Oliver Jungwirth, Christoph Wiesmayr; Europäische Ethnologie: Tanja Fuchs, Markus Harg, Claudia Rückert, Dunja Sporrer, Kristina Stocker, Georg Wolfmayr; Leitung: Judith Laister (Kulturanthropologin und Kunsthistorikerin, Graz), Michael Hieslmair (Künstler und Architekt, Wien). Die Sommerakademie fand in Kooperation mit dem Institut für Stadt- und Baugeschichte der Technischen Universität Graz und dem Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz statt. Die Architektur-Studierenden konnten sich die BELLEVUE Akademie als Lehrveranstaltung anrechnen lassen. Die Studierenden der Europäischen Ethnologie erhielten für ihre Arbeitsleistung ein Praxiszeugnis.
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fanden sich im gelben Haus ein, sondern Grenzgänger:innen, die vertraute Terrains verließen, um in wenig definierten Zwischenräumen transdisziplinäre Forschungsstrategien zu erproben. Als Sekundärakteure zur Stärkung der anthropologisch-künstlerischarchitektonischen Allianz eigneten sich postkoloniale Begriffe und Modelle, die dem Raum singulär disziplinärer Autor:innenschaft programmatisch einen relationalen Raum des permanenten Aushandelns von Standorten entgegensetzten. Als konzeptuelles Leitbild – und Übersetzungsmoment zwischen den beteiligten Disziplinen – dienten Homi K. Bhabhas Denkfiguren des in-between bzw. des third space, definiert als „terrain for elaborating strategies of selfhood – singular or communal – that initiate new signs of identity, and innovate sites of collaboration, and contestation“.492 Darüber hinaus bildete das von Mary Pratt493 und James Clifford diskutierte Modell der contact zone – „a place where different cultural visions and community interests are negotiated“ – ein integratives Leitbild.494 Der Begriff contact zone wurde 1991 von der Sprachwissenschaftlerin Pratt definiert als Begegnungsraum, in dem heterogene Akteursgruppen aufeinandertreffen und ihre jeweiligen Interessen in wechselseitiger, oft konfliktreicher Beziehung verhandeln. Kontaktzonen weisen zwar hochgradig asymmetrische Machtverhältnisse auf, Pratts Interesse gilt allerdings weniger den Manifestationen von Ohnmacht, Dominanz und Separation, sondern Prozessen der Interaktion, des Austauschs und der Vermischung. Sie setzt das Modell der Kontaktzone als Gegenkonzept zu einem hegemonialen Kulturbegriff ein, der lediglich den dominanten Gruppen Definitionsmacht zugesteht, marginalisierte Gruppen hingegen zu Unterdrückung und Anpassung verurteilt sieht. Besondere Aufmerksamkeit schenkt die Sprachwissenschaftlerin den arts in the contact zone. Künstlerische Praktiken in Kontaktzonen zeichnen sich aus durch permanente wechselseitige Beeinflussungen visueller, verbaler und praktischer Äußerungen, artikuliert in Formen der Kollaboration, Mehrsprachigkeit, Parodie oder Appropriation. Der Ethnologe James Clifford (1997) adaptiert Pratts Modell der contact zone und beschreibt nicht nur Sprache, Kunst, Literatur und wissenschaftliche Diskurse als zentrale Zonen von Austausch und Hybridisierung, sondern weitet die Analyse auf Museen, Ausstellungen und alle Orte kultureller Aufführung und Darstellung aus. Er plädiert für die gezielte Ausweitung hybrider Inszenierungen, da sie Möglichkeitsräume für ein Verhandeln von verschiedenen Werten und Interessen darstellen. Vermittelt durch Worte, Bilder, Dinge und Handlungen können wechselseitige, emanzipatorische Transformationsprozesse entstehen, die – ausgehend vom Versuchsfeld ästhetischer Begegnung – auch konkrete Auswirkungen auf lokaler und politischer Ebene haben können.
492 Bhabha (1994/2006): The Location of Culture, 2. 493 Pratt (1991): Arts in the Contact Zone. 494 Clifford (1997): Routes, 8.
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Geteilte Sprech- und Bildakte. Verbale und visuelle Konnektivitäten
Mit Ina-Maria Greverus, deren Schriften495 ebenfalls wesentliche Anregungen für die BELLEVUE-Akademie Besonders sehenswert! boten, lässt sich das Forschen in Kontaktzonen begrifflich fassen als „Grenzraum und […] Begegnungsraum in den Suchbewegungen zwischen ausschließenden Verortungen und Entortungen, auch den fachwissenschaftlichen“496 . Die Anthropologin tritt dabei – aus Perspektive der epistemologischen Dimension des Übersetzungsbegriffs – als Übersetzerin zwischen Wissenschaft und anderen sozialen Feldern auf, wobei in der Kontaktzone Ausstellung die Produktion und die Distribution von Bildern als zentrale Impulse auf die Konnektivität der künstlerisch initiierten Allianzen einwirkten. Inhaltlicher Ausgangspunkt der Erkundungen an der A7 war die Frage, welche Sehenswürdigkeiten bzw. welche räumlichen, ästhetischen und sozialen Qualitäten das bislang touristisch wenig erschlossene Gebiet Bindermichl/Spallerhof aufweist – und zwar jenseits des temporär-visuellen Markers des gelben Hauses. Im Kurztext zur BELLEVUE Akademie Besonders sehenswert! Ethnologisch-architektonische Erkundungen an der A7 heißt es: „Was passiert, wenn ein bislang touristisch unentdecktes Wohngebiet plötzlich ins Blickfeld eines kulturellen Großprojekts gerät? Warum passiert das und wie sehenswürdig finden die BewohnerInnen selbst ihren Stadtteil? Eine Gruppe von Studierenden erkundet mit ethnographischen Methoden, was das periphere Projektgebiet aus Sicht der unterschiedlichen involvierten AkteurInnen zum visuell signifikanten Kulturschauplatz macht. Fokussiert wurden somit sowohl der Makrokontext des Gesamtprojekts BELLEVUE als auch lokale Mikrokosmen außergewöhnlicher Sozial-Raum-Qualitäten im vordergründig unspektakulär Alltäglichen.“497
Das methodische Motto für die transdisziplinäre Versuchsanordnung einer Feldforschung in Linz lieferte Robert Park mit seinem historischen Aufruf, den Schreibtisch zu verlassen und in das lokale Geschehen einzutauchen: „Go into the district!“, „Get the feeling!“, „Become acquainted with people!“498 Gewappnet mit dem je vertrauten Werkzeugkasten für Recherchen vor Ort (vom Skizzenbuch über das Feldtagebuch bis zu Kamera und Diktiergerät) traf sich die Gruppe am 12. Juli 2009 im gelben Haus und bezog in den dortigen Schlafkojen Quartier. Begleitet von methodischen WorkshopBlöcken machten sich die Forschenden an die Feldarbeit, um den Ort (Bindermichl/ Spallerhof) und seine Bewohner:innen nach besonders Sehens- und Beachtenswertem zu befragen.
495 Vgl. v. a. Greverus (2002): Anthropologisch Reisen; Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie; Welz und Lenz (2005): Von Alltagswelt bis Zwischenraum. 496 Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 1. 497 Laister und Hieslmair (2013): Relationale Ethnografie. 498 Park (1915): The City.
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Bernhard Gilli und Christoph Wiesmayr (Architektur/Kunst) richteten ihren Blick auf Räume individueller Aneignung im durchgeplanten Wohngebiet Bindermichl/ Spallerhof („Nischen[Im]Possible“). Markus Harg und Georg Wolfmayr (Kulturanthropologie) erkundeten persönliche Lieblingsorte der Bewohner:innen, wobei sie eine dem serendipity-Prinzip499 verpflichtete Methode der zufälligen Begegnung und Wegfindung erprobten („Hier gibt es nichts? Space Invaders in Bindermichl und Spallerhof “). Kristina Stocker und Tanja Fuchs (Kulturanthropologie) fahndeten mittels mental maps nach kollektiven Identitätsräumen und Orientierungsmarken im neu gestalteten Landschaftspark („Zeichne mir ein Bild von …“). Oliver Jungwirth (Architektur) und Dunja Sporrer (Kulturanthropologie) spielten mit dem Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Fiktion und erhoben in Wort und Bild im Bezirk kursierende Gerüchte („Gschichtln ausm Bindermichl und Spallerhof … ein Architekt und eine Ethnologin unterwegs in der Gerüchteküche“). Und Claudia Rückert (Kulturanthropologie) nahm den Bezug des Bezirks zum nahegelegenen Industriebetrieb Vöest zum Anlass, um über „Die Veränderungen der Arbeitswerte und Arbeitsbedingungen im Industriebereich am Beispiel der Vöest Alpine“ mittels narrativer Interviews zu recherchieren. Methodische und theoretische Inputs, Feldforschung, Präsentation des Materials und Reflexion in der Gruppe wechselten einander mehrmals ab, wodurch ein interdependenter Prozess der Akkumulierung von Material in Gang gesetzt wurde. Die gesammelten Daten, Erzählungen, Zeichnungen und Fotos wurden immer wieder neu geordnet und verknüpft. Die didaktische Anweisung, die eigenen Beobachtungen wiederholt in ein bild-räumliches Format zu transformieren, forcierte die Präzisierung der Aussagen. Für die Forschenden aus dem Feld der Kulturanthropologie – arbeitstechnisch im ausführlichen Formulieren von Texten geübt – stellte die raumgreifende, bildhafte Darstellung von Rechercheergebnissen eine erhebliche Herausforderung dar. Um Konnektivität zwischen den räumlich-visuell wie handwerklich wenig geschulten Kulturanthropolog:innen und den bild- und bastelerprobten Architekt:innen herzustellen, wurden die Visualisierungen und Arrangements im Raum auf einfachstes, schnell verfügbares Material (v. a. Papier, Plakatstift, Karton, Schnüre, Klebeband, Holzleisten, Nägel und Kopien) beschränkt. Zudem sah die Spielanordnung vor, nur wenig Zeit am Computer zu verbringen, sondern direkt in den vorhandenen, großzügigen Ausstellungsraum hineinzuarbeiten. Im ersten Drittel des Workshops hatte jede Gruppe einen Platz im Raum gewählt. Dort erfolgte eine erste Zwischenpräsentation des gesammelten Materials, das für alle sichtbar geordnet und räumlich positioniert wurde. Ab diesem Zeitpunkt blieben die Skizzen, Fotos, Zeichnungen, Textpassagen und anderen Materialien an die Wand gepinnt. Bis zur Ausstellungseröffnung wurden sie immer wieder in der Gruppe diskutiert,
499 Zufallsprinzip, methodologisch reflektiert etwa von Ziemba (2005): Serendipity Principle, Lindner (2012): Serendipity.
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Geteilte Sprech- und Bildakte. Verbale und visuelle Konnektivitäten
umpositioniert, in neue Beziehungen gesetzt, erweitert und überarbeitet. Geprägt wurde dieser Prozess von kontinuierlichen Diskussionen über die Qualität, Aussagekraft und räumliche Anordnung der visuellen Elemente (Fotografien, Zeichnungen, Skizzen oder Grafiken), was einerseits konnektiv wirkte und auch Konflikte im Allianzgefüge sichtbar machte. Andererseits stellte es die Kulturanthropolog:innen, die im Vergleich mit den Architekt:innen und Künstler:innen wenig Routine im bildorientierten Arbeiten mitbrachten, vor epistemologische Herausforderungen. Die raum-bildliche Anordnung der Rechercheergebnisse ermöglichte nicht nur eine kontinuierliche Beziehungsarbeit zwischen den Teilnehmer:innen aus Anthropologie, Kunst und Architektur sowie die sichtbare Vermittlung der Recherchen, sondern sie vermochte das Grundprinzip der BELLEVUE Akademie deutlich zu machen: Jeder Einzelbeitrag lässt sich nur im Kontext eines erweiterten Bezugssystems denken und repräsentiert für sich lediglich einen modellhaften Ausschnitt eines größeren Ganzen. Als Methode für die Darstellung der jeweiligen Beziehungsgefüge und (stadt-)räumlichen Zusammenhänge dienten Mappings, durch die unterschiedliche Erzählstränge in Makro- und Mikroperspektive simultan lesbar gemacht wurden. Ziel dieses mehrdimensionalen Ordnungssystems war es, dass die aufeinander bezogenen Elemente bei den Betrachter:innen Assoziations- und Vermittlungsketten anregten und im Gegensatz zu einem klassisch linearen Textfluss das Ziehen von Querverbindungen – wie in einem Hypertext – förderten. Welche Erzählstränge sowohl in der Recherche- als auch in der Umsetzungsphase weiterverfolgt werden sollten, war von Beginn an Anstoß kontroverser Diskussionen. Vor allem die Kulturanthropolog:innen beschäftigte die Frage, wie und in welcher Form Interviewsequenzen selektiert und gewichtet werden dürfen und welche jeweilige Sprecher:innen-Position zulässig ist. Wer erzählt? Über wen? Worüber? Wie? Was in einem wissenschaftlichen Text undenkbar ist, konnte hier bildhaft-kreativ erprobt werden. Zugunsten der Schärfung einer Aussage wurden in die Repräsentationen teils fiktionale Elemente integriert, sodass letztlich ein Nebeneinander von – stets als solche gekennzeichneten – Interviewpassagen im Original-Wortlaut, fingierten Zeitungsmeldungen, historischen Fakten, realistischen Fotografien und grafischen Überzeichnungen entstand, frei nach dem Motto: „Fingieren bedeutet nicht, Illusionen hervorzurufen, sondern verständliche Strukturen zu entwickeln.“500 Die durch BELLEVUE angeregte Allianzbildung zwischen Kunst, Architektur und Anthropologie bewirkte ein gezieltes, transparentes Spiel mit dem Verhältnis zwischen Fiktion und Faktischem, was seit der Writing-Culture-Debatte auch in der wissenschaftlichen Repräsentation von Feldforschungsergebnissen vieldiskutiertes Thema ist. Die Wahl der Darstellungs- und Präsentationsformate im Ausstellungs-Setting erfolgte mit Bedacht auf das erwartete Publikum, das unterschiedliche Alters- und Ak-
500 Rancière (2000/2008): Die Aufteilung des Sinnlichen, 57.
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teursgruppen (z. B. Bewohner:innen, Interviewpartner:innen oder Fachkolleg:innen) adressierte. Erklärtes Ziel war es, dass sich die einzelnen Beiträge auf verschiedenen Rezeptionsebenen befriedigend erschließen lassen, um gerade durch diese Heterogenität der angebotenen Zugänge Konnektivität herzustellen: für das lokale Publikum ebenso wie für Kulturtourist:innen oder Personen aus den entsprechenden Fachbereichen der Kunst, Architektur und Kulturanthropologie/Stadtforschung. Bereits in der Recherchephase diente das visuelle, im Raum relational angeordnete Material – vor allem Bilder, Skizzen, Karten und Kurztexte zu den Beobachtungen und Gesprächen – als Einstieg und Anregung für einen Austausch mit Kolleg:innen, Bewohner:innen oder zufällig vorbeikommenden Gästen. Dass mit der Ausstellungseröffnung auch der Aufenthalt der Forschenden im gelben Haus vorbei war, erwies sich erkenntnistechnisch als Verlust. Das Format der raumbezogenen Visualisierung regte viele Besucher:innen zu weiteren Kommentaren, Ergänzungen und Informationen an, provozierte Fragen und nötigte die Forschenden, einmal mehr ihre Ergebnisse lediglich als weiteren Zwischenstand anzuerkennen. In diesem dezidiert relational angelegten Forschungsprozess diente das Setting der Ausstellung bewusst als interne und externe Zone zur Herstellung von Konnektivität. Gerade die im Raum positionierten Bilder, Grafiken und Skizzen begünstigten die Herstellung neuer Beziehungen und Erkenntnisse. Die visuelle Form der Ausstellung erwies sich damit einerseits als visualisierter, dreidimensionaler Forschungsbericht, vor allem aber als Kontaktzone und Übersetzungsmoment, das Akteur:innen mit verschiedenen sozialen Hintergründen in inszenierte Beziehung zueinander setzte und durch relationale Handlungsanweisungen miteinander verband. 4.4.3 „Eine gemeinsame Sprache, die jeder versteht“. Kunst als Übersetzungsarbeit Auch im Projekt Keine Denkmale kam der Produktion einer Ausstellung als Kontaktzone und Übersetzungsmoment zwischen heterogenen Akteuren ein integrativer Stellenwert zu. Als Schauraum diente in einer ersten Phase die Galerie des Kunstvereins , in der die recherchierten Materialien (biografische Interviews, Fotografien, Filme, Zeichnungen, Objekte) von den Studierenden gemeinsam mit der Künstlerin arrangiert und öffentlich präsentiert wurden. In einer zweiten Phase wurden die großformatigen Texttafeln im öffentlichen Stadtraum angebracht, auf denen Biografien der Interviewpartner:innen sowie historische Berichte über die Arbeiter:innengeschichte des Grazer Annenviertels zu lesen waren. Beide Ausstellungsformate – im Innenraum der Galerie wie im städtischen Außenraum – dienten dazu, in prozesshafter Kombination von Bild, Sprache und Objekten temporäre Allianzen zwischen Künstlerin, Forschenden, Bewohner:innen, Fördergeber:innen, Politiker:innen, weiteren Projektpartnern und anderen Teilnehmenden zu etablieren. Gleichzeitig konnten durch die offen zugänglichen Präsentationsformate
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Geteilte Sprech- und Bildakte. Verbale und visuelle Konnektivitäten
Verbindungen zu bislang nicht beteiligten sozialen Akteur:innen hergestellt und eine breite Öffentlichkeit erreicht werden. Das deklarierte Anliegen des Projekts Keine Denkmale war es, eine möglichst vielen zugängliche Text- und Bildsprache zu finden („Eine gemeinsame Sprache, die jeder versteht“), um auf diese Weise das künstlerisch initiierte Beziehungsgefüge zu festigen und zu erweitern. Die Arbeit Keine Denkmale strebte im Produktions- und strebt im bis heute andauernden Rezeptionsprozess nach breiter Involvierung sozialräumlich unterschiedlich positionierter Akteur:innen, wobei Kristina Leko für ihren vermittelnden Ansatz eine niederschwellige Textform und Bildsprache wählte: die vertraute Symbolik der schwarzen Tafel sowie einfach formulierte Sätze in Schönschrift. „Die Referenz an Schule bedeutete: Jeder soll sowas lesen! Denkt darüber nach: Das gilt für alle – das ist für alle da, gelesen zu werden.“501 Darüber hinaus setzt die klassische Formensprache von Schultafel und Schönschrift einen Kontrast zum verkommerzialisierten Zeichen-Raum der Innenstädte, hebt sich klar von der grellbunten Zeichensprache der urbanen Konsumwelt ab und stellt durch seine visuelle Prägnanz Konnektivität zu und zwischen unterschiedlichen städtischen Akteur:innen her. „Und die Visualisierung – mit der Schultafel als Referenz: das ist einfach, das funktioniert überall. Das unterscheidet sich von Werbung und irgendwas, was im öffentlichen Raum vorkommt. Ich denke, das funktioniert ganz gut mit diesem symbolischen Wert der Schultafel. Das kann jeder verstehen. Das ist eine ganz andere visuelle Sprache.“
Als „Thema und Handlungsraum“ ihrer künstlerischen Tätigkeit skizziert Kristina Leko ein möglichst umfassendes, „niederschwelliges“ Verstehen von Kunst. Darin, so Leko, manifestiert sich „das Politische“ als eine Praxis, die in Dialog mit sozialräumlich unterschiedlich positionierten Akteur:innen Botschaften in den öffentlichen Raum übermittelt. Die politische Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen, Stadtbewohner:innen, NGOs, Schulen, Universitäten und Museen versteht die Künstlerin als demokratische Bildungsarbeit: „Und das sind sozusagen didaktische Tafeln, wie ich sie nenne. Das sind Schultafeln, die haben auch eine Geschichte und es gibt Referenzen auch innerhalb des Kunstkontexts. Das ist nichts Spezifisches für Graz. Es ist eine Intervention im öffentlichen Raum. Es gibt auch noch andere Projekte von mir, die im öffentlichen Raum stattgefunden haben, mit gleicher visueller Sprache. […] Sie hat eine ganz einfache und klare Referenz: Schultafeln. Es gibt etwas zu lernen, es gibt etwas zu überlegen. Also, das ist schon so eine Art visueller Hinweis für wichtige Inhalte, die jeden ansprechen. Bildung, Schule, das ist etwas Allgemeines. Und ich nütze diese visuelle Referenz der Schultafel, die Referenz zum Bildungsaspekt mit politischem Vorzeichen.“
