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German Pages [370] Year 2013
Michiko Mae Elisabeth Scherer (Hg.)
NIPPONSPIRATION Japonismus und japanische Populärkultur im deutschsprachigen Raum
2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Ostasien-Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Druck und Bindung: Balto print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Lithuania ISBN 978-3-412-21019-9
INHALT 7 Vorwort 9 Einleitung
Michiko Mae, Elisabeth Scherer
21
Nipponspiration als transkulturelle Grenzüberschreitung in der Kunst Japonismus und japanische Populärkultur Michiko Mae
»NIPPONSPIRATION« UM 1900: JAPONISTISCHE STRÖME
51
Eine Melange aus Nostalgie und Aufbruch Japonistische Strömungen in der Wiener Moderne Susanne Kelley
71
»Mit Heuschrecken und wildem Honig« Der Blaue Reiter, das Junge Rheinland und die Rezeption der japanischen Kunst Claudia Delank
93
Orte exotischer Fremdheit Japanische Gärten auf Ausstellungen nach 1900 Christian Tagsold
113
Japonismus am Bauhaus? Der Architekt Walter Gropius und seine Japan-Rezeption Julia Odenthal
141
Eine japanische Ehe auf Zeit Madame Butterfly im deutschsprachigen Raum Hyunseon Lee
I n h a l t | 5
»NIPPONSPIRATION« IN DER KÜNSTLERISCHEN PRAXIS
165
Meisterin der »kulturellen Kreisbewegung« Ein Interview mit der Regisseurin Doris Dörrie
179
Vom »Japan-Feeling« zum freien künstlerischen Ausdruck Ein Interview mit der deutschen Manga-Zeichnerin Christina Plaka
»NIPPONSPIRATION« HEUTE: POP-IMPULSE
201
Verliebt, verbündet, verfilmt Japan als Thema des deutschen Spielfilms Elisabeth Scherer
233
Hybrides Spielfeld Manga Adaption und Transformation japanischer Comics in Deutschland Paul M. Malone
259
Anime ist nicht gleich Anime Zur ambivalenten Rezeption japanischer Zeichentrickproduktionen in Deutschland am Beispiel von Miyazaki Hayaos »Chihiros Reise ins Zauberland« Stephan Köhn
279
Imaginäre Heimat Japan Autor/innen von Anime-Fanfiction leben Japan Stephanie Klasen
307
Lolita goes global Eine Mode-Subkultur im Zeichen transkultureller Strömungen Julia Siep
335
Hello-Kitty-Konsum als Kommunikationskultur Zur Veralltäglichung und Vergegenständlichung eines cute characters Corinna Peil, Herbert Schwaab
355
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes
6 | I nha lt
VORWORT Japonismus und japanische Populärkultur: Beide Phänomene verbinden Japan und Europa. Die ursprüngliche Idee zu diesem Buch entstand in einem Gespräch über die transkulturelle Kraft, die sich in der Begeisterung für die japanische Kultur zeigt. Ort dieses Gesprächs war der ehemalige Garten des Düsseldorfer Künstlers und Sammlers Georg Oeder (1846–1931), der vom Japonismus stark beeinflusst war – ein Ort mit großer Symbol- und Inspirationskraft für ein Gespräch über den Einfluss japanischer Kultur auf die westliche Kultur. Wir führten das Gespräch mit Referent/innen und Zuhörer/innen des Symposiums »Vom Japonismus zur Japanimation«, das wir im Mai 2011 im Goethe-Museum veranstaltet haben. Das Symposium, das ein Beitrag der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zur Feier des 150-jährigen Bestehens der deutsch-japanischen Beziehungen war, hat sehr großen Anklang gefunden. Das hat uns ermutigt, aus den Vorträgen ein Buch zu machen. Sie wurden für die Buchpublikation gründlich überarbeitet, und es kamen weitere wichtige Beiträge hinzu. Möglich geworden ist das Buch in seiner vorliegenden Form nur durch die großzügige finanzielle Unterstützung der Ostasien-Stiftung der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Für diese große Hilfe danken wir den Kuratoriumsmitgliedern der Stiftung sehr herzlich. Im Japonismus ebenso wie heute in der japanischen Populärkultur ist es vor allem die visuelle Ebene, auf der die Inspiration durch die japanische Kultur, ihre Adaption und Transformation möglich wird. Unser Buch lebt daher auch von den vielen Bildern, mit denen die Aufsätze illustriert werden. Wir danken folgenden Personen und Institutionen für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Bilder: Artothek, Carlsen Verlag Hamburg, Deutsches Filminstitut Frankfurt, Team des Internetforums Dunkelsüß, Egmont Verlagsgesellschaften Köln, Eva Air, Joseph Handelman, Komische Oper Berlin, Kunstmuseum Bonn, Kunstmuseum Krefeld, Lehmbruck Museum, Leopold Museum Wien, Majestic Filmverleih Berlin, Megaherz Filmproduktion München, NHK Educational, November Film Berlin, Österreichische Nationalbibliothek, Monika Rittershaus, Schloßmuseum Murnau, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, Stiftung Museum Kunstpalast Düsseldorf, Tokyopop Verlag Hamburg, Trustees of the British Museum, VG Bild-Kunst, Zentrum Paul Klee. Düsseldorf, Mai 2013
Michiko Mae und Elisabeth Scherer
V o r w o r t | 7
EINLEITUNG Mi c h i k o Ma e, Elisabeth Scherer
Zweimal hat in den letzten hundert Jahren die japanische Kultur im Westen einen Japan-Boom ausgelöst: In der Zeit vor und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und in der Zeit des Übergangs vom 20. zum 21. Jahrhundert. Die Faszination, die japanische populärkulturelle Produkte wie Manga, Anime, Videospiele und das so genannte Cosplay (spielerisches Verkleiden mit Motiven aus Manga und Anime) bei jungen Menschen in den USA und Europa, aber auch in Asien und in arabischen Ländern auslösen, ist ein erstaunliches Phänomen. Kaum geringer war die Japan-Begeisterung von vielen Menschen in Paris, Wien, München und anderen Städten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts. Es war eine Begeisterung, die für die europäischen Künstler nichts Geringeres zur Folge hatte als den Durchbruch zur modernen Kunst. Was aber ist »Nipponspiration« und was erwartet die Leserin und den Leser in diesem Buch? Die Beiträge stellen einführend wichtige Entwicklungen des Japonismus vor und geben einen Überblick über die gegenwärtigen Erscheinungsformen der japanischen Populärkultur im deutschsprachigen Raum. Darüber hinaus nehmen wir aber auch die kulturellen Prozesse in den Blick, die dem Japonismus und dem globalen Erfolg der japanischen Populärkultur zugrunde liegen und die es ermöglicht haben, dass Aspekte der japanischen Kultur eine solch erstaunliche Wirkung entfalten konnten. Auch heute in der globalisierten Welt, in der unser Alltag in vielen Bereichen von den vielfältigsten kulturellen Einflüssen bestimmt ist, denken wir über Kultur immer noch eher in herkömmlichen Kategorien und betonen die Unterschiede und das Trennende z. B. zwischen der japanischen und der deutschen Kultur. Damit kann man aber ein Phänomen wie die »Nipponspiration« weder erklären noch verstehen. Kulturen sind keine nur auf sich selbst bezogenen, geschlossenen und in sich homogenen Einheiten, die ohne Austausch mit anderen Kulturen bestehen. Beschäftigt man sich genauer mit der Geschichte der japanischen Kultur, so wird deutlich, wie sie durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder Elemente anderer Kulturen in sich aufnahm und sich ständig wandelte, ohne dass sie dadurch zu einem bloßen kulturellen Konglomerat geworden wäre, dem eigene charakteristische Eigenschaften fehlen. Ganz im Gegenteil: Gerade durch diese Übernahme E i n l e i t u n g | 9
fremder kultureller Elemente und ihre Transformation in etwas ›Eigenes‹ gewann die dadurch vielfältiger gewordene japanische Kultur ihre Stärke und konnte daraus ihre Besonderheiten entwickeln, die von Anderen wie auch von Japanern selbst als das »spezifisch Japanische« empfunden werden. Wie dieses »spezifisch Japanische« zum neuen ›Eigenen‹ in der westlichen Kultur wurde, das wollen wir am Beispiel der beiden Phasen des Japan-Booms betrachten. Wie hat man in Deutschland und Europa die japanische Kultur aufgenommen und sich mit ihr auseinandergesetzt? Wie kam es dadurch zur Entwicklung der künstlerischen Moderne in der westlichen Kultur, die dann auf Japan zurückwirkte? Und führt auch heute die Japan-Begeisterung in der Populärkultur zu einem ähnlichen Transformationsprozess wie im Japonismus? Unter dem Begriff »Nipponspiration« behandeln wir die vielfältigen Inspirationen, die durch verschiedene Elemente der japanischen Kultur in anderen Kulturen hervorgerufen wurden. Dieser Vorgang wird so zu einem Beispiel für allgemeine kulturelle Prozesse – ob man sie Einflüsse, Inspirationen, Austausch oder Wechselwirkungen nennt. Die »Nipponspiration« in ihren verschiedenen Facetten zeigt uns, welche kulturelle Dynamik durch Begegnung, Übernahme und Durchdringung ausgelöst werden kann. Im Fall des Japonismus war es der Durchbruch zur modernen Kunst, die seither zu einer weltweiten Bewegung geworden ist: »Tatsächlich stellt der Einfluß japanischer Kunst alle illusionistische Abbildung in Frage und erschließt ungeahnte Möglichkeiten für die Gestaltung einer neuen Wirklichkeit« (Berger 1980: 7). Ähnliches gilt für die japanische Populärkultur mit ihren Auswirkungen auf die heutige globale Jugend- und Alltagskultur. Vielleicht kann unser Buch, das sich in seinen Darstellungen und Analysen auf Japan und den deutschsprachigen Raum bezieht, dazu beitragen, dieses transkulturelle Potenzial, das jede Kultur in sich trägt, besser verstehen zu können. Der einführende Aufsatz von Michiko Mae zeigt, was wir mit den verschiedenen Beiträgen insgesamt verdeutlichen wollen. Sie analysiert beide Phasen der Japan-Begeisterung, mit Schwerpunkt auf dem Japonismus, und arbeitet heraus, inwiefern man sie als transkulturelle Bewegungen verstehen kann. Es gab zwar um die Wende zum 20. Jahrhundert in Europa und in den USA rassistische und fremdenfeindliche Diskurse über Asien und Japan, wie das Schlagwort von der »Gelben Gefahr« verdeutlicht. Gleichzeitig aber gab es eine beispiellose Japan-Begeisterung, vor allem in Paris, später auch im deutschsprachigen Raum. Besonders von westlichen Künstlern, von denen sich viele in einer Sackgasse fühlten, wurde die japanische Kunst als Befreier, Wegweiser und Schrittmacher aufgenommen. Auf der Suche nach einem künstlerischen Neuanfang war für diese Künstler die japanische Kunst ein Stimulus, der ihnen einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur modernen Kunst ermöglichte. Mae zeigt, welche kulturellen und künstlerisch10 | M ic hik o M a e, Elis a b e t h Sc h e r e r
formalen Elemente der japanischen Kunst westliche Künstler – von den Impressionisten und Nachimpressionisten bis zu Künstlern des »Blauen Reiter« – so inspiriert und motiviert haben, dass sie sich aus den Begrenzungen der westlichen Kunsttradition lösen und befreien konnten. Die traditionelle japanische Kunst konnte auch deshalb diese Wirkung haben, weil in Japan bereits zuvor westliche kulturelle Elemente wie die Zentralperspektive aufgenommen worden waren. Diese kulturelle Wechselwirkung zeigt Mae auch am Beispiel Paul Klees, der durch japanische und chinesische Kunst und Kalligraphie inspiriert wurde und wichtige Komponisten, Dichter, aber auch Manga-Zeichner im heutigen Japan in ihrer künstlerischen Entwicklung motiviert hat. Aber nur weil diese wechselseitigen Einflüsse schöpferisch umgestaltet wurden, konnten sie einen transkulturellen Prozess in Gang setzen, aus dem etwas Neues hervorging. Im letzten Teil ihres Beitrags geht Mae der Frage nach, ob dieser transkulturelle Prozess auch hinter der weltweiten Wirkung der japanischen Populärkultur steht. Der Japonismus nahm seinen Ausgang in Paris, wo in Werken von Künstlern wie Edouard Manet und Claude Monet ab Ende der 1860er Jahre Einflüsse japanischer Kunst erkennbar werden – zunächst vor allem motivisch, später aber auch durch die Übernahme gestalterischer Mittel. Ihre Inspiration bezogen diese französischen Künstler aus japanischen Kunstgegenständen und Farbholzschnitten, mit denen zu dieser Zeit ein reger Handel begann. Ein wichtiger Akteur dieses Geschäftes mit Japonika stammte aus Hamburg: Samuel Bing (ursprünglich Siegfried Bing) importierte ab den 1870er Jahren Kunst aus Japan, hatte mehrere Kunsthandlungen in Paris und gab ab 1888 die einflussreiche Zeitschrift Le Japon artistique heraus, um ein breiteres Publikum auch in Deutschland, England und den USA erreichen zu können.1 Im Vorwort zur ersten Ausgabe dieser Zeitschrift formuliert Bing seine Gedanken zu dem schöpferischen Potenzial, das er in der japanischen Kunst sieht: »[…] unsere Produkte werden sich mit dem Atem beleben, der den geheimen Zauber jedes japanischen Kunstwerks ausmacht« (zit. nach Berger 1980: 98). Mit seinem Handel, seiner Zeitschrift und einer großen Ausstellung, die er 1890 in der École des Beaux-Arts organisierte, wurde Samuel Bing zu einer der führenden Figuren in der Verbreitung japanischer Kunst in Europa und den USA. Im deutschsprachigen Raum bildete sich Wien als ein erstes Zentrum des Japonismus heraus. Der Grundstein dafür wurde mit der Weltausstellung 1873 gelegt, bei der sich Japan erstmals offiziell als Nation präsentierte und sogleich eine große Begeisterung auslöste. So zieht der Kultur- und Kunsthistoriker Jakob Falke in einer Publikation zur »Kunstindustrie« auf der Wiener Weltausstellung das Fazit: »Ja, wir wünschen gar nicht einmal, dass diese Mode mit dem Schluss der Weltausstellung sogleich wieder zu Ende sei, und möchten vielmehr, dass das Gute, was uns jene Kunst zu bieten hat, in unser Fleisch und Blut übergehe.« (Falke 1873: Einleitung | 11
200). Dieser etwas pathetisch geäußerte Wunsch sollte in den folgenden Jahrzehnten sehr umfangreich in Erfüllung gehen, wie der Beitrag von Susanne Kelley verdeutlicht. Um die Jahrhundertwende war Japan nicht nur ein Thema unter Kunstsammlern und Intellektuellen, sondern hatte schichtübergreifend die gesamte Wiener Gesellschaft erfasst. Frauen kleideten sich zu besonderen Anlässen in Kimonos und wedelten sich mit japanischen Fächern Luft zu, in den Zeitungen wurde über japanische Gebräuche berichtet und für Künstler der Wiener Secession, allen voran Gustav Klimt, wurde die japanische Kunst zur Triebfeder ihrer eigenen Entwicklung. Wie Kelley herausstellt, erwies sich die Beschäftigung mit Japan gerade in Wien als besonders fruchtbar, da man in Japan eine Art Modell sah, dem nachzueifern erfolgversprechend sei. Den Japanern war in den Augen der Wiener Beobachter der Spagat zwischen einer raschen Modernisierung bei gleichzeitigem Erhalt bestimmter Traditionen gelungen – eine Entwicklung, die man sich auch für die eigene Gesellschaft wünschte. Eine der ersten Ausstellungen japanischer Kunst im deutschsprachigen Raum fand im Jahr 1900 ebenfalls in Wien statt und wurde von der Vereinigung bildender Künstler Österreichs als 6. Ausstellung der Wiener Secession ausgerichtet. Die Ausstellungsstücke stammten sämtlich aus dem Besitz des Berliner Sammlers Adolf Fischer, der die Objekte kurz zuvor gemeinsam mit seiner Frau auf einer Japan-Reise erstanden hatte (vgl. Ver Sacrum 1900: 35). Die Objekte aus Fischers Sammlung wurden später zur Grundlage für das Museum für Ostasiatische Kunst in Köln, das 1913 eröffnet wurde und bis heute besteht. Ein begeisterter Besucher der ersten großen Wiener Japan-Ausstellung war der deutsche Künstler Emil Orlik, der 1899 Mitglied der Wiener Secession geworden war und sich sehr für die japanische Holzschnittkunst interessierte – so sehr, dass er noch im gleichen Jahr nach Japan aufbrach, um vor Ort Eindrücke zu sammeln und selbst alle Schritte in der Produktion eines Farbholzschnitts zu erlernen. Der Aufenthalt war für ihn sehr fruchtbar, und auch nach seiner Rückkehr zeigte er sich weiter von japanischer Kunst beeinflusst.2 Ebenso wie Wien hatte um die Jahrhundertwende die Japan-Begeisterung – ausgehend von Paris und London – auch das Deutsche Reich erreicht. Wie Claudia Delank in ihrem Beitrag darlegt, war Vincent van Gogh, der sich als einer der ersten intensiv von japanischer Kunst inspiriert gezeigt hatte, ein wichtiges Vorbild für deutsche Künstler, die sich vom bis dahin vorherrschenden Naturalismus abwenden und neue, »modernere« Ausdrucksmöglichkeiten finden wollten. Vor allem die japanischen Farbholzschnitte eröffneten nach Delank den Künstlern der Gruppen des »Blauen Reiter« und des »Jungen Rheinlandes« Anfang des 20. Jahrhunderts eine neue Sehweise, die sie dann für ihre eigene Kunst übernahmen. Künstler wie August Macke, Walter Ophey und Paul Klee adaptierten und modifi12 | M ic hik o M a e, Elis a b e t h Sc h e r e r
zierten japanische Kompositionsweisen – wie dekorative Flächigkeit oder Verzicht auf Raumtiefe – und revolutionierten so die Malerei in Deutschland. Wie Delank erläutert, konnten die deutschen Künstler bei ihrer Beschäftigung mit Japan auf verschiedene Quellen zurückgreifen: Werke von Vincent van Gogh waren ab 1901 in verschiedenen Ausstellungen zu sehen, es entstanden Sammlungen japanischer Holzschnitte sowohl von Privatpersonen als auch zum Beispiel an der Kunstakademie Düsseldorf (1900), und neben Samuel Bings Zeitschrift Le Japon artistique (auf Deutsch »Japanischer Formenschatz«) erschienen erste Bücher über japanische Kunst. Nicht nur in der bildenden Kunst wurde Japan als Inspirationsquelle geschätzt, auch die japanische Gartenkunst wurde um die Jahrhundertwende im Westen populär. Christian Tagsold zeigt in seinem Beitrag, dass man sich allerdings zunächst noch nicht wirklich im klaren darüber war, was überhaupt einen »japanischen Garten« ausmacht. Die Gärten, die zum Beispiel auf der Weltausstellung in Wien (1873) oder bei einer großen internationalen Gartenbauausstellung in Düsseldorf (1904) gezeigt wurden, waren dennoch ein großer Publikumserfolg. Die Frage nach der Authentizität japanischer Gärten im Westen analysiert Tagsold einerseits an Beispielen ihrer visuellen Aneignung (Original-Bild-Nachbau) und andererseits ihrer räumlichen Anordnung im Kontext verschiedener Ausstellungen. Beides versteht er als Kriterium für die Einordnung japanischer Gärten in die »imperiale Wissensordnung« der damaligen Zeit. In dem Diskurs über japanische Gärten ging es vor allem um die Frage der Verständlichkeit oder Unverständlichkeit: Es seien Gärten, »die wir bewundern, weil wir sie nicht verstehen«, schreibt ein Zeitgenosse 1911, während die Gartenhistorikerin Marie Luise Gothein 1914 feststellt: »Heute ist die japanische Gartenkunst in Europa bekannt und bewundert, nachgeahmt und durchforscht wie wenige sonst.« Was einen japanischen Garten ausmacht und wie er zu verstehen ist – also das Konzept »japanischer Garten« – bildete sich erst in einem diskursiven Prozess heraus, in dem sich West und Ost wechselseitig beeinflussten, so Tagsolds Fazit. Auch in Bezug auf das Bauhaus, das 1919 von Walter Gropius in Weimar gegründet wurde, wird immer wieder auf eine Beeinflussung durch Japan hingewiesen. Vor allem bei Walter Gropius selbst wird eine Orientierung an japanischer Architektur vermutet, und es werden zum Beispiel Vergleiche zwischen den Fassaden seiner Gebäude und japanischen Papierschiebetüren (shōji) gezogen. Julia Odenthal zeigt in ihrem Aufsatz, dass sich Gropius tatsächlich sehr für japanische Architektur begeistert hat, vor allem für die kaiserliche Villa Katsura in Kyoto, in der er die Errungenschaften der westlichen Moderne vorformuliert sah. Sie stellt aber auch klar heraus, dass Gropius sich mit Japan intensiv erst im Zuge seiner Japan-Reise im Jahr 1954 beschäftigte, und es daher zu weit geht, Gropius’ Werk in E i n l e i t u n g | 13
seiner Gesamtheit als japanisch inspiriert zu betrachten. Vielmehr sei es so, dass Gropius in der japanischen Architektur vor allem Prinzipien bestätigt fand, die er zuvor für sein eigenes Schaffen aufgestellt hatte. Japan wurde so für Gropius zu einer Möglichkeit, sein eigenes Werk argumentativ zu stützen und in einen größeren historischen Zusammenhang zu stellen. Nicht nur in einzelnen Bereichen wie Kunst und Architektur inspirierte die japanische Kultur den Westen. Japan wurde auch präsent in Narrativen, die in verschiedenen Medien aufgegriffen, transformiert und weiterentwickelt wurden. Das bekannteste und populärste dieser intermedialen Japan-Narrative ist das der Madame Butterfly. Es entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts und hat bis heute Bestand. Die Liebesgeschichte zwischen einer japanischen Frau und einem westlichen Mann als Topos des Orientalismus und Exotismus, die erstmals in Pierre Lotis Roman Madame Chrysanthème (1887) auftaucht, pflanzte sich, wie Hyunseon Lee untersucht, über verschiedenste Medien und kulturübergreifend fort. Die bekannteste Fassung der Geschichte ist Puccinis tragische Oper (Uraufführung 1904), im deutschsprachigen Raum finden sich aber auch Adaptionen für Operette und Film sowie literarische Bearbeitungen. Für Lee ist die »moderne musiktheatralische Wirkung« des Japanischen in der Oper Madame Butterfly zu verstehen als eine künstlerische Entsprechung zu der kulturellen Hybridität des 20. Jahrhunderts. Lee weist auch auf die Gender-Dimension der (Kultur-)Inszenierung des Butterfly-Narrativs hin und kritisiert, dass Japaner diese Figur selbst »japanisiert« haben (»japanische Selbstexotisierung«). Diesen genderbezogenen Orientalismus des Stereotyps der unterwürfigen Japanerin/Asiatin erkennt Lee auch in neueren literarischen Werken im deutschsprachigen Raum, wie Adolf Muschgs Roman Im Sommer des Hasen (1965) und Gerhard Roths Roman Der Plan (1998). Ein Beispiel für einen »umkehrenden Exotismus« sieht sie in Christoph Peters 2009 erschienenem Roman Mitsukos Restaurant. Das Stereotyp der ›Kindfrau‹ wird hier gebrochen durch die Figur einer selbständigen, reifen und egoistisch-kalkulierenden japanischen Frau, die in Deutschland lebt. So wird der Mythos Madame Butterfly in der heutigen globalisierten Welt dekonstruiert. Wir betrachten in unserem Buch vor allem zwei Phasen, in denen Menschen in Deutschland sich besonders »nipponspiriert« gezeigt haben; das bedeutet allerdings nicht, dass es in der Zeit dazwischen keine kulturellen Einflüsse gegeben hätte. Seit der Öffnung Japans für den Westen und dem Abschluss des Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages zwischen Japan und Preußen im Jahr 1861 hat »Nipponspiration« im deutschsprachigen Raum in den unterschiedlichsten Ausprägungen ihren Niederschlag gefunden – und konnte dabei auch sehr verschiedene Funktionen erfüllen. Das Negativ-Beispiel für eine Konstruktion kultureller Gemeinsamkeiten zwischen Japan und Deutschland ist die Zeit des Natio14 | M ic hik o M a e, Elis a b e t h Sc h e r e r
nalsozialismus. Im Dienste der nationalsozialistischen Ideologie und des totalitären Staats wurde ein verzerrtes, ahistorisches Japan-Bild herangezogen, um ein Vorbild für Deutschland zu schaffen, eine »nation of samurai« (Maltarich 2005: 382) mit einem Aufopferungswillen, von dem man selbst lernen konnte. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der Blick auf die japanische Kultur dann wieder freier und ließ Raum für kreative Aneignungen und Transformationen abseits von kulturalistisch argumentierender Selbstaffirmation. So wurden zum Beispiel deutsche Dichter durch die Gattung Haiku inspiriert. In deutscher Übertragung waren japanische Gedichte seit 1894 bekannt, als Karl Florenz seine Dichtergrüße aus dem Osten veröffentlichte. Die erste bedeutende deutschsprachige Haiku-Dichterin war die Österreicherin Imma von Bodmershof (1895–1982), die 1962 ihre erste Haiku-Sammlung veröffentlichte; sie wurde nicht nur zum Vorbild für viele spätere deutschsprachige Haiku-Dichter, sondern fand auch in Japan mit Übersetzungen ihrer Werke Beachtung (vgl. Wittbrodt 2005: 52). Heute verhilft vor allem Durs Grünbein dem Haiku in Deutschland zu neuer Aktualität: »Welche Jahreszeit? / Was weiß ich, wo es ringsum / Auf Bildschirmen schneit.« (Grünbein 2008: 84). Auch im Bereich des Tanzes lassen sich transkulturelle Prozesse beobachten. Der Ausdruckstanz Butoh, der nach dem zweiten Weltkrieg in Japan entstand, wurde sehr stark vom deutschen expressiven Neuen Tanz der Vorkriegszeit beeinflusst, dessen bedeutendste Vertreter Mary Wigman, Kurt Jooss und Harald Kreutzberg waren (Fraleigh 2010: 21). Butoh wiederum fand in Deutschland in den 1980er Jahren begeisterte Anhänger und es gründeten sich eigene deutschjapanische Tanzgruppen, wie zum Beispiel tatoeba in Berlin. Unter den deutschen Filmemachern war Wim Wenders einer der ersten, der seiner Verehrung für das japanische Kino filmischen Ausdruck verlieh. Mit seinem Essayfilm Tokyo-Ga (1985) begibt er sich auf die Suche nach dem Tokyo des japanischen Regisseurs Ozu Yasujirō. Die heute bekannteste »nipponspirierte« Regisseurin in Deutschland ist Doris Dörrie, mit der wir für diesen Band ein Interview geführt haben. Im Gespräch berichtet sie, wie sie sich durch absichtliches Verirren einen besonderen Zugang zu Japan verschafft hat, und wie befreiend es auf sie gewirkt hat, für eine Weile auf Sprache als Kommunikationsmittel zu verzichten. Die Leidenschaft für Japan, die Dörrie bei ihren Besuchen im Land entwickelt hat, zeigt sich in ihren Filmen ebenso wie in ihren Erzählungen und Operninszenierungen. Dörries Blick auf Japan ist dabei immer auch offen für Spontanes und Zufälliges, wie sich vor allem in dem Film Erleuchtung garantiert (1999) zeigt, für den das kleine Filmteam in den Straßen von Tokyo sehr viel improvisierte. Wie Wim Wenders ist auch Dörrie eine Bewunderin Ozus, was in ihrem Film Kirschblüten – Hanami aus dem Jahr 2008 deutlich wird. E i n l e i t u n g | 15
Dass es im deutschsprachigen Raum schon weit vor Wenders und Dörrie Spielfilme mit Japan-Thematik gegeben hat, zeigt Elisabeth Scherer in ihrem Beitrag, der einen Überblick über die Geschichte der deutschen Japan-Filme gibt. Die dargestellten Filme erzählen davon, welches Wissen über Japan jeweils zu einer bestimmten Zeit in Deutschland als ›authentisch‹ galt, welche Eigenschaften Japanern zugeschrieben wurden und welche Sehnsüchte und Ängste virulent waren. Während in der Frühzeit des Films die Thematisierung des ›Japanischen‹ noch stark durch die Japan-Mode der Jahrhundertwende geprägt war, wurde in den ersten deutschen Spielfilmen mit Japan-Thematik nach dem Ersten Weltkrieg die Geisha zur tragenden Figur, z. B. in Fritz Langs Madame-Butterfly-Verfilmung Harakiri. Durch die Darstellung einer japanischen Hauptfigur konnten aber auch westliche Frauen eine neue Identität annehmen und sich als »New Women« positionieren, wie in dem Film Die Augen von Jade der Regisseurin Iwa Raffay. Nach einigen Spielfilmen, die mit deutscher Beteiligung in Japan gedreht wurden, gab es dann deutsch-japanische Koproduktionen mit nationalsozialistischem Hintergrund, in denen Japan als eine Art »Vorzeigevolk« stilisiert wurde, von dem man z. B. Aufopferungswillen lernen konnte. Erst Jahrzehnte später, in den 1980er Jahren, als Japan in seine wirtschaftliche Hochwachstumsphase eingetreten war, entstand wieder ein größeres Japan-Interesse im deutschen Kinofilm. In Filmen wie Der Sommer des Samurai (1986) diente der »Exotismus des ganz Fernen« dazu, »das ganz Vertraute exotisch zu machen«. Seit den 1990er Jahren lassen sich eine zunehmende Öffnung und transnationale Grenzüberschreitungen auch beim Entstehungskontext von deutschen Japan-Filmen feststellen. Dafür stehen vor allem die beiden sehr erfolgreichen Japan-Filme von Doris Dörrie, Erleuchtung garantiert (1999) und Kirschblüten – Hanami (2008), in denen Japan den Protagonisten neue Kommunikationsmöglichkeiten, einen besseren Zugang zu den eigenen Gefühlen und einen ehrlicheren Blick auf sich selbst eröffnet. Manga (japanische Comics) und Anime (japanische Zeichentrickfilme) haben in Deutschland seit den 1990er Jahren für einen Boom japanischer Populärkultur gesorgt. Japanische Anime waren zwar schon seit den 1970er Jahren auf deutschen Fernsehschirmen präsent gewesen, zum Beispiel mit der vom ZDF beauftragten Produktion Wickie und die starken Männer (Ausstrahlung ab 1974) oder der HeidiSerie (Ausstrahlung ab 1977) – zunächst nahm jedoch kaum jemand wahr, dass diese Serien aus Japan stammten. Ein bewusster Konsum von Manga und Anime als japanische Produkte setzte erst in den 1990er Jahren mit Anime-Serien wie Sailor Moon und deutschen Manga-Veröffentlichungen wie Dragon Ball ein. Diesen Werken sah man an, dass sie anders waren – durch den kulturellen Hintergrund, der sich in ihnen zeigte, oder bei den Manga auch durch die umgekehrte Leserichtung. Das Gefühl des Anderen, Exotischen, aber auch eine thematische Freiheit 16 | M ic hik o M a e, Elis a b e t h Sc h e r e r
und Phantasie-Fülle, die die japanische Popkultur bietet, begeisterte einige deutsche Jugendliche so sehr, dass sie sich diese Vielfalt zu eigen machen wollten, das heißt selbst Manga zeichneten. Eine von diesen deutschen Manga-Zeichnerinnen (jap. Mangaka) der ersten Stunde ist Christina Plaka. Schon im Teenager-Alter wurden ihre deutschsprachigen Manga verlegt, und über Jahre meisterte sie den Spagat zwischen einer Karriere als professionelle Manga-Zeichnerin und einem Japanologie-Studium. Wie Plaka in einem Interview für diesen Band erzählt, ging sie für ein Manga-MasterStudium nach Japan und verfeinerte ihre Technik, vor allem aber fand sie dort für sich einen neuen, sehr persönlichen künstlerischen Ausdruck. Während sie als Jugendliche den japanischen Vorbildern sehr stark nacheiferte und nichts in ihren Manga »deutsch« wirken sollte, ist Christina Plaka heute offen für Einflüsse aus den unterschiedlichsten Comic-Strömungen und erzählt in ihrem neuesten Werk Kimi he autobiographisch von einer Liebesgeschichte, die eng mit der ErdbebenKatastrophe in der Tōhoku-Region vom 11. März 2011 verwoben ist. Christina Plakas Werdegang ist, wie Paul Malone in seinem Beitrag über in Deutschland produzierte Manga verdeutlicht, charakteristisch für eine ganze Generation von deutschen Zeichnerinnen. Diese jungen Manga-Künstlerinnen wurden als Kinder in den 1990er Jahren zu Fans der japanischen Populärkultur, bevor sie schließlich von der Rezipienten- auf die Produzentenseite wechselten und sich die Bildsprache der japanischen Comics für ihre eigenen Werke aneigneten. Wie Malone feststellt, stammen viele der deutschen Mangaka aus Einwandererfamilien. Sie nutzen den deutschen Manga-Boom, um in der deutschsprachigen Kultur zu Wort zu kommen und bringen ihren kulturellen Hintergrund in ihre Arbeit ein. So entstehen bei Christina Plaka, Judith Park oder Reyhan Yildirim hybride Werke, die die Vielfalt des Mediums Manga und der deutschen Gegenwartskultur widerspiegeln. Das Medium Anime und seine Rezeption in Deutschland nimmt Stephan Köhn in seinem Aufsatz in den Blick. Zwar stellte sich in den 1990er Jahren ein sehr bewusster Konsum von japanischen Zeichentrickserien ein und es bildete sich eine breite Fan-Basis. Wie Köhn am Beispiel des Anime »Chihiros Reise ins Zauberland« (Sen to Chihiro no kamikakushi, 2001) des Regisseurs Miyazaki Hayao feststellt, war diese Hochschätzung des Anime jedoch zunächst recht begrenzt. Anime galten in Deutschland vor allem als Kinder- und Jugendkultur, weshalb die Einstufung von Miyazakis Anime als »Hochkultur« – unter anderem durch die Auszeichnung mit dem goldenen Bären der Berlinale – auf Skepsis treffen musste. In der Literatur zu Anime und in den Medien wird außerdem häufig thematisiert, dass Miyazakis Filme tief in der japanischen Tradition verwurzelt seien. Köhn analysiert kritisch die dabei verwendeten kulturellen Zuschreibungsverfahren, z. B. das E i n l e i t u n g | 17
traditionell Religiöse oder die Liebe der Japaner zur Natur als Referenzpunkte für die Japanizität in Miyazakis Film. Er distanziert sich von solchen nationalkulturellen Zuschreibungen besonders im westlichen akademischen »Zeichentrickfilmdiskurs« und zeigt, dass Miyazaki in seinem Film weniger das »traditionell Japanische« thematisiert, als vielmehr bestimmte kulturell eher neutrale Erzählelemente benutzt, um eine Parallelwelt wie z. B. in Alice im Wunderland zu schaffen. Miya zaki arbeitet also mit Tropen, die transkulturell verständlich sind. Darüber hinaus macht Köhn deutlich, wie das Medium Anime mit seinen Eigenheiten sich aus ökonomischen Erwägungen und einer Orientierung an westlichen Produktionen heraus entwickelt hat. Andererseits arbeitet er aber auch heraus, dass die »Sichtbarkeit als japanische Produktion« ein Grund für den großen Erfolg der japanischen Anime ist. Vor allem die Anime-Serie Naruto weckt bei vielen jungen Menschen in Deutschland Begeisterung und wird auch zur Inspirationsquelle für eine eigene Sparte in der deutschsprachigen Fanfiction-Szene: Jugendliche Hobby-Autor/ innen bedienen sich der Figuren und Szenerien aus Anime und kreieren daraus eigene Geschichten, die sie im Internet auf einschlägigen Seiten veröffentlichen. Diesen oft umfangreichen Werken widmet sich Stephanie Klasen in ihrem Beitrag und geht dabei der Frage nach, welche Rolle das Ursprungsland der Anime für die Fanfiction-Autor/innen spielt. Die im Internet veröffentlichten Profile und Geschichten zeigen, dass die Jugendlichen nur über ein begrenztes Japan-Wissen verfügen, dass aber gerade dieses »Vakuum« besondere Möglichkeiten eröffnet. Für sie ist das Land noch nicht mit bestimmten Vorstellungen »besetzt«, weil weitgehend unbekannt, und kann so entsprechend den Phantasien und Sehnsüchten der Autor/innen zu einem »imaginary homeland« ausgestaltet werden. Bei den deutschen Anhängerinnen der »Lolita«-Kultur, die in erster Linie eine Mode-Subkultur ist, spielt Japan als Referenz eine eher untergeordnete Rolle, wie Julia Siep in ihrem Beitrag feststellt. Junge Frauen, die dieser in Japan entstandenen Subkultur angehören, kleiden sich auffällig mädchen- oder sogar puppenhaft, mit vielen niedlichen Elementen wie Rüschen, Schleifen und Borten. Bezugspunkte, die den Stil der Mode beeinflussen, sind das viktorianische Zeitalter und die Kleidung des Rokoko. Den deutschen Mädchen, die diese Mode für sich übernehmen, geht es aber, wie Sieps Analyse zeigt, weniger darum, einen Bezug zu Japan als »Mutterland« dieser Strömung herzustellen; für sie ist Lolita in erster Linie eine Möglichkeit, ihre eigene Persönlichkeit zu unterstreichen und sich vom gesellschaftlichen Mainstream äußerlich deutlich abzuheben. Ein dekoratives Element, das auch in der Lolita-Mode aufgegriffen wird, ist die niedliche kleine Katze Hello Kitty. Diese Figur zeigt, wie aus wenigen Strichen ein Milliardengeschäft werden kann: 1974 in Japan erfunden, ist sie seit einigen 18 | M ic hik o M a e, Elis a b e t h Sc h e r e r
Jahren auch in Deutschland omnipräsent – ob auf Schulranzen, Unterwäsche oder Süßigkeiten. Corinna Peil und Herbert Schwaab verstehen in ihrem Beitrag die Figur Hello Kitty als Teil der japanischen Kultur der Niedlichkeit (»kawaii-Kultur«), die auch eine Ausdrucksform des (»stummen«) Widerstands gegen gesellschaftliche Werte wie Rationalität, Produktivität, Ordnung und Kontrolle in der modernen Schul- und Arbeitswelt ist. Das Fehlen eines Mundes macht die Figur zu einer leeren Projektionsfläche und das Fehlen einer hinter der Figur stehenden Geschichte sorgt dafür, dass die Katze mit den unterschiedlichsten Gefühlen und Phantasien aufgeladen werden kann. Da Hello Kitty frei ist von Signifikanten, die auf ihre japanische Herkunft schließen lassen, konnte sie zu einer globalen Marke werden, die in die verschiedensten kulturellen Kontexte integriert werden kann. Frei von der Funktion der Repräsentation wurde die Figur zu einem Objekt, das selbst als Medium fungieren kann. Durch ihre Omnipräsenz wird sie zu einem Teil des Alltags und kann als Medium der sozialen Kommunikation und Interaktion eingesetzt werden. Ihre Bedeutung erhält sie nicht durch eine Geschichte, sondern durch ihre Identität als Marke und durch die globale Expansion der mit ihr verbundenen Merchandising-Produkte. So wird Hello Kitty zu einem Beispiel für den Mechanismus der weltweiten Verbreitung kultureller Güter, aber auch dafür, wie die japanische Populärkultur zum Impulsgeber für eine neue Form der Produktion kultureller Güter werden konnte. Manga und Anime waren in den 1990er Jahren, als sie von den westlichen Jugendlichen ›entdeckt‹ wurden, noch von einem Hauch des Exotischen umgeben – heute hingegen ist die Formensprache dieser Medien fest im Bewusstsein auch der Menschen in Deutschland verankert. So werden Manga-Figuren für eine Verkehrserziehungs-Kampagne des Landes Brandenburg eingesetzt (Lena & Hannes, 2005–2011), und an Volkshochschulen werden Manga-Zeichenkurse angeboten. Das Beispiel Japan zeigt, dass sich in der Populärkultur in Zeiten des Internets zunehmend globale Strömungen entwickeln, die jeweils lokal ihren Niederschlag finden und ganz eigene Ausprägungen hervorbringen. Neben dieser Glokalisierung könnte eine andere Entwicklung in der Populärkultur zukunftsweisend sein: die Auflösung der Grenze zwischen Produzent/innen und Rezipient/innen. Auch hier spielt das Internet eine wichtige Rolle, wenn Figuren, Handlungen oder auch Hintergrundgeschichten aus Manga, Anime, Film und Videospiel in einer »zweiten Schaffung« (niji sōsaku) weiterentwickelt werden. Mit diesen »zweiten Geschichten« können Rezipient/innen als Autor/innen ihre Träume und Phantasien entfalten, aber auch ihre Widerstandskraft gegen die sie vereinnahmende Gesellschaft stärken und daraus ihre eigenen Entwicklungsmöglichkeiten schöpfen. Welche gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen diese Entwicklungen in der weltweiten Populärkultur haben werden, ist heute noch E i n l e i t u n g | 19
nicht abzusehen. Aber sie zeigen – wie hundert Jahre zuvor der Japonismus –, dass transkulturelle Prozesse in ihrer Wechselseitigkeit schöpferische Prozesse sind, aus denen etwas Neues hervorgehen kann.
A n m er kunge n 1 Die Zeitschrift erschien auch in deutscher und englischer Sprache. Zu Samuel Bing vgl. Berger 1980: 96 ff., Arwas 2002: 24ff. 2 Mit Emil Orliks Verhältnis zu Japan hat sich Setsuko Kuwabara ausführlich beschäftigt (1987). Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe widmete Orliks Japan-Aufenthalt eine eigene Ausstellung (Oktober 2012 bis April 2013) unter dem Titel Wie ein Traum! Emil Orlik in Japan. Hierzu ist auch ein Katalog erschienen (Voss-Andreae 2012).
L ite r at ur Arwas, Victor (2002): Art Nouveau: The French Aesthetic. Winterbourne, Berkshire: Papadakis Publisher. Berger, Klaus (1980): Japonismus in der westlichen Malerei 1860–1920. München: Prestel. Düsing, Wolfgang (2002): »Japanbilder im Werk von Adolf Muschg: Im Sommer des Hasen – Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat«. In: Sprengard, Karl Anton; Ono, Kenchi; Ariizumi, Yasuo (Hrsg.): Deutschland und Japan im 20. Jahrhundert: Wechselbeziehungen zweier Kulturnationen. Wiesbaden: Harrassowitz, S. 127–134. Falke, Jakob (1873): Die Kunstindustrie auf der Wiener Weltausstellung 1873. Wien: Verlag Carl Gerold’s Sohn. Fraleigh, Sondra (2010): Butoh: Metamorphic Dance and Global Alchemy. Champaign: University of Illinois Press. Grünbein, Durs (2008): Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus. Frankfurt: Insel. Kuwabara, Setsuko (1987): Emil Orlik und Japan. Frankfurt: Haag und Herchen. Maltarich, Bill (2005): Samurai And Supermen: National Socialist Views of Japan. Bern: Peter Lang. Otterbeck, Christoph (2007): Europa verlassen: Künstlerreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Köln: Böhlau. Ver Sacrum (1900): »Mittheilungen«. Ver Sacrum, Heft 3/1900, S. 35. Voss-Andreae, Peter (2012): Wie ein Traum! Emil Orlik in Japan. Hamburg: Ed. Rasch. Wittbrodt, Andreas (2005): Das blaue Glühen des Rittersporn …: Aufsätze zum deutschsprachigen Haiku. Hamburg: Hamburger Haiku-Verlag.
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NIPPONSPIRATION ALS TRANSKULTURELLE GRENZÜBERSCHREITUNG IN DER KUNST Ja po ni smus und j a pa nis che Populärkultur M ichiko M ae
»Ohne den Japanismus in seiner vollen Bedeutung zu erkennen, kann man die Grundlagen der modernen Kunst nicht verstehen.«1 (Klaus Berger)
Einleitung »Nicht mehr und nicht weniger als eine Revolution im Sehen der europäischen Völker, das ist der Japonismus« (de Goncourt 1956: 334). So fasste Edmond de Goncourt den Einfluss der japanischen Kultur auf die westliche Kunst im Paris der Jahrhundertwende zusammen. Für einen der bedeutendsten Bühnenbildner der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Emil Preetorius (1883–1973), erreichte dieser Einfluss »alle nur erdenklichen Kunstzweige in ganz Europa und blieb wirksam bis weit über die Jahrhundertwende hinaus« (Preetorius 1963: 110). Ähnlich äußerten sich viele westliche Künstler und Kunstkritiker über die Wirkung des Japonismus.2 Im Folgenden geht es nicht nur um die Analyse dieses Phänomens selbst, sondern es wird am Beispiel der beiden großen Phasen der Japan-Begeisterung um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. und vom 20. zum 21. Jahrhundert gezeigt, wie man Kultur nicht nur als ›deutsche‹ oder ›japanische‹ Kultur, d. h. als geschlossene, auf eine Nation oder Ethnie bezogene einheitliche Kultur verstehen kann, sondern als einen offenen Prozess ständigen Wandels, in dem Kulturen wechselseitig aufeinander einwirken. Japan ist ein modernes, in vieler Hinsicht westliches Land, aber es erscheint im Westen oft heute noch als eine fremdartige, sogar rätselhafte und unverständliche Kultur. Die Fremdheit und das exotisch Geheimnisvolle: das sind Bilder und Vorstellungen, hinter denen die Kultur selbst als ein lebendiger Prozess in ihrer Entwicklung und in ihrer vielfältigen, oft heterogenen und sich ständig wandelnden Nip p o n s p ir a t io n a ls t r a n s k ul t u r e l l e G r e n z ü b e r sc h r e i t u n g | 21
Präsenz überhaupt nicht mehr in den Blick kommen kann. Eine andere Kultur als fremd und unverständlich wahrzunehmen, heißt, sie als etwas wahrzunehmen, was sie nicht ist; man projiziert seine eigenen Vorurteile, Bilder und Klischees auf sie und benutzt sie dazu, die eigene kulturelle Identität durch Abgrenzung von anderen kulturellen Identitäten zu konstruieren. Dieser Vorgang liegt dem zugrunde, was man Orientalismus (Edward Said) und Exotismus genannt hat. Als Reaktion darauf entstand in Japan die Vorstellung, eine ›traditionelle‹, ›eigenursprüngliche‹, ›reine‹, in sich geschlossene Kultur zu haben, und diese Vorstellung nach außen zu vertreten. Noch heute wird in national-konservativen Kreisen die japanische Kultur nur auf die japanische Nation und Tradition bezogen und als eine einheitliche Kultur gedacht und verstanden. Aber jede Kultur ist auch ein lebendiger Prozess: Sie ist nur dann produktiv und lebendig, wenn sie im Austausch mit anderen Kulturen steht und sich immer weiter wandelt. Deshalb soll am Beispiel der beiden Japan-Boom-Phänomene versucht werden zu zeigen, wie man Kultur anders, in ihrer Verfasstheit als ›transkulturelle‹ Kultur verstehen kann. Es geht im Folgenden um eine Analyse der beiden Boom-Phänomene aus diesem Blickwinkel, um allgemein ein besseres Verständnis für transkulturelle Prozesse zu gewinnen. Was um die Jahrhundertwende (1900) durch den ›Einfluss‹ der japanischen Kunst in der westlichen Kunst hervorgerufen wurde, war ein entscheidender Schritt zum Durchbruch zur modernen Kunst. Das lag aber nicht nur an der Wirkung der japanischen Kunst allein, es lag auch an den betrachtenden westlichen Künstlern selbst, die das, was sie suchten, in der japanischen Kunst erkannten und das Erkannte umzusetzen verstanden in ihre eigene Kunst. Mit dem Japonismus ist die japanische Kultur über ihre Grenzen hinausgetreten und konnte so zu einem Teil der westlichen Kultur werden; gleichzeitig hat sich die westliche Kultur geöffnet und konnte ihre Selbstbezogenheit überwinden, indem sie Elemente der japanischen Kultur in sich aufnahm und zu etwas Eigenem machte. In diesem wechselseitigen Vorgang wird deutlich, dass Kulturen nicht nur ›eigenursprünglich‹, und ›selbstbezogen‹ sind, d. h. sich auf etwas ›Eigenes‹ beziehen und vom ›Anderen‹, ›Fremden‹ abgrenzen, sondern als spezifische Kulturen auch ›fremde‹ sowie ›allgemeine‹, durch alle Kulturen hindurchgehende Kulturelemente in sich enthalten. Kulturen bilden keine geschlossenen Einheiten, sie sind nicht homogen, sondern sind immer in sich vielfältig und sogar widersprüchlich und sollten als offener Prozess eines ständigen Wandels gesehen werden. Was zwischen verschiedenen Kulturen zu geschehen scheint – kulturelle Einflüsse, Wirkungen, Begegnungen, Austausch, Inspiration etc. – sind weniger inter- als vielmehr transkulturelle Prozesse und Phänomene, wie sie für jede Kultur konstitutiv sind. Nur unter dieser Prämisse – das ist die These des folgenden Beitrags – kann 22 | M ic hik o M a e
man die Phänomene Japonismus und japanische Populärkultur in einer produktiven Weise verstehen. Wenn man den Japonismus und die japanische Populärkultur als transkulturelle Phänomene sieht, sie sogar als Modellfälle für Transkulturalität versteht, wird deutlich, welches produktive Potenzial für Kulturwandel und für das Hervorbringen der modernen Kultur des 20. und des 21. Jahrhunderts in ihnen enthalten ist.
Wa s ha be n de r Ja po ni smus und die japanische P o pul ä rkultur gem eins am ? Was die westlichen Künstler in der japanischen Kunst entdeckt haben, war für jeden von ihnen unterschiedlich; eines aber war ihnen gemeinsam: Sie waren Suchende. Dass das, was sie gefunden haben in der japanischen Kunst, bei jedem dieser Künstler verschieden war, dass man also nicht von einem einheitlichen Japonismus sprechen kann, liegt aber auch an der japanischen Kultur selbst, die in sich nicht einheitlich ist: »Das ›Japanische‹ ist nicht eine statische unbewegliche Einheit, sondern repräsentiert in sich selbst eine lange und vielfältige Entwicklung. Seine verschiedenen Phasen haben sich bisweilen sehr unterschiedlich auf den Westen ausgewirkt. So müßte man nicht von einem Japonismus sprechen, sondern von einer Vielzahl.« (Berger 1980: 9)
Der hohen Wertschätzung, die die japanische Kultur nach der Öffnung des Landes Mitte des 19. Jahrhunderts bei vielen Europäern gewann, stand in Japan selbst eine gegenteilige Tendenz gegenüber: Nachdem das Land schockartig mit der westlichen Kultur konfrontiert worden war, war die erste Reaktion, dass man die eigene Kultur als unterlegen abwertete und sich die westliche als überlegene Kultur zum Vorbild nahm. Das führte z. B. dazu, dass viele japanische Kunstwerke und Kunstgegenstände im westlichen Ausland geradezu verschleudert wurden – auch die berühmten ukiyo-e (Farbholzschnittdrucke), die in Japan als Populärkultur galten. Als diese japanische Kunst und japanisches Kunsthandwerk auf den Weltausstellungen seit 1867 präsentiert wurden, hat das einen beispiellosen Japan-Boom und eine Japan-Begeisterung in weiten Kreisen Europas ausgelöst, wie man es sich heute kaum vorstellen kann. Die Drucke der japanischen Farbholzschnittkunst hatten sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr verbreitet, vor allem in Paris, der europäischen Kulturhauptstadt in dieser Zeit, und einzelne Kunstkritiker, Kunsthändler und Intellektuelle erkannten deren besonderen künstlerischen Wert. Nip p o n s p ir a t io n a ls t r a n s k ul t u r e l l e G r e n z ü b e r sc h r e i t u n g | 23
Aber bestimmte Künstler, die wir als Impressionisten und Nachimpressionisten kennen, sahen in diesen Bildern nicht nur das Anders- und Neuartige der japanischen Seh- und Darstellungsweise, sondern ihnen eröffnete sich eine neue Welt mit einem neuen Blick auf die Natur, das Alltagsleben der Menschen in der Großstadt, die Unterhaltungs- und Vergnügungswelt. In dieser japanischen Bilderwelt gab es keine streng hierarchisierende, differenzierende und wertende Ordnung wie in der europäischen Kunsttradition. Die Künstler empfanden dies als eine ungeheure Befreiung und als eine Chance für die Erschaffung einer ›neuen‹ Kunst. Etwa hundert Jahre später – ungefähr seit 1990 – waren es wieder populärkulturelle Produkte wie Manga (Comics), Anime (Zeichentrickfilme) und Videospiele, die nicht nur im Westen, sondern weltweit einen Japan-Boom auslösten. Aber zunächst wurden sie gar nicht als japanisch wahrgenommen, und ihre japanische Herstellung wurde verschwiegen. Sie wurden weder als spezifisch japanische Produkte erkannt, noch als solche deklariert. Heute aber sind sie gerade wegen ihrer als japanisch empfundenen Eigenschaften bei den Konsumenten und Fans außerhalb Japans so beliebt und werden gleichzeitig von ihnen als Teil ihrer eigenen Kultur oder der globalen Weltkultur verstanden. Offensichtlich haben sie eine kulturelle Qualität, die über das Kulturspezifische hinausgeht. Sie sind japanisch, können aber auch als westliche Kulturprodukte angenommen werden, allgemein gesprochen: Sie sind transkulturell. Hier kann man eine strukturelle Entsprechung zum Japonismus sehen. In beiden Fällen wird nicht mehr zwischen dem kulturell Eigenen und Fremden unterschieden: Wie in der heutigen Populärkultur konnte vor über 100 Jahren ein westliches Bild als Ausdruck der europäischen Moderne gesehen werden, war aber in wichtigen Elementen von der japanischen Kunst geprägt, wie umgekehrt in Japan ein ukiyo-e-Bild durch typische Elemente der westlichen Kunst wie z. B. die Perspektive geprägt sein konnte. Darauf werde ich später genauer eingehen. Beide Boom-Phänomene, Japonismus und japanische Populärkultur, sind Beispiele für produktive kulturelle Begegnungen und Auseinandersetzungen. Da Kultur immer ein schöpferischer Prozess ständigen Wandels ist, der Neues hervorbringt und Vorgegebenes überwindet, negiert oder auflöst, der Grenzen überschreitet und sich öffnet für das Andere, kann sie nicht nur als eine spezifische nationale Kultur mit eigenem Ursprung gesehen werden, sondern sie sollte auch als ein nach innen und nach außen und auf die Zukunft hin offener Prozess verstanden werden. Dieser offene Prozess ermöglicht Transkulturalität, wie sie sich modellhaft manifestiert einerseits in der großen künstlerischen Wirkung japanischer Kunstobjekte auf repräsentative westliche Künstler wie van Gogh und Monet und in deren revolutionären Antworten durch die Herausbildung der modernen Kunst vor und nach 1900, und andererseits in dem Boom der japanischen Populärkultur seit 1990 in 24 | M ic hik o M a e
der westlichen Welt und global. Kann man zwischen diesen beiden Phänomenen eine Brücke schlagen, weil es zwischen ihnen eine strukturelle Entsprechung gibt? Ist diese strukturelle Entsprechung in dem begründet, was hier als Transkulturalität bezeichnet wird, und kann man in diesem Sinn das transkulturelle Verständnis der Kultur als einen Gegenentwurf zur Nationalkultur und zum Orientalismus verstehen?
Ku lt u r e l l e s K ri se nbe wusst se i n und innere Bereitschaft f ür das japanis che Sehen Im europäischen Modernisierungsprozess entstand im 19. Jahrhundert eine krisenhafte Situation: Die Selbstgewissheit der europäischen Kultur, die zur Orientalisierung und Exotisierung (und auch zur Kolonialisierung) der Anderen geführt hatte, war ins Wanken geraten, und ein kulturelles Krisenbewusstsein war entstanden. Vor allem viele Künstler spürten, dass eine jahrhundertlange Entwicklung und Kunsttradition sich verfestigt hatte und erstarrt war im Akademismus, Klassizismus und Historismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Künstler suchten einen Neuanfang für die Kunst und sie wussten, dass er nicht mehr möglich war durch einen Rückgriff auf eine frühere Phase der europäischen Kunst, z. B. die Antike, wie er am Ende des Mittelalters zur Renaissance und damit zur Entstehung der neuzeitlichen Kunst geführt hatte. Damals war eine neue Weltsicht entstanden, die sich z. B. in der subjektbezogenen Zentralperspektive manifestierte. Diese Weltsicht war nicht nur raumbezogen und subjektzentriert, sondern sie war auch auf die Welt in ihrer Ganzheitlichkeit (also nicht jeweils auf bestimmte Aspekte) ausgerichtet. Dies führte in der Kunst zu dem, was man ihren ›Illusionismus‹ nennen könnte, und hatte seinen Höhepunkt im Historismus und Naturalismus des 19. Jahrhunderts gefunden. Beide waren die prägenden Stilrichtungen während des ganzen 19. Jahrhunderts, aber es gab schon im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts Ansätze und einzelne Künstler wie Goya und Turner, bei denen sich eine andere Grundrichtung, die wir aus heutiger Sicht die Moderne nennen, ankündigte. Dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckten plötzlich einige Künstler die japanischen Farbholzschnitte des ukiyo-e mit ihrer anderen Sehweise und ungewohnten Anschauungsart, und diese für sie neuen Darstellungs- und Ausdrucksformen bekamen für diese Künstler die »Rolle des Befreiers und Helfers«, wie Klaus Berger es bezeichnet (1980: 9). Die Krise in der westlichen Malerei hatte eine innere Bereitschaft für eine ganz andere Art der Kunst hervorgebracht. Die Künstler konnten aus ihrer kulturellen Isolierung durch die europäische Kunsttradition heraustreten, und es öffnete sich ihnen ein neuer Raum für ihre künstlerische Nip p o n s p ir a t io n a ls t r a n s k ul t u r e l l e G r e n z ü b e r sc h r e i t u n g | 25
Freiheit. Die Kunst selbst konnte jetzt zu einer starken Kraft werden, die nur den eigenen künstlerischen Anforderungen folgen musste – keinen äußeren ideologischen Forderungen durch die Tradition und die Gesellschaft. Viele Impressionisten, die allerdings nicht als eine einheitliche Kunstbewegung betrachtet werden sollten, haben in der japanischen Kunst nicht nur neue Anschauungs- und Darstellungsformen gefunden, sondern auch neue Vorstellungen über den gesellschaftlichen und kulturellen Wert künstlerischer Sujets und Genres. In der japanischen Kunsttradition gab es keine hierarchische Ordnung zwischen Natur, Tieren und Menschen und deshalb konnten sie als gleichwertige Sujets dargestellt werden. In China und Japan führte die Tradition der sansui-ga (wörtlich: »Berge und Wasser/Flüsse«; d. h. Landschaftsbilder) und der kachō-ga (Pflanzenund Tierbilder) zu einer gleichrangigen künstlerischen Thematisierung der Natur, die es zwar in Ansätzen auch in der europäischen Kunst schon vor der Begegnung mit der japanischen Kunst gab, die aber jetzt als Befreiung von einer traditionellen Wertordnung in der Kunst empfunden wurde. Eine wertende Unterscheidung gab es in der westlichen Kunst auch zwischen der ›reinen‹, ›hohen‹ Kunst und dem angewandten praktischen Kunsthandwerk. In Japan dagegen gab es keine solche hierarchische Ordnung zwischen verschiedenen künstlerischen Darstellungsformen, ob sie nun dem ›reinen‹ Kunstzweck dienten oder in alltäglichen Gebrauchsgegenständen zur Anwendung kamen, wie Keramik, Lackarbeiten, Textilien, Schmuckstücken etc. Angeregt durch diese neue Betrachtungsweise wandten sich immer mehr westliche Künstler solchen neuen Bereichen zu, wie man am Beispiel der Arts-and-Crafts-Bewegung, des Jugendstils, der Wiener Werkstätten und des Bauhauses feststellen kann. Hier wurde auch die Unterscheidung zwischen dekorativen und naturalistisch-künstlerischen Darstellungsformen überschritten, die bis dahin in der europäischen Kunst in einer hierarchischen Ordnung zueinander standen. Diese Beispiele zeigen, dass die westlichen Künstler durch die neuen ›Einsichten‹, die sie durch die japanische Kunst gewonnen haben, nicht nur die kulturelle Grenze gegenüber einer anderen Kultur überschritten haben, sondern auch Grenzen überschreiten konnten, die ihnen innerhalb ihrer eigenen Kultur und durch die eigene Kunsttradition gesetzt waren. Hier kann man das große subversive Potenzial der transkulturellen Wirkung erkennen: Diese innere Grenzüberschreitung wäre nicht möglich gewesen, wenn man sich nicht durch einen anderen Blick aus der eigenen Kulturtradition und -ordnung hätte lösen können. Dadurch konnte etwas Neues Drittes entstehen, das zwar immer noch europäisch war, gleichzeitig aber auch als eine transkulturelle Kunst verstanden werden kann. Wie soll man diesen dramatischen Vorgang beschreiben? Hat die ›Entdeckung‹ der japanischen Farbholzschnitte Mitte des 19. Jahrhunderts – die man 26 | M ic hik o M a e
ja schon lange zuvor in Paris sehen und kaufen konnte, ohne dass man sie ›entdeckt‹ hätte, weil die ›innere Bereitschaft‹ dazu gefehlt hat – die Entwicklung der neuen Kunst ausgelöst oder hat umgekehrt die Krise in der westlichen Malerei die ostasiatische Kunst – wie Berger sagt – »erst gerufen«? (1980: 325). Gab es bei den Künstlern in der Krisensituation eine ›innere Motivation‹ und ›innere Notwendigkeit‹ für die neuen Seh- und Darstellungsweisen, die sie zu der Entdeckung geführt haben? Oder hat die japanische Kunst bei den westlichen Künstlern die innere Bereitschaft, Motivation und Notwendigkeit erst hervorgerufen und erzeugt, die sie dann zur Entwicklung der neuen westlichen Kunst geführt haben? Diese Fragen führen direkt zu dem Prozess, in dem die innere Bewegung der Kultur selbst hervortritt. Denn es ist klar, dass es hier um weit mehr als um künstlerische Nachahmung, Einflüsse, Rezeption und Wirkung geht. Der Japonismus war eine treibende Kraft, öffnete die Augen für neue Sehmöglichkeiten, zeigte neue Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten und war Inspiration für den eigenen künstlerischen Schöpfungsprozess. Das Erkennen, die Aufnahme und die Umsetzung des japanischen Sehens, oder das, was Claudia Delank mit dem Begriff der »Einsicht« (Delank 1996: 15) zu fassen versucht, muss man also verstehen als einen motivierenden und schöpferischen Impuls im eigenen künstlerischen Prozess selbst. Er führte zu einer »Integrierung des japanischen Sehens in die westliche Moderne« (Berger 1980: 327). Das Entscheidende ist, dass diese »Integrierung« nicht eine bloß passive Übernahme oder Nachahmung war, sondern zu etwas Neuem führte, das Berger eine »vollkommen neue originale Sehform« nennt (ebd.: 9); er schreibt: »Aus den neu entdeckten künstlerischen Elementen entwickelt sich die den modernen Bedingungen entsprechende Vorstellungsform« (ebd.: 10). Dies geschah zu einem Zeitpunkt und in einer Situation, in der bedeutende Künstler wie Renoir feststellen mussten, dass sie mit ihrer Kunst in eine Sackgasse geraten waren. Er schrieb über seine künstlerische Entwicklung vor der Begegnung mit der japanischen Kunst: »Ich war am Ende des Impressionismus angekommen und mußte feststellen, daß ich weder malen noch zeichnen konnte. Ich war, mit einem Wort, in der Sackgasse«.3 Sie suchten neue, den modernen Bedingungen entsprechende Vorstellungsformen und erkannten mit Staunen, »daß vieles, was sie anstrebten, die Japaner schon geleistet hatten, daß die Japaner […] der europäischen Kunstbewegung vorausgeeilt waren«.4 Das schrieb der Wiener Kunsthistoriker Franz Wickhoff am Ende des 19. Jahrhunderts. Europäische Künstler erkannten also die Moderne, nach der sie selbst strebten, in der japanischen Kunst. Diese ›Einsicht‹ war zugleich Inspiration, Motivation und schöpferisches Agens, d. h. in den europäischen Künstlern konnte die japanische Kunst ihr schöpferisches Potenzial für die Moderne entfalten. Und die europäischen Künstler Nip p o n s p ir a t io n a ls t r a n s k ul t u r e l l e G r e n z ü b e r sc h r e i t u n g | 27
konnten ihr eigenes schöpferisches Potenzial mit Hilfe der japanischen Kunst in neue künstlerische Gestaltungsformen umsetzen und so die Moderne hervorbringen.
Tr an s k u lt ure l l e ›Ei nsi c ht ‹ und da s ›produktiv e M is s v er s t e he n‹ Dass man aus einer anderen Kultur die Inspiration, Ermutigung und Legitimierung dafür gewinnt, in der eigenen Kultur etwas Neues zu wagen, zeigt das kulturschöpferische Potenzial der transkulturellen Bewegung. Dieses Potenzial kann aber nur aktiviert werden, wenn man in der anderen Kultur zugleich auch die eigene Kultur erkennen kann, und wenn künstlerische Elemente der anderen Kultur in künstlerische Elemente der eigenen Kultur transformiert werden können. Die Begriffe ›das Andere‹ und ›das Eigene‹ verlieren hier ihre abgrenzende, unterscheidende und festlegende Bedeutung. Transkulturalität bedeutet aber nicht nur die Überwindung oder Auflösung solcher kultureller Grenzen; das Beispiel des Japonismus zeigt in sehr eindrucksvoller Weise: Solange die Künstler des 19. Jahrhunderts in ihrer kulturellen Isolierung gefangen waren, befanden sie sich in einer Sackgasse, und der Durchbruch zur Moderne war ihnen nicht möglich. Erst als ihr Krisenbewusstsein und ihre Suche nach einer neuen Kunst sie offen und empfänglich machten, konnten sie in einer anderen Kultur und Kunst, die ihnen zuvor, im Zustand der kulturellen Selbstgewissheit, nur als exotisch und minderwertig erscheinen konnte, jetzt die Lösung ihrer Probleme und den Weg zu dem gesuchten Neuen erkennen. Diese transkulturelle ›Einsicht‹ ist also untrennbar verbunden mit dem kulturellen Krisenbewusstsein, der Suche und dem schöpferischen Prozess selbst. Für ein angemessenes Verständnis des Japonismus ist es wichtig, die Transkulturalität als einen Vorgang zu verstehen, in dem das Infragestellen der eigenen Kultur und das SichÖffnen für andere Kulturen in einem schöpferischen und motivierenden Prozess geschehen, aus dem etwas Neues hervorgehen kann. Vielleicht ist es deshalb gar nicht so wichtig, ob die westlichen Künstler die japanische Kunst und Kultur ›richtig‹ verstanden und interpretiert haben in einem streng wissenschaftlichen Sinn; viel wichtiger ist, was sie »sehen wollten und sehen konnten« (Berger 1980: 11) und wie sie auf die andere Kultur geantwortet haben. Diese Antworten haben sie nicht aus einem objektiven wissenschaftlichen Wissen über die japanische Kunst gewonnen, sondern in gewissem Sinn aus ihren Projektionen auf die andere Kultur. Genau das könnte man allerdings auch über den Orientalismus und Exotismus sagen, und die spannende Frage wäre, warum der Japonismus dieser Künstler gerade keine Erscheinungsform des Exotismus und Ori28 | M ic hik o M a e
entalismus ist, auch wenn in seiner ersten Phase Künstler oft exotische japanische Motive verwendet haben. Eine mögliche Antwort wäre: Weil der Japonismus eine Manifestation der Transkulturalität ist. In dem transkulturellen Raum, den der Japonismus öffnete, waren für van Gogh, den man vielleicht als den bekanntesten und populärsten ›Japonisten‹ bezeichnen könnte, die Impressionisten »französische Japaner« (van Gogh in Erpel 1965: 96). Er sagt, dass sie »nun für ihr Land das anstrebten, was die Japaner einst in ihrem eigenen Land besaßen, und somit eine Kunst wieder belebten und durchmischten, die im Ursprungsland [in Japan; M.M.] dekadent geworden war« (Druick 2002: 96). Und van Gogh geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er voraussagt, dass die japanische Kunst eine Fortführung in Frankreich finden werde, »wenn die Japaner im eigenen Lande nicht recht vorwärtskommen« (van Gogh in Erpel 1968: 250). Hier existieren keine kulturellen Grenzen mehr, und in der Imagination van Goghs gibt es sogar keine geographisch-räumlichen Grenzen. Er projizierte seine Vision und Utopie des Südens (Provence) auf Japan oder auch umgekehrt: Er projizierte Japan auf den europäischen Süden. »Du weißt«, schreibt er an seinen Bruder Theo, »ich fühle mich hier in Japan« (van Gogh in Erpel 1965: 14). Den Süden (Provence) kennenzulernen bedeutete für van Gogh, »die Japaner besser zu verstehen«. Auch seinen Traum von einer Künstlergemeinschaft projizierte er auf Japan; er stellte sich seine japanischen Kollegen »in einer Art brüderlicher Gemeinschaft« vor, »mitten in der Natur als Kleinbürger«, die in gegenseitiger Unterstützung und Harmonie arbeiteten, und für die der wechselseitige Austausch äußerst wichtig war (van Gogh in Erpel 1965: 164). Nach Kōdera Tsukasa war allerdings der Austausch von Werken für japanische Maler gerade nicht charakteristisch und er vermutet, dass van Gogh »sein eigenes Ideal in die japanischen Maler einzubringen« scheint (Kōdera 2010: 363; übersetzt von M.M.). Aber gerade durch diese Projektion und seine Begeisterung für das Japanische war van Gogh offen für das Andere und Neue in der japanischen Kunst. Fast scheint es so, dass mit dem Grad des »produktiven Missverstehens« die inspirierende und motivierende Wirkung der anderen Kultur steigt. Aber das gilt natürlich nur bis zu einem bestimmten Grad und hängt von der Qualität dessen ab, was aus dieser Wechselbeziehung hervorgeht. Wir bewegen uns hier in einem Raum, der nicht durch wissenschaftliches Erkennen und Wissen bestimmt ist, sondern durch das, was Claudia Delank mit ›Einsicht‹ meint und was hier mit dem Konzept der ›Motivation‹ zu erfassen versucht wird. Dabei geht es für ein transkulturelles Verständnis des Japonismus nicht nur darum zu fragen, was die westlichen Künstler in der japanischen Kunst »sehen wollten«, sondern auch, was sie darin »sehen konnten«. Konnten die ukiyo-eHolzschnitte gerade deshalb von ihnen ›entdeckt‹ werden, weil die Werke von Nip p o n s p ir a t io n a ls t r a n s k ul t u r e l l e G r e n z ü b e r sc h r e i t u n g | 29
1 Odano Naotake (ca. 1770): Shinobazuike (»Der Shinobazu-Teich«). 98,5 x 132,5 cm, Farbe auf Seide, Akita Museum für Moderne Kunst. Wikimedia Commons.
Hokusai, Hiroshige und anderen bereits westliche Elemente in sich trugen? Wie Delank zeigt, hat der japanische Kunsthistoriker Naruse Fujio in einem Aufsatz von 1977 die These aufgestellt, dass die Maler der so genannten Akita-Schule bereits im 18. Jahrhundert in ihren Bildern ostasiatische Darstellungsformen – wie die starke Nahsicht auf Objekte im Vordergrund – verbunden haben mit westlicheuropäischen Darstellungsformen wie der zentralperspektivischen Gestaltung des Hintergrunds und der Schattierungstechnik des Chiaroscuro (Naruse, zit. nach Delank 1996: 15). Dies ist deutlich an einem Bild von Odano Naotake zu erkennen (ca. 1770), das die Nahsicht auf einen Blumenkübel vor einem Wasserpanorama zeigt (vgl. Abb. 1). Auffallend an dieser Darstellung sind neben den Schattierungstechniken und der zentralperspektivischen Gestaltung auch die Spiegelungen auf dem Wasser. Diese Verbindung ostasiatischer und europäischer Darstellungsformen findet sich dann – nach dem Vorbild der Akita-Maler – in Werken der beiden ukiyo-e-Meister Hokusai und Hiroshige wieder, die westliche Kunsttechniken sehr frei interpretiert und angewendet haben. Gerade diese beiden haben auf europäische Künstler die stärkste Wirkung gehabt. Könnte dies auch daran liegen, dass 30 | M ic hik o M a e
2 Claude Monet, Die Rue de la Bavolle in Honfleur (1864), Öl auf Leinwand, 56 x 61 cm. Sagner 2005: 11.
3 Das Stadtviertel Saruwaka-chō bei Nacht , ein Farbholzschnitt aus Hiroshiges Serie 100 berühmte Ansichten von Edo (1857). Trustees of the British Museum.
die »Westernization of ukiyo-e« (Hickey 2001: 174), d. h. die Assimilation westlicher künstlerischer Konzepte, Formen und Techniken, die Kunst von Hokusai und Hiroshige westlichen Betrachtern leichter zugänglich machte? Von Hokusai wird gesagt, dass er westliche künstlerische Methoden für seine eigenen Zwecke kreativ anwenden konnte und die Chiaroscuro-Technik mit japanischer Sensibilität verbinden konnte.5 Und Hokusai hatte einen starken Einfluss auf Monet, der viele Drucke von ihm besaß. Monet konnte so die traditionelle westliche Perspektive Nip p o n s p ir a t io n a ls t r a n s k ul t u r e l l e G r e n z ü b e r sc h r e i t u n g | 31
überwinden, indem er die verschobene, z. B. durch eine Kurve verdeckte und dekonstruierte Perspektive bei Hiroshige in seinen eigenen Landschaftsbildern anwendete (vgl. Abb. 2 und Abb. 3).6 Es gab also bereits vor dem Japonismus eine kulturelle Grenzüberschreitung von West nach Ost. Und war deshalb das Erkennen und die ›Einsicht‹ der westlichen Künstler in das ›Andere‹ nicht auch ein neues Erkennen und eine neue ›Einsicht‹ in das ›Eigene‹? Können wir hier von der Kultur selbst lernen, dass kulturelle Elemente wie die Zentralperspektive und das Chiaroscuro (Helldunkel-Technik), aber auch japanische und ostasiatische Bildelemente sich sozusagen frei bewegen können über kulturelle Grenzen hinweg und durch Kulturen hindurch, indem sie immer neue Verbindungen eingehen und neue Bedeutungen hervorbringen?
G es ta lte ri sc he El e me nt e de s Ja po nis m us als Grundlagen d er m ode rne n K unst Was das Neue und das Besondere des Japonismus war, kann man nicht mit einem Wort sagen, weil er weite Kunstbereiche von der Malerei über Bildhauerei, Holzschnitt und Zeichnung, bis hin zu Kunsthandwerk, Architektur, Design und Fotografie umfasste. Es wurden japanische Motive übernommen, japanische Techniken adaptiert und japanische künstlerische Prinzipien und Methoden analysiert, um sie für die eigene Kunst anzuwenden. Seit den 1850er Jahren gab es eine lange Tradition der Beschäftigung mit der japanischen Kunst auch in Büchern und Zeitschriften, in denen die japanische Kunst vorgestellt wurde. Darüber hinaus war die Rezeption der japanischen Kunst durch westliche Künstler so vielfältig wie die Zahl dieser Künstler. Was für sie »das Japanische« war, das war keine »statische unbewegliche Einheit«, sondern es »repräsentiert in sich selbst eine lange und vielfältige Entwicklung« (Berger 1980: 9). Die verschiedenen Phasen dieser Entwicklung hatten jeweils unterschiedliche Wirkungen auf westliche Künstler. In diesem Sinn könnte man von ›pluralen Japonismen‹ sprechen anstatt von einem einheitlichen Japonismus. Obwohl seine Tendenzen so vielfältig erscheinen, hat der Japonismus aber eine zusammenhängende Geschichte, die »alle der Moderne zustrebenden Stilrichtungen umfaßt« (ebd.: 324). Diese Gemeinsamkeit wird bestimmt durch wichtige Elemente der japanischen Kunst, die von westlichen Künstlern aufgegriffen wurden. »Ohne den Japanismus in seiner vollen Bedeutung zu erkennen, kann man die Grundlagen der modernen Kunst nicht verstehen« (Berger 1972: 16). Nach Berger stand die Kunst im 19. Jahrhundert vor der Aufgabe, die für die Darstellung einer sich grundlegend verändernden Wirklichkeit geeigneten und notwendigen 32 | M ic hik o M a e
bildnerischen Mittel wie Raum, Farbe, Linie, Form, Bewegung neu zu ›erfinden‹ oder zu entdecken. Die gesamte künstlerische Tradition musste in Frage gestellt werden, und eine neue Kunst musste gesucht werden. Die Wirkung, die von der japanischen Kunst in dieser Krisen- und Wendesituation ausging, ist »so nachhaltig, radikal und universal, dass sie […] allen, sich oft widersprechenden Kunsttendenzen einen entscheidenden Impuls verliehen hat« (ebd.). Und dieser Prozess des Japonismus vollzieht sich mit innerer Notwendigkeit, »er stellt eine nicht umkehrbare, kontinuierliche Entwicklung dar« (ebd.: 18). Anders als bei europäischen Künstlern vor ihm, die japanische Motive in ihre immer noch in der europäischen Tradition stehenden Bildkompositionen eingefügt haben, werden bei van Gogh und anderen ›Japonisten‹ seit Mitte der 1880er Jahre die Prinzipien und Wesenszüge der japanischen Kompositionsweise zum Vorbild für den eigenen Bildaufbau. Besonders van Gogh übernimmt nicht nur Motive und formale Elemente japanischer Kunst, sondern versucht, »sich [deren] Geist anzueignen« ( Jaffé 1972: 169). Gerade die wesentlichen Elemente dieser anderen Kunst sollen für die eigene Kunst konstitutiv werden. Was sind nun diese so aufgenommenen wesentlichen Elemente der japanischen Kunst? Hauptziel der westlichen Kunst war, so Berger, die endgültige Überwindung des naturalistischen Illusionismus durch »totale Flächigkeit« und die Aufwertung des Dekorativen. »Die Wiedergeburt der Kunst aus dem Geist des Dekorativen […] wird bewerkstelligt durch die Erkenntnis der japanischen Holzschnitte und ihre Umsetzung, ihre Einverleibung in die Kunst des Westens« (Berger 1980: 324). Dieses Dekorative bezieht sich auf die gesamte Bildstrukturierung und Komposition. Ein sehr eindrucksvolles Beispiel dafür in der japanischen Kunst ist ein Stellschirm von Ogata Kōrin (1658–1716), auf dem ein Wasserlauf mit ornamentalen Wogen zu sehen ist, der sich in klar abgegrenzten Linien durch eine Goldfläche zieht und von zwei Pflaumenbäumen gesäumt wird (vgl. Farbabbildung 1). Nach Wichmann, der ähnlich wie Berger von der »enorme[n] Aufwertung des Dekorativen« (Wichmann 1980: 10) spricht, ermöglichen Ornamentformen und das »ornamentale Ordnungsprinzip« (Wichmann 1972: 181) eine »maximale Vereinfachung« in der künstlerischen Darstellung. Neben dieser Vereinfachung schätzten europäische Künstler an der japanischen Kunst und speziell den Farbholzschnitten spezifische Kompositionsweisen, wie z. B. Randüberschneidung und angeschnittene Vordergrundfiguren in extremer Nahsicht, kombiniert mit zentralperspektivisch konstruiertem Hintergrund, die insgesamt zu einer Dezentralisierung im Bildaufbau führten. Dass sich die Künstler gerade für die japanischen Farbholzschnitte begeisterten, liegt vor allem daran, dass diese das Dargestellte auf seine wesentlichen Elemente reduzierten. Es sind flächenhafte Kompositionen, d. h. die Raumwirkung wird Nip p o n s p ir a t io n a ls t r a n s k ul t u r e l l e G r e n z ü b e r sc h r e i t u n g | 33
nicht durch eine illusionistische Perspektive erzeugt, sondern durch eine bestimmte Anordnung von Flächen, und dabei wird auch die Farbe flächenhaft eingesetzt. Deutlich ist dies z. B. in der Serie 36 Ansichten des Berges Fuji von Hokusai zu erkennen, in der es dem Künstler gelingt, durch die Anordnung flächiger Elemente eine erstaunliche Tiefenwirkung zu erzeugen (vgl. Farbabbildung 2). Die westlichen Künstler – z. B. van Gogh – konnten so die Farbe als Eigenwert entdecken: »Die Rückführung zum Schönheitswert der lokalfarbigen Werte ist dem japanischen Holzschnitt zu verdanken« (Wichmann 1972: 166). Die Farbe als Eigenwert »drängt nach Abstraktion, die sehr wohl die europäischen Maler erkannt haben« (ebd.: 167). Diese Entdeckung des Eigenwerts der Farbe war ein wichtiger Impuls für die Entwicklung der modernen Kunst auf ihrem Weg zur Abstraktion. Wichmann erkennt bei den ukiyo-e-Meistern eine »›abstrakte‹ Form- und Farbauffassung« (Wichmann 1972: 302) und zeigt diesen »Abstraktionsvorgang« vor allem an dem Muster-Grund-System, der Ornamentik und dem »ornamentalisierten Flächenraum« (ebd.: 181) in den japanischen Farbholzschnitten auf. Die flächenhafte Einsetzung der Farbe war eine Folge der »Eroberung der Flächigkeit«, die sich als Konsequenz aus der Befreiung von dem System der Zentralperspektive ergab. Das Ziel war die Gewinnung einer neuen abstrakt-flächigen bildnerischen Räumlichkeit, wie sie sich in der Synthese von Tiefenraum und Fläche zeigt, die für die japanische Holzschnittkunst charakteristisch ist. Diese Synthese haben die Japaner schon im 18. Jahrhundert angestrebt, nachdem seit den 1740er Jahren die Zentralperspektive als »Import aus Europa« bekannt geworden war (Fäthke 2011: 109). Damit konnten sie das traditionelle japanische Kompositionsprinzip der Parallelperspektive weiterentwickeln. Die tiefenräumliche Perspektive, wie sie später von Hokusai und Hiroshige angewendet wurde, unterschied sich von der europäischen Tradition des kontinuierlichen Tiefenraums nicht nur durch die Verbindung von Tiefenraum und Fläche, sondern der Raum-Flächen-Bezug entfaltet sich auch in Diagonalbewegungen und in einem diagonalen Bildaufbau. Dieses Diagonalprinzip ist neben der Flächigkeit eines der wichtigsten Gestaltungsprinzipien der japanischen Holzschnittkunst, die von westlichen Künstlern in ihre eigenen Bildkompositionen aufgenommen wurden.