501 Die folgenden Zitate stammen aus einem Interview mit Kristina Leko, 31.07.2017.
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Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst
Die Bildung des Menschen in Richtung Kritikfähigkeit und solidarischen Zusammenhalts stellen in Lekos relationalen künstlerischen Prozessen ein wesentliches Anliegen dar. Ihre Intention ist es, „eine andere Perspektive von der Geschichte einer Stadt zu bekommen, als Basis für die Herstellung eines anderen Systems. Vielleicht kann man dann besser für eigene Rechte einstehen. Ja, das ist Bildung!“ Die Einspeisung der politischen Inhalte in den öffentlichen Raum, gestützt durch Vermittlungsangebote für Schüler:innen oder touristische Informationsangebote der Stadt, sieht Leko als Möglichkeit, die „Anerkennung für die Geschichte von Arbeit und Migration“ sowie die Konnektivität in der postmigrantischen Gesellschaft zu fördern: „Allein wenn diese Begriffe innerhalb einer Stadttour vorkommen oder in der Schule vermittelt werden, sieht die Welt ein bisschen anders aus.“ Den Sinn ihrer Arbeit und ihre Aufgabe als Künstlerin versteht sie als „kollektiven Prozess von Erziehung und Selbsterziehung“. Unter Bezugnahme auf das „Empowerment-Konzept der sozialen Arbeit“ geht es dabei nicht nur um Ermächtigung und Selbstermächtigung der Beteiligten. Vielmehr lautet die Botschaft der Künstlerin: „[W]ir alle bilden uns selbst in diesem Prozess“. Auch sie selbst hat „etwas gelernt. Und vielleicht mehr als alle anderen“. Dieses Lernen bezeichnet Leko als „politische Bildung“, deren Ziel die Anregung zur Formulierung und öffentlichen Zirkulation von Narrativen ist“. Diese Narrative richten „sich erstmal an Leute, die auf der Suche sind, Narrative zu finden, […] Leute, die etwas zu sagen haben oder die etwas sagen möchten. Und die dazulernen wollen. […] Das Potenzial von unserem Projekt ist politische Bildung […]. Und das ist ein sehr kraftvolles Lernen.“
Dieses Lernen setzt sich, so die Idee der Künstlerin, nach Fertigstellung der eigentlichen künstlerischen Arbeit fort. Dabei geht es nicht nur um die individuellen Lernprozesse, sondern um ein Einwirken auf die Bildung von Kollektiven durch das Herstellen neuer Kontakte und neuer Allianzen: „Das ist politische Agenda durch die Kunst. Viele würden sagen: Kunst wird instrumentalisiert, aber ohne Instrumentalisierung geht es nicht.“ Vielmehr wird Kunst gezielt als Übersetzungswerkzeug eingesetzt, um zwischen den sozialen Feldern zu vermitteln. Auch der wiederholte Einsatz des Denkmalbegriffs, der in Lekos künstlerischen Arbeit immer wieder hinterfragt und neu definiert wird, leitet sich aus dem Projektziel der politischen Bildung als sprachlich wie visuell orientierte Übersetzungsarbeit ab: „Historisch-politische Bildung passiert durch Denkmäler, auf einer breiten Ebene in der Gesellschaft. Es muss einen Konsens geben, einen Zusammenhalt. Das ist die Funktion von Denkmälern.“ Die Idee, das Projekt Keine Denkmale zu nennen, basierte auf der Beobachtung, dass es im Grazer Annenviertel kaum sichtbare „Denkmale zum Thema Geschichte der Arbeiterbewegung und Migration im engeren Sinne gibt“. Während Schriftsteller:innen, Künstler:innen und andere Ikonen des Bürgertums auch in diesem Stadtteil, vor allem aber in den – auf der anderen Seite der Mur gelegenen – bürgerlichen Bezirken mit
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Geteilte Sprech- und Bildakte. Verbale und visuelle Konnektivitäten
Gedenktafeln, Büsten und Skulpturen gewürdigt und als sozial konnektive Identifikationsangebote bereitgestellt werden, finden die stadtprägenden Phänomene der Arbeit und Einwanderung kaum Beachtung im öffentlichen Raum der Stadt. Dabei ist es nicht die Künstlerin allein, die öffentlich sichtbar macht, wer und was wenig sichtbar ist, vielmehr zielt sie darauf ab, dass „sich sehr viele Menschen am Entstehungsprozess beteiligen“ und in Verbindung treten bzw. bleiben. Zudem bezeichnet sie es als „das Wichtigste, dass jemand vor diesem Denkmal stehen bleibt und es liest“. Um das zu erreichen, bedarf es neben einer allgemein lesbaren Bildsprache, die sich von jener der allgegenwärtigen Werbesprache abhebt, auch sprachlicher Formulierungen, die als Übersetzungsmoment zu wirken vermögen. Diesen beiden Aspekten – dem eines dialogischen Schreibprozesses und dem der breiten Verständlichkeit als konnektive Impulse – widmete die ästhetische Allianz um Kristina Leko übergeordnete Aufmerksamkeit. Am Beginn der kollektiven Textarbeit standen Interviews mit Arbeiter:innen, großteils aus verschiedenen Regionen der Welt nach Graz eingewanderten Bewohner:innen, die im Annenviertel lebten oder arbeiteten. Den Fokus der Gespräche bildeten Migrationswege und Arbeitsbiografien, wobei die Studierenden zuerst in Begleitung mit der Künstler:in, danach selbstständig Interviews führten. In einem ersten Schritt wurden die transkribierten Gespräche von den Interviewten oder gemeinsam mit ihnen gegengelesen, um daraus eine etwa zweiseitige Autobiografie aus Perspektive der Interviewten (in 1. Person) zu erarbeiten. Dieser Kurztext bildete die Ausgangsbasis für einen dialogischen Schreibprozess zwischen Interviewer:innen und Interviewten. In mehreren Treffen fand eine Überarbeitung der Selbstdarstellungen statt, wobei die Interviewten im Austausch mit den Studierenden ihre Version der eigenen Migrationsund Arbeitsgeschichte formulierten. Geleitet wurde die dialogische Schreibarbeit einerseits vom Wissen um die öffentliche Präsentation der Texte, andererseits von der pädagogischen Konzeptidee des Empowerment. Aus den transkribierten Gesprächen resultierten selbstbewusste Darstellungen starker Subjekte, die gleich offiziellen Denkmalen von berühmten Persönlichkeiten Eingang in die Zeichenwelt des öffentlichen Stadtraums fanden. In mehrmaligen Überarbeitungsschleifen setzte durch Rückfragen wie „Geht das so in Ordnung für Sie?“, „Wie haben Sie das gemeint?“ oder „Wie wollen Sie sich in der Öffentlichkeit repräsentiert sehen?“ ein wechselseitiger Reflexionsprozess ein, dessen Ergebnis – die fertige Erzählung über die Arbeits- und Migrationsbiografie der Interviewten – positive Rückwirkungen auf das Selbstbild der Interviewten und das Fremdbild der Interviewer:innen wie der Rezipient:innen bewirken soll. Kristina Leko fasst die Methode der semi-fiktionalen Selbstrepräsentation als Strategie des Empowerments wie folgt zusammen:
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Übersetzungsmomente in der relationalen Kunst
„Beziehe die Menschen vor Ort so weit wie möglich in den kreativen Prozess ein. Übergib ihnen die Kontrolle/Verantwortung über die Form ihrer Repräsentation. Lass sie entscheiden, wie sie aussehen möchten, was sie sagen.“502
Sprache als konnektives Moment spielte im Projekt Keine Denkmale nicht nur bei der Formulierung der Texte für die Denkmal-Tafeln, sondern im gesamten Projektverlauf eine zentrale Rolle. Gerade in relationalen Projekten kommt sowohl den Künstler:innen als auch den Kurator:innen und Assistent:innen die Funktion von Vermittler:innen zwischen den heterogenen Teilen der künstlerisch initiierten Akteurswelt zu. Starke Allianzen entstehen in diesem Prozess der Kunstproduktion als Übersetzungsarbeit dort, wo die Kommunikationsarbeit in einer Sprache (visuell wie lingual) vorgenommen wird, die von den verschiedenen Akteur:innen auch verstanden wird. Kristina Leko bezeichnet sich dabei selbst als Übersetzerin, die für Vermittlung und Verständnis im Sinne einer konstruktiven Gestaltung von Beziehungsprozessen zu sorgen hat. „Ich als Künstlerin bin als Übersetzerin aktiv, zwischen allen Gruppen. Wahrscheinlich habe ich so mehr Verantwortung, als wenn ich nur durch Bilder oder auch Denkmale repräsentiere. So muss ich alle Aspekte kontrollieren. Es ist nicht hundert Prozent klar, was man macht, aber man muss agieren, motivieren, Narrative herstellen, sie steuern und verständlich machen, übersetzen. Und nicht nur darstellen.“503
Repräsentation wird in diesem künstlerischen Setting zum Nebenschauplatz. Den Hauptschauplatz bildet demgegenüber die Zusammenarbeit mit jenen, die ebenfalls nach neuen, repräsentationskritischen Formen der Verhandlung von Wirklichkeit suchen. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, dass Kristina Leko einerseits im kunsttheoretischen Feld als artist as ethnographer rezipiert wird, andererseits selbst die Zusammenarbeit mit Anthropolog:innen zur repräsentationskritischen Reflexion ihrer eigenen Arbeit sucht. Im anthropologischen Feld ist die Frage nach der Konzeption, Darstellung und Veränderung jener Wirklichkeit, die den Forscher:innen im Prozess der Feldforschung begegnet, so alt wie die Disziplin selbst. Auch das anthropologische Schreiben als Übersetzung der Wirklichkeit des Feldes in einen wissenschaftlichen Text wird spätestens seit der Writing-Culture-Debatte als hegemonialer Akt kritisiert und diskutiert. Dass sowohl Anthropologie als auch Kunst konzeptuell als Übersetzungsarbeit gerahmt werden, bildet den Startpunkt des nächsten Kapitels, das sich den verschiedenen Annäherungsformen und Relationalitäten zwischen Kunst und Kulturanthropologie in historischem Rückblick und kritischer Bestandsaufnahme widmet.
502 Leko (2004): Was soll ich tun? 503 Interview mit Kristina Leko, 31.07.2017.
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Relationalitäten zwischen Anthropologie und Kunst
Wenn im Kontext relationaler Kunstproduktion auch Akteur:innen aus dem anthropologischen Feld auftreten, so bewegen sie sich in der historisch vielfach beschrittenen, gleichzeitig stets auch kontrollierten und reglementierten Kontaktzone zwischen Kunst und Wissenschaft. Dieses Kapitel504 versteht sich als exemplarischer Streifzug durch diese heterogenen Relationalitäten und versucht, signifikante Kreuzungs- und Konfliktbereiche im Rückblick sowie mit dem Ziel einer aktuellen Standortbestimmung zu sortieren. Wissenschaft und Kunst werden dabei mit Bourdieu als soziale Felder gefasst, die sich trotz wechselseitiger Entgrenzungstendenzen – wie etwa die aktuellen Bereiche der „künstlerischen Forschung“505 oder der „ästhetischen Anthropologie“506 zeigen – weiterhin als relativ autonom behaupten. Nach wie vor bilden jeweils spezifische „Regeln der Kunst“507 bzw. der Wissenschaft – reproduziert durch etablierte Institutionen, Praktiken, Rhetoriken, Narrative, Paradigmen und Ideale – die Bedingungen der Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Akteur:innen und definieren deren Positionierung im hierarchisierten sozialen Raum. Neben diesen sozialräumlich determinierten Distinktionen mehren sich jene künstlerischen und wissenschaftlichen Praktiken, die sich in direkte Beziehung zueinander begeben und die Trennung zwischen dem künstlerischen und dem wissenschaftlichen Feld durch gezielt kreierte Übersetzungsmomente dynamisieren. Ob die in den letzten Jahren intensivierten und zunehmend institutionalisierten Annäherungen die Schranken zwischen den Feldern tatsächlich verschieben oder gerade Zeichen eines anhaltenden Reinigungsprozesses zur Grenzsicherung zwischen Kunst und Wissenschaft sind, bleibt zu beobachten. Die verstärkte Systematisierung, Bürokratisierung und Reglementierung der sich ausdehnenden Begegnungsräume in Form von institutionell legitimierten Begriffsprägungen, neuen Studiengängen, spezifischen Förderprogrammen oder hochdotierten Großprojekten deutet jedenfalls auf eine Einschränkung unkontrollierter Beziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft hin.508
504 Überarbeitete Passagen von Kapitel 5 (Relationalitäten zwischen Anthropologie und Kunst) finden sich publiziert in Laister (2018a): Learning from Greverus; Laister (2018b): Objektivierung, Projektionen, Zusammenarbeit; Laister (2018c): Ästhetische Allianzen. 505 Schönberger (2013): Ich sehe was. 506 Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie. 507 Bourdieu (1999): Die Regeln der Kunst. 508 Für die österreichische Forschungslandschaft exemplarisch angeführt seien etwa das PEEK Programm des FWF, diverse Theorie-Lehrstühle an Kunstakademien, die Fusion des IFK – Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften mit der Kunstuniversität Linz, die interuniversitäre Kooperation
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Relationalitäten zwischen Anthropologie und Kunst
Im historischen Rückblick sowie im Rahmen der hier untersuchten Fallbeispiele zeigen sich drei dominante, wechselseitig aufeinander bezogene, sich teils überlappende Beziehungsmodi, die Anthropolog:innen mit Künstler:innen pflegen: die Objektivierung von Kunst, die Inspiration durch Kunst und die Zusammenarbeit mit Kunst. Im ersten Modus (Objektivierung) dient Kunst als Forschungsgegenstand, wobei die Wissenschaftler:innen weitgehend eine distanziert-objektivierende Haltung zu künstlerischen Artefakten und Praktiken einnehmen. Der zweite Beziehungsmodus (Inspiration) beschreibt ein Verhältnis der Wissenschaft zur Kunst, welches Letztere als ähnliches Anderes diskutiert, imaginiert oder idealisiert. Kunst gilt dem anthropologischen Arbeiten hier als Inspiration, als Vorbild oder als Projektionsfläche, wobei auch hybride Akteur:innen als Grenzgänger:innen zwischen den Feldern auftreten. Im dritten Beziehungsmodus (Allianzen) zeigt sich eine Annäherung zwischen den Feldern, die in Momente der strategischen Zusammenarbeit zwischen Künstler:innen und Wissenschaftler:innen mündet. Der nach wie vor dominante Beziehungsmodus in den Sozial- und Geisteswissenschaften, so auch in der Anthropologie, ist bis heute das distanzierte, wissenschaftlich informierte Forschen über Kunst als ästhetisches Artefakt und soziale Praxis. Im anthropologischen Feld zeigt sich dabei seit den 1990er-Jahren ein signifikanter Wandel im Gegenstandsbereich. Neben klassischen ethnografischen Artefakten gilt das Forschungsinteresse zunehmend auch der modernen und zeitgenössischen Kunst, wobei vor allem jene Ansätze fokussiert werden, die sich explizit mit klassischen anthropologischen Problemstellungen (wie Identität und Alterität, das Eigene, das Fremde und das Andere, Repräsentationskritik oder Alltagskultur) auseinandersetzen oder experimentelle Adaptionen von anthropologischen Methoden (wie Feldforschung, qualitative Erhebungswerkzeuge, Sammeln, Ordnen, Klassifizieren und Archivieren) aufweisen. Gleichzeitig zeigt sich im objektivierenden Beziehungsmodus eine Änderung der Perspektivierung von einer Untersuchung des künstlerischen Objekts (Artefakte als historische Dokumente oder kulturelle Symbole) hin zur Untersuchung von Kunst als sozialer Handlung und Prozess ab. Diese Wende zu den Akteur:innen macht Künstler:innen und Anthropolog:innen zu potenziellen Partner:innen für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit. Im Fokus stehen die kollaborative Produktion sowie der intentionale Gebrauch von Bildern, Skulpturen oder performativen Ansätzen als Werkzeuge zur Gestaltung von Gesellschaft oder, um in der Terminologie Alfred Gells in seiner kunstanthropologischen Schlüsselarbeit Art and Agency509 zu sprechen: Basis der Kollaboration ist die Annahme einer agency von Kunst im sozialen Kontext, die produktiv mit der agency Wissenschaft verknüpft wird. Gell
KUWI Graz (Kunstwissenschaften Graz) sowie EU-Förderprogramme mit der expliziten Aufforderung zu interdisziplinären Einreichungen zwischen Kunst und Wissenschaft. 509 Gell (1998): Art and Agency.
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Kunst und Anthropologie. Ein exemplarischer Streifzug
definiert seinen Zugang als „action-centred approach to […] the practical mediatory role of art objects in the social process“ und fasst „art as a system of action, intended to change the world rather than encode symbolic propositions about it“510 . Gells eigener Beziehungsmodus als Anthropologe zur Kunst bleibt dabei ein objektivierender. Er stellt weder seine distanzierte Positionierung als Wissenschaftler in Frage noch idealisiert er Künstler:innen als kongeniale Partner:innen oder geht strategische Allianzen zur stärkeren Sichtbarmachung und politischen Aktivierung von Forschungsergebnissen mit ihnen ein. Allen hier kurz skizzierten Relationalitäten zwischen Anthropologie und Kunst – Objektivierung, Inspiration, Allianzen – widmet sich Kapitel 5 der vorliegenden Studie anhand von historischen wie aktuellen Beispielen. Im Fokus stehen jene Begegnungen zwischen den Feldern, die der Autorin im Zuge ihrer Teilhabe am Verlauf relationaler Kunstprojekte Anregung geboten sowie Selbstpositionierung und Verstehen ermöglicht haben. Auf einen Streifzug quer durch die (globale) anthropologische Wissensgeschichte im ersten Kapitel folgt im zweiten Kapitel ein längerer Aufenthalt in der besonders produktiven Beziehungsphase zwischen den beiden Weltkriegen, um im dritten Kapitel die ästhetischen Wege einer prominenten und umstrittenen Grenzgängerin zwischen Kunst und Anthropologie, nämlich Ina-Maria Greverus, nachzuzeichnen und kritischreflexiv weiterzuführen.
5.1
Kunst und Anthropologie. Ein exemplarischer Streifzug
Lange bevor die Anthropologie als solche benannt, im wissenschaftlichen Feld praktiziert und epistemologisch analysiert wurde, fertigten Künstler:innen bildhafte wie literarische Schilderungen der menschlichen Lebenswelten in geografisch nahen wie fernen Gebieten an. In dieser historischen Phase einer anthropology before anthropology511 findet sich – im Vergleich mit religiösen, mythologischen oder repräsentativen Motiven der kirchlichen und feudalen Auftragskunst – allerdings nur ein geringer Bestand an künstlerischen Bildern und Beschreibungen von alltäglichen Verrichtungen, Gewohnheiten und Gebrauchsgegenständen, Arbeitspraktiken und Freizeitgestaltung, Festen, Ritualen und Spielen. Kunst war vor allem Auftragskunst und lebte von kapitalstarken sakralen und feudalen Auftraggeber:innen, die wenig Interesse an realistischen Dokumentationen des Alltags ihrer Untertanen hatten. Mit der demokratischen Wende und der Neuverhandlung von sozialer Ungleichheit, die nicht mehr als göttlich vorbestimmt, sondern als politisch verhandelbar betrachtet
510 Gell (1998): Art and Agency, 6. 511 Liebersohn (2008): Anthropology Before Anthropology.
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Relationalitäten zwischen Anthropologie und Kunst
wurde, erfuhren realistische Darstellungsweisen des Lebens breiter Bevölkerungsgruppen seit dem 19. Jahrhundert einen Aufschwung. Ein Blick auf die variationsreichen dokumentarischen Praktiken zeigt, „daß oft vor den ethnologischen Analysen die literarischen Darstellungen von Alltagswelten der Gegenwart vorliegen“512 . Auch jene visuellen und verbalen Wiedergaben der sozialen Wirklichkeit, die nicht als Kunstwerk, sondern im Auftrag wissenschaftlicher oder administrativer Erhebungen angefertigt wurden, erweisen sich „anfangs weniger wissenschaftlich als künstlerisch und literarisch“513 . Diese Schilderungen quer durch die Zeiten lassen sich mit George Marcus als „kongeniale Paraethnografien“ fassen, „die in den von uns als Feld definierten Räumen bereits zirkulieren und die oftmals miteinander konkurrieren und/oder sich überlagern“.514 In diesem Tätigkeitsfeld verortet der US-amerikanische Konzeptkünstler Joseph Kossuth Mitte der 1970er-Jahre die Figur des artist as anthropologist 515 , der die soziale und kulturelle Lebenswelt des Menschen visuell forschend erkunden will. Im Unterschied zur damals dominanten, distanzierten Praxis der professionellen Wissenschaftler:innen impliziert die forschende Praxis des Künstlers als Anthropologe jedoch gleichzeitig die Verkörperung und Veränderung der untersuchten Umwelt: „His activities embody the culture“516 , sie sind „socially mediating“ und „engaged“.517 Jene Aktivitäten der Wissenschaftler:innen hingegen beschreibt er als weitgehend „dis-engaged“ und „outside of the culture“518 . Kossuths artist as anthropologist findet sich in Hal Fosters viel zitiertem Aufsatz The Artist as Ethnographer 519 zwanzig Jahre später in modifizierter Form, unter veränderten Vorzeichen und mit neuen Referenzen wieder. Beide Figuren eint eine fundamentale Kritik an der modernistischen Idee des autonomen Kunstraums sowie eine Konzeption künstlerischen Schaffens als „social impact“. Fosters artist as ethnographer nimmt darüber hinaus – vor dem Hintergrund der Kritik am hegemonialen othering ethnografischen Arbeitens – eine dezidiert politische Haltung gegenüber jeglicher Form der visuellen Repräsentation von ethnisch, sexuell oder sozial marginalisierten Akteur:innen ein. In Analogie zu Walter Benjamins Autor als Produzent (1934), der sich in den Dienst von Klasseninteressen stellt und an der Seite des Proletariats gegen den bürgerlichen Produktionsapparat kämpft, entwirft Foster den artist as ethnographer als politische Figur mit sozial-interventionistischem Handlungsanspruch. Er verlässt den
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Greverus (1987): Kultur und Alltagswelt, 115. Bringéus (1970): Perspektiven, 88. Marcus (2013): New Ends, 310 f. Kossuth (1975/1991): The Artist as Anthropologist. Kossuth (1975/1991): The Artist as Anthropologist, 119. Kossuth (1975/1991): The Artist as Anthropologist, 117. Kossuth (1975/1991): The Artist as Anthropologist, 119. Foster (1995): The Artist as Ethnographer.
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Kunst und Anthropologie. Ein exemplarischer Streifzug
gesicherten Raum modernistischer Kunstautonomie, um unter Bezugnahme auf postkoloniale und repräsentationskritische Diskurse die Stimme gegen Diskriminierung, Rassismus und Unterdrückung zu erheben. Foster platziert seinen artist as ethnographer im Kontext eines vielfach postulierten „ethnographic turn in art and art theoretic discourse“520 , den er seit den 1960ern, vor allem aber seit den 1990er-Jahren im künstlerischen Feld beobachtet. Als charakteristisch für diese Wende zur Ethnografie nennt der Kunsthistoriker einerseits ein zunehmendes thematisches Interesse am „nicht-westlichen Anderen“ in einer globalisierten Welt sowie an marginalisierten sozialen Akteur:innen im geografisch nahen Umfeld. Andererseits beobachtet er ein vermehrtes Interesse am adaptiven Einsatz von anthropologischen Methoden, wie qualitativen Recherchetechniken, Feldforschung, Raum-Kartografien, dem Sammeln von Spuren und Anlegen von Archiven. Diese neuen Themenfelder und Praktiken zeigen sich auf Biennalen und Festivals ebenso wie im Bereich von Museen, am Kunstmarkt, in der Galerien- und Vereinsszene. In ähnlicher Weise stellt auch Catherine David521 im Katalog zur Ausstellung Das Marco Polo Syndrom im Berliner Haus der Kulturen der Welt fest: „Die zeitgenössische Ästhetik und die Künstler beschäftigen sich mit sehr komplexen Themen, mit physischen, geographischen und auch mentalen und ideologischen Zuständen. Sie rücken die Kunst in ein, wie ich es nennen würde, ‚erweitertes Feld‘ der Kultur, in einen Raum, der bis vor kurzem ausschließlich der Anthropologie gehörte. Dieser Raum ist nicht leicht zu ermessen, zu klassifizieren und zu begrenzen.“522
Wenngleich mit dem Kunsthistoriker Matthew Rampley im Kontext des Diskurses um den künstlerischen ethnographic turn von einem vereinfachten und stereotypen Gebrauch der Bezeichnungen Ethnografie und Anthropologie gesprochen werden kann, so verfolgen Anthropolog:innen die Zuwendungen aus dem künstlerischen Feld mit Interesse und teils in kollaborativer Absicht.523 Für den Anthropologen George Marcus handelt es sich bei der aktuellen „fashionable (or even earnest) mimicry of anthropological practices“ in der Kunst vorwiegend um solche, „that look like fieldwork“.524 Gerade in diesem „Als-ob“ sieht er jedoch produktives Potenzial für neue Wege der Feldforschung und Repräsentation in der Wissenschaft. Er plädiert für ein genaues,
520 Foster (1995): The Artist as Ethnographer. 521 Catherine David war künstlerische Leiterin der documenta X (1997), die als signifikantes, impulsgebendes Beispiel für den ethnographic turn in der zeitgenössischen Kunst gilt. 522 David (1995): Undurchsichtige Räume. 523 Rampley bezeichnet Fosters Zugang als „somewhat loose […] for he does not imply the entire edifice of institutionalised ethnography, but rather a privileging of cultural alterity“, in: Rampley (2000): Anthropology, 139. 524 Marcus (2010): Affinities, 86 f.
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wohlwollendes und lernendes Beobachten dieser quasi-ethnografischen Rechercheund Darstellungstechniken in der Kunst und verweist auf deren reiche Tradition im Kontext der anthropology before anthropology. Denn, wie oben bereits erwähnt, lange bevor es Anthropologie als Begriff und wissenschaftliches Feld gab, wurden von Künstler:innen ähnliche Themenbereiche mit verwandten Recherchetechniken bearbeitet. Wenngleich diese anders bezeichnet und kontextualisiert waren, lohnt mit Marcus ein genaues Studium dieser proto- und paraethnografischen Expertisen zur Ausbildung neuer Strategien der Feldforschung im wissenschaftlichen Bereich. Auch der Anthropologe Tim Ingold widmet den Schnittmengen zwischen künstlerischer und anthropologischer Tätigkeit wiederholt Aufmerksamkeit. „Are artists the real anthropologists?“, fragt er in dem Buch Anthropology and/as Education und verweist auf seinen „nagging sense that people really doing anthropology, these days, are artists.“525 Er begründet diese Vermutung mit seinem Verständnis von Anthropologie als geprägt durch „generosity, open-endedness, comparison and criticality“, vor allem aber durch das Versprechen, „to bring others to life, to draw them into the field of our attention so that we, in turn, can correspond with them.“526 Wo sich diese Prinzipien auch in der Kunst finden, ortet Ingold die entscheidende Schnittmenge zwischen den Feldern: „A work of art can be anthropological, insofar as it delivers on this promise: if it serves to bring things forth into the fullness of presence, to put them ‚on the table‘, to free them from the determinations of aims and objectives. Art that is anthropological allows things to be themselves.“527
Wie Künstler:innen bereits vor Etablierung der Anthropologie im wissenschaftlichen Feld deren Themen bearbeiteten, so finden sich auch im anthropologischen Feld seit den Anfängen seiner universitären Etablierung im 19. Jahrhundert konkrete Bezugnahmen auf die Kunst. Bereits der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl spricht in seinem Vortrag Volkskunde als Wissenschaft (1859) von der „gestaltenden Kunst der wissenschaftlichen Volkskunde“. Diese zeichnet sich nicht nur durch den „Scharfsinn des Beobachters“ und das „Handwerk des statistischen Stoffsammelns“ aus, sondern durch „richtige Kombination“, „Vergleichung“ und „Folgerung“.528 Wenngleich Riehl den Terminus der Kunst nicht als direkten Verweis auf die Bildende Kunst oder die Literatur einsetzt, verweist sein Text auf die Ähnlichkeit von Arbeitsansätzen in Wissenschaft und Kunst.
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Ingold (2018): Anthropology and/as Education, 65. Ingold (2018): Anthropology and/as Education, 67 f. Ingold (2018): Anthropology and/as Education, 68. Riehl (1910): Kulturstudien, 199.
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Kunst und Anthropologie. Ein exemplarischer Streifzug
Besonders deutlich markiert der Ethnologe Fritz Kramer in seiner Studie zur „imaginären Ethnographie“ des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts diese Ähnlichkeit, wenn er die Schriften Bronislaw Malinowskis als „dem Kubismus verwandte Methode der ‚synthetischen‘ Darstellung“529 beschreibt und hervorhebt, dass Malinowski sein Vorgehen selbst als „synthetische Ethnographie“ bezeichnete. Auch der Anthropologe Clifford Geertz betont in der Studie Die künstlichen Wilden, dass Ethnografie eine „Kunst sei – und nicht eine untergeordnete Leistung wie Sachkenntnis oder eine höhere wie Erleuchtung“530 . Analogien zwischen Literatur als verbaler Kunst und Anthropologie finden sich zudem vor allem in und infolge der Writing-Culture-Debatte seit Mitte der 1980er-Jahre. In einem Sammelband zu den „half truths“ wissenschaftlichen Arbeitens betont Clifford, „dass die wissenschaftliche Anthropologie auch eine ‚Kunst‘ sei, dass ethnografische Werke literarische Qualitäten besitzen“531 . Und der Ethnologe Thomas Hauschild legt in seinen einleitenden Überlegungen zum Sammelband „Ethnologie und Literatur“ dar, „daß das wissenschaftliche Schreiben nur eine Konvention von vielen ist und daß diese Konventionen miteinander in Austausch stehen, ähnlichen Bildern folgen, sich ergänzen: Wissenschaft als Literatur und Literatur als Wissenschaft.“532 Wenn von Anthropolog:innen als Schriftsteller:innen die Rede ist, so wird ein Bild gebraucht, welches das Fremd- und Selbstverständnis prominenter Forschender bis heute prägt. Ob Margaret Mead oder Ruth Benedict, Claude Lévi-Strauss oder Ina-Maria Greverus: zahlreiche Fachvertreter:innen bezeichnen sich selbst als Anthropolog:innen und Schriftsteller:innen, integrieren Bilder als gleichwertige Repräsentationen in ihr wissenschaftliches Arbeiten oder werden, oft mit abwertender Geste, mit Künstler:innen verglichen. Als konkretes Beispiel einer Fremdzuschreibung sei etwa auf Susan Sontags Besprechung von Lévi-Strauss’ Structural Anthropology verwiesen. Unter dem Titel A Heroe of our Time beschreibt sie den französischen Ethnologen als „man who has created anthropology as a total occupation, involving a spiritual commitment like that of the creative artist or the adventurer or the psychoanalyst“.533 Mit seinen Arbeiten bezeuge er wie „Dichter, Schriftsteller und ein paar Maler […] die schwindelerregende Anziehungskraft des Fremdartigen“.534 In der deutschsprachigen Europäischen Ethnologie benennen Katharina Eisch-Angus und Marion Hamm die Empirische Kulturwissenschaft als „‚poetische Wissenschaft‘ im Sinne Utz Jeggles“, die sich „auf die interaktive Wahrnehmung im Feld bezieht“ und „im Schreiben der Faszination des Feldes Zugänge in den Text schafft“. Mit dem Konzept der „Poesie des Feldes“ fordern sie ein Zulassen der „produktiven Spannung zwischen
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Kramer (1977): Verkehrte Welten. Geertz (1990): Die künstlichen Wilden, 135. Clifford (1986/1993): Halbe Wahrheiten, 107. Hauschild (1995): Genus, Genius, 3. Sontag (1963): A Hero of our Time. Sontag (1963/2003): Der Anthropologe, 123.
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methodischer Strenge und kreativem Mut“, wenngleich sie bedauern: „Wissenschaft, die ‚schön‘ geschrieben ist, die die Dichte des Feldes mit literarischer Einfühlung angeht und dabei beansprucht, Wirklichkeit zu erfassen, bleibt verdächtig“ und zieht „noch immer […] den Vorwurf kruder Unwissenschaftlichkeit auf sich“.535 Als besonders ausgeprägt gestaltet sich das Verhältnis zwischen Anthropologie und Kunst im Kontext surrealistischer Bewegungen. Vor allem die postmoderne Kulturanthropologie US-amerikanischer Prägung widmet diesem Bereich große Aufmerksamkeit. So fragt etwa James Clifford in seinem viel zitierten Aufsatz On Ethnographic Surrealism, ob nicht jeder Ethnograf „something of a surrealist, a reinventor and reshuffler of realities“ ist, getrieben von einer „constant willingness to be surprised, to unmake interpretive syntheses, and to value – when it comes – the unclassified, unsought Other.“536 Gleichzeitig betont Clifford die Fluidität dessen, was überhaupt als Kunst und Wissenschaft gilt: „The boundaries of art and science (especially the human sciences) are ideological and shifting, and intellectual history is itself enmeshed in these shifts – its genres do not remain firmly anchored. Changing definitions of art or science must provoke new retrospective unities, new ideal types for historical description. In this sense, ‚ethnographic surrealism‘ is a utopian construct, a statement at once about past and future possibilities for cultural analysis.“537
Während Clifford Ähnlichkeiten zwischen Surrealismus und Ethnografie auf allgemeiner Ebene verzeichnet und vergleichbare Motive und Methoden bei der Erkundung der alltäglichen Wirklichkeit aufzeigt, widmen sich George Marcus und Michael Fischer in ihrer wegweisenden Schrift Anthropology as Cultural Critique (1986) den konkreten wechselseitigen Befruchtungen zwischen Kunst und Anthropologie in den 1920erund 1930er-Jahren. Signifikante Manifestationen dieses produktiven Austauschs orten sie etwa in den grenzüberschreitenden Text-, Bild- und Ausstellungsbeiträgen im Pariser Musée d’Ethnographie du Trocadéro, dem Musée de l’Homme oder in der ethnografischen Zeitschrift Documents. Diese Institutionen fungierten als prominente Begegnungszonen zwischen Anthropologie und jenen Ansätzen in der zeitgenössischen Kunst, die sich im Zuge ihrer Hinwendung zum „Fremden“ ostentativ in kritische Distanz zur eigenen Gesellschaft begaben, um nicht zuletzt ihre Alterität sichtbar zu markieren. Gleichzeitig zeugt gerade das legitimierte Setting dieser Grenzgänge im Rahmen bedeutender Museen und Zeitschriften von deren Aktualität und Ambivalenz als gleichermaßen exotisierende wie normalisierende Instanzen im Bildregime der Kolonialmacht Frankreich. Für die Anthropolog:innen, so Marcus und Fischer, resultierte
535 Eisch-Angus und Hamm (2001): Die Poesie des Feldes, 14. 536 Clifford (1981): Ethnographic Surrealism, 564. 537 Clifford (1981): Ethnographic Surrealism, 540.