D er J ap oni smus i m de ut sc hspra c hi g en Raum : Von der › fo r cier te n P e rspe k t i ve ‹ z ur ge ge nstandslos en Malerei Während der Japonismus in Paris in den 1860er Jahren einsetzte, begann er in Österreich und Deutschland erst ab den 1880er Jahren. In Wien wurde auf der Weltausstellung von 1873 japanische Kunst zum ersten Mal offiziell von der japa34 | M ic hik o M a e
nischen Seite selbst vorgestellt; aber es gab in dieser Zeit noch keinen kontinuierlichen ukiyo-e-Boom wie in Paris. Der Japonismus und die davon inspirierten neuen Kunstrichtungen werden im deutschsprachigen Raum erst später als in Paris in Bewegung gesetzt; das Ausmaß des Einflusses der japanischen Kunst auf viele Künstler/innen des Jugendstils, in den Kunstbewegungen der Neuen Künstlervereinigung München, des Blauen Reiter, des Jungen Rheinlandes oder auch des Bauhauses darf aber deshalb nicht geringer eingeschätzt werden. Besonders München entwickelte sich seit den 1880er Jahren zu einem Zentrum des Japonismus in Deutschland: »Gerade in München war seit langem das höchste Interesse für jene künstlerische Kultur [ Japans], sowie ein großes Verständnis vor allem in Künstlerkreisen lebendig« (zit. bei Salmen 2011a: 8). Das steht im Katalog der Ausstellung Japan und Ostasien in der Kunst, die 1909 in München veranstaltet wurde und damals als die größte und qualitativ höchststehende Ausstellung ostasiatischer Kunst galt, die bis dahin in Europa stattgefunden hatte. Zu dieser Ausstellung schrieb ein Journalist der Münchener Neuesten Nachrichten: »Unsere Künstler widmen sich denn auch eifrigst dem Studium dieser Schönheiten, und aus ihren lebhaften Diskussionen lässt sich unschwer entnehmen, welch bedeutenden Eindruck die eminente Geschmacks-Qualität der uralten asiatischen Kunst bei ihnen hervorruft«.7 Es gab im deutschsprachigen Raum aber nicht nur die direkte Rezeption der japanischen Kunst, sondern auch eine indirekte Rezeption über Künstler wie van Gogh, der für die expressionistischen Künstler der Brücke, des Blauen Reiter und des Jungen Rheinlandes zu ihrem »japanischen Vater« wurde. Auch für diese Künstler gilt, was van Gogh so ausdrückt: »Das Sehen wird anders, man sieht mit mehr japanischen Augen« (van Gogh in Erpel 1965: 73). Ein Kernproblem dieses neuen Sehens, die malerisch-kompositorische Behandlung von Fläche und Dreidimensionalität, war Gegenstand intensiver Debatten im Kreis der Murnauer Künstlerfreunde Marianne von Werefkin, Alexej von Jawlensky, Wassily Kandinsky und Gabriele Münter. Insbesondere Werefkin und Jawlensky waren nicht nur von van Gogh, sondern auch von Edvard Munch stark beeinflusst – bei dem Berger wiederum japanische Einflüsse vermutet, obwohl sich Munch gegen die neue Forderung nach einer »absoluten Flächigkeit« der Malerei und gegen das Prinzip der flächenhaften Komposition gewandt hatte.8 Als Gegenentwurf wandte er die »forcierte Perspektive« an, die zuerst von Werefkin und Jawlensky, dann auch von Münter und Kandinsky als Stilprinzip und motivisches Element übernommen wurde (vgl. Farbabbildung 3 und Farbabbildung 4). Besonders Kandinsky beschäftigte sich in der Murnauer Zeit um 1908 mit einer fast wissenschaftlichen Intensität mit dem Problem der »forcierten Perspektive« und Farbfläche (vgl. Farbabbildung 5). Nip p o n s p ir a t io n a ls t r a n s k ul t u r e l l e G r e n z ü b e r sc h r e i t u n g | 35
Ein starkes und intensives Interesse und eine große Bewunderung für die japanische Kunst zeigen sich in vielen Äußerungen von Franz Marc. »Über ein stilistisches Interesse hinaus verstand Marc japanische Kunst im Sinne einer grundsätzlichen Übereinstimmung, als ähnliche Geisteshaltung, die auch Ziel seiner eigenen Bestrebungen war. Nicht um die vordergründige Rezeption des japanischen Stils ging es Marc« (Salmen 2011b: 73). Wie tief diese Übereinstimmung war, zeigt eine Stelle in einem Beitrag Marcs für die Zeitschrift Pan, in der es um eine Kunst geht, die »nach inneren Gesetzmäßigkeiten« gestaltet ist. Marc schreibt: »Sehr instruktive Beispiele liefert zu diesem Thema die japanische Kunst. Ein mit ihr innig Vertrauter könnte kein glücklicheres Material von Beispielen und Gegenbeispielen finden, um eine Dogmatik des ›Seelenstaates‹, der seine eigenen Gesetze und Organisationen hat, aufzubauen« (Salmen 2011b: 74). Auch bei August Macke prägte eine intensive Beschäftigung mit der japanischen Kunst seine künstlerische Suche und Entwicklung bis in die Zeit des Blauen Reiter. In manchen seiner vergleichenden Äußerungen zur japanischen Kunst zeigt sich, »wie hoch er deren Überlegenheit empfand« (Salmen 2011b: 76). Durch die enge Freundschaft mit Marc und ihren intensiven Gedankenaustausch und künstlerischen Dialog vertieften sich bei beiden das Verständnis und die Wertschätzung für die japanische Kunst. Gabriele Münter, die schon während ihres gemeinsamen Paris-Aufenthalts mit Kandinsky (1906–07) Drucke in japanischer Holzschnitt-Technik hergestellt hatte, entwickelte eine eigenständige Bildsprache aus linearen Formen und flächigen Farben und konnte so bereits vor Kandinsky eine Reduktion auf das Wesentliche und ein gewisses Maß an Abstrahierung erreichen. Wie Marc sah auch Kandinsky die Kunst als »Vorreiter einer neuen geistigen Bewegung, die […] zu einer geistigen Erneuerung der Gesellschaft beitragen sollte« (Salmen 2011b: 83). Dies erforderte »eine radikale Abkehr von gewohnten ästhetischen Bildvorstellungen« (ebd.) und die Entwicklung einer völlig neuen Bildsprache. Die Formfrage wird nun zu der Frage, wie man zum notwendigen Ausdruck eines inneren Erlebnisses kommen kann (Delank 2011: 91). Der künstlerische Neubeginn führte zu einer umfassenden Offenheit gegenüber anderen Kulturen. Als Kandinsky 1909 die erwähnte Ausstellung »Japan und Ostasien in der Kunst« gesehen hatte, bewunderte er in einer Rezension die Fähigkeit der Japaner, »winzige Details in einem einheitlichen Klang zu vereinen« (Salmen 2011b: 84). Wie sehr dieser gemeinsame »innere Klang« der westlichen Kunst fehle, werde klar, wenn man die Werke ostasiatischer Kunst sehe, die zwar »unendlich mannigfaltig« seien, aber einem »gemeinsamen Grund-›Klang‹« untergeordnet und durch ihn bestimmt seien. Kandinsky schreibt, die Werke der japanischen Künstler zeigten ein ungewöhnliches Maß an »Abstraktion in der Behandlung von 36 | M ic hik o M a e
Formen und Farben, die ganz und gar einem eigenen, von rein künstlerischem Temperament erfüllten Rhythmus gehorchten« (ebd.). Dies könnte darauf hindeuten, dass Kandinsky in den japanischen Kunstwerken etwas erkannte, was er selbst auf seinem Weg zur gegenstandslosen Malerei suchte.
P a ul K l e e : » De rgl e i c he n so l l t e m an auch m achen, nicht nachm achen« Als Klee 1906 von Bern nach München kam, wohnte er in der Nachbarschaft des bereits erwähnten Emil Preetorius, der eine sehr bedeutende Sammlung japanischer Kunstwerke besaß. Wie der Klee-Biograph Erich Pfeiffer-Belli berichtet, erzählte ihm Preetorius, dass Klee ihn ab und zu besuchte, um die japanischen Bilder zu betrachten. Dabei faszinierte ihn besonders das »Abstrakte« – wie er es selbst genannt haben soll – dieser Holzschnitte, und er soll gesagt haben: »dergleichen sollte man auch machen, nicht nachmachen« (Okuda 2012: 15). In einem autobiographischen Text schreibt Klee selbst, dass es ihm 1906 gelungen sei, ein kleines Gartenbild und »andere asiatisch gesehene Dinge« »vor der Natur abstract zu gestalten« (ebd.). Bereits in einigen seiner Frühwerke, wie einem Bilderzyklus auf einem fünfteiligen Wandschirm mit einer Aarelandschaft aus dem Jahr 1900, kann man deutlich eine japanisch inspirierte Kompositionsweise erkennen, z. B. die Diskontinuität durch wechselnde Blickpunkte (Perspektivwechsel), die hochformatige Raumdarstellung und »kontrastierende Bewegungsrhythmen« (ebd.: 16, vgl. Farbabbildung 6). Durch solche Kompositionsprinzipien, wie man sie z. B. bei Hokusai findet, konnte Klee »eine neue, multiperspektivische und abstrakt-flächige bildnerische Räumlichkeit« entwickeln (ebd.: 17). Auch für einige frühe Zeichnungen Klees, die zwischen 1905 und 1908 entstanden sind, kann man japanische Vorbilder erkennen. Dieser japanische Einfluss verband sich mit Klees intensiver Beschäftigung mit van Gogh in dieser Zeit. Er schreibt in einem Tagebucheintrag: »Über den Naturalismus geht ein Kunstwerk schon hinaus, wo die Linie wie bei van Goghs Zeichnungen und Bildern und bei Ensors Graphik als selbständiges Element auftritt« (ebd.: 31). Dieser »Sinn der Linie« wurde auch für Henry van de Velde durch eine »plötzliche Offenbarung der japanischen Kunst« deutlich: »Es bedurfte der Gewalt der japanischen Linie, der Gewalt ihres Rhythmus und seiner Akzente, um uns aufzurütteln und zu beeinflussen. […] Die japanische Linie war heilbringend«.9
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In den Aquarellen, die Klee zwischen 1910 und 1914 malte, erkannten schon einige Zeitgenossen »Einflüsse fernöstlicher Vorbilder«. Klee hat sich in diesen Jahren intensiv mit ostasiatischer, insbesondere chinesischer Tuschmalerei beschäftigt und suchte Orte und Motive, die ihn zu ähnlich atmosphärischen Landschaftsbildern inspirieren konnten. Seine Aquarellmaltechnik des »Naß-in-Naß« ist mit der haboku-Technik der Tuschmalerei vergleichbar; Klee hat sie auch nach 1914 weiter angewendet. Für sein Spätwerk formuliert Klee 1931 als Ziel: »was man auszudrücken hat, in möglichster Vollkommenheit, aber mit dem geringsten Aufwand an Mitteln [darzustellen]« (Okuda 2012: 64). Die Malerei sei der Kalligraphie gleichgestellt (er bezieht sich hier auf die ostasiatische Kalligraphie). Die Kalligraphie wird bei Klee, wie z. B. auch bei Johannes Itten, seinem Kollegen am Bauhaus, und bei anderen durch Ostasien und den Zen-Buddhismus beeinflussten Künstlern, zu einem Mittel und Bestandteil der künstlerischen Gestaltung.
N a c h Pa ul K l e e : Ne ue s Ra umbe wusstsein und die b e f r eite L i ni e Für den Japonismus von seinen Anfängen in Paris bis hin zum Blauen Reiter gilt, dass sich die Künstler kaum für den kulturellen, geistigen und historischen Kontext interessierten, in dem die japanische Kunst, die sie so sehr inspirierte, stand. Das änderte sich grundsätzlich erst mit Künstlern wie Klee, Johannes Itten, Julius Bissier und anderen, die ihre Inspiration durch die japanisch-ostasiatische Kunst nicht nur durch eine künstlerische Affinität, sondern auch durch eine geistig-philosophische Einstellung gewannen.10 Viele Künstler erkannten seit den 1920er Jahren eine Übereinstimmung zwischen ihrer eigenen existentiell-geistigen Grunderfahrung und den Lehren des Zen-Buddhismus und Taoismus. Vor allem die angestrebte Überwindung der Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Künstler und Werk, die Unmittelbarkeit und Spontaneität des Malvorgangs, die Einheit von Meditation und Kunst, d. h. die Malerei als ein meditatives Verfahren, führen zu einem Übergang von gestalterischen Elementen wie Perspektive, Fläche, Diagonale etc. hin zum Pinselstrich als Bewegung und Geste wie in der Tuschmalerei. Jetzt geht es um die befreite Linie in ihrem An- und Abschwellen wie in der Kalligraphie, die nicht mehr nur malerisches Mittel ist, sondern zum eigenständigen künstlerischen Gegenstand wird. In künstlerischen Elementen und Verfahrensweisen wie der befreiten Linie »trifft sich eine spirituelle Form des Ostens mit der modernen Tendenz zur Eigengesetzlichkeit der Mittel« (Schneckenburger 1972: 394). Hatte der 38 | M ic hik o M a e
Einfluss der japanischen Holzschnittkunst die Künstler von dem »illusionistischen Ordnungsschema der Renaissance-Perspektive« (ebd. 395) zur Gewinnung einer Synthese von diagonaler Raumbewegung und Flächigkeit in der Malerei geführt, so führte nun die Inspiration durch die Raumvorstellung der Tuschmalerei zu einem neuen spirituellen Raumbewusstsein und ‑gefühl. Diese Synthese zwischen östlicher Philosophie und moderner westlicher Kunst verkörpert sich seit den 1920er Jahren in Deutschland vor allem in Künstlern wie Julius Bissier und Willi Baumeister, die eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der modernen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg hatten. Die Gruppe Zen 49, zu der beide gehörten, wollte durch ihren Namen Zen zu einer Art Symbol für die abstrakte Kunst machen. Zen stand für sie für Freiheit und Unabhängigkeit, für einen Nullpunkt, von dem aus eine neue Phase der modernen Kunst ihren Ausgang nehmen konnte. Diese Künstler haben sich ausdrücklich das Ziel gesetzt, das Werk Kandinskys und vor allem das Werk Klees fortzusetzen.
Di e t ra nsk ul t ure l l e Be wegung geht weiter Klee, der, wie wir gesehen haben, in seiner künstlerischen Entwicklung von seinen Anfängen bis zu seinem Spätwerk stark von der japanischen und ostasiatischen Kunst inspiriert wurde, wird in Japan bereits Anfang des 20. Jahrhunderts rezipiert und ist heute bei Japanern nicht nur ein bekannter, sondern auch ein sehr populärer Künstler. Warum fasziniert er als Künstlerpersönlichkeit die Japaner so sehr? Der Kunsthistoriker Okuda Osamu meint, dass Klee den Japanern »als eine Art Modell oder Ideal der kulturellen Versöhnung von Tradition und Moderne« erscheint (Okuda 2007: 268). Er beruft sich dabei auf den Schriftsteller und Nobelpreisträger Kawabata Yasunari und dessen 1962 erschienene Erzählung »Kyōto« (jap. Koto). In dieser Erzählung versucht der Protagonist Takijirō nach einem Bild, das er in einem Klee-Buch findet, ein Muster für einen traditionellen Kimonogürtel zu entwerfen. Er sagt: »[Klee] soll, so sagt man, in der abstrakten Kunst ein führender Maler sein. Elegant, würdig, voll von Träumen diese Bilder. Sie sprechen so recht das Gemüt eines alten Japaners an« (Kawabata 1965: 52). Okuda meint, die Charakterisierung der Bilder Klees mit den japanischen Worten »yasashiite, hin ga yokute, yume ga aru« (»elegant, würdig, voll von Träumen«) sei ein Topos der Klee-Rezeption in Japan. So könne Klee als ein kultureller Vermittler zwischen der japanischen Tradition und der westlichen Moderne erscheinen. Auch im heutigen Japan setzen sich bekannte Künstler mit der »vielseitigen Kunstwelt Paul Klees« über die verschiedenen Kunstgattungen hinweg auseinander und werden in kreativen Prozessen mit Klees Kunst »auf neue Ebenen der GeNip p o n s p ir a t io n a ls t r a n s k ul t u r e l l e G r e n z ü b e r sc h r e i t u n g | 39
staltung geführt« (Kakinuma 2012: 102). In dem 1951 publizierten Essay »Paul Klee und die Musik« schreibt Takemitsu Tōru (1930–1996), einer der führenden japanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, seine Affinität zu Klee sei begründet in der »fernöstlichen Stimmung«, die in dessen Kunst liege und in deren »kosmischem Rhythmus«.11 Takemitsu wurde zu seinem Essay inspiriert durch Klees Bild ad marginem von 1930. In seiner Musik wollte Takemitsu das Medium Zeit mit Tönen gestalten und verstand die einzelnen Töne als »Randerschei4 Paul Klee, Tod und Feuer, 1940. Öl und Kleisterfarbe auf Jute, nungen«, die »diesem Medium 46,7 x 44,6 cm. Zentrum Paul Klee, Bern. eine Form geben«. Er komponierte ein von Klee inspiriertes Orchesterstück mit dem Titel Marginalia (1976); zu diesem Musikstück sagt er, er verdanke es, neben anderen Künstlern, vor allem dem Bild ad marginem von Paul Klee, das er in seinem genannten Essay 20 Jahre zuvor thematisiert hatte. Beim Komponieren dachte er – so Takemitsu – an die Bedeutung von »unausgefüllte[m] Raum« oder »Rand«, der auch in Klees Bild eine wichtige Rolle spielt, in dem an den vier Rändern Tiere und Pflanzen gemalt sind. Obwohl es ihn an eine »bestimmte buddhistische Malerei« erinnert, glaubt Takemitsu nicht, dass Klees Werk ihm nur durch seine ostasiatische Stimmung nah erscheint. Er glaubt, dass auch in den Farben Töne stecken, wie in Tönen Farben enthalten seien. Beim Anblick von Klees Werken fühle er sich in seinem musikalischen Instinkt stark bewegt. In der Musik gebe es eine kosmische Logik wie in der Mathematik; in Klees Bildern bewege sich – wie Takemitsu schreibt – eine musikalische Notwendigkeit in diesem Sinn ständig mit einem bestimmten Rhythmus und gebe seinen Visionen und mystischen Gedanken eine schöne Ordnung. Klee sei ein Künstler, der still lächelnd die Zukunft prophezeit. Der japanische Dichter Tanikawa Shuntarō ( Jg. 1931) war seit seiner Jugendzeit von Klee beeinflusst und schrieb mehrere Gedichte, die von Klees Werken inspiriert sind. Seine Affinität zu Klees Werken sei – so Tanikawa – in den »ungelösten Rätseln«, die sie darstellen, begründet: »Seit meiner Jugend habe ich, von seinen [Klees] Bildern angeregt, Gedichte geschrieben. […] ›Poesie‹ versteckt sich heim40 | M ic hik o M a e
lich viel mehr in bestimmter Musik und bestimmten Bildern als in Wörtern an sich. Was uns so bewegt, ist ein ungelöstes Rätsel«.12 Tanikawa nimmt in mehreren Gedichten jeweils direkt auf ein Bild Klees Bezug und entwickelt es in Worten weiter; daraus werden neue Gedanken und Ideen in anderen Formen assoziativ weiter geführt, wie z. B. seine »tausendfache[n] linienwege«; mit dem Sprachspiel des im Japanischen homophonen Wortes sen (das mit einem Zeichen »Linie«, aber mit einem anderen Zeichen »tausend« bedeutet) wird die zentrale Bedeutung der Linie für Klee von Tani kawa in tausende Lebenswege umgewandelt. Das Klee-Bild Tod und Feuer hat nicht nur Tanikawa 5 Klee als Manga: Kurē no hito (»Klee’scher Mensch«) von Takahashi zu Gedanken über den Tod Kazuya, 1998. Zentrum Paul Klee et al. 2012: 119. und die Dichtung geführt, sondern auch den Mangaka Takahashi Kazuya zu einer Geschichte mit dem Titel Kurē na hito (»Klee’sche Menschen«) inspiriert. Takahashi wurde schon als Schüler von Klees Bild Tod und Feuer (vgl. Abb. 4) stark geprägt, von dem sein Vater eine aus einer Zeitung ausgeschnittene farbige Reproduktion an die Wand gehängt hatte.13 Während seiner Studienzeit lernte er in einem Männerchor die Chorstücke Klees Bilderbuch des Komponisten Miyoshi Akira ( Jg. 1933) kennen, der wiederum von Tanikawas Gedichten zu Klees Bildern inspiriert die Chorstücke komponiert hat. Takahashi seinerseits beschäftigte sich intensiv mit Tanikawas Gedichtband und wurde dadurch zu seiner MangaGeschichte inspiriert (vgl. Abb. 5). Darin wird der Sohn eines Mannes, der von Nip p o n s p ir a t io n a ls t r a n s k ul t u r e l l e G r e n z ü b e r sc h r e i t u n g | 41
Klees Kunst besessen war und eine Klee-Bibliothek aufgebaut hatte, nach dessen Tod beim Ordnen des Nachlasses ebenfalls in Klees Bann gezogen. Im Traum erscheint ihm sein Vater in der Gestalt des Todes aus dem Bild Tod und Feuer. Er sagt zu seinem Sohn, »er fühle sich in der Gestalt von Linien authentischer als im wirklichen physischen Leben« (Kakinuma 2012: 116). Der Sohn erkennt, dass es auf die Reduktion und Vereinfachung der komplexen Realität auf das Wesentliche ankommt. Nach seinem Tod durch einen Verkehrsunfall erscheint er seinerseits seiner Freundin im Traum als eine Klee’sche Linienfigur und kann ihr erst in dieser auf das Wesentliche reduzierten Gestalt seine wahren Gedanken offenbaren. In diesem Manga reduzieren sich also Vater und Sohn in einer Art Selbsterkennungsprozess auf das Wesentliche, indem sie zu einer Linienfigur werden und damit in eine Korrespondenz zur Formensprache von Klees Spätwerk treten, das auch als eine Art Selbsterkennungsprozess verstanden werden kann. Wenn wir mit der Untersuchung des transkulturellen Prozesses des Japonismus bis zu diesem Punkt gekommen sind, dann können wir nun von hier aus einen Bogen schlagen zur heutigen japanischen Populärkultur, deren weltweite Wirkung vor allem von Manga ausgegangen ist.
D ie b ef re i e nde Mo t i va t i o nsk ra f t de r japanis chen P o p u lär kul t ur Seit Ende der 1980er Jahre wurde die japanische Populärkultur wie Manga, Anime und Videospiele weltweit immer erfolgreicher, und wieder gab es einen großen Japan-Boom. Für diesen zweiten Boom – auch die ukiyo-e-Kunst der Edo-Zeit war ja eine Form der Populärkultur – gibt es zwei unterschiedliche Erklärungsmuster: Der japanische Medienwissenschaftler Iwabuchi Kōichi sieht den Erfolg der japanischen Populärkultur in der, wie er es nennt, »cultural odorlessness« (kulturellen ›Geruchlosigkeit‹) bzw. in der »Staatenlosigkeit« (mukokuseki) ihrer Produkte begründet; er meint damit, dass sie gerade deshalb, weil sie nur wenige spezifisch japanische Elemente aufweisen, in der ganzen Welt problemlos rezipiert werden konnten (Iwabuchi 2002: 24, 28). Dagegen erklärt der amerikanische Journalist Douglas McGray ganz im Gegenteil das Phänomen der Populärkultur als »Japanese Cool«, als »soft power« der japanischen Nation. Kulturwissenschaftlich gesprochen sieht er also den Grund für den weltweiten Erfolg der japanischen populärkulturellen Produkte gerade in ihrer kulturellen Besonderheit (McGray 2002), während Iwabuchi den Grund ihrer Wirkung vor allem darin erkennt, dass sie nicht als japanisch erkennbar sind oder verstanden werden. Interessanterweise stimmen beide Kritiker auch in gewissen Punkten überein. McGray sagt z. B. nicht, welche 42 | M ic hik o M a e
Eigenschaften der erfolgreichen japanischen populärkulturellen Produkte als japanisch gelten. Er stellt lediglich fest, dass sie japanische Produkte sind, die nun in der Welt der Populärkultur eine Art kulturelle Hegemonie bzw. Anerkennung erreicht haben, und Japan zu einer populärkulturellen »Superpower« gemacht haben. In seinen Interviews mit japanischen Künstlern, Designern, Wissenschaftlern etc. im Jahr 2001 stellte er fest, dass viele von ihnen über die japanische populärkulturelle Macht im Ausland erstaunt waren, dass sie bei ihrer Arbeit sehr wenig an das ausländische Publikum zu denken schienen und stattdessen sogar von »foreign inspiration« gesprochen haben (McGray 2002). Man könnte also sagen: Beide Kritiker haben recht, in gewisser Weise zugleich aber auch unrecht. Als ein Phänomen der Transkulturalität gründet sich der weltweite Boom der japanischen Populärkultur auf bestimmte japanspezifische Eigenschaften und weist gleichzeitig auch auf die transkulturelle Tendenz der Kultur selbst hin. Oft sucht man den Ursprung des Genres Manga in der japanischen Tradition, z. B. in den Manga von Hokusai etc. Sicher gibt es kulturhistorisch betrachtet solche Grundlagen in der japanischen Geschichte; aber Manga und Anime sind vor allem ein modernes transkulturelles Phänomen, auf das viele westliche Vorbilder Einfluss haben. Japanische Pioniere des Manga-Genres in der Vorkriegszeit, wie Okamoto Ippei und andere, haben viel von Daumier und von anderen europäischen Künstlern gelernt und hatten diese als Vorbilder. Für Tezuka Osamu, der viele kulturelle Elemente aus der japanischen Tradition aufnahm, war aber auch Walt Disney ein großes Vorbild.14 Es ist fast unmöglich festzustellen, welche Einflüsse in welche Werke und in welcher Art und Weise eingeflossen sind; denn populärkulturelle Produkte sind niemals nur rein japanische oder individuell originelle Werke; sie sind vielmehr in einem ständigen Dialog entstanden und werden in diesem transkulturellen Dialog weiter entwickelt. In der westlichen Kultur ist die Originalität eines Werkes ausschlaggebend für seinen Wert, und wichtig ist auch, dass ein Autor als Subjekt hinter einem Werk steht (Autorzentrismus). Geistiges Eigentum hat im Westen deshalb einen hohen Wert. In der japanischen Populärkultur gibt es natürlich auch individuelle Autor/ innen, die die Werke schaffen; aber die Bedeutung und Besonderheit dieser Werke liegen mehr im Dialog, Austausch und in der Transformation der von Autor/in und Leser/in gemeinsam geteilten Gedanken- bzw. Bilderwelt. Die Werke laden den/die Leser/in nicht nur zur Beteiligung ein, sondern auch zur eigenen Weiterführung bzw. zur Kreation neuer Werke. In diesem Sinn kann man hier von prosumer sprechen, also einer Verbindung von Produzent (producer) und Konsument (consumer), statt von consumer (Toffler 1980); denn es geht um Konsument/ innen, die selbst weiter produzieren. Dies könnte man als eine Art Revolution des Autor/Schöpfung/Werk-Konzepts verstehen.15 Nip p o n s p ir a t io n a ls t r a n s k ul t u r e l l e G r e n z ü b e r sc h r e i t u n g | 43
Diese Tendenz der japanischen Populärkultur sieht die Manga-Forscherin Jaqueline Berndt in einem Zusammenhang mit dem kulturellen Wertewandel im 21. Jahrhundert16. Sie erkennt in dem weltweiten Manga-Boom ein Zeichen und eine Manifestation der grundlegenden Veränderungen in der Gegenwartskultur. Im Zuge der Globalisierung, die nach Berndt durch Konsumkultur, Informationsgesellschaft, neoliberale Wirtschaftspolitik und Migrationsproblematik geprägt ist, werden moderne westliche Werte wie Selbst, Autonomie und Identität relativiert. Sie erkennt besonders unter drei Aspekten den Ausdruck dieser Tendenz im Manga-Genre: 1. dem Mischkultur-Charakter (zasshusei): In der Ausdrucksform des Manga werden Schrift und Bild, Sukzessivität und Gleichzeitigkeit, Zeit und Raum zusammengebracht; auch die Genderzugehörigkeit und die Ethnizität der Charaktere sind oft unbestimmbar, die Leser sind »weder Kinder noch Erwachsene«, Realität und »Gags« sind gemischt, ebenso Zwei- und Dreidimensionalität etc.; 2. der Relationalität: Manga fördern die Netzwerkbildung und die gemeinsame Teilnahme von Produzenten und Rezipienten, d.h. ihre Teilhabe an der gemeinsamen Manga-Welt und ihre Kommunikation untereinander; 3. einer »Tendenz zu Selbstbestätigung und ›antikritischer‹ Haltung«: Unter diesem Aspekt betrachtet Berndt Manga als ein Medium, das durch seine starke Zeichenhaftigkeit offen für vielfältige Verwendung ist, aber auch dazu neigt, sich gegenüber Andersartigkeit und risikoreichen Innovationen zu verschließen. Mit ihrer Ambiguität als ein Medium, das zwischen Schriftkultur und visueller Zeichenkultur steht, passen Manga nach Berndt gut in die heutige Gesellschaft mit ihrer Tendenz zu einer sensuellen Zeichenhaftigkeit. Alle drei Aspekte, die Berndt herausarbeitet, zeigen Tendenzen zur Grenzüberschreitung bzw. den Schwellencharakter der Populärkultur auf verschiedenen Ebenen, wie der Ausdrucksebene, der narrativen Ebene, der Ebene der Charaktere, der Autoren- und Rezipientenebene. Dieser offene Charakter der populärkulturellen Produkte lädt nicht nur japanische Leser/innen, sondern kulturübergreifend eine breite weltweite Leserschaft zur aktiven Teilnahme und kreativen Weiterführung ein. Eine besonders wichtige transkulturelle Qualität japanischer populärkultureller Produkte ist ihre emanzipatorische Wirkung gerade für junge Menschen mit ihren spezifischen Problemen; sie schaffen Fantasiewelten und -personen, in denen die jungen Menschen identifikatorisch ihre Befreiung erleben können von Normen, Zwängen, Differenzen (z. B. die Geschlechterdifferenz), die ihnen ihre jeweilige Kultur und Gesellschaft auferlegen. Sie können mit neuen Identitäten, kulturellen und gesellschaftlichen Elementen frei experimentieren und Alternativen erproben. Viele ihrer Ängste und Probleme werden thematisiert, und die Medien in ihren verschiedenen Vernetzungsmöglichkeiten geben den Jugendlichen die Möglich44 | M ic hik o M a e
keit, miteinander zu kommunizieren und sich zu Fangemeinschaften zusammenzuschließen. Die neuen japanischen populärkulturellen Genres in Verbindung mit den neuen Medien können so eine starke emanzipatorische, subversive, ermutigende und inspirierende Motivationskraft entwickeln. Viele junge Menschen in Deutschland und weltweit erfreuen sich an der japanischen Populärkultur und begeistern sich so für sie, dass sie Japanisch lernen. Gleichzeitig erleben und verstehen sie die japanische Populärkultur als ihre eigene Kultur und sie lassen sich von ihr zu eigenen kulturellen Ausdrucksformen inspirieren. Dieser Enthusiasmus erinnert fast an den Enthusiasmus van Goghs, von dem man glauben könnte, er habe sich selbst als einen Japaner verstanden. Für die heutigen jungen Menschen ist es das Spielerische an der japanischen Populärkultur, das, was Susan Napier mit der Kategorie »pleasure« zu erfassen versucht (Napier 2007: 10), was sie motiviert und inspiriert, ermutigt und befreit von den Zwängen ihrer eigenen Kultur. Eine ähnlich befreiende und inspirierende, aber auch spielerisch-heitere Motivationskraft war vom Japonismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausgegangen. Die Künstler fühlten sich damals frei, das zu malen, was sie sahen und fühlten. Nicht mehr die Kultur und künstlerische Tradition konnten den Malern vorschreiben, wie sie auf die Welt, die Menschen, die Natur, das Leben in der Stadt etc. zu blicken hatten; sie konnten ihnen keine hierarchisierenden Wertungen und künstlerischen Darstellungsformen mehr vorgeben. Nur die Motive und die Kunst selbst bestimmten ihre Arbeit, nur davon wurden sie ›innerlich bewegt‹ und folgten einer ›inneren Notwendigkeit‹. Sie waren in einem schöpferischen Prozess von der ukiyo-e-Kunst inspiriert worden, die ihrerseits das transkulturelle Potenzial zu dieser Inspirierung hatte. Das ›Sich-Öffnen‹ für eine andere Kultur ist zugleich ein ›Sich-Befreien-Können‹ in der eigenen Kultur. Diese durch Kulturen hindurchgehende Bewegung war die Bewegung der Kunst selbst, aus der etwas Neues, die moderne Kunst hervorging.
Anm erkungen 1 Klaus Berger (1972: 16) verwendet in seinem kurzen Einführungstext den Begriff »Japanismus« statt Japonismus. 2 Die Bezeichnung Japonismus beruht auf dem französischen Wort Japonisme, das Philippe Burty im Jahr 1872 in der Zeitschrift La Renaissance littéraire et artistique verwendete. Für die frühe Phase des Japanbooms gab es auch die Bezeichnung Japonaiserie entsprechend zu Chinoiserie im Sinne von China-Mode. Während Japonaiserie die Anwendung japanischer Motive in der westlichen Kunst und oberflächliches Interesse an exotischen Nip p o n s p ir a t io n a ls t r a n s k ul t u r e l l e G r e n z ü b e r sc h r e i t u n g | 45
Japan-Gegenständen bedeutete, wird in den letzten Jahren nur noch der Begriff Japonismus benutzt, der auch die Bedeutung von Japonaiserie mitumfasst. Er meint: Von der japanischen Kunst inspiriert, aber mehr noch die Suche nach neuen Ausdrucksformen in der westlichen Kunst. Vgl. dazu Mabuchi 2008: 9. 3 Zit. nach Vollard 1950: 213. 4 Wickhoff, Franz (1898): »Kunst und Kunsthandwerk«. In: Die Jugend. 5 Vgl. dazu Hickey 2001: 175f. 6 Vgl. dazu Mabuchi 2008: 113f. 7 Münchner Neueste Nachrichten, 18.7.1909, S. 4. Zit. nach Hirner 2011: 67. 8 Vgl. dazu Fäthke 2011: 109. 9 Van de Velde 1910, in: Van de Velde, Henry: Zum Neuen Stil. München 1955, zit. bei Berger 1980: 272f. 10 Vgl. zum Folgenden: Schneckenburger 1972. 11 Dieses und die folgenden Zitate stammen aus dem Text »Paul Klee und die Musik« von Takemitsu Tōru (Takemitsu 2006). Zu Takemitsu Tōrus Klee-Rezeption vgl. auch Kakinuma 2012: 105. 12 Tanikawa Shuntarō: Kurē no ehon. (»Klees Bilderbuch«). Tokyo 1995. Zit. in Kakinuma 2012: 111. 13 Takahashi, Kazuya: Kurê na hito (»Klee’scher Mensch«). In: Morning, Nr. 44, Tokyo 1998, S. 291–306; zit. bei Kakinuma 2012: 116–119. 14 Zu den Ursprüngen des Manga siehe z. B. Köhn 2005. 15 Einen solchen konzeptionellen Wandel kann man auch im Kunstverständnis des heute weltweit bekannten Popkünstlers Murakami Takashi finden (vgl. Berndt 2005: 9). 16 Zum Folgenden vgl. Berndt 2010: 32–36.
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1
Ogata Kōrin (1658–1716), Pflaumenbäume an einem Wasserlauf, Stellschirmpaar. Wichmann 1980: 136.
2 Dieser Blick auf den Berg Fuji mit dem Tama-Fluss im Vordergrund stammt aus Hokusais berühmter Serie 36 Ansichten des Berges Fuji (erschienen 1931–35). Deutlich zeigt sich in diesem Farbholzschnitt, wie es Hokusai gelingt, mit der Anordnung flächiger Elemente eine Tiefenwirkung zu erzeugen. Trustees of the British Museum.
3 Edvard Munch, Allee im Schneegestöber (1906), Öl auf Leinwand, 80 x 100 cm. The Munch Museum/The Munch Ellingsen Group, VG Bild-Kunst, Bonn 2013.
4 Gabriele Münter, Gerade Straße (1910). Öl auf Malkarton, 40,5 x 33 cm. Peter und Gudrun Selinka Stiftung, Dauerleihgabe Kunstmuseum Ravensburg, VG Bild-Kunst, Bonn 2013.
5 Wassily Kandinsky, Kochel – Gerade Straße (Herbst 1909), Öl auf Pappe, 33 x 44,8 cm. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München.
6 Paul Klee (1900): ohne Titel (Aarelandschaft). Öl auf Leinwand, 144,5 x 48 cm (5 Stück). Privatbesitz Schweiz, Depositum im Zentrum Paul Klee, Bern.
7 Postkarte anlässlich des von Fürstin Pauline von Metternich ausgerichteten »Kirschblütenfests«, Mai 1901. Privatbesitz.
8
Gustav Klimt (1907): Adele Bloch-Bauer I. Öl, Gold auf Leinwand, 138 x 138 cm. Fliedl 1991: 218.
9 Henri Toulouse-Lautrec (1896): L’Artisan Moderne, Plakat. Wikimedia Commons.
10 Wassily Kandinsky (1911): Lyrisches. Handdruck auf Japanpapier, 14,5 x 21,7cm. Schlossmuseum Murnau, Inv. 8478/1, 2, VG Bild-Kunst, Bonn 2013.
11 August Macke (1911): Sitzender Akt mit Kissen. Öl auf Leinwand, auf Karton aufgezogen, 54 x 41 cm. Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum Duisburg, Foto: Britta Lauer.
12 Heinrich Nauen (1913): Der Besuch (Interieur). Tempera auf textilem Bildträger, 210 x 260 x 4,5 cm. Kunstmuseum Krefeld.
13 Sadatora Yonosuke (1830): Kaiko itonani zue (»Bilder vom Seidenzuchtbetrieb«). Triptychon, Farbholzs chnitte 39 x 75,8 cm. Verlag Yoshuya Kinzō, Kunstmuseum Krefeld.
14 Walter Ophey (1925): Vulkan. Farbige Kreide auf Papier, 43,7 x 50,5 cm. Stiftung Museum Kunstpalast Düsseldorf, über Artothek (Holger Gehrmann, Ulf Buschmann), Weilheim.
15 Das Model Duplica in einem »Classic-Lolita«-Outfit. Fotografin: Sarah Pfeiffer; Dunkelsüß.
16 Die Kleidung im »Sweet-Lolita«-Stil ist besonders farbenfroh und niedlich, wie hier bei dem Model Scarletsedusa. Fotograf: René Heberling; Dunkelsüß.
17 Stewardessen der taiwanesischen Fluggesellschaft Eva Air im Hello-Kitty-Jet. EVA Air.
18 Die Figuren der japanischen Kinder-Fernsehserie Deko Boko Friends. m&k/NHK Educational, Shogakukan.
EINE MELANGE AUS NOSTALGIE UND AUFBRUCH J a po ni st i sc he St rö munge n i n d er Wiener Moderne Susanne Kelley
Einleitung Das Wien um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, oder genauer zwischen den Jahren 1890 und 1910, ist bekannt als ein Zentrum künstlerischen, kreativen, intellektuellen und selbstreflexiven Denkens. Die Frage, die Akademiker und Kritiker immer noch zu beantworten versuchen, ist wie »eine derartige Konzentration von Spitzenleistungen der Kunst und Kultur in nur zwei Dezennien möglich war« (Ackerl 1999: 4). Jene »Spitzenleistungen« reichen von bildender Kunst und Kunsthandwerk über Literatur, Architektur und Musik bis hin zur Psychologie. Eine Motivation vor allem der künstlerischen Leistungen war der Wunsch, mit den anderen Zentren der Moderne – Paris, London, Berlin – mitzuhalten. Aus diesen und anderen Städten Europas kamen Einflüsse, die die Wiener Moderne antrieben und auch lenkten. Auch wenn die kulturellen und künstlerischen Produkte, die aus Wien kamen, zu dem allgemeinen Phänomen der europäischen Moderne gehören, ist die Wiener Moderne doch auch ihr eigenes Ereignis. Das Wien um 1900 unterschied sich von den anderen Städten durch seinen Status als Hauptstadt eines Reiches, dessen Untergang in der Luft lag – was eine Atmosphäre kreierte, die einen direkten Einfluss auf die kulturellen Bewegungen der Stadt hatte. Die Bürger des österreichischen Reiches im 19. Jahrhundert waren an ein geordnetes und berechenbares Leben gewöhnt. In seinem Roman Die Welt von Gestern beschreibt Stefan Zweig das Leben unter der österreichischen Monarchie als »das goldene Zeitalter der Sicherheit« (Zweig 2001: 15), in dem »[a]lles in diesem weiten Reiche fest und unverrückbar an seiner Stelle [stand] und an der höchsten der greise Kaiser; aber sollte er sterben, so wußte man (oder meinte man), würde ein anderer kommen und nichts sich ändern in der wohlberechneten Ordnung.« (Zweig 2001: 16). Gleichzeitig fand eine langsame aber stetige Emanzipation in verschiedenen Bereichen der Wiener Gesellschaft statt, die wichtige FortEin e Me la n g e a u s N o st a l g i e u n d A u f b r u c h | 51
schritte in technischen und sozialen Entwicklungen hervorrief, aber gleichzeitig diese Stabilität untergrub. Die Künstler der Wiener Moderne teilten mit ihren Mitbürgern die nostalgische Sehnsucht nach stabileren Zeiten, rebellierten aber gleichzeitig gegen die Beschränkungen dieser Existenz nach Vorschrift. Sie suchten nach neuen Ausdrucksweisen, um die Wahrheit des modernen Daseins darzustellen. In Wien bedeutete die Moderne eine Gleichzeitigkeit der Achtung der Traditionen mit einer Rebellion gegen dieselben, sowie ein mit Untergangsstimmung gepaarter Optimismus. Es ist interessant, dass gerade an dieser Stelle die Herausforderungen der modernen Kunst mit einer weitreichenden Japanbegeisterung zusammentrafen. Meine These ist, dass das erstaunlich facettenreiche Interesse an und die Identifizierung mit Japan zu dieser Zeit in Wien Ausdruck einer Suche nach dem Neuen und Modernen ist, die jedoch das Alte nicht komplett negierte. Die Ausstellung Verborgene Impressionen, die vom 4.4 bis 4.6.1990 im Österreichischen Museum für Angewandte Kunst lief, offenbarte zum ersten Mal in dieser Form den Einfluss Japans auf große Teile des kulturellen Geschehens in Wien um 1900. Toshio Watanabe schrieb in seiner Rezension der Ausstellung: »It was an excellent idea on the part of Peter Pantzer of the University of Bonn and Johannes Wieninger of this Museum to organise an exhibition on the theme, and it will show once and for all that France did not have a monopoly on Japonisme.« (Watanabe 1990: 510). Mit dem Phänomen des Japonismus im deutschsprachigen Bereich der Jahrhundertwende haben sich außer Kunsthistorikern auch einzelne Literaturwissenschaftler beschäftigt. Zu nennen sind Ingrid Schusters Arbeit China und Japan in der deutschen Literatur 1890–1925 (erschienen 1977), Christiane Günthers Aufbruch nach Asien: Kulturelle Fremde in der deutschen Literatur um 1900 (erschienen 1988) und Thomas Pekars Der Japan-Diskurs im westlichen Kulturkontext (1860–1920) (erschienen 2003). Weitere Studien über Asiens Einfluss auf länderübergreifende deutschsprachige und spezifisch österreichische Literatur und Kultur widmen sich allerdings eher dem Orientalismus als dem Japonismus (vgl. Berman 1996, Kontje 2004, Lemon 2011). Einführungen in den Japonismus sind ein immer wiederkehrendes Thema in kunsthistorischen Studien (vgl. Lambourne 2005). Der spezifische Japonismus des Wiener Jugendstils wurde ebenfalls mehrfach behandelt (vgl. Becker 1997, Delank 1996: 65–79). Im Gegensatz zu diesen Studien weist der Katalog zur oben genannten Ausstellung jedoch die Besonderheit auf, dass er nicht nur den Einfluss Japans auf Wiens Künstler und ihre Werke darstellt, sondern auch die Aufnahme des Japanischen in die Alltagskultur der höheren sozialen Schichten der Hauptstadt Österreich-Ungarns. In diesem Aufsatz möchte ich einige spezifische Phänomene des Wiener Japonismus aufgreifen. Man liest in den Wiener Kritiken der Populärkultur sowie der höheren Kunst, die zur Zeit der Jahrhundertwende veröffentlicht wurden, immer 52 | Susa nne Ke lle y
wieder von der Bewunderung, die der japanischen Kunst und Kultur entgegen gebracht wird. Im Kulturleben des Wiener Fin-de-siècle identifiziere ich drei Formen des Japonismus, auf die sich diese Bewunderung überträgt. Die unterhaltsamste und gleichzeitig inauthentischste Form des Wiener Japonismus war wohl dessen Ausdruck in der Populärkultur. Wie ich weiter unten zeige, wurde Japan hier unter anderem zur Partymode, diente also dazu, die Unterhaltungskultur kreativer und zugleich differenzierter zu gestalten oder dem Amüsement einfach einen exotischen Anstrich zu verleihen. Dazu gehörten auch die weite Verbreitung von dekorativen japanischen Produkten und die Begeisterung für die Japaner selbst, die ihre Kunst oder Kultur in Europa vorführten. Eine weitere Form des Wiener Japonismus ist theoretischer sowie pädagogischer Natur und findet sich hauptsächlich in analytischen oder kritischen Texten zu japanischer Kunst und Kultur. Kunst- und Kulturkritiker sowie Künstler, die sich zur Wiener Moderne zählten, suchten über Publikationsorgane wie das Secessionsmagazin Ver Sacrum ihre Kollegen und die Wiener Gesellschaft über die Besonderheit Japans zu informieren. Einzelne dieser Japanbegeisterten wiederum integrierten bestimmte Aspekte der ihnen bekannten japanischen Kultur in ihre eigene Lebenswelt und vor allem in ihre eigene künstlerische Arbeit. Diese in Künstlerkreisen verbreitete Form des Japonismus ist wohl die bekannteste und wird auch in der Forschung am häufigsten angeführt.
J a pa n-Be ge i st e rung a uf de r W eltausstellung 1873 Beginnend mit der Weltausstellung im Jahr 1867 befand sich Paris in einem wahren Japonismus-Taumel. Auch die Wiener Moderne hat sich stark an der französischen Moderne orientiert, und der Japonismus fand ursprünglich via Paris Eingang in die Wiener Gesellschaft. Wiens Japan-Faszination beschränkte sich aber nicht auf diesen Umweg. Obwohl die anfänglichen offiziellen diplomatischen Kontakte zwischen Österreich-Ungarn und Japan von wirtschaftlichen Interessen motiviert waren, zeigte sich bald, dass der eigentliche Einfluss Japans auf die österreichische Kulturszene von der Kunst kommen sollte. Österreich-Ungarn schickte die »k.u.k. Ostasien-Expedition« von 1869–1871 nach China, Siam und Japan (vgl. Wieninger 2009). Somit begannen die diplomatischen Beziehungen zwischen der Porta Orientis1 und dem Land der aufgehenden Sonne. Schlüsselmoment für das Orientinteresse in der Wiener Bevölkerung war die Weltausstellung 1873 in ihrer Stadt, die sich, wie die Weltausstellungs-Zeitung betonte, gegenüber den vorangegangenen europäischen Weltausstellungen in der Repräsentation der asiatischen Kulturen hervortat:
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»Die größte Londoner Ausstellung brachte wenig mehr, als was die europäischen Staaten und ihre Colonien haben; die größte der Pariser Ausstellungen hatte sich durch Egypten, die Türkei und durch einige Aussteller aus China erweitert; in Wien wird zum erstenmale der gesammte civilisirte Orient: Persien, Indien, China, Japan vollständig vertreten sein. Der Orient mit seiner Pracht und Herrlichkeit, mit seinen Phantasiegebilden und wunderbaren Kleinodien! […] und so verspricht der Orient im Glanze der Maisonne dieses Jahres seine volle Pracht und seine geheimen Reize zu entfalten. Hätte der Orient nicht schon die Palme als sein unveräußerliches Eigenthum, das Urtheil der Schaugäste würde sie ihm freudig für seine Verdienste reichen.« (Wiener Weltausstellungs-Zeitung III, 29. April 1873)
Die japanische Regierung investierte viel Geld in die Wiener Ausstellung. In der Weltausstellungs-Zeitung bekam man zu lesen, dass sie nicht nur für die Transportkosten der auszustellenden Gegenstände aufkam, sondern den Ausstellern auch den Wert ihrer Stücke garantierte (4. Mai 1872). Eine Quelle zählt 6668 Ausstellungsobjekte, die aus Japan kamen (vgl. Bucher 1874: 12). Der Aufwand und die Investitionen lohnten sich, denn in vielen Quellen wird verbucht, dass die japanischen Produkte viel Anklang fanden. »Die von den Japanern feilgehaltenen Fächer wurden rasch zu einer Art Wahrzeichen aller Ausstellungsbesucher. Den Japanern wurden die Produkte, sofern sie überhaupt verkauft wurden, nahezu aus den Händen gerissen. Tatsächlich wurde vieles von Wien weg nach ganz Europa verkauft, in private Hände und Museen.« (Pantzer 1990: 12)
Der Austausch zwischen Japanern und Österreichern war rege, so dass 1874 das »Orientalische Museum« gegründet wurde, um die Handelsbeziehungen zwischen asiatischen Ländern und der Monarchie zu fördern. 1907 übernahm das Museum für Kunst und Industrie die Sammlung, die durch die Weltausstellung entstanden war.
J ap an in de n Auge n de r K ul t ur- und Kuns tkritiker Die Beliebtheit japanischer Produkte sowie die von den Regierungen geförderte Freundschaft und der kulturelle Austausch hielten auch nach der Weltausstellung an (vgl. Roschitz 1989: 176). Natürlich fand der Lern- und Austauschprozess auf beiden Seiten statt. Während Japan die europäische Kunst und die Populärkultur beeinflusste, nahmen die Japaner Anregungen und Wissen mit nach Hause, die besonders bei der Modernisierung von Industrie und Wirtschaft eine große Rolle spielen sollten. Die Wiener allerdings bewunderten gerade das Japan vor seiner 54 | Susa nne Ke lle y
Öffnung für den Westen. Sie sahen in ihm ein Land, das weit früher als Europa einen hohen Grad an Zivilisation und Kulturbewusstsein errungen hatte. »In Europa war allüberall noch das Dunkel der Halbcivilisation oder vollendeter Barbarei, als in Japan schon die bedeutenden Culturerrungenschaften, die uns heute in Erstaunen versetzen, da waren«, stand in der Weltausstellungs-Zeitung (28. Mai 1873), und der Kunstkritiker Ernst Schur schrieb im Secessionsorgan Ver Sacrum: »Japan! Wir sind wie ungezogene Kinder, die ihren Vater noch nicht verstehen können«. (Schur 1898: 6). In den Augen der Wiener Kritiker wiesen die japanischen Kunstwerke eine ganz besondere Authentizität auf, die sie auf die lange und vermeintlich von großer Kontinuität geprägte Geschichte der japanischen Kultur sowie deren hohen Zivilisationsgrad zurückführten. Das »authentisch asiatische«, nicht das verwestlichte Japan war also die Kultur, die die Wiener begeisterte. Besonders bei den Kunsthistorikern und Kunstkritikern liest man, dass sie den bevorstehenden Verlust gerade dieses alten Japans betrauerten, das sie auf der Weltausstellung noch kennenlernen durften: »Der Japaner verlässt seine gute, sorgfältige Manier der Lackarbeiten und macht Dutzendware für den europäischen Markt; er legt seine Kleidung und seine Lebensweise ab, mit der jene kunstreichen Techniken des Webens und Strickens verknüpft waren; statt der golddurchwirkten Seidengewänder trägt er europäische Tuche, statt des reichen, mit Gold und Steinen geschmückten Hutes eine leichte, europäische Mütze. […] Vielleicht genügen wenige Jahrzehnte, um eine Kultur zu vernichten, die Jahrtausende unverändert bestanden. Es ist jetzt vielleicht zum letzten Male, dass die europäischen Kunstgewerbe einen Trunk aus dieser reinen Quelle thun dürfen, die dann für immer versiegt.« (Lessing 1874: 24)
Kunsthistoriker Jacob von Falke schrieb: »Schon ist Japan in das Harmonie-Concert der modernen Kulturstaaten aufgenommen, seine Gesandten residieren an den Höfen, geben diplomatische Diners und halten ›speeches‹ trotz Beust und Gladstone. Wir haben die kleinen Männer in buntgestickter Tracht, die Säbel auf dem Bauche, kommen und sich in Salonherren mit Frack und Zylinder verwandeln sehen. Und nun haben sie gesammelt, was die europäische Zivilisation und die europäische Industrie schafft, und haben es als Muster in die Heimat gesendet: Wir bezweifeln nicht, daß die klugen Männer mit den kleinen, stillen, listigen Augen recht daran tun, zum Heile ihres Volkes und ihres Landes, aber wir, die Freunde jeder guten, geschickten und vor allem originellen Kunstarbeit, wir werden viel Vergnügen einbüßen und werden ein andermal statt der reizvollen, eigenthümlichen, wenn auch bizarren Gegenstände barbarische Kopien unserer eigenen Werke zu sehen bekommen. Kaum wird eine andere europäische
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Weltausstellung – möge sie zögernden Fußes kommen! – uns den Orient wieder in voller Originalität vor Augen führen.« (zit. n. Roschitz 1989: 177)
Diese Zitate drücken nicht nur ein Bedauern darüber aus, dass Japan sich durch seinen Kontakt mit der europäischen Kunst und Kultur sicher grundlegend und für immer verändern werde, sondern lassen auch eine Identifizierung mit dem Land durchscheinen. Westliche Technologien werden dieser Auffassung nach die Qualität der japanischen Kunstproduktion verringern und europäische Moden und Lebensweisen die Alltagskultur durchdringen. Somit sind die Zitate auch eine Kritik am Fortschritt an sich und können als Vorboten der Nostalgie und Unsicherheit gesehen werden, die um die Jahrhundertwende in Wien zu spüren sein würde. Der Blick richtet sich zu diesem Zeitpunkt voller Sehnsucht auf ein ideales »altes« Japan, gleichzeitig entwickeln sich aber auch die oben genannten mannigfaltigen Formen des Japonismus, die Ausdruck einer kreativen Neufindung sind.
J a p an in de r Wi e ne r Unt e rha l t ungskultur 25 Jahre nach der Weltausstellung, um die Jahrhundertwende, waren die asiatischen Monarchien, besonders China und Japan, immer noch populäre Themen für Unterhaltungsartikel in den Wiener Frauenzeitungen und -zeitschriften wie Der Samstag, die Illustrierte Sonntags-Zeitung, und die Familien- und Moden-Zeitung für Österreich-Ungarn. Besonders das Leben an den asiatischen Höfen wurde gern beschrieben. Die Journalisten betonten die lang zurückreichenden Traditionen und die Verfeinerung der asiatischen Kulturen, hoben aber meistens auch eine gewisse Rückständigkeit und Besonderheit heraus. Im Vergleich zu den Chinesen wurde das japanische Volk durchgängig als das tolerantere, modernere und gebildetere bezeichnet. Dieses positive Bild entwickelte sich sicher auch durch die großen Modernisierungsbestrebungen, die Japan seit der Öffnung des Landes in Wissenschaft, Technik, Bildung und Alltagsleben betrieb, um mit dem Westen Schritt halten zu können. In China hingegen fand zu dieser Zeit der gegen ausländische Einflüsse gerichtete Boxeraufstand2 statt, von dem auch in Wiener Zeitungen detailliert berichtet wurde. Die Darstellung und Auffassung der Chinesen als ein aggressives Volk, das die Möglichkeiten einer westlichen Moderne ablehnte, wurde in den Zeitungen kultiviert. Im Gegensatz zu der vermeintlichen chinesischen Habgier und Lügenbereitschaft (Haller 1901: 10–11) wurde die japanische Eleganz und Zivilisiertheit hervorgehoben: »Das gibt sich in den weicheren, feineren Zügen und der Anmut der Japanerinnen zu erkennen, während die Frauen Chinas und Koreas mit harten, anmutlosen und kalten Gesichtern in die Welt blicken.« (Bälz 1907: 19). Unter56 | Susa nne Ke lle y
haltend-informative Feuilletonartikel beschrieben die Japaner zudem als besonders höflich (vgl. Mischke 1911/12: 728) und bescheiden (Der Samstag, 8. Juni 1907: 860). In seinem Artikel »Höfisches Leben in Japan« beschrieb Karl Mischke die Organisation des japanischen Kaiserhofes als europäisch, ließ aber anklingen, dass viele Aspekte des japanischen Hofes immer noch sehr traditionell seien und sich die Bewohner einer sehr strikten hierarchischen Struktur unterzuordnen hätten (Mischke 1911/12: 730). Die Wiener Bevölkerung bekam also in den Unterhaltungsartikeln zu lesen, dass der Charakter und die Lebensart der Japaner zu bewundern seien, sie aber trotz ihres Dranges zum europäischen Fortschritt viele exotische Gewohnheiten lange nicht abgelegt hätten. Ein Beispiel ist ein kurzer Artikel über »Japanische Zahnärzte« (Der Samstag, 30. November 1907: 212), die sich angeblich durch ein spezifisches Training darin auszeichneten, einen Zahn mit den bloßen Fingern ziehen zu können. Das Bild Japans bleibt in diesen Artikeln also ein exotisches, und diese feuilletonistischen Artikel scheinen vor allem das Ziel zu verfolgen, die Leser durch »unerhörte« Anekdoten zu unterhalten. Da das Land und sein Volk auf diese Weise als ästhetisch und kultiviert empfunden wurden, ist es auch nicht verwunderlich, dass die wohlhabendere Bevölkerung im Wien der Jahrhundertwende eine Vorliebe dafür entwickelte, verschiedene als japanisch angesehene Traditionen zu imitieren. Fürstin Pauline Metternich zum Beispiel, die die Wiener Gesellschaft auf von ihr organisierten Festen zusammenbrachte, veranstaltete im Mai 1901 das ›Japanische Kirschblütenfest‹ (vgl. Farbabbildung 7). »Mit Pavillons, Pagoden, Teehäusern und Gärten. Tausende Wiener strömten in den Prater zu diesem japanischen Fest« (Pantzer 1990: 16). Der Wiener Japonismus um 1900 war dabei nicht immer mit ernsthaftem Kunst- oder Kulturinteresse verbunden, sondern äußerte sich ebenso deutlich in der Populärkultur: Ein paar Jahre lang war zum Beispiel das Geisha-Kostüm zur Faschingszeit besonders beliebt und wurde von Modezeitschriften als elegant und graziös angepriesen (vgl. Moden-Zeitung fürs Deutsche Haus, 1901/02: 47). Im Jahr 1907 wiederum wählte Fürstin Pauline Metternich das Thema »Japan« für ihren jährlichen Maskenball, an dem, laut einem Bericht in Der Samstag, auch Gäste von der japanischen Botschaft mit Freude teilnahmen (vgl. Ebert 1907: 515). Vor allem die Wiener Damen fanden – nicht nur bei dieser Gelegenheit – Vergnügen daran, sich in einem nicht-westlichen Gewand in Schale zu werfen (vgl. Abb. 1). »Sie alle aber hatten die feine Grenze zwischen geschmackvoller Maskenkostümierung und Karikatur mit Takt und Verständnis eingehalten. Echte japanische Toilettestücke, große und kleine sah man zu vielen Hunderten; man sah auch manche japanische Frisur mit Schlupfen, Schleifen und Maschen auf glattem schwarzen Haar, man sah Fächer und Schirme und sogar elektrisch glühende Miniaturlampions im Kopfputz der Damen.« (Ebert 1907: 516) Ein e Me la n g e a u s N o st a l g i e u n d A u f b r u c h | 57
Diese Beschreibungen lassen auf eine Feier schließen, bei der Japan vor allem durch kitschige Dekorationen und Stereotypisierungen präsent war. Für die Wiener bedeutete dies aber einen Kostüm- und Rollenspielspaß, durch den sie sich gleichzeitig elegant und kultiviert fühlen konnten. Diejenigen, »die fürchteten, in Kimono und Obi nicht vorteilhaft auszusehen«, durften ein weniger authentisches Kostüm zusammenstellen, solange »die Grundnote japanisch war« (Ebert 1907: 517). Der Berichterstatter schloss seine vier Seiten lange Beschreibung der Veranstaltung mit einer wohlwollenden Note: »Genau besehen, müsste man allerdings der japanischen Redoute den Vorrang unter allen vorhergegangenen einräumen, 1 Die Schriftstellerin und Salonnière Berta Zuckerkandl-Szeps in denn noch nie machte die DekoReformkleid und Kimono, aufgenommen 1908 im Atelier der Fotografin ration des Sophiensaales einen so Madame d’Ora in Wien. Österreichische Nationalbibliothek. exotischen, und dabei doch stimmungsvollen und einheitlichen Eindruck«. (Ebert 1907: 518). Die Erprobung des Exotischen ist also hier die Schlüsselerfahrung. Ein wenig differenzierter fällt die Reaktion der Kritiker auf die japanische Theaterkunst aus, wenn auch hier immer noch das Fremde den größten Reiz ausmacht. Im Theater gewannen zwei Japanerinnen die Herzen des Wiener Publikums. Im Jahr 1902 trat Sada Yakko in Wien auf. Nicht nur war ihre Theatertruppe die erste aus Japan, die in Europa tourte und bekannt wurde, sondern sie war auch eine der ersten Japanerinnen, die überhaupt als Schauspielerin arbeiteten. Von den Wienern bekam sie den Spitznamen »Japanische Duse«, weil sie sehr gefühlsbetont spielte. Der Kritiker Ernst beurteilte die Aufführungen als »im höchsten Grade sehenswert«, trotz solcher »Naivitäten« wie bei einer Todesszene fließendes Kunstblut (Ernst 1902: 150). Sechs Jahre später spielte die zweite japanische Schauspielerin, Hanako, in Wien. Der Samstag berichtete: 58 | Susa nne Ke lle y
»Die Sonderheiten der dramatischen Kunst des Mikadoreiches hat uns nur Sada Yakko vermittelt, die eine große Kunst enthüllte, – wiewohl man ihre Sprache nicht verstand. Aus dem Lande der Kirschblüte und des Chrysanthemums ist eben jetzt eine zweite Künstlerin herübergekommen, um zu beweisen, daß die Japaner auch vorzügliche Schauspieler sind, da sie alle Skalen menschlicher Empfindung und Seelenregungen meisterhaft darzustellen wissen, daß sie auch auf der Bühne lebensecht zu jauchzen, zu klagen, zu lieben und zu sterben vermögen.« (Der Samstag, 4. April 1908: 629)
Der Autor beschreibt hier eine Kunst, die auch ohne Sprachverständnis wirkt. Die Aufführungen der japanischen Schauspielerinnen erweisen sich für ihn als Zeugnis einer Allgemeingültigkeit der menschlichen Gefühle, unabhängig von Muttersprache und kulturellem Hintergrund. Gleichzeitig betont er aber auch die soziale Distanz, die unterschiedliche kulturelle Identitäten mit sich bringen: »Die Gesellschaft der Japanerin ist zu japanisch, um uns irgendwie näherzukommen« (Der Samstag, 4. April 1908: 630). Die Tatsache der kulturellen Distanz verringerte allerdings nicht die Bewunderung dieser Kritik für die japanische Kunstfertigkeit. »So viel auch das Abendland von Japans herrlicher Kunst weiß, lernt es immer noch neue Gebiete kennen, auf denen das Volk von Nippon eine ungeahnte Vollendung erreicht, sodass es den Europäer zur Bewunderung hinreißt. Welch eine reiche Kultur die kleine gelbe Nation im fernen Osten doch ihr eigen nennt!« (Der Samstag, 4. April 1908: 629). Wiederum findet man hier also die Wiener Hochschätzung der »reichen Kultur«, die das Wien des Fin-de-siècle ja auch für sich beanspruchte. Die obigen Berichte aus der Unterhaltungssparte zeugen von einer Anerkennung und Bewunderung der japanischen Kunst und Kultur, aber auch von Widerständen dagegen, kulturelle Elemente tatsächlich in die Wiener Alltagskultur aufzunehmen. Das »Japanische« ist für Feiern und Feste reserviert, dient also als eine Art Ausdrucksform für Kreativität, Spielerei und Ausgelassenheit. Wie der Artikel »Die Hanako« zeigt, wird das »echte« Japanische aber immer noch als unzugänglich angesehen. Japan löst zwar eine große Faszination aus, Bemühungen um ein wirklich tieferes Verständnis der Kultur, zum Beispiel durch das Erlernen der Sprache, lassen sich aus der Unterhaltungsliteratur allerdings nicht ableiten. Erst die Secession machte es sich zur Aufgabe, die kulturell interessierten Wiener im Detail über das künstlerische Japan zu informieren, denn für die Künstler und Kritiker, die sich für eine neue, moderne Kunst Wiens engagierten, war der pädagogische Aspekt ein wichtiger Teil ihrer Ziele.
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J a p an is che K unst und di e Wi e ne r Seces s ion Im Januar und Februar des Jahres 1900 veranstaltete die Vereinigung Bildender Künstler Österreichs (die Wiener Secession) eine Ausstellung japanischer Kunst, die sämtlich aus der Sammlung des in Wien geborenen Adolf Fischer kam. Wie der Ausstellungskatalog verrät, war das Ziel der Ausstellung ein pädagogisches: »Für die verschiedenen Bestrebungen moderner Kunst fehlt die Brücke, welche zum Verständnis führt. Unter diesem Gesichtspunkte möge unsere Ausstellung betrachtet werden.« (Engelhart 1900: 3). Die Ausstellung sollte also ihrem Publikum nicht nur das Nicht-Europäische vorführen, sondern gleichzeitig die moderne Kunst Europas erklären. Anhand der japanischen Kunst wollten die Secessionisten den Zusammenhang von Realismus, Impressionismus und Jugendstil zeigen. Die japanische Kunst repräsentierte also ein traditionsreiches, altes, und zum Teil noch konservatives asiatisches Land und war gleichzeitig Inspiration für noch nie gesehene, kontroverse Kunstformen in Europa. In der Zeitschrift Ver Sacrum machten die Mitglieder der Secession noch deutlicher, dass die neue europäische Kunst, die von vielen Stimmen noch stark kritisiert wurde, gar nicht so revolutionär und untradi tionell sei. Ihre Wurzeln, so die Erklärung, seien eben nicht nur europäisch, sondern weiterreichend. Die Ausstellung begeisterte Künstler und Kritiker, die der Secession anhingen. Hermann Bahr beschrieb konkret, was die europäischen Künstler von den Japanern lernten, nämlich »Freiheit der Mittel«, »Empfindung der Farbe«, und »das erregende Moment« (Bahr 1900: 404–405). »Welche hohen Begriffe des Menschlichen sprechen aus diesen Werken, welche Sittlichkeit, welche Schicklichkeit! […] Man hat nach einiger Zeit einfach das Gefühl, in einer besseren Luft, unter anständigeren Menschen zu sein.« (Bahr 1900: 406). Die Ausstellung erntete allerdings nicht nur Lob. Der deutsche Kunsthistoriker und Kritiker Richard Muther urteilte, dass die Ausstellung vor allem das pädagogische Potential nicht wahrgenommen habe. Sie stelle weder ein »Stimmungsbild« dar noch lehre sie dem Publikum die Geschichte der Kontaktpunkte zwischen der Kunst des Ostens und des Westens. »Dem Katalog der Secession haftet der üble Beigeschmack toter Gelehrsamkeit an.« (Muther 1900: 407–408). Zwei Jahre vor der Japan-Ausstellung erschien Ernst Schurs Artikel »Der Geist der japanischen Kunst« im Ver Sacrum, in dem er zusammenfasste: »Wir streben nach Einheit – hier ist die Einheit« (Schur 1898: 8). Der deutsche Kunstkritiker fand in der japanischen Kunst das, was dem Europäer seiner Ansicht nach fehlte. Er drehte hier das Bild um, das ein Japan beschrieb, welches im Vergleich zur westlichen Technologie und Kultur eine untergeordnete Stellung einnimmt. Er beschrieb die japanische Kunst als die weit menschlichere und natürlichere. Die europäische Kunst betrachtete er stattdessen als entwurzelt und vergleichsweise ausdruckslo60 | Susa nne Ke lle y
ser. Wiederum finden wir Bewunderung des verfeinerten japanischen Könnens und der impressionistischen japanischen Perspektive, die sich stark von der realistischen europäischen unterscheidet. Die Japaner schaffen es dieser Ansicht gemäß, die menschliche Existenz als eine Einheit darzustellen, indem sie gerade die Details der Fantasie des Betrachters überlassen. Der Leiter des Kunstgewerbemuseums in Berlin, Julius Lessing, reagierte auf die japanische Kunst auf der Wiener Weltausstellung so: »Es ist nicht eine bestimmte Blume, die [der Japaner] nachbildet, sondern das Allgemeine des Pflanzenwachstums, gleichsam die Urpflanze, welche Goethe vorschwebte, und somit bekommt seine Zeichnung etwas so absolut Gemeingültiges und unbezweifelbar Richtiges, dass sie allerdings zum festen Leitfaden der ornamentalen Kunst werden muss.« (Lessing 1874: 17)
Die Kunsthistoriker um 1900 erkannten also in der japanischen Kunst eine Ausdruckskraft, die in der europäischen Entwicklung bis zum Realismus verloren gegangen war. Die Begeisterung für Japan war somit nicht nur eine Aneinanderreihung exotischer Motive, sondern verfolgte auch ein tieferes Ziel, nämlich eine neue Ausdruckskraft für die persönliche künstlerische Betätigung zu finden. Für die Künstler der Moderne bot die japanische Kunst einen Ausweg aus den festgelegten Formen der europäischen Kunst. Sie zeichnete sich durch eine Einheit aus, die sich nicht nur auf den Stil und Inhalt der einzelnen japanischen Werke beschränkte, sondern sich auf die künstlerische Produktions- und Lebensweise bezog. Aus der Perspektive der Wiener Künstler repräsentierte diese Einheit eine grundlegende Weltanschauung, die sich der Fragmentierung der modernen Welt, deren Erfahrung grundlegend für die Moderne war, gegenüberstellen ließ.
O r n a m e n t und L e be nsst i l : De r Ja po ni sm us Gus tav Klim ts Bei dem Künstler Gustav Klimt (1862–1918), der einer der Gründer der Wiener Secession und ihr erster Präsident war, hat der Japonismus zwei Seiten: Eine professionelle und eine persönliche. Außerhalb seiner Kunst beschäftigte er sich durch Bücher mit Japan, wie die Literaturauswahl in seiner Bibliothek zeigt (vgl. Nebehay 1969: 52–53). In einer Beschreibung eines typischen Sommertages notierte er, dass er morgens entweder zeichne oder seine japanischen Bücher studiere (vgl. Koja 2002: 27). Über 20 Jahre lang hat Klimt sich mit der japanischen Kunst auseinandergesetzt. Die meisten Bücher in seiner Bibliothek, die asiatische Kunst thematiEin e Me la n g e a u s N o st a l g i e u n d A u f b r u c h | 61
sierten, beschäftigten sich speziell mit Japan.3 1906 bekam er zum Beispiel von dem Wiener Buchladen Artaria & Comp einen Band des von Samuel Bing herausgegebenen Magazins Le Japon artistique (vgl. Nebehay 1969: 53). Die Elemente, die Klimt aus der japanischen Kunst übernahm, reichen von stilistischen Elementen, wie Größe und Format eines Werkes (vgl. das lange aber schmale Bildformat der Judith II oder Nuda Veritas) über dekorative Elemente bis zum ornamentalen Inhalt eines Gemäldes. Klimt imitierte in seinen Werken japanische Künstler nicht bildgetreu, sondern vermischte einzelne japanische Formen und Ornamente mit seiner eigenen Gestaltung (vgl. Koshi 1990: 97). Das Gemälde der siebzehnjährigen Emilie Flöge von 1891 ist eines der ersten Werke, in dem sich Klimts Japan-Inspiration deutlich zeigt (vgl. Natter 2000: 76). Den Goldrahmen dekorierte er mit zarten Kirschblüten und Gräsern, die die Eleganz des jungen Mädchens unterstreichen. Als Höhepunkt von Klimts Japonismus gelten die Werke seiner »goldenen Periode«, die auch die dichtesten Ornamente enthalten. Das meistzitierte Werk in Analysen zu Klimts Japonismus ist der Stoclet-Fries (vgl. Koshi 1990: 97, Lambourne 2005: 126), den er für den von Josef Hoffmann entworfenen Palais Stoclet in Brüssel kreierte. Ein anderes Gemälde, das unter anderem japanische Elemente aufweist, und das durch seine jüngste Geschichte noch an Bedeutung gewonnen hat, ist Adele Bloch-Bauer I4, auch als »Dame in Gold« bekannt (vgl. Farbabbildung 8). Das mosaikbestückte goldene Gewand und der eindimensionale goldene Hintergrund geben dem Gemälde eine reiche und schwere Atmosphäre. Besonders der Einsatz des Hintergrundes erinnert an japanische Lackmalerei (vgl. Natter 2000: 115). Neben dem opulenten Gold fallen Bloch-Bauers elegantes und lebloses Gesicht, Arme, und Hände auf, die im Kontrast zu dem ornamentbeladenen und trotzdem lebendigen Kleid stehen. Moritz Dreger charakterisiert in seinem 1898 in Ver Sacrum erschienenen Beitrag »Zur Werthschätzung der japanischen Kunst« die japanische Kunst mit »Mangel an klarer Licht- und Schattengebung, an Rundung, an Helldunkel, das Fehlen der Linearperspektive, die später allerdings durch eine fast übertriebene Luftperspective ersetzt wird, dann den conventionellen Schwung der Figuren, sowie ihre willkürlichen Verhältnisse und ihre geringe Belebung« sowie »[…] die treffliche flächenhafte Gesammtwirkung, die uns meist gar nicht merken lässt, wie selbständig sich der Künstler der Natur gegenüber verhalten hat.« (Dreger 1898: 24). Adele BlochBauer I ist keine direkte Imitation eines japanischen Werkes, weist aber einige der von Dreger beschriebenen Kriterien auf. Vor allem erzielt Klimt den einheitlichen Ausdruck, den Dreger bei japanischen Werken erkannte. Bloch-Bauers Kleid, Sessel und Hintergrund teilen die gleiche Farbe und den gleichen ornamentalen, schweren Stil.
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Klimt verfolgte aber auch einen persönlichen Japonismus, der sich über sein gesamtes privates Leben erstreckte. In seinem Atelier hing chinesische und japanische Kunst und er besaß neben afrikanischen Figuren auch eine japanische Maske. Seine Arbeitskleidung bestand aus einem kimonoähnlichen Gewand, das man auf vielen Fotos, die in seinem Garten oder am Attersee aufgenommen wurden, sehen kann (vgl. Abb. 2). Sein Outfit war der Reformkleidung nicht unähnlich, die auch das Ziel hatte, Mode und Komfort zu kombinieren. Die Wiener Damen, die zu den Anhängern der 1903 gegründeten Produktionsgemeinschaft Wiener Werkstätte5 gehörten, begeisterten sich für die neue Mode, die unter anderem von Klimts Lebensgefährtin Emilie Flöge entworfen und ausgeführt wurde. Die bekanntesten Fotos von Flöge wurden von Klimt gemacht und zeigen sie in 2 Gustav Klimt mit Emilie Flöge im Ruderboot, 1909. Beide ihrer eigenen Reformmode, ausgetragen Reformkleidung, wobei Flöges Kleid ein Muster im stattet mit Schmuck von der Wiener Kimono-Stil aufweist. Leopold Museum, Wien. Werkstätte. Die Kritiker beschrieben die Kleider allerdings als »formloser Mehlsack« oder »schnittloser Reformsack« (Brandstätter 1998: 6). Zeitungen berichteten in ihren Modeteilen von angeblichen Beschwerden der Damen, denen die Korrektur und Abdeckung durch das Korsett fehle. Der Büstenhalter wurde als Ersatz vorgeschlagen (Illustrierte Sonntags-Zeitung, 1902: Heft 11). Immerhin konnten Modedesigner wie Emilie Flöge oder Klimts Kollegen der Wiener Werkstätte einen Teil ihres Einkommens mit der neuen Mode verdienen, die von den wohlhabenden Anhängern der modernen Kunst getragen wurde. Wie auch Klimt fand Flöge asiatische Kunst und Mode inspirierend. Eine ihrer Lehrlinge berichtete, dass ihre Textilsammlung einige östliche Gewänder beinhalte.6 Die Mode, die Klimt und Flöge propagierten, war keine exakte Imitation des japanischen Kimonos, aber im Gegensatz zu der »echten« japanischen Mode, die den feiernden Ein e Me la n g e a u s N o st a l g i e u n d A u f b r u c h | 63
Wienerinnen als Verkleidung diente, entwarfen und trugen Klimt und Flöge die Reformmode als moderne, aber authentische und alltagstaugliche Kleidungsstücke. Die neue Mode war somit auch ein Ausdruck einer modernen Lebensauffassung, die unter anderem durch Komfort definiert wurde.
P e t e r A lt e nbe rgs l i t e ra ri sc he Sk i z z en Japan bedeutete nicht nur für bildende Künstler eine alternative Weltdarstellung und Lebensweise. Unter den Jungwiener Autoren ist der Impressionist Peter Altenberg derjenige, der den Ausdrucksansatz der japanischen Kunst am ehesten in die Literatur übertrug. Er schrieb: »Die Japaner malen einen Blüthenzweig und es ist der ganze Frühling. Bei uns malen sie den ganzen Frühling und es ist kaum ein Blüthenzweig. Weise Ökonomie ist alles!« (Altenberg 1896: 34). Unter den Literaturkritikern ist Altenberg dafür bekannt, als einer von wenigen den künstlerischen Impressionismus in literarischer Form umgesetzt zu haben. Schon zu seiner Zeit erkannte der Kritiker Rudolf Strauss: »[…] Peter Altenberg ist ein Meister der Andeutung. Was er von den Japanern sagt: ›Sie geben einen Blütenzweig – und es ist ein Frühling‹, das gilt mit ebensolchem Rechte von ihm selbst. In dieser Hinsicht ist er direkter Sprössling der Japaner und Präraffaeliten. Er gibt ein Wort, und es ist ein Satz. Er gibt einen Satz, und es ist eine Skizze. Er gibt eine kurze, zehn Zeilen lange Skizze, und es ist eine ganze, große, leuchtende Welt.« (zit. n. Wunberg 1981: 429)7
Altenberg selbst beschrieb seine Texte als »Skizzen«, die »Extracte des Lebens« präsentieren: »Denn sind meine kleinen Sachen Dichtungen?! Keineswegs. Es sind Extracte! Extracte des Lebens. Das Leben der Seele und des zufälligen Tages, in 2-3 Seiten eingedampft, vom Überflüssigen befreit wie das Rind im Liebig-Tiegel! Dem Leser bleibe es überlassen, diese Extracte aus eigenen Kräften wieder aufzulösen, in geniessbare Bouillon zu verwandeln, aufkochen zu lassen im eigenen Geiste, mit einem Worte sie dünnflüssig und verdaulich zu machen.« (Altenberg 1901: 102)
In dem Sinne nimmt Altenberg den Stil der japanischen Kunst auf, deren Stärke in den Augen der Europäer darin besteht, das Größte, Wesentlichste durch das kleinste und einfachste Element auszudrücken. Bei beidem wird die Verantwortung dem Betrachter, beziehungsweise dem Leser, übergeben, das Gesamtbild zu formen. 64 | Susa nne Ke lle y
In seinen literarischen Skizzen, die er in verschiedenen Büchern veröffentlichte, reflektiert er nur sehr wenig über Japan und die Japaner, aber japanische Gegenstände findet man in den verschiedensten Szenen. Die japanischen Objekte, die man in den kurzen Texten vorfindet, sind immer von feiner Qualität und Schönheit, aber praktisch sind sie meistens nicht und sollen es auch nicht sein, wie sein Beispiel des japanischen Apfelbaums8 zeigt. Eine Figur in einem seiner Sketche sagt: »Für Sie müsste Japan das Idealland sein. Denn die dortselbst wunderbar blühenden Apfelbäume bringen es nie zu Früchten, bleiben in prangender Blüthenpracht!« (Altenberg 1901: 177). Für Altenberg ist alles Japanische ein Kunstwerk, das existiert, um das Leben zu verschönern und nicht, um es zu erleichtern oder es produktiver zu machen. Ein Apfelbaum, der all seine Existenzkraft darauf verwendet, schöne Blüten anstatt Obst zu tragen, repräsentiert dieses Ideal sehr genau. Wenn ein Objekt doch einen praktischen Zweck verspricht, dann wird er ihm gleich durch Ironie entzogen. Wie Thomas Pekar in seiner Studie über den westlichen Japan-Diskurs schreibt: »Diese ironische Brechung wurde von Altenberg in einer seiner kleinen Skizzen auf die Spitze getrieben: Ein Mann schenkt einer Frau, die bereits alles geschenkt bekommen hat, ›was eine liebevolle zärtliche Seele sich ausdenken könnte‹, japanisches Klosettpapier ›aus japanischen Pflanzenfasern, unerhört zart und dennoch fest im Gefüge‹.« (Pekar 2003: 257). Altenbergs Japonismus ist also eine Mischung von ernster Lebens- und Literaturanschauung und ironischen Darstellungen.
Schluss Ein wichtiger Aspekt der Wiener Moderne war eine Faszination für den Osten der Welt, die man in diversen Erscheinungsformen erkennen kann. Angefangen mit der Weltausstellung im Jahr 1873 wurde Wien zur Porta Orientis, die einen Austausch förderte, der besonders das Kulturleben beeinflussen sollte: »Die islamische Welt des Vorderen Orients und die buddhistische Welt Chinas und Japans traten ins Blickfeld europäischen Kunstdenkens. Und Wien erwies sich als ideale Brücke zum Orient. Auf der Wiener Weltausstellung fanden die ersten wichtigen Auseinandersetzungen mit dem Orient statt, die viel später mit der Secession den Weg in eine neue Kunstentwicklung wiesen. Künstler, Kritiker, Industrielle, Handwerker und Publikum ließen sich von der Ästhetik des Nahen und Fernen Ostens bezaubern.« (Roschitz 1989: 174)
Was den Wiener Japonismus von dem eher generellen Orientalismus unterscheidet, ist eine pädagogische Orientierung, der es nicht nur um ein Verstehen der jaEin e Me la n g e a u s N o st a l g i e u n d A u f b r u c h | 65
panischen Kultur, sondern auch um deren lebendige Vermittlung und Aneignung geht. Neben der exotistisch motivierten Aufnahme japanischer Elemente in die populäre Alltagskultur der gehobenen Schichten weist der Wiener Japonismus auch eine sehr theoretische Herangehensweise auf. Wie die obigen Beispiele und Zitate zeigen, reflektierten und kommentierten die Wiener Modernisten und deren Anhänger die japanische Kunst und Kultur, bevor sie Elemente aus dieser aufnahmen oder sie uminterpretierten. In einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs kann die weitreichende Japan-Begeisterung vieler Wiener als Ausdruck eines Wunsches nach kultureller Stabilität interpretiert werden – einer Stabilität, die man im Japan vor seiner Öffnung für den Westen zu erkennen glaubte. Anknüpfungspunkte einer Identifikation der Wiener mit den Japanern fanden sich auf verschiedenen Ebenen: Beide Kulturen teilten den Status einer Monarchie, und beide sahen sich vor die Herausforderung gestellt, die traditionelle Lebensweise mit den großen durch die Modernisierung hervorgerufenen Veränderungen zu verbinden. Japan wurde so vor allem für die Akteure der Wiener Moderne zum Modell einer Kultur, die Tradition und lange bestehende Hierarchien mit Moderne und kulturellem, industriellem und technologischem Fortschritt erfolgreich vereinte. Während manche Bereiche des Wiener Japonismus zunächst nicht über eine simple Faszination für das Exotische hinausreichen mögen, erkennen Tieferblickende, dass sich in allen Bereichen der Wiener Japan-Begeisterung deutlich das damalige gesellschaftliche Klima spiegelt: Das Vorantreiben einer raschen Entwicklung in Kunst und Industrie, koexistent mit einem tiefen Wunsch nach Zeitlosigkeit von Traditionen und Lebensart.
A n m er kunge n 1 Der Begriff Porta Orientis beschreibt Wien als politisches sowie geisteswissenschaftliches »Tor« zu Osteuropa und dem Nahen Osten. Um die Jahrhundertwende finden wir ihn hauptsächlich bei Hugo von Hofmannsthal: »Wien war die porta Orientis und war sich dieser Mission namentlich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in glorreicher Weise bewusst.« (1921: 473). 2 Der Boxeraufstand war ein gewaltsamer Widerstand einer chinesischen Fraktion gegen Ausländer und ausländischen Einfluss in ihrem Land, der im Jahr 1901 mit der chinesischen Niederlage endete. 3 Zu Klimts Bibliothek gehörten Bücher über japanische Kunst und Kunstgeschichte: Hayashi, T. (1902): Dessins Estampes, Livres illustrés du Japon.; Münsterberg (1904): Japanische Kunstgeschichte: 3 Bände. Außerdem ein Buch über japanische und chinesische Kunst:
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Fenellosa, Ernst F. (1913): Ursprung und Entwicklung der chinesischen und japanischen Kunst: 2 Bände. (Nebehay 1969: 52). Nachdem die Nationalsozialisten das Gemälde seinem jüdischen Besitzer, Adeles Mann Ferdinand Bloch-Bauer, enteigneten, hing es jahrelang in der Österreichischen Galerie Belvedere. Das Gemälde machte 2006 weltweite Nachrichten, als es, nachdem es den Bloch-Bauer-Erben von Österreich zurückerstattet wurde, für 135 Millionen Dollar an Ronald S. Lauder verkauft wurde. Heute hängt es in Lauders Neuer Galerie in New York. Die Wiener Werkstätte arbeitete viel mit der Künstlergruppe Wiener Secession und der Wiener Kunstgewerbeschule zusammen. Sie ist vor allem für ihre Möbel und Schmuckstücke bekannt, entwarf aber auch viele einzelne Gegenstände für den täglichen Gebrauch. Das theoretische Ziel dieser Gruppe war die Verwirklichung des Gesamtkunstwerkes. Herta Wanke am 28. Februar 1982 in Linz: (1983): Alte und Moderne Kunst. 28.186/187, 54–59. Strauss war Redakteur der Literaturzeitschriften Liebelei (1896), Wiener Rundschau (1896–1901), und Die Wage (1898–1899), bevor er für die Neue Freie Presse arbeitete. Es ist bemerkenswert, dass Altenberg Japan nicht mit dem bekannten Bild der Kirschblüte verbindet. Während hier der Apfelbaum wohl an die Stelle des Kirschbaumes tritt, erwähnt er an anderen Stellen einfach den »Blüthenzweig«, wie in dem oben zitierten Vergleich, der den japanischen Impressionismus zusammenfassen soll (1896: 34).
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Ein e Me la n g e a u s N o st a l g i e u n d A u f b r u c h | 69
»MIT HEUSCHRECKEN UND WILDEM HONIG« D e r B l a u e R ei t er, da s Ju n g e R h ei n l a nd und die Rezeption de r japanischen Kuns t Claudia Delank
Einleitung Der Japonismus ist wie die heutige japanische Popkultur ein transkulturelles Phänomen. In der klassischen Phase des Japonismus haben einzelne Künstler durch die japanische Kunst und vor allem durch die Farbholzschnitte (ukiyo-e) starke Impulse erhalten, die über eine thematische oder kompositionelle Adaption hinausgingen: Die Auseinandersetzung mit der japanischen Kunst entzündete einen kreativen Prozess und führte zur Entwicklung neuer künstlerischer Formen. Der Japonismus wurde damit nicht nur zu einem Agens bei der Entstehung der modernen Kunst, sondern er bezeugt eine kulturelle Grenzüberschreitung. Das Ergebnis ist nicht nur als ein westliches Kunstprodukt zu verstehen, sondern als etwas Neues und Eigenständiges, durch das die Grenze der westlichen Kultur überschritten wurde. Pioniere des Japonismus waren u. a. die Maler Edgar Degas (1834–1917), Claude Monet (1840–1926) und Vincent van Gogh (1853–1890), die auch selbst japanische Farbholzschnitte gesammelt hatten, deren Einfluss auf ihr Werk kunsthistorisch vielfach dokumentiert ist. Ebenso ist die Adaption der japanischen Baukunst im Werk des amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright (1869–1959) sowie des japanischen Kunsthandwerks durch den englischen Designer Christopher Dresser (1834–1904) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich erforscht. Die japanischen Farbholzschnitte haben auch einige Maler der Künstlergruppen des Blauen Reiter und des Jungen Rheinlandes beeinflusst. Seit der spektakulären Entdeckung der Japan-Sammlung von Franz Marc und der Ausstellung Die Maler des Blauen Reiter und Japan im Schloßmuseum Murnau 2011 kann die Rezeption der japanischen Kunst im Werk Franz Marcs und der Künstler des Blauen » Mit He u sc h r e c k e n u n d w i l d e m H o n i g « | 71
Reiter nachvollzogen werden, und die Quellen der japanischen Bilder im Almanach des Blauen Reiter, der 1912 von Wassily Kandinsky und Franz Marc herausgegeben worden ist, sind endlich identifizierbar.1 Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten die Japaner auf den Weltausstellungen Produkte ihrer Kunstindustrie vor, die das Image einer zu handwerklichen Höchstleistungen fähigen Nation propagierten. Dazu gehörten auch die japanischen Farbholzschnitte, die vor allem das Interesse der avantgardistischen Künstler ab den 1860er Jahren in Paris, dann ab etwa 1880 in Österreich und Deutschland weckten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging es den Malern auf ihrer Suche nach neuen Ausdrucksmitteln vor allem um drei Aspekte: Erstens um die Überwindung des vorherrschenden Naturalismus, zweitens um die Abkehr von der illusionistischen Malerei und drittens um die Loslösung von der steifen akademischen Historienmalerei. Die »Modernität« der Farbholzschnitte bestand darin, dass sich eine Reihe ihrer Kompositionselemente von der europäischen Tradition unterschieden. Ein wichtiges Merkmal war, dass auf raumillusionistische perspektivische Darstellung verzichtet wurde und stattdessen Mittel wie Überschneidung und Verkürzung zum Einsatz kamen. Charakteristisch waren außerdem eine hart aneinander gefügte Flächenaufteilung, ein an- und abschwellender Duktus der Linien zur Darstellung von Volumen und das Spannungsverhältnis zwischen bemalter und leerer Bildfläche. Hinzu kamen eine antinaturalistische Farbgebung, die Dezentralisierung der Bildgegenstände sowie die Vergitterung des Vordergrundes und angeschnittene Vordergrundobjekte (vgl. Delank 1996: 72ff.). Während die Impressionisten nach Wegen suchten, den Naturalismus und die Historienmalerei zu überwinden, nutzten die Expressionisten die Vereinfachung der künstlerischen Ausdrucksmittel nach japanischen Vorbildern, vor allem um starke Emotionen und Erlebtes auszudrücken. Dabei verhalf die japanische Kunst auch ihnen zu einem entscheidenden Schritt in ihrer Suche nach einer veränderten visuellen Sprache. Wie viele europäische Künstler sammelten auch die Maler des Blauen Reiter die leicht erschwinglichen Blätter japanischer Holzschnitte und ließen sich von ihnen inspirieren. Die Maler der Neuen Künstlervereinigung München und des Blauen Reiter – Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Alexej Jawlensky, Marianne von Werefkin, Franz Marc, August Macke und andere – beschäftigten sich vor dem ersten Weltkrieg mit japanischer Kunst. Einige von ihnen sammelten Farbholzschnitte, illustrierte Bücher und Objekte aus Japan. Neuentdeckungen der Japansammlungen einiger Künstler des Blauen Reiter ermöglichen uns heute zum ersten Mal die Gegenüberstellung der Sammlungsstücke der Maler mit ihren eigenen Werken.
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Die unterschiedliche Adaption und Modifikation dieser japanischen Kompositionsweisen durch die westlichen Maler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und des Beginns des 20. Jahrhunderts, vor allem durch die Expressionisten, hat maßgeblich zu einer zunehmenden Transkulturalität im Bereich der Kunst beigetragen. Dies bedeutet, dass sich europäische Künstler öffneten, Elemente aus der japanischen Kunst entnahmen und in ihr eigenes Kunstverständnis integrierten. Am Beispiel der Plakate von Henri de Toulouse-Lautrec (1864–1901) lässt sich die Integration japanischer Techniken und stilistischer Elemente zeigen: ToulouseLautrec hat nicht nur das Vordergrundobjekt angeschnitten wie auf den Farbholzschnitten von Utagawa (Andō) Hiroshige (1767–1858), sondern auch jegliche Schattierungen weggelassen, um Körpervolumen auszudrücken. Stattdessen hat er die lebendige japanische Linie eingesetzt, um mit dem An- und Abschwellen des Duktus der Konturlinie Körpervolumen darzustellen. Auch hat er wie auf japanischen Tuschemalereien Bildinhalte nur mit weißer Fläche und schwarzen Umrisslinien definiert, wie auf dem Plakat l‘Artisan Moderne (vgl. Farbabbildung 9). Es zeigt die Aufsicht auf eine heitere junge Frau im Bett im rüschenbesetzten Negligé, das mit schwingenden Tuschelinien ihre Lebhaftigkeit unterstreicht. Am Bett steht ein Mann im weißen Kittel mit Reflexhammer in der einen und einem hölzernen Handwerkskasten mit der Aufschrift »Niederkorn« in der anderen Hand. Im Hintergrund mimt ein Hausmädchen Entrüstung. Der »Arzt« ist der moderne Kunsthandwerker, der der jungen Frau Heilung durch moderne Kunst, Möbel und dekorative Accessoires verspricht, die zu dieser Zeit Ende des 19. Jahrhunderts vor allem aus dem japanischen Kunsthandwerk stammten. Dieses Plakat, das für Objets d‘art, meubles ensembles decoratifs mit drei Geschäftsadressen in Paris wirbt, vermittelt programmatisch seine ›Botschaft‹ mit Ausdrucksmitteln der japanischen Kunst in Verbindung mit leicht erotischen Untertönen, und wird somit zu einem transkulturell geprägten Artefakt. Was nun bedeutete das Sammeln japanischer Kunst für den künstlerischen Prozess der Maler des Blauen Reiter und des Jungen Rheinlandes? Hatte die japanische Kunst Vorbildcharakter bei der Suche nach einer verlorenen Einheit zwischen Leben und Welt? Inwieweit half ihnen die japanische Kunst im Prozess der Loslösung vom Gegenständlichen in der europäischen Malerei? Worin liegt der Beitrag zur Transkulturalität?
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V in ce n t va n Go gh a l s » j a pa ni sc he r Vater« der deuts chen E x p r e s s i o ni st e n Der Einfluss von Vincent van Gogh (1853–1890) auf die deutschen Expressionisten und besonders auf die Maler des Jungen Rheinlandes war entscheidend, vor allem auch seine Auseinandersetzung mit den japanischen ukiyo-e. Er hatte japanische Farbholzschnitte gesammelt und drei davon im Sommer 1887 in Ölfarbe kopiert. Spätestens seit der legendären Sonderbund-Ausstellung in Köln 1912, auf der 100 Arbeiten von van Gogh gezeigt worden waren, wusste man in Deutschland von der Beschäftigung des Künstlers mit japanischen Farbholzschnitten. Van Gogh übernahm zum Beispiel aus den Farbholzschnitten von Utagawa (Andō) Hiroshige und Katsushika Hokusai (1760–1849) die extreme Nahsicht von Vordergrundobjekten sowie das Prinzip des Baumes als Bildteiler. Er übersetzte japanische Bildmotive in Ölmalerei, etwa einen Eisvogel, den er in einem japanischen illustrierten Buch im Leporello-Format entdeckt hatte. Das häufig in Japan verwendete Format hatte für ihn Vorbildcharakter, und er beabsichtigte, Zeichnungen und kleine Ölskizzen in diesem Format zu schaffen, wozu es aber leider nicht mehr gekommen ist. Die Erkenntnisse und Anregungen, die van Gogh aus den japanischen Farbholzschnitten zog, setzte er in seiner Malerei um. Sie sind in seinen Briefen an seinen Bruder Theo an vielen Stellen zum Ausdruck gebracht. So schreibt er beispielsweise: »Ich beneide die Japaner um die ungemein saubere Klarheit, die alle ihre Arbeiten haben. Nie ist das langweilig, und nie scheint es zu sehr in Eile gemacht. Das ist so einfach wie Atmen, und sie machen eine Figur mit ein paar Strichen mit derselben Leichtigkeit, als wäre das genauso einfach, wie seine Weste zuzuknöpfen.« (zit. nach: Erpel 1965–1968: 171). Bereits 1901 wurden van Goghs Bilder in Berlin und 1903 in Dresden gezeigt; sie beeinflussten die expressionistischen Künstler der Brücke und des Blauen Reiters. »›Van Gogh war uns allen ein Vater!‹ Mit diesem Satz über van Gogh spricht der deutsche Expressionist Max Pechstein für eine ganze Künstlergeneration. Nicht nur in Deutschland und Österreich, in vielen Ländern Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind Künstler, die sich vorgenommen haben, die Kunst ihrer Zeit neu zu erfinden, von van Goghs eindringlichen Bildern fasziniert.« (Lloyd 2006: 11)
Auch im Rheinland waren die Bilder des Künstlers schon sehr früh zu sehen. 1903 zeigte das Krefelder Kaiser-Wilhelm-Museum in der Niederländischen Kunstausstellung drei Bilder van Goghs. 1904 bot sich in der Ausstellung Französische Im74 | Cla udia D e lan k
pressionisten eine weitere Gelegenheit, in Krefeld Gemälde und Zeichnungen van Goghs zu sehen. Seine Briefe wurden 1904/05 in der Zeitschrift Kunst und Kultur publiziert und 1906 von dem Kunsthändler Paul Cassirer in deutscher Sprache herausgegeben.
Di e Ma l e r de s B l auen Reiter und des Junge n Rheinlandes und Japan August Macke (1887–1914) und Franz Marc (1880–1916) August Macke, der zu den beiden Künstlergruppen Der Blaue Reiter und Junges Rheinland gehörte, interessierte sich schon früh für japanische Kunst. 1905 war er während seiner Ausbildung an der Düsseldorfer Kunstakademie in die Abendschule der Kunstgewerbeschule eingetreten. Er schrieb an Elisabeth, seine spätere Frau: »Akademie und hohe verstaubte Atelierfenster, Modelle, teils mit alten Gesichtern, teils mit jungen, die den Stempel des Niederganges schon auf den Augen tragen. Langeweile auf den Gesichtern der Mitschüler, Scholastik! … Ich bin in die Abendschule der Kunstgewerbeschule eingetreten. Dort erwarte ich mehr Anregung. Die ganze Schule ist mehr ins Japanische gehend in der Unterrichtsmethode, z. B. man kann in allen Techniken arbeiten, wie man will. Ton modellieren, schneiden, radieren, Holzschneiden, lithographieren, ex libris zeichnen, Goldfische stellt man in einer Glocke vor sich und zeichnet sie. Überhaupt alles mehr Leben. Das muß ich haben neben der gewiß sehr nützlichen pedantischen Zeichnerei der Akademie.«2
Die Anregungen der japanischen Kunst wurden in Deutschland Ende des 19. Jahr hunderts vor allem in den Vorbildsammlungen der Kunstgewerbemuseen aufgegriffen, d. h. die japanische Kunst sollte die Bemühungen um einen neuen Stil fördern und geschmacksbildend auf das lokale Kunsthandwerk wirken. Wie von Justus Brinckmann, dem ersten Direktor des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe, wurde auch in Düsseldorf japanisches Kunsthandwerk vor allem durch die Privatsammlung des Düsseldorfer Malers Georg Oeder, einer der ersten Privatsammler japanischer Kunst, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und in das Lehrprogramm der Kunstgewerbeschule aufgenommen, um die »Wirkkraft der japanischen Kunst« zu vermitteln.
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Das Zeichnen nach lebendigen Formen, Pflanzen und Tieren gab seinem Studium neuen Auftrieb; im Vergleich zum öden und müden Akademiebetrieb war ihm das Arbeiten in der Kunstgewerbeschule »eine Erlösung«. Die Anregungen der japanischen Kunst hatten für ihn als jungen Maler eine befreiende, belebende Wirkung, die ihn sehr zum Malen anregte. Damit war die Rolle der japanischen Kunst als ein Medium, das seinen kreativen Prozess anregte, schon früh in seinem Schaffen etabliert. Auch scheint er bereits 1905 japanische Holzschnitte besessen zu haben, schreibt er doch: »Mir ist einer von meinen japanischen Holzschnitten lieber wie die ganzen Basler Böcklins.«3 Er studiert die französischen Impressionisten zuerst nach Photographien, reist dann im Juni 1907 aber auch nach Paris, um sie in natura betrachten zu können. Er liest Manet und sein Kreis von Julius MaierGraefe und schreibt begeistert: »Manet malt Frauenhaut weiß schimmernd, voll Leben … Holbein, Velasquez, Goya, Manet, Monet, Japaner, Whistler, Turner, Liebermann, Zuluoga. Das sind Maler … Endlich glaube ich, bin ich auf dem Wege.«4 Die japanische Kunst wird zum festen Bestandteil der Reihe seiner Malervorbilder, unter denen Manet für ihn der wichtigste Vertreter ist. August Macke schreibt zu Manets Olympia, die ab Januar 1907 im Louvre hing: »Ist dieses Bild nicht herrlich? Ich liebe es von allem Gesehenen bis jetzt fast am meisten«.5 Mit diesem Brief schickte er das kleine Buch Der japanische Farbenholzschnitt (Berlin o. J.) von Friedrich Perzynski an seine spätere Frau Elisabeth. In seinem Skizzenbuch Nr. 8 finden sich auch einige Nachzeichnungen nach japanischen Farbholzschnitten aus diesem Buch. Als Geschenk von Bernhard Koehler, Elisabeth Gerhardts Onkel, erhielt er die 15 Bände umfassenden Manga – die Skizzenbücher von Hokusai, die dieser ab 1813 als Musterbücher für seine Schüler herausgeben hatte und die alle Bereiche des japanischen Lebens umfassen. »Dann sahen wir die Skizzenbücher von ihm, die alle in Holz geschnitten waren, Hunderte von kleinen köstlichen Bewegungen dieser lieblichen Frauen, alles, alles … Ich hab bis nachts drei Uhr darin herumgeblättert und konnte dann noch nicht einschlafen vor Aufregung. Weißt Du, die sind so eigenartig, so stilvollendet und so wahnsinnig vollsitzend von Leben … Aber eine Lust hab ich jetzt zum Arbeiten. Es klappt nur so.«6
August Macke eröffnete sich so eine ganz neue Welt; er studierte sie mit Begeisterung und entdeckte die »Japaner« – wie er sie nannte – für seine künstlerische Arbeit: »Wenn man von den Japanern lernt, so braucht man doch keine Japaneraugen an Europäergesichter zu malen. Sind die Japaner nicht wundervoll? Sieh zum Beispiel eines von den
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1 August Macke (1906): Japanstudien. Bleistift auf Papier, 21 x 28,5 cm. Kunstmuseum Bonn.
Japanern an. Der Stil ist so überzeugend, dass man sich mit Grauen von den modellierten und lackierten Oelgesichtern abwendet.«7
Seit 1905 zeigen sich in den Skizzenbüchern, Briefen und Werken August Mackes Spuren seiner Rezeption der japanischen Kunst. So zum Beispiel in den Japanskizzen von 1906, in denen er mit Bleistift Szenen aus den Manga und anderen illustrierten Büchern von Hokusai abgezeichnet hat. Eine Szene zeigt zwei Japaner, die gegen einen Sturm ankämpfen (vgl. Abb. 1). Macke versucht hier den Realismus der japanischen Vorlage zu übernehmen, ohne auf die herkömmlichen Mittel der europäischen Zeichnung zurückzugreifen. In der Porträtstudie Elisabeth Gerhardt (aus dem Gedächtnis) von 1907 zitiert er aus einem Farbholzschnitt von Andō Hiroshige mit dem Titel Seba, der zur 1837 erschienenen Serie Die 69 Stationen des Kisokaidō gehört: Er übernimmt den Baum, das Boot und den Vollmond. Franz Marc, der 1904 als junger Maler in München mit japanischer Kunst und antiquarischen Büchern handelte, erhielt 1910 von dem bis dahin wenig bekannten Maler August Macke einen Besuch in seinem Münchner Atelier. Macke hatte sich von Bonn aus für ein Jahr mit seiner Frau Elisabeth am Tegernsee niedergelassen. » Mit He u sc h r e c k e n u n d w i l d e m H o n i g « | 77
Bei einem Ausflug nach München hatte er Lithographien von Marc in einer Galerie gesehen und ihn am gleichen Tag in seinem Atelier aufgesucht. Diese Begegnung war der Beginn der lebenslangen Freundschaft zwischen den beiden Malern bis zu ihrem frühen Tod im Ersten Weltkrieg. Ab 1910 unterhielten sie einen regen Briefwechsel, in dem sich ihre gemeinsame Vorliebe für japanische Kunst, Kunstgewerbe und vor allem erotische Holzschnitte spiegelt. So schrieb beispielsweise am 9. Dezember 1910 Macke an Marc: »Mich beschäftigen augenblicklich die Gedanken an japanische erotische Blätter«; und am 2. Weihnachtstag 1910 schrieb er: »Auch das Studium der Ausdrucksmittel empfiehlt er [Matisse] sehr richtig, deshalb sprechen die Japaner so gut mit ihren Pinseln, weil sie auch so schön damit schreiben können […]«. Immer wieder spiegelte sich in Marcs und Mackes Briefen, wie wichtig ihnen die japanische Kunst ist. Auf ihrer Suche nach einer Neuorientierung, ja einer regelrechten Wiedererschaffung der Kunst war die Orientierung an japanischer Kunst für Marc durchaus ambivalent. Einerseits ordnet er Japan den Kulturen zu, die wie die europäische Renaissance »schon eine tausendjährige Bahn« durchlaufen haben und daher für die »Wiedergeburt unseres Kunstfühlens« ausscheiden. Andererseits scheint er gerade in den Holzschnitten »die einfachen Sachen« zu finden, die er im »kalten Frührot künstlerischer Intelligenz« sucht: »Ich finde es so selbstverständlich, dass wir in diesem kalten Frührot künstlerischer Intelligenz die Wiedergeburt unseres Kunstfühlens suchen und nicht in Kulturen, die schon eine tausendjährige Geschichte durchlaufen haben, wie die Japaner oder die italienische Renaissance.«8
Marc schrieb im Sinne eines Neuanfangs sein Programm fest: »Wir müssen tapfer fast auf alles verzichten, was uns als guten Mitteleuropäern bisher teuer und unentbehrlich war; unsere Ideen und Ideale müssen ein härenes Gewand tragen, wir müssen sie mit Heuschrecken und wildem Honig nähren und nicht mit Historie, um aus der Müdigkeit des europäischen Ungeschmacks herauszukommen.«9
In den Holzschnittbüchern der Sammlung von Franz Marc sind es genau diese »Heuschrecken« (und andere Tiere) die »einfachen Sachen« und die erotischen shunga (erotische Farbholzschnitte, übers. »Frühlingsbilder«), »der wilde Honig«, die ihm halfen, dieses Ziel in seiner eigenen Kunst zu verwirklichen. Die japanischen ukiyo-e und shunga halfen ihnen, »aus der Müdigkeit unseres europäischen Ungeschmacks« herauszukommen. Marc ist zum Beispiel sehr inspiriert von der Kopf- und Körperhaltung des »Kirin« aus den 100 Ansichten des Berges Fuji 78 | Cla udia D e lan k
2 Katsushika Hokusai: Kirin, Fugaku hyakkei (»100 Ansichten des Berges Fuji«), 3. Band von 3 Bänden, Meiji 8 (1875). Schloßm useum Murnau, Inv. 11460b.
3 Franz Marc: Hirsch und Hindin, Bleistift, 20 x 12,2, aus dem Skizzenbuch XVI, S. 19. Schloßmuseum Murnau, Stiftung Bünemann, Bst. 9762.
von Hokusai, übernimmt sie sowie die weiße Fläche, um Körpervolumen auszudrücken in seiner Bleistiftzeichnung Hirsch und Hindin von 1909/10 und erzielt so einen äußerst lebendigen Ausdruck der Tiere (vgl. Abb. 2 und Abb. 3). Der Almanach des Blauen Reiter ist von Beginn an auf eine Zusammenfügung von Beiträgen ihrer eigenen Kunst, der Volkskunst und außereuropäischen Kunst angelegt. In der zweiten Ausgabe des Almanachs des Blauen Reiter 1914 (die erste Auflage erschien 1912) formuliert Franz Marc das Konzept, das die Künstler entwickelten, um aus dem Zwang der kulturellen Konventionen auszubrechen: »Wir gingen mit der Wünschelrute durch die Kunst der Zeiten und der Gegenwart: Wir zeigten nur das Lebendige, das vom Zwang der Konvention unberührte. Allem, » Mit He u sc h r e c k e n u n d w i l d e m H o n i g « | 79
was in der Kunst aus sich selbst geboren wird, aus sich lebt und nicht auf Krücken der Gewohnheit geht, dem gilt unsere hingebungsvolle Liebe.« (Kandinsky/Marc 1914). Ein im Almanach abgebildetes Bild von Kandinsky (vgl. Farbabbildung 10) deutet Marc als erstes Anzeichen der »kommenden neuen Epoche«, als »Feuerzeichen von Wegsuchenden«. Kandinskys Pferd und Reiter sind mit nur wenigen Strichen gemalt; die gestreckten Beine des Pferdes im Galopp, die kauernde Haltung des Reiters und einige angedeutete Tannen, die im Fluge passiert werden, zeugen von der mit abstrakten Mitteln erzeugten großen Bewegung. Wenige Farben deuten die vorbei fliegende Landschaft an. Dieses Bild besteht zur Hälfte aus unbemalter weißer Fläche, die aber genauso wichtig erscheint wie die bemalte. Die Komposition des Bildes lebt von diesem Spannungsverhältnis, das Kandinsky in der japanischen Tuschemalerei und den Farbholzschnitten studiert hat. Der Almanach war von vorneherein unter Mitwirkung verschiedener Künstler auf Bildinhalte der Kunst verschiedener Völker angelegt. Bei der Selektion spielten v.a. Authentizität und Ursprünglichkeit der Kunstwerke eine Rolle, um einen Weg aufzuzeigen, der aus der Sterilität des noch vorherrschenden Akademismus und Historismus herausführen sollte. In diesem Zusammenhang und unter dem Einfluss der Künstlerfreundschaft mit Franz Marc malt August Macke 1911 das Bild Sitzender Akt mit Kissen (vgl. Farbabbildung 11) ganz im japanischen Stil. Modell ist seine Frau Elisabeth; die Haare sind hochgesteckt, der Kopf nach vorne geneigt, was den Blick wie bei den bijin-Portraits (»Portraits schöner Frauen«) auf die kunstvolle Hochsteckfrisur und den langen »schönen Nacken« (onaji) lenkt. Der Körper ist wie auf den japanischen Holzschnitten und illustrierten Büchern von einer schwarzen, lebendigen Umrisslinie mit an- und abschwellendem, lebendigem Duktus eingefasst. Ähnlich wie die Olympia von Manet strahlt der nackte Körper ein helles Licht aus, das vom Betrachter selbst zu kommen scheint. Die umher liegenden Kissen und der Teppich bilden ein Flächenmuster, das den Raum definiert. Bereits vor dem Sitzenden Akt mit Kissen hatte Macke stehende und sitzende Akte in Vorder- und Rückenansicht gemalt (vgl. zum Beispiel Akt mit Korallenkette, 1910, und Nacktes Mädchen mit Blume, 1911). Diese Aktdarstellungen sind zumeist stark durch Schattierungen modelliert, weisen wenig Flächigkeit auf, und die Umrisslinie ist nicht so prononciert als eigenständige lebendige Linie »a la japonaise« gezogen. Als Anregung zu dieser Bildidee des Rückenaktes wird eine Terrakotta-Figur von Aristide Maillol (1861–1944) angeführt, die in der Zeitschrift Kunst und Künstler in einem Artikel von Maurice Denis über Maillol abgebildet war und die Macke in seinem Skizzenbuch 21 (S. 45) abgezeichnet hat. Macke hat die Bildidee 80 | Cla udia D e lan k
von Maillol übernommen, sich aber vor allem von den lebendigen Umrisslinien in der japanischen Tuschmalerei inspirieren lassen. Damit klingen einerseits Maillols »Symmetrie des Torso und die Architektur der Sinne« (Denis 1906: 474), wie sie Maurice Denis beschreibt, in Mackes Bild nach, andererseits gelingt Macke eine Steigerung durch die lebendige japanische Umrisslinie. Die maillolsche Komposition des Fleisches, die lebendige japanische Linie und schließlich das Licht, das wie auf Manets Olympia vom Betrachter ausgehend den Akt beleuchtet – alles zusammen bewirkt die anziehende Sinnlichkeit des Rückenaktes. Macke hat auch japanische Kompositionsprinzipien wie den Einsatz des Pfostens als Bildteiler in seine Malerei integriert, sowie die Vergitterung des Vordergrundes, die er japanischen Farbholzschnitten entnommen hatte (vgl. Prange 1999: 181–202). Für den Kunstverein Jena entwarf Macke 1914 ein Plakat mit einem stilisierten Kranich, den er nach dem Dekor eines Kranichs auf einer japanischen Teedose gestaltete.10
Heinrich Nauen Heinrich Nauen (1880–1940) gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des Jungen Rheinlandes und stand über seine Freundschaft mit August Macke auch dem Blauen Reiter sehr nahe. Das Bild Der Besuch von 1913 aus dem Drove-Zyklus trägt deutliche Züge des Japonismus. Auch Nauen hat van Goghs Malerei stark beeinflusst; so schreibt er über ihn: »Mir war, als nähme mich ein gleichen Wegs daher gehender Freund bei der Hand und zöge mich eine Strecke mit.« (Suermondt 1922: 4, zit. nach Ewers-Schulz 2003: 47). 1905 hatte er im Salon des Independents 45 Arbeiten von van Gogh studiert. Als er Anfang 1906 nach Berlin übersiedelte und der »Berliner Sezession« beitrat, wurde ihm seine Anlehnung an van Gogh als »billiges Plagiieren« (ebd.) angekreidet. Im Rückblick sagte er dazu: »Ich habe Momente gehabt, wo ich van Gogh hasste, weil ich fühlte, dass er mein Wesen erdrückte.« (ebd.). Eine weitere wichtige Anregung in Nauens Malerei ist Henri Matisse. In Heinrich Nauens Der Besuch von 1913 zeigt sich der Einfluss von Henri Matisses Interieurbild La famille du peintre von 1911, das dessen russischer Mäzen Sergej Schtschukin in Auftrag gegeben hatte (vgl. Labrusse 2005: 290). Auf Matisses Bild ist rechts Marguerite, die Tochter des Malers, in einem langen schwarzen Kleid dargestellt. Nauen ließ sich durch diese Figur zu der schwarz gekleideten Frauenfigur in seinem Bild Der Besuch inspirieren. Er setzte sie nicht an den Rand, sondern in die Mitte des Bildes und malte sie als elegante Dame, die gerade im Begriff ist, sich die Handschuhe abzustreifen (vgl. Farbabbildung 12). Diese Figur – eben der » Mit He u sc h r e c k e n u n d w i l d e m H o n i g « | 81
Besuch – fungiert gleichsam als Mittelachse, um die herum die farbigen Flächenmuster und Personen angeordnet sind. Das gesamte Bild ist mit versetzten, gemusterten Farbflächen gefüllt, ohne zentralperspektivische Raumaufteilung, ganz so wie man es von japanischen Farbholzschnitten her kennt. Die dem Gegenstand oder den Figuren zukommenden Flächen und die Fläche, die zwischen den Gegenständen liegt, erhalten gleiches formales und farbliches Gewicht. Das von Matisse häufig verwendete Prinzip, eigene Werke in seinen Bildern als dekorative Fläche zu zitieren, findet bei Nauen eine Entsprechung durch die Einfügung eines japanischen Bildmotivs, das er den japanischen Farbholzschnitten entlehnt hat. Am linken unteren Rand des Bildes ist ein Kaminschirm mit blauem Hintergrund dargestellt, der eine japanische Szene zeigt, die für eine weitere Dynamik des gesamten Bildes sorgt: Eine hockende Japanerin in rot gemustertem Kimono mit grünem Rock stillt aus prallen Brüsten einen Knaben, der mit einer Hand ihre Brustwarze packt. Die Mutter steckt gerade ihre Haare hoch und das Kind wird von einem Tragetuch gehalten, während ihr eine weitere Japanerin im gelben Kimono eine rote Blüte reicht, nach der der Knabe mit der anderen Hand greift. Die Frau schmückt sich offensichtlich für ein Fest. Als direkte Vorlage von Nauens japanischer Szene habe ich im Bestand der japanischen Holzschnittsammlung des Kaiser-Wilhelm-Museums Krefeld einen Farbholzschnitt entdeckt: Eine Detailszene aus einem Triptychon zum Thema Seidengewinnung des Holzschnittmeisters Sadatora Yonosuke (tätig um 1825) aus Osaka (vgl. Farbabbildung 13). Auch hier stillt eine Japanerin einen Knaben, während sie Kokons sortiert. Da Nauen mit Friedrich Deneken, dem ersten Direktor des Krefelder Kaiser-Wilhelm-Museums, bekannt war, ist es sogar gut möglich, dass er Farbholzschnitte ausleihen konnte, so wie es auch Praxis im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg war. Eine Sammlung japanischer Farbholzschnitte hatte Deneken in den 1890er Jahren aufgrund ihrer Vorbildfunktion angelegt. Wie Justus Brinckmann, der Direktor des Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, dessen Assistent Deneken sieben Jahre lang war, und Georg Oeder, der Düsseldorfer Maler und Privatsammler, machte auch Friedrich Deneken aus kulturpolitischen Gründen japanisches Kunsthandwerk einer breiten Öffentlichkeit zugänglich (vgl. Delank 2010: 47). Diese deutschen Protagonisten der Vermittlung japanischer Kunst haben Ende des 19. Jahrhunderts besonders die geschmacksbildende Funktion der japanischen Kunst erkannt, die sie zur Weiterentwicklung und Förderung des heimischen Kunsthandwerks einsetzten.
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Walter Ophey Im Werk des in Eupen geborenen rheinischen Malers Walter Ophey (1882–1930) manifestiert sich exemplarisch die Kontinuität der rheinischen Kunst zwischen dem »Sonderbund« und dem »Jungen Rheinland«. Im Herbst 1911 erhielt Walter Ophey durch einen einmonatigen Aufenthalt in Paris entscheidende Impulse für die Herausarbeitung einer eigenen Formensprache in der Malerei und er entwickelte sein ganz eigenes Verfahren der farbigen Kreidelinie. Ophey hatte bereits durch Georg Oeder japanische Kunst kennengelernt, entweder in der Villa Oeder selbst oder auf der Deutsch-Nationalen Kunstausstellung in Düsseldorf 1902. Während seines Parisaufenthalts erwarb er japanische Farbholzschnitte, über die er seiner Verlobten Bernadine Bornemann berichtete: »Du weißt doch, dass ich japanische Holzschnitte gekauft habe, es sind Drucke, die vor 60 Jahren von den alten Platten genommen wurden, [die] ich so für 25 Franc gekauft. Für Düsseldorf, der armen Stadt, werden sie mir große Dinge erzählen. Ich sauge von den Japanern wie ein kräftiges Kind an der Brust der Mutter, ohne Rücksicht; sie geben mir Freiheit, ich fange jetzt an zu wagen, meine Blumenstücke sind auf das äußerste gespannt.«11
Die rund zehn japanischen Farbholzschnitte aus Opheys Sammlung stammen vorrangig von japanischen Holzschnittmeistern aus der Utagawa-Schule (vgl. Delank 1996: 214 ff.). Es ging ihm nicht darum, sich durch die Motive anregen zu lassen, sondern sie gaben ihm Freiheit, halfen ihm, ganz neue Ausdrucksformen für die Eindrücke der Metropole zu finden. Am 29. Oktober 1911 schrieb er aus Paris: »Ich hoffe, dass mir in den nächsten Tagen Zeichnungen gelingen, die die Großstadt besser herausbringen; jetzt blättere ich die Dinge noch einmal durch und bin sehr enttäuscht, eines allerdings mit Anglern, das haben die Japaner nicht feiner gemacht.«12 Ophey muss die mit »Paris 1911« datierte Kreidezeichnung Angler an der Seine gemeint haben. Ihm ging es um den Ausdruck der »lebendigen Linie« und ihr Verhältnis zum Raum, das heißt zur weißen Bildfläche. Neben der Fähigkeit, mit wenigen Strichen eine Szene wie die Angler an der Seine wiederzugeben, war ihm auch gleichzeitig ein spannungsvolles Verhältnis zwischen bemalter und unbemalter Bildfläche wichtig, das auf Japanisch mit dem Begriff ma (übersetzt »Dazwischen«) bezeichnet wird. Dafür erwies sich das Studium japanischer Farbholzschnitte und der Tuschemalerei als hilfreich, um den Weg der Abbreviatur und Reduktion auf das Wesentliche zu finden. 1912 begann er die Linienzeichnung farbig umzusetzen, von 1914 an ging er dazu über, die farbigen Kreidelinien nach einer Seite hin zu verwischen und dadurch die Umrisslinien der Bildelemente zu schattieren, um so einen Eindruck von » Mit He u sc h r e c k e n u n d w i l d e m H o n i g « | 83
Plastizität zu erzeugen. Vorbilder für solche Linien hatte er in der chinesischen und japanischen Tuschemalerei und den Farbholzschnitten gefunden, die zu einer Seite hin laviert wurden, um somit Volumen und Bildtiefe zu erreichen. In Opheys Nachlass befindet sich die Publikation Japanische Kunst (Berlin o. J.) von Lawrence Binyon, in der mehrere Beispiele von Landschaftsmalerei der Kanō-Schule aus dem 17. und 18. Jahrhundert abgebildet sind, beispielsweise die Querrolle Gelehrte auf einem See im Mondschein von Kanō Tsunenobu (1636–1713). Vergleicht man Opheys farbige Kreidezeichnungen (vgl. Farbabbildung 14) mit diesem Ausschnitt der Bildrolle, so sind die Parallelen sehr augenfällig: In der japanischen Tuschzeichnung sind die scharfen Umrisslinien, die die Berge im Hintergrund andeuten, zur Binnenseite hin laviert, eine Technik, die auch Ophey für seine farbigen Tuschelinien zum Beispiel in der Zeichnung Vulkan übernommen hat. Die Reduktion von Linie und Form und die einseitige Schattierung der Linie hat Ophey an der japanischen Landschaftsmalerei und an den Farbholzschnitten geschult und damit eine eigene Formensprache mit einem Spannungsverhältnis zur leer gelassenen Flächen als eigenständige künstlerische Leistung entwickelt.
Otto Pankok Der Künstler Otto Pankok (1893–1966) stieß 1920 mit Gert Wollheim (1894– 1974) über den »Aktivistenbund« und die Galeristin Johanna Ey zur Künstlervereinigung Das Junge Rheinland. In diese Zeit der Neuorientierung fällt auch seine Beschäftigung mit japanischen und chinesischen Farbholzschnitten, die er wahrscheinlich schon vor dem Ersten Weltkrieg und während seines Studiums an der von Henry van de Velde (1863–1957) geleiteten Weimarer Kunstgewerbeschule oder während seines Aufenthaltes in Paris 1914 kennen gelernt hatte. Seit Anfang der 1920er Jahre legte er sich eine Holzschnittsammlung zu, die er möglicherweise im Düsseldorfer Kunsthandel erworben oder gegen eigene Bilder getauscht hatte. Insgesamt sind es über 120 Blätter: Japanische Farbholzschnitte, chinesische Malereien und Malereifragmente, sowie Blätter aus den chinesischen Mallehrbüchern Zehnbambushalle und Blüten aus dem Senfkorngarten, beide erstmals im 17. Jahrhundert in Nanking erschienen und in ihren Nachdrucken aus dem 18. und 19. Jahrhundert.13 1922 schuf Pankok eine Radierung, in der er spiegelverkehrt den Farbholzschnitt Hakone kosui von Andō Hiroshige aus der Serie »53 Stationen des Tokaido« (Tokaido gojusan tsugi, 1833) in Schwarz-Weiß übertrug (vgl. Abb. 4). Das Format seiner Radierung ist quadratisch und im Vergleich zur japanischen Vorlage in der Breite verkürzt, wodurch der Hauptfels noch monumentaler aufzuragen 84 | Cla udia D e lan k
4 Otto Pankok (1922): Nach Hiroshige. Radierung, 23 x 25 cm. Otto Pankok Museum, Hünxe.
scheint. Er hat die Schriftzeichen der Signatur Hiroshiges stilisiert am oberen rechten Rand der Radierung wiedergegeben und »Nach Hiroshige« vermerkt. In Pankoks Werk ist diese Radierung die einzige direkte Übernahme einer japanischen Vorlage. Das Vorbildhafte der »Japaner« unterstrich Pankok 1922 in seiner programmatischen Aprilpredigt: »Die Sache muss einfacher werden: Ein Gaul der Japaner, ein Kopf aus Altdorfers Schlacht mit 4000 Menschen, eine Hand aus Dürers Apokalypse usw. genügt. Und von diesen nicht tausend Eigenheiten und Eigenschaften, sondern eine Aussage, und diese in Beton und Granit. Ich möchte ausdrücken, dass diese Zeit eindeutig zu sein hat.« (zit. nach Remmert/Barth 1989: 29). In dieser Aufforderung zur Vereinfachung der bildnerischen Mittel weist er der japanischen Kunst die Rolle der Vorreiterin zu.
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Paul Klee Paul Klee hatte sich schon vor seinem Kontakt mit den Malern des Blauen Reiter mit der japanischen Kunst befasst. Am 18. April 1902 schrieb er in sein Tagebuch über die japanische Theatergruppe um Sada Yakko, die er in Florenz gesehen hatte: »Sada Yakko tritt gar nicht etwa als Diva aus ihrem Ensemble heraus: sondern es wirkt der ganze Stil der Truppe phaenomenal […]. Stossweise entwickeln sich die Posen und bleiben stets auf Augenblicke dauerhaft. […] Denn aller Stil basiert hier direkt auf der Realität. Z. B. der Tod […] durch den Dolch und wie er zuletzt im Kampf noch die Beine schüttelt!« (Paul-Klee-Stiftung 1988: 137). Die Aufführung von Sada Yakko und ihrer Truppe ermutigte ihn, die Karikatur als Ausdrucksmittel zu entfalten (vgl. Pfeiffer-Belli 1964: 47). Im Jahr 1900 ließ sich Klee vom schmalen Hochformat japanischer Pfostenbilder (hashira-e) formal zu fünf paneelartigen Ölbildern der Aare-Landschaft anregen (vgl. Farbabbildung 6). In den fünf Paneelen sind die Elemente der Landschaft in starker Aufsicht dargestellt – Wiesen, Hügel, Bäume, Flusslauf und Wege – jeweils vertikal übereinandergeschichtet. Sie bilden zusammen einen Rhythmus aus Formen und Farbflächen, der sich – noch nicht – von den Landschaftselementen löst. Zwischen 1906 und 1910 entstanden Aquarelle und Zeichnungen von Landschaften im Kanton Bern, die zeigen, dass er mit dem japanischen Prinzip ma – dem Spannungsverhältnis zwischen leerer und bemalter Fläche – durchaus vertraut war; die unbemalte Bildfläche, sei es als Wasser oder Himmel, hat nach diesem Prinzip ein genauso großes Gewicht wie die bemalte. In diesem Zeitraum schuf Klee auch Zeichnungen, die von Hokusais Manga angeregt waren, wie die Katzen- und Aktstudien (vgl. Kornfeld 2006: 59, 67, 87, 89, 95). Durch seinen Freund Johannes Itten, der wie er selbst Schweizer war, lernte Klee in seiner Zeit am Bauhaus auch die chinesische Tuschemalerei und Kalligraphie kennen. Itten hatte 1921 in der von Bruno Adler herausgegebenen Publikation Utopia – Dokumente der Wirklichkeit ein Bild des chinesischen Mönchsmalers Mu-ch’i abgebildet, das er wiederum der Publikation von Ernest Fenollosa Ursprung und Geschichte der chinesischen und japanischen Kunst (Bd. 2, Leipzig 1913) entnommen hatte (vgl. Delank 1996: 155ff.). Itten hatte sich selbst mit japanischer Tuschemalerei auseinandergesetzt, angeregt durch eine große Ausstellung chinesischer Kunst 1929 in Berlin. Er setzte diese praktischen Übungen an seiner eigenen Itten-Schule zusammen mit dem Maler Takehisa Yumeji (1884–1934) fort (vgl. Delank 1999: 285ff.). Bereits in Klees Zeit als Bauhauslehrer (1920–31) hatte er seine Auseinandersetzung mit der Schriftkunst Japans und Chinas dokumentiert: »Das Kalligramm gehört zum medialen Niederschreiben, Zeichnung nach Innen, zur Manifestierung 86 | Cla udia D e lan k
der typischen Eigenart der Handschrift.« (Klee 1971: 455). Klees Äußerungen reflektieren die Tatsache, dass sich das Schreiben als Kunstform und ältere Schwesterkunst der Tuschemalerei herausgebildet hatte, und deuten an, dass es in der chinesischen Schriftkunst weniger um Schönheit als vielmehr um Expressivität geht. Als er dann am 1. Juli 1931 seine Professur an der Kunstakademie Düsseldorf angetreten hatte, hat er sich in seinen Vorlesungen auch über die Grundprinzipien der japanischen und chinesischen Schriftkunst geäußert. Diese Bemerkungen, die von einer seiner Studentinnen in Düsseldorf stenografiert wurden (vgl. Petitpierre 1957: 14), beinhalten zum Beispiel, dass die Schriftzeichen ursprünglich als Piktogramme bildhaft waren und dass dieser »magische« Ursprung zur Schrift als Kunstform geführt hat. In der japanischen wie in der chinesischen Tuschemalerei und Schriftkunst gelten Pinseltechnik und Pinselduktus – mit an- und abschwellender Linie – als unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers. Klee war bekannt, dass die Technik des Schreibens in China und Japan so flüssig erlernt werden muss, dass sie sich wie von selbst, ohne bewusstes Steuern des Willens, vollzieht und daher jahrelanges Üben erforderlich ist, bevor persönlicher Ausdruck eine Rolle spielen kann. Seit dieser Zeit sammelte sich bei ihm eine ganze Reihe von Büchern über die Kunst Ostasiens an, die er schon sehr früh durch seine Freundschaft zu dem Verleger Piper in München erhielt, zum Beispiel Julius Kurths Bücher über den japanischen Farbholzschnitt oder die 1914 von Richard Wilhelm herausgegebenen chinesischen Volksmärchen, ferner die von seiner Familie zu den Geburtstagen geschenkten Bücher über buddhistische Plastik in Japan. Während seiner Lehrtätigkeit an der Kunstakademie Düsseldorf, die er am 1. Juli 1931 aufgenommen hatte, äußerte er sich vor seinen Studenten zum Thema der japanischen und chinesischen Schriftkunst wie folgt: »Die Malerei gilt ja nach dem Vorbilde Chinas nicht als Technik, als Handwerk, sondern ist durchaus der Kalligraphie gleichgestellt. Das Wesen der Kalligraphie besteht nach chinesischen Begriffen nicht etwa in der Sauberkeit und Gleichmäßigkeit der Handschrift, die leicht zur Erstarrung führen kann, sondern wohl darin, was man auszudrücken hat, in möglicher Vollkommenheit, aber mit dem geringsten Aufwand an Mitteln darstellt. […] Je mehr unsere Handschrift fähig ist zu schreiben, umso sensibler sind die Zeichen.« (Petitpierre 1957: 14)
In seinem Spätwerk von 1938 bis 1940 lassen sich deutliche Spuren der Rezeption der japanischen Linie mit an- und abschwellendem Duktus in Anlehnung an Strichtypen der Schriftzeichen erkennen (vgl. Abb. 5 und Abb. 6). Das PliniusZitat »Kein Tag ohne Linie«15 hat Paul Klee der Zeichnung Süchtig (1938) als » Mit He u sc h r e c k e n u n d w i l d e m H o n i g « | 87
5 Wen Cheng-ming (o. J.): Autobio graphischer Text, Ausschnitt. National Palace Museum, Taipei.
6 Paul Klee (1938): Vorsicht Schlangen! Kleisterfarbe und Pastell auf Papier und Karton, 20,8 x 29,7 cm. Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee.
Untertitel mitgegeben. In den letzten zwei Jahren vor seinem Tod setzte er das Gebot »nulla dies sine linea« durch eine tagebuchartige Arbeitsweise um, um dem näher rückenden Tod entgegenzuarbeiten.14 Dazu gehörte auch die »lebendige Linie«, deren Duktus er an der japanischen und chinesischen Schriftkunst geschult hatte (vgl. Müller-Yao 1985: 70). Klees Rezeption der japanischen Ausdruckswelt führt ihn nicht zu direkten Übernahmen der Formen, sondern zur Entwicklung eigener Zeichen für innere Zustände und Befindlichkeiten. In seinem Spätwerk werden vor allem zwei Arten von Zeichen wichtig: Einerseits die des lebendigen bewegten Duktus einer raumplastischen Linie und andererseits Zeichen oder Ideogramme, die Klee frei erfand und bei denen es nicht um das Eigenleben der Linie, sondern um das Zeichen in einer Gesamtheit geht.
Z u s am m e nf a ssung Die japanische Kunst eröffnete den Malern des Blauen Reiters und des rheinischen Expressionismus eine neue Sehweise. So unterschiedlich die Ausgangspositionen und die Wege der Maler auch waren, so konnte die Beschäftigung mit japanischer 88 | Cla udia D e lan k
Kunst doch ihre Suche nach Expressivität und Vereinfachung des künstlerischen Ausdrucks bekräftigen. Wie schon die Impressionisten und Postimpressionisten waren auch die Maler des Blauen Reiter und die rheinischen Expressionisten von der japanischen Grafik und Malerei fasziniert – besonders von der dekorativen Flächigkeit und dem Verzicht auf Raumtiefe und Körperschattierungen. Diese Gestaltungsmittel entsprachen ihrem Anliegen, statt eines illusionistischen Abbildes das »Wesen« der Dinge und die durch sie hervorgerufenen Empfindungen darzustellen und dadurch die Malerei zu revolutionieren. Sie setzten eine durch die japanischen Farbholzschnitte gewonnene Erkenntnis um in eine eigene und – im Falle Kandinskys abstrakte – Formensprache und einen neuen malerischen Ausdruck. Sie erkannten anhand der japanischen – und auch der chinesischen – Kunst eine Naturauffassung, die nicht den Menschen als das Maß aller Dinge in den Mittelpunkt setzt, und übertrugen diese auf ihre Gestaltung. Die Rezeption der japanischen Kunst ermöglichte ihnen den entscheidenden Sprung in der Entwicklung einer eigenen visuellen Sprache. Ohne die japanische Kunst, insbesondere die ukiyo-e, wäre die westliche Moderne gar nicht denkbar.
Anm erkungen 1 Vgl. hierzu Delank 2011a: 11–18, Delank 2011b: 89–95, Delank 2011c: 96–102. 2 Brief von August Macke an Elisabeth, Ende September/Anfang Oktober 1905. Frese/ Güse 1987: 254. 3 Macke spricht hier die Werke des Schweizer Symbolisten Arnold Böcklin (1827–1901) an; Brief von Macke an Elisabeth, Pfingstsonntag 19.05.1907, in: Frese/Güse 1987: 74. 4 Brief von Macke an Elisabeth, Pfingstsonntag 19. Mai 1907, Frese/Güse 1987: 74. 5 Brief von Macke an Elisabeth, 18. Juni 1907, ebd. 128. 6 Brief von August Macke an Elisabeth, Ende September/Anfang Oktober 1905, ebd.: 254. 7 Brief von August Macke an Elisabeth vom 25. Juli 1907, ebd.: 132. 8 Brief von Franz Mark an August Macke vom 14.1.1911, Macke 1964: 39. 9 Brief von Franz Marc an August Macke vom 14.1.1911, Macke 1964: 40. 10 Der Kranich, auf Japanisch tsuru, ist ein Symbol für langes Leben. Mackes Entwurf ist abgebildet in: Wahl 1988: Abb. 1 und Delank 1996: 123. 11 Ophey an Bernadine Bornemann, 29.10.1911, zit. nach Delank 1996: 124. 12 Ophey an Bernadine Bornemann, 29.10.1911, zit. nach Delank 1996: 124. 13 Vgl. Delank 1996: 217 ff. In Anhang 3 dieses Werkes findet sich eine Aufstellung der japanischen und chinesischen Farbholzschnitte der Sammlung Otto Pankok im Archiv des Otto-Pankok-Museums in Hünxe-Drevenack.
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14 Vgl. Paul Klee. Kein Tag ohne Linie, hrsg. vom Zentrum Paul Klee mit Tilmann Osterwold, Ausst.-Kat. Zentrum Paul Klee Bern; Museum Ludwig, Köln, Ostfildern 2006. 15 Klee war an unheilbarer Sklerodermie erkrankt. Er starb am 29. Juni 1940 in Lugano.
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ORTE EXOTISCHER FREMDHEIT J a pa ni sc he Gä rt e n a uf Ausstellungen nach 1900 Christian Tagsold
Einleitung Der Begriff Japonismus steht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem für das Interesse westlicher Künstler und Sammler an der bildenden Kunst Japans. Besonders ukiyo-e übten eine starke Faszination auf das kunstinteressierte Publikum der westlichen Metropolen aus, insbesondere in Paris, aber auch in Wien oder Berlin. Neben diesen Bildern fand japanisches Kunstgewerbe großen Anklang: Fächer, Schirme oder Lackware entwickelten sich zu Verkaufserfolgen. Japanische Gärten kamen zur gleichen Zeit in Mode, werden aber meist nicht zum eigentlichen Japonismus gerechnet oder finden nur am Rande Erwähnung. Dabei waren es nicht selten Gärten, die den räumlichen Rahmen für die Entfaltung des japonistischen Flairs abgaben. Im ersten großen japanischen Garten in Europa, auf der Weltausstellung von Wien 1873, befanden sich zahlreiche Verkaufsstände, in denen japanisches Kunstgewerbe ausgestellt und verkauft wurde. Die Präsentation war überaus erfolgreich, so dass die japanische Kommission fast alle mitgebrachten Ausstellungsstücke losschlagen konnte. Nur wenigen Verkaufswaren blieben übrig und wurden nach Abschluss der Weltausstellung verschenkt (vgl. Fux 1973). Schon aus dieser kurzen Geschichte des ersten bedeutenden japanischen Gartens in Europa wird deutlich, dass diese Orte nicht der Meditation und Versenkung in die Natur dienten, wie es ihnen heutzutage oft zugeschrieben wird. Die Gärten standen zunächst oft im Kontext der nationalen Selbstrepräsentation Japans auf Welt- und Gartenausstellungen und wurden zudem als Rahmen für ökonomisch motivierte Aktivitäten genutzt. Außerdem war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weder den japanischen Offiziellen noch den westlichen Besuchern klar, was einen japanischen Garten überhaupt ausmachte und wie man sich seine Ausgestaltung genau vorzustellen und zu erklären hatte. O r t e e x o t i sc h e r F r e m d h e i t | 93
In meinem Artikel werde ich beschreiben, wie japanische Gärten sich nach und nach zu einem festen Topos mit klaren Regeln entwickelten. Was wir heute als japanische Gärten kennen, denen wir eine Jahrtausende alte Geschichte zuschreiben, hat in weiten Teilen seinen Ursprung in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Deutschland hinkt dabei allerdings der nordamerikanischen und europäischen Entwicklung deutlich hinterher, wie ich im ersten Abschnitt zeige. Das breite Publikum in den USA, Großbritannien und Frankreich hatte bis 1900 längst eine Reihe großartiger japanischer Gärten auf Weltausstellungen bewundern können, und die Reichen hatten begonnen, sich solche Gärten in ihren Anwesen anzulegen. Dagegen legte man im Deutschen Reich erst im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts japanische Gärten an. Wie ich im zweiten Abschnitt zeige, wurden dann allerdings in kurzer Zeit gleich mehrere dieser Gärten gebaut. Wie diese Gärten generell als Räume des Anderen im historischen Kontext des Imperialismus funktionierten, ist Thema des dritten Abschnitts. Dass japanische Gärten überhaupt so schnell beliebt wurden, liegt nicht zuletzt an der Exotik, die sie umgab und an der damit zusammenhängenden Frage, wie viel von ihrer eigentlichen Bedeutung für westliche Besucher durchschaubar sei. Die Gärten trugen wohl nicht zu einem besseren Verständnis Japans bei. Das wäre kaum möglich gewesen, da sie keine essentiellen, also unveränderlichen Eigenschaften Japans ausdrückten, sondern erst in einem längeren Prozess durch die wechselseitige Bespiegelung von westlichen und japanischen Vorstellungen ihre heute bekannte Form erhielten. Im letzten Abschnitt werde ich argumentieren, dass gerade der Anschein des schwer Verständlichen dieser Kunstform nicht unwesentlich dazu beitrug, die Gärten noch populärer zu machen.
J a p an is che Gä rt e n a uf We l t a usst e l lungen Der erste japanische Garten wurde im Deutschen Reich erst 1904 errichtet, als es in anderen europäischen Ländern und in den USA längst zahlreiche dieser Gärten gab. Dass das Deutsche Reich spät zu dieser Mode fand, lag vor allem daran, dass man keine Weltausstellungen organisierte, während London und Paris immer wieder solche Spektakel ausrichteten. Insbesondere Großbritannien war wirtschaftlich weiter entwickelt und betrieb eine höchst aktive Kolonialpolitik, und Frankreich wollte hier nicht nachstehen. Deshalb waren für beide imperialen Mächte Weltausstellungen ein gutes Mittel, um ihre kolonialen Interessen der Bevölkerung und dem internationalen Publikum nahe zu bringen.
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1 Die Zeichnung von Kollarz zeigt Kaiserin Elisabeth, besser bekannt als Sissi, in der Bildmitte auf der Brücke des japanischen Gartens. Kaiser Franz steht etwas weiter links, die japanischen Gesandten betrachten die Kaiserin in traditionell anmutenden Gewändern. Im Bildvordergrund deuten außerdem weitere Japaner ehrbezeugende Gesten an. Die Abbildung war klar darauf ausg erichtet, den Besuch des Kaiserpaares dem Publikum möglichst eindrucksvoll nahe zu bringen. Österreichische Nationalbibliothek.
Die Weltausstellungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Ausgangspunkt für die Verbreitung japanischer Gärten außerhalb Japans. Auf der ersten Weltausstellung 1851 in London nahm Japan noch nicht teil, da das TokugawaShōgunat eine äußerst restriktive Außenpolitik gegenüber den westlichen Mächten betrieb und deshalb auch den anschließenden Weltausstellungen fern blieb. Erst 1867 entsandte man eine Delegation nach Paris (Lockyer 2002), doch zu diesem Zeitpunkt war der Sturz des Shōgunats schon nahe. Nach der Meiji-Restauration von 1868 schlug die neue Regierung einen anderen Kurs ein. Weltausstellungen waren ideal, um einerseits zu erfahren, was westliche Mächte auf verschiedensten Gebieten leisteten, während man auf der anderen Seite sich dem Ausland vorstellen und für sich werben konnte. So nahm man die O r t e e x o t i sc h e r F r e m d h e i t | 95
Einladung sehr ernst, an der Weltausstellung von Wien 1873 teilzunehmen. Mit Hilfe westlicher Berater, wie dem Deutschen Gottfried Wagner, wurde geplant, was Japan ausstellen sollte (vgl. Lockyer 2000: 209). Teil des japanischen Pavillons in Wien war ein Garten, der jedoch aus heutiger Sicht ungewöhnlich war, weil er als Shintō-Garten vorgestellt wurde. Eigentlich verbindet man sowohl im Westen als auch in Japan japanische Gärten mit dem Buddhismus, während Shintō-Schreine kaum für ihre Gärten bekannt sind. Die neue Meiji-Regierung versuchte jedoch in dieser Zeit, aus den diversen ShintōStrömungen eine einheitliche Staatsreligion zu formen. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass der erste große Pavillon auf einer Weltausstellung shintōistisch konnotiert war. Der Pavillon und der Garten fanden die Anerkennung des Publikums, das ihn äußerst rege besuchte. Laut Kreijsa und Pantzer (1989: 28) berichtete ein Augenzeuge: »Hier schiebt und drängt sich die Menge und kein Mensch kehrt zurück, ohne einen Fächer, Tasse oder irgendein nichts erbeutet zu haben«. Zum japanischen Knabenfest, wenige Tage nach Eröffnung der Weltausstellung, besuchten sogar Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth (Sissi) den Garten (vgl. Abb. 1) und ersterer äußerte seine Anerkennung zu der künstlerischen und handwerklichen Ausführung (Kreijsa und Pantzer 1989: 30f.) Eine Konsequenz des Erfolges in Wien war, dass die japanische Kommission bei weiteren Weltausstellungen immer neue Gärten präsentierte. In Nordamerika wurde die Begeisterung für japanische Gärten durch die Centennial International Exhibition von Philadelphia 1876 entfacht, mit der das hundertste Jubiläum der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung gefeiert wurde (vgl. Lancaster 1963: 48). Der japanische Pavillon präsentierte erneut einen japanischen Garten. Dass sich drei Jahre nach Wien die Idee von japanischen Gärten weder für das westliche Publikum noch für die japanischen Ausstellungsgestalter wirklich gefestigt hatte, wird aus diversen Beschreibungen deutlich. Die japanische Weltausstellungskommission selbst ordnete in ihrer begleitenden Veröffentlichung japanische Gärten generell als Unterform chinesischer Gärten ein (vgl. Imperial Japanese Commission to the International Exhibition at Philadelphia 1876: 116). Damit wurde also gar nicht der Anspruch erhoben, dass japanische Gärten außergewöhnlich seien und die japanische Kultur ideal repräsentierten. Auf der anderen Seite sorgte der Garten bei westlichen Beobachtern für Verwirrung. Thomas Westcott (1876: Bildtafel Building 50) schrieb in seinem Band zur Weltausstellung von Wasserspielen, Parterres, Blumenbeeten und einer seltsam geformten Urne am Eingang. Zeichnungen und Fotografien des Gartens zufolge gab es tatsächlich eine Reihe von Elementen, die man heute nicht mehr in einem japanischen Garten erwarten würde, wie die Blumenbeete. Die seltsame Urne am Eingang dagegen war eine Laterne, die
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der Autor 1876 noch nicht als typischen Bestandteil japanischer Gärten kennen konnte. Die beiden Gärten in Wien 1873 und Philadelphia 1876 hatten nachhaltige Folgen – japanische Gärten waren plötzlich in Mode. Überall in Nordamerika und Europa entstanden weitere Beispiele – mal mit Unterstützung der japanischen Regierung, mal auf eigene Initiative. Gärten wurden in dieser Zeit nach und nach zu einem starken Symbol für Japan. Nachdem China 1894/95 im sino-japanischen Krieg besiegt wurde und sich Japan langsam selbst zu einer imperialen Macht entwickelte, war auch keine Rede mehr davon, japanische Gärten seien in irgendeiner Weise chinesisch. Vielmehr wurden diese Gärten jetzt von Seiten der japanischen Ausstellungskommissionen selbstbewusst als urjapanische Kunstform herausgestellt. Das Wissen um japanische Gärten formierte sich in der Folge dieser Mode in den nächsten Jahrzehnten relativ schnell. Zwei Bücher trugen dazu wesentlich bei. 1893 erschien Landscape Gardening in Japan des Briten Josiah Conder, der von der japanischen Regierung ins Land gerufen worden war, um japanische Architekten auszubilden. Sein Buch klassifizierte alle Elemente japanischer Gärten wie Steine, Laternen, Brücken oder Zäune und ordnete sie in ein Linnésches System von Arten, Familien usw. ein. Damit bot er einen Überblick über die Vielzahl von Formen und Arrangements in den Gärten Japans, so dass die vorhandene Vielfalt mit Hilfe der Klassifikationsschemata Conders für Laien überschaubar wurde. Die strikte Taxonomie versetzte reiche Gartenliebhaber im Westen in die Lage, sich selber japanische Gärten anlegen lassen zu können, da sie quasi als Bauanleitung diente. Einen wesentlich romantischeren Ansatz in der Beschreibung des Sujets wählte dagegen Lafcadio Hearn in seinem Aufsatz In a Japanese Garden, der erstmals 1892 erschien. Hearn war bekannt für seine Schriften über Japan, in denen er die Kultur in einer ganzheitlich verklärenden Form fasste und gleichzeitig exotisierte. Beide Bücher fanden mit einer gewissen Verzögerung auch im Deutschen Reich ihre Leser, wo die Form der Auseinandersetzung mit japanischen Gärten deshalb anders als in Nordamerika, Großbritannien oder Frankreich verlief. Während dort zunächst die Gärten auf den Weltausstellungen das Interesse weckten, waren es in Deutschland Bücher über diese Gärten. Erst dann begann man, selbst Gärten zu errichten. Ein für das Deutsche Reich überaus wichtiger Einfluss war neben Conder und Hearn Prof. Heinrich Mayr, der Inhaber eines Lehrstuhls im Bereich Forstwissenschaften an der Universität München war. Er hatte von 1888 bis 1891 an der Akademie für Land- und Forstwissenschaft in Tokyo gelehrt und war insofern ausgewiesener Japanexperte. Mayr hielt im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mehrmals Vorträge vor Experten über Die Gartenkunst in Japan, erstmals 1903 auf der 16. Jahreshauptversammlung des Vereins Deutscher Gartenkünstler. Der Text wurde anschließend O r t e e x o t i sc h e r F r e m d h e i t | 97
in der Zeitschrift Die Gartenkunst veröffentlicht (Mayr 1903). In einigen Punkten schloss Mayr sich Conder an und betonte wie dieser (1903: 13), dass Schönheit relativ sei: »Wir würden uns irren, wenn wir glaubten, was uns schön dünkt, müßte auch den Chinesen und Japanern schön scheinen«. Daher fänden Europäer japanische Gärten auf Anhieb zunächst eher befremdlich – nur Japaner selbst verstünden ihre Gärten wirklich: »Um die Reize eines solchen japanischen Garten voll zu verstehen, muss man allerdings Japaner sein, oder zumindest etwas von dem Geiste der mehrtausendjährigen Kultur, von dem Geschmack der Mongolen in sich aufgenommen haben« (Mayr 1903: 15). Hier stimmt die Argumentation eher mit Hearn überein, der ebenfalls betonte, dass die Gärten für Westler unverständlich seien. Conder dagegen vermittelte den Eindruck, dass eine taxonomische Analyse japanischer Gärten Unklarheiten beseitigen könne.
D ie e r s t e n Gä rt e n i n De ut sc hl a nd Trotz dieser Hinweise auf die Unverständlichkeit japanischer Gärten für Westler war Mayrs Vortrag wohl ein Grund dafür, dass im Deutschen Reich japanische Gärten angelegt wurden. Selbst wenn keine »echten« Weltausstellungen veranstaltet wurden, gab es doch zahlreiche größere und kleinere ähnliche Ausstellungen, auf denen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erstmals japanische Gärten präsentiert wurden. Gerade Düsseldorf war sehr aktiv in der Ausrichtung von Ausstellungen. Nach 1900 fanden dort in kurzer Abfolge gleich mehrere Ausstellungen statt, darunter 1904 die Internationale Kunst- und Gartenbauausstellung. 1904 war ein günstiges Jahr, um das Thema Japan aufzugreifen, denn Japan hatte gerade mit dem Angriff auf Port Arthur den Krieg gegen Russland eröffnet, um sich die Vorherrschaft auf der koreanischen Halbinsel zu sichern. Dass eine aufstrebende asiatische Macht eine etablierte europäische Großmacht in dieser Weise herausforderte, weckte das allgemeine Interesse. In den Düsseldorfer Zeitungen erschienen in dieser Zeit zahlreiche Artikel über verschiedenste Aspekte Japans, nicht alleine über den Kriegsverlauf. So berichtete die Düsseldorfer Zeitung am 23. April 1904 über »Seppuku oder japanisches Bauchaufschneiden«, nur drei Tage später über »Zeitungen und Zeitungsschreiber in Japan« oder brachte am 5. Juni einen langen Artikel mit dem Titel »Am Hof des japanischen Kaisers«. Der Plan, einen japanischen Garten mit in die Düsseldorfer Ausstellung aufzunehmen, war allerdings schon ein Jahr früher entstanden, also 1903. Der Düsseldorfer Gartenbaumeister Reinhold Hoemann hatte sich bei der Ausschreibung für das Gartenareal der Ausstellung mit einem Vorschlag für einen japanischen Garten beworben, war damit auf den zweiten Platz gesetzt worden und durfte seinen 98 | Christ ia n Tag s o ld
Garten daher realisieren (Frauberger 1905: 74). Die Idee für den Garten war schon vor dem Vortrag Mayrs 1903 entstanden, den Hoemann gleichwohl mit großem Interesse verfolgt hatte. Für die Sitzung des Vereins Deutscher Gartenkünstler ist ein Kommentar Hoemanns zum Vortrag vermerkt: »Hoemann-Düsseldorf: Herr Professor Dr. Mayr hat uns soeben für die japanische Gartenkunst lebhaft erwärmt. Es ist mir eine angenehme Aufgabe hier erklären zu können, daß wir im nächsten Jahr in Düsseldorf Gelegenheit haben werden, einen japanischen Garten vor Augen zu sehen. Es sind Verhandlungen diesbezüglicher Art mit Japanern eingeleitet und dürften [sic] dieselben, wenn nicht alles trügt, zu einem zufriedenstellenden Abschluß führen.« (Mayr 1903: 15)
Dass Hoemann den Zuschlag bekam, diesen Garten zu errichten, war sicher kein Zufall, da er in den verschiedenen Planungsausschüssen und Komitees für die Ausstellung aktiv vertreten war, sich also gut vernetzt hatte. Womöglich war es sogar allgemeiner Konsens in Kreisen der Ausstellungsleitung, endlich auch in Deutschland einen japanischen Garten zu zeigen und Hoemann wurde einfach auserkoren, dies umzusetzen. Allerdings kam es aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen nicht dazu, dass ein Japaner den Garten plante und anlegte, wie Hoemann noch nach dem Vortrag von Mayr verkündet hatte, so dass er selbst für die Planung des Gartens verantwortlich zeichnete. Der Düsseldorfer Garten fand großen Anklang beim Publikum und galt als eine der Attraktionen von 1904. In der Werbung für die Ausstellung in der lokalen Presse wurde immer wieder auf den Garten Bezug genommen. Rund 2,7 Millionen Menschen besuchten die Ausstellung, die Anfang Mai öffnete und bis November dauerte. Hoemanns Anlage war aber nicht das einzige Beispiel für japanische Gartenkunst. Innerhalb der Ausstellung gab es eine Dioramenschau mit Bildern von Gärten aus verschiedenen Ländern und Epochen – darunter auch eines, das vom Düsseldorfer Maler Georg Witschass gestaltet worden war und einen japanischen Garten zeigte (Internationale Kunst-Ausstellung und Große Gartenbau-Ausstellung, 1904: 96). Typisch für derartige Dioramen dieser Zeit war, dass die Wirkung durch Pflanzen und weitere Gestaltungselemente um das eigentliche Bild herum in den Raum hinein erweitert wurde (vgl. Abb. 2). Sowohl der Garten als auch das Diorama fanden so großen Anklang, dass bei weiteren Gartenausstellungen in Deutschland ebenfalls japanische Gärten angelegt wurden. In Dresden wurde im Mai 1907 auf der III. Internationalen Gartenbau-Ausstellung ein japanischer Garten in einem Panorama gezeigt (vgl. Abb. 3). Auch hier dürfte Mayr eine Rolle gespielt haben, denn er hielt ein Jahr vorher auf der Festsitzung zur Feier des 80. Stiftungsfestes der Sächsischen Gesellschaft für O r t e e x o t i sc h e r F r e m d h e i t | 99
2 Der japanische Garten im Diorama bei der internationalen Kunst- und Gartenb auaustellung Düsseldorf 1904. Die Karte vermittelt recht gut den Eindruck der Tiefe, den die Besucher durch die Rahmung des Bildes von Wittschass mit Pflanzen, einer Laterne und anderen Gegenständen bekamen. Dieses Bild findet sich auch in den offiziellen Veröffentlichungen (Frauberger 1905: 228). Für die Postkarte wurde allerdings der obere und untere Rand beschnitten, so dass man z.B. die Lampions nur noch am rechten oberen Bildrand erahnen kann.