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Kunst und Anthropologie. Ein exemplarischer Streifzug
aus dem Dialog mit der Avantgarde der Zwischenkriegszeit eine Konzeption von Kultur „as flexible construction of the creative faculties“, geprägt von einem Nebeneinander verschiedener, fluider, interagierender Perspektiven. Diese Sichtweise ermutigte wiederum zu neuen Repräsentationsformen „and ultimately suggests to them the possibility of including other authorial voices (those of the subjects) in their texts“538 . Während es im Frankreich der Zwischenkriegszeit nicht zuletzt aufgrund kultureller Konfliktfelder mit kolonialistischem Hintergrund zu einem regen Austausch zwischen avantgardistischer Kunst und Ethnologie kam, fehlt ein quantitativ wie qualitativ vergleichbarer Beziehungsmodus im Kontext der deutschsprachigen Volkskunde. Wie Ulrich Hägele betont, wurden „die moderne Kunst und Avantgarde offiziell kaum wahrgenommen. Der Kunstbegriff der deutschsprachigen Volkskunde beschränkte sich auf Kunsthandwerk, Volkskunst und die alten Meister“.539 Erst seit den 1990erJahren lässt sich ein zunehmendes Interesse am historischen Surrealismus feststellen. Die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus bezieht sich etwa mit Konzepten wie dem der Collage auf Max Ernsts Technik der produktiven „Zusammenführung verschiedener Realitäten und die Schöpfung eines kulturell Neuen mit eben jenem Funken Poesie“.540 Darüber hinaus imaginiert sie Streifzüge mit André Breton als Suche nach „Widerständigem“ in einer Welt der „anästhetischen Vermarktung“.541 Auch den Volkskundler Helge Gerndt beschäftigt der Surrealismus in seinen Vorüberlegungen für eine volkskundliche Bildwissenschaft, wobei es für ihn mit Blick auf das Werk des belgischen Künstlers René Magritte „reizvoll“ erscheint, dessen „künstlerische Intuition für die kulturwissenschaftliche Arbeit fruchtbar zu machen“542 . Das Studium surrealistischer Kunst vermag dem wissenschaftlichen Erkenntnisstreben etwa dort Denkanregungen zu geben, wo die Unterscheidung zwischen Repräsentation und Wirklichkeit grundsätzlich in Frage gestellt wird. Gerndt sieht den epistemologischen Wert einer Auseinandersetzung mit Magritte in jenen Bildsequenzen, in denen der Künstler Realität als stets verspiegelte Realität darstellt, den Maler als integralen Bestandteil seines Werks entlarvt oder die Gewissheit einer objektiven Wahrnehmung als trügerisch markiert.543 In jüngster Zeit hat Anja Schwanhäußer das Verhältnis zwischen Surrealismus und Ethnografie für die Stadtanthropologie neu thematisiert, indem sie die situationistische Praxis des dérive mit surrealistischen Ansätzen verknüpft und für die ethnografische
538 Marcus und Fischer (1986): Anthropology as Cultural Critique, 124 f. 539 Hägele (2008): Ethnographische Surrealisten, 73. Zu den Begegnungen zwischen dem Volkskundler Viktor Geramb und zeitgenössischen Künstler:innen im Graz der Zwischenkriegszeit vgl. Kapitel 5.2 (Sensitive Ethnology. Grenzgänger:innen in und zwischen den Weltkriegen). 540 Greverus (1990): Neues Zeitalter, 224 f. 541 Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 33 ff. 542 Gerndt (2005): Bildüberlieferung und Bildpraxis, 25. 543 Gerndt (2005): Bildüberlieferung und Bildpraxis, 20 ff.
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Erkundung urbaner Räume produktiv macht. Basierend auf James Cliffords Text On Ethnographic Surrealism definiert sie Ethnografischen Surrealismus als „subkutane Traditionslinie ethnografischen Forschens und Schreibens, die offen ist für das Nebensächliche, Subjektive und Unbewusste. Durch experimentelle, sinnesgeleitete Methoden spürt sie alternativen Realitäten nach. Die ansonsten meist erst im Nachhinein als planmäßig erscheinende Feldforschung behält ihren fragmentarischen Charakter. Sie zielt damit auf eine Relativierung der Machtverhältnisse zwischen Forscher(in) und Beforschten.“544
Ziel ihres Ansatzes ist es, „ein Sensorium für die Poesie des Alltags zu entwickeln und nach Möglichkeiten der empirischen Erfassbarkeit der ephemeren, atmosphärischen und sinnlichen Dimensionen der Alltagswelt zu suchen.“545 Wechselseitige Bezugnahmen und kollaborative Praktiken zwischen zeitgenössischer Anthropologie und Kunst finden sich seit den 2000er-Jahren in verdichteter Form. Neben den bereits erwähnten Protagonisten Clifford und Marcus widmen sich – unter Bezugnahme auf die Folgen der Writing-Culture-Debatte – etwa Arnd Schneider und Chris Wright der Vermittlung zwischen den Feldern. Im Rahmen der Tagung Fieldworks (2003) in der Londoner Tate Modern wurden praktische, theoretische und kollaborative Positionen diskutiert, mit besonderem Fokus auf das epistemologische Potenzial von Sinnlichkeit, Vieldeutigkeit und Poesie von Bildern im Forschungsprozess. Ausgehend von Lucien Taylors Kritik an der kulturanthropologischen iconophobia546 , die Schneider und Wright als Angst vor dem Vorwurf mangelnder wissenschaftlicher Exaktheit entlarven, fordern sie zu deren Überwindung eine verstärkte Aufnahme von Sinnlichkeit in die Wissenschaft durch „new and productive dialogues between the domains of Contemporary Art and Anthropology. […] Our main argument is that anthropology’s iconophobia and self-imposed restriction of visual expression to text based models need to be overcome by critical engagement with a range of material and sensual practices in the contemporary arts.“547
Auch im Bereich der deutschsprachigen Kulturanthropologie finden sich seit Beginn der 2000er-Jahre zahlreiche produktive Begegnungen zwischen künstlerischem und anthropologischem Feld. So diskutiert etwa Beate Binder das Verhältnis zwischen Kunst und Ethnografie weniger mit Blick auf die „Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwei-
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Schwanhäußer und Wellgraf (2012): Ethnografischer Surrealismus. Schwanhäußer und Wellgraf (2012): Ethnografischer Surrealismus. Taylor (1996): Iconophobia. Schneider und Wright (2006): Contemporary Art and Anthropology; Schneider und Wright (2010): Between Art and Anthropology.
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Kunst und Anthropologie. Ein exemplarischer Streifzug
er gesellschaftlicher Felder“, sondern fragt nach deren jeweiligem und mitunter auch kollaborativem „Arbeiten (an) der Imagination“548 in einer zunehmend globalisierten und deterritorialisierten Welt. Diese Gegenüberstellung von künstlerischem und anthropologischem Schaffen sieht sie insofern als produktiv, als „beide – wenn auch auf unterschiedliche Weise – zu den Imaginationen der Welt bei[tragen] und […] zugleich Räume der Auseinandersetzung um Bilder des Eigenen und Fremden“ eröffnen. „Künstler/innen und Ethnograph/innen bewegen sich im selben Terrain, wobei die Überschneidungen und Gemeinsamkeiten in dem Maß zugenommen haben, indem beide mit kulturellen Differenzen und Identitäten befasst sind. […] Gerade dort, wo Künstler/innen sich mit Hilfe ethnographischer Methoden, also auf der Basis von Felderkundungen, Interviews, Archivmaterialien, Elemente gegenwärtiger oder vergangener Lebensweisen aneignen und gestaltend transformieren, geht es ihnen – wie Ethnograph/innen auch – um das Sichtbarmachen von (marginalisierten) Lebensformen, um das Infragestellen kultureller Selbstverständlichkeiten, um die Verflüssigung verfestigter Vorstellungen von der nur einen möglichen Welt(-ordnung), um die Darstellung von Konfliktlagen und das Ausloten von Möglichkeitsräumen.“549
Im zumindest phasenweise gemeinsamen Beschreiten dieses Terrains ortet Binder epistemologisches wie politisches Potenzial. Die Basis dafür bildete eine kritische Reflexion der Trennung von Kunst und Ethnografie als unterschiedlichen Wissensordnungen eines modernen Klassifikationssystems, das seit dem 18. Jahrhundert eine dichotome Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst forciert. Diese Differenzierung wirkt bis in die Gegenwart strukturierend auf die Wissensproduktion in beiden Feldern, wobei Binder einen die Fachgrenzen überschreitenden Dialog vorschlägt, bei dem Arbeitsweisen und Zugänge in wechselseitigem Austausch neu verhandelt werden. Praxisbezogene Kooperationen zwischen Kunst und Anthropologie verfolgen Forschungsgruppen um Anthropolog:innen wie Natalie Bayer, Sabine Hess, Regina Römhild oder Kathrin Wildner, die in thematisch unterschiedlich gelagerten Forschungsund Ausstellungsprojekten – in Zusammenarbeit mit Künstler:innen – Recherche und Repräsentation konzeptuell wie praktisch verschränken.550 Grundlage dieser Zusammenarbeit ist eine Kritik distanzierter Repräsentation sowohl im künstlerischen als auch im wissenschaftlichen Feld, die in eine gemeinsame Suche nach politischer Intervention durch reflexive und kritische Formen der Sichtbarmachung und des emanzipativen Eingreifens mündet.
548 Binder (2008): Arbeiten (an) der Imagination, 10. 549 Binder (2008): Arbeiten (an) der Imagination, 11. 550 Vgl. z. B. Hess et al. (2008): Die Kunst des Regierens; Bayer et al. (2009): Crossing Munich; Becker et al. (2013): Global Prayers; Barz et al. (2017): metroZones.
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Kritik und Eingreifen durch Ko-Produktionen zwischen Kunst und Wissenschaft stehen auch im Zentrum der Arbeit des Kulturanthropologen Klaus Schönberger und seines Teams. Als Anknüpfungspunkt dient ihm die künstlerische Forschung, „die als Resultat vielfältiger Entgrenzungsprozesse […] für sich in Anspruch nimmt, spezifische Formen der Erkenntnisproduktion zu ermöglichen.“551 Basierend auf der Erfahrung mehrerer transdisziplinärer Projekte, die ethnografisches und künstlerisches Forschen vereinten, plädiert er für „Ko-Produktion“ in der Zusammenarbeit: „Dazu bedarf es einer transdisziplinären Perspektive, welche die derzeit entgrenzten gesellschaftlichen Bedingungen methodisch und epistemisch einzuholen versucht und mehr darstellt als lediglich ein Nebeneinander von Perspektiven. […] Die im Sinne einer Ko-Produktion vorgeschlagene Entgrenzung versteht ihr Vorgehen als Öffnung sowie Überschneidung der jeweiligen Methoden und Episteme – nicht nur als Ergänzung, sondern als ‚produktive Verstrickung‘ […] mittels dialogischer Verfahren […] und in Form einer Ko-Produktion.“552
Überlegungen zur Zusammenarbeit zwischen Fotografie und Stadtforschung stellt die Anthropologin Alexa Färber gemeinsam mit den Sozialwissenschaftlerinnen Cécile Cuny und Sonja Preissing im Kontext der Praxis einer kooperativen Fotografie- und Stadtforschung an. Dabei konfrontieren sie den „Mythos des Forschungskollektivs“ mit der „Alltagserfahrung von Hierarchien, genderspezifisch ungleicher Teilhabe und Auseinandersetzung um Autorenschaft“553 . Basierend auf einer langjährigen Zusammenarbeit im Forschungsnetzwerk Penser l’urbain par l’image sowie auf Erfahrungen im kooperativen Projekt Itinéraire HafenCity untersuchen sie die Methode von FotoStadtspaziergängen als „tiefe“, multiperspektivische und -mediale Kooperation unter besonderer Berücksichtigung von Überraschungen, Dissonanzen und Modifikationen. Dabei, so die Beobachtung des Forschungsteams, „ist ein Aspekt besonders deutlich geworden: das starke Autonomiestreben von Fotografin und Ethnografin, das im Spannungsverhältnis zu einer als übereinstimmend vorausgesetzten Vorstellung von angemessener Zusammenarbeit stand“.554 Von kunsttheoretischer Seite wird der verstärkten Hinwendung von Anthropolog:innen zur Bildenden Kunst seit Mitte der 1990er-Jahre erhöhte Aufmerksamkeit entgegengebracht. Hal Foster (1995) beobachtet seit den späten 1980er-Jahren ein „virtual theater of projections and reflections between anthropology and art“ im Zeichen postkolonialer
551 Holfelder und Schönberger (2018): Ethnografisches und künstlerisches Forschen, 7. 552 Holfelder und Schönberger (2018): Ethnografisches und künstlerisches Forschen, 12. Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem auch die jüngste Publikation von Hamm und Schönberger (2021): Contentious Cultural Heritage. 553 Cuny et al. (2019): Autonomie und Zusammenarbeit, 52. 554 Cuny et al. (2019): Autonomie und Zusammenarbeit, 64.
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Sensitive Ethnology. Grenzgänger:innen in und zwischen den Weltkriegen
Kritik. Er vermutet als Ursache für die wissenschaftlichen Grenzgänge ins künstlerische Feld „a kind of artist envy“ und fragt kritisch: „But is the artist the exemplar here, or is this figure not a projection of an ideal ego of the anthropologist? The anthropologist as collagist, semiologist, avant-gardist? In other words, might this artist envy be a self-idealization in which the anthropologist is remade as an artistic interpreter of the cultural text?“555
Fosters Skepsis gegenüber den anthropologischen Grenzgängen in Richtung des künstlerischen Feldes gilt jedoch vor allem den Effekten des ethnografischen Surrealismus. Die Idealisierung des Kunstschaffenden „as paragon of formal reflexivity, sensitive difference and open to chance“ verkenne die Spielregeln der Kunst, die ebenso wie die Spielregeln der Anthropologie in ein System von Machtbeziehungen eingebunden sind.556 Emanzipatorische Repräsentationskritik, so folgert er, resultiert nicht automatisch aus der Aufnahme künstlerischer Strategien in die Wissenschaft. Wie Foster mit Verweis auf Pierre Bourdieus Überlegungen zu den wirkmächtigen Kontrollmechanismen gegenüber sozialräumlichen Überschreitungen betont, wird regelwidriges Agieren entweder subtil mit Nichtbeachtung, Marginalisierung oder Zensur sanktioniert – oder für strukturstabilisierende Zwecke instrumentalisiert. Diesen gouvernemental und sozialräumlich begründeten Ambivalenzen und Effekten künstlerisch-anthropologischer Zusammenarbeit wird im folgenden Kapitel am Beispiel höchst unterschiedlicher Grenzgänge zwischen Kunst und Anthropologie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen exemplarisch nachgespürt.
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Sensitive Ethnology. Grenzgänger:innen in und zwischen den Weltkriegen
Wie alle jungen Disziplinen standen die Kultur- und Sozialanthropologien, die Volksund Völkerkunden mit ihrer universitären Etablierung seit dem späten 19. Jahrhundert vor der Herausforderung, ihre Wissenschaftlichkeit methodisch und theoretisch unter Beweis zu stellen. Zentrale Anforderung war es, das empirisch Wahrgenommene in Wort und Bild möglichst objektiv darzustellen, wobei die visuellen Aufzeichnungen teils die Forschenden – oder ihre Gewährsleute – selbst vornahmen. Je nach Möglichkeit oder Notwendigkeit wurden, wie in den Naturwissenschaften, Künstler:innen beauftragt, die vorgefundenen Objekte, Topografien, Menschen, Symbolwelten und
555 Foster (1996): The Return of the Real, 180. 556 Foster (1995): The Artist as Ethnographer, 304.
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Praktiken grafisch bzw. fotografisch festzuhalten. Die dokumentarischen Zeichnungen und Fotografien dienten dabei als Gedankenstütze, der Beweisführung sowie zur Illustration und nonverbalen Kommunikation der Forschungsergebnisse.557 Darüber hinaus fungierten fotografische Dokumentationen, wie etwa der Fotograf und Ethnologe Terence Wright in seinen Überlegungen zum Stellenwert der Fotografie in Bronislaw Malinowskis wissenschaftlicher Arbeit ausführt,558 als Medium zur sozialen Interaktion sowie als visuelle Grundlage für erweiterten Erkenntnisgewinn. Der Anthropologe und Kunsthistoriker Christopher Pinney zeigt auf, dass der Fotoapparat anfangs durch seine „quantifying and reality appropriating capacities“559 die Illusion nährte, die Wirklichkeit naturgetreu darstellen zu können. Und die Anthropologin Anna Grimshaw umreißt das Versprechen der frühen Fotografie im Kontext anthropologischer Forschung als „a more reliable and objective way of gathering evidence […] to minimize the subjectivity of the observer“.560 Mit fortschreitender Professionalisierung des Faches wurde die Objektivität der Datenrecherche und der Repräsentation durch Künstler:innen zunehmend mit Misstrauen bedacht, vor allem dann, wenn über die naturalistische Darstellung von Sachverhalten hinaus auch Stimmungswerte transportiert wurden. Wie Christopher Pinney in seinen Ausführungen zu Parallel Histories of Anthropology and Photography darlegt, legitimierte zwar das „mechanische Auge“ der Kamera, das zwischen fotografierendes Subjekt und Wirklichkeit geschoben werden konnte, die Delegation visueller Datenakquise an Nicht-Wissenschaftler:innen. Die wissenschaftliche Skepsis gegenüber der Selektivität und den sinnlichen Dimensionen – auch von mechanischen Bildproduktionen – blieb allerdings bestehen. Als frühes Beispiel für das ambivalente Verhältnis zwischen Kunst und Anthropologie gelten Bronislaw Malinowskis (1884–1942) ethnografische Studien, in denen Zeichnung und Fotografie einen zentralen Stellenwert einnehmen. Terence Wright konstatiert einen engen Zusammenhang zwischen Malinowskis ausgeprägtem Interesse an Bildeinsatz, -aufbau und -wirkung und seiner langjährigen freundschaftlichen Beziehung mit dem polnischen Avantgarde-Künstler Stanisław Ignacy Witkiewicz (bekannt als Witkacy, 1885–1939). Den Bruch mit Witkacy, den Malinowski ursprünglich für grafische und fotografische Visualisierungen im Kontext seiner Forschungen auf 557 Diese Bilder sind nicht nur in anthropologischen Museen zu sehen, sondern im Zuge der ethnografischen Wende im künstlerischen Feld seit den 1990er-Jahren vermehrt auch in Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Als jüngstes Beispiel soll hier die documenta 14 (2017) angeführt werden. Ausgestellt waren unter anderem Bilder von einem unbekannten Fotografen aus dem Jahr 1895, die dieser für das frühere Nationalmuseum der USA (heute Teil der Smithsonian) angefertigt hatte. Sie zeigen den Anthropologen Franz Boas, wie er Posen einer Hamat’sa Zeremonie nachstellt, um die indigenen Praktiken dem amerikanischen Publikum zu vermitteln. 558 Wright (1994): The Anthropologist as Artist. 559 Pinney (1990): Photographic Construction, 260. 560 Grimshaw (2008): Visual Anthropology, 295.
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den Trobriand-Inseln während des Ersten Weltkriegs engagieren wollte, führt Wright nicht nur auf persönliche und ideologische, sondern auch auf ästhetische Differenzen zurück. Witkacys künstlerisch-experimentelle Grundeinstellung, die (foto-)grafische Praxis als eigenständige, an avantgardistischer Ästhetik orientierte Ausdrucksform fasste, schien mit Malinowskis Status als aufstrebendem Wissenschaftler nicht vereinbar, wenngleich in Briefwechseln und Tagebüchern zahlreiche Hinweise auf Malinowskis kreativen Umgang mit visuellen wie schriftlichen ethnografischen Darstellungen zu finden sind.561 Wie angedeutet, wurde die Beauftragung von Künstler:innen zur Visualisierung von wissenschaftlichen Daten und Forschungsergebnissen zunehmend skeptisch betrachtet. Als zentrale Ursache für diese iconophobia562 gilt eine bis heute wirkmächtige Ablehnung der Integration von sinnlichen Ausdrucksqualitäten in die als rational konzipierte Welt der modernen Wissenschaft. Deren Ideal einer „Kunst der Genauigkeit“ diskutiert Michael Oppitz als Grundlage für die Marginalisierung von visuellen und anderen sensuellen Repräsentationen zugunsten der Wort- und Textzentriertheit im anthropologischen Feld.563 Dennoch zeigen sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vor allem in der Zwischenkriegszeit international Tendenzen der programmatischen (Re-)Integration von Sinnlichkeit in anthropologische Studien.564 Exemplarisch angeführt seien hier – neben Malinowski’s Kiriwina565 als Beispiel aus der britischen Sozialanthropologie – die Positionen von so unterschiedlich Forschenden wie den USamerikanischen AnthropologInnen Elsie Clews Parsons (1875–1941), Ruth Benedict (1887–1948), Edward Sapir (1884–1939) und Margaret Mead (1901–1978) oder dem österreichischen Volkskundler Viktor Geramb (1884–1958). Die Auswahl gerade dieser Protagonist:innen gründet in einem themenbezogenen Interesse an der lokalen (Grazer) Fachgeschichte mit der noch kaum beforschten Fragestellung, in welchem Verhältnis Gerambs außerordentlich enge Zusammenarbeit mit Künstler:innen sowie sein besonderes Engagement im Bereich der musealen und kulturellen Vermittlung zu seiner öffentlich deutschnational-völkischen Agitation stand. Zur heuristischen Kontrastierung und transnationalen Perspektivierung der Forschungsfrage wurden Zeitgenoss:innen Gerambs aus dem Feld der US-amerikanischen Anthropology gewählt, die zwar ebenfalls künstlerische Kontakte pflegten und akademische Arbeit mit gesellschaftlicher Intervention produktiv verknüpften, diese ästhetischen
561 Wright (1994): The Anthropologist as Artist; Wright (2000): Malinowski, 17 ff; Benedyktowicz (2000): Photographic testimony. 562 Taylor (1996): Iconophobia. 563 Oppitz (1989): Die Kunst der Genauigkeit; Brückner (2005): Wort oder Bild; Schneider und Wright (2006): Contemporary Art and Anthropology; Leimgruber et al. (2013): Visuelle Anthropologie. 564 Vgl. im historischen Streifzug des vorherigen Kapitels vor allem die Ausführungen zum ethnografischen Surrealismus im Frankreich der Zwischenkriegszeit. 565 Young (1998): Malinowski’s Kiriwina.