Botanik und Gartenbau erneut seinen Vortrag über Japans Natur und Gartenkunst (»Flora« – Kgl. Sächsische Gesellschaft für Botanik und Gartenbau 1906: 16). Die Ausstellung in Dresden war wesentlich kleiner und kürzer als jene in Düsseldorf drei Jahre zuvor. Sie dauerte nur acht Tage und hatte 250.000 Besucher (Seidel 1907: 4, 14). Der Aufbau der Ausstellung sollte mit wenig Aufwand verschiedenste Gartentypen vorstellen und dabei Pflanzen in einer natürlichen Umgebung präsentieren: »So benutzte man weiter den Blick in einen japanischen Hausgarten, um die Umgebung anzudeuten, in der die Kamelien und viele andere beliebte Blütensträucher sowie Lilien, Primeln und dergl. in ihrem Heimatlande als Gartenschmuck Verwendung finden.« (Seidel 1907: 4)
Deutlich wird hier erneut, dass japanische Gärten immer noch mit umfangreichem Blumenschmuck verbunden wurden, der zudem in einer Art arrangiert war, die den heutigen Vorstellungen entgegen steht. Der Entwurf des Gartens stammte 100 | Christ ia n Ta g s o ld
3 Die Postkarte zur III. Internationalen Gartenbau-Ausstellung Dresden 1907 zeigt den vorderen Teil des japanischen Gartens, laut dem offiziellen Bericht von Seidel (1907: 28) »mit großem Tor und Tempel«. Das Diorama-Bild des Hofmalers Rieck befand sich im hinteren Teil (Seidel 1907: 29).
vom sächsischen Hofbaudirektor Max Bertram, das Diorama-Bild, durch das der Garten perspektivisch erweitert wurde und viel größer wirkte, vom Hoftheatermaler Rieck (vgl. Seidel 1907: Abb. 8). Es waren also erneut keine Japaner beteiligt. Dafür hatten sich zwei relativ prominente Künstler daran gemacht, ihre Vorstellung von einem japanischen Garten zu verwirklichen. Im selben Jahr gab es ab Juni außerdem noch auf der großen Gartenschau in Mannheim einen japanischen Garten zu bewundern, der von der Gärtnerei Heinrich Henkels aus Darmstadt entworfen worden war (vgl. Hesdörffer 1907: 412). Die Firma hatte auch schon zwei japanische Laternen auf die Ausstellung nach Dresden gesandt und dafür einen Preis erhalten (vgl. »Flora« – Kgl. Sächsische Gesellschaft für Botanik und Gartenbau 1907: 73). Der Garten war einer der Sondergärten der Ausstellung in Mannheim, zu denen zudem ein Schwarzwaldgarten und eine alpine Anlage gehörten. Er bekam recht positive Kritiken und war außerdem beim Publikum beliebt: »[E]r erregt auch augenscheinlich bei den Besuchern großes Interesse« (Hesdörffer 1907: 412).
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Der erste Garten, der tatsächlich von einem Japaner angelegt wurde, wurde auf der Internationalen Luftfahrtausstellung (ILA) in Frankfurt am Main 1909 vorgestellt (vgl. Schneider 1910: 2). Eigentlich hatte diese Ausstellung den Zweck, die aufkommende Luftfahrt vorzuführen, doch gab es daneben einen Vergnügungspark mit diversen Attraktionen, zu denen auch der japanische Garten gehörte. Wiederum war die Firma Heinrich Henkel aus Darmstadt die treibende Kraft hinter dem Projekt (vgl. Schneider 1910: 1). Besonders der jüngere Bruder Heinrich Henkels, Friedrich, scheint ein starkes Interesse für die japanische Gartenkunst entwickelt zu haben und trug sich 1910 sogar mit dem Gedanken, Conders Buch von 1893 ins Deutsche zu übersetzen (vgl. Henkel 1910: 32). Außerdem fuhr er im gleichen Jahr auf eine Studienreise nach Japan (vgl. Die Gartenkunst 1910: 9). Jedoch erschien nie eine Übersetzung von Conders Buch auf dem deutschen Markt, so dass nicht klar ist, ob Friedrich Henkel sein Vorhaben zu Ende führte. Immerhin hatte sich die Firma Heinrich Henkel aber an drei japanischen Gärten auf Ausstellungen beteiligt und zwei davon sogar selbst gebaut, so dass sie im Deutschen Reich führend in diesem Bereich war. Für den Entwurf des Gartens auf der Luftfahrtausstellung hatten die Henkels den japanischen Kunststudenten Yasuda Minoru engagiert, der mit einem Stipendium der japanischen Regierung in München studierte (vgl. Schneider 1910: 2). Obwohl er aller Wahrscheinlichkeit nach kein Gartenkünstler im eigentlichen Sinn war, verlieh sein Wirken dem Garten auf der ILA eine besondere Authentizität. In den USA, England oder Frankreich war es ganz ähnlich. Gärten galten dann als authentisch, wenn ein Japaner bei ihrer Planung oder Ausführung mitgewirkt hatte, wobei es eine eher untergeordnete Rolle spielte, ob dieser Japaner tatsächlich eine Verbindung zur Gartenkunst in seiner Heimat hatte. Der letzte japanische Garten auf einer Ausstellung im Deutschen Reich vor dem Ersten Weltkrieg entstand schließlich 1913 in Breslau im Rahmen der Jahrhundertausstellung und wurde von Hans Pölzig entworfen (vgl. Ilkosz 2006: 212f.), einem Architekten, der später zu einem bekannten Vertreter expressionistischer Bauten und dann der neuen Sachlichkeit avancierte. Pölzig war für den Generalplan der Ausstellung verantwortlich, die zum Andenken an den Befreiungskampf gegen Napoleon veranstaltet wurde. Das Ausstellungsgelände wurde von modernen Bauten dominiert, allen voran der Jahrhunderthalle. Der japanische Garten war dagegen die einzig exotische Ergänzung auf dem Gelände. Der Erste Weltkrieg bildete eine Zäsur für japanische Gärten in Deutschland. Es entstanden länger keine bedeutenden Anlagen mehr, wobei über die Hintergründe nur spekuliert werden kann. Dass Japan Kriegsgegner gewesen war, könnte ein Grund gewesen sein, doch wahrscheinlich hatte sich die Mode einfach überlebt, da weltweit ebenfalls deutlich weniger japanische Gärten angelegt wurden. 102 | Christ ia n Ta g s o ld
Klar festhalten lässt sich für die ersten japanischen Gärten in Deutschland eine enge Verbindung zu einem schon existierenden breiten internationalen Diskurs. Während die ersten japanischen Gärten auf internationalen Weltausstellungen völlig neu waren, weil sich noch kaum Wissen über diese Form der Gartengestaltung formiert hatte, war dies unter den deutschen Gartenspezialisten anders. Conder war die Grundlage des Wissens und Mayr lieferte durch diverse Vorträge zusätzliche Informationen. Der Zugang war damit wesentlich einfacher, was es den deutschen Gärtnern leichter machte, japanische Gärten präsentieren zu können. Speziell Conders Buch konnte man geradezu als Anleitung verstehen. Im Übrigen ließen sich sogar japanische Gartenbauer in Europa durch Conder leiten. So nutzte ein japanischer Professor Conder, um in einem japanischen Garten in England eine Brücke zu bauen (vgl. Tachibana et al. 2004: 381).
Gä rt e n a l s Rä ume i mpe ri a l e r Wissens ordnungen Im Zeitalter des Imperialismus waren die japanischen Gärten Teil einer bestimmten Wissensordnung. Zunächst war dabei typisch, dass das Fremde vor allem visuell aufgenommen wurde (Mitchell 1992: 293). Statt z. B. Stimmen des Anderen zuzulassen, wurde das Fremde in Dioramen oder Panoramen eingeordnet oder in anderer Form vor allem dem Auge zugänglich gemacht (vgl. Clifford/Marcus 1986: 12). Düsseldorf und Dresden waren also ganz typische Fälle einer allgemeineren Tendenz in Ausstellungen. Dabei wurden die gezeigten japanischen Gärten als authentische Wiedergabe gewertet. Die Verbindung von Authentizität und visueller Aneignung wird im Falle des Düsseldorfer Gartens von Hoemann besonders augenscheinlich. Obwohl kein Japaner an der Anlage beteiligt war, fiel es leicht, auf eine besondere Authentizität zu verweisen. Der Garten war nämlich nach einer Fotografie eines Gartens im kaiserlichen Palast von Tokyo entworfen, dem Fukiage-Garten (vgl. Gröning 1997: 242). Um 1900 galten Fotografien als beinahe authentischer als das Original. Der amerikanische Jurist Oliver Wendell Holmes (1859: 748), der einer der führenden frühen Fotografietheoretiker war, hatte dies schon um die Mitte des 19. Jahrhun�������� derts wie folgt gefasst: »Give us a few negatives of a thing worth seeing, taken from different points of view, and that is all we want of it. Pull it down or burn it up, if you please.« Die Fotografie des Fukiage-Gartens war Hoemann aus Conders Werk Japanese Gardens bekannt (vgl. Gröning 1997: 242). Aber nicht nur dort war die Fotografie veröffentlicht worden, sondern auch in der London Illustrated Times, einem aufgrund seiner vielen Bilder sehr beliebten Journal der Zeit (vgl. Bennett 2006: O r t e e x o t i sc h e r F r e m d h e i t | 103
394). Hoemann baute also einfach ein bekanntes Bild nach. Dass der Garten auf der Ausstellung tatsächlich vor allem der visuellen Aneignung dienen sollte, zeigt ein weiteres Zitat aus dem bereits erwähnten Ausstellungskatalog: »Zu dem reizendsten, was die Ausstellung umschloß, gehört das japanische Teehäuschen. Unendlich nett und zierlich war es eingerichtet, überall das Auge durch anmutige Überraschungen erfreuend.« (Frauberger 1905: 111)
Allerdings war es eine reichlich übertriebene Annahme des Ausstellungskatalogs, dass der Fukiage-Garten von Tokyo authentisch in Düsseldorf realisiert worden wäre. Der tatsächliche Fukiage ist weit größer als der Teil, den der Bildausschnitt in Conders Werk zeigt. Deutlich wird der Unterschied zwischen Original, Bild und Nachbau, wenn man das betrachtet, was jeweils im Rücken des Fotografen des Fukiage in Tokyo und des Nachbaus in Düsseldorf lag. Das ist für Düsseldorf mit Hilfe einer Postkarte möglich – einem damals sehr beliebten und weit verbreiteten Medium, das die visuelle Qualität der Ausstellung unterstrich. Auf dieser Postkarte sieht man an dieser Stelle eben nicht die Fortsetzung des Fukiage-Gartens, sondern ein Teehäuschen, das auch als Postkartenmotiv genutzt wurde (vgl. Abb 4). Neben der Betonung des Visuellen war die räumliche Anordnung des Fremden auf Ausstellungen ein wichtiges Kriterium der Einordnung in die imperiale Wissensordnung. Die Gärten wurden in Beziehung zu anderen Attraktionen gesetzt. In Düsseldorf und Frankfurt lagen sie in den Vergnügungszonen der Ausstellungen, die viele Besucher anlocken sollten, denen es nicht in erster Linie darum ging, etwas über die Welt zu lernen. In diesen Vergnügungszonen gab es viel Exotisches zu entdecken. In Düsseldorf war das zunächst einmal ein indisches Dorf, dessen Bewohner durch die Hamburger Firma Hagenbeck gestellt wurden (vgl. Frauberger 1905: 122). Hagenbeck, heute als Gründerfamilie des Tierparks Hagenbeck in Hamburg bekannt, war damals mit sogenannten Völkerschauen höchst erfolgreich, die aus Untertanen verschiedener Kolonialreiche Anschauungsobjekte für deutsche Ausstellungsbesucher machten (vgl. Dreesbach 2005: 49f.). In Frankfurt hatte Hagenbeck ein Senegalesendorf installiert (vgl. Frankfurter Generalanzeiger 1909). Das indische wie das senegalesische Dorf zeigen, wie plump rassistisch diese Vergnügungsparks aus heutiger Sicht oft waren. In diesen Dörfern lebten einige Dutzend Inder bzw. Senegalesen ihr scheinbar typisches Leben. Hier trafen sich Voyeurismus, ein aufgesetzter völkerkundlicher Bildungsanspruch und wirtschaftliche Interessen. Dabei war oft die genaue Anordnung der verschiedenen Attraktionen sehr aussagekräftig, wie im Falle der Luftfahrtsausstellung deutlich wird. Auf dem Plan der ILA (Pharus-Verlag 1909, vgl. Abb. 5) ist der japanische Garten unter der Überschrift »japan. Theehaus« am oberen Rand in der Mitte zu sehen. Der nördliche 104 | Christ ia n Ta g s o ld
4 Fünf Angestellte des Teehauses posieren in japanischer Kleidung auf dieser Postkarte. Die selbe Abbildung findet sich auch im offiziellen Katalog (Frauberger 1905: 112), eine für diese Zeit typische Mehrfachverwendung. Die Postkarte war gleich als Einladung gestaltet, denn man konnte sich am unteren rechten Rand zu einem Treffen verabreden. In Falle dieser gelaufenen Karte nutzte der Absender dieses Feld nicht, sondern vermerkte vielmehr unten links enttäuscht: »Ich war auf der Ausstellung, ist aber nichts los.«
Teil der ILA war dem Vergnügungspark gewidmet, wobei der japanische Garten sicherlich nicht zufällig am dem Senegalesendorf entgegen gesetzten Ende des Vergnügungsparks angesiedelt war. Die räumliche Anordnung spiegelte oft sozialdarwinistische Vorstellungen wider. Während die Senegalesen als primitive Wilde betrachtet wurden, hatte Japan speziell nach dem Sieg im Russisch-japanischen Krieg an Ansehen gewonnen und war damit in Frankfurt in die Nähe der eigentlichen Ausstellung und ihrer Flugschauen gerückt. Die Senegalesen hingegen wurden räumlich entfernt von der Luftfahrtschau platziert, die die westliche Moderne repräsentierte. Die »Wilden« fanden ihren Platz am Anfang der Ausstellung, die fortgeschrittenen Völker näher zum Zentrum – das war nicht nur in Frankfurt so, sondern noch viel offensichtlicher auf den Weltausstellungen dieser Zeit (vgl. Rydell 1984: 21f., 49f.). Trotzdem hatte Japan in den Augen der westlichen Welt nicht völlig zum Westen aufgeschlossen. Ein Zitat aus der Frankfurter Kleinen Presse, einer lokalen Tageszeitung, zeigt deutlich, was der Garten symbolisieren sollte: O r t e e x o t i sc h e r F r e m d h e i t | 105
5 Auf dem Pharusplan des Frankfurter ILA-Geländes wird die Anordnung des Vergnügungsparks deutlich. Direkt am Eingang befindet sich das »Neger-Dorf«, in dessen Nachbarschaft Fahrgeschäfte wie ein Toboggan und eine Seilbahn Besucher anlocken. Das »Japan-Teehaus« liegt am anderen Ende des Vergnügungsparks zwischen der »Bier-Halle« und der »Süd-Tribüne« des »Ballon-Platzes«, also im Umkreis der modernen Vorführungen, die eigentlich im Mittelpunkt der ILA stehen. »Dieses Theehaus mit dem japanischen Teichgarten, den Chrysanthemen und uralten Wunderbäumen, den Tempeln, Wasserspeiern, Steinlaternen mit dem ganzen Reiz einer fremdartigen, diskreten und zarten Kultur kann man das Schmuckstück der ganzen Ausstellung nennen. Es fehlt nichts und es ist nichts zu viel. … Rings umschlossen von hohen Wänden sind Haus und Garten ein Ruheplatz für die Ausstellungswanderer, die des Schauens in die luftige Zukunft der Menschheit müde, die Stille uralter Kultur auf sich wirken lassen wollen.« (Kleine Presse 1909)
Die japanische Kultur war in den Augen des Westens diskret, zart und vor allem sehr ästhetisch – genau deswegen war der Japonismus insgesamt modisch geworden. Sie strahlte durch ihr hohes Alter eine würdevolle Ruhe aus und lud zum Meditieren ein. Einige dieser Zuschreibungen erscheinen aus heutiger Sicht durchaus gerechtfertigt. Japanische Gärten werden immer noch oft als Orte der meditativen Stille beschrieben, die einen exotischen, gleichzeitig aber an der Natur orientieren 106 | Christ ia n Ta g s o ld
Ästhetizismus des Ostens zu belegen scheinen. Die Gärten in Wien und Philadelphia zeigen jedoch, dass es sich dabei nicht um zwangsläufige Schlüsse handelt, da in beiden Fällen nicht argumentiert wurde, dass die japanischen Pavillons eine besonders meditative Stimmung verbreiten würden. Die japanischen Ausstellungskommissionen benutzten solche Argumente ebenso wenig wie westliche Betrachter. Die dortigen Gärten wurden zwar begeistert aufgenommen, standen aber für ganz andere Dinge. In Wien wurde z. B. in Buden im Garten eifrig Handel betrieben. Erst in den Jahrzehnten danach begannen westliche Betrachter andere Einschätzungen zu entwickeln und japanische Regierungen machten sich das oft zu Nutze. Düsseldorf und Frankfurt sind jedenfalls gute Beispiele für einen vorläufigen Höhepunkt dieses Prozesses. Ein letzter wichtiger Punkt ist die wirtschaftliche Seite der japanischen Gärten wie der Ausstellungen ganz allgemein. Den diversen Ausstellungen lag neben allen pädagogischen Absichten zur Erziehung der Massen immer auch ein wirtschaftliches Interesse zu Grunde, was insbesondere für die internationalen Weltausstellungen galt (vgl. Breitbart 1997: 38). Die größeren Ausstellungen, wie die Große Kunst- und Gartenbauausstellung in Düsseldorf, die ILA in Frankfurt und die Jahrhundertausstellung in Breslau, verfolgten ganz ähnliche ökonomische Interessen, und selbst die diversen Gartenschauen im Deutschen Reich, zu denen Mannheim und Dresden gehören, entzogen sich diesem Imperativ nicht. Deshalb wurden Vergnügungsbereiche konzipiert und Exotisches wie japanische Gärten besonders gerne aufgenommen. So konnte man die Massen anlocken, die nicht nur Eintritt bezahlten, sondern außerdem z. B. Postkarten kauften und auf den Schauen auch sonst Geld für Getränke, Essen oder Andenken ausgaben. Für die japanischen Gärten in Düsseldorf und Frankfurt repräsentieren vor allem die Teehäuschen diese wirtschaftliche Seite. In Düsseldorf wurden Getränke ausgeschenkt, um das Hoemannsche Unternehmen zu refinanzieren. Ein Besucher des Gartens schilderte seinen Eindruck wie folgt: »Wir sitzen im Teehäuschen bei einer von echten Japanerinnen kredenzten Tasse Tee und können von unserem Platze aus uns in Ruhe dem Studium dieser kleinen, in sich abgeschlossenen Welt hingeben« (Zahn 1904: 142). Die Japanerinnen waren wohl professionelle Angestelle mit Erfahrung, denn laut zeitgenössischen Berichten konnte man sich ganz gut auf Englisch mit ihnen unterhalten. In Frankfurt gab es im Teehaus indischen Tee zu genießen (vgl. Schneider 1910: 1). Es war also nicht unbedingt notwendig, die Authentizität der Gärten und ihrer zugehörigen Teehäuschen in allen Bereichen zu wahren. Die Ausstellungen gaben dem visuellen Erleben den Vorrang, ordneten Kulturen räumlich nach deren wahrgenommenen Entwicklungsstand ein und versuchten aus der Zurschaustellung ökonomischen Gewinn zu ziehen. Japanische Gärten waren dafür ideal, da sie Exotik mit einer scheinbar besonders naturnahen Ästhetik O r t e e x o t i sc h e r F r e m d h e i t | 107
verbanden. Damit waren die Gärten symbolische Räume des Anderen, und genau darum ging es letztlich auf den Ausstellungen: Japan zu exotisieren, damit eine imperialistische Wissensordnung zu konsolidieren und daraus gleichzeitig ökonomischen Gewinn zu ziehen.
D ie R ez e pt i o n de r j a pa ni sc he n Gä rten Japanische Gärten waren also attraktive Anziehungspunkte für das Publikum auf den Ausstellungen der ausgehenden Kaiserzeit. Die Ausstellungsmacher betonten in erster Linie den pädagogischen Effekt ihrer Anstrengungen auf die Massen, wenngleich in Wahrheit ökonomische Interessen eine wichtige Rolle spielten. Das pädagogische Potenzial der japanischen Gärten ist allerdings nicht einfach einzuschätzen. Sie ordneten sich sicherlich in die koloniale Wissensproduktion ein. Wie das breite Publikum indes genau auf sie reagierte und wie es sie aufnahm, lässt sich kaum noch rekonstruieren, was ganz generell ein Problem der Erforschung von Ausstellungen ist (vgl. Lockyer 2000: 21). Ziemlich wahrscheinlich ist, dass die pädagogischen Absichten der Ausstellungsorganisatoren wohl eher unterlaufen wurden und für die Besuchermassen statt dessen der Vergnügungsaspekt im Vordergrund stand. Doch selbst wenn die meisten Besucher in japanischen Gärten vor allem eine exotische Ablenkung vom Alltag sahen und weniger kamen, um etwas zu lernen, bekamen sie die imperialen Botschaften mitgeliefert. Die japanischen Gärten bedienten also beide Seiten. Sie gaben Aufschluss über eine andere Welt, die sie allerdings über die Maßen verfremdeten und dadurch in ein spektakuläres Vergnügen verwandelten. Bilder von japanischen Gärten auf Ausstellungen dieser Zeit zeigen diese immer mehr oder minder menschenleer. In Wahrheit waren die Gärten aber beständig gut besucht. Alle Berichte weisen darauf hin, dass sie sehr beliebt waren und zu den Höhepunkten der jeweiligen Ausstellungen gehörten. An Wochenenden oder zu anderen Stoßzeiten dürften die Gärten sogar eher überfüllt gewesen sein und insofern alles andere als beschauliche Orte der Ruhe und stillen Betrachtung. Ferdinand Tutenberg (1909b: 360) befürchtete für den Frankfurter Garten: »Zu bedauern wäre jedenfalls, wenn in dem Rummel solcher Ausstellungen durch Ueberfüllung [sic] des Gartens die Stimmung, welche die Schöpfer in denselben hineinzauberten, verloren ginge«. Die Fotografien der Gärten verzerren also den Blick auf die realen Gegebenheiten und die Nutzung dieser Räume. Um wenigstens einigermaßen beurteilen zu können, wie die Gärten wirkten, bleibt also nur die Analyse von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln. Für die Autoren dieser Artikel spielte die Frage eine wichtige Rolle, ob man die Gärten ver108 | Christ ia n Ta g s o ld
stehen könne. Sie setzten zunächst einmal den Strang im Diskurs fort, in dem die Unverständlichkeit der Gärten betont wurde. Dabei hinterfragten die Autoren jetzt oft einzelne Bestandteile, mit denen sie nicht viel anfangen konnten, wurden also deutlich konkreter, weil sie endlich japanische Gärten vor Augen hatten. Zahn (1904: 142) sprach so von »eigenartigen Laternen« in Düsseldorf. Das Diorama weckte im offiziellen Katalog noch viel mehr Unverständnis: »Der Japaner hat eine Vorliebe für groteske Naturformen, die er in seinem Garten in kleinerem Masstabe [sic] nachahmt. Mehr noch als der Chinese ist er darin vom Natürlichen abgekommen und lässt seiner reichen Phantasie in der Züchtung merkwürdiger Gewächse freien Lauf.« (Internationale Kunst-Ausstellung und Große Gartenbau-Ausstellung 1904: 96)
Für Frankfurt hielt Tutenberg (1909b: 360) fest, dass sowohl die Pflanzung als auch die Baulichkeiten »eigenartig« seien. Einen anderen Artikel schloss er ebenfalls mit einer Bemerkung über die Fremdheit des Gartens ab: »Eigenartig und neu, wie das ganze Unternehmen dieser Ausstellung, so mutet uns der Japangarten der Ila an« (Tutenberg 1909a: 505). »Eigenartig« war also generell eine häufig verwendete Vokabel, um sich mit den japanischen Gärten auf Ausstellungen und deren Fremdheit auseinanderzusetzen. Am Ende des Diskurses über die ersten japanischen Gärten in Deutschland standen zwei völlig konträre Meinungen über deren Bedeutung. Werner Lieb fällte eher ein zurückhaltendes Urteil über die japanischen Gärten, »die wir bewundern, weil wir sie nicht verstehen. Ich glaube nicht, daß dieselben sich jemals bei uns einbürgern werden« (Lieb 1911: 445). Marie Luise Gothein (1914: 345) kam hingegen in ihrem monumentalen und sehr einflussreichen Werk Geschichte der Gartenkunst in einem sehr ausführlichen Kapitel über chinesische und japanische Gärten zu einem völlig anderen Urteil: »Heute ist die japanische Gartenkunst in Europa bekannt und bewundert, nachgeahmt und durchforscht wie wenige sonst«. Letztendlich hatten wohl beide Autoren auf ihre Weise Recht. Die Faszination des breiten Publikums war sicherlich eher eine Folge der exotischen Wirkung japanischer Gärten als einer wohlinformierten Anerkennung ihrer künstlerischen Bedeutung. Der typische Besucher der behandelten Ausstellungen bekam zum ersten Mal in seinem Leben einen japanischen Garten zu Gesicht und hatte sich vorher kaum darüber informiert, zumal er nicht so leicht auf Texte wie die von Conder oder Mayr zurückgreifen konnte. Das tat dem Erlebnis auf der Ausstellung zwar sicherlich keinen Abbruch, dürfte aber zu keiner tieferen Auseinandersetzung mit dem Thema geführt haben. Gartenexperten hingegen hatten eigentlich keinen Anlass mehr, sich dem Urteil Liebs anzuschließen. Gothein mochte zwar etwas übertreiben, doch im Kern O r t e e x o t i sc h e r F r e m d h e i t | 109
lag sie richtig. Man konnte japanische Gärten inzwischen auch im Deutschen Reich immer wieder auf großen Gartenschauen bewundern. Außerdem gab es Bücher, zahlreiche erklärende Artikel in Fachzeitschriften und Vorträge, um sich darüber hinaus zu informieren. Was Gothein allerdings entgangen war, war die Dynamik in der Entwicklung des Genres. Die Gärten auf den Ausstellungen verwiesen nicht einfach auf feste Referenzpunkte in Japan, sondern waren aktiver Teil der Konstitution des Konzepts »japanischer Garten«.
J a p an is che Gä rt e n i n De ut sc hl a nd bis heute – e in A u s bl i c k Nach 1914 endete die erste Phase der Mode japanischer Gärten. Eine zweite Phase setzte ab Anfang der 1960er Jahre ein, als die Gärten die allgemeine Begeisterung für Zen begleiteten. Sie wurden wesentlich reduktionistischer mit Steinen und Kieseln gestaltet und wirkten auf eigentümliche Weise modern. Das galt jedoch auch für Japan selbst. Die Gärten wurden weiterhin auf Weltausstellungen zur Selbstrepräsentation eingesetzt. Die japanischen Pavillons griffen ebenfalls auf die wesentlich reduziertere Version der sogenannten Zen-Gärten zurück. Gerade hier lässt sich sehr gut zeigen, wie sich West und Ost wechselseitig in der Formation des Wissens zu japanischen Gärten beeinflussten. Bis 1935 war tatsächlich nie von Zen-Gärten als eigener, besonderer Form die Rede gewesen – weder in der japanischen noch in der westlichen Literatur. Erst durch das Buch der Amerikanerin Loraine Kuck (1935: 9) One hundred Gardens of Kyōto, in dem sie den Garten des Ryōanji-Tempels dem Zen zurechnete, kam es zu dieser Interpretation (vgl. Kuitert 2002: 103f.). Auch in Deutschland setzte sich die Vorstellung schnell durch, ZenGärten seien eine eigene Kunstform. Ich kann diese zweite Welle der japanischen Gärten im Westen ganz generell und in Deutschland im Speziellen allerdings hier nicht mehr behandeln. Der Verweis soll nur als Ausblick auf die weitere Geschichte dienen und verdeutlichen, dass japanische Gärten kein ein für alle Mal fest definierter essentieller Bestandteil der japanischen Kultur sind, sondern wie die Idee von dieser selbst ebenfalls eine hoch dynamische Form, die sich über die Jahrzehnte im Wechselspiel zwischen West und Ost immer wieder verändert hat. Grundlegender kann man sogar sagen, dass die Vorstellung, was West und Ost überhaupt sein sollen und wie sie sich voneinander abgrenzen ließen, durch Räume wie die japanischen Gärten überhaupt erst anschaulich konstituiert wurde.
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JAPONISMUS AM BAUHAUS? D e r A r c h it e k t Wa l t e r Gro pi us und se i ne Japan-Rezeption Julia Odenthal
Einleitung Als Japan Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Begeisterung für japanische Kunst- und Alltagsgegenstände und eine große Anzahl von Japan-Berichten zunehmend ins Bewusstsein der Menschen in Europa rückte, wurde dieser »anziehendfremde« Kulturraum als ein weitgehend homogenes Gebilde betrachtet – mit einer einheitlichen Ästhetik und einer linearen Tradition. Dieses Bild der japanischen Kultur lässt sich auch in der Auseinandersetzung von Bauhausarchitekten beobachten. So vermerkt Walter Gropius nach seiner Japanreise im Jahr 1954: »Japan ist heute noch im Besitz eines kostbaren Erbes der Vergangenheit – einer einheitlichen Lebenskultur, die von den Lebensgewohnheiten des ganzen Volkes getragen ist. Es besitzt noch einen so breiten, einheitlichen Formausdruck, daß er unendliche, individuelle Vielfalt zuläßt, ein Zeichen echter, tiefer Kultur.« (Gropius 1967: 100f.)
Gropius sieht in Japan also eine ideale Kultureinheit, die gerade durch ihre das ganze Leben umfassende Einheitlichkeit Raum für eine unbegrenzte Vielfalt bietet. Bereits vor seiner Reise beschäftigte sich Gropius intensiv mit dem Land und machte sich ein detailliertes Bild der japanischen Kunst und Kultur. Entscheidende Vorbilder für seine Vorstellungen sind Hermann Muthesius, Frank Lloyd Wright und vor allem Bruno Taut.1 Gropius begeistert sich für bestimmte Aspekte der japanischen Architektur, wie die Normierung von Bauteilen oder verschiebbare Wände, und konzentriert sich in seinem Japan-Studium vornehmlich auf bestimmte Bauten, die ihn durch ihre Ästhetik, Bauweise und Architektursprache an seine eigenen Architekturvorstellungen erinnern – wie den Ise-Schrein und die Katsura-Villa.
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Der Aufsatz geht im Folgenden der Frage nach, wie genau sich Gropius mit japanischer Architektur auseinandergesetzt hat. Seit den 1990er Jahren wurde in der Literatur zu Gropius einige Male auf seine enge Verbindung zu Japan, auch in der Bauausführung, verwiesen. Eine genauere Analyse der ästhetisch-theoretischen Rezeption der japanischen Architektur durch Gropius wird dabei zeigen, dass die These von einem direkten Einfluss auf seine Architektur nicht aufrechterhalten werden kann, dass aber eine intensive ästhetisch-ideelle Auseinandersetzung mit der japanischen Architektur stattgefunden hat.
D er A r c hi t e k t Wa l t e r Gro pi us Walter Gropius (1883–1969) begann seine Laufbahn im Architekturbüro von Peter Behrens, bei dem er von 1908–1910 volontierte und unter anderem mit Mies van der Rohe zusammen arbeitete. Behrens, der seit 1907 als künstlerischer Beirat der AEG in Berlin tätig war, entwickelte neue einheitliche Entwürfe für die Produkte und firmeneigenen Grafiken der AEG mittels einer kongruenten Formensprache, die schließlich in der Architektur der Firmengebäude gipfeln sollte. Er schuf einen unverwechselbaren Formenapparat und damit eine neue Selbstdarstellung der Firma, die sowohl die Produkte als auch das Außenbild umfasste. Seit 1908 entstanden die neuen AEG-Bauten in Berlin, die der grundlegenden Prämisse einer Verbindung von Kunst und Industrie folgten. Dieser ästhetische Leitgedanke kommt deutlich in der Architektur zum Ausdruck, wie die Abkehr von den bisherigen historisierenden Fabrikfassaden exemplarisch zeigt (vgl. Buddensieg 1992: 73f.). Neben diesen für seine spätere Arbeit wegbestimmenden Erfahrungen entwickelte Gropius Ideen für die Typisierung und Standardisierung von Bauteilen ebenso wie für die ästhetische Vereinheitlichung von Industrieerzeugnissen und Architektur. Durch seine gewonnenen Kontakte zur Industrie konnte er auch erste Versuche unternehmen, diese Vorstellungen umzusetzen. Im April 1910 legte er der AEG-Direktion ein Programm für standardisierten Wohnungsbau vor, das jedoch noch keine praktische Durchführung erlaubte und nicht verwirklicht wurde (vgl. Nerdinger 1985: 12). Gropius machte sich schnell selbstständig und gründete 1910 mit Adolf Meyer ein eigenes Architekturbüro in Neu-Babelsberg, später in Berlin-Wilmersdorf. Der erste große Auftrag des Büros war das Faguswerk (1911– 1913/14). 1911 trat Gropius dem Werkbund bei, bearbeitete die Werkbund-Jahrbücher der Jahre 1912–1914 und errichtete auf der Werkbundausstellung in Köln 1914 eine Musterfabrik mit Bürogebäude, eine Maschinenhalle mit Garagen und den Deutz-Motorenpavillon. Verbunden wurden hier die repräsentative Architektur einer Firma mit funktionaler Architektur für die Produktion. 114 | Julia O de nt h a l
Die Bauten Frank Lloyd Wrights2 waren für Gropius dabei ebenso von Bedeutung wie die amerikanische Industriearchitektur. Im Werkbundjahrbuch von 1913 veröffentlichte er Abbildungen amerikanischer Fabriken und Silos neben einem eigenen Aufsatz über Baukunst (vgl. Deutscher Werkbund 1913). Nicht nur die Architektur Amerikas sollte für sein späteres Schaffen von Bedeutung sein, sondern auch Produktionsweisen und unternehmerische Theorien. So setzte sich Gropius detailliert mit dem Taylorismus und Fordismus auseinander, um diese Erkenntnisse auf die Herstellung vorfabrizierter und standardisierter Architekturelemente anzuwenden (vgl. Nerdinger 1985: 11f.).
Wa l t e r Gro pi us und das Bauhaus Diese Entwicklungen wirkten auf Gropius’ spätere Architektur; vor allem bei den Bauhausgebäuden in Dessau konnte er seine bisherigen Theorien und Vorstellungen zum Ausdruck bringen.3 Das Staatliche Bauhaus wurde 1919 in Weimar gegründet und ging aus der Vereinigung der Großherzoglich-Sächsischen Hochschule für Bildende Kunst in Weimar und der Kunstgewerbeschule Weimar hervor. Am Bauhaus lehrten bedeutende zeitgenössische Künstler wie Lyonel Feininger, Johannes Itten, Josef Albers, Paul Klee, Wassily Kandinsky oder Lazlo Moholy-Nagy, durch welche die Kunstschule zu einer bedeutenden Institution wurde und auch nach ihrem Ende 1933 einen weitreichenden Einfluss auf die Kunst und Architektur hatte. 1925 wechselte das Bauhaus nach Dessau, wo Gropius schließlich seine seit Jahren propagierten Vorstellungen von kostengünstigem, rationellem Wohnungsbau realisieren konnte. So wurde neben dem Schulgebäude und den Meisterhäusern auch die Siedlung Törten errichtet. Die Bauten und die Gestaltung des Bauhauses (1925/26) wurden stets publizistisch begleitet; die Bauhausbücher und die Bauhauszeitschrift waren wichtige Medien für die Verbreitung der Bauhausideen. Hier wurden die Bauten beschrieben, ihre Funktionalität erläutert, die Baumaterialien aufgezählt sowie die Kosten dargelegt (vgl. Gropius 1930; Wilhelm 1998: 11f.). So konnte das Bauhaus seine eigenen Projekte bewerben und die daran beteiligten Unternehmen vorstellen. Die Eröffnung der Bauhausbauten in Dessau wurde mit einer großen Feier begangen, die national wie international großes Aufsehen erregte (vgl. Scheiffele 1998). Im Juni des Jahres 1925 wurden dem Magistrat der Stadt die ersten Entwurfszeichnungen vorgelegt. Bei der Realisation waren alle Werkstätten an der Bau- und Entwurfsplanung beteiligt. Jeder Bestandteil des Gebäudes stammt aus den Bau hauswerkstätten, von den Türgriffen über die Lampen bis zur farbigen Wandgestaltung. Das von Gropius propagierte Gesamtwerk sollte hier in besonderer Weise J a p o n i sm u s a m B a u h a u s? | 115
1 Bauhausgebäude Dessau, Grundriss. Stiftung Bauhaus/Kentgens-Craig 1998: 13.
vollendet werden: So schuf er einen Bau, der mehrere Schul-Bereiche in einem Gebäude vereinte, wie Werkstätten, Verwaltung, Lehrräume, Bühne, Kantine und Wohnungen. Diese Zusammenführung verschiedener Funktionen sollte auch im Bau visuell erfahrbar sein. Das Bauhaus setzt sich aus mehreren Gebäudeeinheiten zusammen, in denen je ein anderer Teil der Schule untergebracht war. Die Funktionstrennung ist gleichzeitig auch in der Architektur sichtbar. Der Grundriss verdeutlicht, dass die verschiedenen Bauelemente als L-förmige Trakte ineinander verschränkt sind und so eine asymmetrische Anlage bilden (vgl. Abb. 1). Bereits Gropius’ Entwurf für das Projekt der Philosophischen Akademie in Erlangen von 1924 zeigt eine ähnliche Anordnung der Gebäudeeinheiten bei gleichzeitiger Differenzierung der Funktionen (vgl. Probst/Schädlich 1987: Bd. 2: 70). Gropius selbst erklärte in einer Publikation zum Bauhaus die Bedeutung der Grundrissansicht und der Baustruktur des Bauhauses aufgrund neuer Wahrneh116 | Julia O de nt h a l
mungspositionen: »verkehrswege in der luft erheben eine neue forderung an die erbauer von häusern und städten: auch das bild der bauten aus der vogelschau das die menschen in früheren zeiten nicht zu gesicht bekamen, bewußt zu gestalten«4 (Gropius 1974: 16). Auch die Fassade sollte dem ›neuen Sehen‹ angepasst sein (vgl. Abb. 2). Damit wandte er sich gegen die zweidimensionale Gestaltung eines typischen Renaissanceoder Barockbaus,5 denn »ein aus dem heutigen geist entstandener bau wendet sich von der repräsentativen erscheinungsform der symmetriefassade ab. man muß rund um diesen bau herumgehen, um seine körperlichkeit und 2 Das Bauhausgebäude Dessau, 1925/26. Stiftung Bauhaus/Kentgensdie funktion seiner glieder Craig 1998: 22. zu erfassen.« (Gropius 1974: 19). Ein weiteres Anliegen war, dass der Bau durch Bewegung erfahrbar wird. Dementsprechend zeigen sich aus unterschiedlichen Perspektiven verschiedene architektonische Lösungen für die jeweilige Nutzung des Gebäudeteils.6 Zu unterscheiden sind die drei Hauptteile des Gebäudes: der Flügelbau der technischen Lehranstalten und Brücke, die Laboratoriumswerkstätten und Lehrräume des Bauhauses und das Atelierhaus (vgl. Gropius 1974: 14f.). Neben der Bauform betonte Gropius die Bedeutung des Materials und der Konstruktion, womit das Bauhaus vorbildhaft eine Verbindung dieser Aspekte schuf und damit einen starken Einfluss auf die zeitgenössische Architektur ausübte. »diese neuen baumaterialien – eisen, beton, glas – haben es infolge ihrer festigkeit und molekularen dichtigkeit erst ermöglicht unter größter ersparnis an konstruktionsmasse, weitgespannte, lichtdurchflutete räume und gebäude zu erbauen, für deren konstruktionen J a p o n i sm u s a m B a u h a u s? | 117
baustoffe und technik der vergangenen zeiten nicht ausreichten. diese immer kühner werdenden, raumsparenden konstruktionen in eisen und beton, mit dem bewußten ziel, den tragkörper des baus durch raffinierte rechnung und qualitative höchststeigerung der materialfestigkeit räumlich immer mehr zu beschränken, führen konsequent zur sich immerfort steigernden vergrößerung der wand- und dachöffnungen, um das tageslicht ungehemmt in die gegen witterung abgeschlossenen räume dennoch einströmen zu lassen.« (Gropius 1974: 37)
Die ästhetische Wahrnehmung kulminiert an einer Stelle des Baus, an der Material, Konstruktion und Form zu einer großartigen Einheit finden: »die ecke des werkstattbaus läßt das konstruktionsgerüst der betonpfeiler und massivdecken klar erkennen. zum ersten mal wurde hier das problem der auflösung der wand durch ausspannen einer durchgehenden glashaut vor das tragende bauskelett bis zur letzten konsequenz durchgeführt« (Gropius 1974: 47). Dieser Teil des Gebäudes faszinierte die damaligen Besucher besonders. Die Wirkung wurde jedoch noch verstärkt durch den zurückgesetzten Gebäudesockel. Dieser war im Gegensatz zu den darüber liegenden Außenwänden nicht weiß, sondern in dunkler Farbe gestaltet. Dadurch wurde der Effekt des schwerelosen Baus noch verstärkt. Nelly Schwalacher beschrieb 1927 diesen Eindruck: »Ein Riesenlichtkubus: das neue Gebäude des Bauhauses. Später, bei heller Sonne und blauem Himmel, wirkt das Gebäude noch immer als Konzentrationspunkt allen Lichtes, aller Helle. Glas, Glas und dort, wo Wände aufsteigen, strahlen sie ihre blendende weiße Farbe aus. Ich habe noch nie einen solchen Lichtreflektor gesehen. Und die Schwere der Wände hebt sich in diesen beiden Faktoren auf, an den hohen Glasmauern, die unverbrämt die leichten Eisenkonstruktionen des Gebäudes zeigen, und in der ausstrahlenden weißen Farbe […]« (Zit. nach Schöbe 1998: 43)
Die konstruktiven und ästhetischen Neuheiten des Bauhauses begeisterten nicht nur Zeitgenossen, die bedeutenden Bauten haben ebenso einen weitreichenden Einfluss auf die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Nicht nur architekturhistorisch, sondern auch in Bezug auf seine kunsthistorische Rezeption sollte das Bauhausgebäude folgenreich sein. Das Spektrum der Deutungen erstreckt sich von Zuweisungen zum Expressionismus über Verweise auf japanische Ästhetik bis hin zum Kubismus. Doch auch in Bezug auf das Bauhausgebäude lässt sich feststellen, dass die früh formulierte Vorliebe Gropius’ für amerikanische Industriearchitektur ausschlaggebend gewirkt hat. Das im Werkbundjahrbuch des Jahres 1913 abgebildete Fabrikgebäude aus Detroit zeigt bereits eine ähnliche Fassadengestaltung wie das Bauhausgebäude in Dessau (vgl. Abb. 3). Die Fensterbänder, die den Bau horizontal 118 | Julia O de nt h a l
3 Ford Motor Fabrikgebäude aus dem Werkbund-Jahrbuch 1913. Deutscher Werkbund 1913: Abbildungsteil ohne Paginierung.
gliedern, sind selbst noch einmal in rechteckige Felder unterteilt. Auch in Europa waren Fabrikgebäude ähnlich gestaltet. Das Kraftwerk Zschornewitz der AEG bei Bitterfeld (ab 1915) besitzt an den Vorbauten der Turbinenhalle eine den amerikanischen Bauten vergleichbare Fensterbänderung (vgl. Bossmann/Bauhaus Dessau 1993: 8). Die Margarete-Steiff-Werke in Gingen an der Brenz, 1903–1910, sind in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnenswert, denn hier wird ein ganzer Bau durch Verglasung eingefasst (vgl. Pehnt 2005: 78); zudem ist das Faguswerk zu nennen, bei dem Gropius diese Fenstergestaltung bereits angewendet hat. Die in Rechtecke unterteilte Fenstergestaltung findet sich nicht nur vermehrt bei westlichen Industriebauten, auch Fenster von Wohnhäusern waren im 19. Jahrhundert so gebildet, da die Herstellung von großen Fensterflächen anfangs teuer und schwierig war. Die gläserne Wandverkleidung des Werkstättentraktes war es auch, die in der Literatur ausführlich interpretiert wurde. Siegfried Giedion betont eine Verwandtschaft des Baus mit dem Kubismus, denn »in diesem Fall sind Inneres und Äußeres eines Gebäudes gleichzeitig dargestellt. Die ausgedehnten transparenten Flächen fördern durch Entmaterialisierung der Ecken die schwebenden Beziehungen der Ebenen untereinander und eine Art der Überblendung, wie sie die zeitgenössische Malerei verwendet«. (Giedion 1976: 6). Er stellt in seiner Publikation Space, Time and Architecture. The Growth of a New Tradition eine Abbildung der Ecke des Werkstättentraktes dem Gemälde L’Arlesienne von Pablo Picasso (1911/12) gegenüber (vgl. Giedion 1976: 6). Zusammenfassend vermerkt Giedion: J a p o n i sm u s a m B a u h a u s? | 119
»Die Generation Le Corbusiers, Gropius’, Mies van der Rohes und anderer kannte das malerische Werk der künstlerischen Bahnbrecher und das neue räumliche Gefühl, das sie entdeckt hatten. Sie waren fähig, aus den vielen Möglichkeiten, die der Ingenieur zur Verfügung stellte, jene zu wählen, die der neuen Raumkonzeption entgegenkamen.« (Giedion 1976: 311)
Diesen Gedanken formuliert auch Gropius, wenn er die Veränderungen der Raumwahrnehmung in Zusammenhang mit der neuen Bauweise stellt: »das raumgefühl verändert sich; während die alten zeiten abgeschlossener kulturentwicklungen die schwere erdgebundenheit in festen, monolit wirkenden baukörpern und individualisierten innenräumen verkörperten, zeigen die werke der heutigen, richtunggebenden baumeister ein verändertes raumempfinden, das die bewegung, den verkehr unserer zeit in einer auflockerung der baukörper und räume widerspiegelt und den zusammenhang des innenraums mit dem allraum zu erhalten sucht, was die abschließende wand verneint.« (Gropius 1974: 135)
Der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger beschreibt den Werkstättentrakt des Bauhausgebäudes nicht wie Gropius als Funktionsraum, sondern deutet ihn rezeptionsästhetisch. Für ihn ist »der Glaskörper […] letztes Symbol der expressio nistischen Erneuerungsbewegung […].« (Nerdinger 1985: 74). Auch in dem von Hartmut Probst und Christian Schädlich herausgegebenen Werkverzeichnis findet sich der Verweis auf den Expressionismus: »Die künstlerische Überhöhung wird am treffendsten in der großen Glasfläche des Werkstättentraktes deutlich: Noch stärker als beim Faguswerk wird hier das Skelettprinzip visualisiert, darüber hinaus ist es aber zugleich eine vollendete Lichtwand, eine letzte Stufe der auf Erneuerung und immaterielle Reinheit zielenden sogenannten ›Kristallomanie‹ aus der Zeit expressionistischer Architektur Bruno Tauts.« (Nerdinger 1986: Bd. 1, 51)
Hier beziehen sich die Autoren auf Wolfgang Pehnts Die Architektur des Expressionismus von 1973. Pehnt selbst assoziiert allerdings nicht das Bauhausgebäude mit expressionistischer Architektur, sondern andere Beispiele wie das Haus Sommerfeld. Claudia Delank wiederum bringt den Bau mit japanischen Gestaltungsweisen in Verbindung. Demnach ähnele die Glasfassade des Bauhauses japanischen Papierschiebetüren (shōji, vgl. Abb. 4), die sie schon bei den Faguswerken verwirklicht sieht (Delank 1996: 190).
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4 Papierschiebetüren (shōji) im Tempel Daitokuji in Kyoto. Foto: Joseph Handelman.
»Nicht allein der ›shōji-Effekt‹ der großen Glasfassade assoziiert japanische Ästhetik, auch die horizontale Ausrichtung der Sockelbänder und in den Sockeln die in liegende Rechtecke unterteilten Fenster. So ergeben sich auf allen Ebenen Perspektiven, die einen Vergleich mit japanischer Architektur zulassen.« (Delank 1996: 193)
Robin Rehm folgt Delanks Deutung der Glasfassade als shōji, indem er folgert, dass Motive des Bauhausgebäudes als Anspielung auf japanische Bauformen verstanden werden können. Da die Glasflächen des Werkstättentrakts, die Fenster der Haupttreppenhäuser und die Kellerfenster eine längsrechteckige Sprossenaufteilung aufweisen, die ihm zufolge konstruktiv nicht erforderlich ist, sieht er in diesem Motiv einen Verweis auf japanische shōji (vgl. Rehm 2005: 134). Der Ansatz, japanische Architekturelemente im Bauhausgebäude verwirklicht zu sehen – wie eine Fenstergestaltung in Form von shōji7 – korrelieren allerdings nicht mit den Deutungen, die Gropius selbst seinen Bauten zuschrieb.8 Er betont in seinen Publikationen, wie den Werkbund-Jahrbüchern, die Formverwandtschaft zu der bereits aufgeführten europäisch-amerikanischen Industriearchitektur und J a p o n i sm u s a m B a u h a u s? | 121
zu deren bautechnischer Tradition der Fenstergestaltung. Ein weiterer Aspekt seiner Bauintention ist es, die Bedeutungsebenen eines Gebäudes visuell deutlich zu machen, indem die Architektur die Arbeitsvorgänge abbildet. Als Konsequenz dieser Vorstellung ist der Werkstättentrakt des Bauhauses durch eine Industriefassade gekennzeichnet. Dies war der Ort, an dem Produkte entwickelt wurden, die anschließend industriell hergestellt und für einen großen Markt produziert werden sollten. Die Idee, die bereits vom Deutschen Werkbund propagiert wurde, dass Industrieprodukte eine praktische und gleichzeitig eine ihre Herstellungsweise nicht verhehlende schöne Form haben sollten, wollte Gropius in diesem Gebäude Gestalt annehmen lassen (vgl. Schwartz 1999; Thurm-Nehmet 1998).
D ie jap anbe z o ge ne n Sc hri f t e n vo n Walter Gropius Bevor Gropius 1954 nach Japan reiste, beschäftigte er sich, wie viele seiner Zeitgenossen, mit der japanischen Ästhetik. In seinen frühen Schriften finden sich zwei Nachweise über seine Auseinandersetzung mit Japan, jeweils unveröffentlichte Werkmanuskripte. Zudem lassen sich aus Briefen vor seiner Reise Rückschlüsse auf sein Japanbild ziehen.9 Es gilt jedoch festzuhalten, dass sich Gropius erst nach seiner Japanreise verstärkt mit japanischer Ästhetik auseinander gesetzt hat, in den Jahren davor bleiben seine Japanbezüge vage. In Über das Wesen des verschiedenen Kunstwollens im Orient und im Occident, ein unveröffentlichtes und auf das Jahr 1910 datiertes Werkmanuskript aus dem Bauhausarchiv, findet sich eine ausführliche Erläuterung der verschiedenen Kunstausprägungen unter Einbeziehung kunsttheoretischer Erklärungsmuster. »Das Wort: Kunstwollen wurde von Alois Riegl geprägt. Er erkannte zuerst, daß ein Kunstwerk das Resultat eines bestimmten, zweckbewußten Kunstwollens ist, das sich im Kampfe mit Gebrauchszweck, Rohstoffen, Technik durchsetzt […]. Die geschichtlichen Kunstströmungen zeigen ein ewiges Schwanken zwischen diesen beiden Richtungspolen, dem antikorientalischen und dem barock-indogermanischen […] Kunstprinzip. […] Der tiefere Grund zu diesem Dualismus wurzelt in einem urzeitlichen Kontrast der Rasseinstinkte – im verschiedenen Geblüt. Die altorientalischen Völker haben von einer inneren Abneigung gegen das Subjektive im Kunstwerk getrieben, instinktmäßig das rein sinnlich wahrnehmbare betont, während die indogermanischen Völker des Occidents die individuelle Einfühlung, das Moralische im Kunstwerk als wesentlich empfanden. […] Daß nun tatsächlich zum Verständnis der Körperlichkeit die weit kompliziertere subjektive Betätigung notwendig ist, bestätigt der physiologisch-optische (sinnliche) Vorgang des Sehens.« (Gropius 1910: 1f.)
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Hier zeigt sich bereits, dass Gropius Kunst als unmittelbaren Ausdruck von Kultur verstand, wobei er sich auf das Ästhetik- und Kulturmodell von Riegl bezog. Dieser hat mit seiner Vorstellung von einer Einheit von Volk und Kunst einen Stilbegriff entworfen, den er auf außereuropäische Kunst ausweitete und damit einen vordergründigen Kulturrelativismus durch kolonialistische Konstrukte stilgeschichtlich rechtfertigte. In einem weiteren Werkmanuskript, vermutlich eine Aufzeichnung für eine Vorlesung von 1921/22, verband Gropius seine Gedanken über Begriffe wie Einheit, Dualismus, Identität und Wahrnehmung: »Freude über Einheitlichkeit des Vorgehens / Größe des Begriffs der Einheit als des / wahrhaft (ewig) neuen. […] / Völlig veränderte Weltanschauung / Erkennen, noch kein Empfinden / Dualismus Gegensatz von Einheit / Ich und die Welt oder ich, ein Teil der Welt / dadurch grundsätzlich veränderte Denkweise / Identität von Geist und Materie (Einstein) […] / Besitz eines Gegenstandes. Der Gegenstand besitzt / auch noch Physikalisch gesprochen / Physiologisches Sehen eines Japaners. / Grundriss. Perspektive / Drei Arten des Raumes materieller / mathematischer / transzendentaler […]« (Gropius 1921/22: 11)
Hier formuliert Gropius das Konzept der Einheit in der Vielfalt, das er zur Grundlage seines Bauens machte, in seinen Publikationen wiederholte und das Anwendung fand bei seinen Beschreibungen verschiedener Kunstepochen und Kulturen. Mit der Formulierung »Physiologisches Sehen eines Japaners« verdeutlichte Gropius, dass er die unterschiedliche Wahrnehmung nicht als kulturellen, sondern als biologischen Faktor einschätzte. Der Orientale handele demnach instinktiv, während sich im Okzident das Handeln von individueller Einfühlung und Moralvorstellungen ableite.10 Hier steht Gropius in der Tradition der deutschen Kunstgeschichte, die seit Johann Joachim Winckelmann Kunst und Nation in Zusammenhang sah. In dieser Folge betrachteten auch die Kunsthistoriker Franz Kugler, Karl Schnaase, Wilhelm Lübke und Gottfried Semper die Kunst eines Volkes als Ausdruck des jeweiligen Nationalcharakters und lieferten hiermit ein wissenschaftliches Gerüst, in dem westliche Stereotype mit kunsthistorischen Analysen verwoben wurden. Den Gedanken der grundsätzlichen Differenz zwischen Ost und West nahm Gropius nach seiner Japanreise wieder auf. 1967 schrieb er in dem Aufsatz Japan, Land der Architektur11: »Ich frage mich, ob wir in der Lage wären, einige der Fragen zu beantworten, die uns ein nachdenklicher Orientale stellen könnte […]. Mein Eindruck ist, daß unsere J a p o n i sm u s a m B a u h a u s? | 123
westliche Mentalität in ihrem rastlosen Drang, immer neue Horizonte der äußeren Welt zu erobern, vom orientalischen Geist lernen könnte, durch geistige Intensivierung auch neue Horizonte der inneren Welt aufzudecken. […] Was eine wirklich zusammenhängende Kultureinheit bedeutet habe ich nie klarer gesehen als in Japan. […] Mich hat in Japan vor allem beeindruckt, daß die kulturelle Schichtung der letzten tausend Jahre sichtbarer in das Gefühlsleben des heutigen Tages hineinragt als in anderen Ländern, und ich glaube, daß niemand den Japaner verstehen und seine Reaktionen voraussagen kann, der dieser Tatsache nicht Rechnung trägt.« (Gropius 1967: 82ff.)
Diese Passagen verdeutlichen, dass Gropius Japan als homogene Nation wahrnahm und ihm die japanische Kultur als Einheit erschien. »Ein Wesenszug, den alle Japaner in gleichem Maße teilen, ist ein elementares Verlangen nach Schönheit, ein kultureller Faktor, der in der westlichen Welt immer mehr verloren geht« (Gropius 1967: 83). Auch deshalb konnte er die japanische Kunst als besonders bedeutend darstellen, da die von ihm so oft propagierte Einheit in der Vielfalt (Gropius 1967: 20–30) hier ihren idealen Ausdruck fand. Für Gropius war Japan geprägt von einem universalen Schönheitsideal, das sich in den kulturellen Errungenschaften manifestierte. Er fand moderne Aspekte des Westens verwirklicht – insbesondere seiner eigenen Architektur: Proportionsnormen, verschiebbare Wände, Türen und Fenster –, obwohl diese in Japan historischer Teil der Bautradition waren. Diese modernen Aspekte der traditionellen Baukunst wollte er erhalten wissen und setzte sich dafür ein, diese von ihm entdeckten modernen Elemente beizubehalten und weiter zu entwickeln.12
D ie R eis e na c h Ja pa n Walter Gropius, der seit 1937 in den USA lebte und an der Harvard-Universität lehrte, besuchte Japan auf Einladung der Rockefeller-Foundation in der Zeit vom 20. Mai bis zum 18. August 1954 (vgl. Isaacs 1984: Bd. 2, S. 1011). In Japan übernahm das Internationale Haus13 in Tokyo die Organisation der Reise. Gropius bereiste verschiedene japanische Städte, in denen er neben Architektur und Museen auch das Kabuki-Theater besuchte, Vorträge hielt und diverse Gespräche mit Architekten führte. Hier traf er eine Reihe von ehemaligen japanischen Bauhausschülern wieder, wie auch Studenten und Architekten, die in Japan an Instituten arbeiteten und studierten, welche nach den Prinzipien des Bauhauses lehrten.14 Das Bauhaus war bereits in den 1920er Jahren in Japan bekannt und übte eine starke Wirkung auf die moderne japanische Architektur aus.15 124 | Julia O de nt h a l
Zudem hatte der Besuch zur Folge, dass sich Gropius während und nach seiner Reise bei Vorträgen, in Gesprächen und in Publikationen immer wieder für den Erhalt der japanischen Kultur aussprach. Vor allem wollte er, dass die moderne Architektur sich der traditionellen Elemente bediene, was er bei dem japanischen Architekten Tange Kenzō16 vorbildlich verwirklicht sah. Jedem Architekturstudenten empfahl er einen Aufenthalt in Japan, um dort die Grundwerte der Architektur zu studieren. »These should be studied by all architects in the world for the Japanese genius for the very medium of architecture: space and scale.« (Gropius 1954 b). Im Anschluss an Gropius’ Reise wurde diese in Japan mit der Publikation Gropius und die japanische Kultur dokumentiert (Shigeharu 1955). Enthalten sind Beschreibungen seines Aufenthalts, der Inhalt seiner Vorträge, Briefe und Mitschriften der mit japanischen Architekten geführten Diskussionen.
» Ja pa n, L and der Architektur« Kurz vor seiner Reise nach Japan im Jahr 1954 brachte Gropius in einem Brief an Prof. T. Mizutani seine Vorfreude zum Ausdruck: »Anyhow I am looking forward very much to this trip as for many years I have wanted to see the Orient and, since long before the war, I have been absorbed by the Japanese art and architecture« (Gropius 1953). Was Gropius an japanischer Kunst und vor allem Architektur begeistert hat, führte er in einem weiteren Brief an Charles B. Fahs näher aus: »The modernity of the old japanese culture, particularly of that of their houses, has deeply impressed me. Much of what I have fought for during my life-time is implicit in the japanese architecture – openess outside and inside, flexibility of the plan, variability of use, modular coordination (tatami) and prefabrication of its component parts (on a handicraft basis). Here I have also found that beauty is still a basic requirement of life, even for the simplest peasant.« (Gropius 1954 a)
Die Elemente, die er beschrieb, waren bezeichnenderweise jene Architekturformen, die er selbst zu verwirklichen suchte: »Es hatte mich immer angezogen und interessiert, daß in Japan ein starker, gemeinsamer Schlüssel für eine einheitliche Formensprache benutzt worden ist, ohne daß dadurch die persönliche Variante erstickt wurde. Ich hatte gefunden, wenn auch nur in Abbildungen – daß das alte, handgearbeitete japanische Haus bereits alle wesentlichen Attribute des modernen, vorfabrizierten Hauses besaß, nämlich Proportionsnormen – die Standardmatte von 1,80 x 0,90 m – und verschiebbare Wände, Türen, J a p o n i sm u s a m B a u h a u s? | 125
Fenster. Ich war daher tief berührt, als ich diese lang bewunderten Häuser endlich in ihrem noch so lebendigen kulturellen Zusammenhang sah und bestätigt fand, daß hier in lang vergangener Zeit bereits Lösungen gefunden worden waren für Probleme, die uns Architekten von heute so sehr beschäftigen.« (Gropius 1967: 83f.) Jedoch betonte er, dass diese ästhetischen Ähnlichkeiten unabhängig voneinander in Japan und im Westen entstanden seien. In Japan habe sich die Architektur aufgrund des Klimas und der Philosophie zu jenen Formen entwickelt, die in der westlichen Architektur ebenso zur Ausbildung kamen. »Es ist bisweilen behauptet worden, die moderne europäisch-amerikanische Architekturbewegung sei durch Japan zu stark beeinflußt worden. Tatsächlich ist die verblüffende Formverwandschaft, die die alte japanische Baukultur mit der modernen westlichen Architekturauffassung zu haben scheint, aus ganz verschiedenen Voraussetzungen in beiderseitiger Unabhängigkeit entwickelt worden. Die japanische Idee basierte auf einer uralten, sorgfältig aufgebauten Philosophie, die die Lebensgewohnheiten ihrer Anhänger bis ins kleinste geformt hatte. Wir dagegen stehen an einem Neubeginn und haben gerade die ersten Schritte getan, um einen Ausgleich zwischen unserem Denken und unserem Handeln herbeizuführen.« (Gropius 1967: 91)
Gropius machte deutlich, dass in diesem Diskurs der Westen die Moderne verkörpert, das traditionelle japanische Haus hingegen die Vergangenheit. Der Westen stand an einem Neubeginn und war seinem Verständnis nach deshalb referenz- und voraussetzungslos. Wenn er an anderer Stelle über zeitgenössische japanische Architektur schrieb, folgte er dem gleichen Schema, die Bautraditionen Japans wollte er für die japanischen Architekten als vorbildhaft gedeutet wissen. Er schlug den Bogen von der Vergangenheit zur Gegenwart, indem er die modernen Aspekte der traditionellen japanischen Architektur hervorhob und diese als erhaltenswert propagierte. In diesem konzeptionellen Zusammenhang verortete er den Architekten Tange, den er aktiv unterstützte und dessen Architektur er als herausragend darstellte. Er sah in Tanges Arbeit eine Verbindung japanischer Tradition mit dem zeitgenössischen Bauen; in der westlichen Architektur seien die Errungenschaften der japanischen Architektur, wie die flexible Raumeinteilung, jedoch nicht direkt übernommen, sondern aus den Bedürfnissen der Moderne heraus ein zweites Mal erfunden worden. »Diese Gründe erklären vielleicht die überraschende Ähnlichkeit, die heute zwischen der alten japanischen und der westlichen Architekturauffassung sichtbar wird, und sie darf nicht mit einer oberflächlichen und imitativen Übertragung gewisser Stil 126 | Julia O de nt h a l
eigenheiten verwechselt werden. Das traditionelle japanische Haus wirkt so erstaunlich modern, weil es jahrhundertealte, perfekte Lösungen für Probleme gefunden hat, mit denen sich die westlichen modernen Architekten erst neuerdings beschäftigen: vollkommene Flexibilität der äußeren und inneren Wände, wechselweise Benutzbarkeit der Räume, genormte Dimensionen aller Bauteile und Vorfabrikation.« (Gropius 1967: 92)
Gropius unterscheidet in diesem Zitat Ähnlichkeit von Imitation und gibt hiermit einen wichtigen Schlüssel für sein Verhältnis zu japanischer Architektur. Er betonte die Ähnlichkeit, negierte aber, in seiner eigenen Architektur die japanischen Bauten imitiert zu haben; ihm zufolge handelt es sich um zwei voneinander unabhängige Entwicklungen. Dahinter steht die Absicht, seine Architektur in einen universalhistorischen Zusammenhang zu stellen und funktional wie auch ästhetisch auf einer hohen Stufe zu positionieren. Er negiert eine mögliche Nachahmung, um die Bedeutung seiner architektonischen Neuerungen nicht zu schmälern. Das Beispiel der japanischen Architektur dient ihm so als historischer Vergleich, der seine Neuerungen verortet und ihre Bedeutung deutlich macht.
W ie d ie we st l i c he Mo de rne i hre Tra dition in Japan fand Für die Beschreibungen, die Gropius über Japan nach seiner Reise veröffentlichte, gibt es zwei wichtige Referenzen, die seine Wahrnehmung prägten und entscheidende Wegbereiter seiner Japanrezeption sind: Richard Neutra und Bruno Taut. Sie beschreiben ihre Begegnung mit der Architektur Japans, wie später Gropius, als Erweckungserlebnis; ihre eigenen Ideen finden sie hier bereits verwirklicht. Dabei wird deutlich, dass sich Gropius in seiner Japanrezeption an den Taut’schen Beschreibungen orientiert und auch die Formulierungen Neutras in seine Japanbeschreibungen einfließen lässt. Einen Verweis auf Neutra und Taut bleibt Gropius allerdings schuldig. Der österreichische Architekt Richard Neutra (1892–1970) formulierte nach seinen drei Japanreisen 1930, 1950 und 1951 die Vorbildhaftigkeit japanischer Architektur für die westliche Moderne. Nach seiner Rückkehr publizierte er 1931 drei Aufsätze über die Standardisierung im traditionellen japanischen Hausbau und über die zeitgenössische japanische Architektur, die Gropius wahrscheinlich bekannt waren (vgl. Neutra 1931 a, b, c). Neben Vorträgen, die er in Japan hielt, machte Neutra ausführliche Exkursionen und sah zahlreiche Beispiele japanischer Architektur (vgl. Tamada 2006: 604). Seinen ersten Aufenthalt in Japan stilisierte er als ErweJ a p o n i sm u s a m B a u h a u s? | 127
5 Katsura-Villa, Kyoto. Ponciroli 2005: 73.
ckungserlebnis: »a generation ago, when I accepted my first invitation from Japan to express my ideas […] upon arriving there I suddenly felt as if I were coming home« (Engel 1959: Vorwort o.P.). Ihn faszinierte über die Architektur hinaus die Gesamtheit der japanischen Ästhetik. Die japanische Kleidung und die TatamiMatten waren für ihn Ausdruck der funktionalen Relation, wobei er eine Standardisierung nicht nur in der Architektur verwirklicht sah, sondern auch in der Gestaltung der Kleidung und der Möbel. Des Weiteren erkannte er im japanischen Alltag eine durch die Architektur gewährleistete Übereinstimmung in den Lebensbedingungen der Armen und Reichen; durch die gleiche funktionale Bauweise empfand er eine harmonische Verbindung aller Bereiche der japanischen Gesellschaft. »The rich and the poor, urban wealthy and the peasant, all had the same standard of dimension, from tatami floor mats, sliding door panels, to tansu, built-in drawer sets. Detailing and finishing were as simple and normalized as they were superbly neat. I have been striving for all that, and I was no longer alone.« (Neutra 1962: 228) 128 | Julia O de nt h a l
6 Nikkō Tōshōgu, Haupttor. Bildarchiv der Autorin.
Die Standardisierung sah Neutra als ein Modell für die moderne amerikanische Architektur und verteidigte sie gegen die Annahme, dass mit ihr auch Uniformität einhergehe. Diese von Neutra vorgebrachten Vorzüge der japanischen Architektur und ihre mögliche Verwendung für den Westen werden in ganz ähnlicher Weise auch von Walter Gropius vorgebracht. Bruno Taut (1880–1938) emigrierte im Mai 1933 nach Japan und blieb dort bis 1936. Schon am ersten Tag seines Aufenthalts besuchte er die Katsura-Villa in Kyoto (vgl. Abb. 5), was von großer Bedeutung für ihn war und seine Einschätzung der japanischen Architektur grundlegend prägte. Im November 1934 verfasste er erstmals einen Artikel über die Lage der modernen Architektur in Japan: Architecture Nouvelle au Japon (Taut 1935). In den folgenden Jahren schrieb er mehrere Bücher über japanische Kunst, wobei sein Schwerpunkt stets auf der Architektur lag (vgl. Taut 1936, 1983, 1997, 2003). Besonderes Augenmerk richtete er auf die Katsura-Villa, die ihm als außerordentlich modern erschien.17 Taut betonte die Gegensätzlichkeit dieses Gebäudekomplexes zu der Mausoleums-Anlage in Nikkō, die J a p o n i sm u s a m B a u h a u s? | 129
sich durch reiche Ornamentik auszeichnet und für Taut der Inbegriff der feudalen Vergangenheit Japans war (vgl. Abb. 6).18 Er sah in den architektonischen und ästhetischen Prinzipien der japanischen Architektur, vor allem aber in der Katsura-Villa, die neuen Errungenschaften der westlichen Moderne vorformuliert und war mit dieser Einschätzung äußerst einflussreich für die Rezeption japanischer Architektur in Europa. Für Gropius und sein Japanbild waren die Publikationen Tauts maßgebend, seine spätere Einschätzung der japanischen Architektur bediente sich der Argumentationsstruktur Tauts. Bei der Gegenüberstellung der beiden Bauten Katsura und Nikkō konstruierte Gropius das gleiche Gegensatzpaar wie Taut, übernahm dessen Beschreibung und Interpretation, verwies jedoch nicht auf Tauts Schriften. Ein »demokratischer Geist« liege demnach der durch »Teamarbeit« entstandenen Architektur zugrunde, das Ganze spiegele eine »gesunde Fusion von Entwurf und Ausführung statt der fatalen Trennung dieser beiden, an der unser heutiger Architektenberuf leidet« (Gropius 1967: 96). Besonders faszinierte ihn, dass »der Bau und seine unmittelbare Umgebung […] eine einheitliche, zusammenhängende Raumkomposition [ist]; keine statische Raumauffassung, keine Symmetrie; keine Zentralbetonung im Grundriß. Die künstlerische Wirkung ist hier eine rein räumliche durch fließende Beziehung zwischen Innen und Außen« (Gropius 1967: 96). Zudem betonte er, dass man keinen überflüssigen Luxus finde, sondern diese noblen Bauten mit größter Zurückhaltung und Einfachheit geschaffen worden seien und Frieden und Freiheit ausstrahlten. »Kein eitler Aufwand, keine anmaßende Monumentalität, nur der Wunsch, einen schönen Rahmen für ein harmonisches Leben zu schaffen« (Gropius 1967: 96). Zu diesen Beschreibungen setzte er die Mausoleumsanlage von Nikkō in deutlichen Widerspruch. Diese etwa zeitgleich entstandene Anlage in der Nähe Tokyos war wegen ihres ornamentalen Reichtums berühmt und Ausflugsziel zahlreicher Japanreisenden. Auch Gropius lobte das handwerkliche Können, das in Nikkō zum Ausdruck kam, sah die Handwerkskunst aber hier für eine »Orgie ornamentaler Überladung und üppiger Dekoration mißbraucht« (Gropius 1967: 97). Die Klarheit der architektonischen Komposition werde zerstört zugunsten der Präsentation von Ruhm- und Verschwendungssucht. »Der Eindruck dagegen, den der Besucher von der reinen Form der Katsura-Villa empfängt, zieht ihn auf eine höhere, geistige Ebene. Sie repräsentiert die menschlichen Ideale und Tugenden der japanischen Gesellschaft der Vergangenheit und ihren anerkannten Lebensstil und stellt einen Höhepunkt ihres architektonischen Schaffens dar.« (Gropius 1967: 97)
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Gropius und Taut waren gleichermaßen fasziniert von der Anlage, und beide verarbeiteten ihre Eindrücke in verwandter Form. Die Aspekte der japanischen Architektur, die sie selbst in ihrer eigenen Bauweise als zukunftsweisend sahen, hoben sie in ihren Beschreibungen besonders hervor. So bewerteten beide die barocken Formen der Bauten in Nikkō ganz anders als es im 19. Jahrhundert üblich war, als diese Anlage vor allem wegen ihrer reichen Ornamentik die Besucher stark faszinierte (vgl. Dresser 1882). Der Zusammenhang zwischen japanischer Ästhetik und den Architekturvorstellungen von Gropius hing demnach stark von den zeitgenössischen Moderne-Diskursen des Westens ab und hatte im Grunde nur zweitrangig etwas mit der tatsächlichen japanischen Architektur zu tun.
» Ei n heit in der Vielfalt« Gropius pries, wie schon Neutra, die japanische Standardisierung des Bauens, die gleichzeitig eine abwechslungsreiche Kombination von Formen aufwies: Das Prinzip Einheit in der Vielfalt wurde für ihn zum Schlüssel seiner Japanrezeption. Diesen Einheitsbegriff, der für das Architekturverständnis von Taut und Gropius so grundlegend ist, beschreibt der Kunsthistoriker Hubert Locher im Zusammenhang mit Zeitgenossen dieser beiden Architekten: »Der Art Nouveau war auch für Peter Behrens oder Le Corbusier Ausgangspunkt: Die Idee der absoluten Einheit der architektonischen Gestaltung, die absolute Autorität und Verantwortung des Architekten für die Gestaltung des ganzen Lebensraumes wurde das Credo der ›Modernen Architektur‹.« (Locher 2001: 422)
Taut und Gropius sind in dieser Tradition zu sehen: Ihre ästhetischen Grundsätze sind der Einheit verschrieben, und so fanden sie in Japan die historisch-kulturell vorweggenommene Rechtfertigung ihrer Idealvorstellung. In der Katsura-Villa sahen beide dieses Ideal kulminiert, wobei Gropius auch die Idee des Gesamtkunstwerkes auf seine Japanbeschreibung, insbesondere auf die Darstellung der Architektur, anwendet. Das Konzept der Einheit in der Vielfalt, das er sowohl bei vergangenen Kunstepochen zur Anschauung brachte als auch in anderen Kulturen verwirklicht sah, findet sich wiederholt in seinen Schriften. Im Aufsatz ›Einheit in der Vielfalt‹ Ein Paradoxon der Kultur (Gropius 1967: 20–30) formulierte er die Idee, die diesem Konzept zugrunde liegt.19 »Als Architekt sehe ich eines der großen Ziele darin, die Idee der Einheit in Vielfalt im Wohnungsbau zu verwirklichen und flexible Standardbauteile zu schaffen. VorJ a p o n i sm u s a m B a u h a u s? | 131
fabrikation ist äußerst vielversprechend; sie wird eines Tages der minderbemittelten Bevölkerung bessere, billigere und individuell differenzierte Wohnmöglichkeiten bieten. Historische Präzedenzfälle rechtfertigen eine solche optimistische Voraussage. Ein künstlerisch raffiniert ausgeklügeltes System der Vorfabrikation besteht in Japan schon seit dem 17. Jahrhundert. Es gründet sich natürlich auf einer Handwerkskultur. Selbst im heutigen Japan kann man noch alle Bestandteile eines Hauses in jeder gewünschten Größe kaufen und schnell zusammensetzen. Jedes Haus besteht aus gleichen Elementen, und doch sieht ein jedes anders aus und paßt sich in seiner Schönheit und Würde harmonisch in die Umgebung ein. […] Sicher kann heute das typische japanische Haus den Forderungen der modernen Lebensansprüche nicht mehr genügen, besonders nicht hinsichtlich des Komforts. Aber seine Konzeption zeigt einen so bewundernswürdigen, reifen Auswahlprozeß der Entwicklung, daß wir seine Lehren auch im Rahmen unserer neuen technischen Gegebenheiten anwenden sollten.« (Gropius 1967: 28)
Auch der Westen sollte zu einer neuen ästhetischen Einheit geführt werden; die neuen Bauweisen, die er für Städte propagierte, sollten ebenso ein einheitliches Stadtbild evozieren. Den Universalitätsanspruch seiner Architektur, den er bereits 1925 in der Publikation Internationale Architektur zum Ausdruck brachte, fand in dieser Argumentationsstruktur ihre logische Konsequenz. »Die […] abgebildeten Werke tragen neben ihren verschiedenen individuellen und nationalen Eigentümlichkeiten gemeinsame, für alle Länder übereinstimmende Gesichtszüge. Diese Verwandtschaft […] ist ein Zeichen von zukunftsweisender Bedeutung und ein Vorbote eines allgemeinen Gestaltungswillens von grundlegend neuer Art, der seine Repräsentanten in allen Kulturländern der Erde findet.« (Gropius 1927: 5)
F az it Gropius hat sich zwar bereits vor seiner Japanreise 1954 mit der Architektur dieses Landes beschäftigt, Eingang in seine Architektur fand diese Auseinandersetzung jedoch nicht. Seine Bauten sind durch westliche Vorbilder geprägt, wie die amerikanische Industriearchitektur, die er in Deutschland umsetzte. Als er Japan bereiste, fand er dort seiner Architektur formal entsprechende Gestaltungsweisen, die er nun in einen argumentativen Zusammenhang brachte. Er war stark von der japanischen Architektur und Ästhetik beeindruckt, was sich in verschiedenen Publikationen widerspiegelt. Dass er dabei vornehmlich den Aspekt japanischer Äs132 | Julia O de nt h a l
thetik herausgreift, bei dem er zu seiner Architektur entsprechende konzeptionelle Ansätze sieht, ist grundlegender Teil seiner Argumentation. Da in der japanischen Architektur die gleichen Elemente und Strukturen angewendet wurden, die auch Gropius propagierte – Vorfertigung, Typisierung, Proportionsnormen – fand er ein argumentatives Hilfsmittel, seine Architektur historisch und global zu verorten; das Nebeneinanderstellen von unabhängigen Entwicklungen sowohl von japanischer als auch von zeitgenössisch westlicher Architektur diente Gropius dazu, seine Architektur funktional und ästhetisch zu rechtfertigen. Dem liegt kein ästhetisches Einflussmodell zugrunde, das Rückschlüsse auf seine Architekturfindungsprozesse zulässt, sehr wohl aber eine geistige Auseinandersetzung mit dem Thema japanische Architektur. Die These, dass sich japanische Einflüsse in seiner Architektur finden, kann daher nicht bestätigt werden. Andere zeitgenössische Architekten haben die japanische Architektur deutlich stärker als Gropius adaptiert. Das Besondere bei Gropius ist in diesem Zusammenhang, dass er nach der Japanreise seine Architektur unter einem zusätzlichen Aspekt betrachtet hat. Man kann demzufolge bei seinen Bauten der 1920er Jahre kein kausales Prinzip bezüglich japanischer Ästhetik feststellen. Dass diese Deutung dennoch formuliert wurde, liegt zum einen an der generellen Affinität jener Zeit zu japanischer Kunst, zum anderen an den Aussagen, die Gropius retrospektiv gemacht hat. Er formulierte universale Elemente in der Architektur, die aus dem Kontext einer architektonischen Logik ihre Bedeutung beziehen. Er verortete seine Architekturideen also nicht aufgrund einer Beeinflussung durch japanische Kunst, sondern um die eigene Bauweise historisch zu kontextualisieren. Gropius gebraucht japanische Ästhetikmerkmale, um Phänomene seiner Architekturmoderne zu beschreiben und im Besonderen seine eigene Architektur als Ergebnis eines logischen Prozesses einer universalen Architekturgeschichte darzustellen. Dabei geht es ihm nicht darum, konkrete Vorbilder für seine Architekturfindungen zu benennen, sondern seine Architektur als historische Notwendigkeit erscheinen zu lassen. Sein Japanvergleich hat dabei nicht nur Auswirkungen auf die Beschreibung seiner eigenen Architektur, sondern auch auf die Wahrnehmung Japans im Allgemeinen. Gropius stellt einen bestimmten Aspekt der japanischen Kultur als vorbildhaft heraus und bleibt hierbei doch dem Moderne-Diskurs seiner Zeit verhaftet.
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A n m er kunge n 1 Vgl. auch Odenthal, Julia: Andere Räume – Räume des Anderen. Die Rezeptionsge-
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schichte der japanischen Architektur in der deutschen und japanischen Kunst- und Architekturgeschichte (1850–1950). Dissertation, 2011. (Publikation voraussichtlich 2013). Gropius besaß die Publikation: Wright, Frank Lloyd (1910): Ausgeführte Bauten und Entwürfe. Berlin: Wasmuth. (Vgl. Nerdinger 1986: 51). Im Februar 1910 hielt Bruno Möhring einen Vortrag in Berlin über die Arbeiten von F.L. Wright, an dem Mies van der Rohe und Gropius teilnahmen (vgl. Alofsin 1999: 4). Zum Bauhaus siehe einführend Argan 1962, Bossmann 1993, Droste 1990, Engelmann/Schädlich 1991, Fiedler/Feierabend 1999, Nerdinger 1985, Probst/Schädlich 1986–1988. Das Layout der Publikationen des Bauhauses zeichnet sich neben verschiedenen neuartigen typografischen Elementen durch eine konsequente Kleinschreibung aus. Vgl. hierzu: Wilhelm 1998: 11. Bei dieser Abkehr von der Symmetriefassade muss jedoch beachtet werden, dass die Gestaltung des Bauhauses im Osten an einen Ehrenhof erinnert, indem durch die Seitenflügel ein dreiseitig abgeschlossener Hof entsteht. In der Mitte der Brücke liegt im obersten Stock das Büro von Gropius. Der Besucher, der sich aus der Innenstadt dem Bauhaus nähert, unterschreitet an dieser Stelle das Zentrum des Bauhauses, das Direktorenbüro der Architekturabteilung. Gropius bezieht sich hier theoretisch auf den Begriff der Einfühlung, den Wilhelm Worringer 1908 in seiner Dissertation Abstraktion und Einfühlung geprägt hat. Vgl. hierzu Wilhelm 1998: 20. Diese sind jedoch nicht immer längsrechteckig, wie Rehm dies vermerkt, sondern variieren in ihrer Unterteilung. Auch anderen Bauten von Gropius, wie den Meisterhäusern in Dessau oder dem Haus Sommerfeld, wurden japanische Verweise zugeschrieben (vgl. Delank 1996, Kirsch 1996, Rehm 2005). Betrachtet man diese jedoch im Zusammenhang mit europäischer sowie nordamerikanischer Architektur, kann auch hier keine Verbindung zu japanischer Architektur festgestellt werden. Mein Dank gilt dem Bauhaus-Archiv Berlin, das mir weitreichende Unterstützung und Einblicke in seine Quellensammlung gewährte. Der Begriff Orient hat im Laufe der Geschichte einen Bedeutungswechsel erfahren. Galt er einst für die gesamte asiatische Welt (die arabischen Länder, Indien und China), zählten später lediglich die Länder Vorderasiens, Ägypten und die islamischen Länder hierzu. In neuerer Zeit rechnet man den Nahen Osten, die islamischarabische Welt einschließlich der Türkei, Iran, Pakistan und Nordafrika zum Orient.
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Im englischsprachigen Raum ist der Begriff auf Ostasien einschließlich China und Japan ausgedehnt. Vgl. Kapitza 1990, Said 1978, sowie Eintrag Orient in: Brockhaus 212006. Dieser Aufsatz erschien erstmals in englischer Sprache (Gropius 1955). Gropius hat diesen mehrmals in verwandter Form für folgende Publikationen variiert: Gropius/ Tange/Ishimoto 1960, Vorwort in Engel 1964. Gropius setzte in seinem Aufsatz Tradition und Kontinuität die Abbildung japanischer Tatami neben einen Entwurf, den er mit TAC (The Architects’ Collaborative) für eine Schule entwickelt hatte (Gropius 1967: S. 71–74). Das IHJ (International House of Japan) ist eine private Organisation, die seit 1952 den kulturellen Austausch zwischen Japan und dem Ausland fördert. Unter anderem traf er die Architekten Ishimoto Kikuji, Nakada Teinosuke (auch Nakada Sadanosuke), Yamada Mamoru, Kurata Chikatada und Yamaguchi Bunzō. Letzterer hatte 1929 in Gropius’ Berliner Büro als Zeichner gearbeitet. Yamawaki Iwao und Yamawaki Michiko waren Studenten des Dessauer Bauhauses und eröffneten nach ihrer Rückkehr nach Japan ein Architekturlaboratorium nach dem Vorbild des Bauhauses (vgl. Isaacs 1984: Bd. 2, S. 1014f.). Zeitgenössische Berichte einiger am Bauhaus studierenden Japaner finden sich in Izutsu 1992 und Yamawaki 1995. Der Einfluss des Bauhauses auf die Architektur und Kunst Japans ist für diesen Zeitraum wesentlich stärker als es umgekehrt der Fall ist (vgl. Schneider et al. 2006). Tange Kenzō, japanischer Architekt, 1913–2005. Zu seinen berühmtesten Bauten zählen das Friedenszentrum in Hiroshima (1950–55) das Rathaus von Tokyo (1957) und die Sporthallen für die Olympischen Spiele in Tokyo (1964). Zur architekturhistorischen Bedeutung der Katsura-Villa siehe einleitend Ponciroli 2005. Taut 1983: 30. Hierbei folgt Taut den Diskursen zeitgenössischer japanischer Architekten. Die kaiserliche Villa Katsura (Katsura Rikyū) bei Kyoto wurde ab 1616 erbaut. Sie diente als Landsitz der kaiserlichen Familie. Die Mausoleumsanlage (Tōshō-gū) in Nikko wurde ab 1617 errichtet und ist Tokugawa Ieyasu gewidmet, dem Begründer der Tokugawa-Dynastie. Erstveröffentlichung unter dem Titel The Curse of Conformity in der Saturday Evening Post, September 1958.
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EINE JAPANISCHE EHE AUF ZEIT Ma da me But t e rf l y i m de ut schsprachigen Raum 1 Hy unseon Lee
Einleitung In seinem 1887 erschienenen autobiographischen Roman Madame Chrysanthème (vgl. Abb. 1) sucht der französische Marineoffizier Pierre Loti (1850– 1923) nach einer Frau, die genauso ›japanisch‹ sein soll, wie er es sich immer vorgestellt hat – und zwar basierend auf den Figuren, die auf den Vasen oder Rollbildern zu sehen waren, die zu dieser Zeit in Paris zirkulierten. Er heiratet 1885 Kiku-San, so der Name der temporär Angetrauten, und diese ›gekaufte‹ Ehe hält insgesamt drei Sommermonate. Genau diese Phase bildet nun den Zeitrahmen des Romans. Am Ende seines Aufenthaltes in Nagasaki ist der Ich-Erzähler ausgesprochen froh, von dieser seltsamen japanischen ›Ehe auf Zeit‹ loszukommen und nach China weiterreisen zu können. Seine Unbeschwertheit im Hinblick auf die ›Scheidung‹ resultiert nicht nur daraus, die Frau nicht lieben zu können, sondern auch aus dem Umstand, keine nachträglichen Verpflichtungen erfüllen zu müssen. Ohne jegliche emotionale Verbundenheit beiderseits trennen sie sich. Er sieht zufällig zu, wie sie vor seiner Abreise mit den Münzen spielt, die er ihr für die Ehe bezahlt hat. Diese käufliche Liebe, oder auch anders formuliert die verkaufte Braut, blieb jedoch keine rein private Angelegenheit von Loti. Seine japanische Affäre, der er hier einen literarischen Ausdruck gab, sollte in der Folge als Butterfly-Narrativ fortleben und eine ungeahnt breite Wirkung entfalten. Mit jenem männlichen Blick, mit dem er seine japanische Braut gesehen hat, beobachtet er in seinem Werk das Land Japan und sein Volk, das er als »affenartig«, »klein«, »gelb« und »weiblich« charakterisiert (Loti 1910: 16, 58, 177, 185 u. a.) – mit der Attitüde des Überlegenen, distanziert, detailgetreu, und doch auch sentimental. Lotis sentimentaler Exotismus beschert seinem Roman schon zu seinen Lebzeiten einen Sensationserfolg. Dabei verleiht er der westlichen Wahrnehmung japanischer Kultur E i n e j a p a n i sc h e E h e a u f Z e i t | 141
von vornherein eine Gender-Dimension orientalistischer Färbung. Lotis Text ist eines der bedeutendsten Beispiele für die Wahrnehmung Japans durch den Westen. Zur Exotik seines Romans trägt vor allem die Visualität bei. Sie zeigt sich im Bild einer japanischen Frau, das sich dann schon kurze Zeit später auch in anderen Medien verbreitet. Madame Chrysanthème avanciert so zu einem Sinnbild der japanischen Frau, das sich im Laufe des 20. Jahrhunderts über die Figur der Madame Butterfly zu einem Kollektivsymbol entwickelt. Im Folgenden geht es um die Verwandlungen, die die Geschichte um diese interkulturelle Ehe im Laufe der Zeit im deutschsprachigen Raum erfährt. Zuerst wird auf 1 Titelblatt einer frühen Buchausgabe von Pierre Lotis Madame die intermedialen Entwicklungen Chrysanthème. des Butterfly-Narrativs und dessen Rezeption im deutschsprachigen Raum eingegangen. Dabei wird den Fragen nachgegangen, inwiefern bei den Butterfly-Produktionen Gender-Dimensionen festzustellen sind, ob und inwiefern man bei den jeweiligen Inszenierungen von einer Dekonstruktion des ButterflyMythos sprechen kann und welche ästhetischen Strategien dafür benutzt werden. Als Beispiele für meine Untersuchungen dienen u. a. die Oper Madama Butterfly (Giacomo Puccini, 1904), der Stummfilm Harakiri (Fritz Lang, 1919), die Operette Das Land des Lächelns (Franz Lehár, 1929) und eine Operninszenierung an der Berliner Komischen Oper (Calixto Bieito, 2005), aber auch literarische Texte von Adolf Muschg (Im Sommer des Hasen, 1965), Gerhard Roth (Der Plan, 1998) und Christoph Peters (Mitsukos Restaurant, 2009). Ich werde aber auch einen Seitenblick auf andere Film- oder (Musik-) Theaterbeispiele werfen.
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D a s B u t t e r f l y-Na rra t i v i nt e rme di a l Binnen weniger Jahre folgen auf Lotis Roman etliche Butterfly-Produktionen und dazu wird der Stoff in den verschiedenen Medien umgesetzt. Anstelle der berechnenden emotionslosen Kiku-San tritt nun Cio-Cio-San, genannt Madame Butterfly, auf die Bühne. Der amerikanische Theatermacher David Belasco (1853–1923) inszeniert das Stück Madame Butterfly, das auf der gleichnamigen – im Jahr 1898 erschienenen – Erzählung von John Luther Long basiert, am Broadway in New York und dann in London. Belascos Theaterstück endet mit einem seppuku, dem japanischen – eigentlich den Frauen nicht erlaubten – Selbstmordritual der Protagonistin, da ihr geliebter Marineoffizier Pinkerton nicht zu ihr, sondern in Begleitung einer ›weißen‹ amerikanischen Ehefrau zurückkommt, nur um ihren gemeinsamen Sohn mitzunehmen, von dessen Existenz der Amerikaner zunächst nichts wusste. Butterfly gewinnt vor allem in der Opernfigur Giacomo Puccinis (1858–1924) den Charakter einer tragischen, bis zum Tode liebenden Frau. Beeindruckt von der Londoner Theaterinszenierung Belascos 1900 mit ihren Effekten der neuen Beleuchtungstechnik, griff Puccini das Butterfly-Narrativ sofort als Stoff auf und begann nach einem Libretto von Giuseppe Giacosa (1847–1906) und Luigi Illica (1857–1919) zu komponieren. Puccinis italienische Oper Madama Butterfly (Premiere 1904 am Teatro alla Scala in Milano) zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass sie internationale bzw. interkulturelle Einflüsse sowie die aktuellen Entwicklungen der damaligen neuen Medien wie den Film produktiv aufnimmt. Zu den Erfolgskomponenten der Oper gehört die eklektizistisch-modern angelegte (Medien-) Ästhetik, deren außermusikalische Entsprechung in der kulturellen Hybridität des 20. Jahrhunderts zu finden ist. Zudem ist die Oper an sich ein hybrides, ein intermediales Medium, das von der Zusammensetzung wie auch der Wechselwirkung verschiedener Künste bzw. Medien lebt. Die eklektizistische Modernität Puccinis kommt in der Oper Madama Butterfly in erster Linie im musikalischen Exotismus zum Ausdruck, der die Melodien japanischer Populärmusik in seine Komposition mit einbezieht. Während seiner Komposition hat Puccini zudem die Auftritte der japanischen Schauspielerin Sada Yakko besucht, die ihn visuell und akustisch inspirierten. 2 Durch seine mächtige musiktheatralische Wirkung(sästhetik) wandert nun das Butterfly-Narrativ in verschiedene Medienkontexte; man kann daher durchaus von einer intermedialen Butterfly sprechen. Auf die stummen ›Butterfly-Filme‹3 – so nenne ich die Filme, die die Butterfly-Geschichte als Handlungsbasis nehmen – folgen bereits in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, aber auch später Tonfilme, die sich zwangsläufig mit früheren Butterfly-Produktionen auseinandersetzen. E i n e j a p a n i sc h e E h e a u f Z e i t | 143
Zudem ist die Produktion der Madame Butterfly in die verschiedenen nationalen Kontexte übertragen worden, so dass von einer Transkulturalität des Butterfly-Narrativs die Rede sein kann. Die mehrfach überarbeitete Oper Madama Butterfly in drei Akten4 genoss bereits zu Lebzeiten des Komponisten den Ruf eines Welterfolges5 und die Erfolgsgeschichte dieser Oper hat im Laufe des letzten Jahrhunderts eine globale Dimension erreicht. Die Rolle der japanischen Butterfly übernahmen verschiedene westliche wie auch asiatische Darstellerinnen, die des Amerikaners Pinkerton wurde von national unterschiedlichen ›weißen‹ männlichen Darstellern – britisch, französisch, deutsch, oder auch italienisch – besetzt. Die deutsche Erstaufführung fand 1907 mit Geraldine Farrar in der Hauptrolle an der Berliner Lindenoper statt, und im gleichen Jahr wurde sie unter Gustav Mahler in Wien uraufge2 Grete Forst übernahm 1907 die Titelrolle in der Urauf führt. Die Madama Butterfly mit Grete führung der Oper Madame Butterfly in Wien – hier eine Forst als Cio-Cio-san (vgl. Abb. 2) war Studioaufnahme aus dem Atelier Adele. Österreichische die erfolgreichste Produktion in MahNationalbibliothek. lers Zeit als Hofoperndirektor (La Grange 1995: 732). Diese Aufführungen basieren auf dem 1907 gedruckten Ricordi-Material – der vom Komponisten autorisierten Pariser Endfassung, die gegenüber der Brescia-Fassung um weitere 474 Takte gekürzt ist (vgl. Krause 1984: 225). In Deutschland wurde in dem 1907 – auf Deutsch – veröffentlichten Klavierauszug von C. Carfignani aus der Oper Puccinis Madame Butterfly als »Die kleine Frau Schmetterling« übersetzt.6 Doch galt diese Übersetzung als »unglücklich« und »verfehlt«, so dass sie nie auf breite Akzeptanz traf und keinen Bestand hatte. Die deutsche Übersetzung stammte von Alfred Brüggemann, der »für so manche Platitüde des Textes verantwortlich zu machen ist« (Krause 1984: 225).
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Die Oper Puccinis ist seit ihrer Uraufführung immer wieder auch auf deutschen Bühnen inszeniert und intermedial adaptiert worden. Im deutschsprachigen Raum wurde das Butterfly-Narrativ 1919 von Fritz Lang unter dem Titel Harakiri verfilmt; ein anderer Film mit Butterfly-Motiv, Harakiri – Die Tragödie einer Geisha (1913) von Harry Piel, gilt als verschollen. In Langs Harakiri geht es um die unglückliche Liebesgeschichte der Japanerin O-Take-San mit dem europäischen Seeoffizier Olaf Anderson. Auf einem zeitgenössischen Plakat heißt es, dass der Film auf einer amerikanischen Geschichte basiere. Gemeint ist hiermit John Luther Longs Erzählung Madame Butterfly und deren Bühnenadaption von David Belasco. Im Vorspann des Films heißt es hingegen »Nach der weltberühmten Oper in 6 Akten«, womit sich Lang an die Oper Puccinis anlehnt. Tatsächlich ist jedoch das Drehbuch, verfasst von Max Junck, sehr frei bearbeitet – vor allem im ersten Akt, so dass man am Anfang der Geschichte kaum eine Verwandtschaft zum Butterfly-Stoff wiedererkennen kann. Die Handlung wurde von einer Tageszeitung (Die Filmtechnik, Nr. 51) vom 21. Dezember 1919 wie folgt zusammengefasst: »O Take San, die liebliche Tochter eines Daimyos, wird von dem lüsternen Bonzen, der sie zur Priesterin, und von dessen Tempeldiener, der sie zur Geisha machen möchte, verfolgt. Dem hinterhältigen Priester gelingt es, den Vater anzuschwärzen und in den Tod zu treiben (zum ersten Male Harakiri). O Take San findet einen europäischen Seeoffizier, Olaf Anderson, der sie liebt und mit ihr eine Ehe auf 999 Tage eingeht. Sie ist froh, allen Nachstellungen entronnen zu sein, liebt Olaf unsäglich und wird unglücklich, als ihn die Pflicht vorübergehend – wie er sagt – nach der Heimat zurückruft. Sie harrt, angeblich, Jahre lang auf ihn, es naht der Tag, an dem nach japanischem Recht ihre Ehe abgelaufen und sie von neuem ihren Peinigern ausgeliefert ist; da kommt Olaf zurück – in Begleitung seiner Frau, die er in Kopenhagen geheiratet hat. Ein Zusammentreffen Olafs, Evas und der Japanerin ist unvermeidlich; seine Folge der Selbstmord (zum zweiten Male Harakiri) O Take Sans, deren kleiner Sohn, Olafs Sohn, mit nach Europa genommen wird.«
Die Grundstruktur des Butterfly-Narrativs bleibt somit erhalten und prägt den filmischen Ablauf. Die Lang’sche Version des Butterfly-Narrativs zeigt sich zuerst in den dramaturgischen Erneuerungen des Drehbuchs. Während in den amerikanischen Produktionen die Geschichte mit der Ankunft Pinkertons in Nagasaki beginnt und in der Oper Puccinis sogar mit der Hochzeit des Paares, muss man im Film sehr lange warten, bis das erste Treffen des Paares, hier von Olaf Anderson und O-Take-San, erfolgt. Die filmische Geschichte beginnt mit der Rückkehr des Daimyō (Fürsten) Tokuyama, dem Vater der Protagonistin O-Take-San, gespielt von Paul Biensfeldt, von einer Europareise. Unter all den Butterfly-Produktionen ist es nur dieser eine E i n e j a p a n i sc h e E h e a u f Z e i t | 145
Film, der den Vater auftreten lässt. In anderen Butterfly-Produktionen bleibt nur dessen Schwert als Erbe, mit dem sich seine Tochter das Leben nimmt. O-TakeSans Vater ist eine von Lang neu geschaffene Figur, die zwischen zwei Welten, Japan und Europa, hin- und hergerissen ist. Dieser Daimyō kehrt mit westlichen Vorstellungen von einer diplomatischen Mission aus Europa zurück. Er entgegnet dem Bonzen, der seine Tochter zur Priesterin machen will, sie könne über ihr Schicksal selbst entscheiden. Der Bonze verrät das dem Mikado, der dem Vater einen Dolch schicken lässt und ihn so verurteilt, Harakiri zu begehen, um seine Ehre wiederherzustellen. Das Motiv des europäischen Marineoffiziers ist ebenfalls ein neues Element. Olaf taucht nach dem Tod des Daimyō auf, zahlt nach einem Vorschlag des Teehausbesitzers für die Befreiung O-Take-Sans und schenkt ihr 999 Tage Freiheit. Lang macht aus dem Europäer eine nuancierte Persönlichkeit, die an die Figur des europäisierten Vaters O-Take-Sans erinnert. Er scheint großzügig zu handeln, obwohl er mit O-Take eine Heirat auf Zeit eingeht, und zwar gegen den Rat seiner Freunde, die ihn daran erinnern, dass er Japan lange vor Ablauf der 999 Tage verlassen muss. Diese Warnung verweist auf den unglücklichen Ausgang der Geschichte und gibt dem Film letztlich einen bittereren Ton als in der Vorlage zu den anderen Produktionen. Die wesentliche Abweichung von dem schlichten Butterfly-Narrativ im Film Harakiri besteht darin, dass die Vorgeschichte der Japanerin, die in der Literatur wie in der Oper nicht länger ausgeführt, sondern nur kurz erwähnt wird, den Ausgangspunkt der Geschichte darstellt. Lil Dagover, damals eine begehrte Stummfilm-Darstellerin, tritt als O-Take-San auf. Ein eigenes Lang’sches Motiv stellt auch die Figur des Bonzen dar: O-TakeSan wird von dem lüsternen Bonzen bedrängt, das Amt einer Priesterin zu übernehmen. Lang fügt diese Figur ein, um mit der Protagonistin eine Frau zu haben, die von Anfang an zwischen gegensätzlichen Kräften steht: Zwischen Himmel und Hölle, zwischen dem buddhistischen Tempel und dem Teehaus in Yoshiwara – sprich dem Bordell – und zuletzt zwischen West und Ost. Zwei Männer, zwei ›Henker‹, wollen sie zum Objekt ihrer Begierde machen: Die eine Alternative lautet Weihe zur Priesterin durch den Bonze, die andere ist die Arbeit als Geisha, also Prostitution, die ihr durch den Diener des Bonzen angetragen wird. Nach dem Selbstmord ihres Vaters wird O-Take-San als zukünftige Priesterin vom Tempeldiener gefangen gehalten. Sie wechselt ins Teehaus, wird ›Hure‹, begegnet Olaf, wird seine ›Ehefrau‹ für 999 Tage und danach Mutter, häusliche Priesterin, Heilige aus Opferbereitschaft und schliesslich Opfer, da sie sich selbst umbringt. Während im Bereich des Films das Butterfly-Narrativ immer wieder rezipiert und adaptiert wurde und es kontinuierlich Inszenierungen der Oper Madama 146 | H yunse o n L e e
Butterfly gab, gibt es wenige neu komponierte Opern, die sich direkt des ButterflyNarrativs bedienen (siehe unten zu Shigeaki Saegusas Oper Junior Butterfly, 2004). Auch im deutschsprachigen Raum gibt es keine nennenswerte neue Opernadaption. Allerdings erscheint das Butterfly-Narrativ in einigen Musiktheater-Stücken in transformierter Form.7 In Franz Lehárs Operetten Die gelbe Jacke (1923) und Das Land des Lächelns (1929) zum Beispiel lässt sich eine enge Beziehung zu Puccinis Oper erkennen. In der Operette Das Land des Lächelns wird das Butterfly-Narrativ insofern umgekehrt, dass es sich hier um die Konfiguration von ›weißer Frau vs. gelbem Mann‹ handelt (vgl. Lee 2005). Das Land des Lächelns ist eine neue Version der ursprünglich konzipierten, aber erfolglos gebliebenen Gelben Jacke von 1923. In beiden Operetten geht es um die Konfrontation zwischen Europa und dem fernen Osten, ausgetragen in einer Liebesgeschichte zwischen einer Wienerin und einem chinesischen Mann. In einer Zeit eines wachsenden Internationalismus in den zwanziger Jahren war dieses Thema höchst aktuell und fand seinen Niederschlag auch in der Operettenproduktion. Das Libretto lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Akt: Die Wienerin Lea (bzw. Lisa in der umgearbeiteten Fassung des Land des Lächelns) verliebt sich nicht in den standesgemäßen, jedoch degenerierten Adligen Claudius (Gustl im Land des Lächelns), sondern in den vornehmen chinesischen Prinzen Sou-Chong-Chwang und zieht mit ihm spontan nach Peking. 2. Akt: Begleitet von großen Festumzügen wird Sou-Chong in Peking die gelbe Jacke verliehen, die höchste Auszeichnung seines Landes. Seine Gattin Lea steht dabei etwas abseits, fühlt sich vernachlässigt und beginnt von Wien zu schwärmen. Als dann der verschmähte Wiener Claudius eintrifft und zudem Sou-Chong aus Staatsraison auch noch vier Bräute heiraten muss, ergreifen die beiden Österreicher die Flucht und kehren in ihre Heimat zurück. Sou-Chong und seine reizende Schwester Mi, die sich zwischenzeitlich in Claudius verliebt hat, weinen den beiden nach. 3. Akt: Ein Jahr später erfahren Claudius und Lea, dass Sou-Chong als Gesandter nach Wien versetzt wird und mit seiner Schwester bald eintreffen soll. Nach einigen komischen Verzögerungen können sich am Ende die beiden Paare in die Arme fallen und einander gestehen: »Ich allein bin Dein Wien«.8
Im Land des Lächelns ist der 3. Akt der Gelben Jacke gestrichen worden, stattdessen singen Lisa, die Sklavinnen, Gustl und Mi im Gesellschaftsraum im Frauenpalast des Prinzen Sou-Chong. Das dramatische zweite Finale wird zum eigentlichen Schluss, zum tragischen Ende. Sonst ändert sich inhaltlich recht wenig. Die enorme Popularität, die Das Land des Lächelns erlangte, ist vermutlich auf diese E i n e j a p a n i sc h e E h e a u f Z e i t | 147
dramaturgische Umarbeitung zurückzuführen – auf das unglückliche Ende (unhappy end). Mit dem unversöhnlichen Ausgang des Land des Lächelns von 1929 wurde ein politisches Thema ins Zentrum gerückt: der ›Rassen‹- (bzw. ›Kultur‹)-Konflikt. Es wird gezeigt, dass die Welten von Wien (Europa) und China unvereinbar sind und die Liebenden aus beiden Kulturen nicht zueinander finden können (und sollten!). 1923 wurde der Konflikt spielerisch gelöst, was aber Die Gelbe Jacke unglaubwürdig erscheinen lässt. Ein Rezensent schrieb im Jahr 1923: »Es ist ja richtig: die heutigen Frauen schwärmen nicht mehr für grüne Jungen, aber gleich für gelbe …« (Hirschfeld 1923; zit. nach Lichtfuss 1989: 212). Die glückliche Liebe einer ›weißen‹ Wienerin zu einem farbigen Ausländer sei eben befremdend und könne auch in der Kunstwelt nicht gelten. Lehár selbst versucht sich zu rechtfertigen: »Es hat […] damals in manchen Kreisen Befremden erregt, dass es zur ehelichen Verbindung einer gelben mit einer weißen Person kommt. Ich kann diese Ansicht nicht teilen, denn ich habe schon mehrere Chinesen kennen gelernt, die übrigens wertvolle Menschen sind.«9
Die Verwendung von ›Rassen‹-Merkmalen wie ›weiß‹ und ›gelb‹ sind allgemein gebräuchlich gewesen. Bereits der Titel Die Gelbe Jacke bringt dies deutlich zum Ausdruck. Auch wird Sou-Chongs Gattin Lisa von den chinesischen Hofbediensteten »weiße Prinzessin« genannt. Lehár und seine Librettisten bringen trotz ihrer Sympathie für den chinesischen Prinzen, wie Lichtfuss kommentiert, »die genetischen Unterschiede durch ihr Werk und seine Realisierung verstärkt ins Bewusstsein der Bevölkerung, ohne zu versuchen, Vorurteile abzubauen und Verständnis für die Mentalität des anderen Volkes zu erwecken. Damit erfüllten sie die Erwartungen des Publikums, dessen Vorstellung vom chinesischen Volk sich auf die Schlitzaugen und die gelbe Hautfarbe beschränkte […]« (Lichtfuss 1989: 213). Das tragische Ende des Dramas besteht nun darin, dass Lisa und Sou-Chong, beide Repräsentanten zweier Kulturen (»eine Europäerin und ein Mandarin«), nicht zueinander finden können, da die Verbindung nicht bestehen bleiben soll. Lisa, die so spontan ihrer Liebe nach China gefolgt war, verlässt Sou-Chong und kehrt genauso spontan in ihre Heimat Wien zurück. Beide schaffen es nicht, sich aus den Verpflichtungen und Verstrickungen, in denen sie gefangen sind, zu befreien, so dass die Operette tragisch ausgeht. Das Scheitern der Liebe zwischen Lisa und Sou-Chong erinnert an die Handlung von Puccinis Oper, allerdings in einer umgekehrten Konstellation: Nicht der ›weiße‹ Mann verlässt die liebende ›gelbe‹ Frau (eine Ex-Geisha), sondern die ›weiße‹ Frau den ›gelben‹ Prinzen. Durch das tragische Ende ist nun aus der Gelben Jacke – einem insgesamt eher komischen Stück mit einigen sentimentalen 148 | H yunse o n L e e
Momenten – ein sentimental-trauriges Melodrama mit einigen wenigen komischen Akzenten entstanden. Im Neuen Wiener Tagesblatt hieß es am 28.9.1930: »Lustigkeit, Übermut und Leichtsinn, alle flotten Geister der guten, alten Wiener Operette, scheinen aus der Sphäre dieses tragisch umwitterten, west-östlichen Spieles grundsätzlich verbannt zu sein« (zit. nach Lichtfuss 1989: 214). Um opernhaften Ernst zu erzeugen, wird im Land des Lächelns Lisas Familie im großspurigen Militärmilieu angesiedelt und der lustige Claudius in einen eleganten »Dragonerleutnant Gustl« verwandelt, der am Ende Sou-Chong einigermaßen würdig vertreten kann. Für eine groteske Figur wie die des Claudius, der beschließt, »vierundzwanzigmal am Tag Eierspeis« zu essen, um gelb zu werden und sich so der Chinesin Mi anzugleichen (Die Gelbe Jacke, III, 57), bleibt kein Platz mehr. Mit ihm beseitigen die Librettisten auch einen großen Teil jener umgangssprachlichen Floskeln des Wiener Dialekts, der nicht nach China passt und gerade dadurch das Publikum amüsiert hat. Damit ist auch die Voraussetzung für eine internationale Verbreitung des Stückes geschaffen, das am 10.10.1929 nun nicht mehr in Wien, sondern in Berlin aufgeführt wird.
Ge nde r-Di me nsi o ne n de r K ultur-Inszenierungen Die Oper Madama Butterfly fußt auf einem orientalistischen Narrativ, das den Orient – hier Japan – als einen sexualisierten Raum darstellt. Durch die tragische Beziehung zwischen dem amerikanischen Soldaten und der sich selbst aufopfernden Japanerin zeigt das Butterfly-Narrativ exemplarisch die vergeschlechtlichte Dynamik der auf ungleichen Machtverhältnissen basierten Ost-West-Beziehungen. Zum Fortleben dieses Klischees trägt sicher auch die japanische Selbstexotisierung bei, die bereits in der Entstehungszeit des Butterfly-Narrativs zu beobachten ist. So hatte die japanische Opernsängerin Tamaki Miura schon Anfang des 20. Jahrhunderts versucht, mit der Rolle der Butterfly die ›japanische Weiblichkeit‹ auf den westlichen Weltbühnen zu inszenieren (vgl. Yoshihara 2000). Diese Selbstexotisierung bzw. ›self-Orientalism‹ (Iwabuchi 1994) der Japaner/-innen ist im Hinblick auf die Globalisierungsprozesse wie auch auf die Diskurse des Postkolonialismus ein interessantes Phänomen. Nimmt man sie in den Blick, kann man sogar behaupten, dass der Mythos Butterfly durchaus als ein interkulturelles Produkt betrachtet werden kann. Als Performanzen, die Japan bzw. seine Kultur repräsentieren, sind ButterflyInszenierungen insofern interessant, als hier in der Regel die Kategorie Gender gekoppelt an die Kategorie ›Kultur‹ inszeniert wird. Bei den Butterfly-Produktionen E i n e j a p a n i sc h e E h e a u f Z e i t | 149
handelt es sich zum einen um Performanzen im wörtlichen Sinne, wenn sie auf der (musik-) theatralischen Bühne aufgeführt werden, aber auch wenn sie auf der Leinwand filmisch in Szene gesetzt werden. Zum anderen geht es bei den ButterflyProduktionen um die Inszenierung der Kultur (cultural performance), die Victor Turner eine Praxis nennt, in der eine Kultur sich selbst erkennt: »Cultures are most fully expressed in and made conscious of themselves in their ritual and theatrical performances […]. A performance is a dialectic ›flow‹, that is, spontaneous movement in which action and awareness are one, and ›reflexivity‹, in which the central meanings, values and goals of a culture are seen ›in action‹, as they shape and explain behavior. A performance is declarative of our shared humanity, but it utters the uniqueness of particular cultures. We will know one another better by entering one another’s performances and learning their grammars and vocabularies.« (zit. n. Klein; Sting 2005: 7–8)
Die ›Kulturinszenierungen‹ treten – im Komplex der Madame Butterfly – gewöhnlich im Rahmen einer performativen Kunst in Erscheinung. Es sind also im wahrsten Sinne des Wortes die Performanzen, welche die Inszenierung bzw. Repräsentation der Kultur ermöglichen. So ist in den Diskursen um Madame Butterfly in erster Linie die Repräsentation der japanischen Kultur durch die Protagonistin Butterfly zu beobachten. Die Oper Puccinis wird so zum orientalistischen Mastertext umgedeutet, dass beispielsweise ihr erster Akt, der eine japanische Hochzeit in Begleitung japanischer Volksmelodien zeigt, als ein klassisches Motiv für die Exotisierung bzw. Orientalisierung Japans dient. Die Gender-Dimension der Kultur-Inszenierung lautet demnach simpel: Butterfly als kleine, zierliche und unterwürfige Japanerin repräsentiert das weibliche Japan, darüber hinaus ganz Asien, welches mit einer Prostituierten, also seinem eigenen kulturellen Ausverkauf, identifiziert wird, während der weiße, starke, robuste Pinkerton trotz all seiner zweifelhaften Charaktereigenschaften das imperialistische, starke, männliche und begehrenswerte Euro-Amerika, also den Westen, repräsentiert. Dieses fundamentale Muster des Orientalismus taucht im Laufe des 20. Jahrhundert in den auf Japan bezogenen Diskursen immer wieder, auch mit Brechungen, auf. In der deutschsprachigen Prosaliteratur des 20. Jahrhunderts tauchen der Geisha-Topos, die Liebesbeziehung und die sexuelle Beziehung zwischen ›weißem‹ Mann und ›gelber‹ Frau stereotypisch und dabei immer wieder variiert auf, wie die literarischen Reisetexte von Adolf Muschg (Im Sommer des Hasen, 1965), Gerhard Roth (Plan, 1998), Elisabeth Reichart (Das vergessene Lächeln der Amaterasu, 1998), Thorsten Krämer (Neue Musik aus Japan, 1999) u. a. zeigen. 150 | H yunse o n L e e
Der Zusammenhang zwischen kultureller und geschlechtlicher Differenz wird z. B. im Roman Im Sommer des Hasen von Adolf Muschg durch die Liebesgeschichte zwischen dem verheirateten Stipendiaten Buser und der TheologieStudentin Yamaki Yoko hergestellt. Diese Romanze steht im Mittelpunkt einer der sieben Erzählungen von Schweizer Stipendiaten, die einen Sommer in Japan verbringen. Wie im Butterfly-Narrativ ist zwar eine Affäre möglich, aber es kann daraus keine dauerhafte Bindung zwischen einem westlichen Mann und einer japanischen Frau entstehen. Einerseits macht der Schweizer Yoko zwar einen Heiratsantrag, doch so beiläufig, dass sie »augenblicklich« den Kopf schüttelte, und »gleichzeitig schien ihr Körper zu gefrieren« (Muschg 1975: 211). Er nimmt an, dass sie ihn »wegen der Reinheit« der Liebe nicht heiraten will (Muschg 1975: 212); Andererseits kann Buser sich nicht ernsthaft vorstellen, mit Yoko ein Ehe leben zu führen und in ihre Kultur einzutauchen. Dennoch werden sie »jetzt zum Paar« und führen eine Art ›Ehe auf Zeit‹, »auf Abschied und Vergänglichkeit gebaut« (Muschg 1975: 216). Die Affäre kulminiert, als das Paar das Dorf ihres Vaters und Verwandte besucht, wo er höflich und freundlich empfangen wird. Buser, ein bereits verheirateter Mann, dessen Frau in der Schweiz gerade ein Baby geboren hat, stellt sich gegenüber Yokos Vater und ihren Verwandten als zukünftiger Schwiegersohn vor. Er verschweigt nichts, wenigstens nicht seinen Ehestand, beteuert aber gleichzeitig, dass er Yoko mit reinem Gewissen zu der Seinen machen könne. Drei Wochen später ist der blonde junge Europäer doch heilfroh, das japanische Dorf verlassen zu können. Yoko studiert Theologie an der Universität Kyoto. Die Mitglieder ihrer Familie sind seit Generationen Christen, ihre Mutter ist früh gestorben. Yokos christliche, unflexible und konservative Werthaltung bezieht sich aber nicht auf ihre Sexualität. Ihr Charakter bleibt zwar undurchsichtig, doch wird sie in der Liebe »durchsichtig« (Muschg 1975: 210), und aus der Sicht von Buser ist sie »rein«, »weiblich«. Zudem beeindruckt ihn ihre »Leichtigkeit« (Muschg 1975: 211). Ihre wahre Begabung zeigt sich in der körperlichen Liebe. Sie liebt ihn, »wie sie atmete, ganz einfach« (Muschg 1975: 217). Und die Lust ist »ihr etwas Selbstverständliches, das heiterste Spiel unter anderen« (Muschg 1975: 206), obwohl sie so jung ist. Die junge Frau wird als eine Art reines Naturwesen inszeniert, deren Liebe rein, unschuldig und einfach sein soll. Hier erscheint eine sehr verbreitete Männerphantasie, die in fast allen exotisierenden Topoi verankert ist. Ihr zentraler Bestandteil ist die Phantasie der Männer von einer sexuellen Verfügbarkeit von Frauen, insbesondere jungen kindlichen Mädchen. Yoko spricht nur gebrochen Englisch und bleibt einsilbig. Konturlos, undurchsichtig, doch im Liebesdienst leidenschaftlich – hier zeigt sich wieder das Bild der E i n e j a p a n i sc h e E h e a u f Z e i t | 151
Madame Chrysanthème. Anders als Loti und Pinkerton braucht Buser überdies nicht einmal für seine Befriedigung zu bezahlen. Auch in Gerhard Roths Roman Der Plan (1998) wird die Liebschaft zwischen einem ›Europäer‹, hier dem Österreicher Feldt, und einer Japanerin zu einer intensiven Reiseerfahrung, mit deren Hilfe dem Leser die Kultur und Mentalität Japans verdichtet näher gebracht wird. Demgegenüber wirken die üblichen klischeehaften Elemente der Reise, von den Vulkanen über die Schilderungen von Erdbeben bis hin zum Fuji-san wie die notwendige Garnitur aus dem Standard-Repertoire der trivialen Reiseliteratur. Feldt, dessen Charakter keineswegs sympathisch-charmant ist und der auch nicht anderweitig attraktiv dargestellt wird, projiziert seine sexuelle Begierde zunächst in voyeuristischer Weise auf die Japanerin Sato, wie er es auf Reisen oft getan hat: »Er sehnte sich, wie so oft, nach einer Frau, ihrer Wärme, ihrer Umarmung, ihren Worten. Manchmal, auf Reisen, wenn er einsam war, hatte er am nächsten Zeitungsstand ein pornographisches Heft gekauft und sich damit in das Hotelzimmer verdrückt. Seine Phantasie machte ihn nie zum Mitagierenden auf den Fotografien, sondern er hatte immer die Rolle des Voyeurs eingenommen, der ein anonymer, unsichtbarer Zeuge einer obszönen Vereinigung wurde.« (Roth 1998: 68)
Sato, das mädchenhafte Geschöpf, entpuppt sich bald als eine sinnlich leidenschaftliche Frau: Auf der Reise wartet sie in einem ryokan, einer japanischen Pension, heimlich auf Feldt und verbringt die Nacht mit ihm. Sato steht in der Reihe des Typus Kindfrau: Sie ist unauffällig gekleidet mit dunklem Pullover und Rock und erinnert ihn an ein Mädchen, das gerade erwachsen geworden ist (vgl. Roth 1998: 49). Doch im Unterschied zu den anderen Figuren – etwa Butterfly oder Yoko im Roman von Muschg –, handelt es sich bei ihr um eine erwachsene Frau, die als Germanistin an einer Universität arbeitet und Feldt auf seiner Reise begleitet. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn. Diese Beziehung ist nur eine Episode, eine Liebschaft, die nur sehr rudimentär und in einigen kurzen Passagen wiedergegeben wird. Aber auch hier findet man eine Kombination aus unproblematischer, natürlicher sexueller Verfügbarkeit, dem Geheimnisvollen und Unverständlichen als Charakteristikum von Japanerinnen/Asiatinnen und der Unmöglichkeit einer dauerhaften Liebe – jenes stereotype kulturelle Muster der interkulturellen Liebschaft. Das Stereotyp der unterwürfigen, gehorsamen, billigen Japanerin oder Asiatin zirkuliert Anfang des 21. Jahrhunderts weltweit und auch im deutschsprachigen Raum weiter. Zum Beispiel tauchen in zahlreichen Fernsehfilmen Liebespaare in der Butterfly-Tradition auf, nur jetzt in den verschiedensten Variationen der Na152 | H yunse o n L e e
tionalitäten. Immer noch trifft eine ›exotische‹ Frau – sei es Japanerin, Chinesin, Thailänderin oder auch Vietnamesin – auf einen euro-amerikanischen ›weißen‹ Mann. Im Bayrischen Rundfunk war zum Beispiel im Jahr 2007 der Film Haus der Wünsche zu sehen, in dem sich ein junger deutscher Mann in eine thailändische Prostituierte ›verliebt‹, die seine sexuelle Hingabe mit Liebe verwechselt und von ihm durch eine Heirat aus ihrer Misere errettet werden möchte. Doch heiraten will er sie wiederum nicht. Ebenso stereotyp bleibt das Bild des ›weißen‹ Mannes, dessen Prototyp im 21. Jahrhundert in der Figur des Sextouristen kulminiert, getarnt wahlweise als Geschäftsmann, Gelehrter oder Tourist. Die erotischen Fantasien unterscheiden nicht zwischen Japanerinnen, Thailänderinnen, Chinesinnen oder auch Vietnamesinnen. Begehrt wird nur ihr ›gelber‹ Körper. Nur wenige Figuren reflektieren diese Unterschiede, wie der Protagonist in dem weiter unten vorgestellten Roman Mitsukos Restaurant (2009) von Christoph Peters. Der Butterfly-Mythos, einer der bekanntesten modernen Mythen, hat allerdings durch die Globalisierung auch eine neue, zusätzliche Bedeutung gewonnen, so dass jetzt interkulturelle Konfigurationen von ›weißem‹ Mann und ›gelber‹ Frau nicht mehr zwangsweise als ein exotisches Phänomen präsentiert werden und auch ›Umkehrungen‹ erscheinen. Besondere Aufmerksamkeit verdient hier Monsieur Butterfly – so nenne ich den ›gelben‹ Mann –, zumal der Butterfly-Mythos gleichsam den ›gelben‹ Mann ausblendet und die Penetrations-Fantasien des ›weißen‹ Mannes erfüllt, kombiniert mit der Fantasie von der ›reinen‹, den weißen Mann liebenden Prostituierten. Bei der Inszenierung der Männlichkeit fällt auf, dass Pinkerton als westlicher egoistischer Mann per se in Szene gesetzt wird, der nur (sexuellen) Spaß kennt, aber keine Verantwortung übernehmen will, zumal er aus Geiz nicht einmal Butterfly genügend Unterhalt zahlt. Der Japaner bzw. der asiatische Mann dagegen wird gar nicht ins Blickfeld gestellt, so dass man von seiner Verdrängung und Abwesenheit sprechen kann. Der ›gelbe‹ Mann gewinnt allerdings auch in seiner marginalen Position im Hintergrund an Bedeutung, denn, so meine Hypothese, ›im Schatten‹ ist er immer als gefürchteter Konkurrent vorhanden. Dieses Phänomen ist im Kontext der ›gelben Gefahr‹ zu sehen, jenes anti-asiatischen Schlagwortes, das sich u. a. nach dem Sieg Japans über Russland 1905 auch in Bezug auf Japan stark verbreitete. Japan war das erste ›nicht-weiße‹ Land, das militärisch und wirtschaftlich mit den Westmächten gleichzog. Der ›gelbe‹ Mann wird vor diesem Hintergrund eine Bedrohung für den ›weißen‹ Mann. Auch der Bonze, Prinz Yamadori und Goro aus Puccinis Oper sind keineswegs positive attraktive Männerfiguren, sondern wie in Lotis Roman in erster Linie als lächerliche Typen dargestellt, welche die verarmten jungen Frauen verkaufen. Dagegen wird der japanische Protagonist Ōta Toyotarō in Mori Ōgais E i n e j a p a n i sc h e E h e a u f Z e i t | 153
Novelle Maihime (auf Deutsch Die Tänzerin, 1890/Verfilmung 1989),10 der eine Art ›Ehe auf Zeit‹ mit einer deutschen Tänzerin in Berlin eingeht, als ein verantwortungsbewusster Mann dargestellt. Anders als die weibliche Butterfly, die ihre Wünsche auf das individuelle Glück, die neue Welt, auf den vermeintlich geliebten weißen Mann projiziert, richtet der Protagonist wie auch der Autor von Maihime den Blick nach innen auf sich selbst, nicht auf das Andere. Auch Junior Butterfly, der Sohn von Butterfly und Pinkerton, ist eine Figur, die für ein alternatives Bild des japanischen Mannes steht. In der Oper Junior Butterfly von Saegusa Shigeaki, die im folgenden vorgestellt wird, tritt er als ein verantwortungsbewusst handelnder fürsorglicher Vater mit weiblichen Zügen auf.
D ek o n s t ruk t i o ne n de s B u t t erf l y-Mythos Fast ein Jahrhundert nach Puccinis Madama Butterfly, am 28. April 2004, wurde Saegusa Shigeakis Oper Junior Butterfly im Tokyo Bunka Kaikan in Ueno uraufgeführt. Das Libretto schrieb der Schriftsteller Shimada Masahiko, dessen RomanTriologie »Madame Chrystal« (Suisei no jūnin, 2000) als Vorlage des Opernlibrettos diente; Dirigent war Ōtomo Naoto.11 Diese Oper ist ein seltenes Beispiel für ein Werk, das sich sowohl musikalisch als auch textlich auf die Oper Puccinis bezieht und dabei das Butterfly-Narrativ umkehrt. Schon viel früher hatte es Versuche gegeben, das stereotype Narrativ umzukehren. Bertolt Brechts unvollendetes Projekt Die Judith von Shimoda, das auf dem japanischen Theaterstück Nyonin aishi tōjin Okichi monogatari (»Die Geschichte der Ausländerhure Okichi«, 1929) von Yamamoto Yūzō basiert, war als eine Anti-Butterfly konzipiert. Im September 1940 notiert Brecht in sein Journal zu diesem Vorhaben: »Das könnte eine japanische Judith werden, d. h. eine zu Ende erzählte Geschichte der großen Heldentat.« (Brecht 2006: 123). Das Motiv der (unglücklichen Liebe) zwischen dem ›gelben‹ Mann und der ›weißen‹ Frau nach der Rückkehr des Mannes in sein Heimatland Japan – wie in Ōgais Novelle Maihime – findet man auch ansatzweise im deutsch-japanischen Propaganda-Stummfilm Die Tochter des Samurai (Regie: Arnold Fanck, 1937), in dem die Liebe einer japanischen Verlobten auf eine harte Probe gestellt wird. Das Theaterstück von David H. Hwang M. Butterfly (1988), das sich bewusst und zielgerichtet mit der Oper Puccinis auseinandersetzt, wurde von David Cronenberg im Jahr 1993 verfilmt. Auch im deutschsprachigen Raum gibt es neben den vielen stereotypen Darstellungen neuere Performanzen, die versucht haben, die stereotype Reproduktion des Butterfly-Narrativs oder des Butterfly-Mythos in den jeweiligen Inszenierungen auf154 | H yunse o n L e e
zubrechen. Ich möchte mich hier auf zwei Beispiele beschränken und deren ästhetische Strategien diskutieren. Wie Jürgen Schläder betont, bricht in jeder Opernaufführung »eine beständig intensive Spannung zwischen den historischen Qualitäten des Textes und den aktualisierenden Momenten der modernen Aufführung auf« (Schläder 2001: 189). Von dieser Spannung zwischen Historizität und Aktualität, welche ohnehin integraler Bestandteil jeder Opernaufführung ist, zeugt auch die Inszenierung von Calixto Bieito an der Berliner Komischen Oper im Jahr 2005 (vgl. Abb. 3). Der Schauplatz ist hier nicht Japan, sondern ein nicht eindeutig lokalisierbarer Ort, wo Butterfly im weißen westlichen Hochzeitskleid ihre Liebe zu dem weißen Pinkerton ›feiert‹. Japanische Szenen werden nicht traditionell japanisch in Szene gesetzt, 3 Cho-Cho-San im transkulturellen Niemandsland: Juliette sondern mit moderner westlicher Aus- Lee in der Hauptr olle der Madame-Butterfly-Inszenierung von stattung. Es handelt sich also um ein Calixto Bieito an der Komischen Oper Berlin (2005). Foto: transkulturelles Niemandsland, wo Monika Rittershaus. die vermeintliche ›Liebe zwischen den Rassen‹ ausdrücklich durch sexuelle Ausbeutung ersetzt wird. In diesem bordellartigen Raum wird keine Liebessehnsucht erweckt, keine Sentimentalität erlaubt und die Liebe nicht besungen, sondern die traurige Erscheinung der Butterfly erweckt höchstens Mitleid in ihrem tristen Dasein. Bieito verwandelt Japan in einen Ort ohne exotischen Traum, der geprägt ist von grausamem Menschhandel. Mit dem Bild des verlockenden Japan, das um die Wende zum 20. Jahrhundert so viele Sehnsüchte geweckt hat, hat dieses Japan nichts mehr gemein. Der Schauplatz der Geschichte kann sich nach dieser Interpretation überall befinden: Er wird zu einem beliebigen fremden Ort, an dem die sexuelle Ausbeutung einer (asiatischen) Frau durch einen (westlichen) Mann stattfindet. Das imaginäre Japan wird durch die postmoderne, ja postkoloniale Figuren-Konstellation (Goro E i n e j a p a n i sc h e E h e a u f Z e i t | 155
als Zuhälter, Butterfly als Prostituierte, Pinkerton als brutaler Sextourist) als sexuell ausbeutendes Land in Szene gesetzt, ohne Beschönigung oder Exotisierung. Hier geht es eindeutig um einen radikalen Bruch mit der Tradition der Butterfly-Inszenierungen. Christoph Peters’ im Jahr 2009 erschienener Roman Mitsukos Restaurant stellt insofern ein Beispiel des ›umkehrenden Exotismus‹ dar, als die Entwicklung der Geschichte immer klarer zeigt, dass es sich in der nicht ausgelebten Beziehung zwischen einem deutschen Mann und einer japanischen Frau um reine Phantasien des männlichen Protagonisten Achim handelt. Dieser, ein junger Mann um die 30, freier Mitarbeiter in einem Schauspielhaus in einer Kleinstadt in NordrheinWestfalen, macht keinen Hehl daraus, sich in die Kultur Japans verliebt zu haben, und zwar seit jenem Abend im Jahr 1984, als er mit seinem Kumpel Wolf sein bestandenes Abitur in einem japanischen Restaurant in Düsseldorf gefeiert hat. Die japanische Köchin Mitsuko lernt er acht Jahre später, also im Jahr 1992, zufällig in ›Mitsukos Restaurant‹ – so heißt das Gasthaus – in der rheinischen Provinz kennen, und obwohl sie bereits mit dem deutschen Restaurant-Besitzer Eugen liiert ist, wird sie seine Projektionsfigur. Seine Verliebtheit macht den gesamten Inhalt des Buches aus und wird in detaillierten Beschreibungen seines Alltags als KochGehilfe in besagtem Restaurant zum Ausdruck gebracht. Er ist so hilflos in Mitsuko verliebt, dass er selbst deren Hochzeit mit Eugen mitfeiert und ihre Hochzeitsreise begleitet. Das Besondere der Geschichte von der Liebschaft des Ich-Erzählers und der älteren Japanerin liegt darin, dass die Exotik nicht in einem fernen Land in Erscheinung tritt, sondern mitten in Europa, in einer deutschen Kleinstadt. Anders als jene reisenden männlichen Figuren – von Pierre Loti bis Gerhards Roths Protagonist –, die im exotischen Japan über dessen Kultur reflektieren und mit einer einheimischen Frau sexuelle Affären haben und so häufig ihre Wahrnehmung der Kultur mit der Geschlechterbeziehung verwechseln, wird hier der Ich-Erzähler »zuhause« mit einer Fremden und deren Exotik konfrontiert. Dementsprechend ist der exotische Charme der Frau weniger von der Kultur ihrer Herkunft, sondern vor allem von seiner Imagination geprägt, und die Erzählweise Peters’ bringt dies deutlich zum Ausdruck. Ein weiterer Aspekt dieser Exotik wird durch die Konstellation des (imaginären) Paares an den Tag gebracht: Ein junger weißer Mann und eine etwas ältere japanische Frau. An dieser Konstellation geht die Liebschaft bzw. Liebesgeschichte der beiden zuletzt zugrunde. Die Aussicht, mit ihr schlafen zu können, hat seine Verliebtheit aufrechterhalten, und als diese nun doch realisierbar scheint, bekommt er es mit der Angst zu tun. Denn »er erinnerte sich an den Anblick ihrer Nacktheit in der Hotelsauna, der ihn vier Monate zuvor merkwürdig kalt gelassen, ja sogar ein 156 | H yunse o n L e e
wenig abgestoßen hatte« (Peters 2009: 379). Was er liebt, sind Frauen wie in den erotischen Holzschnitten Utamaros oder Kunisadas. Zudem erinnert sie ihn im entscheidenden Augenblick an die stereotypen japanischen älteren Frauen, die mit der Kamera in der Hand in gelblichen Jacken in den europäischen Städten herumreisen. Seine Lust, seine Begierde auf Mitsuko, verschwindet und er erwacht aus seiner Illusion: »Er atmete langsam und tief und schaute sie an. Etwas in seinem Inneren rieselte in sich zusammen. Er trat aus sich heraus und sah dabei zu, wie sich sein Blick auf Mitsuko, ohne dass er etwas dagegen tun konnte, von Grund auf änderte oder vielmehr unerbittlich zu dem wurde, den er sich die ganze Zeit über verboten hatte. Plötzlich kniete neben ihm eine dieser geschlechtslosen ältlichen Japanerinnen, die in Gruppen mit khakifarbener Weste und lächerlichem Käppi vor dem Dom oder sonst irgendeiner Sehenswürdigkeit der Welt standen. Eine kurze Panik stieg in ihm auf, und er hatte den unwiderstehlichen Antrieb, so schnell wie möglich aus dieser Wohnung zu verschwinden, damit sie nicht auf den Gedanken käme, ihn zu verführen.« (Peters 2009: 393)
Hier wird jenes Stereotyp ›Kindfrau‹ wiederum von einem anderen Stereotyp – dem der alten Japanerin mit Kamera in gelber Jacke vor dem Kölner Dom – konterkariert. Mitsuko ist keineswegs eine unschuldige gehorsame kleine Japanerin, sondern stark, selbständig, reif und kalkuliert, und ihre Stimme gehört auch nicht zu dem Typus, der ihm in den Sinn kommt, wenn er Utamaros Bilder betrachtet und sich ausmalt, »wie die Stimmen klängen, die zu den bei aller Hingabe vollkommen verschlossenen Gesichtern der Frauen gehörten« (Peters 2009: 379). Sie wusste von Anfang an, was sie wollte: Sie kommt nach Europa, um sich aus den Zwängen der japanischen Gesellschaft zu befreien, und nutzt ihre Ehe mit Eugen aus, um schließlich mit ihrem gesammelten Vermögen alleine spurlos – wohl nach Australien – zu flüchten. Von den japanischen Frauen wird hier auch anders als sonst geredet, wenn Achims Freund Wolf – ein »Japanexperte« – erzählt: »Japanische Frauen erwarten von einem deutschen Mann das gleiche, wie eine Deutsche, die nach Kuba fährt, um sich einen Strandneger aufzureißen: einen dicken Schwanz und rohe Kraft.« (Peters 2009: 330). Wie ihr Ehemann Eugen erzählt, hat Mitsuko seine sexuellen Wünsche auch nicht gut erfüllen können: »Da muss man sich gar keine Sorgen machen, dass sie jemand anderen hat, der schickt sie nach dem ersten Mal gleich wieder zurück, so tot ist die im Bett …« (Peters 2009: 371); »Die soll sich mal bei einem Psychiater auf die Couch legen. Wenn Du mich fragst, sind ihre Instinkte als Frau total gestört von dieser kranken Japangesellschaft …« (Peters 2009: 372).
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Diese an Komik grenzende interkulturelle Ehe auf Zeit gewinnt Bedeutung, weil sie die bekannten Muster der exotistischen Liebesgeschichte – kulminiert im Butterfly-Narrativ – bricht, indem sie mit der stereotypen Wahrnehmung der fremden Kultur spielt, vor allem mit der Frauenfigur. Aber auch mit der Verschiebung des Schauplatzes wird klar markiert, dass es sich nicht mehr um ein koloniales Zeitalter handelt, sondern um ein globalisiertes. Fremde (Frauen) muss man nicht in einem fernen exotischen Land suchen, sondern – um Julia Kristevas Buchtitel zu verwenden –, ›Fremde sind wir uns selbst‹, oder ›Fremde sind unter uns‹. Man muss nun nicht mehr wirklich in die Ferne reisen, um eine exotische Frau und das exotische Land kennen zu lernen; sie sind inmitten von Europa oder auch sonst überall. Solch eine geographische Verschiebung des exotischen Schauplatzes hat sicherlich mit der sich rapide wandelnden Realität zu tun, die wiederum eine neue Art Reiseliteratur hervorgebracht hat.
F az it Die Inzenierungsgeschichte der Madame Butterfly bewegt sich im Spannungsverhältnis zwischen Historizität und Aktualität, wobei der politische Diskurs thematisch bedingt – selbst in trivialster Inszenierung – mit einfließt. Das Butterfly-Narrativ wird zum einen in seinem traditionellen stereotypen Modus weiter erzählt, zum anderen tritt gerade im deutschsprachigen Raum der Versuch, die stereotype Gender-Performanz zu durchbrechen, verstärkt in Erscheinung. Die Rezeptionsgeschichte des Butterfly-Narrativs zeigt, dass sich der Japonismus über ein Jahrhundert hinweg über seine Interkulturalität hinaus bis hin zur Transkulturalität entwickelt hat. Gerade im Zeitalter der Globalisierung verliert der Japonismus seinen speziellen Ort Japan, und eröffnet einen transkulturellen Raum, in dem die Exotik ihre Faszination einbüßt. Jüngste Inszenierungen von Japan und der japanischen Frau in der Ehe auf Zeit mit einem ›weißen‹ Mann – sei es in Bieitos Musiktheater oder auch in Peters’ Roman – veranschaulichen, dass nicht mehr Nagasaki, also das japanische Lokale, den Schauplatz ausmacht, sondern der intermediale Ort wird zunehmend wichtiger, gefangen in seiner jeweiligen spezifischen Medienästhetik.
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Anm erkungen 1 Der folgende Beitrag bildet einen Teilaspekt der Monographie: Hyunseon Lee: Metamorphosen der Madame Butterfly. Interkulturelle Liebschaften zwischen der Literatur, Oper und Film (Dez. 2012 als Habilitationsschrift angenommen von der Universität Siegen und derzeit im Erscheinen). 2 Die japanische Kawakami-Truppe unter der Leitung des Schauspielers Kawakami Otojirō hat während ihrer europäischen Tournee Anfang 1900 einen großen Einfluss auf die Theateravantgarde und ‑kritiker ausgeübt. Besonders die Performanzen der Schauspielerin Sada Yakko, der Ehefrau Kawakamis, auf der Pariser Weltausstellung 1900 beeindruckten das Pariser Publikum, darunter bekannte europäische Schriftsteller und Künstler-/ innen wie André Gide, Paul Klee und Isadora Duncan, so dass ›Kimono Sadayakko‹ zu einem Schlagwort wurde. Die Truppe kam 1901/02 erneut nach Europa. Puccini machte ihre Geisha-Motive wie auch ihre Grammophonaufnahme zu Elementen seiner Opernkomposition Madama Butterfly. Er erzählte einem japanischen Sänger, dass er während der Komposition japanischer Melodien in dieser Oper die Schallplattenaufnahmen seiner Gruppe benutzt habe. Nach einer ersten Aufnahme im Jahre 1900 in Paris hat die Truppe in Berlin 1901 eine zweite Aufnahme angefertigt, die zum Teil auch Live-Performances beinhaltet. Vgl. dazu u. a. Fischer-Lichte 1997: 117–119; Groos 1999; Downer 2004: 134–210. 3 Als die stummen ›Butterfly-Filme‹ sind u. a. Madame Butterfly (1915) von Sidney Olcott; Harakiri (1919) von Fritz Lang; His Birthright (1918) von Sessue Hayakawa und Chester Franklins The Toll of the Sea (1922) zu nennen. Zu den französischen Stummfilmen, die den Butterfly-Stoff aufnehmen, siehe Lewinsky 2010. 4 Puccini hatte nach einem großen Skandal an der Mailänder Scala die Oper dramaturgisch mehrfach neu bearbeitet (nach der zweiten Fassung in Brescia, Mai 1904, war die Pariser Version vom Dezember 1906 die vierte Fassung). Zu den musikalischen Änderungen von La Scala über Brescia bis zur heutigen Version des Librettos vgl. Ashbrook 1985: 95–124. 5 Bis zum Ende des Jahres 1906 kam es in Italien zu sechs Inszenierungen und im Ausland zu fünf (Paris, London, Buenos Aires, Budapest, Kairo). Vgl. Powils-Okano 1986: 21. 6 Tragödie einer Japanerin (nach John L. Long und David Belasco) von L. Illica und G. Giacosa, Deutsch von Alfred Brüggemann, Musik von Giacomo Puccini. 1907 Copyright von G. Ricordi & Co. 7 Als bekanntestes internationales Beispiel gilt das Broadway-Musical Miss Saigon (1989). 8 Die gelbe Jacke. Operette in drei Akten von Victor Léon, Musik von Franz Lehár. Soufflierbuch mit Regieanmerkungen, Wien 1923. Zit. nach Lichtfuss 1989: 210 f. Im Folgenden wird der Text als Die Gelbe Jacke mit Akt/Nr. und Seitenzahl ohne Anmerkung zitiert. Hier im Falle des Liedes »Ich allein bin Dein Wien«: Die Gelbe Jacke, III. Finale, 69. 9 Lehár 21.9.1923, zit. nach Lichtfuss 1989: 212, Hervorhebung durch die Verfasserin. E i n e j a p a n i sc h e E h e a u f Z e i t | 159
10 Die japanische Sekundärliteratur zur Novelle Maihime umfasst über 700 Titel. Hier wurde die deutsche Übersetzung von Wolfgang Schamoni Die Tänzerin benutzt. Siehe Mori Ōgai: Die Tänzerin. Zwei Erzählungen, Frankfurt am Main 1994, S. 7–44. 11 Meine Analyse basiert auf dem Libretto und der Aufnahme der Inszenierung am Tokyo Bunka Kaikan (Kulturzentrum) in Ueno, April 2004. Die Saegusa Agency in Tokyo hat mir freundlicherweise das Libretto und die Aufnahme zur Verfügung gestellt. Hier wurde die Rolle des J.B. von dem japanischen Tenor Sano Shigehiro gesungen und seine japanische Verlobte und spätere Frau Naomi von der Sopranistin Satō Shinobu.
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MEISTERIN DER »KULTURELLEN KREISBEWEGUNG« Ei n Int e rvi e w mi t de r Re gi ss eurin Doris Dörrie Die Regisseurin und Autorin Doris Dörrie gehört zu den bekanntesten »nipponspirierten« Künstler/innen in Deutschland. Für ihren im Jahr 2000 erschienenen Film Erleuchtung garantiert drehte sie mit Gustav Peter Wöhler und Uwe Ochsenknecht mit einer Art »Guerilla-Methode« in Tokyo und in einem japanischen Zen-Kloster. 2005 folgte Der Fischer und seine Frau, eine Verfilmung des Grimm’schen Märchens, in der Japan und vor allem Koi-Karpfen eine wichtige Rolle spielen. Der Film Kirschblüten–Hanami, der 2008 bei der Berlinale Premiere feierte und von Kritik und Publikum sehr positiv aufgenommen wurde, lehnt sich in seiner Geschichte an Ozu Yasujirōs Werk Tokyo Monogatari an. Die zweite Hälfte von Kirschblüten spielt in Tokyo, wo der Witwer Rudi versucht, den Lebenstraum seiner verstorbenen Frau umzusetzen und dabei eine Butoh-Tänzerin kennenlernt. Weitere Berührungspunkte zu Japan finden sich in Dörries Kurzgeschichten, in ihren Operninszenierungen von Madame Butterfly (2005) und Turandot (2002) und in dem Dokumentarfilm How to Cook your Life (2007). Elisabeth Scherer sprach mit Doris Dörrie über »geplantes Verirren«, Zen-Buddhismus und Japan1 Die Regisseurin Doris Dörrie. Foto: Constantin Film, Dieter Filme nach Fukushima. Mayr.
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Erinnern Sie sich noch, wann Sie sich zum ersten Mal für etwas »Japanisches« begeistert haben? Ich denke, das waren die Filme von großen japanischen Regisseuren wie Kurosawa Akira und Ozu Yasujirō. Die haben damals, als ich an der Filmhochschule München studiert habe, eine große Rolle gespielt. Es gab eigene Seminare zum japanischen Film, in denen die Arbeit dieser Regisseure diskutiert wurde. Die richtige Japan-Begeisterung kam dann aber mit meinem ersten Japan-Besuch. Wann war das? Das war 1984, ich war mit meinem Film Mitten ins Herz nach Tokyo eingeladen worden und verbrachte einige Tage nur in Kinos und in feiner Gesellschaft. Das wurde mir dann zu langweilig, denn ich wollte mehr von dem Land sehen. Also habe ich mir ein Schild geben lassen, auf dem Tokyo in japanischen Schriftzeichen geschrieben stand, und bin per Anhalter losgefahren. Das Schild war meine Versicherung, auch wieder zurückzukommen. Sind Sie dann tatsächlich verloren gegangen? Es war damals in Japan wirklich alles unverständlich für mich, da noch nirgendwo etwas in unserem Alphabet stand, alles war nur mit japanischen Schriftzeichen beschriftet. Deswegen wusste ich oft nicht, wo ich gerade war und bin einfach auf gut Glück gereist. Das hat aber sehr gut geklappt und ich konnte mich doch immer irgendwie verständigen, auch ohne Sprache – das war eine wichtige Erfahrung für mich, da ich sonst immer sehr viel mit Lesen und Schreiben beschäftigt bin. Ich habe es genossen, nichts zu verstehen. Mein Tokyo-Schild habe ich am Ende gar nicht gebraucht. Wie genau hat die Verständigung mit den Japanern funktioniert? Über Gesten natürlich, und manchmal auch einfach über das Singen. In Japan ist genauso wie bei uns der amerikanische Pop sehr verbreitet und daher gab es viele Songs, die ich zusammen mit Japanern singen konnte. Die Globalisierung in der Popkultur hat hier also dafür gesorgt, dass wir gleich etwas Gemeinsames hatten. Gustav in »Erleuchtung garantiert« spricht davon, dass er gerade durch die Situation, nichts zu verstehen und keine Orientierung zu haben, seine Angst vor der Verlorenheit abschütteln konnte. Ging es Ihnen genauso? 166 | Ein I nt e rvie w m it d e r Re g is s e u r in Do r is Dö r r ie
Grundsätzlich hatte ich schon einmal keine Angst, weil man in Japan einfach keine Angst haben muss, es passiert einem nichts. Und es ist ja auch ein buddhistisches Prinzip, dass der Weg zur Befreiung sich gerade dann eröffnet, wenn man nicht mehr an Dingen haftet, sich loslöst von Routinen und vor allem von Konzepten, wie etwas zu sein hat. Sie haben sich selbst viel mit Buddhismus beschäftigt. War hier auch von Anfang an eine Verbindung zu Japan gegeben? Nein, zunächst bin ich über Tibet zum Buddhismus gekommen und habe mich mit dieser Form des Buddhismus beschäftigt. Ich bin selbst aber in einem protestantischen Umfeld aufgewachsen, und ich denke, dass mir deswegen der Zen-Buddhismus doch etwas mehr liegt. Sie haben sich mit Zen-Buddhismus in verschiedenen Kontexten beschäftigt, haben mit »How to Cook your Life« 2007 auch einen Dokumentarfilm über den amerikanischen Koch und Zen-Meister Edward Espe Brown gedreht. Wie eng sehen Sie die Beziehung zwischen Japan und Zen? In Japan selbst beschäftigen sich die Menschen im Alltag nur wenig mit Buddhismus, da ist Shintō als Religion doch präsenter. Laien praktizieren für gewöhnlich keine Zen-Meditation. Diese Beschäftigung von Laien mit Zen-Praktiken hat sich im Westen entwickelt, zum Beispiel durch Suzuki Shunryū, der Ende der 1950er Jahre nach Californien ging, weil ihm der Zen-Buddhismus in Japan zu konservativ war und er etwas Neues entwickeln wollte. Im Westen stieß er mit seinen Ansätzen auf offene Ohren, und 1969 gründete er das Zen Center in San Francisco und später das Tassajara Mountain Center. Inzwischen spiegelt diese durch Laien ausgeübte Zen-Praxis nach Japan zurück und man beginnt auch dort, sich für interessierte Nicht-Kleriker zu öffnen. Eine solche Öffnung lässt sich ja auch daran erkennen, dass Sie mit dem Team von »Erleuchtung garantiert« im Sōji-ji, einem der beiden Haupttempel der Sōtō-ZenSchule, drehen durften. Ja, das war wirklich etwas besonderes: Normalerweise gibt es in diesen Tempeln zum Beispiel gar keine Frauen, außer als Helferinnen in der Küche. Der Abt war ein wirklich sehr offener Mensch und hat in unserer Anfrage vielleicht auch eine Gelegenheit gesehen, einem westlichen Publikum zu zeigen, wie das Leben in einem
Ein In t e r v ie w m it d e r R e g i sse u r i n D o r i s D ö r r i e | 167
2 Gustav hat den Buddha in sich gefunden: Eine Szene aus Dörries Erleuchtung garantiert. Megaherz Film produktion, München.
Zen-Kloster abläuft. Ich habe sehr viele gute Gespräche geführt mit diesem Abt, der ein sehr besonderer Mensch ist. Haben Sie dann auch am normalen Klosteralltag teilgenommen? Das war sogar absolute Bedingung! Wir haben alles ganz normal mitgemacht, auch ich musste ständig irgendetwas putzen und wischen. Den Beruf der Regisseurin haben die Mönche nicht akzeptiert; sie hatten wohl das Gefühl, ich sei nicht richtig beschäftigt, und haben mir deshalb immer etwas zu tun gegeben. Mir selbst ist es schon sehr schwer gefallen, mich in diese feste, vorgegebene Struktur des Klosteralltags einzufügen. Ich habe durch meine Herkunft von jeher gelernt, Regeln eher in Frage zu stellen als sie zu akzeptieren. Durch die feste Einbindung in den monastischen Tagesablauf bieten Sie den Zuschauern mit ihrem Film auch eine Dokumentation des Lebens in einem japanischen Kloster: Das gemeinsame Essen, das Anschlagen der Glocke, das Lesen der Sutren … Mit den Sutren hatte es noch eine besondere Bewandtnis: Die jungen japanischen Mönche verstehen häufig gar nicht, was sie da rezitieren. Die Texte sind in einer sehr alten Schriftsprache abgefasst, die mit der heutigen Alltagssprache nichts zu 168 | Ein I nt e rvie w m it d e r Re g is s e u r in Do r is Dö r r ie
tun hat. Uns dagegen liegen diese Sutren in modernen westlichen Übersetzungen vor, so dass wir sie mühelos verstehen können. Ich kenne zum Beispiel den Inhalt des Herz-Sutras. So kam es zu der paradoxen Situation, dass wir vom Filmteam den jungen japanischen Mönchen den Inhalt der Sutren erläutert haben, die sie täglich rezitieren. Durch »Erleuchtung garantiert« bekommt man einerseits tiefe Einblicke in den japanischen Zen-Buddhismus, andererseits hat man aber auch das Gefühl, dass Sie die New-Age-Bewegung ein wenig auf die Schippe nehmen, zum Beispiel wenn von »achtsamem Zwiebelschneiden« die Rede ist oder Gustav seine Feng-Shui-Beratung macht. Ja, natürlich, das bietet sich aber auch an, weil das alles so viel Potential für Komik bereithält, das muss ich einfach ausschöpfen. Es gibt im Westen zum Beispiel fast fundamentalistische Anhänger des Zen, die alles besonders genau nehmen und strenger sind als Mönche in Japan. Wie genau lief der Dreh zu »Erleuchtung garantiert« ab? Das war völlig spontan, lief also genau dem zuwider, was man sonst vom Filmemachen kennt, denn eigentlich ist es essentiell, dass alles sehr gut geplant ist. Wir haben uns aber in diesem Fall das zunutze gemacht, was uns die Situationen geboten haben. Das war vor allem auch dadurch möglich, dass wir mit einer digitalen Kamera gedreht haben, was damals noch eine ganz neue Technik war. Die Kamera ist klein und leicht, so dass man damit nicht besonders auffällt. Das war auch im Kloster sehr wichtig, wo wir mit einem riesigen Equipment und einer 40-köpfigen Crew niemals hätten filmen können. Und auch in den Straßen von Tokyo ist alles spontan entstanden? Ja, zum Beispiel ist Gustav Wöhler wirklich ohne vorherige Absprache mit dem Besitzer in einen Sushi-Laden gegangen, hat sich vollgestopft und ist dann einfach gegangen. Nachdem wir das aufgenommen hatten, haben wir es dann aber natürlich aufgeklärt. Auch die Szene, in der die zwei Brüder Gustav und Uwe mit dem Taxi zurück zu ihrem Hotel fahren wollen und der Fahrerin für den Zielort irrtümlich eine falsche Visitenkarte geben, ist authentisch. Wir haben die Taxifahrerin ganz schön überrumpelt: Wir sind einfach eingestiegen, haben ihr diese Visitenkarte in die Hand gedrückt, von der wir selbst nicht wussten, was da stand, und haben uns fahren lassen. Ihre Überraschung, als Gustav und Uwe nach dem Hotel fragen, ist völlig echt. Ein In t e r v ie w m it d e r R e g i sse u r i n D o r i s D ö r r i e | 169
Und das hat immer reibungslos geklappt? Wir hatten da natürlich auch ein wenig einen Sonderstatus als Ausländer, den sogenannten »Gaijin-Bonus«. Ich habe den Eindruck, die Japaner haben bei vielem mitgespielt, weil sie nicht in unangenehme Situationen geraten wollten. Zum Beispiel könnte es ihnen peinlich sein, mit uns auf Englisch zu diskutieren, wenn sie vielleicht etwas unsicher in der Sprache sind. In »Der Fischer und seine Frau« haben Sie das Thema Japan auch wieder aufgegriffen, diesmal als ein Land, das für die Protagonisten überraschende, ja zauberhafte Entwicklungen bereithält. Ist Japan für Sie auch so etwas wie ein Märchenland? Zu dieser Zeit habe ich Pucchinis Madame Butterfly für die Oper inszeniert und mich deswegen viel mit dem Exotismus der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert beschäftigt. In dieser Zeit hat man sehr vieles auf Japan projiziert, und die Dinge dort, die so fremdartig erschienen, als geheimnisvoll und wundersam betrachtet. Es ist vielleicht diese Stimmung, die mich dazu bewogen hat, Japan für das Märchen heranzuziehen – sprechende Fische erscheinen in einem solchen Kontext doch ganz passend. In Ihren Filmen kann man beobachten, dass die Protagonisten sich durch ihren Aufenthalt in Japan öffnen und mehr Zugang zu ihren eigenen Gefühlen finden. Warum eignet sich das Land so gut dafür? Dadurch, dass man die Sprache nicht versteht und genau genommen immer noch wenige Menschen in Japan gut Englisch sprechen, wird man sehr stark auf sich zurückgeworfen. Mit Sprache kann man sehr gut etwas verbergen, verhüllen, oder ambivalent bleiben – wenn das nicht mehr funktioniert, muss man sich auf eine radikale Weise so zeigen, wie man wirklich ist. Das führt auch dazu, dass man mit sich selbst ganz anders umgehen muss, weil man auch vor sich selbst nicht mehr schummeln kann. Und der Zugang zu sich selbst und zu anderen wird dann leichter? Ja, ich verstehe auch nicht, dass über Japaner immer erzählt wird, sie seien so verschlossen und abweisend. Das habe ich nie erlebt, ich habe immer einen direkten Zugang gehabt. So habe ich auch ganz enge Freunde gefunden, die fast wie Geschwister für mich sind, wie zum Beispiel den Butoh-Künstler Tadashi Endo. Mit Kirschblüten – Hanami wollte ich zeigen, dass der nonverbale Zugang ein sehr di170 | Ein I nt e rvie w m it d e r Re g is s e u r in Do r is Dö r r ie
3 In einem Park in Tokyo übt sich der Witwer Rudi in Kirschblüten – Hanami gemeinsam mit der obdachlosen Künstlerin Yu im Butoh-Tanz. Majestic Filmverleih, Berlin.
rekter und auch zärtlicher sein kann, weil man sich wirklich nur noch über Blicke und Gesten begegnet. Was stand bei dem Film »Kirschblüten« am Anfang: Wollten Sie eine Geschichte über Trauer erzählen, über Japan, oder hatten Sie vielleicht zuerst den Gedanken, an Ozus »Tokyo Story« (Tokyo Monogatari) anzuknüpfen? Das war einer der seltenen Glücksfälle, bei denen plötzlich alles auf einmal zusammenkommt und sich verbindet. Den Film von Ozu kenne ich seit 25, 30 Jahren und ich habe ihn immer und immer wieder gesehen. Dann kam meine eigene Geschichte dazu. Mit den Landschaften, die man im Film sieht, bin ich aufgewachsen: Die Ostsee, Bayern. Auch die Jahreszeiten waren mir immer sehr wichtig – was in Japan die Kirschblüte ist, ist für mich hier die Löwenzahnblüte. Es kam viel zusammen, und plötzlich hatte ich es. Welche Rolle genau spielte Ozus Film für Sie?