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Allianzen allerdings für emanzipatorische Einschreibungen in den wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Raum nutzten. Im universitären Kontext legitimierten die genannten Akteur:innen ihre sensitiven Praktiken einerseits mit epistemischen, andererseits mit kulturpolitischen Argumenten. Als epistemische Grundlage dient der Verweis auf die Begrenztheit der wissenschaftlichrationalen Sprache zur Repräsentation der sinnlichen Dimensionen menschlichen Daseins. Umfassende Erkenntnis darüber, so das zentrale Argument, ist nur unter gezielter Einbindung nicht-rationaler Ebenen in den Recherche-, Analyse- und Darstellungsprozess möglich. Die kulturpolitische Argumentation basiert auf der Überzeugung, dass das Wissen über den Menschen als soziales und kulturelles Wesen von gesellschaftlicher Relevanz ist und unter Bildung von Allianzen mit verschiedenen Akteur:innen innerund außerhalb des wissenschaftlichen Feldes gesellschaftlich produktiv gemacht werden soll. Dieses Ansinnen verfolgte etwa Viktor Geramb566 durch enge Kooperationen mit zeitgenössischen Künstler:innen wie Emmy Hiesleitner-Singer, Marta Elisabet Fossel, Norbertine Bresslern-Roth oder Alexander Silveri, die seine volkskundlichen Forschungen durch Illustrationen zum steirischen Volks-, Trachten- und Märchenwesen, Zeichnungen vernakulärer Architektur, materieller Kultur und regionaler Landschaften, durch museale Raumausstattungen oder skulpturale Gestaltungen begleiteten und visuell vermittelten. In einer Würdigung des Schriftstellers Peter Rosegger reflektiert Geramb die Relationen zwischen Kunst und Wissenschaft unter klarer Distanznahme zur gängigen Praxis, „mit der Sonde der Wissenschaft“ künstlerisches Schaffen „zu zerpflücken“: „Ich stehe selbst zu sehr auf dem für manche freilich als ‚altvaterisch‘ erscheinenden Standpunkt, daß wahre Wissenschaft und wahre Kunst nicht nur keine Gegensätze sind, sondern daß vielmehr eine auf die andere angewiesen ist.“567 Den Bereich, „wo Kunst und Wissenschaft ineinanderfließen“, ortet er in den anderen Möglichkeiten der Kunst, die „Schwingungen der ganzen Volksseele“ durch „fein beobachtete Einzelzüge“ zu schildern. Diese poetischen Dimensionen, „die doch so unendlich wichtig für die feinere Kenntnis des Volkstums sind“, wird „ein wissenschaftlich volkskundliches Werk nie […] zu geben vermögen“, so seine Überzeugung.568 Zwar könnten künstlerische Darstellungen auch Quelle oder sachliche Beschreibung sein, vor allem aber bieten
566 Zur Rolle von Viktor Geramb als Netzwerker zwischen Kunst, Architektur und Wissenschaft im Kontext der deutschnational-völkischen Bewegung der Steiermark in und zwischen den Weltkriegen vgl. Senarclens de Grancy (2013): Heimatschutz; Senarclens de Grancy (2007): Keine Würfelwelt; HolzerKernbichler (2016): Bresslern-Roth und Fossel; Eisch-Angus (2016a): Unheimlich heimisch; Eberhart (1994): Nationalgedanke; Verhovsek (2011): Theoriendynamik. 567 Geramb (1914/1974): Peter Rosegger, 46. 568 Geramb (1914/1974): Peter Rosegger, 51 und 61.
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sie „subjektiv für den, der sie richtig zu lesen versteht, die wertvollsten Perlen für eine richtige Volkserkenntnis“.569 Als Leitkonzept, das seine Kollaboration mit Künstler:innen vor allem im Bereich der Gestaltung von Museen und Ausstellungen begründete, diente die Idee des „Raumgeists“570 . In Berührung kam Geramb mit Begriff und Praxis des Raumgeists in den Jahren 1913 und 1914 im Rahmen von je mehrwöchigen Sommerkursen, abgehalten in München vom Generaldirektor der bayrischen Museen Georg Hager. Dieser betrachtete museale Objekte nicht als isolierte Ausstellungsgegenstände, sondern als Teil eines zu vermittelnden Raumgeists, der durch eine unabdingbare Verschränkung von Dingen und Museumsraum die Besucher:innen mit allen Sinnen umfangen sollte. Die Zusammenarbeit mit Künstler:innen als Expert:innen atmosphärischer Produktion stellte die Voraussetzung für die Umsetzung seines Ansatzes dar.571 Die skizzierten Formen der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler:innen und Künstler:innen als Erkenntnisstrategie wie auch zur gesellschaftlichen Intervention basierten zudem auf einer Kritik der modernen Zivilisation bei gleichzeitiger Idealisierung vormoderner, vermeintlich „genuiner“ Gemeinschaften und Praktiken. Ästhetische Allianzen dienten damit auch dem, wie es Geramb formulierte, „konservativen Festhalten eines einst allgemeinen Seelenzustandes […], für den uns hastenden kribbligen Nervenmenschen, mit unserer jagenden Ruhelosigkeit des Denkens, der richtige Maßstab völlig verlorengegangen ist“.572 Gerambs ästhetischer Standort, angesiedelt zwischen den Ideen von Volksseele und Raumgeist, prägte seine freundschaftlichen wie professionellen Beziehungen mit Künstler:innen, wobei das von ihm 1913 in Graz gegründete Volkskundemuseum mit Heimatwerk573 und die Universität ebenso als strategische „Kommunikations- und Vernetzungspunkte“ für seine ästhetischen Allianzen dienten wie das rege Vereinswesen
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Geramb (1914/1974): Peter Rosegger, 51. Geramb (1949): Meinen Nachfolgern. Geramb (1951): Viktor von Geramb; Schweighofer (2000): Heimatschutz. Geramb (1914/1974): Peter Rossegger, 50 f. Katharina Eisch-Angus ortet bei Geramb einen „ästhetisch fundierten Antikapitalismus“, der „Proletarisierung und Verelendung als Folgen von Technik, Industrialisierung und beginnender Globalisierung parallel zu den Modernitätsverlusten des Ursprünglichen und Echten“ beklagt. Vergleichbare, wenngleich anders artikulierte Abwehrstrategien beobachtet sie zeitgleich etwa bei Walter Benjamin, der im Gegensatz zu Geramb allerdings „die Schrecken des Ersten Weltkriegs als Entfesselung von Technik und Kapitalismus auf den Faschismus hin weiterzudenken“ vermochte. Vgl. Eisch-Angus (2016b): Ästhetik, 33; 37. 573 Das Heimatwerk wurde von Geramb 1933/34 als Verkaufs- und Beratungsstelle für Tracht und Volkskunst gegründet, wobei bereits 1917 eine volkskundliche Verkaufsstelle am Volkskundemuseum eingerichtet wurde. Zum Heimatwerk als Beispiel angewandter Volkskunde sowie zu Gerambs Leben und Werk vgl. v. a. Greger und Verhovsek (2007): Viktor Geramb.
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jener Zeit.574 Geramb war aktives Mitglied etwa im Verein für Heimatschutz in Steiermark575 , der Akademischen Sängerschaft Gothia oder dem Deutschen Schulverein Südmark576 , die als zentrale Akteure der deutschnational-völkischen Bewegung der Zwischenkriegszeit und damit als bedeutende Wegbereiter des Nationalsozialismus wirkten.577 In diesem Sichtbarkeitsregime kam ästhetischen Allianzen zwischen Wissenschaft und Kunst besondere Bedeutung zu, da sie durch die kollaborative Verknüpfung von Wort und Bild, Rationalität und Sinnlichkeit, Wissen und Ästhetik als Katalysatoren für die umfassende Verbreitung der dominanten politischen Interessen jener Zeit dienten. Nach Helmut Eberhart ist es „kein Zufall“, dass Geramb im Jahr 1924 die Venia Legendi in „Deutscher Volkskunde“ an der Universität Graz erhielt, sondern Ausdruck der damaligen „großen Phase des Institutionalisierungsprozesses“ als Folge der politischen Bewegungen jener Zeit.578 So würdigte die Habilitations-Kommission in ihrem Schlussbericht nicht nur die methodische Reifung der „Deutschen Volkskunde“ als wissenschaftliches Fach, sondern betonte, dass diese Dozentur auch den „kulturpolitischen Forderungen der Zeit“ entspreche und „zugleich vor einer der schwersten nationalen Aufgaben unseres Volkes steht, der gründlichen und klaren, phrasenfreien Erkenntnis deutscher Eigenart und deutschen Wesens […]“. Volkskunde solle „für die Hörer aller Fakultäten“ offen sein und der „nationale[n] Erziehung der akademischen Jugend“ sowie der „sittliche[n] Erneuerung unseres zerrütteten Volkstums“ dienen.579 Für die Zeit nach 1934 bezeichnet Antje Senarclens de Grancy „die ‚Heimatpflege‘ […] neben der Förderung des Volksbildungswesens“ als einen „der Schwerpunkte der ständestaatlichen Kulturpolitik in der Steiermark […], nicht zuletzt um das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Bevölkerung zu stärken“.580 In diesem gesellschaftlichen und politischen Kontext wirkte Geramb mittels ästhetischer Allianzen
574 Vgl. Senarclens de Grancys Ausführungen zur „bodenständigen Moderne“ in der Architektur der Zwischenkriegszeit; Senarclens de Grancy (2007): Keine Würfelwelt, 40. 575 Vgl. Senarclens de Grancy (2013): Heimatschutz; Zur exponierten Rolle des Steirischen Heimatschutzes, dessen zentrale Protagonist:innen bereits in den 1920er-Jahren offen mit dem Nationalsozialismus sympathisierten vgl. Moll (2015): Konfrontation – Kooperation – Fusion. 576 Zu Genese und Position des Vereins Südmark als radikaler völkisch-nationaler Variante politischer Agitation mit zunehmend antislawischer und antisemitischer Ausrichtung vgl. v. a. Zettelbauer (2012): Antisemitismus. 577 Zum deutschnational völkischen Milieu in der Zwischenkriegszeit unter besonderer Berücksichtigung der spezifischen Situation im Grenzland Steiermark nach Zusammenbruch der Donaumonarchie und im Kontext des Austrofaschismus vgl. Zettelbauer (2012): Antisemitismus; zum Begriff der Wegbereiter vgl. Schmidt et al. (2015): Wegbereiter; zu Gerambs Beitrag, „den Weg für die Nationalsozialisten zu ebnen“, vgl. Eberhart (1994): Nationalgedanke, 431. 578 Eberhart (1994): Nationalgedanke, 427. 579 Universitätsarchiv Graz, Akt Geramb, zitiert nach Eberhart (1994): Nationalgedanke, 428 f. 580 Senarclens de Grancy (2007): Keine Würfelwelt, 127.
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zwischen Universität, Museums- und Vereinsinitiativen als aktiver „Heimatmacher“581 nicht nur in der deutschnationalen Vereins- und Heimatschutz-Szene582 , sondern auch in der lokalen zeitgenössischen Kunstszene.583 Letztere zeichnete sich nach Ende des Ersten Weltkriegs dadurch aus, dass „neben der Weiterentwicklung der internationalen Anregungen […] eine verstärkte Auseinandersetzung mit heimischen Traditionen zutage“ trat. Nach Wilfried Skreiner wurde „das Bodenständige und Heimatverbundene […] neben der Wertschätzung des handwerklichen Könnens, nicht nur durch die Werkbünde, sondern ebenso politisch in verschiedener Art gefördert“. Auch Gerambs „Bemühungen auf dem Gebiet der Volkskunde“ begannen sich zunehmend „breiter auszuwirken und zogen die Künstler an sich“.584 Senarclens de Grancy spricht mit Blick auf die Kunst und Architektur in der Steiermark der Zwischenkriegszeit von „Positionen einer ‚bodenständigen Moderne‘“,585 die kulturpolitisch gezielt gefördert wurden und aus denen in einem von Kontinuitäten, Brüchen und Überlagerungen geprägten Prozess die nationalsozialistische Kultur- und Planungspolitik hervorging. Auf vergleichbare Entwicklungen verweist Hermann Bausinger bereits 1965 in Bezug auf die „nationalsozialistische Volkskunde“, indem er betont, dass der Nationalsozialismus „nicht etwa fremde Ideen hereintrug, auch nicht etwa nur periphere Elemente verstärkte, sondern durchaus zentrale Gedanken dieser wissenschaftlichen Disziplin herausstrich“.586 Gleichzeitig waren diese „zentralen Gedanken“ der „völkischen Bewegung“ durch eine „einflußreiche Mittel- und Mittlergruppe“ verbreitet und gesellschaftlich produktiv gemacht worden. „Dies begann nicht erst 1933, und dies hörte 1945 nicht auf.“587 Als notwendige Voraussetzung zur Verhinderung derartiger ideologischer Verflechtungen in der Zukunft ruft Bausinger einerseits dazu auf, der Wissenschaftsgeschichte einen besonderen Stellenwert einzuräumen, war doch „die Volkskunde der Ort, an dem sich nationalsozialistische Gedankengänge mit am stärksten austobten.“ Gerade deswegen fordert er, dass „ideologische Bestandteile aufgedeckt und solide Theorien entwickelt werden.“ Andererseits müsse sich der Volkskundler in „Gefühlsaskese üben, und […] jede Verführung ins geheimnisvolle Halbdunkel zurückweisen“ – auch „auf die Gefahr hin, daß er damit einzelne Objekte verfehlen könnte“. Mit Verweis unter anderen auf Viktor Geramb warnt er vor dem Etikett „Nur für Ergriffene“, mit dem „gegen den 581 Binder (2013): Die Heimatmacher; zur Konzeption des Heimat- und Volksbegriffs bei Geramb vgl. Eberhart (1994): Nationalgedanke; Greger und Verhovsek (2007): Viktor Geramb; Verhovsek (2011): Theoriendynamik. 582 Senarclens de Grancy (2001): Moderner Stil, 173; Senarclens de Grancy (2013): Heimatschutz. 583 Vgl. Holzer-Kernbichler (2016): Bresslern-Roth und Fossel; Eisenhut und Weibel (2001): Moderne; Skreiner (1965): 100 Jahre. 584 Skreiner (1965): 100 Jahre, 19; für den Bereich der Dominanz des „Heimischen Bauens“ in der Architektur vgl. auch Senarclens de Grancy (2001): Moderner Stil; Senarclens de Grancy (2013): Heimatschutz. 585 Senarclens de Grancy (2007): Keine Würfelwelt. 586 Bausinger (1965): Volksideologie, 177. 587 Bausinger (1965): Volksideologie, 176.
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Intellektuellen, den Hyperintellektuellen, den ‚internationalen Typ‘ zu Feld gezogen wird“. Im Gegenzug dazu plädiert er für ein klares Bekenntnis „zu den ‚Aufgeklärten‘“, die nicht „jeden farbigen Rummel“ mitmachen.588 Die politisch unterstützte Konjunktur ästhetischer Allianzen zwischen Wissenschaft und Kunst im Kontext deutschnational-völkischer Agitation zwischen den beiden Weltkriegen, wie sie etwa bei Geramb manifest wird, weist diese als wirkmächtige „Wegbereiter des Nationalsozialismus“ aus. Brigitte Zuber bezeichnet mit dieser kontrovers diskutierten Deutungsfigur jene „Wege, auf denen sich der Nationalsozialismus mithilfe von Organisationen und Personen entwickelte und seine Charakteristika finden, formen und ausbilden konnte“.589 Im Gegensatz zu den gängigen Deutungsfiguren der „Instrumentalisierung“ von Personen, Disziplinen oder Ideen durch den Nationalsozialismus, der „Weggenossenschaft und Zuarbeitung“ oder der „identischen Grundhaltung“ bei differenter Radikalität richtet Zuber ihr Interesse auf das Mit-, In- und Gegeneinander heterogener Wirkkräfte und Netzwerke. Dabei verfolgt sie Organisationsnetze, Querverbindungen und Zusammenspiele im weiten Spektrum von Akteur:innen und Gruppierungen aus verschiedenen sozialen Feldern (v. a. der Politik, Publizistik, Kunst, Wissenschaft oder Ökonomie), aus denen der Nationalsozialismus hervorging. Die Historikerin Heidrun Zettelbauer betont in diesem Zusammenhang, dass die individuellen wie institutionellen Pfade der Wegbereiter nicht nur von „Kontinuitäten und Kompatibilität“, sondern auch von „Inkohärenz, Diskontinuität und Instabilität“ geprägt waren.590 Mit Stefan Breuer lassen sich diese Prozesse in der Deutungsfigur der „Interferenz“ zwischen verschiedenen Entwicklungsbahnen bündeln, aus denen sich der Nationalsozialismus in einem Prozess der Überlagerungen bei gleichzeitigen „Distanzierungsprozessen, Verwerfungen und unverhohlenen Konkurrenzen“ entwickelte. Die ästhetischen Allianzen zwischen Volkskunde und Kunst, wie sie etwa Geramb im Kontext der deutschnational-völkischen Bewegung der Zwischenkriegszeit einging, erweisen sich vor diesem Hintergrund als Teil eines gesellschaftlichen und politischen Netzwerkes an Akteur:innen, Institutionen, Ideen und Praktiken, welches die notwendige Grundlage für die Genese des Nationalsozialismus als Massenbewegung bildete. Unter anderen Vorzeichen und mit konträren politischen Interessen finden sich auch im New York der 1920er- bis 1940er-Jahre verschiedene Anthropolog:innen, die ästhetische Allianzen sowohl als wissenschaftliche Erkenntnisstrategie wie auch zur öffentlichen Intervention in zivilisationskritischer Absicht eingesetzt haben.591 Silvy Chakkalakal beobachtet eine „vernetzte Kulturanthropologie, die sich in gesellschaftliche Debatten der Zeit zu Rassismus, Einwanderung und Nationalismus aktiv einmischte“
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Bausinger (1965): Volksideologie, 175 f. Zuber (2015): Im Netz, 143. Vgl. Zettelbauer (2015): Landkarten, 196. Vgl. v. a. Marcus und Fischer (1986): Anthropology as Cultural Critique; Stocking (1989): Ethnographic Sensibility; Chakkalakal (2017): Sensitive Patterning; King (2020): Schule der Rebellen.
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und dabei „kreativen Kooperationen“ einen wesentlichen Stellenwert einräumte.592 Dieser zivilisationskritische, transdisziplinäre Zeitgeist zwischen den beiden Weltkriegen zeigt sich etwa in den Aktivitäten von Elsie Clews Parsons, Margaret Mead, Ruth Benedict oder Edward Sapir, die – geprägt von und in Austausch mit künstlerischen Akteur:innen – die dominanten Dogmen westlicher Zivilisation und wissenschaftlicher Rationalität herausforderten. Rolf Lindner spricht von einer „Generation von Kulturflüchtigen […], die eine neue wissenschaftliche Disziplin inauguriert, die es erlaubt, die eigene Kultur dadurch zu kritisieren, dass sie ihr den Spiegel einer anderen vorhält“.593 Die „kulturellen Dissidenten“, die gegen gesellschaftliche Konventionen anschrieben, bewegten sich in avantgardistischen Künstler:innenkreisen und pflegten bohemistische Lebensstile. Wenngleich eine fundierte Forschung über den wechselseitigen Austausch zwischen künstlerischer Bohème der 1920er-Jahre und amerikanischer Kulturanthropologie abseits freundschaftlicher Kontakte noch weitgehend Desiderat ist, begründet George Stocking „the ethnographic sensibility of the 1920s“ nicht zuletzt mit nachweisbaren Verbindungen zwischen künstlerischem und kulturanthropologischem Feld.594 Die gemeinsame Kritik richtete sich gegen eine Welt der „Kultur als Schein“, in der „authentische Erfahrungen und die Entwicklung einer genuinen Persönlichkeit“ nicht mehr möglich waren. Kunst wurde bei dieser Suche nach Authentizität als Experimentierraum für eine andere Welt imaginiert.595 So war Elsie Clews Parsons nicht nur Präsidentin der American Folklore Society, der American Ethnological Society sowie der American Anthropological Association, sondern auch Mitglied im feministischen Klub Heterodoxy, engagierte sich in der Settlement- und Friedensbewegung und gründete gemeinsam mit der Kunstmäzenin und Schriftstellerin Mabel Dodge Luhan eine Künstler:innenkolonie in Taos, New Mexico. Beate Binder bezeichnet sie als „Bewohnerin eines Grenzraums, […] der sich im Überlagern von Objekt und Subjekt, von Forscherin und Beforschten, von wissenschaftlichem und literarischem Schreiben und von wissenschaftlichem und politischem Agieren konstituiert“.596 Auch Margret Meads Arbeit weist ein mehrdimensionales Naheverhältnis zur Kunst auf. So verweist sie in einem autobiografischen Aufsatz auf ihren ursprünglichen Plan, Schriftstellerin zu werden, den sie allerdings aufgrund ihres Respekts vor dem künstlerischen Genie sowie ihrer Berufung zur Anthropologie aufgegeben hatte. Künstlerisches Schaffen, so Meads Haltung in Analogie zum herrschenden modernistischen Zeitgeist, ist dem Genie vorbehalten, während Wissenschaft unter der Voraussetzung von
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Vgl. Chakkalakal (2017): Sensitive Patterning, 338. Lindner (2013): Zwei oder drei Dinge, 19. Stocking (1989): Ethnographic Sensibility. Lindner (2013): Zwei oder drei Dinge, 20. Binder (2013): Grenzverschiebungen, 61.
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entsprechender intellektueller Konditionierung, Fleiß und Ausdauer alle betreiben können.597 „An old preference for using one’s talents – I originally misread the Gospel story – was vigorously revived. Not only must I do what I could do well – science rather than art in which genius was demanded – but also what needed to be done now […]. By the spring, after lying awake all night in the excitement of genuine vocational choice, I decided to become an anthropologist.“598
Darüber hinaus verkehrte Mead in den 1920er-Jahren in Kreisen der künstlerischen Bohème New Yorks und war Mitbegründerin der Ash Can Cats, einer kunstaffinen Studentinnengruppe am New Yorker Barnard College. Der Name paraphrasiert eine 1908 gegründete Maler:innengruppe des Amerikanischen Realismus, die aufgrund ihrer ungeschönten, gesellschaftskritischen Darstellungen von großstädtischer Armut, Kriminalität und Slum-Alltag von Kunstkritiker:innen abschätzig als „Ashcan School“ bezeichnet wurde. Zivilisationskritische Züge unter Zugriff auf künstlerische Strategien zeigen sich bei Mead auch in ihren wissenschaftlichen Arbeiten, wobei sie für die „Kultivierung der sensuellen Wahrnehmung“ als „echten“ Erkenntnisweg zur Fremdheit plädiert599 und „durch die experimentelle Verknüpfung von Text, Bild, Film, Objekt und Gedicht visuelle, sensuelle und poetische Wirkungen ermöglicht und damit anthropologisches Wissen auf spezifische Weise hervorbringt und zugänglich macht“.600 Silvy Chakkalakal beschreibt Meads Praxis als „Opposition zur dominanten evolutionistischen Schule“ sowie zu den homogenisierenden Amerikanisierungskampagnen im Zuge der Immigrationsbewegungen um die Zeit des Ersten Weltkriegs. Cultural Anthropology, so Chakkalakal, galt nicht nur der Rettung „fremder Kulturen“, sondern auch „als eine Art Rettung für die eigene Gesellschaft“.601 Die sensitive ethnologists602 der Zwischenkriegszeit lassen sich als Kulturkritiker:innen beschreiben, die „die mangelnde Einfühlungskraft, Kreativität, Imaginationskraft, Spiritualität der westlichen Zivilisation kritisieren“ und vor diesem Hintergrund eine spezifische Faszination für das scheinbar Genuine „primitiver“ Kulturen entwickeln. Wenn „modernistische Sensibilität“ als Interesse an schöpferisch-gestaltenden Momenten in Kulturen gesehen wird, „so ist es naheliegend, dass sensitive ethnologists selbst auch künstlerische Wege gingen“ und damit die rational orientierte Welt der
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Neidhöfer (2021): Arbeit an der Kultur, 104 ff. Mead (1974): Margaret Mead, 311. Chakkalakal (2014): Margaret Mead, 17. Chakkalakal (2014): Margaret Mead, 14. Chakkalakal (2014): Margaret Mead, 19. Sapir (1924): Culture, 414.
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Sensitive Ethnology. Grenzgänger:innen in und zwischen den Weltkriegen
Wissenschaft kritisch in Frage stellten.603 Mit Blick auf die frühe US-amerikanische Cultural Anthropology und ihre „Kunst des Einfühlens“ plädiert Chakkalakal dafür, grundlegende anthropologische Kategorien wie jene „des Echten und Lebendigen zum einen als ästhetische und sensuelle Kategorien offen zu legen, und zum anderen den anthropologischen Primitivismus als einen ästhetischen Diskurs zu behandeln, dem man sich nur annähern kann, wenn man die künstlerischen Kontexte der Zeit in die Analyse miteinbezieht“.604
Auch die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus beschreibt den anthropologischen Primitivismus des frühen 20. Jahrhunderts als Symptom für einen „ästhetischen Standort“ der Forschenden, von dem aus sie angesichts der rapiden Transformationen durch Industrialisierung und Urbanisierung „angetreten waren, zu retten, was noch zu retten war“.605 In dieser spezifischen historischen Situation bot sich die Kunst insofern als Komplizin an, als auch in diesem sozialen Feld eine „große Verweigerung“ gegenüber den Zumutungen der Moderne zu beobachten ist. Gleichzeitig interpretiert Greverus die verdichteten Begegnungen zwischen Kunst und Wissenschaft als wissenschaftskritische Praxis im Sinne einer „Suche nach einer Identifikation mit der anderen Ästhetik, um sich selbst aus der Umklammerung einer dialoglosen akademischen Welt zu retten“.606 Ästhetische Allianzen in und zwischen den Weltkriegen gründeten nicht zuletzt in einer kulturkritischen Wahrnehmung moderner wissenschaftlicher Rationalität, kapitalistischen Fortschritts und rapider Transformationen städtischer wie regionaler Lebenswelten. Die Zusammenarbeit mit Künstler:innen stellte dabei die Möglichkeit gesellschaftlicher Intervention in Aussicht, wodurch gleichzeitig die modernistischen Prinzipien der Reinheit und der Zweckfreiheit von Kunst bzw. Wissenschaft herausgefordert wurden. Gleichzeitig verhandelten die hier exemplarisch vorgestellten Akteur:innen die Zumutungen der Moderne im Kontext ihrer lokalspezifischen Situiertheit sowie ihrer habituellen und politischen Orientierungen auf konträre Weise. Während Gerambs deutschnational-völkische Orientierung die Fusionierung von Kunst und Wissenschaft als homogenisierende Ordnungsstrategie zum korrigierenden Eingreifen in eine „in Unordnung geratene […] Welt, Gesellschaft, Kultur“ einsetzte,607 eröffnete sie für die „Schule der Rebellen“608 um Franz Boas einen dritten Raum für die emanzipatorische Neukonzeption der sozialen Verhältnisse.
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Chakkalakal (2014): Margaret Mead, 20. Chakkalakal (2014): Margaret Mead, 20. Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 62. Vgl. auch Ege (2007): Afroamerikanophilie. Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 446. Zettelbauer (2015): Landkarten, 219. King (2020): Schule der Rebellen.
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Relationalitäten zwischen Anthropologie und Kunst
In der Zusammenführung verschiedener wissenschaftsgeschichtlicher Perspektiven auf die Konjunktur von Vernetzungen zwischen Kunst und Wissenschaft in bzw. zwischen den beiden Weltkriegen erweisen sich ästhetische Allianzen als Funktionen eines ambivalenten modernen Sichtbarkeitsregimes, das reguliert, was in welcher Art und Weise von und mit wem erforscht, öffentlich gesagt und gezeigt werden kann. Vor diesem Hintergrund lohnt ein näherer Blick auf die gegenwärtig wieder verstärkte Bildung ästhetischer Allianzen zwischen Universitäten auf der einen und Vereinen, Museen, Galerien, Schulen, Politik, Kunst- und Kulturinstitutionen auf der anderen Seite. In Zeiten des „ästhetischen Kapitalismus“609 werden derartige Kollaborationen zunehmend weniger skeptisch betrachtet, sondern gefördert und gefordert. Bevor dem Potenzial dieser Kollaborationen im letzten Teil der vorliegenden Arbeit610 Aufmerksamkeit gewidmet wird, gilt das nächste Kapitel der Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus (1929–2017), die im Handlungsraum zwischen Kunst, Kulturanthropologie und gesellschaftlicher Intervention Pionierarbeit geleistet hat. Ihre Wege zu einer ästhetischen Anthropologie sollen im Folgenden kritisch gewürdigt und unter Bezugnahme auf die kunsttheoretischen Ansätze von Pierre Bourdieu und Jacques Rancière produktiv weiterentwickelt werden.
5.3
Ästhetische Anthropologie. Idee, Kritik, Perspektiven
Die vorliegende Studie mit ihrem Fokus auf Übersetzungsmomente im Kontext relationaler Kunstproduktion basiert nicht zuletzt auf Impulsen durch Forschungspraktiken der Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus.611 Ihr „Mut und Eigensinn“612 inspirierte wie irritierte gleichermaßen, vor allem dann, wenn sie – in „a kind of artist envy“, um in den Worten Hal Fosters zu sprechen – die Kunst zum idealisierten Fluchtort aus der „dialoglosen akademischen Welt“613 stilisierte. Dieses Kapitel dient einerseits der Würdigung ihrer exponierten Position im Überschreiten der Grenzziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft, vor allem aber der kritisch-produktiven Weiterentwicklung ihrer Wege zu einer ästhetischen Anthropologie614 .
609 Reckwitz (2012): Kreativität; Böhme (2016): Ästhetischer Kapitalismus. Vgl. auch Cuny et al. (2019): Autonomie und Zusammenarbeit. 610 Vgl. Kapitel 6 (Lernen von relationaler Kunst. Für eine translationale Anthropologie). 611 Vgl. Laister (2013b): bzw. Feldforschung. 612 Rolshoven (2018a): Ina-Maria Greverus. 613 Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 62. 614 Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie.
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Ästhetische Anthropologie. Idee, Kritik, Perspektiven
Diese fachlich unkonventionellen Wege beschritt Greverus konzeptuell wie praktisch im Austausch mit Künstler:innen und Fachkolleg:innen, unter anderen615 mit George Marcus und weiteren Vertreter:innen der US-amerikanischen Cultural Anthropology seit den 1990er-Jahren. Als Antwort auf die ethnografische Repräsentationskrise im Zuge der Diskussionen um die hegemoniale Praxis des writing culture rief sie zum performing culture auf und plädierte für eine Neuperspektivierung der othering-Debatte, „die sich irgendwann nicht mehr nur als selbstgefälliges Sündenbekenntnis, sondern als Suche nach anderen, vielleicht ‚ästhetischeren‘ Repräsentationsformen versteht.“616 Diese alternativen Strategien entwarf sie suchend und fragend sowie mit direktem Bezug auf Michel Leiris als „Antiethnographie? Oder doch besser eine andere, eine ästhetische Ethnographie, die der sinnlichen Berührung, der Imagination und der Sinnsuche Raum gibt“617 . Dabei fragte sie nach Kulturanthropolog:innen als „Spurensucher und Spurensicherer in Zwischenräumen und Übergangsräumen einer Welt, die sich in ihrer ökonomischen Globalisierung kulturell nähert und doch entfernt.“618 Greverus’ besondere Aufmerksamkeit galt dem, was sie als „andere Ästhetik“ in der Anthropologie bezeichnete. Ihr charakteristisches, gleichermaßen umsichtiges wie forderndes, stets fragendes Suchen widmete sie dabei nicht zuletzt dem „ästhetischen Standort“ der Wissenschaftler:innen in Relation zu jenem der Kunstschaffenden: „Haben Anthropologen einen ästhetischen Standort? Kann ich selbst als Anthropologin aus den Erfahrungen dieser ästhetischen Denker und Künstler lernen, kann ich ihre theoretischen, methodischen und vermittelnden Schritte für meine Forschungen und Interpretationen fruchtbar machen?“619
In Greverus’ wissenschaftlicher Arbeit nimmt das Forschen über, durch und mit Kunst einen zentralen Stellenwert ein. Sie verknüpfte nicht nur ihr anthropologisches Reisen konsequent mit dem Besuch von Orten zeitgenössischer Kunstproduktion – von Niki de Saint Phalles toskanischem Zaubergarten über mexikanische und kalifornische Murales bis hin zu steirischer herbst in Graz. Vielmehr konzipierte sie wissenschaftliches Arbeiten zunehmend als ästhetische Praxis, die sie selbst als Grenzgängerin zwischen Kunst und Wissenschaft beschritt. Explizit und extensiv thematisierte sie ihre Suche
615 Nachdrücklich hingewiesen sei an dieser Stelle auf jene Wissenschaftler:innen, die als Schüler:innen, Kolleg:innen und Wegbegleiter:innen von Ina-Maria Greverus ihre Ansätze des kollaborativen, reflexiven, grenzüberschreitenden Forschens gemeinsam mit ihr entwickelt, weiterentwickelt und weitergetragen haben, wie etwa Elisabeth Katschnig-Fasch, Johannes Moser, Gisela Welz, Regina Römhild oder Sabine Hess. 616 Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 99. 617 Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 79. 618 Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 99. 619 Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 61.
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nach dem „ästhetischen Standort des Anthropologen“ in ihrem Spätwerk Ästhetische Orte und Zeichen. Wege zu einer ästhetischen Anthropologie. Darin verfolgt und theoretisiert sie einen Modus wissenschaftlicher Wahrnehmung und Repräsentation, den sie als „ästhetisches Denken“ bezeichnet. Dieses Denken durchdringt die Wahl des Gegenstands (1) und die Konzeption von Feldforschung (2) ebenso wie den Analyseund Repräsentationsprozess (3). (1) Als Gegenstand widmet sich die ästhetische Anthropologie nach Greverus der Herstellung und dem Gebrauch von „ästhetischen Orten und Zeichen“ durch das Kulturwesen Mensch. Greverus meint damit kulturelle Zwischenräume, hybride und brüchige Zonen „jenseits der Räume gesellschaftlich eindeutiger Gewissheiten“ und ökonomischer Determiniertheit.620 „Wir suchen uns unser Forschungsfeld selbst aus, wir sind an der anthropologischen Performance beteiligt“621 , war Greverus überzeugt und forderte eine grundlegende Reflexion der eigenen selektiven Wahrnehmung der Welt bzw. der Hierarchisierung von Potenzialitäten des Untersuchungsraums. Durch die (mehr oder weniger) freie Wahl des Gegenstands wird stets nur ein bestimmter Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit beforscht und sichtbar gemacht, woraus per se gesellschaftliche Verantwortung resultiert. (2) Wesentliches Charakteristikum einer ästhetischen Anthropologie als Untersuchung von Nischen und Zwischenräumen ist für Greverus die Konzeption von Feldforschung als „Wahrnehmung mit allen Sinnen, und das heißt als ästhetische Wahrnehmung“.622 Als zentral gilt die unmittelbar physische Präsenz der Forschenden in ihrer Fähigkeit der multisensuellen Perzeption und zwischenmenschlichen Kommunikation, was Greverus als performing culture konzipierte: „Performing Culture sehe ich als ein Prinzip der dialogischen Gestaltung von Wirklichkeit, an der der feldforschende Wissenschaftler beteiligt ist. Die Performance ist die Inszenierung einer Interaktions- und Kommunikationssituation, in der ein kultureller Text hergestellt wird.“623
Performing culture im Zuge empirischer Erhebungen bietet dabei eine mögliche Antwort auf die Repräsentationskrise im Kontext der Writing-Culture-Debatte, denn othering, die hegemoniale Herstellung des Anderen im ethnografischen Prozess, „beginnt im Feld und nicht am Schreibtisch“. Zur Umsetzung dieser Konzeption von performing culture schlägt Ina-Maria Greverus neue Allianzen vor, etwa in Form einer „Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Anthropologen“, um auf diese Weise „Polyphonie, reflexive Untersuchung, Dialog und neue Strategien für die Feldforschung als radikale
620 621 622 623
Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 116. Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 347. Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 102. Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 102.