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Ich dachte immer, dass Tokyo Monogatari eine Originalgeschichte von Ozu sei. Durch Recherchen habe ich dann aber herausgefunden, dass das gar nicht stimmt. Tatsächlich hat er damals ein Remake von einem amerikanischen Film gemacht, Make Way for Tomorrow von Leo McCarey. Er hat also einen Film aus dem Westen genommen, ihn nach Japan gebracht und dort sehr japanisch erzählt. Meine Antwort auf Ozu war dann, diese Geschichte erst wieder in den Westen zu transportieren und anschließend wieder nach Hause, nach Japan, zu bringen – also eine Kreisbewegung zu machen. Und die Geschichte scheint auch unabhängig von Kultur und Zeit zu funktionieren. Ja, der amerikanische Film erschien 1937 und war damals schon hochaktuell; Ozus Version kam dann in den 1950er Jahren, mein Film noch einmal über 50 Jahre später – und das Thema ist immer aktuell geblieben. Der zweite Teil meines Films ist dann aber ganz losgelöst von dieser Vorlage und spielt das Thema noch einmal auf eine ganz andere Art und Weise durch. Waren Sie auch von Ozus filmischer Gestaltung beeinflusst? Ja und nein. Zum einen drehe ich völlig anders als Ozu, weil Ozu ein StudioMensch war. Er kannte nichts Schöneres, als im Studio alles zu kontrollieren; ich dagegen bin selig, wenn ich so wenig wie möglich kontrollieren kann und muss. Ozu hätte das wahrscheinlich gehasst, er war manisch mit Details. Angeblich hat er sogar selber die Tatami-Matten ausgerichtet, wenn ihm der Winkel nicht ganz exakt erschien. Das alles war bei uns anders. Wir haben aber mit einer speziellen tieferen Perspektive gearbeitet, die gar nicht mal von Ozu stammt, sondern in erster Linie einfach eine japanische Perspektive ist. Diese tiefere Stellung kommt daher, dass man in Japan traditionell auf Tatami-Matten auf dem Boden sitzt. Der Blick entspricht damit nicht, wie das im Westen üblich ist, der Augenhöhe eines stehenden Menschen. Das ist mir bei Ihrem Film auch aufgefallen. Man bemerkt das zum Beispiel, wenn man erstmals Einblick in das Haus der Familie des Sohnes in Berlin bekommt. Die Kamera ist auf Höhe der Kinder, die auf dem Teppich spielen. Diese Perspektive habe ich sehr gut kennengelernt, als ich zum zweiten Mal in Japan war, mit meiner kleinen Tochter, die damals viereinhalb Jahre alt war. Ich habe gemerkt, wie clever dieses Leben auf dem Boden ist. Auch brüllende Kinder beruhigen sich in einem Tatami-Zimmer sofort, weil alle Erwachsenen runter 172 | Ein I nt e rvie w m it d e r Re g is s e u r in Do r is Dö r r ie
müssen und das Kräfteverhältnis dann ein ganz anderes ist. Diese Perspektive und wie sie den Blick auf die Welt verändert, fand ich wirklich hoch interessant und ich habe sie in meinen Film ganz bewusst eingebaut. Interessieren Sie sich auch für aktuelles japanisches Kino? Natürlich. Mein großer Held ist Koreeda Hirokazu, dessen Filme ich wahnsinnig mag. Unübertroffen von ihm ist zum Beispiel »Nobody Knows« (Daremo shiranai, 2004). Sein letzter Film »I Wish« (Kiseki, 2011) lief fast nirgendwo, ich habe ihn dann aber zum Glück in Los Angeles auftreiben können. Japan hat eine sehr vielfältige Filmkultur, die jetzt leider durch wirtschaftliche Probleme sehr bedroht ist. Ich habe aber auch quer durch die Kulturbereiche »Helden« in Japan. Wer ist denn noch so ein Held? Da gibt es zum Beispiel meine »Kochheldin« Kurihara Harumi, ich koche ganz viel nach ihren Büchern. Sie hat die moderne japanische Frau befreit, weil ihre Rezepte viel schneller gehen als die traditionellen. Nehmen Sie das traditionelle japanische Frühstück: Früher ist die Frau teilweise drei Stunden früher aufgestanden als der Rest der Familie, um das zuzubereiten. Haben Sie sich auch mit Nō-Theater beschäftigt? Ja, immer wieder, auch für meine Operninszenierungen. Nō war für mich aber zu geschlossen als Kunstform, da habe ich keine »Eingangstür« für meine Opernarbeit gefunden. Für mich war Butoh interessanter, das ich sehr stark in meine Inszenierungen integriert habe. Wie kam es für Sie zu dieser Entdeckung des Butoh? Ursprünglich kam ich darauf über Ōno Kazuo, den Mitbegründer dieser Tanzform, über den ich eine Dokumentation im Fernsehen gesehen habe. Davon war ich so fasziniert, dass ich mich informiert habe, wer in Deutschland Butoh-Kurse anbietet. Zur gleichen Zeit kam ich auch darauf, dass es eine Art von Trauerarbeit sein kann, die Kleidung eines Verstorbenen anzuziehen. Meine Schwiegermutter hatte den Pullover ihres verstorbenen Mannes getragen und mir erklärt, dass sie dadurch ein Stück von ihm spüre. Das habe ich nie vergessen. Das alles passte zu der Geschichte von dem Witwer Rudi, die ich zu dieser Zeit für den Film Kirschblüten entwickelte. Ein In t e r v ie w m it d e r R e g i sse u r i n D o r i s D ö r r i e | 173
Und dann haben Sie selbst Butoh gelernt? Ja, ich habe mich sofort für einen Workshop von Tadashi Endo angemeldet und bin nach Göttingen gefahren, wo er lebt und lehrt. Ich kam in sein Atelier, wo alle Workshop-Teilnehmer versammelt waren. Und was macht er? Er gibt mir einen Lappen in die Hand, macht vor, wie ich putzen soll – und das war genau das Putzen aus dem Zen-Kloster in Japan. Der Schauspieler Gustav Peter Wöhler war übrigens auch bei dem Workshop, und er hatte sich ja bei Erleuchtung garantiert schon so schwer getan mit dieser Putztechnik … Tadashi Endo und ich haben uns dann sehr eng angefreundet und für verschiedene Projekte zusammen gearbeitet: Madame Butterfly, Kirschblüten, und jetzt auch Don Giovanni an der Hamburger Oper. Er tanzt als »Frau Tod«, als Skelett mit einem großen rosa Hut, ein Solo durch die ganze Ouvertüre von Don Giovanni. Das ist großartig! Wir haben Mozart mit Japan und Mexiko verbunden. Für »Kirschblüten« haben Sie nach einem ähnlichen Prinzip gearbeitet wie bei »Erleuchtung garantiert«? Ja, aber die digitale Kameratechnik war schon viel besser zu der Zeit, das sieht man auch. Und wir haben nach einem festen Drehbuch gearbeitet. Wie hat das denn geklappt, dass Sie mit Elmar Wepper in einem Stripclub und einem sogenannten »Soapland«, einer Art »Bade-Bordell«, drehen durften? Das war tatsächlich nicht so einfach, alle hatten Angst vor den Yakuza, die solche Einrichtungen in Japan betreiben. Aber ich habe da auch wieder auf den »GaijinBonus« gesetzt. Wir hatten Verhandlungen mit einem Stripclub-Besitzer, was für die Japaner in der Crew sehr schwierig war, weil sie Angst hatten. Aber meine Einstellung war: Man geht einfach hin und dreht. Meine Erfahrung ist, dass alles geht – man muss nur wahnsinnig hartnäckig sein und darf sich auch nicht von Schildern abschrecken lassen, auf denen steht: »Zutritt nur für Japaner«. Warum, denken Sie, sind an manchen Orten in Japan keine Ausländer erwünscht? Das ist die Angst vor Peinlichkeiten, man denkt, die Ausländer wissen womöglich nicht, wie man sich richtig verhält. Zum Beispiel im öffentlichen Bad, wo man vielleicht fürchtet, dass der Ausländer mit Seife ins Wasser geht. Haben Sie mitbekommen, wie Japaner auf Ihre Filme reagieren? 174 | Ein I nt e rvie w m it d e r Re g is s e u r in Do r is Dö r r ie
Ja, einige Bücher und Kinderbücher von mir wurden ins Japanische übersetzt, auch meine Filme sind gelaufen. Kirschblüten wurde sehr geschätzt, worüber ich wirklich glücklich war. Viele Japaner haben mir sehr positive Rückmeldungen gegeben: Sie hatten das Gefühl, jemand von außen hat versucht, das Land wirklich von innen heraus darzustellen. Ich habe mich auch schon viel über andere Japan-Filme geärgert, zum Beispiel Lost in Translation von Sophia Coppola. Dieser Film ist rassistisch. Japaner werden durchweg als Trottel dargestellt. Die Ausländer in diesem Film gehen nicht vor die Tür, und wenn sie es tun, laufen ihnen nur die japanischen Klischees über den Weg. Bei Ihnen ist das ganz anders: Die Figuren schlafen teilweise sogar draußen im Freien, während in »Lost in Translation« der Blick auf die Stadt meist nur durch Fensterscheiben geht. Weil alle Angst haben, sich durch eine Welt zu bewegen, die sie vielleicht nicht immer verstehen! – Für mich unverständlich, weil ich das wahnsinnig gerne mache. Zu »Erleuchtung garantiert« habe ich eine japanische Rezension im Internet gelesen, die den Film als ein authentisches Dokument des Tokyo Ende der 1990er Jahre gesehen hat. So etwas freut mich natürlich. Ich würde auch gerne wieder einen Film in Japan machen. 2011 hatte ich mir als neues Projekt überlegt, den Roman »Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß« (Sensei no kaban) von Kawakami Hiromi als europäisch-japanische Geschichte zu erzählen. Ich habe dann aber die bestürzende Erfahrung gemacht, dass kaum jemand mit nach Japan gehen wollte – Schauspieler haben mir abgesagt, mein Team hat mir abgesagt, alle hatten Angst wegen Fukushima. Das Projekt konnte also wegen der Katastrophe nicht umgesetzt werden? Ja. Ich selbst bin dann aber alleine nach Fukushima gereist, weil ich dachte, es geht nicht, einfach wegzusehen. Deutschland schafft die Atomkraft wegen Japan ab, aber dann distanziert man sich doch sehr stark und traut sich nicht einmal für sechs Wochen Dreh dorthin. Ich fand und finde unsere Solidarität mangelhaft. Wie haben Sie Ihre Reise ins Katastrophengebiet empfunden?
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Es hat einen sehr starken Eindruck auf mich gemacht, wie dieser ganze Landstrich komplett »abrasiert« worden ist. Es sind vor allem alte Leute, die geblieben sind oder versuchen zurückzukommen – und die einem jetzt erzählen, wie das war, alles in wenigen Sekunden zu verlieren. Das hat mich tief berührt, und ich habe meinen Plan auch noch nicht aufgegeben, wieder einen Film in Japan zu machen. Wird die Katastrophe möglicherweise in einem neuen Japan-Film für Sie eine Rolle spielen? Bestimmt, ich glaube, wenn man jetzt einen Film in Japan dreht, sollte man damit irgendwie umgehen. Seit Ende der 90er Jahre sind sehr viele Filme in Japan entstanden, neben »Lost in Translation« zum Beispiel noch »Babel«, »Eine Karte der Klänge von Tokyo« und andere. Was denken Sie, woran das liegt? Diese Filme setzten meist auf den »Hipness-Faktor«. Japan war plötzlich sehr schick und angesagt. Man war auf der Suche nach einem besonderen »Look«, der etwas sehr Glattes hat, und an der Oberfläche bleibt: Zum Beispiel geht es da um die Neonlichter oder die Schönheit der Frauen. Das ist für mich ein Exotismus wie vor über 100 Jahren in Pucchinis Oper. Wie wacklig so ein Trend ist, hat man an Fukushima gesehen. Optisch hatte sich in Tokyo nichts verändert, aber auf einmal war die Stadt überhaupt nicht mehr angesagt, weil alle Angst hatten, hinzufahren. Haben Sie noch weitere Geschichten zu Japan im Kopf, die Sie irgendwann einmal erzählen möchten? Ja, eine dreht sich um die »Holländische Kakaostube« in Hannover. Das war für mich immer ein Ort der Familie, weil ich dort viel mit meinem Großvater hingegangen bin. Der Besitzer dieser Holländischen Kakaostube hat Konditoren in Japan darin ausgebildet, wie man Baumkuchen backt und verkauft seinen Baumkuchen auch selbst in Tokyo und Osaka. In dem großen Kaufhaus Isetan in Tokyo hat er unten in der Feinkostabteilung mit der »Holländischen Kakaostube« einen großen Stand. Ich selbst bin aber kaum in diesen Abteilungen unterwegs, wenn ich in Japan bin. Ich lebe eher von Kitsune Udon, einer Suppe mit dicken Nudeln und frittiertem Tofu. Ein anderes Japan-Projekt, das ich im Kopf habe, ist ein Nacherleben der »Reise ins Hinterland« des Dichters Matsuo Bashō.
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Das hat bisher noch nicht geklappt? Ich wollte das mit Tadashi Endo und einem anderen Freund aus Tokyo machen, wir hatten sogar schon unsere Route geplant. Wegen Fukushima wurde aber nichts daraus, denn der Weg ist jetzt durch das Sperrgebiet komplett unterbrochen und man kann einen großen Abschnitt nicht mehr gehen. Aber vielleicht ist auch gerade diese Unterbrechung ein Thema – mal sehen. Das Projekt ist aber auch wahnsinnig anstrengend: Bashō muss gerannt sein wie ein Wahnsinniger, oder er hat geschummelt. Er gibt an, die 3000 Kilometer in einem Vierteljahr gegangen zu sein – das kann nicht so ganz stimmen, sagt mir meine Erfahrung. Ich bin einmal mit meinen Studenten auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela gepilgert. Wir haben im Schnitt 25 Kilometer pro Tag geschafft, und wenn es doch einmal mehr war, haben wir wirklich gelitten. Wann werden Sie wieder in Japan sein? Ich habe das Glück, ab September 2013 drei Monate Stipendiatin in der Villa Kamogawa, der Künstlerresidenz des Goethe-Instituts in Kyoto sein zu dürfen. Mal schauen, was ich dann mache – vielleicht etwas über Gespenster, da gibt es in der japanischen Kultur auch unzählige spannende Geschichten und Figuren.
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VOM »JAPAN-FEELING« ZUM FREIEN KÜNSTLERISCHEN AUSDRUCK E in Int e rvi e w mi t de r de ut sc he n Manga-Zeichnerin Christina Plaka Christina Plaka, 1983 in Offenbach geboren, ist eine der bekanntesten deutschen Mangazeicherinnen (Mangaka). Schon als Kind zeichnete sie begeistert ihre Helden aus amerikanischen Comics, zu denen sich dann im Teenager-Alter Anime- und Manga-Figuren gesellten. 2002 auf einem Talentwettbewerb der Leipziger Buchmesse entdeckt, begann sie ihre eigenen Geschichten zu veröffentlichen, zunächst ab 2003 Prussian Blue im vom Carlsen-Verlag herausgegebenen Manga-Magazin Daisuki. Es folgte die Serie Yonen Buzz, die in insgesamt fünf Bänden im Tokyopop-Verlag erschienen ist. Der Manga Herrscher aller Welten kam 2009 bei Carlsen als abgeschlossene Geschichte in einem Band heraus. Christina Plaka hat neben ihrer Arbeit als professionelle Mangaka in Frankfurt ein Bachelor-Studium in Japanologie abgeschlossen. Danach ging sie für zwei Jahre nach Kyoto in Japan, wo sie ein Manga-Masterstudium an der Seika-Universität absolvierte. In der Zeit in Kyoto entstand auch ihr neues Werk, das sich mit einer Liebesgeschichte und der Erdbebenkatastrophe vom 11. März 2011 befasst. Michiko Mae und Elisabeth Scherer sprachen mit der Autorin über ihre Arbeit, ihre Beziehung zu Japan und die wechselseitige Durchdringung japanischer und 1 Christina Plaka, deutsche Manga-Zeichnerin, bei einer Signierstunde. westlicher Populärkultur. Ein In t e r v ie w m it d e r d e u t s c h e n Ma n g a - Z e i c h n e r i n C h r i st i n a P l a k a | 179
Wie sind Sie selbst zuerst zur japanischen Populärkultur gekommen? Das hat sich ganz spontan ergeben, als Anfang der 90er Jahre RTL2 die allerersten Anime aus Japan gesendet hat. Ich glaube, die berühmtesten unter diesen Serien waren »Mila Superstar« (jap. Atakku No. 1) und »Lady Oscar« (jap. Berusaiyu no bara). Damals mit elf, zwölf Jahren wusste ich aber noch gar nicht richtig, was Manga oder Anime sind – für mich waren das einfach Animationen, die irgendetwas Exotisches hatten. Besonders Mila Superstar, der ab Ende der 1960er Jahre produziert wurde und dadurch recht traditionell wirkt, war für mich Japan-Feeling pur. Durch die Anime wurde ich auch ein wenig in die Kultur Japans eingeführt, vor allem in die Sprache, die für mich etwas sehr Reizvolles hatte. Auch der Zeichenstil war für mich sehr exotisch und ich habe erst einmal begonnen, nach diesem Stil der Anime zu zeichnen, nicht wirklich Manga. Wie kamen Sie dann zum Manga? Per Zufall sind mir um 1994 die allerersten Manga in einer Buchhandlung ins Auge gefallen. Das waren Gunsmith Cats und Battle Angel Alita und noch einige andere, damals alle noch komplett gespiegelt. Die Leserichtung bei Manga in Japan ist nämlich von rechts nach links, und das wollte man den deutschen Lesern zunächst nicht zumuten. Ich dachte: »Oh, interessant. Das sieht ja mal wirklich anders aus als die Comics, die ich bisher gelesen habe«. Ich hatte vorher schon in der Grundschule ein bisschen Comic-Erfahrung gesammelt mit Marvel-Charakteren wie Spiderman, den ich über alles geliebt und auch immer wieder gezeichnet habe. Der wirklich richtige Einstieg in Manga für mich kam mit den deutschen Bänden von Dragon Ball, die dann in der originalen Leserichtung und im Taschenbuchformat erschienen. Vorher waren die Manga in diesem großen Albenformat erschienen, das man aus Amerika kennt, und hatten auch noch eine andere Zielgruppe, nämlich erwachsene Männer. Und da kamen plötzlich Dragon Ball und Sailor Moon – ich war fasziniert: »Wow, das ist genau das, was ich auch machen möchte«. Schon vorher habe ich eigene Geschichten gezeichnet, aber noch nicht wirklich in Comic-Form. Ich hatte für jedes Einzelbild der Story ein eigenes Blatt benutzt, so dass ganze Blätterstapel entstanden. Als ich dann dieses Taschenbuch in der Hand hatte, dachte ich: »Ah, so funktioniert das also«. Warum hat Ihnen gerade Dragon Ball so gut gefallen? Das lag vielleicht auch an der ersten Begegnung damit. Ich bin eigentlich Griechin, und meine Eltern und ich sind sehr oft nach Griechenland in die Sommerferien ge180 | Ein I nt e rvie w m it d e r d e u t s c h e n Ma n g a -Z e ic h n e r in C h r i st i n a P l a k a
flogen. Dort habe ich zum allerersten Mal Dragon Ball gesehen, also den Anime auf Griechisch. Der war so lustig, und ich dachte nur: »Warum gibt es den noch nicht in Deutschland?« Etwa zwei Monate später sah ich dann diesen großen Aufsteller von der Hauptfigur Son Goku in der Buchhandlung und war völlig fasziniert. Was ist denn das Besondere an der Story von Dragon Ball? Vor allem fand ich die Charaktere aufregend anders. Wir kannten damals eher diese shōjo-Charaktere aus den Anime, die auf RTL2 ausgestrahlt wurden. Diese sogenannten shōjo-Manga und -Anime richten sich an eine Zielgruppe von jungen Mädchen, so zwischen 10 und 18 Jahren. Dragon Ball war für mich der erste Kontakt zu shōnen-Manga, also zu Manga, die sich an Jungen richten. Ich mochte den Witz, die Figuren, die so simpel gezeichnet, aber doch so ausdrucksstark waren, und die spannende Geschichte über die Suche nach den sieben Dragon Balls. Und natürlich war dieses Taschenbuch toll – im richtigen, passenden Format. Das hat schön in der Hand gelegen und man konnte es dann in das Regal stellen und sehen, wie die Reihe wuchs. Haben Sie die Manga schon von Anfang an als Japanisch wahrgenommen? Und welche Gefühle weckten diese Werke in Ihnen: Eher Fremdheit, Vertrautheit oder einen exotischen Reiz? Zu der Zeit als Dragon Ball auf den deutschen Markt kam, im Herbst 1997, war das schon gar nicht mehr so exotisch wie zu Beginn, als ich Mila Superstar im Fernsehen zum ersten Mal gesehen hatte. Ich wusste schon etwas mehr über Japan und hatte auch ein bisschen Japanisch gelernt. Ich wusste auch ungefähr, wie japanische Manga-Stereotypen aussehen. In dieser Zeit, als ich so 17, 18 Jahre alt war, habe ich vor allem immer wieder neue Serien für mich entdeckt, und das hatte etwas sehr Aufregendes. War das in Ihrer Kinder- und Jugendzeit schon eine verbreitete Tendenz, dass man sich derart für japanische Populärkultur interessierte? Ich erinnere mich, dass ich zu der Zeit, als Mila Superstar im Fernsehen gelaufen ist, in meiner Klasse und auch in der Schule noch ein wahrer Exot war mit meinem Interesse. Überhaupt war ich eine der ersten, die sich für Anime interessiert hat. Ich hatte aber eine gute Freundin, mit der ich mich immer ausgetauscht habe. Nach der Schule haben wir immer Captain Tsubasa geschaut und dann gleich am nächsten Morgen darüber gesprochen. Aber wir waren meine ganze Schulzeit über immer Ein In t e r v ie w m it d e r d e u t s c h e n Ma n g a - Z e i c h n e r i n C h r i st i n a P l a k a | 181
nur zu zweit. Die große Veränderung kam dann, als Sailor Moon im Fernsehen lief: Das hat meines Erachtens diesen großen Japan-Boom in Deutschland ausgelöst. Das war wirklich der erste Anime, auf den alle Mädchen angesprungen sind. Es folgten andere Animationsserien im Fernsehen, immer mehr Jugendliche wurden Anime-Fans, und es entwickelten sich dann in Deutschland auch Cosplayer und andere von Japan beeinflusste Subkulturen. In Deutschland scheint es ein besonderes Phänomen zu sein, dass vor allem Mädchen sich sehr für Anime und Manga begeistern. Wie kann man das Ihrer Meinung nach erklären? Mein Chef beim Manga-Verlag Tokyopop, Joachim Kaps, hat das immer darauf zurückgeführt, dass mit Sailor Moon zum allersten Mal eine reine Mädchenserie auf den deutschen Comicmarkt kam. Es gab ja vorher fast gar nichts für Mädchen, Comics waren einfach eine Jungs- oder Männerdomäne. Durch Sailor Moon gab es für viele Mädchen den ersten intensiven Kontakt zum Medium Comic. Einige haben dann auch selbst zum Stift gegriffen und angefangen, ihre eigenen Geschichten zu zeichnen. Manga ist ja sehr visuell und vor allem im shōjo-Genre sehr emotionsgeladen, so dass sich das Medium gut eignet, Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Schritt für Schritt hat sich so eine eigene Community gebildet und verbreitet. Ich glaube auch, dass im shōjo-Manga sehr stark die Möglichkeit gegeben ist, sich mit dem Charakter zu identifizieren, weil sehr oft Alltagssituationen beschrieben werden. Mädchen sehen ihre Situation in den Gefühlen ihres Hauptcharakters widergespiegelt und fühlen sich verstanden. Das sieht man auch bei Sailor Moon: Dort spielen Alltäglichkeit, Normalität und auch Schwäche eine wichtige Rolle. Richtig, Charaktere in shōjo-Manga oder auch Manga allgemein werden sehr menschlich dargestellt. Im Gegensatz dazu sind Helden aus amerikanischen Comics wie Superman doch eher »artificial«. Sie haben kaum menschliche Schwächen, das vermisst man. Bei Sailor Moon ist ja auch das Besondere, dass hier die kämpferische Seite der weiblichen Figuren betont wird. War das auch ein Reiz? Für mich weniger, mich haben immer eher die Alltagssituationen interessiert, auch bei Sailor Moon. Ich war in diesem Fall übrigens kein großer Freund des Manga, ich habe immer eher den Anime geschaut. Das hatte mit dem Zeichenstil zu tun, 182 | Ein I nt e rvie w m it d e r d e u t s c h e n Ma n g a -Z e ic h n e r in C h r i st i n a P l a k a
die Animationen waren, finde ich, sehr gelungen für die 90er Jahre. Außerdem war in Sailor Moon auch teilweise das moderne Japan zu sehen, das mich damals sehr interessiert hat. Sie selbst haben also Werke sowohl des shōnen- als auch shōjo-Bereichs rezipiert. Glauben Sie, dass die Grenzen der Genres mittlerweile mehr überschritten werden? Bei etablierten japanischen Magazinen wie Shōnen Jump oder Shōnen Champion bzw. im Mädchen-Segment Ciao oder Ribon wird diese Tradition wohl kaum gebrochen werden. Shōnen Jump-Comics werden wohl immer so aussehen wie Shōnen Jump. Aber in den etwas kleineren Magazinen kann man da schon neue Tendenzen erkennen. Aber in Ihrer eigenen Arbeit zeigt sich doch eine deutliche Mischung der Genres und Stile? Ja, mit Sicherheit, das hat auch schon früh angefangen. Bei Yonen Buzz sieht man ab dem Artbook und dem vierten Band, dass ich da wieder mehr in die amerikanische Richtung gegangen bin. Die Augenform wurde realer, nicht mehr so rund, und auch die Charaktere wurden realistischer. Herrscher aller Welten, der Band, den ich bei Carlsen veröffentlicht habe, war stark inspiriert von amerikanischen Zeichentrickfilmen, von denen ich auch lange Jahre ein großer Fan war. Mit Anfang 18 wollte ich noch Trickfilmzeichnerin werden und habe mich zwei Jahre lang ausschließlich auf Dream-Works- und Disney-Animationen konzentriert. Denken Sie, es spielt eine Rolle, dass Sie durch Ihre Herkunft auch ein bisschen offener anderen Kulturen gegenüber sind, oder ist das nur Zufall? Darüber habe ich noch nicht intensiver nachgedacht, aber ich denke schon, ich war schon immer offen für alles. Ich habe immer schon Sprachen und fremde Kulturen geliebt. Dass Japan zur größeren Präferenz geworden ist, kam eigentlich nur durch die Anime. Dann kam noch die Sprache hinzu, die für mich etwas Geheimes, Unentdecktes hatte. Wenn ich die Sprache beherrsche, habe ich gedacht, dann versteht mich kein Mensch in Deutschland. Dann bin ich die einzige, die das sprechen kann, bis auf die Japaner natürlich. Als Kind hatten Sie damit also etwas ganz Besonderes für sich entdeckt.
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Ja, genau. Wie eine Geheimschrift, die keiner lesen kann. Bei Französisch kann man ja auf jeden Fall schon einmal die Buchstaben identifizieren – aber Japanisch, dachte ich, das kann keiner. Sie schreiben japanische Manga auf Deutsch – wie funktioniert das? Ganz zu Beginn, 2002, als ich meinen ersten Band Prussian Blue herausgebracht habe, war es so, dass der Inhalt und die Optik eines Manga auf alle Fälle japanisch sein mussten. Auch die Namen der Charaktere sollten möglichst japanisch klingen und die Handlung musste in Japan spielen, obwohl man als Autor vielleicht selbst noch nie in Japan gewesen ist. Ich habe mir damals auch nicht vorstellen können, eine Geschichte zu entwerfen oder zu entwickeln, die in Deutschland spielt oder einen Charakter Rüdiger oder Felix oder so zu nennen. »Nein, das geht ja gar nicht, das ist nicht Manga«, dachte ich mir. Meine Charaktere mussten Sayuri, Jun oder Atsushi heißen. Ich wollte immer dieses Japanische beibehalten, weil das für mich das schönste war. Ist das dann auch so geblieben? Und wie sieht es mit den Reaktionen der Manga-Leser aus? In den letzten fünf, sechs Jahren hat sich in der deutschen Leserschaft das Bewusstsein ein wenig verändert. Anike Hage hat bei Tokyopop Gothic Sports veröffentlicht, und war damit eine der ersten Zeichnerinnen, deren Geschichte in Deutschland spielt. Von den deutschen Fans wurde das sehr gut angenommen, besser als erwartet – man hat wirklich gespürt, die Leserschaft war bereit, diesen Wechsel anzunehmen. Gleichzeitig hat sich auch mein Bewusstsein verändert. Mit der Zeit macht man Fortschritte und denkt natürlich auch mehr über die ganze Branche nach. Ich habe mir gedacht, warum soll man nicht über das eigene Land und über die eigene Kultur sprechen und zeichnen – wie das in Japan auch geschieht. Es gibt immer noch ein paar Fans, die alles an der japanischen Kultur festmachen und auf deutsche Mangazeichner herabsehen. Diese wenigen, sehr strengen Fans lesen wirklich nur Manga von japanischen Autoren und meinen, die Fähigkeit zum Mangazeichnen liege in den Genen. Da kursieren schon sehr abstruse Kommentare im Internet. Aber damit muss man als Künstler leben und es gut sein lassen. Sie haben ja schon sehr früh großen Erfolg gehabt. Wie gestaltet sich bei Ihnen der Kontakt mit den Fans?
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Ganz zu Beginn, als der wirklich große Boom stattgefunden hat, habe ich Kisten von Fanpost bekommen. Bei dieser Resonanz hat sich das richtig gelohnt zu zeichnen, weil ich wusste: »Da draußen sind hunderte oder tausende Mädchen, die meine Geschichten lieben«. Nach zwei, drei Jahren, als ich dann bei Tokyopop war, hat sich das verändert. Da habe ich kaum noch Briefe bekommen und alles hat sich eher in Internetforen abgespielt. In Yonen Buzz habe ich aber auch erwachsener erzählt als vorher in Prussian Blue. Meine Leser wurden ebenfalls etwas älter und reagierten anders als vorher die elf- oder zwölfjährigen Mädchen, die einem schreiben: »Du bist mein großes Vorbild.« Feedback von den Fans ist aber insgesamt bei der Arbeit sehr wichtig – nur so kann man sich zu dem harten Zeichenpensum motivieren. Das Manga-Zeichnen ist schon eine etwas einsame Arbeit, oder nicht? Das Privatleben gibt man fast völlig auf. Ich habe das sechs, sieben, acht Jahre lang am Stück gemacht, und mit der Zeit habe ich bemerkt, dass meine Freundschaften und das Familienleben zu kurz gekommen sind. Abends ausgehen, ins Kino oder so, das konnte ich gar nicht, weil ich immer Deadlines hatte. Plus Studium natürlich, was auch nochmal ein großes Pensum bedeutete. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich in meiner Jugend nicht wirklich viel gemacht habe, außer zu Hause zu lernen und zu zeichnen. Da habe ich mir vorgenommen, in Zukunft beides zu haben: Die Arbeit, die mir auch Spaß machen soll, und ein erfülltes Privatleben. In Ihren Manga findet man auch sehr viele Elemente aus der westlichen Populärkultur, vor allem in »Yonen Buzz«. Haben Sie in Ihre Manga viel von Ihrem persönlichen Interesse eingebracht? Ja, zur Zeit von Yonen Buzz habe ich viele Bands querbeet gehört, aus dem RockBereich und vor allen Dingen auch aus der Underground-Szene. Ich wollte mit diesem Rock-Manga etwas ganz Neues schaffen. Viele haben meine Arbeit mit dem japanischen Manga Nana verglichen, aber ich habe Nana selbst gar nicht gelesen. Für mich war es einfach schön, dass ich mein Hobby – ich habe zu der Zeit auch selbst viel Musik gemacht – an die Leser weitergeben konnte. Mein Manga sollte, wie viele japanische Vorbilder auch, informativ sein, zum Beispiel durch Hintergrundwissen über Underground-Bands. Das ergibt eine interessante Kombination: Eine Geschichte, die in Japan spielt, aber die erwähnte Musik stammt fast ausschließlich von westlichen Bands.
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2 In Plakas Manga-Serie »Yonen Buzz« tritt eine deutsche Mädchen-Band in Japan auf. Tokyopop. 186 | Ein I nt e rvie w m it d e r d e u t s c h e n Ma n g a -Z e ic h n e r in C h r i st i n a P l a k a
Ja, das lag auch an einer Veränderung in mir selbst. Bis 2002 habe ich sehr gerne japanische Pop- und Rock-Musik gehört. Durch den Einfluss von Nirvana und anderen großen »Rock-Klassikern« hat sich das dann verändert. Ich habe nur noch amerikanische Rockbands gehört, und auch dadurch hat sich für mich wieder eine neue Welt aufgetan. In der Geschichte von »Yonen Buzz« kommt auch eine Mädchenband aus Deutschland zu Besuch nach Japan, und am Ende gehen sogar die Protagonisten nach Deutschland. Kann man das auch als Symbol dafür sehen, dass Sie sich selbst geöffnet haben? Ja, sehr sogar. Das macht sich schon ab dem ersten oder zweiten Band bemerkbar, wenn herauskommt, dass der Hauptcharakter Jun halb deutsch und sein QuasiBruder Masanori halb amerikanisch ist. Ich habe das als eine Möglichkeit gesehen, den Fokus auch auf andere Kulturen zu legen und das Ganze nicht nur stereotyp zu »japanisieren«. Vielleicht war es schon ewas unrealistisch mit zwei Halbjapanern in einer Geschichte, aber naja, es ist schließlich ein Comic. Das Ganze spiegelt natürlich in einer gewissen Art und Weise auch meine eigene Selbstfindung oder »künstlerische Annäherung« an Deutschland wider. 2006, als ich für drei Monate in Japan war, habe ich auch wieder die schönen Seiten an Deutschland entdeckt. Japan ist immer noch schön, dachte ich, aber es muss nicht immer alles auf Japanisch getrimmt sein. Nachdem mir das bewusst wurde, habe ich mich im Manga auch für die »westliche Welt« geöffnet. Heißt das, alle Ihre Geschichten tragen auch etwas Autobiographisches in sich? Ja, in meinen Geschichten zeigt sich immer auch ein wenig Autobiographisches, ob nun versteckt oder ganz offen, wie in meinem aktuellen Manga. Das fällt mir auch auf, wenn ich mir jetzt noch einmal meine Geschichten anschaue – da tritt mir Band für Band meine Entwicklung vor Augen. War »Herrscher aller Welten« eine willkommene Abwechslung für Sie? Ja, definitiv. Nach einigen Jahren, in denen ich nur Yonen Buzz gezeichnet habe, dachte ich: »Ich muss jetzt mal neue Charaktere zeichnen, bevor ich die alten überhaupt nicht mehr mag.« Herrscher aller Welten war wirklich wie eine Erfrischung und eine Möglichkeit, mich künstlerisch wieder einmal auszutoben. Der Band ist aber auch sehr schnell entstanden, ich glaube, man sieht das an den letzten Seiten, dass ich da etwas Druck hatte. Ein In t e r v ie w m it d e r d e u t s c h e n Ma n g a - Z e i c h n e r i n C h r i st i n a P l a k a | 187
3 Der Manga »Herrscher aller Welten« spielt in einer Phantasie-Welt, die ein wenig an »Fluch der Karibik« erinnert. Carlsen. 188 | Ein I nt e rvie w m it d e r d e u t s c h e n Ma n g a -Z e ic h n e r in C h r i st i n a P l a k a
»Herrscher aller Welten« ist ja in einer Fantasiewelt angesiedelt, irgendwie kam bei uns aber auch das Gefühl auf, dass hier etwas von der Stimmung der »Fluch-derKaribik«-Reihe aufgenommen wurde. Auch die Hauptfigur erinnert daran. Das hat mich zu der Zeit auch beeinflusst. Ich war von Johnny Depp und seinem schauspielerischen Können so angetan, da wollte ich einfach auch einmal so einen verrückten Charakter zeichnen. Außerdem hatte ich mir schon lange vorgenommen, irgendwann ein Buch zu zeichnen, das wie ein Film ist. Mich hat sehr interessiert, ob dieses Filmische beim Manga funktionieren würde. Beim Zeichnen habe ich in Gedanken die Charaktere wie Schauspieler eingesetzt und hinten im Manga gibt es sogar »Outtakes«, die ich zu bestimmten Szenen gezeichnet habe. Das war schon eine andere Zeichenerfahrung als bei Yonen Buzz. War es für Sie ganz natürlich und selbstverständlich, Japanologie zu studieren? Ja, dass ich Japanologie studieren will, wusste ich schon sehr früh, mit 14, 15 Jahren. Erst kannte ich das Studienfach gar nicht, bis eines Tages mein Klassenlehrer meinte, eine Bekannte von ihm habe Japanologie studiert. Da haben sich meine Ohren aufgestellt, ich habe mich gleich informiert und beschlossen, dass ich das nach dem Abi machen will. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich schon mit 15 angefangen zu studieren, weil ich unbedingt die japanische Sprache lernen wollte. Diese starke Konzentration auf Japan und die Entscheidung, sich professionell mit Manga zu beschäftigen – wie hat das Ihre Familie aufgenommen? Meine Mutter hat sich schon ein wenig Sorgen um meine Zukunft gemacht. Meinen Eltern war ja auch klar, dass ich nur vom Zeichnen alleine nicht würde leben können. Aber gegen das Studium hatten sie letztlich nichts einzuwenden, denn sie wussten, dass ich nur das machen würde, was ich auch wirklich möchte. Erst einmal hieß es also, »lass das Mädchen machen«, und als dann der erste Erfolg mit den Manga kam, waren sie natürlich stolz. Japanologie studieren – das bedeutete für Sie, die Sprache zu lernen und dann auch die japanische Welt näher kennen zu lernen? Genau, das war mein Wunsch, der sich mit dem Studium 2002 erfüllt hat. Es hat sich dann aber auch alles ein bisschen gelegt: Als ich angefangen habe zu studieren, war dieses Gefühl der Exotik in mir schon nicht mehr so da. 2003 war ich zum Ein In t e r v ie w m it d e r d e u t s c h e n Ma n g a - Z e i c h n e r i n C h r i st i n a P l a k a | 189
ersten Mal in Japan. Das war eine einwöchige Verlagsreise, damals noch mit Carlsen Comics, und alles war gigantisch. Dieses Exotische war wirklich da, und es war tatsächlich anders. Aber auch anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Vor allen Dingen Tokyo, das hatte weder etwas mit Sailor Moon zu tun, noch mit irgendetwas anderem, das ich in den Anime gesehen hatte. Es war alles sehr laut und es gab so viele Menschen. »Wie kann man hier leben?«, habe ich mich gefragt. Für mich war das damals sehr erstickend. Waren Sie also eher enttäuscht von Japan? Das würde ich nicht sagen, ich glaube, ich hatte einfach nur einen Kulturschock. Es war eine sehr schnelle Woche: Ich hatte zu wenig Zeit, um das Land richtig kennen zu lernen, aber für ein allererstes Gefühl hat es gereicht. Ich habe viele Fotos geschossen und diese Eindrücke dann in meinen Yonen-Buzz-Bänden verarbeitet. 2006 war ich noch einmal für drei Monate in Tokyo, und das wurde dann wirklich schwierig für mich. Ich wollte mit einem Sprachstipendium eine längere Zeit in Japan verbringen, es wirklich erleben. Ich konnte schon etwas besser Japanisch zu dem Zeitpunkt, aber es war immer noch definitiv sehr, sehr schwierig, mich dort einzuleben. Weil ich kaum jemanden zum Sprechen hatte, habe ich mich sehr alleine gefühlt. Tokyo war für mich so groß und so hektisch, dass ich das Gefühl hatte, es absorbiert meine Energie. Es gab aber natürlich auch schöne Tage, so dass mein Gefühlsspektrum von »super, gigantisch« bis zu »ich will hier weg, ich halte das nicht mehr aus« reichte. Der Aufenthalt hat mir aber auf alle Fälle geholfen, Japan zu verstehen und auch besser in meinen Geschichten darzustellen. Aber in Kyoto, wo Sie an der Kyoto-Seika-Universität Ihr Masterstudium absolviert haben, war es sicher ganz anders. Ja. Aber zunächst einmal war es fast ein Wunder, dass ich noch einmal nach Japan gegangen bin, auch noch für so eine lange Zeit. Nach der Erfahrung 2006, als ich in Tokyo kaum Kontakt zu Japanern herstellen konnte, habe ich erst einmal gedacht, ich gebe alles auf. Trotzdem habe ich weitergemacht und den Entschluss gefasst, noch einmal alles dafür zu geben, die Sprache besser zu lernen. Im Internet habe ich die Werbung für den ersten Manga-Masterstudiengang an der Kyoto-Seika-Universität gesehen und dachte: »Okay, wenn, dann nur das – damit schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe.« Dazu kam es dann auch, und ich bereue es nicht – mitunter denke ich sogar, dass das die zwei schönsten Jahre meines bisherigen Lebens waren. In Kyoto fand ich es um vieles schöner und sehr viel angenehmer zu leben als in Tokyo. An der Uni habe ich Freunde gefunden und bin in den Volleyball-Klub 190 | Ein I nt e rvie w m it d e r d e u t s c h e n Ma n g a -Z e ic h n e r in C h r i st i n a P l a k a
4 Den Manga Kimi he – Worte an dich hat Christina Plaka in Japan gezeichnet – und damit auch ihre persönlichen Erfahrungen mit der Katastrophe vom 11. März 2011 verarbeitet. Carlsen.
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eingetreten. Mein Japanisch hat sich auch langsam verbessert – gut, es ist vielleicht immer noch nicht perfekt, aber auf alle Fälle sehr viel besser als vor dem MasterStudium. War das Studium an der Seika-Universität für Sie sehr hilfreich? Um ehrlich zu sein, es war nicht ganz so hilfreich, wie ich es mir erhofft hatte, da ich wahrscheinlich doch zu fortgeschritten war für dieses Studium. Sie waren ja zu dieser Zeit auch schon professionelle Autorin. Ja, ich war eigentlich schon eine »fertige Mangaka«. Ich habe aber in Kyoto schon neue Sachen mit auf den Weg genommen. Mein Horizont hat sich erweitert, und wahrscheinlich ist mein neuestes Werk auch ein großes Endprodukt dieses Einflusses der Seika. Was aber Techniken angeht oder Erzählweisen, das wusste ich alles schon vorher, es steht aber auch nicht im Mittelpunkt des Master-Studiums. Es geht eher darum, sich frei zu entwickeln und dafür Ideenanstöße von den Professoren zu bekommen. Man konzentriert sich auf seine Arbeit, ohne gesagt zu bekommen: »Jetzt machst du aber den Strich da anders.« Haben Sie in Japan viel Kontakt zu japanischen Mangaka gehabt? Nicht sehr viel, eher mit den Professoren an der Uni oder mit Leuten aus dem Manga-Museum in Kyoto. Zwar habe ich zwei, drei japanische Mangaka kennen gelernt, aber das war schon früher in Deutschland. Auf einer Buchmesse habe ich sogar einmal mein Vorbild, Akira Toriyama, getroffen, und er hat sich meine Zeichnungen angeschaut. Das war für mich damals der Traum schlechthin. Und dann habe ich noch Ishiyama Kei kennen gelernt, die Zeichnerin von Grimm’s Manga, auch erschienen bei Tokyopop. Glauben Sie, dass in Zukunft aus dem westlichen Comic-Markt auch fruchtbare Impulse in die japanische Manga-Landschaft eingehen könnten? In den letzten zehn, zwanzig Jahren haben sich die Stile von japanischen Zeichnern und westlichen Zeichnern, die vorher sehr unterschiedlich waren, schon ziemlich vermischt. Das beste Beispiel sind die aktuellen Spider-Man-Comics. Früher wurde da bei Marvel streng Kästchen an Kästchen gereiht, während heute viel von der japanischen shōnen-Ecke übernommen wird. Man sieht, dass die Panels offen sind, dass die Charaktere praktisch »herausspringen«. In Japan wiederum sieht man 192 | Ein I nt e rvie w m it d e r d e u t s c h e n Ma n g a -Z e ic h n e r in C h r i st i n a P l a k a
plötzlich farbige Manga, die eine stillere Atmosphäre ausstrahlen, in der Art der Bande Dessinée, also der französisch-belgischen Comic-Tradition. So etwas findet man natürlich eher im alternativen Bereich, die Zeitschrift Shōnen Jump würde nicht á la Bande Dessinée veröffentlichen. Aber ich glaube, die Comic-Kulturen inspiriren sich mittlerweile schon sehr viel gegenseitig. Haben Sie für die Zukunft eine Vorstellung, in welche Richtung Sie künstlerisch gehen wollen? Ja, während meines Aufenthalts in Japan habe ich ein neues Werk gezeichnet, das noch nicht einmal wirklich in die Manga-Richtung geht. Man könnte vielleicht sagen, es handelt sich um Manga-Elemente in einem europäisch gezeichneten Comic. Ich weiß gar nicht, wie man das nennen soll, denn es ist wirklich eine Fusion: Man wird das Buch von links nach rechts lesen, es gibt keine Panels, der Text steht unter den Bildern oder irgendwie in den Bildern, und das Ganze ist auch nur mit Bleistift gezeichnet. Es geht mehr so ein bisschen in Richtung Graphic Novel. Erzählen Sie doch einmal etwas mehr über die Entstehung dieses Werks. Das ist eine ziemlich autobiografische Geschichte, auch in künstlerischer Hinsicht. In Japan habe ich mich ein Stück weit neu entdeckt. An der Uni hatten wir zwei sehr offene Professoren, die frei für alle Stile waren und uns auch mit französischen Bande-Dessinée-Zeichnern bekannt gemacht haben. Ich habe den Zeichner Bastien Vivès für mich entdeckt und zwei seiner Werke gelesen. Das war für mich etwas Frisches, Neues, das wirklich in eine freiere Richtung geht, sich als Autor selbst auszudrücken. Es ging nicht darum, nach einem »Gesetz« des shōnen-Manga oder shōjo-Manga zu zeichnen, sondern einfach mal die Geschichte fließen zu lassen in Bildern. Meine neue Geschichte ist einerseits gefühlsbetont, aber auch sehr erwachsen. Ich kann nicht wirklich einordnen, ob das Werk mehr Manga ist, Graphic Novel oder Bande Dessinée. Das ist vielleicht einfach nur ein wahrer Christina-Plaka-Comic. Mal schauen, wie er ankommt, wenn er bei Carlsen erscheint. Sie haben also in diesem Werk eine ganz neue Arbeitsweise entdeckt? Ja, und es war auch sehr schön, so ohne Druck zu arbeiten. Natürlich hatte ich die Deadline von der Uni, denn dieses Werk war auch meine Masterarbeit. Aber das war nicht dieser innerliche Druck, den ich vorher mit den Serien verbunden hatte. Ein In t e r v ie w m it d e r d e u t s c h e n Ma n g a - Z e i c h n e r i n C h r i st i n a P l a k a | 193
Ich war auch recht schnell, weil ich mit Bleistift gezeichnet habe, was sehr entspannend war. Entspannend und befreiend, weil ich diese Geschichte unbedingt zeichnen wollte. Auch Ihr neues Werk wirkt wie »Yonen Buzz« wieder ein wenig filmisch, auch wenn es ein ganz anderer, neuer Stil ist. Der Fokus scheint nun nicht mehr so stark auf dem zu liegen, was gesagt wird, sondern noch mehr auf dem, was gezeigt wird. Ja, richtig. Da gibt es auch Seiten, die ganz ohne Wörter auskommen, und die Stimmung ist dadurch schon ein bisschen stiller. Aber ich glaube auch, dass ich immer schon sehr viel in Filmen oder filmischen Sequenzen gedacht habe, bevor ich mit dem Zeichnen angefangen habe. Bei mir läuft immer die Geschichte wie ein Film im Kopf ab, ob das jetzt bei Yonen Buzz war oder beim ganz aktuellen Werk – und ja, vielleicht ist das auch eine Art Geheimrezept dafür, um fließende Geschichten erzählen zu können. Ich kenne viele Leute, denen es so geht. Ihr neues Werk ist sehr autobiografisch. Wie wird das für Sie sein, wenn das so in die Öffentlichkeit kommt? Das ist eine gute Frage, die ich mir auch schon gestellt habe, bevor ich damit angefangen habe, das Buch zu zeichnen. Aber irgendwie fand ich, diese Geschichte muss an die Öffentlichkeit, aus zwei Gründen. Zum einen ist es eine Geschichte, mit der ich mich selbst als Autorin sehr geöffnet habe, was für mich eine ganz neue Erfahrung war. Zum anderen wollte ich zeigen, was Ereignisse wie die Katastrophe vom 11. März 2011 in unserem Leben bewirken können. Man lebt ein schönes Leben in Japan, für fast eineinhalb Jahre läuft alles gut. Und dann wird man plötzlich zurückgerufen von seinen Eltern: »Komm nach Hause! Wir haben Angst.« Ich wusste nicht, ob ich wieder nach Japan würde zurückgehen können und stand erst einmal da: Ohne Abschluss, ohne irgendetwas, hatte so viel Geld und Zeit und Träume investiert. Man ist dankbar, dass einem selbst nichts passiert ist, gleichzeitig denkt man an die vielen Menschen, denen Schlimmes zugestoßen ist. Das kam alles so abrupt, von heute auf morgen und war ein echter Schock. Diese Geschichte wird im Comic ganz aus meiner Sichtweise erzählt. Das heißt, die Katastrophe war der Auslöser für diese Arbeit? Ja. Vorher hatte ich schon die Idee, mein Leben in Japan zu zeichnen, wusste aber noch nicht genau, auf was ich mich konzentrieren sollte: Auf das Uni-Leben, oder doch lieber auf meine »Liebesgeschichte«. Obwohl, Liebesgeschichte kann man 194 | Ein I nt e rvie w m it d e r d e u t s c h e n Ma n g a -Z e ic h n e r in C h r i st i n a P l a k a
das gar nicht nennen, ich habe eher für jemanden geschwärmt, war verliebt – aber daraus ist nie etwas geworden. Egal, ich wusste jedenfalls nicht, ob das wirklich interessant ist. Nach der Katastrophe sah ich meine Geschichte dann aber aus einer neuen Perspektive und ich habe mich dazu entschlossen, sie zu zeichnen. Ich wollte zeigen, dass man, wenn man verliebt ist, in seiner eigenen kleinen Welt gefangen ist. Man ist auf eine Person fixiert, denkt ständig daran, wann man sich wohl wieder sehen wird, und alles ist so toll, wenn er oder sie nur da ist. Doch plötzlich kommt etwas von außerhalb und zerstört diese kleine abgeschlossene Welt, die man sich aufgebaut hat. Das war schon ein sehr intensives Erlebnis. Und Sie sind dann nach der Katastrophe erst einmal nach Deutschland zurückgegangen? Ja, meine Eltern hatten Angst um mich, und auch ich war verunsichert, als es hieß, dass der erste Reaktor in die Luft gegangen ist und eventuell Radioaktivität austreten kann. Ich habe Angst bekommen, nicht mehr aus dem Land herauszukommen, und bin fast schon durchgedreht, auch weil natürlich alle Leute aus Deutschland, die mich kannten, mir Mails geschrieben haben. Dann bin ich zurückgegangen, auch für meine Familie. In Deutschland habe ich abgewartet und bin dann schon nach drei Wochen nach Japan zurückgegangen, genau pünktlich zum Semesterbeginn, Gott sei Dank. Das war schon eine sehr, sehr heftige Erfahrung. War das Studium nach der Katastrophe anders als zuvor? Wie war die Stimmung an der Uni? An der Uni wurde kein Wort über die Katastrophe verloren. Zu Anfang haben mich vor allem die Supermärkte noch daran erinnert. Dort stand an den Wasserständen: »Bitte nicht mehr als eine oder zwei Flaschen Wasser mitnehmen.« Dadurch hatte ich das Gefühl, dass die Gefahr noch nicht richtig gebannt sein kann. Aber das hat sich auch relativ schnell wieder beruhigt. Schon während des Sommers waren diese Warnhinweise gar nicht mehr zu lesen und danach hat man alles schon fast vergessen gehabt, eben weil es von allen Seiten totgeschwiegen wurde. Natürlich habe ich auch immer ein wenig ängstlich die Nachrichten mitverfolgt, aber ich habe mir vor allem gesagt: »In Deutschland wäre ich auch nicht glücklicher gewesen, mit dem Wissen, aufgegeben zu haben, und dem Gefühl, die Leute, die mir ans Herz gewachsen sind, nie wiederzusehen.« Hat die Arbeit an dem Manga Ihnen auch geholfen, mit der ganzen Situation umzugehen? Ein In t e r v ie w m it d e r d e u t s c h e n Ma n g a - Z e i c h n e r i n C h r i st i n a P l a k a | 195
Ja, auch. Und es hat geholfen, mit meinen Gefühlen besser klar zu kommen, denn ich wusste schon relativ früh, dass diese Liebesgeschichte niemals Erfolg haben würde, weil einfach die Umstände nicht gestimmt haben. Es war gut, sich die Gefühle von der Seele zu schreiben und zu zeigen, dass nicht immer nur alles rosarote Blümchen sind im Leben, sondern reale Geschichten eben nicht immer ein Happy End bieten, wie man es aus shōjo-Manga kennt. Der Carlsen-Verlag scheint ja generell jetzt viele »erwachsenere« Manga herauszubringen. Denken Sie, dass Ihr Werk damit zur richtigen Zeit kommt? Ja, genau. Die Leserinnen, die wie ich mit Manga aufgewachsen sind, sind ja mittlerweile auch in einer neuen Lebensphase. Für diese Zielgruppe kann meine Geschichte sehr interessant sein, denke ich. Werden Sie versuchen, als Manga-Zeichnerin in Japan Fuß zu fassen? Viele Professoren haben mich auch gefragt: »Warum bleibst du nicht gleich hier?« Das Problem ist, dass ich mich selbst nicht als Mangazeichnerin in Japan sehe. In das typisch japanische Alltags- oder Arbeitsleben würde ich nicht so gerne eintreten, ich glaube, ich brauche mehr Freiheit. Man ist in Japan normalerweise auf bestimmte Formate festgelegt und als professionelle Zeichnerin hat man immer Druck, den nächsten Band zu liefern. Selbst die Professoren haben zu meinem aktuellen Manga gesagt: »Wer weiß, ob ein Buch in diesem Format überhaupt erscheinen kann.« Und wenn ich ehrlich bin, möchte ich auch weiterhin in Deutschland leben, weil ich ohne meine Familie nicht sein will. In Deutschland habe ich ja auch noch Fans, da macht es schon Sinn, erst einmal hier zu veröffentlichen. Was danach kommt, weiß ich nicht, vielleicht kann man später noch in Japan publizieren. Haben Sie auch mit anderen deutschen Mangaka Kontakt, die mehr oder weniger professionell arbeiten? Ja, der Kontakt ist nur nicht so intensiv. Man trifft sich auf Buchmessen oder auf Conventions und tauscht sich aus: »Wie läuft es bei dir, wie kommst du zurecht mit dem Pensum?« Aber wir wissen alle, dass man in Deutschland nicht vom Mangazeichnen leben kann. Im Gegensatz zu Japan, wo man Mangazeichnen zum Beruf machen kann, gibt es immer diese Bedenken, was in einigen Jahren aus uns wird. Es macht sehr viel Spaß, aber die Verlage haben uns auch klar signalisiert, dass sie nicht so viel zahlen können, weil der Buchverkauf allgemein nicht mehr so gut läuft. Das 196 | Ein I nt e rvie w m it d e r d e u t s c h e n Ma n g a -Z e ic h n e r in C h r i st i n a P l a k a
sieht man auch aktuell auf dem deutschen Mangamarkt. Einige deutsche Serien werden entweder abrupt beendet und nicht mehr fortgeführt bzw. es werden nur noch sehr wenige ausgewählte deutsche Comic- oder Mangaautoren publiziert. Wie sehen Sie Ihre Zukunft als Manga-Zeichnerin? Ich werde weiter zeichnen, aber mit einem geringeren Pensum. Selbst wenn ich von morgens bis abends zeichnen würde, ich könnte nicht genug Geld zum Leben verdienen. Um so weitermachen zu können wie bisher, bräuchte ich einen »Brotjob« und müsste dann noch abends jeden Tag zeichnen, aber das ist einfach unmöglich.
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VERLIEBT, VERBÜNDET, VERFILMT Ja pa n a l s The ma de s deutschen Spielfilm s Elisabeth Scherer
Einleitung Als das Medium Film um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Deutschen Reich Einzug hielt, erlebten auch gerade die Diskurse über Japan eine neue Ak tualität. In der Nachfolge vor allem Frankreichs hatte die Welle des Japonismus auch deutsche Künstler ergriffen, während gleichzeitig die imperialen Bestrebungen Japans, vor allem dessen Sieg im Russisch-Japanischen Krieg 1904/05, ein verstärktes Interesse für die aufstrebende »Macht im Osten« hervorrief. So nimmt es nicht wunder, dass das neue Medium sogleich dafür genutzt wurde, das »Japa nische« darzustellen und sich so ein umfassenderes Bild von dem »Anderen« zu machen, das bisher nur über schriftliche Beschreibungen und einige Artefakte präsent gewesen war. Von dieser frühen Zeit an gab es im deutschen Film immer wieder Phasen, in denen Japan besonders präsent war oder in denen Japaner und Deutsche gemeinsam an Filmprojekten arbeiteten. Diese deutschen Japan-Filme, die im Mittelpunkt meines Aufsatzes stehen sollen, erzählen dem Zuschauer etwas darüber, welches Wissen über Japan zu einer bestimmten Zeit in Deutschland kursierte und was dabei als »authentisches Japan-Wissen« galt – in den untersuchten Beispielen reicht das von der materiellen Kultur über Samurai-Ethik bis hin zur Business-Etikette. Wie auch Pekar und King darlegen, liegt eine Gefahr bei der Betrachtung solcher westlicher Repräsentationen des »Orients« darin, dass implizit die Existenz eines »realen Orients« bzw. »realen Japans« angenommen wird, die als Messlatte angelegt wird (vgl. Pekar 2003: 22, King 2010: 9). In meinem Aufsatz soll es ausdrücklich nicht darum gehen, ob das in den Filmen präsente Wissen über Japan als »richtig« oder »falsch« einzustufen ist. Das Bild Japans in diesen Werken ist vor allem deshalb interessant, weil es zeigt, welche Eigenschaften Japan zu bestimmten Zeiten von deutschen Künstlern zugeschrieben wurden. Handlung und AusstatV e r l i e b t , ve r b ü n d e t , ve r f i l m t | 201
tung zeugen von bestimmten Wünschen und Sehnsüchten ebenso wie von politischen Machtansprüchen oder ideologischen Hintergründen. Die Filme können daher vor allem Erkenntnisse über die Positionierung Deutschlands gegenüber Japan und auch über die deutsch-japanischen Beziehungen bieten. Adachi-Rabe et al. legen in ihrem Buch Japan – Europa dar, dass das Medium Film ästhetische Begegnungen zwischen Kulturen ermöglicht und so die technische Voraussetzung für eine kulturelle Globalisierung bereit gestellt habe (Adachi-Rabe et al. 2010: 7). Gerade wegen dieser Eigenschaft des Films ist es schwer einzugrenzen, was überhaupt ein »deutscher Film« ist. Von der Erfindung des Mediums Film an überschritt die Filmproduktion regelmäßig Nationengrenzen. In der Stummfilmzeit spielte gesprochene Sprache keine Rolle, so dass im Deutschen Reich zum Beispiel sehr viele dänische Produktionen gezeigt wurden. Heute lässt sich eine sehr starke transnationale Ausrichtung der deutschen Filmproduktion beobachten, mit deutschen Investitionen in Hollywood-Filme und global erfolgreichen deutschen Regisseuren und Schauspielern, so dass Randall Halle in seinem gleichnamigen Buch sogar von »German Film After Germany« (2008) spricht. Für meinen Aufsatz wähle ich solche Filme aus, die in einem »primär deutsch geprägten Kontext« entstanden sind, das heißt unter der Beteiligung eines deutschen Filmteams, sowie meist an deutschen (und japanischen) Drehorten und mit deutscher Finanzierung. Dabei werden auch deutsch-japanische Koproduktionen einbezogen, die wichtige Stationen in der Entwicklung des Japan-Bildes im deutschen Film darstellen. Ich untersuche nur fiktionale Kinofilme in Spielfilmlänge, was Dokumentarfilme und experimentelle Werke wie Wim Wenders’ Essayfilm Tokyo-Ga (1985) ausschließt – mit einer Einschränkung: Vor 1914 waren »abendfüllende« Spielfilme noch ein sehr seltenes Phänomen, weswegen für die Frühzeit des Kinos ein recht diverses Spektrum an kürzeren Werken Erwähnung findet. Ausgespart werden Filme, in denen japanische Figuren oder Motive nur am Rande auftauchen sowie Fernsehfilme und -serien, auch wenn sich hier ebenfalls ein interessantes Untersuchungsfeld bieten würde.1 Aus der Frühzeit des Films sind viele interessante Werke verschollen, die für diesen Aufsatz relevant gewesen wären, wie zum Beispiel Harakiri von Harry Piel (1913). Bei diesen Filmen kann man sich nur mit zeitgenössischen Filmzeitschriften einen Eindruck davon machen, wie sie beschaffen waren. Die Entscheidung, in diesem Artikel einen Überblick über die gesamte Entwicklung des Japan-Bildes in Deutschland von der Frühzeit des Films bis heute zu geben, hat eine gewisse Ausschnitthaftigkeit zur Folge. Zu einigen Werken existieren bereits eingehendere Analysen, die sich für eine weiterführende Lektüre eignen.2
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Di e Frühz e i t des deuts chen Film s: Ne ue s Me dium , neue Horizonte »Modernity must partly be understood as learning to be surprised by certain innovations, a discourse that valorizes and directs our attention to such changes and the exitement they can provoke.« (Gunning 2004: 44)
Das größte Forum dieses Erstaunens und Wunderns, von dem Tom Gunning hier spricht, waren um die Wende zum 20. Jahrhundert die Weltausstellungen. So erhält bei der Pariser Exposition Universelle 1900, wenige Jahre nach der Erfindung des Kinematographen, das Medium Film seinen großen Auftritt: Für Experten werden entsprechende Apparaturen vorgestellt, bei einem Kongress gibt es Fachdiskussionen – die Massen werden aber vor allem von den Gratis-Vorstellungen der Brüder Lumière angelockt. Rund 1,4 Millionen Menschen sahen während der Weltausstellung das 25-minütige Filmprogramm, das in einem riesigen Festsaal auf eine Leinwand von 21 mal 18 Metern projiziert wurde (vgl. Toulet 1986: 186–188). Auch Japan, das seit 1873 die Weltausstellungen intensiv zur Außendarstellung nutzt, gibt weiter Anlass zum Staunen. Die »einfachen und doch so liebenswürdigen Formen« (Malkowsky 1900: 168) des japanischen Kunstgewerbes waren in Paris nun für jedermann erhältlich, schließlich bot der japanische Pavillon Lackwaren und Fächer zu günstigen Preisen an – ein Stück Exotik für das eigene Zuhause. Japan zeigte aber nicht mehr nur über die materielle Kultur Präsenz, sondern drang auch in andere Lebensbereiche der Europäer vor, wie ein Artikel in einem deutschen Buch zur Pariser Weltausstellung belegt, in dem sich der unbekannte Autor ironisch über »Die Invasion der gelben Rasse in die europäische Speisekarte« beschwert (Malkowsky 1900: 351–352). Die Novitäten Film und Japan, die sich so 1900 in Paris parallel präsentierten, waren schon zuvor eine erste zarte Liaison eingegangen: Unter den Filmen, die für Edisons Kinetoscope produziert wurden, befindet sich auch der etwa halbminütige Imperial Japanese Dance, der im Herbst 1894 mit den drei Sarashe-Schwestern in Edisons Studio in New Jersey aufgenommen wurde.3 Die Brüder Lumière schickten 1897 ihren Mitarbeiter Francois-Constant Girel nach Japan, wo er an der Einführung des Kinos beteiligt war und Filmaufnahmen machte, die später in das Programm der Lumières aufgenommen wurden. Sie trugen Titel wie Diner japonais oder Une rue á Tokyo und sollten der Dokumentation des Lebens in Japan dienen, wenn auch Spuren einer bewussten Inszenierung des Exotischen erkennbar sind (vgl. Nornes 2003: 2, Munroe Hotes 2007).
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Im Deutschen Reich findet man ein frühes Zusammentreffen zwischen Film und Japan-Mode in der Arbeit Julius Neubronners (1852–1932), eines Apothekers aus Kronberg, der als Pionier des Amateurfilms gilt. Er hielt historische Ereignisse mit seiner Kamera fest, filmte aber auch Familienmitglieder und Freunde. In Moren tanzt aus dem Jahr 1903 tritt ein Bankbeamter aus Kronberg nicht nur als Harlekin und Höfling, sondern auch als quirlige Geisha auf. In einem anderen Film Neubronners sind gleich drei »deutsche Geishas« zu sehen, die mit Blumen im Haar und Fächer schwingend über eine Bühne tanzen.4 Kimono und Fächer als feste Bestandteile des japonistischen Inventars dienen hier als exotische Ausstattung für das neue und ebenso staunenswerte Medium Film. In der Anfangszeit des Kinos ging es beim Aufgreifen des »Japanischen« vor allem um eine Erprobung des Mediums, sei es, indem man Eindrücke des fernen Landes sammelte und dem Publikum so kurze »filmische Reisen« ermöglichte, oder indem man die aktuelle europäische Mode einfing. So stellen Maderthaner und Musner im Zuammenhang mit der Wiener Massenkultur fest: »Das Kino materialisierte das Bedürfnis nach Transgression und Exotik durch den visuellen Import fremder Welten und Kulturen […]« (Maderthaner/Musner 2000: 126). In der Frühzeit des deutschen Films zeigt sich auch eine enge Verbindung zur Japan-Mode der vorherigen Jahrzehnte, vor allem in filmischen Umsetzungen zu populären Japan-Operetten. Der Berliner Oskar Messter, Erfinder und Film pionier, produzierte in den Jahren 1908 und 1909 zu den Operetten The Mikado (Arthur Sullivan, W.S. Gilbert, 1885) und The Geisha (Sidney Jones, 1896) sogenannte »Tonbilder« – Tonaufnahmen auf Schallplatten, zu denen synchrone Kurzfilme gedreht wurden.5 Diese enge Beziehung zwischen Operette und Film setzte sich fort und gipfelte in dem Prinzip der sogenannten »Filmoperette«, bei der zusammen mit dem Film auch Dirigent, Solisten und Noten für das Orchester an die Kinos geliefert wurden (vgl. Wedel 1999: 427). Notofilm produzierte 1923 mit Die blonde Geisha eine solche »Filmoperette« mit Japan-Thematik, in der eine gewisse Freizügigkeit der Liebe in Japan postuliert wurde: »In Yoko, in Hama, wird Liebe nie zum Drama, man trifft den Freund beim Tee so wie im Séparé [sic] – in Yoko, in Hama, kein Eh’mann spuckt wie’n Lama, wenn er die Frau erwischt, das macht dem Knaben nischt.« (Notofilm 1923: 114). Das Bild Japans, das um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert in Europa verbreitet war, speiste sich in erster Linie aus der materiellen Kultur des Landes (vgl. Maltarich 2005: 98ff.). Artefakte wie Stellschirme, Lackwaren, Kimonos und Farbholzschnitte stellten den ersten Kontakt mit Japan dar, evozierten bestimmte Vorstellungen und gehörten zum festen Repertoire, wann immer es um die Thematisierung des »Japanischen« ging. Mariann Lewinsky hat die Kataloge des französischen Filmunternehmens Pathé Frères bis 1918 nach Werken mit Japan204 | Elisa be t h Sc h e r e r
Thematik durchsucht, und ihre Ergebnisse zeigen auch hier ein starkes Interesse an der materiellen Kultur Japans: Die Dokumentarfilme widmen sich bevorzugt der Herstellung in Europa beliebter japanischer Konsumartikel, wie Fächer, Seide oder Töpferwaren (vgl. Lewinsky 2010: 69).
Di e e rst e n L a ngf i l me : Geis ha-Maskerade Die Figur der Geisha gehörte Anfang des 20. Jahrhunderts zum festen »JapanKanon« in Europa. Im Deutschen Reich erschienen Theaterstücke wie »Kimiko – Die Tragödie einer Geisha aus dem Japan dieser Tage« (Wolfgang von Gersdorff, 1908), in Reiseberichten wurden Geishas mit großer Regelmäßigkeit erwähnt6 und sie waren die tragenden Figuren der ersten deutschen Spielfilme mit Japan-Thematik. Wie Thomas Pekar darlegt, fungierte die Geisha in dieser Zeit als eine Art umbrella term, »der die diffuse männlich-westliche Sehnsucht nach einer anderen Liebesordnung und einer exotischen Erotik umfaßte« (Pekar 2003: 273). Die Geisha war Projektionsfläche für den Traum von einer »freieren Liebe« und von einer hübschen, kindlich-treuen Frau. Die Beziehung eines westlichen Mannes zu einer japanischen Frau stand meist im Mittelpunkt der Japan-Romane, Theaterstücke und Filme dieser Zeit. Die typische Narration, die man zum Beispiel in der Geschichte der »Madame Butterfly« findet, beinhaltete das Kennenlernen, die Beziehung und schließlich auch die Trennung des Paares. Diesem Schema ist auch Harry Piels Film Harakiri – Die Tragödie einer Geisha zuzurechnen, ein Spielfilm aus dem Jahr 1913, der heute als verschollen gilt.7 Darin geht es um die Liebesgeschichte zwischen der Geisha Mimosa und dem jungen Offizier André, die ein tragisches Ende nimmt: »Als André in ihr Haus zurückkehrt, um ihr die Nachricht von seiner Begnadigung zu bringen, findet er eine Sterbende hinter dem Wandschirm. In ihrer unendlichen Liebe hat sie sich für ihn geopfert.« (Der Kinematograph No. 358, 1913). Im Jahr 1919 entstand eine ganze Reihe von deutschen Japan-Filmen, die sich in einen allgemeinen Boom des Fremden bzw. Exotischen zu dieser Zeit einreihten. Wie Wolfgang Kabatek darlegt, lasse sich dieser Boom einerseits darauf zurückführen, dass man durch den 1. Weltkrieg die Erfahrung gemacht hatte, dass ferne Regionen Auswirkungen auf das eigene Leben haben können. Andererseits drücke sich in den Filmen der Zwischenkriegszeit, die das Andere/Fremde repräsentieren, auch eine Suche nach nationaler Identität und Orientierung aus (vgl. Kabatek 2003: 38ff.). Fritz Langs »Harakiri«, ebenfalls eine Madame-Butterfly-Verfilmung, ist der bekannteste Japan-Film, der zu dieser Zeit in der Weimarer Republik erschienen ist. V e r l i e b t , ve r b ü n d e t , ve r f i l m t | 205
Die tragische Liebesgeschichte um eine Japanerin (hier heißt sie O-TakeSan) und einen in Japan stationierten Ausländer – in Fritz Langs Fall ein Europäer namens Olaf Anderson – wird ergänzt um eine Rahmenhandlung mit zwei buddhistischen Mönchen, die O-Take-San erst zur »Priesterin« und dann zur Geisha machen wollen. Die Schauspieler in Harakiri waren allesamt Deutsche, die mit aufwändiger Kostümierung in Japaner verwandelt wurden, so auch Lil Dagover, die O-Take-San verkörperte (vgl. Abb. 1). Harakiri ist damit (wie auch die anderen deutschen Japan-Filme dieser Zeit) ein typischer Vertreter dessen, was Katrin Sieg als »ethnic drag« bezeichnet: »��������������������������������� the performance of ›race‹ as masquerade��������������������������� «�������������������������� (Sieg 2002: 2). Die deut1 In Fritz Langs Harakiri (1919) verkörpert die deutsche schen Japan-Filme unterschieden sich Schauspielerin Lil Dagover die treuherzige Japanerin O-Take-San, damit deutlich von den Werken, die die ein Kind von dem Europäer Olaf Anderson bekommt. Deutsches von Pathé Frères produziert wurden. Filminstitut, Frankfurt. Die Franzosen engagierten japanische Darsteller wie die Tänzerin Hanako Ōta8 für die Hauptrollen, und wie Mariann Lewinsky feststellt, fehlt in ihren JapanFilmen das Madame-Butterfly-Narrativ (vgl. Lewinsky 2010: 76). Die japanische »Maskerade« in Langs Harakiri wurde sehr unterschiedlich aufgenommen9: Während der eine Kritiker bemängelte, den Darstellern fehle »in Aussehen und Geste das typisch Japanische« (P. in Der Film, 21. Dezember 1919), wurde andernorts gelobt, dass Dagover sehr rührend »das kindlich-unschuldige der kleinen Japanerin« wiedergebe (st in Berliner Börsen-Courier, 21. Dezember 1919) und sich »ganz in die Seele der kleinen Japanerin hineingefunden« habe (Ludwig Brauner in Der Kinematograph, 31. Dezember 1919). Die aus heutiger Sicht stark exotisierende Darstellung Japans in Fritz Langs Harakiri wurde also zur Zeit des Erscheinens von einigen Kritikern als sehr authentisch wahrgenommen.10 Der Eindruck, etwas authentisch »Japanisches« vor sich zu haben, wurde jedoch vor allem dadurch erweckt, dass Lang mit Harakiri die damals allgemein bekannten 206 | Elisa be t h Sc h e r e r
Japan-Topoi reproduzierte. Der Film ist somit aus heutiger Sicht vor allem ein Dokument des Wissens über Japan in Deutschland zur Zeit seiner Entstehung. Die Kulissen für Harakiri lieferte Hagenbecks Tierpark in Hamburg-Stellingen. Schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in Europa sogenannte »Völkerschauen« populär, in denen Kulissen fremder Länder inklusive Angehöriger des »fremden Volkes« zur Schau gestellt wurden. Anne Dreesbach, die sich in ihrer Arbeit »Gezähmte Wilde« intensiv mit diesem Thema auseinandersetzt, sieht in diesen Schauen einen »Stereotypenkreislauf« am Werke: »Die Zurschaustellungen schufen keine neuen Bilder vom Fremden, sie waren vielmehr äußerst wirksame Medien zur Formierung und Verfestigung stereotyper Vorstellungen über fremde Kulturen.« (Dreesbach 2005: 14). Carl Hagenbeck (1844–1913) war in dieses lukrative Geschäft eingestiegen, und seine Söhne stellten die Szenerien, in denen sich auch japanisch anmutende Bauten befanden, ab 1919 der Produktionsfirma Decla für Filmaufnahmen zur Verfügung.11 Heinrich Umlauff, der in Hamburg einen florierenden Ethnographica-Handel betrieb, zeichnete für die Requisite verantwortlich.12 Margot Meyer, die den Drehort besuchte, schwärmte im Film-Kurier von der Ausstattung: »Das Reizvolle an der Aufmachung ist, daß auch die Innenaufnahmen hier in den eigens erbauten japanischen Häusern gedreht werden, daß die Atelierkulisse fehlt und an ihre Stelle eine verblüffende Echtheit tritt.« (Meyer 1919). Auch in Langs Film definiert sich also das »Japanische« vor allem über Objekte. Zu diesem »materiellen Japan« gesellt sich aber auch eine Aufladung der Figuren mit besonderen Eigenschaften, die als wesentlich für die japanische Mentalität angesehen wurden. Bei der Inszenierung des exotischen Japan war, wie auch in Pucchinis Oper oder Pierre Lotis Roman Madame Chrysanthème (1887), die weibliche Figur die dankbarste Tragfläche für orientalistische Projektionen. So heißt es über die Schauspielkunst Lil Dagovers in einer Rezension aus der Lichtbild-Bühne (Dezember 1919): »Ängstlich, treuäugig auf das große Glück ergeben wartend, aber stark, fest und beherrscht im Tode, dazu trippelnd und zierlich von Gestalt – so schuf sie in unübertrefflich sympathischer Weise den Typ einer echten Japanerin.« (F.v.B. 1919). Wie Georges Sturm darlegt, ist O-Take-San in Fritz Langs Filmographie allerdings keine Ausnahme, sondern vielmehr das erste Beispiel »in einer Reihe sanftmütiger, leidender und sich aufopfernder Blumen-Frauen« (Sturm 2001: 124). Die Beziehung eines westlichen Mannes zu einer asiatischen Frau – die stereotyp als hingebungsvoll und sexuell verfügbar charakterisiert wird –, kann im deutschen Kino wie in der Oper nur tragisch enden, d. h. mit dem Selbstmord der Geisha. Hiermit wird auch der Angst vor rassischer Vermischung Rechnung getragen, die Teil des Diskurses um die »Gelbe Gefahr« war, der im Deutschen Reich seit der Jahrhundertwende schwelte.13 V e r l i e b t , ve r b ü n d e t , ve r f i l m t | 207
Noch deutlicher trat diese Angst in Filmen hervor, die eine Beziehung eines asiatischen Mannes mit einer »weißen Frau« thematisierten, wie List gegen List (Adolf Gärtner, 1913) oder Die Geisha und der Samurai (Carl Boese, 1919). Die weiße Frau muss in diesen Werken aus den Fängen des perversen oder zumindest verschlagenen asiatischen Mannes befreit werden. So heißt es in der Zeitschrift Kinematograph (No. 330, 1913) über Anni, die in List gegen List mit Marquis Yto einen japanischen Verehrer hat: »In ihrem gesunden Gemüt regt sich der Widerwille gegen die gelbe Rasse und deren etwas problematische Schönheit.« Wie Tobias Nagl herausstellt, dienten diese Darstellungen auch einer Rückversicherung »weißer Männlichkeit«: »Wie das sexualisierte Madame-Butterfly-Stereotyp gegenüber asiatischen Frauen diente die Effemierung asiatischer Männer der Festigung des überlegenen Status weißer Männer im sexuellen Konkurrenzkampf […]« (Nagl 2009: 80). Im gleichen Jahr wie Harakiri erschien auch Die Augen von Jade – ein Film, der zwar ebenfalls an das Butterfly-Narrativ anknüpft, in einiger Hinsicht aber auch als Ausnahme gelten kann. Es handelte sich bei Die Augen von Jade um eine Produktion, die ganz in Frauenhand lag: Die Hauptdarstellerin Hella Moja (1890–1951) produzierte mit ihrer Firma den Film, und Iwa Raffay (geb. Johanna Franzisca Lothka, geb. 1881, Tod unbekannt) schrieb das Drehbuch und führte Regie. Die beiden Filmpionierinnen hatten zuvor schon bei den Filmen Tausend und eine Frau und Nur ein Schmetterling (beide 1918) zusammengearbeitet. Dass Frauen über das Schauspielern hinaus beim Film aktiv sind, war damals noch alles andere als üblich, wie folgende Notiz aus Der Film von 1918 zeigt: »Die Frau erobert sich immer weitere Berufe: Dem Regisseur folgt die Regisseurin von Beruf. Frau Iwa Raffay ist für die Regie der Hella-Moja-Films [sic] verpflichtet worden […]« (Der Film Nr. 24, 1918: 23). Die Augen von Jade trägt den Untertitel »Ein Drama aus dem Lande der Sonne in 5 Akten« und ist wie Langs Harakiri mit einer Viragierung versehen; durch diese Einfärbung des Filmstreifens in monochromen Farben konnte die Stimmung einer Szene betont werden. So ist das Bild rosa, wenn die Hauptdarstellerin glücklich unter einem Kirschbaum in voller Blüte sitzt, und wird grün, wenn sie später in Schwierigkeiten gerät. Sowohl Die Augen von Jade als auch Harakiri wurden von der Polizei, die sich zu dieser Zeit noch um die Kontrolle von Filmen kümmerte, mit einem Jugendverbot belegt.14 Dies lag wahrscheinlich darin begründet, dass die Filme mit der Darstellung illegitimer Liebesverhältnisse als zu freizügig empfunden wurden, denn im Mittelpunkt der Zensur standen vor allem Sex und Gewalt (vgl. Altendorfer 2004: 125). Zu den Zensurgrundsätzen gehörte unter anderem, dass »Andeutungen oder Hinweise auf geschlechtliche Vorgänge« unerwünscht waren,
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2 Eine kecke Japanerin im Westen: Hella Moja als Mi fa Loi in Die Augen von Jade (1919). Deutsches Film institut, Frankfurt.
»geringe Bekleidung« oder auch nur Szenen, die in einem Schlafzimmer stattfanden (vgl. Binz 2006: 50/51). Wovon Die Augen von Jade handelt, verrät der erste Zwischentitel: »Mi fa Loi, die Tochter des ehrwürdigen Jorimato, ist das lieblichste und begabteste Mädchen von Yokohama.« Dieses Mädchen, das auf einem Fest der norwegischen Botschaft für ihre Tanzkünste bewundert wird, geht ein Liebesverhältnis mit dem Norweger Kay Nordhong ein und bekommt einen Sohn von ihm, nachdem er bereits nach Europa zurückgekehrt ist. Als Nordhong später nach Japan zurückkommt, knüpfen sie an ihre Beziehung an und Mi fa Loi folgt ihm schließlich ohne ihr Kind nach Christiana (dem heutigen Oslo), wo sie als heimliche Geliebte versteckt in seinem Apartment wohnt (vgl. Abb. 2). Da ihm die Verbindung berufliches Fortkommen verspricht, heiratet Nordhong jedoch eine andere Frau, woraufhin sich Mi fa Loi zunächst als Tänzerin in einem japanischen Teehaus in Christiana verdingt und schließlich nach Japan zurückkehrt. Dort erfährt sie von dem Tode ihres Kindes. Zur gleichen Zeit findet Kay Nordhong heraus, dass seine Frau ihm untreu ist, und V e r l i e b t , ve r b ü n d e t , ve r f i l m t | 209
er versucht vergeblich, Mi fa Loi ausfindig zu machen. Der Film endet mit einer Szene, die sich Jahre später abspielt: Der gealterte Kay Nordhong, ein gebrochener Mann, trifft in Japan wieder auf seine ehemalige Geliebte, die erblindet ist und als eine Art Hellseherin durch die Straßen streift. Er schwört, sie niemals wieder zu verlassen, sie jedoch sieht keine Möglichkeit mehr zu einer Verbindung: »Müd ist mein Fuß, und müd ist meine Seele«. Auch Mi fa Loi entspricht mit ihrer Treue und Leidensbereitschaft einerseits den damals gängigen Klischees, ist aber andererseits eine Figur, der von ihrer Darstellerin Hella Moja und der Regisseurin Iwa Raffay wesentlich mehr Individualität und Subjektivität zugestanden wird als zum Beispiel Otake-San in Harakiri. Während Letztere wie ein von verschiedenen patriarchalen Figuren gelenkter Spielball wirkt, entscheidet Mi Fa Loi selbst: Sie widersetzt sich dem Vater und reißt von zuhause aus, sie drängt Nordhong dazu, sie mit nach Europa zu nehmen, und sie lehnt den ehemaligen Geliebten bei ihrem späten Wiedersehen ab. Charakter erhält Mi Fa Loi auch dadurch, dass sie nicht einfach nur als hübsches treues Wesen dargestellt wird, sondern als freche junge Frau, die ihrem Liebhaber hin und wieder auch Streiche spielt. So begeht sie bei einem der ersten Treffen den Schabernack, sich als Bote zu verkleiden, der gegenüber Nordhong behauptet, seine Herrin lasse sich entschuldigen. Regisseurin und Produzentin nutzten eine japanische Hauptfigur zur Schilderung einer außergewöhnlichen weiblichen Persönlichkeit, die sich im Rahmen einer rein europäischen Handlung möglicherweise nicht hätte entfalten können. Mari Yoshihara stellt diese Funktion orientalistischer Motive auch für amerikanische Frauen dieser Zeit fest: »Using foreign settings, figures, and/or styles, women could explore new ways of representing – and thus understanding – the world.« (Yoshihara 2003: 194). Die Annahme einer anderen Identität auf der Bühne (oder im Film) ermöglichte »weißen« Frauen, so Yoshihara, aus festgefahrenen Kategorien auszubrechen und sich als »New Women« neu zu positionieren (Yoshihara 2003: 78). Die Aufführung asiatischer Weiblichkeit durch Hella Moja scheint auf Zeitgenossen einen glaubwürdigen Eindruck gemacht zu haben. In der Zeitschrift Bühne und Film wurde die Hella-Moja-Filmproduktion im Jahr 1919 sogar dafür gelobt, eine »Erkenntnis fremdländischen Volkscharakters« zu vermitteln: »Es ist noch gar nicht lange her, daß auf diesem Gebiete bei uns schwer gesündigt wurde, und daß vor allem orientalische Filme entstanden, bei deren Vorführung jeder Kenner des Orients lachen mußte. Erfreulicherweise sind derart ›phantastische‹ Films [sic] jetzt durch wirklich gute Auslandsfilms ersetzt. Besonders die Mojafilms, die im Auslande spielen,
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dürfen sich das Verdienst anrechnen, hier vorbildlich gewirkt zu haben.« (Bühne und Film, No. 8/1919, S. 12)
Auch dieser Artikel zeigt, dass der Grad der »Authentizität« zu dieser Zeit als ein wichtiges Güte-Kriterium von Filmen angesehen wurde, die das »Fremde« darstellten. Hella Mojas Produktion Die Augen von Jade konnte hier wahrscheinlich durch die reichhaltige Ausstattung mit japanischen Objekten ebenso punkten wie durch den Kontrast zu den im Zitat erwähnten Filmen, bei denen »schwer gesündigt« worden war. List gegen List (1913) zum Beispiel wurde in einer Anzeige im Kinematograph folgendermaßen angepriesen: »Der Clou ist ein original Japanisches Eisballett mit über 200 Mitwirkenden« (Kinematograph No. 330/1913).