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Ästhetische Anthropologie. Idee, Kritik, Perspektiven
Experimente, die die Ästhetik der Feldforschung berühren“, zu erproben. Mit George Marcus versteht sie „den Künstler als anregenden Innovator für eine Wende in der Feldforschung, die innerhalb der Anthropologie nicht geleistet werden kann“. (3) Auch die Analyse- und Repräsentationsphase ist im Rahmen einer ästhetischen Anthropologie nach Greverus vom „ästhetischen Denken“ geprägt. Als Bezugsgrößen nennt sie prominente Fachkolleg:innen wie Michel Leiris, Claude Lévi-Strauss oder Margaret Mead, die – nicht zuletzt geprägt von avantgardistischen künstlerischen Praktiken – das Erkennen durch Vernunft gezielt verknüpft haben mit dem Erkennen durch sinnliche Wahrnehmung. In Wahlverwandtschaft mit diesen Denker:innen macht sie sich stark für eine wissenschaftliche „Sprache der Berührung“, die ihr von der „Sprache der Interpretation“624 in rationaler Manier zunehmend bedroht erscheint. Mit dieser „Suche nach anderen, vielleicht ‚ästhetischeren‘ Repräsentationsformen“ eröffnet sie Wege aus der ethnografischen Repräsentationskrise, diskutiert und erprobt Möglichkeiten der Entschärfung stark hierarchisierter Begegnungen im Forschungsprozess. Ästhetische Anthropologie ist für Greverus immer auch „ethisch und parteilich“625 angelegt und reflektiert im Prozess der Analyse und Repräsentation „die Imaginationskraft der Anthropologen als eine Ebene von Erfahrung und Interpretation im Erkenntnisprozess“.626 Liest man den Greverus’schen Entwurf für eine „andere Ästhetik“ in der Anthropologie vor dem Hintergrund der beiden Hauptvarianten moderner Ästhetik nach Gethmann-Siefert,627 so zeigt sich eine klare Abkehr von jeglicher Vorstellung von Ästhetik im Sinne einer modernistischen Reinigungsarbeit zwischen sinnlicher Erfahrung und Vernunfterfahrung. Vielmehr wendet sich Greverus hin zu einer produktiven Vermittlung zwischen Ästhetik und Epistemologie, wobei sie dieser Übersetzungsarbeit eine dezidiert ethische Aufgabe zuschreibt. Die dichotome Konzeption von sinnlicher und rationaler Weltwahrnehmung wird zur Förderung eines emanzipatorisch ausgerichteten Handelns aufgegeben. Diese politische – mit Chantal Mouffe als streitbar-antagonistisch zu identifizierende – Ausrichtung einer anderen Ästhetik in der Anthropologie dient als Ausgangspunkt für eine konzeptuelle Erweiterung des Greverus’schen Denkansatzes. Als zentrale Referenz gelten zwei zumeist als Kontrahenten rezipierte Figuren kunsttheoretischer Forschung, die sich beide der Frage nach dem emanzipatorischen Potenzial von Kunst widmen: Jacques Rancière und Pierre Bourdieu, die in Anlehnung an den Kunsthistoriker Jens Kastner und seine profunde Analyse zum Streit um den ästhetischen Blick628 hier als
624 625 626 627
Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 88. Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 99. Greverus (2005): Ästhetische Anthropologie, 116. Vgl. Gethmann-Siefert (1995): Ästhetik; zu Kunst als Erkenntnis vs. Kunst als Handeln vgl. Kapitel 3.3.1 (Ästhetik. Produktive Facetten eines vieldeutigen Begriffs). 628 Kastner (2012): Streit.
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unexpected allies629 in Dialog miteinander gebracht werden. Dieses kritisch-produktive Weiterdenken von Greverus’ Suche nach einer anderen, emanzipatorischen Ästhetik in der Anthropologie geht damit weniger Aspekten von Sinnlichkeit, Emotionalität oder Körperlichkeit im Prozess der ethnografischen Forschung nach, wie sie gegenwärtig vielfach zu beobachten ist.630 Sie ist vielmehr an der Enthüllung jener „verborgenen Mechanismen der Macht“ interessiert,631 die den anthropologischen Blick historisch wie heute auf bestimmte Ausschnitte der sozialen Welt lenken, während andere thematische und disziplinäre Bereiche aus Wahrnehmung, Repräsentationen und epistemologischen Begegnungen ausgeblendet bleiben. Sowohl Rancière als auch Bourdieu widmen – in vielfach widersprüchlicher Weise – ihre Aufmerksamkeit dem emanzipatorischen Potenzial von Kunst oder, wie Rancière es nennt: der „Politik der Ästhetik“ und der „Ästhetik der Politik“. Als Grundlage befragen beide die Bedingungen der Möglichkeit, auf die eine oder andere Weise wahrzunehmen, wobei Rancière im Besonderen das Verhältnis zwischen verschiedenen Realitätsebenen im Sinne der Befragung einer „ästhetischen Distanz“ sowie einer „konsensuellen Fiktion des wirklichen Lebens“ in den Blick rückt. „Das Gebäude der Kunst zu gründen bedeutet, ein bestimmtes Identifizierungsregime von Kunst zu definieren, das heißt ein spezifisches Verhältnis zwischen Praktiken, Formen der Sichtbarkeit und Weisen der Verständlichkeit, die ihre Erzeugnisse als zur Kunst oder zu einer Kunst gehörig zu identifizieren erlauben. Dieselbe Statue derselben Göttin kann Kunst sein oder nicht, oder sie kann es unterschiedlich sein, je nach dem Identifizierungsregime, in dem sie erfasst wird.“632
Je nach Identifizierungsregime wird ein und dasselbe Werk, ein und dieselbe Praxis anders rezipiert, wobei nach Rancière Kunst im „ästhetischen Regime der Künste“, das seit den Anfängen der modernen Ästhetik im 18. Jahrhundert und bis heute die gesellschaftliche Positionierung von Kunst dominiert, nur sich selbst zum Zweck hat. In dieser Autonomie gründet für Rancière in der modernen Welt, in der alles einem Zweck zu dienen hat, das widerständige Potenzial von Kunst – für den Philosophen vergleichbar mit dem politischen Potenzial des „freien Spiels“ in Friedrich Schillers Überlegungen zur ästhetischen Erziehung des Menschen. Rancière plädiert unter Bezugnahme auf Kant und Schiller dafür, dass das ästhetische Urteil
629 630 631 632
Buzelin (2005): Unexpected Allies. Arantes und Rieger (2014): Ethnographien der Sinne; Braun et al. (2017): Kulturen der Sinne. Bourdieu (1992/1997): Macht. Rancière (2007): Unbehagen, 39.
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Ästhetische Anthropologie. Idee, Kritik, Perspektiven
„weder dem Gesetz des Verstandes unterworfen [ist], noch dem Gesetz der Empfindung, die einen Gegenstand des Wollens aufzwingt. Die ästhetische Erfahrung hebt beide Gesetze zugleich auf. Sie hebt folglich die Machtverhältnisse auf, die normalerweise die Erfahrung des erkennenden, handelnden oder wollenden Subjekts strukturieren.“633
Das ästhetische Regime der Kunst weist damit eine Widerständigkeit im Sinne einer Freiheit im Spiel auf, die der Kunst allein durch ihre Identifikation als Kunst inhärent ist und weder durch ethisches Verhalten (wie im „ethischen Regime der Bilder“) noch durch bildhaft-mimetische Darstellung (wie im „repräsentativen Regime der Kunst“) erzielt werden muss. Nicht explizit politische Themen oder Praktiken machen Kunst politisch, sondern eine Unterbrechung der herrschenden ästhetischen Normen und des dominanten Funktionalitätsdiktats. Rancière konstatiert damit eine dem Kunstwerk immanente „Politik der Ästhetik“ – „und zwar nicht als eine Einbildung unbedarfter Philosophen, sondern als eine zwei Jahrhunderte alte Wirklichkeit, die von den Institutionen der Kunst, das heißt von den materiellen Bedingungen ihrer Sichtbarkeit verkörpert wird.“634 Im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum ästhetischen Regime der Künste finden sich bei Rancière auch solche zu einer „Kunst des Übersetzens“635 , die das emanzipatorische Potenzial explizit partizipativer, das Publikum aktivierender Praktiken, wie sie die relationale Kunstpraxis prägen, kritisch befragt. In seinem breit rezipierten Text Der emanzipierte Zuschauer, der eine grundlegende Kritik an aktivierender Kunstproduktion entwirft, widmet der französische Philosoph der „l’art de traduire“636 wiederholte Aufmerksamkeit. Im Fokus stehen aktivierende künstlerische Praktiken, die das Publikum als passiv antizipieren und es durch inhaltlich wie ideologisch klar formulierte Anweisungen zum richtigen Handeln anregen wollen. Die Überbrückung der Distanz zwischen Kunstschaffenden und Zuschauenden fasst Rancière mit dem Begriff des „Übersetzens“, wobei er eine zu schließende Kluft als „normale Bedingung jeder Kommunikation“637 bezeichnet. Im Zuge dieser l’art de traduire unterscheidet Rancière zwei grundlegende Formen der Übersetzung: Die erste, dominante Übersetzungsart produziert einen „radikalen Abgrund“ zwischen den beteiligten „Menschenwesen“. Dieser Abgrund dient der klaren Hierarchisierung zwischen Wissenden und Unwissenden und zielt auf Reproduktion der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Rancière bezeichnet diese hegemoniale Austauschbeziehung in Anlehnung an den französischen Gelehrten Jean Joseph Jacotot (1770–1840) als „Praxis der Verdummung“, die er überall dort ortet, wo ein „Experte“ 633 634 635 636 637
Rancière (2007): Unbehagen, 114. Rancière (2000/2008): Die Aufteilung des Sinnlichen, 79. Rancière (2008/2009a): Der emanzipierte Zuschauer, 21. Rancière (2008/2009a): Der emanzipierte Zuschauer, 17. Rancière (2008/2009a): Der emanzipierte Zuschauer, 21.
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das Wissen eines anderen als „Wissen eines Unwissenden“638 geringschätzt und diesen Unwissenden „zuallererst diesen radikalen Abstand […], seine eigene Unfähigkeit“ und damit die „Ungleichheit der Intelligenzen“ lehrt. Die zweite Übersetzungsart versteht Rancière hingegen als „Praxis der intellektuellen Emanzipation“.639 Sie geht von einer radikalen Gleichheit der in einem Kommunikationsprozess verhandelten, heterogenen Wissensformen aus und schwört „jeglichem Wissen von der Unwissenheit“ ab: „Die Distanz, die der Unwissende überschreiten muss, ist nicht der Abgrund zwischen einer Unwissenheit und dem Wissen des Meisters. Sie ist einfach der Weg von dem, was er bereits weiß, zu dem, was er noch nicht weiß […], nicht um die Position des Wissenden einzunehmen, sondern um besser die Kunst des Übersetzens auszuüben, seine Erfahrungen in Worte zu setzen und seine Worte auf die Probe zu stellen, seine intellektuellen Abenteuer für die anderen zu übersetzen, und die Übersetzungen, die sie ihm von ihren Abenteuern vorlegen, rückzuübersetzen.“640
Die Kunst des Übersetzens bezieht sich in dieser Gebrauchsweise des Begriffs auf Kommunikationsformen, die nicht der Bestätigung eines dominanten Wissens dienen, sondern der Kreation einer eigenständigen, noch unbekannten „dritten Sache“.641 Sie setzt ein Setting voraus, in dem die Expert:innen (wie Künstler:in, Lehrer:in oder Wissenschaftler:in) die Rolle „des unwissenden Lehrmeisters“ einnehmen; die „Unwissenden“ (wie das Publikum, die Schüler:innen oder die Disziplin-Fremden) hingegen spielen die „aktiven Interpreten […], die ihre eigene Übersetzung ausarbeiten, um sich die ‚Geschichte‘ anzueignen und daraus ihre eigene Geschichte zu machen. Eine emanzipierte Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft von Erzählern und von Übersetzern.“642 Rancière konzipiert die „Kunst des Übersetzens“ als Kommunikationsprozess mit offenem Ausgang, geleitet von der Vorstellung einer radikalen Gleichheit jeglicher „Intelligenzen“. Während die Rancière’sche Figur des „emanzipierten Zuschauers“ der Künstler:in im ästhetischen Prozess als gleichwertige Produzent:in gegenübersteht, negiert planmäßige Partizipation diese Egalität. Vielmehr tendieren aktivierende künstlerische Praktiken zur Vergrößerung der Kluft zwischen den Menschenwesen, anstatt diese – wie sie vorgeben – zu minimieren. Mit Jens Kastner liegt dieser Rancière’schen Konzeption einer emanzipatorischen Kunst des Übersetzens durch die emanzipierten Zuschauenden die Idee zugrunde, „dass so etwas wie eine allen gemeinsame, sinnliche Erfahrung existiere bzw. möglich sei“. Unter Bezugnahme auf Kant und Schiller erklärt 638 639 640 641 642
Rancière (2008/2009a): Der emanzipierte Zuschauer, 19. Rancière (2008/2009a): Der emanzipierte Zuschauer, 20. Rancière (2008/2009a): Der emanzipierte Zuschauer, 21. Rancière (2008/2009a): Der emanzipierte Zuschauer, 25. Rancière (2008/2009a): Der emanzipierte Zuschauer, 33.
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Ästhetische Anthropologie. Idee, Kritik, Perspektiven
er damit „implizit Bourdieus gesamtes, auf die Widerlegung eines solchen Gemeinsinns ausgerichtetes sozial- und kulturtheoretisches Schaffen für ungültig“.643 Konfrontiert man mit Kastner die Figur der emanzipierten Zuschauer:in sowie die Überlegungen zur egalitären Kunst der Übersetzung mit Pierre Bourdieus Vorstellung der sozialräumlich positionierten Akteur:in, so zeigen sich sowohl die Konfliktlinien zwischen den beiden Denkern als auch die Potenziale einer Verknüpfung. Bourdieus Kunsttheorie geht nicht von einer „Behauptung der Gleichheit“644 aus, vielmehr interessieren ihn gerade die „tiefen Abgründe“ zwischen den sozialen Akteur:innen. Während Rancières Überlegungen zur politischen Dimension von Kunst von einem Gemeinsinn der Menschenwesen ausgehen, fokussiert Bourdieu habituell geprägte Unterschiede und ungleiche Kapitalverteilung als Grundlage jeglicher Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsprozesse. Emanzipatorisches Potenzial sieht er gerade im Aufzeigen und Hinterfragen jener Mechanismen der Macht, die eine Überbrückung der feinen Unterschiede verhindern und soziale Ungleichheit reproduzieren. Obwohl es beiden – Rancière wie Bourdieu – vor dem Hintergrund derselben politischen Feind:innen um „die Kunst und ihr politisches Potential […] [,] die Frage nach den angemessenen Modi kritischer Wissenschaft […], um emanzipatorische Praxis schlechthin“ geht, kulminieren ihre Positionen in Kastners Worten in einem „Streit um den ästhetischen Blick.“ „Der ästhetische Blick konnte nicht zuletzt deshalb zu einem solchen Kulminationspunkt werden, weil Bourdieu und Rancière […] die Grundannahme teilen, dass die Ästhetik im engeren Sinne der Kunstproduktion und -rezeption mit einer Ästhetik im weiteren Sinne, den allgemeinen Denk- und Wahrnehmungsmöglichkeiten, verknüpft ist.“645
Während Rancière allerdings von einer grundlegenden Gleichheit und Freiheit der Denk- und Wahrnehmungsweisen „vor allen sozialen Zurichtungen und jenseits aller ökonomischen Unterschiede“646 ausgeht, betrachtet Bourdieu Ästhetik – und damit auch die idealisierte Vorstellung einer Zweckfreiheit der „reinen Kunst“ – als Resultat sozialer, ökonomischer und politischer Distinktion. Bourdieus Interesse gilt der Entmystifizierung der verborgenen Mechanismen der Macht, die Differenz herstellen und im Kontext der Kunstproduktion und -rezeption wirksam und reproduziert werden. Deren Entlarvung als bürgerliches Privileg, das „die wahren Verhältnisse verschleiert und sie (durch diese Verschleierung) reproduziert“,647 bildet nach Bourdieu die Voraussetzung für emanzipatorische Praxis. Erst wenn die Bedingungen der Möglichkeit, Kunst auf die 643 644 645 646 647
Kastner (2012): Streit, 19. Kastner (2012): Streit, 7. Kastner (2012): Streit, 7. Kastner (2012): Streit, 17. Kastner (2012): Streit, 16.
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eine oder andere Weise zu betrachten, im Kontext der ungleichen Verteilung von Kapital und Macht gesehen werden, lässt sich eine emanzipatorische Praxis des Übersetzens zwischen Ungleichen denken. Bourdieu räumt dabei den sozialen Akteur:innen durchaus Handlungsspielräume ein. Wenngleich er sich dezidiert gegen die existenzialistischen Freiheitsvorstellungen etwa eines Jean-Paul Sartre wendet und Rancières Vision einer totalen Freiheit konträr gegenübersteht, reduziert er sie nicht auf die Rolle der puren Träger:innen einer Struktur, wie ihm vielfach vorgeworfen wird.648 Auch die Konzeption des Feldbegriffs als Raum sozialer Kämpfe verweist auf die – wenngleich beschränkte – Verhandelbarkeit und Beweglichkeit sozialer Positionen und habituell geprägter Wahrnehmungsmöglichkeiten von Welt. „Bildungssystem, Staat, Kirche, politische Parteien oder Gewerkschaften sind keine Apparate, sondern Felder. In einem Feld kämpfen Akteure und Institutionen mit unterschiedlichen Machtgraden und damit Erfolgsaussichten nach den (und in bestimmten Konstellationen auch um die) für diesen Spiel-Raum konstitutiven Regularitäten und Regeln um die Aneignung der spezifischen Profite, die bei diesem Spiel im Spiel sind.“649
Wie Rancière zielt auch Bourdieu auf eine Kritik der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die Förderung emanzipatorischen Handelns. Beide identifizieren die Klüfte zwischen den Feldern als herrschaftsstabilisierend und fordern einen veränderten Umgang damit. Während Rancières philosophische Antwort jedoch in der rhetorischen und ästhetischen Egalisierung im Sinne der Postulierung einer „radikalen Gleichgültigkeit“ liegt, besteht Bourdieus Rezept in der klaren Sichtbarmachung hegemonialer Klassifizierungen. Die „Kunst des Übersetzens“ wäre – den Soziologen weitergedacht – in einem ersten Schritt die Erfassung und Benennung der „radikalen Abgründe“ zwischen sozialräumlich unterschiedlich positionierten Akteur:innen. Dieses Aufzeigen bildet die Basis für die Forderung nach ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapitaltransfer, was wiederum als Voraussetzung dafür gilt, egalitäre ästhetische Bedingungen einzurichten, und zwar im Sinne der Möglichkeit, Welt wahrzunehmen, das Wahrgenommene zu reflektieren und zu artikulieren und schließlich mit diesen Artikulationen wiederum wahrgenommen zu werden. Vor dem Hintergrund von Greverus’ Forderung nach einer neuen Ästhetik in der Anthropologie bieten beide Ansätze produktive Anschlussmöglichkeiten für eine Erweiterung ihres „ästhetischen Denkens“: Mit Bourdieus Ansatz lassen sich die in (künstlerischen) Wahrnehmungsprozessen wirkmächtigen sozialräumlichen Klüfte aufzeigen
648 Vgl. auch Latours und Callons Vorbehalte gegenüber der als strukturdeterministisch eingestuften Denkweise Bourdieus: Kapitel 3.1 (Gouvernementale Dimension des Übersetzungsbegriffs). 649 Bourdieu und Wacquant (1992/2006): Reflexive Anthropologie, 133.