Ei n e c ht e r Abe nteurer dreht vor Ort: He i nz K a rl Heilands Japan-Film e Zwischen den Jahren 1924 und 1926 entstanden die ersten Spielfilme mit deutscher Beteiligung auf japanischem Boden: Der deutsche Abenteurer, Autor und Regisseur Heinz Karl Heiland (1876–1932) machte sich mit den beiden Schauspielern Lo Holl und Carl W. Tetting auf die Reise und drehte an Originalschauplätzen die beiden Stummfilme Die weiße Geisha und Bushido: Das eiserne Gesetz. Schon unterwegs wurden einige Szenen für die Die weiße Geisha aufgenommen, einen Film, dessen Handlung sich geographisch von Deutschland über Colombo, Macao und Hongkong bis nach Japan erstreckt. Protagonist der Kriminal- und Liebesgeschichte ist der Ingenieur Oluf Berg (Carl W. Tetting), der in Japan für Konsul Wangen lukrative Minen in einem Bergwerk erwerben soll. Unterwegs lernt er die allein reisende Eva Lang (Lo Holl) kennen, die sich in Japan eine neue Existenz aufbauen will. Sie verlieben sich, geraten jedoch beide auf Abwege (Berg in einer Opiumhöhle in Hongkong und Lang in einer Spielhölle in Macao) und durch eine Intrige auch in Zwist. Eva Lang fasst daraufhin einen Entschluss: »Die weiße Geisha wird die Schmach rächen, die er mir heute angetan hat.« Als Geisha verkleidet pirscht sie sich in Japan angekommen an den ahnungslosen Berg heran und beginnt schon damit, seinen Gegnern – die ebenfalls hinter den Minen her sind – in die Hände zu spielen, bis es schließlich doch eine Auflösung und Wendung zum Liebesglück für die beiden gibt. Der Film zeigt einige Straßen in Colombo und Hongkong, ein Casino in Macao sowie markante Szenen in Kyoto, unter anderem beim Gion Matsuri, einem der größten Feste in Japan. In Die Weiße Geisha wird das Prinzip des »ethnic drag« V e r l i e b t , ve r b ü n d e t , ve r f i l m t | 211
– also Eva Langs »Maskerade« als Geisha – zu einer Möglichkeit der Ermächtigung: Durch das Annehmen dieser »exotischen Identität« kann Eva Lang sowohl ihr Begehren gegenüber Berg offen zum Ausdruck bringen als auch ihre Rachepläne umsetzen. Auch nach ihrer »Enttarnung« bleibt Eva Lang jedoch weiter eine starke Frauenfigur, die Berg in einer waghalsigen Kletter-Aktion auf einem fahrenden Kran sogar das Leben rettet. In Japan drehte Heiland gemeinsam mit dem japanischen Regisseur Kako Zanmu 1924 bis Anfang 1925 unter dem Dach der japanischen Produktionsfirma Tōa Kinema einen zweiten Film mit dem Titel Bushido: Das eiserne Gesetz. Berühmte Schauplätze wie der Berg Fuji, Kamakura mit dem großen Buddha sowie die Tempelanlangen und Parks in Nara boten die Kulissen für die japanischen und deutschen Darsteller.15 Die japanischen Schauspieler gehörten laut eines zeitgenössischen Berichts der Zeitung Yomiuri Shinbun zum »Allstar Cast« des Tōa-Studios16, die deutschen Schauspieler waren wiederum Lo Holl und Carl W. Tetting. Die Handlung war in der Sengoku-Zeit (»Zeit der streitenden Reiche«, 1477–1573) angesiedelt, drehte sich um die Einführung von Schusswaffen durch Europäer, und wartete unter anderem mit Harakiri-Szenen und dem Auftritt von Geishas auf. Der Film wurde damals im Deutschen Reich und in Japan in unterschiedlichen Versionen aufgeführt, von denen heute nur noch eine Kopie mit deutschen Zwischentiteln erhalten ist, die im National Film Center in Tokyo aufbewahrt wird. Wie der Film in Japan aufgeführt wurde kann nicht mehr nachvollzogen werden, es muss aber einige Unterschiede, z. B. bei den Namen der Protagonisten, gegeben haben (vgl. Ogawa 2005: 241, 246). Die japanische Filmwissenschaftlerin Tomita Mika kritisiert Bushido als »nationale Schande«, da in dem Film westliche Wünsche und Begierden auf Japan projiziert würden und sich die japanische Seite noch daran beteiligt habe, dieses Bild zu produzieren (vgl. Ogawa 2005: 242). Wie das eher geringe Medienecho zur Zeit seines Erscheinens sowohl im Deutschen Reich als auch in Japan vermuten lässt, hat Bushido jedoch keine besondere Breitenwirkung entfalten können.
Di e K o pro duktionen der Nazi-Zeit: D as Eigene im Frem den Eine wesentlich größer angelegte deutsch-japanische Koproduktion ist Die Tochter des Samurai, ein 127-minütiger Tonfilm, der im März 1937 in Deutschland uraufgeführt wurde.17 Der Regisseur Arnold Fanck, ein erfolgreicher Bergfilmer, drehte in Zusammenarbeit mit dem Filmproduzenten Nagamasa Kawakita in Japan mit japanischen Schauspielern – unter anderem mit der erst 16-jährigen Hara Setsuko, 212 | Elisa be t h Sc h e r e r
die später der große Star der Filme von Yasujirō Ozu wurde. Die Tochter des Samurai handelt von einem jungen Japaner namens Teruo (gespielt von Sessue Hayakawa), der nach einem Studium in Deutschland nach Japan zurückkehrt und dort die Tochter seines Adoptivvaters, Mitsuko, heiraten soll – was er zunächst ablehnt, auch weil er in seine deutsche Freundin Gerda verliebt ist. Nach einem dramatischen Versuch Mitsukos, sich in einen Vulkan zu stürzen, entschließt sich Teruo schließlich doch zur Heirat und lässt sich mit Mitsuko in der Mandschurei nieder, wo er Landwirtschaft betreibt. Hinter der eher schlichten Handlung verbirgt sich klar die »Blut und Boden«Ideologie, durch die das nationalsozialistische Deutschland sich mit Japan verbunden sah. Immer wieder wird betont, wie wichtig die Erweiterung des Lebensraumes des eigenen Volkes sei: »Wir sind zu viele« (1:42:56). Der Film fügt sich damit ein in einen breiten Diskurs, den Maltarich folgendermaßen zusammenfasst: »Claims made for the relationship between the German Volk and the German soil are echoed and confirmed, applied to and reinforced by depictions of the land, climate, and people of Japan« (Maltarich 2005: 131). Im Jahr 1938, ein Jahr nach Erscheinen der Tochter des Samurai, formuliert Karl Haushofer diese Ideologie sehr deutlich in seinem Werk Alt-Japan und betont die überzeugende Einheit von Blut und Boden in Japan sowie die »stählerne Fähigkeit zum Zurückschnellen«, die das Land und seine Bewohner auszeichne (Haushofer 1938: 5). Japan wird auch im Film Die Tocher des Samurai als vorbildliches Volk gezeigt, bei dem das Individuum nicht viel zählt, sondern immer das Wohl des Ganzen (d. h. des Vaterlandes und des Kaiserhauses) im Vordergrund steht. Gerda, die blonde deutsche Freundin Teruos, unterstützt diese »japanischen Tugenden« und legt ihm, der in Deutschland westliche Werte wie Individualität und persönliche Freiheit zu schätzen gelernt hat, nahe, sich seiner Pflicht zu fügen. Eine Beziehung zwischen dem japanischen Mann und der deutschen Frau wird in Die Tochter des Samurai als unvernünftig und den Verpflichtungen gegenüber dem Vaterland widersprechend markiert. Wie Janine Hansen feststellt, wurden solche Botschaften von den Beteiligten nicht auf politischen Druck hin, sondern aus eigenem Antrieb in den Film eingewoben (vgl. Hansen 1997: 124). Neben dieser ideologischen Unterfütterung wird für die deutschen Zuschauer auch die Neugier auf das ferne Land befriedigt, mit Kirschblüten vor dem Fuji-san, dem Buddha von Kamakura, Nō-Theater, Sumo-Ringen und Teezeremonie, aber auch Szenen aus den lebendigen Straßen von Tokyo. Der geographischen Kontinuität der gezeigten Lokalitäten wurde dabei offensichtlich kein großes Gewicht beigemessen, allerdings wurden den deutschen Zuschauern viele Sequenzen nur in japanischer Sprache zugemutet. Der japanische Regisseur Itami Manzaku drehte parallel zu Fanck eine eigene Version des Films (Titel: Atarashiki Tsuchi, »Neue Erde«), in japanischer und englischer Sprache und mit weniger exotischem Kolorit V e r l i e b t , ve r b ü n d e t , ve r f i l m t | 213
(vgl. Hansen 1997: 53ff.). Zeitgenössische japanische Kritiken störten sich u. a. an der rückwärtsgewandten und klischeehaften Darstellung des Landes in Die Tochter des Samurai, während man in Deutschland davon ausging, ein sehr authentisches Bild Japans präsentiert zu bekommen: »Dr. Fanck zeichnet in seinem Film Japan, wie es ist. […] Der Film ist Japan.«18 Dieses vermeintlich »echte Japan« ist vor allem eines, das bestimmte vom Nationalsozialismus angestrebte Werte spiegelt – Verbundenheit des Volkes zu »seiner Erde«, Aufopferungswille, Führertreue. Richard Angst, der für die Tochter des Samurai hinter der Kamera stand, war auch noch an einer zweiten deutsch-japanischen Koproduktion mit nationalsozialistischem Hintergrund beteiligt, die 1937/38 auf Hokkaido gedreht wurde: Das Heilige Ziel. Regie führte bei diesem Film der japanische Regisseur Nomura Kōshō; das Drehbuch stammte von Noda Kōgo, der für die Mitarbeit an Ozu Yasujirōs Filmen berühmt ist, sowie dem deutschen Cutter und Regieassistenten Wolfgang Loe Bagier, der während der Dreharbeiten in Japan anwesend war (vgl. Weniger 2011: 80). Der Film handelt davon, wie ein deutscher Experte (gespielt von Sepp Rist) zwei japanische Skispringer, die an den olympischen Winterspielen 194019 teilnehmen wollen, vorbereitet. Der deutsche Trainer bringt in Das Heilige Ziel seinen Schützlingen ein (stark nationalsozialistisch geprägtes) Männlichkeitsideal nahe, bei dem eisernes Durchhaltevermögen, Kraft und Körperkult im Zentrum stehen. Klischees werden in diesem Film, der von der Shōchiku Ofuna, Cocco Film und der deutsch-japanischen Gesellschaft Berlin produziert wurde, von beiden Seiten eingebracht: Geisha-Tänze gesellen sich zum in Lederhose aufgeführten Schuhplattler, und der raubeinige Sepp Rist begrüßt den alten japanischen Hüttenwirt mit einem deftigen: »Konnichiwa! Grüß Gott! Na tu dei Bratzen scho her, ich tu dir nix!« Die beiden Koproduktionen der Nazi-Zeit dienen einerseits dazu, Gemeinsamkeiten herauszustellen und das »Eigene im Fremden« zu erkennen, andererseits wird aber auch das »Fremde« als solches vorgeführt, weil gerade das den Reiz für den Zuschauer ausmacht. Der Austausch zwischen der deutschen und japanischen Kultur innerhalb der jeweiligen Filmwelt beschränkt sich vor allem auf eine bestimmte Ideologie, ansonsten werden dem Zuschauer touristische Ankerpunkte geboten, als attraktive Ausstattung einer eher schlicht und vorhersehbar gestalteten Handlung.
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Di e 1980e r und 90e r: Ja paner in Deuts chland und »deutsche Japaner« Die Tochter des Samurai ist ein Höhepunkt der Präsenz Japans im deutschen Spielfilm, dem lange kein weiteres Werk folgte. Ein zum Teil in Japan gedrehter Film über Richard Sorge unter dem Titel Verrat an Deutschland, bei dem Veit Harlan 1954/55 Regie führte, wurde nach einem Tag im Kino abgesetzt und von der Kritik verrissen.20 Im Deutschland der 1950er Jahre boomten vor allem die Heimat- und Schlagerfilme, in denen die heimischen Berge, Seen und Wälder für Sicherheit, Unversehrtheit und für ein einfach verständliches Wertesystem stehen. Exotische Drehorte und Themen tauchten erst in den 1960er Jahren mit den KarlMay-Verfilmungen wieder auf, Japan blieb jedoch lange außerhalb des Fokus der Filmemacher. Eine Ausnahme ist die Fernsehserie Polizeifunk Ruft, für die 1968 zwei Episoden in Tokyo, Kamakura und Kyoto gedreht wurden – wahrscheinlich angeregt durch den James-Bond-Film You Only Live Twice, der 1967 ebenfalls einen Großteil seiner Handlung in Japan entfaltete. Ein größeres Japan-Interesse im Bereich des Kinofilms lässt sich in Deutschland aber erst wieder ab den 1980er Jahren feststellen. Japan gewann zu dieser Zeit durch sein wirtschaftliches Hochwachstum allgemein viel Aufmerksamkeit: Es erschienen zahlreiche Buchpublikationen über Japan, in denen darüber spekuliert wurde, warum das Land so erfolgreich ist. Auch viele Bücher über Samurai und Bushidō kamen heraus, da beides häufig als Erklärungsansatz für das gute Abschneiden des »anstrengenden Vorbilds«21 herangezogen wurde. Die Initiative zur ersten Koproduktion nach dem 2. Weltkrieg kam allerdings von japanischer Seite: Wakamatsu Kōji, einer der bedeutendsten Regisseure des japanischen Erotikfilm-Genres pink eiga, produzierte 1982 »Die Frau mit dem roten Hut« (jap. Akai bōshi no onna). Der Film, der von der Liebesaffäre eines jungen japanischen Schriftstellers mit einer deutschen Straßenkünstlerin im Jahr 1923 handelt, wurde unter der Regie von Kumashiro Tatsumi komplett in München gedreht. Zwar wurde der Erotikfilm mit deutscher Beteiligung produziert und hat eine deutsche Hauptdarstellerin, die künstlerischen Impulse kamen bei diesem Werk aber hauptsächlich aus Japan. Die Handlung erinnert an Mori Ōgais Novelle Maihime (deutscher Titel: »Das Ballettmädchen: Eine Berliner Novelle«), bei der Vorlage handelt es sich laut der Tageszeitung Asahi Shinbun aber um einen japanischen »Underground-Porno-Roman« gleichen Namens, dessen Autor nicht bekannt ist (27.9.1982, S. 13). In Die Frau mit dem Roten Hut wird das von Inflation gebeutelte Deutschland für den japanischen Schriftsteller zu einem erotischen Paradies. »Deutschland hat nichts mehr, nur noch Freiheit. […] Für eine Schachtel V e r l i e b t , ve r b ü n d e t , ve r f i l m t | 215
Zigaretten kann ich hier jede Frau haben«, schreibt ihm sein ebenfalls japanischer Freund in einem Brief und lockt ihn so nach München. Hier werden also die Verhältnisse umgekehrt: Nicht mehr Japan dient – wie in der Butterfly-Tradition – als Spielwiese für Phantasien über das leicht verfügbare »erotische Andere«, sondern es wird in dieser Funktion durch Deutschland abgelöst. Das Machtverhältnis zwischen den Liebenden bleibt dennoch ausgewogen, eher noch dominiert die schwer durchschaubare Frau. Eine weitere Koproduktion der 1980er Jahre ist Uindī (deutsch »Races«), ein Film, der von einem japanischen Motorrad-Rennfahrer handelt. Harada Masato, der dem westlichen Kinopublikum vor allem durch seine Rolle als Antagonist in Last Samurai bekannt ist, führte Regie, und Watanabe Hiroyuki spielte den Rennfahrer Sugimoto Kei, der in der Rennsaison auf verschiedenen großen Strecken (u. a. Nürburgring, Hockenheimring) unterwegs ist und sich in die amerikanische Mechanikerin Samantha (Leslie Malton) verliebt. Während Uindī in Deutschland kein großes Echo fand, wurde der Film in Japan mit großem Aufwand veröffentlicht. Uindī startete im April 1984 in der »Golden Week«, in der die meisten Japaner Ferien haben, und wurde zuvor in Japans auflagenstärkster Zeitung Yomiuri Shinbun mit einer halbseitigen Anzeige beworben (vgl. Yomiuri Shinbun, 23.3.1984, S. 15). James Bailey interpretierte 1985 in einem Essay zur damaligen japanischen Filmwelt Werke wie Uindī als Zeichen einer neuen Offenheit gegenüber dem Anderen und schreibt über die Hauptfigur Sugimoto: »He prospers without Japanese female companionship […], without Japanese food, even without expressing his deepest feelings in his native tongue, since his English is perfectly fluent.« (Bailey 1985: 71). Beide Koproduktionen von Anfang der 1980er Jahre haben gemein, dass in ihnen ein Liebespaar auftritt, das aus einer westlichen Frau und einem japanischen Mann besteht. Was zur Stummfilmzeit ein Schreckensszenario war und zur NaziZeit der Vaterlands-Ideologie widersprach, wird hier – allerdings unter japanischer künstlerischer Leitung – zur Selbstverständlichkeit. Ende der 1980er Jahre gesellte sich mit Maihime (Shinoda Masahiro, 1988/89), einer Verfilmung von Mori Ōgais Novelle, noch eine dritte Koproduktion hinzu, die sich der Konstellation »japanischer Mann – westliche Frau« widmet. Das Phänomen des »deutschen Japaners«, das im deutschen Film zu einem wiederkehrenden Motiv werden sollte, tauchte erstmals 1986 in dem Film Der Sommer des Samurai von Hans-Christoph Blumenberg auf (vgl. Abb. 3). Mit »deutsche Japaner« bezeichne ich deutsche Figuren, die ein besonderes Interesse an Japan haben und über Japan-Kompetenzen verfügen – seien es Sprachkenntnisse, eine Ausbildung in Kampfkunst-Techniken oder Kenntnisse der japanischen Küche. In Der Sommer des Samurai ist es der Finanzmakler Johann Wilcke, der auf 216 | Elisa be t h Sc h e r e r
hohem Niveau japanisches Bogenschießen (Kyūdō) praktiziert, sich ein »japanisches Refugium« inklusive Garten in einer Halle eingerichtet hat, fließend Japanisch spricht und sich des nachts in ein »Japan-Phantom« verwandelt, das wichtige Dokumente raubt und so nach und nach immer mehr Korruptionsskandale aufdeckt, in die Hamburger Größen aus Wirtschaft und Politik verwickelt sind. Die Journalistin Christiane Land, die gerade erst einen Alkoholentzug hinter sich hat, heftet sich an die Fersen des Phantoms und deckt – auch mit Hilfe der in den 1980ern so verbreiteten Bushidō-Literatur – schließlich auf, dass Wilcke sich auf einem Rachefeldzug gegen eine Hamburger »Männer-Clique« befindet und sich dabei an der Geschichte der »47 Samurai« orientiert. Sie ist fasziniert von Wilckes Japan-Leidenschaft:
3 Poster zu dem Film Der Sommer des Samurai (1986), in dem ein »Japan-Phantom« Hamburg unsicher macht.
»Als ich zum ersten Mal ihre Zeichen gesehen habe, das war vor einigen Wochen, da kam ich gerade aus dem Sanatorium, ich war ziemlich krank. Da träumte ich von einem anderen Leben. Ich ahnte es, in diesen fremden Zeichen.«
Japan, seine Schrift und seine vermeintlich auf Kriegerethos basierende Kultur werden so für die Journalistin zu einer Art Anker, der ihr hilft, nach der Zeit des Alkoholentzugs wieder einen Halt zu finden. Japan wird, reduziert auf eine verklärte Vergangenheit, in der Sommer des Samurai zu einer Art Märchenland, das Heilung ebenso verspricht wie Gerechtigkeit und Kampf für das Gute. Hellmuth Karasek bezeichnet den Film daher im Spiegel (25/1986: 197) auch scherzhaft als »[…] Kindertraum, nur daß die Indianer, die das Gute tun und Böses sühnen, Japaner sind.« Der Blick auf die Wirtschafts- und Finanzwelt der Hansestadt, der hier sozusagen durch die Augen des Samurai und damit aus der Perspektive eines zeitV e r l i e b t , ve r b ü n d e t , ve r f i l m t | 217
lich und örtlich weit Entfernten erfolgt, soll den Zuschauern außerdem neue Einsichten in ihre eigene Lebenswelt bieten. »Der Exotismus des ganz Fernen dient nur dazu, das ganz Vertraute exotisch zu machen.« (Witte in Die Zeit 26/1986). Die Ausstattung des Films stammte zum Teil aus dem Hamburger Museum für Völkerkunde, dessen Japan-Sammlung unter anderem aus den Objekten besteht, mit denen Heinrich Umlauff Anfang des 20. Jahrhunderts gehandelt hatte. Manche Japonica aus der Sommer des Samurai waren also vielleicht auch schon in Fritz Langs Harakiri im Einsatz. In dem wie Der Sommer des Samurai nur von deutscher Seite produzierten Film Japaner sind die besseren Liebhaber (Philipp Weinges, 1995) taucht erstmals unter deutscher künstlerischer Leitung ein Liebespaar auf, bei dem der männliche Part japanisch und der deutsche Part weiblich ist. Schon der Titel des Films zeigt deutlich, dass hier mit der Marginalisierung des asiatischen Mannes, der als sexuell unterlegen gilt, aufgeräumt wird: Die alten Vorurteile werden im Film zwar von einigen Figuren noch angesprochen, dann aber durch den Protagonisten Takahashi Michio dekonstruiert, der bei der verheirateten und frustrierten Anna Merz sowohl durch seine sensible, künstlerische Art als auch durch seine Qualitäten als Liebhaber punkten kann. Darüber hinaus sind die deutschen Figuren den japanischen auch noch wirtschaftlich deutlich unterlegen: »In diesem Film kommt den Japanern bei ihrem Besuch in Deutschland gleich auf zwei Ebenen eine Retterrolle zu, der persönlichen und der geschäftlichen.« (Gössmann 2011: 343). Der Film greift auf komödiantische Weise Japan-Klischees auf und geht spielerisch mit diesen um, ohne den Anspruch zu haben, ein neues, authentischeres Bild von Japan oder »den Japanern« zu entwerfen. Der »deutsche Japaner«, der in den 1980er Jahren noch ernste, hehre Ziele verfolgte, wird in Japaner sind die besseren Liebhaber zu einer lächerlichen Figur. Der deutsche Firmenangestellte Blaschke macht mit einem Kimono über dem Business-Anzug Teezeremonie auf einem Hausdach und setzt sich in eine Badewanne voll Eiswürfel, weil er dies in einem Video über japanisches Management-Training gesehen hat. Seine Japan-Ratschläge – ob bezüglich des Verhaltens gegenüber den japanischen Gästen oder zum Kugelfisch-Essen im japanischen Restaurant – bewirken meist das Gegenteil von dem, was beabsichtigt wurde. Diese humoristische Demaskierung von vermeintlichen »Japan-Experten« wird kurz darauf auch in Erleuchtung garantiert (Doris Dörrie, 1999) und Sumo Bruno (Lenard Fritz Krawinkel, 2000) wieder aufgegriffen.
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N eue St rö munge n: Ge me i nsa mes statt Differenzen Seit Ende der 1990er Jahre ist ein deutlicher Anstieg des Interesses westlicher Filmemacher an Japan zu erkennen, der sich auch in Deutschland bemerkbar macht. Dabei lässt sich bei einigen Werken eine Öffnung erkennen, die frühere Grenzziehungen hinter sich lässt. Grenzüberschreitungen liegen teilweise auch beim Entstehungskontext der Filme vor, der zunehmend transnational wird. So hat die Japanerin Marie Miyayama, die an der Filmhochschule München studiert hat, mit Der Rote Punkt (2008) einen Film mit japanischer Protagonistin in Deutschland gedreht. Die Deutsche Uta Arning wiederum arbeitete für Snowchild (2011) in Japan mit einer vorwiegend japanischen Besetzung, und Stratosphere Girl (2004) ist eine Koproduktion der Niederlande, Deutschland, Italien, Schweiz und Großbritannien – mit einem deutschen Regisseur. Alle in diesem Sinne »deutschen« Japan-Filme, die in jüngster Zeit erschienen sind, hier umfassend zu besprechen, ist leider nicht möglich. Beschränken möchte ich mich daher auf die Japan-Filme Erleuchtung garantiert (2000) und Kirschblüten – Hanami (2008) von Doris Dörrie,22 die sicher die bekanntesten sind und beide das Thema »Deutsche in Japan« aufgreifen, sowie den Film In den Tag hinein (2001) von Maria Speth, der in seiner Darstellung eines Japaners in Deutschland einen ungewohnten Weg beschreitet. Die Besonderheit von In den Tag hinein zeigt sich schon darin, dass nicht ein einziges Mal direkt thematisiert wird, dass die männliche Hauptfigur Kōji ein Japaner ist. Betont werden in dem Film nicht die Differenzen, sondern das Gemeinsame: Kōji ist wie die weibliche Hauptfigur Lynn etwa Anfang 20 und lebt in Berlin einen eher trostlosen Alltag, in dem er sich treiben lässt. Er wohnt in einem winzigen Apartment, geht tagsüber in eine Sprachschule und arbeitet nachts auf dem Großmarkt. Lynn hat ein Zimmer bei der Familie ihres Bruders, wo sie eher unerwünscht ist, arbeitet in einer Kantine und als Go-Go-Tänzerin und hat einen Freund, der sich mehr für seine eigene Karriere als Schwimmer interessiert als für ihre Bedürfnisse. Die beiden lernen sich kennen, streifen ziellos zusammen durch das nächtliche Berlin – und Kōji verliebt sich in Lynn, die jedoch auch durch diese neue Freundschaft keinen Halt findet (vgl. Abb. 4). An den Punkten, an denen sich zeigt, dass die beiden »Gefährten in der Einsamkeit« doch nicht wirklich zueinander finden können, kommt auch die linguistische Fremdheit zum Tragen. Kōji erzählt auf Japanisch, was ihn bewegt, worauf Lynn nur sagen kann: »Hört sich gut an, Deine Sprache.« Auch Kōjis Heimatland bleibt für Lynn abstrakt und irrelevant, es wird nur einmal kurz thematisiert, als er ihr eine Karte von Tokyo zeigt und sagt, er möchte sie dorthin einladen. In der ästhetisch aufgenommenen Tristesse von In den Tag hinein gibt es aber keinen V e r l i e b t , ve r b ü n d e t , ve r f i l m t | 219
4 Die Hauptfiguren Lynn und Kōji in Maria Speths In den Tag hinein (2001). November Film, Berlin.
Raum für ein »Traumland« Japan, das eine Flucht aus der deutschen Alltagsrealität und damit eine Katharsis ermöglichen würde. Lynn und Kōji sind einfach nur zwei Menschen, die gerade die Tatsache verbindet, dass sie ziellos und ohne echte Bindungen dahinleben – und auch nicht in der Lage sind, neue Bindungen aufzubauen. Die kulturelle und vor allem linguistische Differenz wird hier genutzt, um diese Unfähigkeit, die trotz aller Gemeinsamkeiten nicht überwindbare Kluft zwischen zwei Menschen, zum Ausdruck zu bringen. Diese Kluft beschränkt sich aber nicht auf diese beiden Figuren, sondern zieht sich durch die gesamte Handlung: »Keiner versteht keinen in diesem Film.« (Bylow 2001). Doris Dörries Japan-Filme Erleuchtung garantiert (1999) und Kirschblüten – Hanami (2008) hingegen haben gemein, dass in ihnen Japan neue Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet und als eine Art »emotionaler Katalysator« fungiert. Die Protagonisten reisen in einem suchenden, teilweise sogar verzweifelten Zustand nach Japan, werden dort mit viel Ungewohntem, Verwirrendem, aber auch Faszinierendem konfrontiert und finden auf diesem Wege einen besseren Zugang zu den eigenen Gefühlen und einen ehrlicheren Blick auf sich selbst. So erleben die beiden Brüder Gustav und Uwe in Erleuchtung garantiert eine Art innere Befreiung durch den Aufenthalt in einem japanischen Zen-Kloster, vor allem aber auch dadurch, dass sie in einer ihnen völlig fremden Welt feststellen, dass man niemals richtig verloren ist – auch wenn man überhaupt nicht mehr weiß, wo man gerade ist. 220 | Elisa be t h Sc h e r e r
Die Japan-Erfahrung hilft Uwe bei der Verarbeitung der Trennung von seiner Frau, während Gustav sich endlich eingestehen kann, dass er homosexuell ist. Gustav sucht sich für sein »Outing« eine vollbesetzte U-Bahn aus, doch außer seinem Bruder Uwe versteht niemand in dem Abteil sein nun recht locker hervorgebrachtes Geständnis. So haben die Brüder ausgerechnet in Japan, inmitten vieler fremder Menschen, eine Intimität gefunden, die ihnen in Deutschland nicht möglich war. Eine ähnliche Funktion nimmt Japan in Kirschblüten – Hanami ein, in dem die Reise nach Japan zu einem wesentlichen Bestandteil der Trauerarbeit des Witwers Rudi wird. Durch den Aufenthalt in Tokyo bricht er aus einer festgefahrenen Routine aus, lernt seine verstorbene Frau Trudi nachträglich besser verstehen und entwickelt eine enge Freundschaft zu der Butoh-Tänzerin Yu. Dass Rudi sich in Japan völlig öffnet und aus sich herausgeht, wird vor allem dadurch deutlich, dass er selbst beginnt, die Butoh-Bewegungen zu vollführen, die ihm früher so fremdartig und peinlich erschienen sind. Kuzniar stellt in ihrer Analyse des Films heraus, dass die Freundschaft zwischen Rudi und Yu auf den Ebenen von Alter, Geschlecht und Kultur Differenzen transzendiere, der Charakter von Yu aber eher statisch bleibe: »Yu is instrumentalized and stereotyped as the child-like Asian girl – noble, selfsacrificing, innocent, and poor […]« (Kuzniar 2011: 186). Kirschblüten – Hanami und Erleuchtung garantiert lassen bei all der Ernsthaftigkeit der Motive ihrer Protagonisten auch viel Raum für Komisches, sei es die naive Repräsentation Japans im deutschen Wohnzimmer durch einen Mini-ZenGarten oder das Festknoten eines Schnupftuches zur Orientierung an einer riesigen Straße in Tokyo. Dörrie erzählt ihre Filme zwar gänzlich aus der Perspektive ihrer deutschen Hauptfiguren und führt japanische Figuren (wie die Tänzerin Yu) eher am Rande ein; zu dem Blick auf Japan, den ihre Protagonisten einnehmen, wahrt die Regisseurin aber vor allem in ihrem ersten Japan-Film eine ironische Distanz: »[…] Erleuchtung garantiert ironizes from the outset Gustav’s consumption of a putatively ancient, ostensibly untouched and authentic Japanese culture.« (Benbow 2007: 530). Die Entstehungsgeschichte der beiden Filme weist eine gewisse Gemeinsamkeit mit Heinz Karl Heilands Filmen aus den 1920er Jahren auf: Döris Dörrie reiste wie Heiland mit einer sehr kleinen Crew nach Japan und konnte – auch dank moderner digitaler Videotechnik – dort besonders spontan arbeiten (vgl. Interview in diesem Band). Diese Arbeitsweise, bei der meist nicht nach Drehgenehmigungen gefragt wurde, sondern spontan Situationen genutzt wurden, die sich vor Ort boten, verleihen dem Blick auf Japan in Dörries Filmen einen unmittelbaren, lebensnahen Eindruck.
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F az it »��������������������������������������������������������������������������� Ein Exot ist der geborene Reisende, der in den Welten der wundervollen Verschiedenheiten den ganzen Reiz des Diversen fühlt.« (Segalen 1983: 49). Segalen spricht in seiner unvollendeten Ästhetik des Diversen23 an, was den Kern des Exotismus ausmacht: Der Reiz, sich einem »Anderen« gegenüber zu sehen, das man nie ganz verstehen oder gar assimilieren kann. Die Sehnsucht nach dem Anderen, die auch beinhaltet, dass man sich selbst in Auseinandersetzung mit diesem Diversen als ���������������������������������������������������������������������� »��������������������������������������������������������������������� anders��������������������������������������������������������������� «�������������������������������������������������������������� erleben kann, werde sich nach Segalen auch in Zeiten des ���� »��� Zusammenschrumpfens des Raums« (1983: 95) immer wieder neue Ausprägungen suchen. Im frühen deutschen Spielfilm zeigt sich sehr deutlich, dass diese Werke dazu dienten, das Diverse der Welt, das durch vermehrtes Reisen und Foren wie die Weltausstellungen nun näher gerückt war, für ein großes Publikum erfahrbar zu machen. Es bereitete Vergnügen, dieses »Andere« in die eigene Lebenswelt zu integrieren und dadurch deren Grenzen zu erweitern. Gleichzeitig konnte das deutsche Publikum sich selbst als »anders« erfahren, was vor allem bei Filmen relevant war, in denen andere Völker als rückständig und verroht dargestellt wurden. Die Japan-Filme stellen in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar, da in ihnen Japaner als »fremde« Figuren nicht selten mit positiven Eigenschaften ausgestattet wurden, wie Loyalität, Opferbereitschaft und Treue. Japan hat im deutschen Film immer mehr Vorbildcharakter und taugt damit weniger zur Folie für die Aufwertung des eigenen Nationalcharakters. Selbst in der Nazizeit, als sehr viele Diskurse über die Gemeinsamkeiten zwischen Japan und Deutschland geführt wurden, wurde im Film die exotistische Ästhetisierung des Diversen fortgeführt. Dies diente einerseits dem Vergnügen der Zuschauer – der exotistischen Schaulust –, aber auch dazu, Japan als eine Art »������������������������������������������������������������ ������������������������������������������������������������� Vorzeigevolk������������������������������������������������ «����������������������������������������������� zu stilisieren, von dem man in Sachen Aufopferungswille noch etwas lernen kann. Schon im frühen deutschen Film taucht aber auch das Motiv auf, dass durch die kreative Aneignung des Diversen neue Kräfte freigesetzt werden können, wie zum Beispiel bei der Figur Eva Lang in Die weiße Geisha, die sich durch ihre Maskerade als Geisha selbst zum »Anderen« macht und sich durch diese Transformation ganz neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Besonders deutlich wird dies auch in den Filmen Doris Dörries, in denen die Figuren nicht neben dem Diversen stehenbleiben und es nur ehrfurchtsvoll bestaunen. Das »Andere« muss bei Dörrie nicht auf Abstand gehalten werden, um seine Diversität zu bewahren, sondern im Gegenteil: Die Hauptfiguren eignen es sich an und erleben so eine Öffnung und Erweiterung ihrer Identität. Diese Haltung wird auch in Dörries eigener Arbeitsweise deutlich. Mit Kirschblüten – Hanami hat sie sich an das Projekt gewagt, den von ihr selbst hoch geschätzten und allgemein als Meisterwerk geltenden Film Tokyo Monoga222 | Elisa be t h Sc h e r e r
tari von Ozu Yasujirō neu zu interpretieren. Hierin zeigt sich ein unbefangener Umgang mit dem auf den ersten Blick zeitlich und räumlich »Entfernten«, durch den es gelingt zu verdeutlichen, dass die Grundthemen des Filmes – Generationenkonflikt und Trauer – kultur- und zeitübergreifende Phänomene sind. In vielen der vorgestellten Filme wird die Begegnung des Diversen verdichtet auf zwei Pole dargestellt, in Gestalt eines deutsch-japanischen Liebespaars. In der Konstellation und dem Umgang der Liebenden miteinander zeigen sich im Laufe der Jahrzehnte deutliche Veränderungen: Während zur Stummfilmzeit das einzig legitime Liebesverhältnis aus einem westlichen Mann und einer japanischen Frau bestand und selbst hier ein glücklicher Ausgang nicht üblich – weil unerhört – war, mehren sich ab den 1980er Jahren japanische Männer, die mit deutschen Frauen eine Beziehung eingehen. Dabei geht es in Filmen wie Japaner sind die besseren Liebhaber oder In den Tag hinein nicht mehr darum, exotischen Genuss durch Differenz zu spüren. Die Protagonisten entdecken in ihrem Gegenüber vielmehr Gemeinsamkeiten, die sie ihr oder ihm – der/dem »kulturell Entfernten« – näher sein lässt als den meisten Menschen der eigenen Gesellschaft. Statt das Gewohnte mit dem »Exotischen« zu paaren, zeigen neuere deutsche Japan-Filme also eher Außenseiter, die sich unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund solidarisieren – gewissermaßen »Exoten unter sich«.
Fi l mo gra phi e der erwähnten Film e 1913 Harakiri – Die Tragödie einer Geisha Regie: Harry Piel, Produktion: Eiko Film 1913 List gegen List Regie: Adolf Gärtner, Produktion: Messter Film 1919 Harakiri Regie: Fritz Lang, Produktion: Decla Film, Holz & Co. 1919 Die Geisha und der Samurai Regie: Carl Boese, Produktion: Firmament Film 1919 Die Augen von Jade Regie: Iwa Raffay, Produktion: Hella Moja Film 1923 Die blonde Geisha. Eine Filmoperette Regie: Ludwig Czerny, Produktion: Notofilm 1926 Die weisse Geisha Regie: Karl Heiland, Valdemar Andersen, Produktion: Deutsch-Nordische Film-Union 1926 Bushido – Das eiserne Gesetz Regie: Karl Heiland, Zanmu Kako, Produktion: Deutsch-Nordische Film-Union V e r l i e b t , ve r b ü n d e t , ve r f i l m t | 223
1937 Die Tochter des Samurai Regie: Arnold Fanck, Mansaku Itami, Produktion: Dr. Arnold Fanck Film, J.O. Studio, Tōwa Shōji Film 1938 Das heilige Ziel Regie: Nomura Kōshō, Produktion: Shochiku Ofuna, Cocco Film Nippon, DeutschJapanische Gesellschaft Berlin 1954/55 Verrat an Deutschland (Der Fall Dr. Sorge) Regie: Veit Harlan, Produktion: KG Divina Film 1968 Polizeifunk ruft (Serie, ARD) Episoden: Empfang in Japan, Flucht nach Kyoto; Produktion: Norddeutsches Werbefernsehen, Tokyo Broadcasting System 1982 Die Frau mit dem Roten Hut (jap. Akai bōshi no onna) Regie: Kumashiro Tatsumi, Produktion: Wakamatsu Kōji Productions, Herald Ace Corporation, Monopteros Film- und Fernsehproduktion 1983 Races (jap. Uindī) Regie: Harada Masato, Produktion: Town Production, CCJ Production, Manfred Durniok Produktion 1985 Tokyo-Ga Regie: Wim Wenders, Produktion: Wim Wenders Produktion, Chris Sievernich Filmproduktion, Gray City Inc. 1986 Der Sommer des Samurai Regie: Hans-Christoph Blumenberg, Produktion: Cinenova, ZDF, Radiant Film 1988/89 Die Tänzerin (jap. Maihime) Regie: Shinoda Masahiro, Produktion: Herald Ace Inc., Manfred Durniok Produktion 1995 Japaner sind die besseren Liebhaber Regie: Philipp Weinges, Produktion: Hager Moss Film, Pro Sieben 1999 Erleuchtung garantiert Regie: Doris Dörrie, Produktion: Megaherz 1999 Lindenstraße, Folge »Fremde Sprachen« (717) Produktion: Geißendörfer Film, WDR 2000 Sumo Bruno Regie: Lenard Fritz Krawinkel, Produktion: Babelsberg Film 2001 In den Tag hinein Regie: Maria Speth, Produktion: November Film 2002–2003 Zwei Profis (Serie, 10 Folgen) Regie: Christoph Klünker, Heidi Kranz, Produktion: Network Movie, ZDF 2004 Stratosphere Girl Regie: Matthias X. Oberg, Produktion: Pandora Film
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2005 Der Fischer und seine Frau Regie: Doris Dörrie, Produktion: Constantin Film 2008 Kirschblüten – Hanami Regie: Doris Dörrie, Produktion: Olga Film 2008 Der Rote Punkt Regie: Marie Miyayama, Produktion: Münchner Filmwerkstatt, Chase Film 2011 Snowchild Regie: Uta Arning, Produktion: Snowchild Filmproduction
Anm erkungen 1 So lief mit Zwei Profis von 2002–2003 im ZDF eine Krimiserie, in der ein deutscher und ein japanischer Kommissar zusammenarbeiten, und in den populären Serien Lindenstraße und Tatort waren – wenn auch nur am Rande – ebenfalls schon japanische Figuren vertreten. 2 Janine Hansen (1997) hat zu Die Tochter des Samurai (1937) ein ganzes Buch vorgelegt, Hilaria Gössmann (2011) untersucht die Filme Maihime (1988/89) und Japaner sind die besseren Liebhaber (1995), Robert Reimer (2004) und Heather Benbow (2007) Doris Dörries Erleuchtung garantiert (1999), Kuzniar (2011) und Kristi McKim (2011) widmen sich Kirschblüten – Hanami (2008). Für einen allgemeinen Überblick über westliche Japan-Filme nach 1945 vgl. King 2012. 3 Eine Kopie findet sich in der Library of Congress und kann auf deren Webseite eingesehen werden (vgl. Library of Congress 1999). 4 Neubronners Aufnahmen wurden dem Deutschen Filmmuseum in Frankfurt 1991 von dessen Sohn Carl überlassen. Die Filme wurden zunächst in einer VHS-Version verfügbar gemacht und sind heute digitalisiert über das Internet abrufbar. Zum Restaurationsprozess vgl. Schobert 1996: 47ff. 5 Zu den Tonbildern Oskar Messters vgl. Koerber 1994: 48ff., Simeon 1994: 136ff. und Pulch 1994: 54. 6 Dabei sind eindeutige Unterschiede in den Berichten männlicher und weiblicher Reisender festzustellen. Christel Kojima-Ruh legt in einem Aufsatz dar, wie Autorinnen zwar das Muster der Geisha als »dienender, schweigender, fremdbestimmter Person« (KojimaRuh 2006: 14) übernahmen, dies aber stark kritisierten. Gleichzeitig wurde die Stellung der japanischen Frau als eine Art Negativ-Beispiel herangezogen, das die eigene Emanzipationsproblematik weniger schwerwiegend erscheinen ließ. 7 Matias Bleckmann erwähnt Harakiri in seiner Harry-Piel-Monographie nur am Rande (Bleckmann 1992: 41) und führt den Film in der Filmographie erst gar nicht auf. 8 Zu Hanako vgl. Yoko Kawaguchis Buch Butterfly’s Sisters (2010). V e r l i e b t , ve r b ü n d e t , ve r f i l m t | 225
9 Olaf Brill stellt zu Fritz Langs Harakiri auf seiner Webseite filmhistoriker.de eine sehr wertvolle Sammlung von Quellenmaterialen zur Verfügung, was die Arbeit an diesem Artikel sehr erleichtert hat. 10 Diese zeitgenössischen Rezensionen widerlegen die Annahme Hyunseon Lees, die davon ausgeht, dass es nicht Langs Absicht war, mit diesem Film ein als authentisch empfundenes Japan zu konstruieren: »Mit seiner Ästhetik des ›Ornamentalen‹ wie auch ›Dekorativen‹ macht Lang klar, dass dieser Film keineswegs Japan repräsentieren will […] Man sieht sofort, dass der Film in Deutschland und nicht in Japan gedreht worden ist.« (Lee 2010: 90). 11 Zu den »Völkerschauen« in Deutschland und Hagenbecks Anteil an diesem Geschäft vgl. Anne Dreesbachs Monographie »Gezähmte Wilde« (2005). 12 Heinrich Umlauff war ein Neffe Carl Hagenbecks und es bestanden vielfältige geschäftliche Beziehungen zu dessen Familie (vgl. Thode-Arora 1997: 24). 13 Gina Marchetti hat dem Thema der filmischen Darstellung westlich-asiatischer Liebesbeziehungen in Hollywood-Filmen ein ganzes Buch gewidmet, dessen Erkenntnisse sich teilweise auch auf den deutschen Film anwenden lassen (Romance and the Yellow Peril, 1993). 14 Informationen zur Zensur der Filme (Nummern der Zensurkarten) finden sich in der German Early Cinema Database, die von der Universität Köln betrieben wird (http:// www.earlycinema.uni-koeln.de/). 15 Vgl. Morgenausgabe Yomiuri Shinbun 31.1.1925, S. 9. In dieser kurzen Zeitungsnotiz ist auch vermerkt, dass die Dreharbeiten abgeschlossen seien. 16 Vgl. Abendausgabe Yomiuri Shinbun 24.5.1926, S. 9. Hier wird auch darauf hingewiesen, dass die Premiere des Films für den 28.5. geplant gewesen sei, umständehalber aber auf den 3.6. verlegt werden müsse. Die Postproduktion hat sich bei diesem Film also weit über ein Jahr hingezogen. 17 Janine Hansen hat diesem Film ein ganzes Buch gewidmet, in dem sie sehr detailliert Produktionshintergründe und Rezeption erläutert (Arnold Fancks Die Tochter des Samurai. Nationalsozialistische Propaganda und japanische Filmpolitik, 1997). 18 Rezension in der Zeitschrift Filmwelt vom 4.4.1937 (S. 15), zit. nach Hansen 1997: 82. 19 Die olympischen Winterspiele 1940 sollten ursprünglich in Sapporo stattfinden, Japan musste aber wegen des Ausbruchs des 2. Japanisch-Chinesischen Krieges zurücktreten. Nach Ausbruch des 2. Weltkrieges wurden die Spiele schließlich ganz abgesagt. Diese Tatsachen werden im Vorspann des Films kurz thematisiert. 20 Laut einem Zeit-Artikel von Erika Müller wurde der Film von der freiwilligen Selbstkontrolle abgesetzt, weil er pro-sowjetische Inhalte erkennen ließ. Auch sonst lässt Müller kein gutes Haar an dem Film, den sie unter anderem als »Spionagestory aus dem Dreigroschenheft« und »Geschwafel der Bilder« bezeichnet (Müller in Die Zeit, 20.1.1955).
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21 »Das anstrengende Vorbild« ist der Titel eines Japan-Buches von Wolfgang Seel (Zürich: Interfrom, 1983). 22 Doris Dörrie hat neben diesen beiden Filmen noch Der Fischer und seine Frau (2005) teilweise in Japan gedreht und das Land dabei narrativ als eine Art »Märchenland« eingesetzt. In dem Dokumentarfilm How to Cook your Life (2007) setzt sie sich außerdem mit Zen-Buddhismus im Westen auseinander. 23 Segalens Fragment enthält spannende Ansätze, die für eine Erklärung exotistischer Phänomene herangezogen werden können. Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass die Ästhetik des Diversen eine sehr subjektive Sicht Segalens darstellt und auch problematische Thesen enthält, wie die, dass die Geschlechterdifferenz ebenfalls eine Quelle des Ästhetischen sei und der Feminismus daher »eine abscheuliche soziale Umkehrung« darstelle (Segalen 1983: 106).
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HYBRIDES SPIELFELD MANGA A da pt i o n und Tra nsf o rma t i o n japanis cher Com ics in Deuts chland Paul M . M alone
Einleitung »Becoming a mangaka, a manga artist, has become a job today’s German children dream of.« ( Jüngst 2004: 99)
Manga1 sind heute im deutschsprachigen Europa genau so fest verwurzelt wie in allen anderen Gegenden der westlichen Welt. Obwohl die Umsätze von importierten und übersetzten japanischen Comics in den letzten fünf Jahren deutlich gefallen sind, bleiben Manga ein sehr wichtiger Bestandteil des deutschen ComicMarkts. Sie machen immer noch mehr als fünfzig Prozent der Verkaufszahlen aus (Pasomonik 2010) und spielen damit eine entscheidende Rolle, trotz pessimistischer Prognosen, die bereits vor einem Jahrzehnt ein Ende des Manga-Booms in naher Zukunft voraussahen (siehe z. B. Neugebauer 2004). Unter solchen Umständen mag es vielleicht überraschen, dass Manga relativ spät nach Deutschland gekommen sind. In Nordamerika und anderen westeuropäischen Ländern existierten wesentlich früher hoch entwickelte Manga-Szenen – mit spezialisierten Verlegern und begeisterten Fans, die auf Conventions und anderen öffentlichen Veranstaltungen zusammenkamen, um Angebot und Nachfrage weiter anzukurbeln. Deutsche Verlage und Leser haben jedoch das Versäumte erstaunlich schnell nachholen können. Dass Manga trotz eines verspäteten Anfangs so schnell den deutschen Markt dominierten und sich einen festen Platz innerhalb der Mainstream-Verlage sicherten, kann man als eine Folge der historischen Entwicklung der kleinen deutschen Comic-Kultur und der damit zusammenhängenden Industrie verstehen. Schon immer war der deutsche Comic-Markt stark abhängig von dem Import ausländischer Werke, und die einheimische Produktion lebte vor allem davon, sich mit diesen Vorbildern auseinanderzusetzen. Deutsche Zeichner lehnten H y b r i d e s S p i e l f e l d M a n g a | 233
sich an Superman, Astérix und Micky Maus an, wobei die Herangehensweise von Parodie bis zu sklavischer Imitation reichte. Während es zu früheren Zeiten aber nur einzelne derivative Werke waren, die auf diese Weise in Deutschland entstanden, erschloss sich mit der wachsenden Popularität der Manga nicht nur ein ganz neuer (vor allem weiblicher) Leserkreis, sondern es entstand schnell eine ganze Fülle von Comics, die sich an Inhalt und Bildsprache der japanischen Manga anlehnten. Die Fans zeigten sich so begeistert, dass sie von der Rezipienten- auf die Produzentenseite wechselten, und auch die Verlage wurden auf das Phänomen aufmerksam und nahmen die deutschen Manga in ihre Programme auf. Die Künstlerinnen und Künstler, die hinter diesen Werken stehen, weisen dabei die verschiedensten kulturellen Hintergründe auf, die sie auch in ihre Manga einbringen. Sie übernehmen die Manga-Ästhetik für ihre eigenen Geschichten und kreieren so transkulturelle Formen, die eine wachsende Diversität und Hybridität der deutschen Kultur widerspiegeln. In meinem Aufsatz stelle ich zunächst die Entwicklung des Comics in Deutschland dar, um aufzuzeigen, wie sich in diesem kleinen Nischenbereich schon früh ein Klima entwickeln konnte, in dem man über kulturelle Grenzen hinausschaute. Im Anschluss beschreibe ich, wie sich der Manga in Deutschland etablierte, bevor ich genauer auf die deutschen Manga-Zeichnerinnen und -Zeichner und ihre transkulturell geprägten Werke eingehe.
E n tw ick l ung de s C o mi c s i n De ut sc hland Wilhelm Busch und seine berühmten Bildgeschichten wie etwa Max und Moritz (1865) werden häufig als Vorläufer des Comics im deutschsprachigen Raum erwähnt.2 Da Busch aber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Klassiker kanonisiert worden war und er seine Geschichten nicht für Kinder, sondern vornehmlich für ein erwachsenes Zielpublikum produzierte, wurde lange keine Verbindung zwischen den Werken Buschs und den Bildgeschichten gesehen, die sich in der spätwilheminischen und in der Weimarer Zeit in Jugendzeitschriften und Werbemagazinen fanden und hauptsächlich an Kinder adressiert waren. Unterdessen stand Busch Pate für die amerikanischen Comic-Strips. Der erste Strip, der seriell mit den gleichen Hauptfiguren fortgesetzt wurde, war The Katzenjammer Kids (ab 1897; erscheint noch heute). Der deutsche Einwanderer Rudolph Dirks schuf diesen Comic auf Geheiß des New-York-Journal-Verlegers William Randolf Hearst in direkter Anlehnung an Buschs Max und Moritz. Dirks ging aber innovativ mit dem Stoff um: Er erweiterte und bereicherte Buschs Formensprache für die Darstellung schneller Bewegungen, emotionaler Reaktionen und körperlicher Schmerzen und 234 | Pa ul M . M a lo n e
führte den regelmäßigen Gebrauch von Sprech- und Denkblasen ein, der zu einem wesentlichen Merkmal des modernen Comics wurde. In den 1920er Jahren verbreiteten sich Comics nach amerikanischer Art, d. h. mit Dialogen in Sprechblasen, langsam auch in Deutschland, wurden zunächst jedoch wegen ihrer angeblichen kulturellen Fremdheit noch häufig abgelehnt und die Mehrheit der Bildgeschichten für Kinder war noch immer von Buschs Technik beeinflusst. Durch die kulturelle Isolierung während des Hitler-Regimes, durch den Zweiten Weltkrieg und dessen Nachwirkungen konnte sich die Comic-Kultur in dieser Zeit kaum weiterentwickeln. Deswegen fehlten, im Vergleich zu anderen westlichen Ländern wie den USA oder Frankreich, nicht nur die Techniken des modernen Comics, sondern auch die formale und gattungsmäßige Bandbreite. Einzelne Erfolgsserien wie etwa Vater und Sohn (1934–1937) von e.o.plauen (Pseudonym des Autors Erich Ohser) oder der überraschend moderne Tobias Seicherl (sogar mit Sprechblasen ausgerüstet, 1930–1940) von Ludwig Kmoch konnten diese Situation kaum ändern. Die Adenauer-Ära wurde dann in gewissem Sinne zu einem kurzen »Golden Age« des jungen westdeutschen Comics: Einerseits kamen viele ältere, klassische US-Abenteuer-Strips in die Bundesrepublik, wie etwa Tarzan, Prince Valiant (auf Deutsch »Prinz Eisenherz«) und Flash Gordon. Andererseits entstanden fast gleichzeitig mehrere deutsche Kleinverleger wie Lehning, Semrau oder Gerstmayer, die versuchten, den amerikanischen Beispielen mit übersetzten italienischen Comics und holprigen deutschen Nachahmungen zu folgen: Akim, Sigurd, Nick, Silberpfeil, Robinson usw. Nach kaum einem Jahrzehnt Blütezeit wurde die kleine westdeutsche Comic-Industrie aber von Filialen großer ausländischer Konzerne mit schöneren, farbreicheren Produkten überflügelt. Die 1960er und frühen 1970er Jahre gehörten eher diesen ausländischen Konzernen: der dänische Egmont Ehapa Verlag (schon 1951 in der BRD etabliert) veröffentlichte ab 1953 die Comics um Micky Maus und die Entenhausener. Der Carlsen-Verlag, der ebenfalls dänischen Ursprungs ist und ab 1953 als Kinderbuchverlag in Westdeutschland auftrat, beschäftigte sich erst ab dem Jahr 1967 mit Comics, als er Hergés Tintin (»Tim und Struppi«) erwarb und erfolgreich veröffentlichte (Knigge 2004: 53). Amerikanische Marvel-Superhelden publizierte der 1956 gegründete Bildschriftenverlag (BSV), der später in Williams-Verlag umbenannt wurde. Größer und bedeutender als BSV/Williams war der deutsch-schweizerische Verlag Rolf Kaukas, Gevacur AG; dieser war aber ebenso wie die anderen Firmen von ausländischen Importen abhängig. Nicht nur wurde sein offizielles Flaggschiff, die angeblich rein deutsche Fix und Foxi-Reihe (1953–1994 in erster InkarnaH y b r i d e s S p i e l f e l d M a n g a | 235
tion), meistens von osteuropäischen und italienischen Künstlern gezeichnet, sondern Kauka kaufte auch viele Lizenzen für franco-belgische bandes dessinées. Er scheiterte auch mit einem ersten Versuch, René Goscinnys und Albert Uderzos Astérix einzudeutschen, weil die Autoren darüber empört waren, dass die Übersetzung Siggi und Babarras nationalistische Untertöne und antisemitische Anspielungen enthielt. Egmont beschaffte sich kurz danach die Rechte an Astérix, der in einer neuen und originalgetreueren Übersetzung von Gudrun Penndorf zum Dauerbrenner wurde und gegen Carlsens Tim und Struppi konkurrierte (DolleWeinkauff 1990: 220–221). Die großen Verlage in Deutschland waren im Bereich der Comics offensichtlich alle sehr stark auf Importe angewiesen. Das Einströmen franco-belgischer und amerikanischer Comics auf dem westdeutschen Markt der 1960er Jahre (Becker 1986: 48; Dolle-Weinkauff 2006: 2) und deren Dominanz über einheimische Produkte vermittelte der Öffentlichkeit den Eindruck, sogar beliebte Comics seien Eindringlinge in die deutschsprachige Kultur ( Jovanovic und Koch 1999: 107; Vasold 2004: 86, 90; Blaschitz 2008: 179–80). In der von solchen (westlichen) ausländischen Einflüssen gezielt abgekapselten DDR hingegen war sogar das Wort Comic, als Symptom kapitalistischer kultureller Armut, tabuisiert. Dennoch gab es in mehreren ostdeutschen Jugendzeitschriften populäre Bildgeschichten wie etwa Die Digedags (1955–1975) von Hannes Hegen (d.i. Johannes Hegenbarth) in Mosaik oder Jürgen Kiesers Fix und Fax (1958– 1990) in Atze (vgl. auch Lettkemann und Scholz 1994). In der BRD waren Donald Duck und Astérix beliebt unter den 68ern und ihren Sympathisanten, da sie diese Figuren als Mitkämpfer gegen unterdrückende bürgerliche Autoritäten interpretierten. Aus den selben Gründen wurden USUnderground-Comics wie Robert Crumbs Fritz the Cat in diesen Kreisen populär (Fix 1996: 168, 183; Dolle-Weinkauff 1990: 286; Gasser 1999: 24, 27). Die Situation der deutschsprachigen Comiczeichner wurde allerdings kaum besser, und die Lage für Comic-Texter, mit Ausnahme der Übersetzer3, gestaltete sich ebenfalls schwierig. Deswegen konnte Knigge nach sieben Jahren als Herausgeber des deutschen Fachmagazins Comixene noch im Jahre 1981 nicht nur rhetorisch fragen: »Deutsche Comiczeichner – gibt es die?« (Knigge 1981: 3). Allerdings etablierten sich während des nächsten Jahrzehnts mehrere humoristische Zeichner, insbesondere Brösel (alias Rötger Feldmann; Werner, ab 1981), Ralf König (Schwulcomix, 1981–1986; Der bewegte Mann, 1987) und Walter Moers (Das kleine Arschloch, 1990). Diese Erfolge fanden jedoch eher am Rande der Comic-Szene statt. Wenn es Äquivalente zu den »ernsten« Comics aus Frankreich, aus den USA, oder aus Italien gab, dann handelte es sich häufig um Parodien (wie Kurt und Wenzel Kofrons österreichischer Flattermann, der Superhelden parodierte, 1981–1983) oder nur schwache Epigonen. So konnte eine österreichisch236 | Pa ul M . M a lo n e
bayerische Antwort auf Astérix, Günther Mayrhofer und Philipp Zippermayrs Gallenstein (1980–83), dem Gallier nicht das Wasser reichen. Alle diese Comics stellten lediglich Reaktionen auf ausländische Vorbilder dar (Platthaus 2010: 4). Diese komplexe Interaktion zwischen ausländischen Produzenten und Produkten einerseits und deutschsprachigen Importeuren, Konkurrenten und Konsumenten andererseits wurde in den 1970er Jahren noch als eine negative Folge der »Kultur-Industrie« gesehen: »Als ein Mixtum von Techniken, Informationen, Medien, Gattungen und Stilen unterschiedlichster Provenienz besitzen sie ihre eigene Homogenität: die Homogenität des Markenartikels … Die erfolgreichen Formeln des einen Comics tauchen als Persiflage oder als Handlungsträger an vielen anderen Stellen wieder auf.« (Drechsel et al. 1975: 10)
Über mehrere Generationen bildete sich jedoch eine kleine aber eifrige Fan-Gemeinschaft, die sich diesen Mischformen und der oft ironischen Spannung zwischen dem dominierenden ausländischen Werk und dessen eingedeutschter gefilterter Version bewusst war. Oft wussten die Fans mehr über die ursprünglichen Comics und deren kulturellen Kontext als die überforderten Übersetzer der Verlage, und so entstanden vor allem unter den Konsumenten die ersten Zeichen von etwas, das Jan Nederveen Pieterse affirmativ als »translocal mélange culture« bezeichnet, das heißt eine Kultur, die nicht nach innen, sondern nach außen und über angebliche Grenzen hinausschaut, um für sich neue Identifikationsmöglichkeiten zu erschließen (Nederveen Pieterse 1994: 161; 177). Das Publikum für Comics war nun erwachsener und anspruchvoller und dementsprechend konnte die deutsche Comic-Industrie auch größer und vielfältiger werden.
Manga in Deutschland Die ersten Manga kamen in den frühen 1980er Jahren nach Deutschland, blieben aber zunächst fast unbemerkt. 1982 veröffentlichte der Rowohlt-Verlag den ersten Band von Hadashi no Gen (»Barfuß durch Hiroshima«), einen damals im Westen kaum bekannten autobiographischen Manga von Nakazawa Keiji. Das Buch erschien in der politisch orientierten Reihe rororo aktuell, neben engagierten Prosawerken von Autoren wie Che Guevara, Bertrand Russell und Mao Zedong (Dolle-Weinkauff 2006: 1). Die ungewöhnliche Kombination eines sehr ernsten, sogar schockierenden Themas mit dem für westliche Leser niedlich anmutenden Zeichenstil Nakazawas hat offenbar keine Resonanz gefunden, da keine weiteren Bände herausgebracht wurden ( Jüngst 2004: 87). Sieben Jahre später erschien H y b r i d e s S p i e l f e l d M a n g a | 237
auch Ishinomori Shōtarōs didaktischer Manga Nihon Keizai Nyūmon in deutscher Übersetzung als »Japan GmbH« im Verlag Norman Rentrop (1989). Für den Verlag, dessen Schwerpunkt seit seiner Umbenennung 1999 in Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG noch deutlicher geworden ist, mag das Thema Ishinomoris – eine Einführung in die japanische Wirtschaft – eine naheliegende Wahl gewesen sein. Jedoch war der Inhalt wegen der ungeniert pro-japanischen Perspektive Ishinomoris an vielen Stellen tendenziös und für Geschäftsleute war es vermutlich sehr ungewohnt, Inhalte im Comic-Stil vermittelt zu bekommen ( Jüngst 2004: 87; »Manga-Häppchen« 1996: 19). In diesen beiden Fällen hatten regelmäßige Comic-Leser so gut wie keinen Zugang zu den Manga, und die Zielgruppen der beiden Bücher hatten Erwartungen, denen die Manga nicht entsprachen. Die deutschsprachige Comic-Szene begann 1987, japanische Comics zur Kenntnis zu nehmen – wenn auch auf fragwürdige Weise. In einem Artikel des österreichischen Fachmagazins Comic Forum, »Die Ohnmacht der Mangas«, schrieb Thomas A. Bleicher-Viehoff über zeitgenössische Manga in Japan: »Da wird vergewaltigt (besonders populär!), Sado-Masochismus betrieben, Sex mit Kindern und Tieren in allen Lebenslagen ausgeübt und so weiter und so fort« (Bleicher-Viehoff 1987: 17). Wenn solche auf Unwissen oder Halbwissen basierenden Vorurteile innerhalb der deutschsprachigen Comic-Szene tatsächlich vorherrschend oder auch nur teilweise präsent waren, kann es kaum überraschen, dass noch mehrere Jahre vergingen, ehe eine Begeisterung für Manga unter Comic-Verlegern und Lesern entstehen konnte. Carlsen war der erste deutsche Comic-Verlag, der das Wagnis einging, einen Manga zu veröffentlichen: 1991 erschien der erste Band von Ōtomo Katsuhiros Akira, nicht zufällig im selben Jahr, als die Anime-Verfilmung des Manga in den deutschen Kinos lief. Wie bei allen diesen »Manga der ersten Stunde« war es Carlsens Veröffentlichungsstrategie, Ōtomos Werk als westlichen Comic zu »verkleiden«: Die Seiten wurden koloriert und das gesamte Buch wurde umgekehrt gedruckt, so dass es genau wie westliche Bücher von links nach rechts gelesen wurde, anstatt wie in Japan von rechts nach links. Damit dies bewerkstelligt werden konnte, mussten einige Panels oder Layouts komplett gespiegelt oder umgebaut werden, so dass alle Figuren (mit Ausnahme von wenigen Panels) zu Linkshändern wurden. Akira gelangte in der deutschen Ausgabe als Nachahmung westlicher Produkte überwiegend in die Hände schon eingeweihter Comic-Leser, und es bestand zunächst kein Interesse daran, weitere Manga zu veröffentlichen ( Jüngst 2004: 89). Ab 1993 veröffentlichte der Avantgarde-Verlag Schreiber & Leser in 17 Bänden Koike Kazuos und Ikegami Ryōichis »Crying Freeman« (Kuraingu Furiiman), bei dem der Zeichenstil auch nach westlichem Maßstab »realistisch« genug war, um 238 | Pa ul M . M a lo n e
das Werk als Comic mit japanischen Kulissen und nicht in erster Linie als »japanischen Comic« zu verkaufen. Wesentlich exotischer aussehend hingegen, mit den stereotypen Manga-Kulleraugen und rudimentären Nasen, war Shirow Masamunes »Appleseed« (Appurushīdo), das vom Reiner Feest Verlag4 ab November 1994 veröffentlicht wurde (Knigge 2004: 67). Doch hier war zumindest das dargestellte Milieu vorgeblich westlich – die Protagonistin und ihr Cyborg-Partner sollten ExMitglieder des Los Angeles Police Departments sein. Im nächsten Jahr erschien das erste deutschsprachige akademische Buch über die Entwicklung und Bedeutung des Manga in Japan: Jaqueline Berndts Phänomen Manga (1995). Darin wird nur kurz die neue Populärität dieser Comic-Form im Westen erwähnt, vor allem in den USA und in Frankreich. Zu Deutschland schreibt Berndt: »Etwas verzögert sind im deutschsprachigen Raum seit 1990 mehrere Übersetzungen von Manga für Jugendliche und Erwachsene erschienen, wenngleich die Auswahl vermuten läßt, dass man sich bespielsweise mit den Mädchenmanga [d. h. den Shōjo-Manga, die für eine junge weibliche Leserschaft veröffentlich werden] kulturell nicht anfreunden mag.« (Berndt 1995: 37)
Auch das Fachmagazin Rraah! berichtet 1996 von einem schweren Stand der Manga in Deutschland (»Manga-Häppchen« 1996: 21) und in einem anderen Artikel über »Pseudo-Manga«, also im Westen produzierte mangaartige Comics, werden nur Beispiele aus den USA, Frankreich und Italien angeführt (»PseudoMangas« 1996: 23). Die deutsche Comic-Industrie erlebte in dieser Zeit eine große Krise. Bis zum Anfang der 1990er Jahre war die Industrie gewachsen, doch viel schneller als der Markt, der im Vergleich zum Comic-Publikum in anderen westlichen Ländern klein und marginalisiert blieb. Schon während der 1980er Jahre mussten mehrere längst etablierte und berühmte ausländische Comic-Serien aufgegeben werden, weil sie einfach nicht rentabel für die deutschen Verlage waren (Becker 1986: 48). Die erhoffte »Neue Deutsche Welle« der Comic-Eigenproduktion (Frenzel 1991: 36) blieb auch aus. Sogar die einstmaligen Bestseller der deutschsprachigen Szene hatten ihren Glanz verloren: Bis 2001 verkauften sich Astérix und Micky Maus nur schleppend, und Fix und Foxi sowie Superman waren schon eingestellt worden (Rosenbach 2001: 78; Knigge 2004: 69–70). Die deutsche Comic-Industrie lag völlig brach. Ein Sektor jedoch wuchs weiter: Manga, die erst wenige Jahre vor der Krise endlich eine rege Leserschaft gefunden hatten und schon im Jahre 2000 höhere Verkaufszahlen hatten als westliche Comics – »ein dramatischer Umbruch«, wie H y b r i d e s S p i e l f e l d M a n g a | 239
Carlsen-Lektor Joachim Kaps die Situation schildert (Rosenbach 2001: 78). Der endgültige Aufstieg des Manga in Deutschland war aber kein Zufall, sondern die Folge einer Kette von Entwicklungen in der Wirtschaft und in den Medien. Die neuen privaten Fernsehsender erwarben japanische Anime-Serien, die preiswert waren und sich schon in anderen westeuropäischen Ländern als erstaunlich populär bewiesen hatten (Knigge 2004: 69–70). Diese Länder – insbesondere Italien, Spanien und Frankreich – hatten ebenfalls Probleme in der Comic-Branche gehabt und trotzdem einen Manga-Boom erlebt (Pilcher und Brooks 2005: 186, 193–194; Beaty 2007: 171–173; Malone 2010a: 324–326). Anime-Sendungen hatte es schon zuvor im deutschen Fernsehen gegeben, allerdings unerkannt: Die animierte Version von »Heidi« (Arupusu no Shōjo Haiji, 1974) etwa, bei der der junge Miyazaki Hayao mitgearbeitet hatte, kam 1977 ins ZDF-Programm mit deutscher Synchronisierung und einem Titelsong, der für viele Deutsche immer noch ein Ohrwurm ist (Berndt 1995: 37–38; Treese 2006: 55–57). Jahrzehnte lang war es die Strategie, sowohl seitens der japanischen Produzenten als auch der westlichen Vermittler, aus der sogenannten »kulturellen Geruchlosigkeit« (nach Iwabuchi Kōichi) der japanischen Anime Kapital zu schlagen und sie als westliche Produkte zu »verkleiden«. Ab Mitte der 1990er Jahre war es aber genau der exotische »Geruch« der japanischen Produkte, der verlangt wurde: Für westliche Leser und Zuschauer wirkten die Figuren der Manga und Anime gleichzeitig bekannt – da sie nicht japanisch, sondern eher wie Europäer und Amerikaner aussahen – und zugleich fremd, weil sie auffällig nach anderen gesellschaftlichen Regeln handelten als Menschen im Westen. Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Alt und Jung, Managern und Angestellten, oder sogar unter Geschwistern erschienen oft seltsam streng hierarchisch. Gewöhnliche Gesten wechselten sich mit ungewöhnlichen ab, wie etwa den häufigen Verbeugungen. Sogar der Alltag – Stäbchen, Schuluniformen, niedrige Tische ohne Stühle – schien zauberhaft. Die Phantasie der japanischen Schöpfer überflutete die alltägliche Wirklichkeit der westlichen Leserinnen und Leser.5 Endlich gab es in Deutschland eine Gruppe, die tatsächlich nach gerade dieser Exotik hungerte, und die nicht nur aus schon eingeweihten Comic-Lesern bestand; insbesondere fiel auf, dass darunter viele Mädchen und junge Frauen waren (vgl. auch Treese 2006: 61–63). Der neue private Sender RTL II hatte bis Mitte 1993 zwei große Hits, die am Nachmittag nach der Schule ausgestrahlt wurden: Dragon Ball und Sailor Moon. Die erstgenannte Serie, die auf einem populären Shōnen-Manga (d. h. einem Manga für Jungen) basiert, wurde mit ihrer Mischung aus Fantasy, Melodrama, Slapstick und Action vor allem unter Jungen sehr beliebt. Sailor Moon, ursprünglich ein Shōjo-Manga, sprach durch märchenhafte Romantik mit sowohl 240 | Pa ul M . M a lo n e
epischen wie auch tragischen Untertönen insbesondere Mädchen an, ein potenziell breites Publikum, das zuvor häufig von den Massenmedien übersehen worden war (Treese 2006: 66–67). Der Erfolg der Serien führte auch zu dem Verkauf von allerlei Merchandising-Artikeln, wie Spielzeug, Kostümen, und natürlich auch den Manga, auf denen die Serien basierten. Der Carlsen-Verlag brachte seine Ausgabe von Toriyama Akiras »Dragon Ball« (Doragon bōru) ab Oktober 1997 auf den Markt. Die Rechte dazu erhielt Carlsen nur unter strikten Bedingungen: Der Shueisha-Verlag und Toriyama selbst wollten es nicht erlauben, dass die künstlerische Gestaltung der Seiten durch Spiegelung verzerrt wird, und sie bestanden darauf, dass die ursprüngliche Leserichtung beibehalten wird. Die Verantwortlichen bei Carlsen befürchteten, die ganze Ausgabe werde wegen dieser fremd anmutenden Publikationsweise scheitern. Aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage sah Carlsen jedoch keine andere Möglichkeit, als Shueishas Vorgaben zu akzeptieren, und Dragon Ball erschien tatsächlich in japanischer Leserichtung und direkt aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzt. Dagegen hatte es der FeestVerlag leichter mit seiner Veröffentlichung von Takeuchi Naokos »Sailor Moon« (Bishōjo senshi sērā mūn), die ab September 1998 erschien. Eine französische Ausgabe war schon erschienen; diese Version wurde wie viele Manga-Veröffentlichungen in Frankreich und alle bisherigen in Deutschland für westliche Leser gespiegelt gedruckt. Also musste man nur den französischen Text übersetzen und konnte dieselben Druckfahnen nutzen, was den Prozess erheblich beschleunigte. Carlsens Ausgabe von Dragon Ball wurde trotz der Befürchtungen der Verlagsleute zu einem Hit und Dauerbrenner, und die Publikationsform setzte sich schließlich als Maßstab der Authentizität durch. Die meisten deutschen MangaFans wollten von da an ihre Manga möglichst japanisch, und die Verleger kamen diesen Wünschen entgegen. Alle drei großen Verlage fingen jetzt an, sehr schnell Lizenzen zu sammeln, mit Schwerpunkt auf Titeln, die schon anderswo erfolgreich gewesen waren. Carlsen erwarb z. B. Naruto, One Piece und Yu-Gi-Oh!6 Ehapa kreierte einen neuen Imprint, Egmont Manga & Anime (EMA), und kaufte unter anderem Gundam, Oh! My Goddess und Ranma ½.7 Panini erwarb für sein Label Planet Manga unter anderem Berserk, Hellsing und Lone Wolf & Cub.8 Die Verlage waren dadurch nicht nur wirtschaftlich saniert, sondern erlebten einen bisher nie dagewesenen Boom. Dieser Vorgang in Deutschland bildet einen bemerkenswerten Konstrast zu dem Entstehen eines Manga-Marktes in den meisten anderen westlichen Ländern, wo nicht die großen Comic-Verlage ins Geschäft einstiegen, sondern kleinere spezialisierte Verlage entstanden (Vollbrecht 2001: 458). Nur in Deutschland waren es gerade die schon etablierten großen Konzerne, die die Gelegenheit nutzten, den Markt für Manga selbst früh zu dominieren. H y b r i d e s S p i e l f e l d M a n g a | 241
Um ihre Leserschaft noch weiter auszubauen, veröffentlichten Carlsen und Ehapa überdies monatlich erscheinende Manga-Magazine. Wie ihre Gegenparts in Japan sollten diese Zeitschriften den Lesern neue Serien vorstellen, die zuerst in kleinen Kapiteln und dann später in gesammelter Form als Bücher erschienen. Folgende Magazine hatten in Deutschland mehr oder weniger lange Bestand: Das Shōnen-Magazin Banzai! (Carlsen, 2001–2005), Manga Power (1996–1997 Feest, 2002–2003 Ehapa), das Shōjo-Magazin Daisuki (Carlsen, 2003–2012) und das Shōjo- und Shōnen-Magazin Manga Twister (Ehapa, 2003–2006). Wie fast alle westlichen Manga-Magazine scheiterten diese Publikationen, weil die Leserschaft einfach nie groß genug wurde, sogar in Ländern mit stark entwickelten ComicKulturen wie Frankreich. Selbst in Japan sind solche Magazine kaum rentabel, trotz Millionen von Lesern und des Gebrauches möglichst billigen Papiers; anderswo wurden sie schnell zu nicht tragbaren Verlustgeschäften (Malone 2010a: 324; 325–326).