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Ästhetische Anthropologie. Idee, Kritik, Perspektiven
und damit reflektier- und veränderbar machen (bei gleichzeitiger Gefahr ihrer Reproduktion und Verfestigung); Rancières Ansatz ermöglicht, eine radikale Gleichheit in (künstlerischen) Wahrnehmungsprozessen zu antizipieren (bei gleichzeitiger Gefahr der Verschleierung dominanter Sehweisen als Privileg von sozialräumlich privilegiert positionierten Akteur:innen). Eine ästhetische Anthropologie versteht sich dabei als Vermittlerin zwischen diesen Positionen und konzipiert die relationale Kunstpraxis als kongeniale Partnerin. In dieser Studie wurden eine Konzeption von Übersetzung als analytische Linse entfaltet, drei Fallbeispiele empirisch untersucht und in einer historischen Rückblende richtungsweisende Kollaborationen zwischen Kunst und Anthropologie herausgearbeitet. Wie diese mehrdimensionale Übersetzungsarbeit im Sinne eines kollaborativen emanzipatorischen Handelns angedacht ist, wie ihre Potenziale eingeschätzt und wo Grenzen geortet werden, steht im Mittelpunkt der abschließenden Überlegungen.
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Schluss: Lernen von relationaler Kunst. Für eine ästhetische Anthropologie
Die vorliegende Studie ist das Ergebnis von qualitativen Forschungen in relationaler und über relationale Kunst in städtischen Transformationsgebieten. Was hat die Kulturanthropologin dabei im Kern gelernt – über das Feld der Kulturanthropologie, das Feld der Kunst und die Möglichkeiten einer kollaborativen gesellschaftlichen Intervention? Fünf Sätze sollen die zentralen Erkenntnisse abschließend zusammenfassen und die Grundlage für Vorüberlegungen zu den Potenzialen und Grenzen ästhetischer Allianzen zwischen Kunst und Kulturanthropologie bilden. Satz 1: Satz 2: Satz 3: Satz 4:
Satz 5:
Relationale Kunst ist Übersetzungsarbeit. Kulturanthropologische Forschung in relationaler und über relationale Kunst ist Übersetzungsarbeit. Übersetzungsarbeit in Kunst und Kulturanthropologie ist Arbeit in und an gouvernemental geprägten gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Übersetzungsarbeit zwischen Kunst und Wissenschaft braucht fundierte Reflexionen über Ästhetik (Reflexion über Denk- und Wahrnehmungsmuster) und Epistemologie (Reflexion über wissenschaftliche Wissensproduktion). Kulturanthropologie ist wissenschaftshistorisch betrachtet ein akademisches Feld, in dem sich Übersetzungsarbeit – sowohl zur Kunst als auch in den gelebten Alltag der Beforschten – als Teil des epistemologischen Selbstverständnisses identifizieren lässt.
Satz 1 (Relationale Kunst ist Übersetzungsarbeit.) operiert mit einem weiten Übersetzungsbegriff, der sich im Feld der relationalen Kunst als metaphorische Selbstbeschreibung im Sinne einer Vermittlung zwischen Kunst und Nicht-Kunst findet. Übersetzung meint dabei die gezielte Entgrenzung von Kunst in andere soziale Felder, wobei Künstler:innen als Übersetzer:innen, das heißt als Vermittler:innen, auftreten. Relationale Kunst lässt sich dabei als jenes Genre bezeichnen, in dem Kunst als Übersetzungsarbeit programmatisch wird. Aus dieser Perspektive legt die vorliegende Arbeit den Fokus auf die Frage, wie und unter welchen Bedingungen diese Übersetzungsarbeit zwischen Künstler:innen und Akteur:innen aus außerkünstlerischen Feldern vonstatten geht und wie dabei gleichzeitig die Bestimmung dessen, was als Kunst und was als Nicht-Kunst gilt, dynamisiert wird. Als signifikante Übersetzungsmomente – im Sinne von konnektiven Impulsen zwischen den teilnehmenden Akteuren – konnten dabei vier sich wechselseitig stabilisierende Bindeglieder identifiziert werden: (1) Kapital – im Bourdieu’schen Sinne als
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Schluss: Lernen von relationaler Kunst. Für eine ästhetische Anthropologie
ökonomisches Kapital, soziale Beziehungen, Bildung und moralische Konditionierung gedacht. (2) Das vielfach und vielgestaltig bekundete Versprechen der Zugehörigkeit zu einem künstlerisch initiierten Beziehungsgefüge. (3) Die räumliche Atmosphäre des (städtischen) Schauplatzes. (4) Bilder und Worte im Kontext ihres Gebrauchs als Grundlage jeglicher Kommunikation zwischen sozialen Akteur:innen. Diese signifikanten Übersetzungsmomente finden sich auch im Kontext der Produktion von Zusammenhalt zwischen Künstler:innen und Akteur:innen aus dem wissenschaftlichen Feld. Mit Blick auf den Bereich der Kulturanthropologie lässt sich mit Satz 2 festhalten, dass nicht nur relationale Kunst, sondern auch kulturanthropologische Forschung in relationaler und über relationale Kunst Übersetzungsarbeit ist. Operiert wird wieder mit einem weiten Übersetzungsbegriff, der über die Bedeutung von interlingualer Übersetzung hinausgeht und die Rolle von Anthropolog:innen als Übersetzer:innen zwischen Wissenschaft und nicht-wissenschaftlichen Feldern (z. B. das Feld der Kunst oder des städtischen Alltags) fasst. Für diese kulturanthropologische Übersetzungsarbeit wurde als analytisches Werkzeug ein mehrdimensionaler Übersetzungsbegriff entwickelt. Auf diese Weise erfolgt der Blick auf das erhobene Material (a) durch die Linse der in Satz 1 beschriebenen Vorstellung von Kunst als Übersetzungsarbeit (ästhetische Dimension des Übersetzungsbegriffs); (b) durch die Linse der in Satz 2 dargelegten Vorstellung von Anthropologie als Übersetzungsarbeit (epistemologische Dimension des Übersetzungsbegriffs) und (c) durch die Linse eines auf Gouvernementalität fokussierenden Übersetzungsbegriffs, der die Bildung von Konnektivität zwischen den heterogenen Teilen der künstlerisch initiierten Akteurswelt unter besonderer Berücksichtigung von projektrelevanten Regierungstechniken und sozialen Machtverhältnissen ausleuchtet (gouvernementale Dimension des Übersetzungsbegriffs). Die gouvernementale Dimension des Übersetzungsbegriffs führt zu Satz 3, der besagt, dass Übersetzungsarbeit in Kunst und Wissenschaft Arbeit in und an gesellschaftlichen Machtverhältnissen ist und damit auch politische Aspekte impliziert. Relationale Kunst im Kontext stadträumlicher Transformation, wie sie in dieser Studie beforscht wurde, steht in enger Wechselbeziehung mit Regierungstechniken, durch die das gesellschaftliche Gefüge – inklusive der künstlerischen Teile davon – kontrolliert und stabilisiert werden soll. Monetäre und infrastrukturelle Förderungen durch die öffentliche Hand (Europäische Union, Bund, Land, Stadt) bilden die notwendigen Voraussetzungen für die künstlerischen – wie auch die wissenschaftlichen – Praktiken, wobei eine Zusammenarbeit von Kunst und Kulturanthropologie mit Blick auf sozialräumliche Hierarchisierungen gesonderte Aufmerksamkeit verlangt. Diese Diagnose findet sich vertieft in Satz 4 verhandelt. Übersetzungsarbeit zwischen Kunst und Kulturanthropologie bedarf fundierter Reflexionen über Ästhetik und Epistemologie sowie deren Verhältnis zueinander. Sowohl die Wahrnehmung (von Kunst) als auch wissenschaftliches Denken sind geprägt von den spezifischen sozialräumlich konditionierten Bedingungen der Möglichkeit, Kunst oder Wissenschaft als solche
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herzustellen und zu rezipieren. Gleichzeitig stehen ihre Genesen und Regelwerke seit jeher in unabdingbarer Relation zueinander. Mit dieser Relation zwischen Ästhetik und Epistemologie mit Fokus auf das Verhältnis zwischen Kunst und Anthropologie beschäftigt sich Satz 5: Kulturanthropologie ist wissenschaftshistorisch betrachtet ein akademisches Feld, in dem sich Übersetzungsarbeit in Richtung Kunst als Teil des epistemologischen Selbstverständnisses identifizieren lässt. Ästhetische Allianzen finden sich in der Fachgeschichte zahlreich, wenngleich unter je spezifischen Vorzeichen, mit unterschiedlichen Interessen und meist in marginalisierter Positionierung, wie etwa die wichtige, jedoch wenig beachtete Position von Ina-Maria Greverus und ihr Ansatz einer ästhetischen Anthropologie in der aktuellen Wissenschaftslandschaft zeigen. Die an relationalen Ansätzen in der Kulturanthropologie orientierte Studie in relationaler und über relationale Kunst knüpft damit an jene zwar nicht ausgetretenen, aber längst kontinuierlich beschrittenen Pfade einer ästhetischen Anthropologie an: im Sinne einer translationalen Perspektivierung zwischen der Wahrnehmung in der Wissenschaft, dem Wissen in der Kunst und der gesellschaftlichen Intervention. Die vorliegende Untersuchung zeigt Möglichkeiten der Erweiterung dieser Richtungen auf, konzipiert als Übersetzungsarbeit mit der relationalen Kunst als Partnerin ästhetischer Allianzbildung. Signifikante Potenziale – und gleichzeitig Indikatoren für Grenzziehungen – finden sich in einer erweiterten Wissensakquise, einer vertieften kulturanthropologischen Selbstreflexion sowie in neuen Möglichkeiten gesellschaftlicher Intervention durch Allianzen zwischen künstlerisch und wissenschaftlich arbeitenden Akteur:innen. Einer gebündelten Darstellung der Potenziale und Grenzen von Ästhetischen Allianzen durch eine Zusammenarbeit zwischen Akteur:innen der relationalen Kunst und der ästhetischen Anthropologie gelten die letzten Absätze dieses Textes. Aus Perspektive einer erweiterten ästhetischen Anthropologie hat sich die Übersetzungsarbeit zwischen Kunst und Anthropologie in Bezug auf die quantitative und qualitative Steigerung der Wissensakquise als mehrfach produktiv erwiesen. Legitimiert durch die transformativ-gestalterischen Methoden und Kompetenzen von Künstler:innen kam es im Zuge der Feldrecherchen zu kollaborativ entwickelten, epistemischen Interventionen. Im wechselseitigen Austausch entwickelte Eingriffe – wie Ausstellungen, inszenierte Spaziergänge oder Recherchelabors – eröffneten neue inhaltliche wie theoretische Einsichten in das Forschungsfeld. Die epistemisch orientierte Übersetzungsarbeit zwischen Kunst und Kulturanthropologie intendierte dabei keine dauerhafte Verschmelzung, sondern war temporär, dynamisch und situationselastisch angelegt. Sie trat wechselseitigen Instrumentalisierungen (etwa der Wissenschaft als Datenlieferantin und der Kunst als Informationsdesignerin) offen, wachsam und pragmatisch gegenüber und konzipierte das Arbeitsverhältnis als Tauschgeschäft, in dem bereits zirkulierende oder kollaborativ hergestellte Werte – materielle (z. B. Artefakte) wie immaterielle (z. B. Wissen) – durchaus strategisch eingesetzt und ausgetauscht wurden. Die epistemischen Interventionen generierten hybride
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künstlerisch-anthropologische – und damit mehrfach codierte – Produkte ebenso wie disziplinär eindeutig zuordenbare Erzeugnisse, die den verschiedenen Logiken der beteiligten Felder reflexiv Rechnung trugen und an die jeweils gültigen Anforderungsprofile adäquat anknüpfen konnten. Über diese Form der situativ kollaborativen Wissensakquise hinaus ließ sich durch die translationale Perspektivierung der Forschung in relationaler und über relationale Kunst eine Fokussierung auf den Stellenwert von Visualität im Feld der Kulturanthropologie erzielen. Seit den 1990er-Jahren wird im Zuge der interdisziplinären Wende zum Bild verstärkt die realitätsstrukturierende Kraft von Bildern postuliert und der denkwie handlungsleitenden Macht der Sprache als gleichwertig gegenübergestellt. Doch erst in jüngerer Zeit kommt der umfassenden Bildhaftigkeit der sozialen Wirklichkeit adäquate Aufmerksamkeit im Kontext kulturanthropologischer Forschungspraxis und Theoriebildung zu. Vor dem Hintergrund dieser Transformationen sowie der Kritik am logozentrischen Zugang im anthropologischen Feld erweisen sich Allianzen mit visuell bzw. ästhetisch geschulten Künstler:innen als Gewinn nicht nur in Bezug auf die gezielte Durchführung und Analyse von Bildakten. Vielmehr ermöglicht die Konzeption einer ästhetischen Anthropologie als Handeln und Denken durch Bilder neue Impulse, um über das Selbstverständnis kulturanthropologischen Arbeitens zu reflektieren. Mit Künstler:innen ins Feld zu gehen, so haben die Forschungen über und in Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale gezeigt, regt Kulturanthropolog:innen dazu an, eine auf Bilder und Bildhaftigkeit fokussierende Linse vor das teilnehmend-beobachtende Auge zu schieben und den forschenden Blick für die alles durchdringende Visualität und Sensualität der Welt zu schärfen. Diese Reflexion über den ästhetischen – das heißt die sinnliche Wahrnehmung als Voraussetzung wissenschaftlichen Arbeitens explizierenden – Standort der Forschenden bildet den Kern einer ästhetischen Anthropologie. Sie nimmt Abstand von einer rigiden Dichotomisierung eines Erkennens durch Vernunft und eines Erkennens durch sinnliche Wahrnehmung und reflektiert wie praktiziert wissenschaftliches Denken – auch ohne expliziten Austausch mit der Kunst oder sinnlich-emotionale Zugangsweisen – als ästhetisches Denken. Wege zu einer anderen Ästhetik in der Anthropologie greifen diese Sichtweise auf und finden in der Kunst eine Partnerin, durch die das epistemologische Selbstverständnis hinsichtlich der ästhetischen Anteile jeglichen wissenschaftlichen Arbeitens selbstreflexiv geschärft werden kann. Ein weiteres Potenzial ästhetischer Allianzen mit künstlerischen Akteur:innen, so hat die Forschung in und über Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale gezeigt, liegt in der Stärkung der gesellschaftlichen Präsenz und Relevanz von wissenschaftlicher Arbeit. Hierbei wird Greverus’ Prinzip des performing culture als repräsentationskritischer Weg zu einer ästhetischen Anthropologie greifbar. Die produktive Schnittstelle zur relationalen Kunst findet sich dort, wo diese ebenfalls Möglichkeiten einer „ethischen Unmittelbarkeit“ erprobt – gleich einer „Kunst ohne Repräsentation“, welche „die
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Bühne der künstlerischen Performance nicht von der Bühne des kollektiven Lebens trennt“.650 Ästhetische Anthropologie in Form von Forschung in relationaler und über relationale Kunst, so sei abschließend hervorgehoben, definiert sich nicht vorrangig über die wissenschaftlich legitimierte Repräsentation von Forschungsergebnissen. Vielmehr zählen gleichermaßen die Präsenz und Performanz außerhalb des Repräsentations- und Resonanzraums Wissenschaft. Strategische Kollaborationen mit Akteur:innen aus anderen gesellschaftlichen Tätigkeitsfeldern wie dem der Kunst erweisen sich dabei sowohl in epistemischer und epistemologischer, als auch in sozialer und politischer Hinsicht als produktiv. Sie verstehen sich als kritische Infragestellung disziplinärer, sozialer und ästhetischer Selbstverständlichkeiten, Standorte und Grenzziehungen zwischen Wissenschaft, Kunst und Leben. Diese Unterbrechungen sowohl wissenschaftlich als auch künstlerisch und politisch nutzbar zu machen, ist das zentrale Ziel einer translational perspektivierten ästhetischen Anthropologie.
650 Rancière (2008/2009b): Paradoxa, 68 f.
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Danksagung
Das vorliegende Buch ist das Ergebnis eines Bildungs- und Forschungswegs, der verschiedene Wissensstränge und Praxisfelder – allen voran das der Kulturanthropologie sowie das der Kunst – in einem produktiven Wechselspiel miteinander zu verbinden sucht. Zahlreiche Wegbegleiter:innen haben Ausschnitte gelesen und kommentiert – oder durch ihre zeitliche und mentale Unterstützung die Recherche- und Schreibarbeit überhaupt erst ermöglicht. Für richtungsweisende Impulse, Kommentare und Korrekturen bedanke ich mich im Besonderen bei Lydia Arantes, Bernadette Biedermann, Helmut Eberhart, Simone Egger, Lisa Eidenhammer, Katharina Eisch-Angus, Barbara Frischling, Alexa Färber, Laura Gozzer, Evelyn Kraus, Johanna Rolshoven, Klaus Schönberger, Antje Senarclens de Grancy und Annette Sprung. Als inspirierend und von wesentlichem Wert für die Konzeption der zentralen Denkfigur der Übersetzung wirkten die Lesekreise und gemeinsamen Aktivitäten (Symposium, Publikation) mit der interdisziplinären Arbeitsgruppe für Translationskonzepte an der Universität Graz, allen voran Michaela Wolf, Nadja Grbić, Rafael Schögler und Christina Korak (Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft) sowie Olaf Terpitz und Susanne Korbler (Centrum für Jüdische Studien). Die unabdingbare Voraussetzung und zentrale Quelle dieser Studie bilden die künstlerischen Projekte Adaptive Actions, BELLEVUE und Keine Denkmale. Die Zusammenarbeit, der Austausch oder die Begegnung mit den Kunstschaffenden Jean-François Prost und Kristina Leko, den Architekt:innen Peter Fattinger, Veronika Orso und Michael Rieper, den Kurator:innen Margarethe Makovec und Anton Lederer sowie dem Künstler und Architekten Michael Hieslmair lieferten wichtige Teile des empirischen Materials für diese Arbeit und boten einen tiefen Einblick in die Konditionierung des künstlerischen Feldes. Ihnen sei an dieser Stelle ebenso mein Dank ausgesprochen wie den zahlreichen Interview-Partner:innen, deren Aussagen im Zuge der empirischen Erhebungen diesen Text mitgeformt haben.651 Mein besonderer Dank gilt meiner Familie, allen voran Kurt und Paul, meinen Eltern und meiner Schwiegermutter, für ihre wertvolle Unterstützung in jeder Phase des Arbeitsprozesses und darüber hinaus.
651 Folgende wissenschaftliche Publikationen sind im Zuge der Forschungsarbeiten entstanden, haben im Austausch mit Kolleg:innen die Gedanken geschärft, den akademischen Dialog gefördert und in überarbeiteten Ausschnitten an entsprechend markierten Stellen Eingang in die vorliegende Schrift gefunden: Laister (2008a): Andere Bilder; Laister und Hieslmair (2013): Relationale Ethnografie; Laister (2013): bzw. Feldforschung; Laister (2018b): Objektivierung, Projektionen, Zusammenarbeit; Laister (2018): Learning from Greverus; Laister (2018): Ästhetische Allianzen; Laister (2019b): Übersetzungskunst; Laister (2019a): Kunst und Gabe; Laister (2020): Gemeinsame Sprache.
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