D e u ts che Ma nga k a Während in den meisten westlichen Ländern Manga als Rivalen der klassischen Comics angesehen wurden, waren sie im deutschsprachigen Raum eher das neueste Glied in einer langen Reihe ausländischer Einflüsse eines hybriden Genres, das sich im ständigen Wandel befand – man kann hier also nicht von einer Konkurrenz sprechen, sondern eher von einer Kontinuität. Deutschland und seine deutschsprachigen Nachbarn waren immer Importeure, und nicht Produzenten und Exporteure der Comic-Kultur geblieben. Es war den deutschen Verlagshäusern jedoch nicht entgangen, dass Manga überall auf der Welt eine lebendige und produktive Fan-Kultur ins Leben riefen. Brian Ruh schreibt in einer Untersuchung zur kulturellen Kompetenz US-amerikanischer Manga-Fans, dass die starke Identifizierung der Fans mit Anime- oder Manga-Figuren sie dazu anrege, ihre eigenen Geschichten mit ähnlichen Methoden zu erschaffen (vgl. Ruh 2005: 378). Der eher einfache Stil des Manga lädt den Leser oder die Leserin ein, sich selbst zu beteiligen und Manga zu zeichnen. So gibt es auch viele how-to-Bücher, informelle Handbücher, die dem Leser Techniken des Manga-Zeichners beibringen sollen und Muster vorgeben. Diese wurden zuerst in Japan für japanische Fans veröffentlicht, aber mit der Manga-Welle kamen auch übersetzte Versionen (und westliche Nachahmungen) dieser Bücher in den Westen. In Japan gibt es seit langem eine Dōjinshi- oder Fan-Comic-Kultur, in der Fans sowohl Parodien und Imitationen ihrer Lieblingsmanga als auch eigene originelle Schöpfungen privat veröffentlichen und verkaufen. 242 | Pa ul M . M a lo n e
In dieser Hinsicht bildete Deutschland keine Ausnahme; eine im Jahr 2003 durch das Fan-Magazin MangasZene durchgeführte Umfrage verdeutlichte, dass zwei Drittel der deutschen Manga-Leser auch ihre eigenen Manga zeichneten (Holzer et al. 2004: 6). Begeisterte junge Deutsche fingen an, beliebte Mangaund Anime-Figuren in ihren Schulheften und auf Zeichenblöcken zu skizzieren und schließlich eigene Charaktere zu entwickeln. Deutschsprachige Manga- und Anime-Vereine veranstalteten in Zusammenarbeit mit den Verlegern Wettbewerbe für ambitionierte Manga-Zeichner – die nun schon oft mit dem japanischen Wort »Mangaka« bezeichnet wurden. Beiträge zu den Wettbewerben kamen nicht nur aus den deutschsprachigen Ländern, auch Mangaka z. B. aus dem Iran beteiligten sich daran. Die ausgewählten Werke wurden in Anthologien veröffentlicht. Wie in Japan, wo die Dōjinshi-Szene manchmal zum Sprungbrett für eine professionelle Karriere als Mangaka wird, hatten die deutschen Verleger vor, deutschsprachige Zeichnerinnen und Zeichner anzuwerben und zu fördern, um deutsche Eigenproduktionen verkaufen zu können. Bei Carlsen erschien von 2002 bis 2007 die Reihe Manga-Talente und bei EMA von 2003 bis 2006 Shinkan Special. Nur Panini zeigte kein Interesse daran, einheimische Mangaka zu suchen.9 Der erste deutsche Manga wurde schon 2001 von einem Insider produziert: Jürgen Seebeck, der mit seiner Frau Junko Iwamoto-Seebeck die Carlsen-Ausgaben von Akira und Dragon Ball übersetzt hatte, widmete sich selbst dem Zeichnen. Eine Reihe seiner Kurzgeschichten in Comic-Form wurde in Japan durch den Kodansha-Verlag als elektronischer Web-Manga verbreitet; Carlsen veröffent lichte diese Geschichten in zwei Bänden als Bloody Circus in der Reihe »Carlsen Manga«. Das Ziel-Publikum allerdings akzeptierte diesen Manga nicht, da der Zeichenstil zu »europäisch« erschien, die Bilder farbig waren und die Geschichten kaum Dialog aufwiesen. Auch die vielen japanischen Motive und Elemente in den Bildern führten nicht zum Erfolg ( Jüngst 2006; 251–252). Etwas besser angenommen wurde der Manga Dragic Master von Robert Labs, der ebenfalls 2001 bei Carlsen erschien (Holzer et al. 2004: 7). Dragic Master ist dem typischen Shōnen-Manga viel näher als Bloody Circus: Die Story entfaltet sich in einer Fantasy-Welt, in der Drachen durch Zauberkräfte zähmbar sind.10 Labs konnte zwar den Stil bekannter Manga-Zeichner gut nachahmen und er beherrschte die Bildkomposition, wegen Zeitdrucks misslangen jedoch viele Seiten und wegen einer gewissen Vorliebe für den sogenannten »Fan-Service« kommen Bilder halbnackter Mädchen häufiger vor als Handlungselemente (vgl. Abb. 1). Einen zweiten Manga veröffentlichte Labs episodenweise in Carlsens Manga-Magazin Banzai! und anschließend in zwei Bänden. Crewman 3 ist eher im Science-Fiction- als im Fantasy-Genre angesiedelt und dreht sich um den jungen Crash Cashaddi, der sich selbst ein Raumschiff baut, um ins All zu fliegen. H y b r i d e s S p i e l f e l d M a n g a | 243
In den am besten gezeichneten Sequenzen sind Labs’ Haupteinflüsse, Toriyama Akira (Dragon Ball) und Oda Eiichirō (One Piece), deutlich zu erkennen. Carlsen beschrieb den jetzt 23-jährigen Labs als deutschen Manga-Star, er selbst hingegen beklagte sich in Interviews, dass ihn der Manga-Stil zu sehr einschränke und dass das Publikum heikel und intolerant sei (Kögel 2005). Sein nächster Comic für Carlsen, Black Beach – Ein Surfermärchen (2005), zeigte keine japanischen Einflüsse mehr und ähnelte eher klassischen amerikanischen Trickfilmen. Bei EMA erschien 2002 der deutsche Manga Naglayas Herz (2002), der von Stefan Voß geschrie ben und von Sascha Nils Marx ge zeichnet wurde. Dieser war schon als Zeichner für Werbeagenturen tätig 1 Dragic Master von Robert Labs ist einer der ersten Manga, gewesen (Holzer et al. 2004: 8), doch die in Deutschland entstanden sind. Carlsen veröffentlichte den die Zeichnungen sind – wohl ebenBand 2001. Carlsen Verlag Hamburg. falls aufgrund von Zeitmangel – die Schwäche des Manga: Action- und Kampfszenen wirken inkohärent, jeder versuchte Bildwitz landet flach, und der relativ witzige (wenn auch klischee hafte) Text von Voß wird ständig untergraben. In einer Rezension zu Naglayas Herz bezeichnet Timm Rambuschek im Fachmagazin Xoomic den Manga als »ein peinliches Imitat der äußerlichen Merkmale des Manga«, das »kindlich« wirke, und empfahl schließlich, dass man das Werk »höflicherweise ignorieren« solle (Rambuschek 2002: 53). Das Scheitern dieser Versuche demonstrierte, dass es fast unmöglich war, Manga auf westliche Weise zu produzieren. Während die meisten japanischen Mangaka mit mehreren Assistenten arbeiten, um die häufigen Deadlines nicht zu verpassen (Ruh 2005: 384), mussten deutsche Zeichner üblicherweise allein arbeiten. Das Erscheinungsdatum von neuen Bänden musste regelmäßig verschoben werden, was es noch schwerer machte, ein regelmäßiges Publikum zu gewinnen. 244 | Pa ul M . M a lo n e
Es hätte kaum überrascht, wenn Carlsen und Egmont nach solchen Misserfolgen einfach aufgegeben hätten; doch sie hatten noch einen Pfeil im Köcher. Den Verlagshäusern war bewusst, das Manga sich inzwischen einer erstaunlichen Popularität unter Mädchen und jungen Frauen erfreuten. Deshalb wandten sie sich auch gerade an dieses Publikum, um weitere potentielle Mangaka zu rekrutieren. Auch die extreme Popularität des Shōjo-Manga versprach einen leichteren Gewinn. Im September 2003 erschien bei Carlsen Christina Plakas Manga Prussian Blue, die Geschichte einer Rock-Band, die in Tokyo um den musikalischen Erfolg kämpft. Die griechischstämmige Deutsche Plaka hatte den zweiten Platz im Manga-Talente-Wettbewerb der Leipziger Buchmesse 2002 gewonnen und die einzelnen Kapitel von Prussian Blue Januar bis Juni 2003 in Carlsens ShōjoMagazin Daisuki veröffentlicht. Obwohl ihr etwas eckiger Stil noch nicht ganz ausgereift war, wirkte die Handlung des Manga vielversprechend: Musik und Melodrama waren auf raffinierte Weise verwoben, und es entwickelten sich spannende Konflikte unter den Figuren – jungen Japanern, die Deutsch sprechen und à la Nirvana auf Englisch singen. Die Band ist so zwar japanisch und agiert in einem japanischen Setting, durch die Musik ist aber auch ein Anschluss an die globale, englisch geprägte Popkultur gegeben. Der Manga bedient so einerseits das Bedürfnis nach Exotik, andererseits aber auch nach kosmopolitischer Coolness. Im Februar 2004 wurde die Ankunft deutscher Manga schließlich auch in der Comic-Fachpresse positiv aufgenommen, als man im Magazin Comixene lesen konnte: »Mangas bleiben trotz stagnierender Verkaufszahlen und einigen eingestellten Serien sehr beliebt in diesen unseren Landen. Und mehr noch! Ehemals abwertend als Modeerscheinung bezeichnet, sind sie inzwischen ein fester Bestandteil der deutschen Comic-Kultur geworden. So ist es kein Wunder, dass sich schon seit einiger Zeit auch deutsche Zeichner dem Phänomen Manga angenommen haben und auf den professionellen Markt vorgestoßen sind. Ein guter Grund, sich einmal näher mit ihnen zu beschäftigen: den deutschen Mangaka – den Germangaka.« (Holzer et al. 2004: 6)
Am Ende gab es jedoch auch pessimistische Untertöne: »Es bleibt nur zu hoffen, dass die meist blutjungen Talente nicht rücksichtslos verheizt werden, sondern auch die Förderung von Seiten der Verlage erhalten, die sie benötigen, um sich zu entwickeln. Wir dürfen gespannt sein, was die Zukunft uns noch bringt« (Holzer et al. 2004: 14). Diese Skepsis war verständlich: Schon in guten Zeiten hatten die Verlage selten deutschen Zeichnern die Gelegenheit gegeben, sich ein Publikum aufzubauen, weil es viel teurer war, einen neuen Zeichner über Jahre ausbilden zu lassen, als in kurzer Zeit die Werke eines etablierten ausländischen Zeichners zu H y b r i d e s S p i e l f e l d M a n g a | 245
lizenzieren (Böckem 2006: 11). Andreas C. Knigge sah als Veteran der Szene im selben Jahr dunkle Wolken am Horizont: »Auch wenn der Manga in Deutschland seinen Zenit mit Sicherheit noch nicht überschritten hat, hat er, in langfristigen Perspektiven gedacht, keine Zukunft« (Neugebauer 2004). Im September 2004 erschien bei Carlsen Judith Parks Dystopia: Love at Last Sight. Im Vergleich zu Prussian Blue entwickelt sich die Handlung, die zwischen Liebe unter Geschwistern und Klon-Technik angesiedelt ist, bei Park nicht besonders nachvollziehbar, die Zeichnungen jedoch sind raffiniert. Die 1984 als Tochter koreanischer Eltern in Duisburg geborene Park zeigte schon früh ein Interesse für das Zeichnen und gewann 2002 den ersten Preis beim Manga-MagieWettbewerb in Köln. Ein erstes Kapitel von Dystopia war bereits in Carlsens ShōjoMagazin Daisuki erschienen; der fertige Einzelband wurde schließlich im Jahre 2005 mit dem Sondermann-Publikumspreis der Frankfurter Buchmesse prämiert. Weitere Manga folgten: Der eher komische Ysquare (2005), dessen Sequel Ysquare Plus (2007), und der unabhängige Band Luxus (auch 2007). Die Laufbahn Parks und Plakas wurde dann beinahe musterhaft für die Karrieren zukünftiger deutscher Mangaka. Gina Wetzel aus Homburg wurde mit dem zweiten Preis im Manga-Wettbewerb der Connichi Fan-Convention 2003 ausgezeichnet, wobei EMA der 18-jährigen schon zuvor einen Vertrag angeboten hatte. Ein erster Ausschnitt ihres Manga Orcus Star wurde im folgenden Jahr in Egmonts Magazin Manga Power veröffentlicht und die vollständige Ausgabe erschien im Mai 2005. Orcus Star war thematisch noch düsterer als Parks Dystopia, da Wetzels Heldin Maiko schon am Anfang der Geschichte in einen tödlichen Unfall verwickelt wird und daraufhin in der Hölle landet. In ihrem kurzen Leben hat die sorglose Maiko alle sieben christlichen Todsünden begangen – doch die Heidengöttin Hel, Königin der Hölle, gibt ihr die Möglichkeit, alles wieder gutzumachen. Dazu hat sie aber nur noch eine Woche auf Erden, um alle Aufgaben zu erledigen. Wetzels Zeichnungen erscheinen nicht so professionell wie die von Park, aber ihr Gothic-Lolita-inspiriertes Design und der makabre Humor passen gut in den auffällig hybriden Kosmos ihres Manga. Wetzel ist in der Manga-Szene weiter durch Workshops aktiv, ansonsten widmet sie inzwischen ihre Zeit zunehmend einer Karriere als Fotografin und Model. Alexandra Völker lässt in ihren Werken Catwalk (2006) und Paris (2008) und ihrem vom Gothic-Lolita-Trend (vgl. Siep in diesem Band) beeinflussten Zeichenstil ein Interesse an Mode und Design erkennen. Ihre Werke spielen in einem Parallel-Universum mit Verbindungen zu unserer Welt. Während die Heimatstadt des Hauptcharakters an Metropolis aus Superman oder Gotham City aus Batman erinnert, gibt es direkte Verkehrsanbindungen zu Städten wie Paris und Tokyo. So wird bei Völker die Welt der haute couture zu einer Mélange der Ethnizitäten und Ge246 | Pa ul M . M a lo n e
schlechter, in der Charaktere mit hybrider Abstammung und androgyne Heldinnen und Helden auftreten. So könnte man beim ersten Lesen meinen, dass es sich bei der Beziehung, die in der Geschichte dargestellt wird, um eine lesbische Beziehung handelt. Dies ist aber der Tatsache geschuldet, dass der männliche Hauptcharakter im gleichen Maße wie die Heldin mädchenhaft schön und stark geschminkt ist und zudem oft einen Kilt trägt, der mit einem Rock verwechselt werden kann. Im April 2004 wurde eine deutsche Niederlassung des US-Verlags Tokyopop gegründet, der bereits mit mehreren lizenzierten Manga-Titeln ausgestattet an den Start ging, wie etwa Bleach, Death Note und Sgt. Frog.11 Carlsen-Leiter Joachim Kaps war zum Newcomer übergelaufen, und hatte mehrere Mitarbeiter inklusive der deutschen Mangaka Christina Plaka mitgenommen. Die Neuauflage von Prussian Blue und dessen Fortsetzung erschienen im März 2005 bei Tokoypop. Um Verwechslungen mit einem gleichnamigen rechtsradikalen Sängerduo in den USA zu vermeiden, wurde »Prussian Blue«, die Band in Plakas Geschichte, in »Plastic Chew« umgetauft, und der Manga erhielt den Titel Yonen Buzz. Plakas Zeichenstil wurde dynamischer und ihre Figuren erschienen runder und solider. Unter diesem neuen Titel erschienen vier weitere Bände und eine Artbook-Sonder ausgabe (Yonen Buzz: United, 2007), bis zum Abschluss der Geschichte im Januar 2012. Nun gab es drei große Verlage, die versuchten, deutsche Mangaka, vor allem junge Frauen, zu fördern: Tokyopop, EMA und Carlsen.12 Gemeinsam veröffent lichten diese Verlage im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts vermutlich mehr Werke weiblicher deutschsprachiger Comic-Zeichnerinnen als im ganzen 20. Jahrhundert. Im September 2006 widmete sich auch die Titelgeschichte des Kulturspiegel dem Phänomen, dass die Mehrheit der deutschen Mangaka junge Frauen sind. Für den Artikel wurden Christina Plaka, Judith Park und Anike Hage interviewt und Tokyopop-Chef Joachim Kaps äußerte sich über die ökonomische Bedeutung dieses »deutsch-japanische[n] Fräuleinwunder[s]« (Böckem 2006: 10): »Langfristig ist es unser Ziel, den Anteil der deutschen Eigenproduktionen bei Tokyopop auf 20 Prozent zu steigern. […] Im Moment investieren wir in die deutschen Mangaka. Aber eigene Produktionen sind für uns eine Chance, uns langfristig an das andere Ende der Wertschöpfungskette zu setzen. […] nämlich: Auslandslizenzen zu verkaufen und vielleicht in absehbarer Zeit Merchandising-Produkte und Videospiele zu unseren deutschen Serien.« (Böckem 2006: 11)
Die Aufmachung des Kulturspiegel-Beitrags war insgesamt reißerisch und mit sexistischen Anspielungen garniert. Die Überschrift des Artikels lautet, orthographisch korrekt wiedergegeben, »SIND DIE SÜÜÜÜSS!« (Böckem 2006: 9), und auf H y b r i d e s S p i e l f e l d M a n g a | 247
dem Cover der Beilage räkeln sich von Anike Hage gezeichnete, niedliche Mädchenfiguren unter dem Titel »Die Stripperinnen«. Für die Medien war das Phänomen zunächst vor allem ein Kuriosum, und ihr Hauptinteresse lag darin, dass die Mehrheit der Mangaka junge Frauen sind. So heißt es auch in einem Artikel aus dem Jahr 2007 von Stefan Pannor: »Comiczeichnen ist jung, weiblich und attraktiv geworden.« (Pannor 2007). Dabei gab es unter den neuen Mangaka auch Männer: 2007 erschien etwa Zhe Zhangs Go Kids in zwei Bänden bei Carlsen, und zwei junge Männer, Heath und Nheira, sind zusammen das Team »Pink Psycho«, das bei EMA In the End (2006) publiziert hat. Männer, die Comics zeichnen, waren aber nichts Neues und Journalisten zeigten kein Interesse an Sascha Nils Marx oder Robert Labs als Personen – während bei den weiblichen Pendants das Aussehen und die Persönlichkeit der Autorinnen sehr großes mediales Interesse hervorriefen. Dieser auf Geschlecht gerichtete Fokus war auch deswegen verfehlt, da er von einem weitaus interessanteren Phänomen ablenkte: Die neuen »Germangaka«, sowohl Männer als auch Frauen, hatten sehr unterschiedliche ethnische und kulturelle Hintergründe. Diese Diversität zeigt, dass die Begriffe »deutsch« oder »deutschsprachig« nicht mehr ausreichen, um die junge Bevölkerung Deutschlands zu beschreiben, egal, ob sie mit einem deutschen Reisepass ausgestattet ist oder nicht. In den Regalen der deutschen Buchhandlungen stehen Bände mit offensichtlich deutschen Autorennamen neben Bänden, die unter anderem slavische, chinesische, koreanische und sogar japanische Namen tragen – und doch in Deutschland entstandene Werke sind. Für junge Einwanderer der ersten oder zweiten Generation war der deutsche Manga-Boom eine erste Gelegenheit, in der deutschsprachigen Kultur zu Wort zu kommen (Malone 2010a: 15–17). Dieses hybride Spielfeld hatte wenig mit dem staatlich gelenkten Multikulturalismus zu tun; hier war die Leitkultur die japanische. Der Standard der »Authentizität«, den die Carlsen-Ausgabe von Dragon Ball festgesetzt hatte, war zu Beginn eine Art Schema für deutsche Mangaka und deren Werke. Um den Erwartungen des Publikums entgegenzukommen und wie »echte« japanische Manga – oder eher wie deutsche Übersetzungen japanischer Manga, also »pseudo-translations« oder »simulacra« ( Jüngst 2006: 258) – anmuten zu können, musste eine Reihe von Normen eingehalten werden: Japanisch klingende Namen, asiatisch aussehende Kulissen, feste Regeln für Lautmalerei und Bildmetaphern. Eine weitere Möglichkeit war, in Fantasy-Welten zu fliehen und in einem »kulturneutralen« Universum auf quasi-japanische Weise zu schreiben und zeichnen. In der zweiten Welle der deutschen Manga, die eher von weiblichen Mangaka dominiert war, fanden die Künstlerinnen jedoch Wege, mit diesen Maßstäben lockerer umzugehen. Es wurde möglich, verschiedene kulturelle Anmutungen zu 248 | Pa ul M . M a lo n e
kombinieren, ohne die Leser abzu stoßen. Judith Park stellt zum Beispiel ihre japanischen Protagonisten als Austausch-Studenten in Korea dar (Park 2004; Park 2007), während Ying Zhou Cheng die historisch ge spannten Verhältnisse zwischen Japan und China als Kulisse nutzt (Cheng 2005). Die Sport-Geschichte von Anike Hage spielt in Deutschland und auf die obligatorischen japanischen Figuren wird ganz verzichtet (Hage 2006–2010). Christina Plaka distanzierte sich in ihren Werken allmählich von den visuellen Tropen der Shōjo-Manga (Plaka 2003; Plaka 2005–2012; Plaka 2011). Narrative und visuelle Elemente, die der türkischen Kultur entnommen sind, finden sich in Reyhan Yildirims Fantasy-Geschichte Tylsim (Yildirim 2008, vgl. Abb. 2). In einer Fantasy-Welt rettet der junge Auru, der von dem Drachengeist Kita (von 2 Reyhan Yildirims Manga Tylsim (2008) spielt in einer türk. atik, flink) begleitet wird, die Fantasy-Welt, in der sich Elemente der türkischen Kultur junge Hexe Djady (von türk. cadi, wiederfinden. Tokyopop Verlag Hamburg. Hexe) und muss gegen den Bösewicht Karabasan kämpfen. Karabasan bedeutet auf Türkisch »Alptraum«, während der Titel Tylsim sich von dem türkischen Wort für »Zauber« ableitet. Deutsche Manga leiden, so zeigen diese Beispiele, immer weniger darunter, »japanisch« sein zu müssen. Zur gleichen Zeit wuchs die Nachfrage nach Boys’ love-, Shōnen-Ai- bzw. YaoiManga, einem Genre, das sich überwiegend an junge Frauen richtet und hochstili sierte Liebesbeziehungen zwischen Männern oder sogar Jungen thematisiert. Da sich in Deutschland mehrfach Ängste vor solchen Darstellungen manifestierten (z. B. Bleicher-Viehoff 1987; Böckem und Dallach 2002), versuchten die großen Verlage, dieser Nachfrage mit sorgfältig ausgewählten lizenzierten Manga entgegenzukommen, um diese Ängste nicht weiter zu schüren und mögliche Anklagen wegen Kinderpornografie zu vermeiden. Wie EMA-Leiter Georg Tempel 2006 in H y b r i d e s S p i e l f e l d M a n g a | 249
einem Interview gestand, handelt es sich um eine Gratwanderung: »Shonen-Ai-Serien kommen in Japan eher bei kleineren Verlagen heraus und es ist sehr viel Arbeit, diese ausfindig zu machen. … Es ist schwer, Serien zu finden, die zwar Shonen Ai, aber doch nicht explizit sind.« (Könen 2006). Auch im Shōnen-Ai-Bereich finden sich deutschsprachige Werke, die eindeutig von dem kulturellen Hintergrund der Zeichnerinnen geprägt sind. EMA veröffentlichte mit Ying Zhou Chengs Shanghai Passion (2005) den ersten deutschen Shōnen-Ai-Manga (vgl. Abb. 3). Shanghai Passion spielt im China der 1930er Jahre und verfolgt die Geschichte eines jungen deutschen Geschäftsmannes, der versucht, mit dem Oberhaupt einer Triadenfamilie ins Geschäft zu kommen. Bei der Begeg3 Der Manga Shanghai Passion von Ying Zhou Cheng (2005) nung mit dem Sohn des Geschäftsist das erste in Deutschland entstandene Werk, das dem Shōnenpartners ergreift ihn eine starke FasAi-Genre angehört, d.h. das sich thematisch einer Liebe zwischen zination für diesen Mann. Entgegen zwei Männern widmet. Egmont Verlagsgesellschaften mbH, Köln. orientalistischen Erwartungen ist bei dieser Liebesgeschichte der chinesische Mann der aktive Part (nach den Fachbegriffen des Shōnen-Ai-Genres also der seme) in der Beziehung mit dem eher passiven Europäer (dem uke als Gegenstück zum seme). Ein anderes interessantes Motiv findet sich in einer halb-japanischen Dragqueen, die als Nebencharakter auftritt. Dieser Charakter ist gezwungen, seine japanische Abstammung zu verleugnen, um Diskriminierungen zu entgehen. Durch die japanische Besetzung der Mandschurei bestanden in der damaligen chinesischen Gesellschaft anti-japanische Tendenzen. Diese Figur kann auch als Verarbeitung einer Art inneren Konflikts der Zeichnerin gesehen werden, da Cheng zwar in Shanghai geboren ist, aber in Deutschland fern von anti-japanischen Tendenzen aufgewachsen ist und sich die Formensprache des japanischen Manga, nicht des chinesischen manhua, als künstlerische Ausdrucksform angeeignet hat. 250 | Pa ul M . M a lo n e
Seit diesem ersten Werk sind deutsche Shōnen-Ai-Manga bei allen drei führenden Verlagen erschienen. Tokyopop hatte großen Erfolg mit Anna Hollmanns Stupid Story (2008–2012), der 2008 mit dem Sondermann-Comic-Preis der Frankfurter Buchmesse ausgezeichnet wurde und mit Taïfu Comics auch einen Verleger in Frankreich fand – ein Beweis für die Exportfähigkeit der deutschen Shōnen-Ai-Manga (Malone 2010c). Die meisten Boys’-Love-Reihen von deutschen Mangaka erschienen bei Carlsen, u. a. Zofia Gartens Killing Iago (3 Bände, 2009–2011), Anne Delseits und Martina Peters’ Lilientod (3 Bände, 2009–2011), und Marika Pauls Royal Lip Service (bisher 2 Bände, 2011–2013). Boys’-Love-Leserinnen sind – nicht nur in Deutschland – besonders leidenschaftliche Fans, und für viele sind die von den großen Mainstream-Verlagen veröffentlichten Manga weder zahlreich noch explizit genug. Deswegen sind nach 2006 mehrere kleine Nischen-Verlage entstanden, die Yaoi-Manga (im Westen oft als Fachterminus benutzt, um »härtere« Shōnen-Ai-Manga zu beschreiben) aus deutschen oder europäischen Federn verbreiten. Innerhalb der Boys’-Love-Szene finden auch selbstreflexive Diskurse statt, die sich in Fahr Sindrams Manga Losing Neverland widerspiegeln (bisher 2 Bände; 2006–2007). Dieses Werk bedient sich der Tropen der Shōnen-Ai-Gattung, um andere Shōnen-Ai-Manga als Kinderpornographie zu kritisieren (Malone 2013). Der deutschsprachige Comic-Markt wird weiter von Manga dominiert, wenn auch nicht mehr mit so großem Abstand: 2010 fiel der Anteil der Manga am deutschen Markt von 75 auf 60 Prozent.13 Mehrere Verlage, die nur kleine Manga-Programme hatten, haben insbesondere deutsche Manga aufgegeben, wie zum Beispiel der Eidalon Verlag unter den Kleinverlagen oder Droemer Knaur unter den größeren. Die Manga-Programme der großen Comic-Verlage sind auch kleiner und das Veröffentlichungstempo langsamer geworden. Dennoch sind deutsche Mangaka weiter bei Carlsen, EMA und Tokyopop vertreten, und viele ihrer Werke bleiben auch nach fünf oder sechs Jahren lieferbar. Möglicherweise hängt dies auch mit einem gewissen Verantwortungsgefühl der Verlage zusammen, das Joachim Kaps 2006 konstatierte: »Gerade weil viele [deutsche Mangaka] sehr jung sind, wenn wir sie unter Vertrag nehmen, haben wir als Verlag auch eine besondere Verantwortung« (Böckem 2006: 11). In der Verlagswelt sind aber auch viele Umbrüche zu verzeichnen. 2009 hat EMA Georg Tempel ganz unerwartet als Verlagsleiter entlassen und er wurde durch Alexandra Germann ersetzt. Der amerikanische Mutterkonzern von Tokyopop verlor 2009 alle Lizenzen vom japanischen Verlag Kodansha und stellte 2011 seinen Betrieb ganz ein. Jetzt gibt es keinen direkten Kanal mehr zur großen englischsprachigen Welt, wo die Manga von Anike Hage und Christina Plaka auch in Übersetzung erschienen sind. Kaps ist es auch nicht gelungen, den Anteil H y b r i d e s S p i e l f e l d M a n g a | 251
einheimischer Manga auf zwanzig Prozent der Gesamtproduktion von Tokyopop zu erhöhen.
F az it Dass Manga im Westen völlig verschwinden werden, erwartet niemand mehr. Junge Zeichner wie junge Konsumenten nehmen Manga als selbstverständlich an; die Einflüsse von Manga sind überall zu finden, wenn auch häufig kombiniert mit anderen Elementen. Das bedeutet aber auch, dass Manga keine Neuheit mehr sind und ihre Exotik, die einen Teil der Faszination ausmacht, nach und nach einbüßen. Die Comic-Industrie ist daher schon jetzt auf der Suche nach einer neuen Welle, um einer Krise zuvorzukommen. Carlsen zum Beispiel versucht in Zusammenarbeit mit mittelgroßen Avantgarde-Verlagen wie Reprodukt und Edition Moderne, den neuesten Erfolg im US-amerikanischen Markt nachzuahmen: »Seit einiger Zeit verwenden auch deutsche Comicverlage das Etikett ›Graphic Novel‹. Zur inhaltlichen Abgrenzung von Asterix, Tim und Struppi und Co., aber auch als Marketingbegriff, um Comics besser in normalen Buchhandlungen platzieren zu können, wo ein literarisch interessiertes Publikum Comics entdecken kann.« (Gramlich 2010: 9)
Die Begeisterung der Manga-Leser soll genutzt werden, um den Graphic Novels zum Durchbruch zu verhelfen. Wie Ralf Keiser erklärt: »[Manga] sind ja auch Comics, allen Unterscheidungen zum Trotz, es sind Comics, und man kann glaub ich sagen, dass auch noch nie so viele Leute wie heute in Deutschland Comics gelesen haben, so in der Breite und das ist eigentlich ganz ermutigend.« (Gramlich 2010: 10). 2004 äußerte sich der ehemalige Carlsen-Leiter Andreas C. Knigge noch pessimistisch zu diesem Thema: »Es wäre vermessen, zu glauben, dass Dragonball-Leser irgendwann zu Corto Maltese greifen, von Einzelfällen vielleicht abgesehen.« (Wieland 2004). Knigge hat vielleicht recht, aber er spricht nur von Leserinnen und Lesern, nicht von Zeichnern oder Zeichnerinnen. Populärkultur, ob hybrid oder globalisiert, lebt aber in erster Linie von einzelnen Menschen, die kulturelle Produkte herstellen bzw. konsumieren. Einzelne Konsumenten werden Fans nicht nur einer Kunstform, einer Gattung, oder eines Zeichenstils, sondern auch einzelner Produzenten. Möglich also, dass es einem Toriyama-Fan schwer fällt, eine Vorliebe für Hugo Pratt zu entwickeln. Was passiert aber, wenn Toriyama selbst anders zeichnet?
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Unter den führenden deutschen Mangaka gibt es bereits die Tendenz, stilistisch und thematisch vielseitiger zu arbeiten. Anike Hage hat zum Beispiel eine Adaption von Gudrun Pausewangs Jugendroman Die Wolke als Graphic Novel gezeichnet (Pausewang und Hage 2010), Judith Park will in ihren nächsten Werken ihren eigenen koreanischen Hintergrund hervorheben und Christina Plakas Einzelband Herrscher aller Welten erinnert stilistisch an westliche Trickfilme und inhaltlich an Disneys Fluch der Karibik (Plaka 2010).14 Im Jahr 2000, als Christina Plaka ihr frühes Werk zum ersten Mal beim Carlsen Verlag vorlegte, wurde es abgelehnt. Nicht, weil sie eine Frau war, und auch nicht, weil sie erst 17 Jahre alt war: »Es gäbe kein Forum für deutsche Zeichner, hieß es damals« (Böckem 2006: 10). Seitdem hat sie acht Bücher bei zwei Verlagen veröffentlicht. Im Interview in diesem Band beschreibt Christina Plaka ihr nächstes Projekt mit folgenden Worten: »Ich kann nicht wirklich einordnen, ob das Werk mehr Manga ist, Graphic Novel oder Bande Dessinée. Das ist vielleicht einfach nur ein wahrer Christina-Plaka-Comic.« Diese Hybridität des Genres wird hier zu einem Mittel, durch das sich ein einzelner Mensch selbst definiert, identifiziert und ausdrückt. Ob diese Einheit Manga oder Comic heißt, ist nicht mehr relevant. Deutsche Manga durchbrechen Genre-Grenzen mittlerweile ebenso wie kulturelle Barrieren oder Geschlechter-Stereotype. Die Werke der deutschen Zeichnerinnen und Zeichner mit ihren vielfältigen kulturellen Hintergründen machen damit einen wichtigen Teil der deutschsprachigen Kultur dieses Jahrhunderts aus.
Anm erkungen 1 Hier wird das Wort Manga als Maskulinum behandelt, dem Usus in der Alltagssprache und in der Comic-Szene entsprechend. Sowohl in Singular als auch Plural verwende ich Manga, trotz der umgangssprachlichen Pluralform Mangas. Innerhalb der deutschsprachigen Japanologie ist Manga häufiger als Neutrum zu finden. In Zitaten wird der Gebrauch im Quellentext ohne Bemerkung reproduziert. 2 Gehuldigt wird dem »Altmeister« in dem Jubiläumsband Wilhelm Busch und die Folgen, in dem Ralf König und andere zeitgenössische deutsche Comic-Zeichner die Bildgeschichten als moderne Comics (auch Manga) reinterpretieren (Busch, König et al. 2007). 3 Unter denjenigen, die Comics übersetzten, war der Frauenanteil relativ hoch. Als herausragende Persönlichkeiten sind heute vor allem noch die geniale Disney-Übersetzerin Erika Fuchs und Gudrun Penndorf (u. a. Asterix, Lucky Luke) bekannt. 4 Der Feest-Verlag wurde 1991 vom Egmont-Ehapa-Konzern aufgekauft. 5 Diese Spannungen zwischen bekannten und unbekannten kulturellen Elementen werden näher und detaillierter ausgelegt in Antonia Levis Samurai from Outer Space: UnderstanH y b r i d e s S p i e l f e l d M a n g a | 253
ding Japanese Animation, vor allem in den ersten zwei Kapiteln; Levi 1996: 1–31; siehe auch das Interview mit Christina Plaka in diesem Band. 6 Auf Japanisch: Naruto, Wan Piisu bzw. Yūgiō. 7 Kidō Senshi Gundam, Ā Megami-sama und Ranma Nibun-no-Ichi. 8 Beruseruku, Herushingu und Kozure Ōkami. In fast allen Fällen behalten deutsche MangaÜbersetzungen die Titel der englischsprachigen Ausgaben bei. 9 Alle drei Verlage erweiterten ihr Angebot zusätzlich um koreanische Manhwa und chinesische Manhua. 10 Der Titel ist eine Kombination der englischen Wörter dragon und magic. 11 Ursprünglich Burīchi, Desu Nōto und Keroro Gunsō. 12 Tokyopop verlegte unter anderem Detta Zimmermanns Iscel (2006–2007), Natalie Wormsbechers Summer Rain (2007), Anna Hollmanns Stupid Story (2008–2012) und Wormsbechers Life Tree’s Guardian (2009–2011); EMA publizierte etwa Mon-Star Attack (2004–2005) von DuO (das sind Dorota Grabarczyk und Olga Andryienko), Lenka Buschovás Freaky Angel (2005), Alexandra Völkers Catwalk (2006), DuOs Indépendent (2006–2007) und Diana Liesaus’ Musouka (2007–2009); und Carlsen veröffentlichte zum Beispiel Nina Werners Jibun-Jishin (2006), Detta Zimmermanns Tarito Fairytale (2006), Nam Nguyen und Tran Nguyens Delilah’s Mystery (2006), Stella Brandners Idol (2008) und Todernst (2008), Marika Pauls Turnover (2008), Melanie Schobers Personal Paradise (2008–2011), Tina Lindhorsts Chouchin (2009), Michael Waaler und Nadine Büttners A Kiss from the Dark (2010–2011) und Evelyne Böschs Feed Me Poison (2012). Diese Liste ist keineswegs vollständig. 13 In den USA hingegen sind Manga sogar auf dem Höhepunkt des Erfolgs nie über 30% des Marktes gestiegen (vgl. Malone 2011: 63). 14 Freilich gibt es auch Gegenströmungen: Robert Labs ist etwa in den Schoß der Manga-Familie zurückgekehrt, diesmal bei Tokyopop, mit seiner elegant gezeichneten Grusel-Serie Domicile (Labs 2009).
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ANIME IST NICHT GLEICH ANIME Zur a mbi va l e nt e n Rezeption japanischer Z eich ent ri c k pro duk t i o ne n i n De ut s chland am Beis piel v on M i ya z a k i Ha ya o s » C hi hi ro s Reise ins Zauberland« Stephan Köhn
Zwi sc he n Tri vi a lität und Hochkultur Pünktlich zum 150-jährigen Bestehen der japanisch-deutschen Beziehungen zeigte die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn vom 29.7.2011 bis zum 8.1.2012 die Ausstellung Anime! High Art – Pop Culture. Dabei handelte es sich zwar streng genommen – wie auch der nur leicht revidierte Ausstellungskatalog Ga-Netchū verdeutlicht – um eine modifizierte Neuauflage des gleichnamigen Ausstellungskonzeptes, das vom 27.2.2008 bis zum 3.8.2008 bereits im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt a. M. zu sehen war. Doch während mit dem Deutschen Filmmuseum als Ausstellungsraum japanische Anime noch als Teil der gegenwärtigen Populärkultur in Szene gesetzt wurden, bedeutete die spätere Präsentation der Ausstellung in der Bundeskunsthalle eine klare Einordnung in den Bereich der Hochkultur – und dies mit all seinen Konsequenzen. Die bereits durch den Ausstellungstitel angedeutete Äquivalenz bzw. Synthese von High und Low ist dabei doppelt problematisch. Einerseits verschleiert dieser »Ritterschlag« zur Hochkultur, dass hinter dieser harmlos erscheinenden Aufwertung von Low zu High meist fragwürdige (akademische) Akteure mit zweifelhaften Motivationen sitzen (vgl. Hügel 2010 u. Zahlten 2008). Andererseits suggeriert sie – bedingt durch den institutionellen Rahmen des Kunstmuseums in Deutschland mit seinem sehr rigiden und eng gefassten Kunstbegriff (vgl. Hieber/Moebius 2008) – gleichzeitig auch eine gewisse Homogenität des Anime, die zu einer sehr undifferenzierten Betrachtung sowohl der Produzenten- als auch der Rezipientenseite verleitet. Denn weder ist am Anime alles, wie auch in den verschiedenen Besprechungen dieser Ausstellung vielfach behauptet, wirklich weltweit erfolgreich, noch ist Anime gleich Anime. An i m e i st n i c h t g l e i c h A n i m e | 259
Maßgeblich erleichtert wurde und wird die Aufnahme des japanischen Anime in die hehre Sphäre der hohen musealen Kultur – sowohl für die Kuratoren als auch sicherlich für das Gros der Besucher und Kunstkritiker – durch das filmische Werk des erfolgreichen Regisseurs Miyazaki Hayao (*1941). Miyazaki wird oft in einem Atemzug mit Walt Disney genannt und in Personenkult-orientierten Darstellungen gerne auch als »God of Anime« – in Anlehnung an den viel zitierten »God of Manga�������������������������������������������������������������������� «������������������������������������������������������������������� Tezuka Osamu (1928–89) – bezeichnet (vgl. z. B. Brooks 2005). Deshalb scheint er – begünstigt vor allem durch die Verleihung des Goldenen Bären auf der 52. Berlinale für den besten Beitrag im Jahr 2002 und des Academy Award auf der 75. Oscar-Verleihung für den besten Animationsfilm im Jahr 2003 – geradezu prädestiniert für den erforderlichen Brückenschlag von Low nach High. Zahlreiche Publikationen zu Werk und Person sind in Amerika und Europa erschienen, in denen die Filme einerseits als Glanzlichter der japanischen Animationskunst gepriesen und andererseits als tiefster Ausdruck einer als traditionell empfundenen Japanizität interpretiert werden (vgl. z. B. Nieder 2006: 13–20). Das Gros der AutorInnen verfügt nicht über Kenntnisse der japanischen Sprache, und vorhandene japanologische Fachpublikationen zu Anime und Miyazaki werden in der Regel nicht konsultiert. Wie auch Jaqueline Berndt treffend feststellt (vgl. Berndt 2008: 52), führt dies dazu, dass diese Werke ein bestimmtes Wissen generieren und immer wieder reproduzieren, das vor allem durch exotisierende Simplifizierungen, kulturelle Überhöhungen und Verweise auf das Traditionelle gekennzeichnet ist. Doch auch in Japan fand und findet Miyazaki Hayao – wenn auch von anderen Akteuren, unter anderen Vorzeichen und aus anderen Motivationsgründen – besondere Beachtung. So nimmt es nicht weiter wunder, dass die internationale Anerkennung seines filmischen Schaffens als längst überfällige Bestätigung für das kulturelle und wirtschaftliche Potenzial der japanischen Kreativindustrie (kontentsu sangyō) große Beachtung erfährt. Dies wird sehr deutlich in der Rede des damaligen Außenministers Asō Tarō anlässlich der Eröffnung der Digital Hollywood University in Tokyo im Jahr 2006, in der er den Anspruch verfolgt, die gegenwärtige japanische Kultur in die Welt zu tragen und dadurch längerfristig einen stabilen Absatzmarkt für alle weiteren, nicht-popkulturellen Produkte made in Japan zu schaffen. Auch hier nimmt – wie nahezu paradigmatisch für die ganze Kampagne – Miyazaki Hayaos internationale Anerkennung eine Schlüsselrolle für das nationalkulturelle Selbstverständnis ein: »Miyazaki Hayao hat den Beweis erbringen können, dass die von japanischen Künstlern geschaffenen, hochklassigen [Real]filme und Animationsfilme […] mit Leichtigkeit kulturelle und sprachliche Barrieren zu überwinden im Stande sind. Mit seinem ›Chihiros Reise ins Zauberland‹ hat er eindrucksvoll die sich vom Monotheismus unterscheidende, 260 | St e pha n Köh n
ganz spezifisch polytheistische Welt einzufangen vermocht, wie sie sich zum Beispiel in der shintōistischen Vorstellung von Verschmutzung und Reinigung zeigt. Damit neue japanische Filmemacher und Animationskünstler entdeckt werden und die Nachfolge von Miyazaki Hayao antreten können, möchte ich einen eigenen [Nachwuchs]preis für sie ins Leben rufen. Als Animationskulturbotschafter sollen dann ihre Werke mittels unserer Botschaften und Generalkonsulate allen Menschen in der Welt zugänglich gemacht werden.« (Asō 2008)
Für das hier intendierte Nation Branding (kokka burando) ist sowohl der nationale Rekurs auf kulturelle Wurzeln als auch der hohe künstlerische Grad anscheinend von entscheidender Bedeutung. Die bewusste Ausklammerung des der Populärkultur immer inhärenten Trivialen und die gezielte Fokussierung auf den gesellschaftlich sanktionierten, jedoch nicht wirklich repräsentativen Aspekt des Hochkulturellen dient in erster Linie dazu, Anime aus dem Bereich der Sub- und Jugendkultur herauszulösen und dadurch einer breiten Öffentlichkeit als kommod erscheinen zu lassen. Es kann also beruhigt werden: Nicht das Triviale der japanischen Populärkultur hält letztlich Einzug in die Hochkultur, sondern der japanischen Populärkultur in Form von Anime war und ist das Hochkulturelle stets immanent gewesen (vgl. Deutsche Welle 2011). Doch wird man mit dieser Überstilisierung und Homogenisierung dem globalen Phänomen Anime tatsächlich gerecht?
Auf a nde re Art e be n ty pisch Japanis ch Entgegen ideologischer Rekurse auf die Hochkultur des Mittelalters (vgl. Takahata 1999 oder Grajdian 2008) oder fataler Reduktionen auf die Nachkriegszeit (vgl. Bichler 2004) beginnt die Geschichte des Animationsfilms in Japan vor etwas mehr als neunzig Jahren. Die wohl bereits in dem Zeitraum 1910–14 in Japan aufgeführten euro-amerikanischen Zeichentrickfilme, wie z. B. James Stuart Blacktons Humorous Phases of Funny Faces (1906) oder Émile Cohls Fantasmagorie (1908), die sich unter dem neuen Sammelbegriff für ausländische Animationen, ������������ »����������� Neues Lausbubenmalbuch« (dekobō shingachō), bald großer Beliebtheit erfreuten, inspirierten auch japanische Filmstudios wie Nikkatsu oder Tenkatsu – ursprünglich spezialisiert auf Historien- (jidaigeki) bzw. Gesellschaftsdramen (gendaigeki) –, ähnliche Werke bei renommierten japanischen Karikaturisten in Auftrag zu geben, um so in diesen lukrativen Markt einzusteigen (vgl. Miyao 2002: 195–198). So entstanden bereits 1917, nur knapp 20 Jahre nach Erscheinen des ersten japanischen Schwarzweißfilms, nahezu zeitgleich die ersten einheimischen Produktionen: Shimokawa Ōtens (1892–1973) »Imokawa Mukuzō: Der Torwächter« (Imokawa Mukuzō genkanban no maki), Kitayama Seitarōs (1888–1945) »AffenAn i m e i st n i c h t g l e i c h A n i m e | 261
Krabben-Krieg« (Sarukani gassen) und Kōuchi Jun’ichis (1886–1972) »Haniwa Hekonai: Das berühmte Schwert« (Haniwa Hekonai meitō no maki). Das große Kantō-Erdbeben des Jahres 1923 vernichtete jedoch fast vollständig das damalige Filmmaterial, so dass bis auf Titel und Angaben zur Produktionsweise dieser frühen Formen der in Abgrenzung nun als »Strichlinienfilme« (senga eiga) bezeichneten einheimischen Produktionen recht wenig bekannt ist. Darüber hinaus musste auch das einzige, seit 1921 auf Zeichentrickfilm (für den Unterhaltungsund Schulbereich) spezialisierte Studio, das Kitayama eiga seisakujo, seine Arbeit wieder einstellen (vgl. Yamaguchi 2004: 44–49 u. Tsugata 2004: 83–97). Mit einer neuen Generation an Künstlern wie Yamamoto Sanae (1898–1981), Murata Yasuji (1896–1966) oder Ōfuji Noburō (1900–61), die größtenteils bei einem der drei genannten Pioniere zuvor Erfahrungen sammeln konnten, begann ab Mitte der 1920er Jahre die erste wirkliche Blütezeit des Zeichentrickfilms in Japan. Zahlreiche neue Produktionsstätten wurden gegründet und eine Fülle neuer Filme entstand. Auffällig ist hierbei zum einen, dass bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt die japanische Regierung (Lehr-)Filme (sog. kokusaku) bei den einzelnen Produktionsfirmen in Auftrag gab (vgl. Miyao 2002: 203–204), und zum anderen, dass dabei eine Vielzahl an traditionellen Techniken wie Papercut-, Clayoder Silhouetten-Animation zum Einsatz kamen. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil sich bereits Mitte der 1920er Jahre weltweit – zumindest im kommerziellen Bereich – die Cel-Animation als Standardtechnik durchgesetzt hatte, bei der durch die Trennung von Hintergrund- und Figurenebene mittels unterschiedlicher Filmfolien ganz neue Wege der Produktion und Darstellung gegangen werden konnten (vgl. auch Tsugata 2005: 51–55). Während jedoch westliche Avantgardekünstler wie Hans Richter, Oscar Fischinger, Walter Ruttmann oder Lotte Reiniger aus stilistischen Gründen bewusst auf die Cel-Animation verzichteten, waren es in Japan vor allem finanzielle Gründe, welche die Animatoren wohl oder übel traditionell erscheinen lassen mussten. Erst ab den 1930er Jahren setzte sich – trotz eines kurzen ideologischen Rückfalls zu Beginn des chinesisch-japanischen Krieges 1937 gegen diese allzu »������ ������� amerikanische« Technik – allmählich die Cel-Animation auch in Japan durch. Vor allem die zahlreichen, mit hohem Finanzvolumen versehenen Auftragsarbeiten von Seiten der Regierung für mobilisierende Propagandafilme, für die nach dem Einmarsch in die Mandschurei 1931 ein immer größerer Bedarf herrschte, ermöglichten den Animatoren erstmalig den Einsatz kostspieliger Techniken und dadurch das Austesten neuer Erzählweisen (vgl. Fū 2010: 36–38). Diese Produkte wurden nun als »Bewegtes Bild« (dōga) nach der 1937 gegründeten Produktionsstätte Nihon dōga kyōkai bzw. als »Manga-Film« (manga eiga) nach der 1941 gegründeten Unterabteilung Manga eigabu der Firma Shōchiku bezeichnet. 262 | St e pha n Köh n
So entstanden neben mehreren kürzeren Verfilmungen bekannter Manga wie »Gefreiter Norakuro« (Norakuro nitōhei, 1935) von Tagawa Suihō oder »Abenteurer Dankichi« (Bōken Dankichi, o. A.) von Shimada Keizō vor allem unter Regisseuren wie Seo Mitsuyo (1911–2010) eine Reihe propagandistischer Filme im mittleren und langen Spielfilmformat, wie »���������������������� ����������������������� Momotar��������������� ō�������������� s Fliegerstaffel« (Momotarō no umiwashi, 1943) oder »Momotarō und die Gotteskrieger des Meeres« (Momotarō umi no shinpei, 1944/45), die neben ihrer hohen (d. h. Disneyesken) Bildqualität vor allem mittels neuer Kameratechnik die herkömmliche bildliche Flächigkeit des Zweidimensionalen aufbrachen und eine gewisse Raumtiefe in die Zeichnungen brachten (vgl. auch Berndt 2008: 62–66 u. Miyao 2002: 204–205). Nachdem in der Nachkriegszeit die Versuche der Alliierten, durch Gründung der Shin Nihon dōgasha ehemalige Animatoren zur Produktion demokratischerbaulicher Filme zu mobilisieren, bereits 1947 kläglich gescheitert waren, bildeten sich in Japan zunächst kleinere Produktionsstätten (z. B. Nihon dōga), bevor dann 1956 mit der Gründung der Zeichentrickabteilung des Filmproduzenten Tōei die Produktion von animierten Filmen im großen Stil betrieben werden konnte. T�������������������������������������������������������������������������� ō������������������������������������������������������������������������� ei d��������������������������������������������������������������������� ō�������������������������������������������������������������������� ga übernahm die von Disney eingeführte Arbeitsteilung und veröffentlichte 1958 Japans ersten großen Nachkriegsspielfilm »Die Legende der weißen Schlange« (Hakujaden). Dieser Film von Yabushita Yasuji (1903–86) musste mit 12 gegenüber mind. 18 Bildern pro Sekunde bei Disney zwar hinter seinem großen Vorbild zurückbleiben, war aber wegweisend für die weitere Entwicklung in Japan, da man sich hier erstmalig von den apodiktischen Stereotypen kindlicher oder tierischer Charaktere im Stile Disneys löste (vgl. Yamaguchi 2004: 64–69 u. Kanō 2004: 188–192). Während sich Tōei dōga auf die jährliche Produktion eines abendfüllenden Kinofilmes konzentrierte, gründete der Manga-Zeichner Tezuka Osamu, der 1960 bei der Tōei-Produktion »Die Reise in den Westen« (Saiyūki) beteiligt war, 1961 seine eigene Firma Mushi Production und machte sich an die animierte Umsetzung seines in der Zeitschrift »Jungen« (Shōnen) serialisierten Manga »Astro Boy« (Tetsuwan Atomu), die ab 1963 beim Fernsehsender Fuji terebi wöchentlich ausgestrahlt wurde. Die Serie »Astro Boy« war dabei gleich in mehrerer Hinsicht wegweisend für die weitere Entwicklung in Japan. Denn erstens führt sie zur grundlegenden Aufspaltung in einen Kino- und einen Fernsehmarkt, zu dem sich ab den 1980er Jahren dann noch der Video-Markt (OVA) etablieren sollte. Zweitens markiert sie das enge Tie-up mit der Manga-Industrie, d. h. die Adaption eines erfolgreichen Manga wird mehr oder minder der Regelfall für die Produktion eines Anime. Und drittens führt sie, bedingt durch den geringen Etat (trotz externer Sponsoren!), zur Ausbildung ganz eigener Darstellungsmittel, bei der die Not zur Tugend werden sollte. An i m e i st n i c h t g l e i c h A n i m e | 263
D.h., da produktions- und zeittechnisch nicht mehr als 2000 Bilder pro Woche herstellbar waren, waren selbst in bewegungsreichen Sequenzen acht Bilder pro Sekunde das Maximum. In einigen Fällen wurde die Szene zur Steigerung der Dramatik einfach einige Sekunden ganz eingefroren, die Mundbewegungen wurden auf drei Standardeinstellungen reduziert, ganze Bewegungsabläufe wurden flächendeckend recycelt, und mit einer flexiblen Kameraführung wurde Dynamik bei ein und demselben statischen Bild suggeriert (vgl. Tsugata 2004: 138–149 u. ders. 2005: 118–163). Diese Form der Limited Animation hat sich zwar als die Produktionsweise etablieren können, doch ist dies keine – wie gerne in verschiedenen Arbeiten behauptet – auf die Tradition der Bildrollen, des Kabuki oder gar des ZenBuddhismus rekurrierende Form der Japanizität (vgl. z. B. Glaubitz 2008: 75–76), sondern, wie Jaqueline Berndt (2008: 59) treffend formuliert, eine in erster Linie ökonomisch basierte Japanizität, an der kein Weg vorbei führte. Diese Erschließung des Fernsehsegmentes bedeutete zwar nicht einfach nur die Eröffnung eines neuen lukrativen Marktes, sondern vor allem auch einen grundlegend neuen Weg in der visuellen Umsetzung der Geschichten. Doch das allgemeine gesellschaftliche Ansehen und der Erfolg des Zeichentrickfilms in Japan änderten sich nachhaltig erst in der zweiten Hälfe der 1970er Jahre mit dem eher überraschenden Erfolg der zum Kinofilm zusammengeschnittenen, zuvor im Fernsehen recht erfolglos ausgestrahlten Serie »Intergalaktisches Schlachtschiff Yamato« (Uchū senkan Yamato, 1974), die auf Matsumoto Reijis erfolgreich serialisiertem Manga basierte. Statt des herkömmlichen Labels dōga bzw. manga eiga begann man fortan auch die inländischen Produktionen mit dem Terminus anime (Abk. von engl. animation) zu bezeichnen, den man bislang nur für qualitativ höher erachtete ausländische Produktionen verwendet hatte. Die in erster Linie produktionsbedingte Andersheit japanischer Fernsehproduktionen war auch dafür verantwortlich, dass sich in amerikanischen Subkulturen in den 1980er Jahren zur wertfreien Distinktion von euro-amerikanischen Produktionen (animation) die Bezeichnung Japanimation als Label kurzfristig etablierte, bis sie dann spätestens seit den 90ern von dem kulturell nun klar markierten, aus Japan importierten Terminus anime endgültig wieder verdrängt wurde (vgl. McKevitt 2010: 896–897). In Japan hingegen fand stattdessen Mitte der 90er Jahre im Zuge einer allgemeinen nationalen Selbstaffirmation der reimportierte Terminus Japanimation ebenfalls zur Kennzeichnung indiger japanischer Produktionen kurzzeitig Anwendung, wie auch die gleichnamige August-Sondernummer der Zeitschrift Eureka im Jahre 1996 eindrucksvoll zeigt. Dies geschah aber ironischerweise in einer Zeit, in der sich mit erfolgreichen Produktionen wie Anno Hideakis »Neon Genesis Evangelion« (Shinseiki Evangerion, 1995–96) oder Oshii Mamorus »Ghost in the Shell« (Kōkaku kidōtai, 1995) auf dem Fernseh- und Kinosektor 264 | St e pha n Köh n
ein entscheidender Paradigmenwechsel bezüglich der Erzählweise und Darstellungsform in der japanischen Welt des anime abzuzeichnen schien (vgl. Oshii/Itō/ Ueno 2006 u. Azuma 1996). Inzwischen sind Anime längst wieder zu anime zurückgekehrt, diesmal jedoch nicht mehr als Abkürzung, sondern als eigenständiges Label (vgl. auch Gan 2009) – für den affirmativen Blick von Außen besteht nun keine Notwendigkeit mehr, zumindest vorerst einmal.
Zwi sc he n Hö he nf l üge n im Ferns ehen und be sc hwe rl i chen Reis en ins Kino Japanische Zeichentrickproduktionen haben, wie in den letzten Jahren mehrfach hervorgehoben (vgl. z. B. Dolle-Weinkauff 2008 oder Göhlen 2008), bereits Anfang der 1970er Jahre als kostengünstige Alternativen zu amerikanischen Produkten Einzug ins deutsche Fernsehen gehalten. Serien wie »�������������������� ��������������������� Wickie und die starken Männer« (Chīsana baikingu Bikke, 1974–75), »Die Biene Maja« (Mitsubachi Māya no bōken, 1976–77; 79–80), »Pinocchio« (Pinokio yori Pikorīno no bōken, 1977–78) oder »Heidi« (Arupusu no shōjo Haiji, 1977–78) liefen unerkannt als Anime im deutschen Fernsehen, ohne dass in dieser Zeit jemand bei den von Schlager- oder Volksmusikstars wie Karel Gott oder Gitti und Erika musikalisch begleiteten Bilderfluten eine japanische Handschrift vermutet hätte. Diese und etliche andere Serien wurden so als Koproduktion oder Lizenzankäufe im deutschen Fernsehen als »Zeichentrickserien« für Kinder ausgestrahlt (vgl. Göhlen 2008: 238–239), bis dann mit der Verbreitung privatrechtlicher Fernsehsender ein grundlegender Wandel hinsichtlich Quantität und Qualität (in Bezug auf die adressierte Zielgruppe) einsetzte. Viva, MTV, VOX, RTL 2 oder Tele 5 zeigten nun in verschiedenen Programmsegmenten Serien, die nun zunehmend auch mit ihrem japanischen Ursprung wahrgenommen wurden. Mit den Serien »Sailor Moon« (Bishōjo senshi Sērāmūn, 1995–98), ����������������������������� »���������������������������� Pokémon��������������������� «�������������������� (1999ff.) und ����� »���� Dragonball« (Doragonbōru, 1999–2000) wurde dann der endgültige Anime-Hype in Deutschland ausgelöst. Anime wurden nun auch tatsächlich als japanische Anime konsumiert. Sie sicherten sich mit hohen Einschaltquoten einen festen Sitz in der hiesigen Fernsehlandschaft, wurden und werden zudem seit 2007 auf dem von Sony mitbetriebenen Pay-TV-Sender Animax rund um die Uhr ausgestrahlt und waren die Wegbereiter für die Etablierung des Manga im hiesigen Comicmarkt (vgl. auch Dolle-Weinkauff 2008: 215–216). Im Gegensatz zum Fernsehmarkt empfing die deutsche Kinolandschaft den Anime jedoch mit weit weniger offenen Armen. Filme wie Ōtomo Katsuhiros An i m e i st n i c h t g l e i c h A n i m e | 265
Akira (1991), der auf der gleichnamigen Serialisierung in der Zeitschrift Young Magazine (1982–90) basiert, oder der bereits erwähnte Ghost in the Shell von Oshii Mamoru liefen, trotz heutigem Kultstatus in der Anime-Community, selten länger als eine Woche im Kino unter �������������������������������������������������� »������������������������������������������������� ferner liefen������������������������������������ «����������������������������������� und erregten weder an den Kinokassen noch in den Filmrezensionen große Begeisterung. Als der eingangs erwähnte »God of Anime«, Miyazaki Hayao, mit seinem neuesten Werk »Chihiros Reise in Zauberland« (Sen to Chihiro no kamikakushi, 2001) bei der 52. Berlinale 2002 an den Start ging, hielt sich die cineastische Begeisterung, wie Ekkehard Knörer anschaulich schildert, doch sehr in Grenzen: »Die Kritiker wenigstens schienen dem Werk wenig Verständnis oder Interesse entgegen zu bringen; in ungewöhnlich großer Zahl verließen sie die Pressevorführung, der Applaus blieb spärlich. Eine beinahe peinliche Angelegenheit war dann die Pressekonferenz, auf der allerdings nur der Produzent des Films anwesend war – eine Grußbotschaft Miyazakis wurde über Video eingespielt. Keine zwanzig Leute verloren sich im sonst so dicht gedrängten Rund, ein großer Teil davon japanische Korrespondenten.« (Knörer 2002)
Durch die überraschende Preisverleihung entstand dann letztlich doch die Notwendigkeit, sich in der einen oder anderen Weise zu diesem Film äußern zu müssen. In beispielsweise zwölf auch heute noch abrufbaren Artikeln (vgl. hierzu Bendias 2008) wurden daraufhin dem Film größtenteils Fantasie- und Detailreichtum sowie visuelle Virtuosität konstatiert, Parallelen zu »Alice im Wunderland« oder japanischen Computerspielen gezogen (vgl. För 2002), Assoziationen zu den Knuddelmonstern aus der Muppet-Show geäußert (vgl. Balzer 2002) oder das ganze Antiquiert-Technokratische des Zauberlands als eine Art Filmzitat zu Fritz Langs Metropolis gesehen (vgl. Tilmann 2002). Dennoch schien die Tatsache, dass es sich hierbei nur um einen Zeichentrickfilm handelte, den Film von vorneherein zu diskreditieren. So sprach das Hamburger Abendblatt (Barbara Möller 2002) davon, dass Murphy’s Law bei der irrwitzigen Jury-Entscheidung wohl zugeschlagen habe, der Tagesspiegel (Schulz-Ojala 2002) sprach von einer »Provokation« sowie »einem Schlag ins Gesicht« für erwachsene Themen und reale Schauspieler und der Blickpunkt Film (TS) meinte sogar: »Warum man diese Antwort auf ›Alice im Wunderland‹ allerdings mit einem goldenen Bären auszeichnen musste, gibt ähnlich viele Rätsel auf wie der etwas wahllos fabulierende Film selbst. Tatsächlich wäre ein Sonderpreis, etwa für die technische Leistung oder künstlerische Vision, allemal genug gewesen, um Miyazakis Fiebertraum mit brachial angetackerter Umweltbotschaft hinreichend zu würdigen. [Die Filmhandlung] hält man, je nach Dispo-
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sition, für einen Triumph unendlicher Fantasie über die Erzählkonvention oder einfach nur für absurden Quatsch […].« (TS 2002)
Als »Chihiros Reise ins Zauberland« dann rund 18 Monate später, am 19. Juni 2003, in die deutschen Kinos kam, lag nun auch die Oscar-Verleihung im Frühjahr 2003 dazwischen, wo der Film als bester Animationsfilm ausgezeichnet worden war. Die zweite und größere Rezensionswelle, die daraufhin zu beobachten war, ging entsprechend positiver an den Film heran. Neben virtuoser Visualität gesellten sich darin Detailreichtum und Komplexität der Handlung zu den viel zitierten positiven Merkmalen des Filmes. Zudem wurde die Konkurrenzfähigkeit zu bzw. Überlegenheit gegenüber den Produktionen aus dem Hause Disney betont, wobei nicht verschwiegen werden soll, dass zahlreiche Rezensionen die verschiedenen Auszeichnungen sowie den Kassenerfolg in Japan als bis dahin erfolgreichster Film aller Zeiten mit mehr als 20 Millionen zahlenden Zuschauern (vgl. Kanō 2006: 247) quasi alibihalber in einem Atemzug gleich mit erwähnten. Neu ist nun jedoch das Rekurrieren auf das typisch »Japanische« des Films, das dazu dienen soll, die ambivalente Resonanz während der Berlinale nachträglich zu erklären und mögliche strukturelle bzw. inhaltliche Schwachpunkte des Films aufgrund anders kodierter kultureller Referenzpunkte zu entschuldigen. D. h. die viel kritisierte Unverständlichkeit resultiert nach Aussage einiger Rezensenten in erster Linie aus einem Unvermögen auf Seiten der Rezipienten zu wahrer interkultureller Kommunikation mit dem fremd-exotischen Anderen: nämlich Japan. So schreibt z. B. Kerstin Schmidt-Denter auf Japan-Link: »Ein weiterer Grund für die eher laue Resonanz auf der Berlinale mag darin bestehen, dass der Film doch einfach zu japanisch ist. Sen verbeugt sich nach japanischer Manier, niedliche kleine Wesen reisen eine Weile auf ihrer Schulter mit, und die zahlreichen Gottheiten haben so gar nichts mit dem Christentum zu schaffen. Im Shintoismus […] ist die gesamte belebte Natur von Göttern beseelt – daran lehnt Miyazaki seine Figuren deutlich an.« (SchmidtDenter 2003)
Die meisten der verwendeten kulturellen Zuschreibungsverfahren erfolgen dabei über die Erklärungsmatrix des vermeintlich traditionell Religiösen. Das klischeehaft ������������������������������������������������������������������������������ »����������������������������������������������������������������������������� innige����������������������������������������������������������������������� «���������������������������������������������������������������������� Verhältnis der Japaner zur Natur, das sich als eine fingierte Kulturkonstante inzwischen durch ganze kulturwissenschaftliche Bibliotheken zieht, und des mit ihr verbundenen Götterpantheons sind der Grund, warum – so auch Thomas Willmann bei artechock – Miyazaki sich traue, das eigentlich »nur lokal Verständliche zu feiern« und schonungslos zur Grundlage seiner Filme zu machen, während seine westlichen Kollegen »nur allzu oft das Kulturerbe plündern, um An i m e i st n i c h t g l e i c h A n i m e | 267
es an sich zu reißen und zu globalisieren, die Eigenheiten deutscher Märchen oder chinesischer Legenden nur als exotische Würz-Prise nutzen.« (Willmann 2003). Auch in der westlichsprachigen wissenschaftlichen Community hat sich die Vorstellung einer religiös basierten Japanizität in Miyazakis Film als attraktive Interpretationsfolie dieses Films schnell etablieren können (vgl. auch aktuell Kimle 2010). So schreibt beispielsweise Lucy Wright im Journal of Religion and Popular Culture: »Miyazaki is cinematically practicing the ancient form of Shinto, which emphasised an intuitive continuity with the natural world […] His work transforms and reinvigorates the tenets of Shinto.��������������������������������������� «�������������������������������������� (Wright ������������������������������������� 2005). Yamanaka Hiroshi relativiert in dem 2008 erschienenen Band Japanese Visual Culture zwar wie folgt über die Darstellung verschiedener shintōistischer Götter in dem Film: »[they] are no longer awe-inspiring cultic figures worshipped in a specific locality and tied to a set of ritual practices and symbol systems, but have devolved into secularized, humorous characters consumed for mass entertainment« (Yamanaka 2008: 252). Doch allein die bloße Tatsache, dass vermeintliche Shintō-Elemente im Film zu sehen sind, wird bereits als Indiz dafür gesehen, dass, wie auch Yoshioka Shiro in demselben Band an späterer Stelle zu konstatieren weiß, Miyazaki »[is] adopting this style to emphasize the rich diversity that makes up traditional Japanese culture« und »to establish a link between contemporary and traditional Japanese culture.« (Yoshioka 2008: 256). Ob buddhistisches Nicht-Denken (mushin; vgl. Bigelow 2009) oder shintōistische Unbeflecktheit (makoto no kokoro; vgl. Boyd/Nishimura 2004) – Miyazaki Hayaos »Chihiros Reise ins Zauberland« ist in der westlichen Wahrnehmung zu einem Extrakt japanischer Kultur per se geworden, der sich fest in den Rezeptionsdiskurs um Werk und Künstler eingeschrieben hat. Miyazaki erzählt in »Chihiros Reise ins Zauberland« die Geschichte des Mädchens Chihiro, das, nachdem seine Eltern in einer Art Parallelwelt – dem Zauberland aus dem deutschen Filmtitel – in Schweine verwandelt worden sind, in einem von der Hexe Yubāba geführten Badehaus zu arbeiten beginnt. Unter dem Namen Sen, dem ersten der beiden Schriftzeichen ihres Namens Chihiro, bewirkt das Mädchen von dort aus letztlich nicht nur die Erlösung ihrer Eltern, sondern auch die ihres tatkräftigen Helfers Haku. Der Regisseur wurde im Gros der japanischen Kritiken zwar für das Filmsetting – ein nostalgische Gefühle weckendes Badehaus – gelobt, nicht jedoch für seine visuelle Umsetzung, wie dies in zahlreichen westlichsprachigen Rezensionen der Fall war (vgl. Kanō 2006: 254–257). Entgegen dem seit längerem anhaltenden Trend in Amerika (und in letzter Zeit auch vereinzelt in Europa), Zeichentrickfilme ganz als 2-D- oder 3-D-Computeranimation – teilweise sogar basierend auf motion captures, mittels derer Bewegungssequenzen von Realschauspielern aufgenommen und anschließend in den animierten Charakter überführt werden – zu produzieren, setzt Miyazaki hier auf die klassische 268 | St e pha n Köh n
Cel-Animation als grundlegende Technik. Die Anzahl der Bilder pro Sekunde liegt aufgrund des hohen Budgets hier zwar mit durchschnittlich 15 (vgl. Kanō 2006: 221) deutlich höher als bei normalen japanischen Fernsehproduktionen, doch bleiben die meist handgezeichneten Figuren – wie typisch für den Anime – flächig, zweidimensional. Dieser Eindruck wird zudem durch die Nachdigitalisierung der Hintergründe verstärkt, da die Darstellungen nun durch das erhöhte Farbspektrum und die extrem hohe Bildauflösung des Computers eine äußerst realitätsnahe, dreidimensionale Raumtiefe gewinnen und den Kontrast zu den Figuren dadurch um so deutlicher zu Tage treten lassen – die Figuren gleiten quasi durch die verschiedenen Schichten der Cels und verdeutlichen damit bewusst die Materialität des Mediums (vgl. auch Lamarre 2002: 333–342). Obwohl eine Nachdigitalisierung der figürlichen Bewegungssequenzen zweifelsohne machbar gewesen wäre, lässt Miyazaki sie – quasi als Markenzeichen – bewusst handmade und somit typisch »japanisch« im Sinne der Limited Animation erscheinen; doch hatte gerade dieser Kontrast von high- und lowtech in Japan zu heftiger Kritik geführt. Dies war sicherlich auch einer der Gründe zu dem back to the roots im visuell eher archaisch anmutenden »Ponyo – das große Abenteuer auf dem Meer« (Gake no ue no Ponyo) des Jahres 2008. Während Rezensionen im euro-amerikanischen Raum die Vielschichtigkeit der narrativen Elemente und der verschiedenen Erzählstränge zwar an einigen Stellen als schwer verständlich bezeichnet, aber letztlich doch als kulturelle japanische Besonderheit verklärt haben (vgl. hierzu Bendias 2008), sehen japanische, durch die medialen Erzählkonventionen vorkonditionierte Rezensenten hier ein deutliches Manko des Filmes (vgl. Kanō 2006: 255–256). Tatsächlich stellt die Kinofassung eine um ca. eine Stunde verkürzte Version des Protofilms dar. Dies führt dazu, dass zahlreiche Charaktere, die zunächst in der ersten Hälfte des Filmes – d. h. der fast schon epische Breite annehmenden Exposition des Films – eine sehr dominante Rolle spielen, wie beispielsweise die Angestellte Lin, die sich wie eine große Schwester um Sen kümmert, in der zweiten Hälfte des Filmes fast gar nicht mehr zu sehen sind. Dagegen mutiert der eigentlich nur als Randfigur eingeführte Charakter des Kaonashi – in der deutschen Fassung als Ohngesicht bezeichnet –, eine Figur, die laut Miyazaki erst zu einem relativ späten Zeitpunkt der Produktion entwickelt worden ist, um den stagnierenden Plot des Films doch noch zu einem Abschluss bringen zu können, plötzlich zum narrativen Katalysator, der mit seinem Amoklauf im Badehaus binnen weniger Erzählminuten die Handlung eher unvermittelt zu ihrem ganz und gar unkathartischen Showdown kommen lässt (vgl. auch Miyazaki 2008: 244–245). Verantwortlich dafür ist vor allem – wie auch die Dokumentation »������� �������� Die Arbeitsweise der Profis: Miyazaki Hayao« (Purofesshonaru – shigoto no ryūgi: Miya An i m e i st n i c h t g l e i c h A n i m e | 269
zaki Hayao) vom 27.03.2007 im staatlichen Sender NHK verdeutlicht hat – Miya zakis eigenwilliger Produktionsstil. Denn nicht nur wird mit der Realisierung des Films bereits weit vor Fertigstellung des zugrunde liegenden Skripts, d. h. vor Festlegen der Storyline, begonnen, sondern Miyazaki ordnet auch gezielt die Handlung – trotz gängiger verklärender Interpretationsansätze (vgl. Bigelow 2009: 68) – bestimmten Figuren und Effekten unter, von denen er sich eine hohe Akzeptanz beim Publikum verspricht, was wiederum die starke Präsenz von narrativ unrelevanten Charakteren mit hohem Niedlichkeitsfaktor im Film (ähnlich wie bei den großen Disney-Produktionen) erklärt. Die Vielsträngigkeit und Szenenhaftigkeit sind somit weder typisch japanisch noch anime-esk, sondern in erster Linie künstlerischer Individualität geschuldet, der es bei diesem Film, wie Kiridōshi Risaku (2001: 322–324) zu Recht bemerkt, vor allem um eine Aneinanderreihung von Szenen ging, die handwerkliches Können unter Beweis stellen. In rein motivischer Hinsicht stellt der Film eine äußerst bunte Assemblage dar. So wie die Konzeption, am Anfang ein Mädchen in eine Parallelwelt geraten und am Ende wieder glücklich in die Menschenwelt zurückkehren zu lassen, deutlich an Carolls »Alice im Wunderland« angelehnt ist, so stellt der fatale Pakt zwischen Haku und der Hexe Yubāba, der letztlich durch Sen wieder aufgehoben wird, eine vom Autor mehrfach erwähnte Modifikation des Krabat-Motivs von Otfried Preußler dar (vgl. Miyazaki 2008: 253–273). Während sich somit auf der motivischen Ebene vor allem Elemente finden, die in ganz unterschiedlichen Kulturen als neutrale Erzählfunktionen fungieren können, scheint die kulturelle Zuschreibung auf der visuellen Ebene nur wenig Spielraum zu erlauben. Als Gegenkonstrukt zur werkinternen »realen« Welt von Chihiro, die in ihren insgesamt 5:30 Minuten zahlreiche Marker des modernen japanischen Lebens aufweist, offenbart die durch einen verwunschenen, tunnelartigen Toreingang erreichbare Parallelwelt ein ganzes Arsenal unterschiedlichster Epochen, angefangen von der Zeitlosigkeit shintōesk anmutender Steinfiguren und Götterwesen über historistische Bekleidung und Schminke der Angestellten bis hin zum Architekturmix des Badehauses. Aufschlussreich erscheint hierbei der Kommentar von Chihiros Vater beim Betreten dieser Parallelwelt, dass dies die Reste eines nach dem Platzen der Spekulationsblase geschlossenen Themenparks seien (00:06:12–00:06:26). Denn gleich einem Themenpark stellt auch die von Miya zaki entworfene Welt eine Fiktionalisierung des vermeintlich historisch Japanischen dar. Die Frage der Authentizität der in diesem nostalgiebeladenen »Blick zurück« zum Einsatz kommenden Mittel ist dabei für die japanischen Zuschauer nebensächlich, da die primäre Funktion in der Evozierung einer verloren geglaubten gemeinsamen kulturellen Vergangenheit liegt – unabhängig davon, ob es diese in dieser oder irgendeiner anderen Form tatsächlich einmal gegeben hat. Und mit 270 | St e pha n Köh n
den beiden Elementen Badehaus und Götter-/Geisterensemble korreliert der Film geschickt mit dem seit längerem in Japan anhaltenden, nostalgischen Geister- und Kurort-Boom, bei dem ebenfalls ein Stück verloren geglaubter japanischer Kultur reaktiviert werden soll. Entscheidend ist aber hierbei, dass der Film nicht das »traditionell Japanische« in Form von Shintōismus oder Buddhismus als solches thematisiert, wie in vielen westlichsprachigen Beiträgen zu lesen, sondern sich lediglich bestimmter Versatzstücke bedient, um einen attraktiven Rahmen der Parallelwelt zu schaffen, der bei den Zuschauern vor allem Gefühle von Nostalgie (natsukashisa) und seelischer Linderung (iyashi) hervorruft. Denn für die Bewältigung von Sens bzw. Chihiros Aufgabe, die Erlösung ihrer Eltern, sind diese »japanischen« Versatzstücke in narratologischer Hinsicht völlig austauschbar. Die prinzipielle kulturelle Transferierbarkeit des Films wird zudem durch den für Miyazaki typischen Einsatz leicht verständlicher Symbole und Botschaften verstärkt, was möglicherweise aber ein Zugeständnis an das anvisierte Familienzielpublikum darstellt. Ob nun Yubāba als reiche, überfürsorgliche Mutter und ihr Riesenbaby Bō als Inbegriff des infantilen Hotel-Mama-Typs, oder Chihiros Eltern als Sinnbild einer sich selbst überschätzenden, egomanen, neuen Mittelschicht, deren einziger Lebensinhalt in Statussymbolen und Konsumwahn zu bestehen scheint, oder Kaonashi als Verkörperung einer aus Sinnentleerung und sozialer Isolation resultierenden, blinden Gier nach Anerkennung und Zuneigung – die Miyazaki-Welt arbeitet mit Tropen, die – zumindest in Industriegesellschaften – problemlos übertragbar und transnational verständlich sein müssten. Dennoch war Chihiros zauberhafte Reise ins deutsche Kino, wie oben skizziert, nicht nur eine äußerst irritierende und beschwerliche, sondern letztlich auch eine wenig erfolgreiche. Seit Kinostart am 19.06.2003 zählte der Film trotz Bär und Oscar nur rund 450.000 Zuschauer in Deutschland, während im selben Jahr die Pixar-Produktion »Findet Nemo« (Finding Nemo, 2003) alleine am ersten Wochenende mehr als 2,5 Millionen Zuschauer bundesweit ins Kino lockte und im Verlauf der ersten zehn Wochen sogar auf insgesamt 8 Millionen Zuschauer kam. Im Vergleich zu den in Deutschland gezeigten euroamerikanischen Computeranimationen wäre Chihiro abgeschlagen auf Platz 60 gelandet und den späteren Miya zaki-Produktionen »Das wandelnde Schloss« (Hauru no ugoku shiro, 2004) und »Ponyo – das große Abenteuer am Meer« (Gake no ue no Ponyo, 2008), die bezeichnenderweise erst mit ein bzw. zwei Jahren Verspätung in die deutschen Kinos kamen, wäre kein besseres Schicksal gewährt gewesen (vgl. Zahlen und Statistiken auf insidekino.de). Sind also Anime doch nicht so angesagt in Deutschland?
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A n g e k o mme n – a be r wo ? Die Frage nach der »Nipponspiration«, d. h. des Grades der Durchdringung von japanischer Populärkultur im gegenwärtigen deutschen Lebensalltag, bedarf sicherlich, zumindest was den japanischen Anime anbelangt, einer differenzierten Betrachtungsweise. Denn Miyazaki Hayao, der, wie beispielsweise auch die eingangs erwähnte Rede von Asō Tarō gezeigt hat, meist als Gipfel japanischer Anime-Kunst und -kultur erachtet wird, blieb und bleibt der große Erfolg im deutschen Kino – Oscar hin, Bär her – verwehrt. Dass sich der überwältigende Erfolg an Japans Kinokassen, der vor allem auch den extensiven, bis zu einem Jahr vor Erstaufführung bereits einsetzenden Werbekampagnen in den landesweiten Convenience-StoreKetten etc. geschuldet ist und deshalb selbst unter einheimischen Anime-Produktionen eine völlige Ausnahme darstellt (vgl. Kanō 2006: 245–248 u. Ōtsuka/Ōsawa 2005: 197–213), nicht auf Deutschland übertragen werden kann, liegt dabei nicht nur an der bereits besprochenen vermeintlichen Schwerverständlichkeit der japanischen Kultur oder gar an dem geringen Ansehen von Animationsfilmen (im Gegensatz zu Realfilmproduktionen) in Deutschland im allgemeinen, wie Nemo, Shrek und Co. eindrucksvoll mit ihren Box-Office-Zahlen widerlegen. Vielmehr scheint die Rezeption von Anime, wie auch die Fülle der derzeit in der deutschen Fernsehlandschaft ausgestrahlten Anime-Serien verdeutlicht, bislang noch auf den Bereich der Jugend- und Subkultur beschränkt zu sein, deren Rezeption sich in erster Linie in den eigenen vier Wänden abspielt. Während somit in der breiten Bevölkerungsschicht zwar der nipponspirierte Japan-Hype ausgeblieben ist, hat in der akademischen Auseinandersetzung mit dem Anime die »Nipponspiration« mit einer völlig anderen Bedeutung längst Einzug gehalten. Imamura Taiheis bereits 1941 veröffentlichter und in der Nachkriegszeit neu aufgelegter »Zeichentrickfilmdiskurs« (Manga eiga ron) mit seinem Rekurs auf die visuelle Erzähltradition mittelalterlicher Bildrollen, bei denen mittels einer nahtlosen Aneinanderreihung von Text und Bildelementen erzählerische Sequenzialität erzeugt wird, hat eine Interpretation japanischer Populärkultur ermöglicht, nach der das Populärkulturelle immer schon das Hochkulturelle inhärent hatte (vgl. Imamura 1992). Diese ahistorische Genealogisierung des Anime erweist sich dabei augenscheinlich als so attraktiv, dass sich im Gros der westlichsprachigen wissenschaftlichen Arbeiten zum japanischen Anime – wobei hier bezeichnenderweise meist Miyazaki Hayao als Synekdoche für den Anime als solchen steht – genau diese nationalkulturellen Zuschreibungen in unreflektierter Weise wieder finden lassen (vgl. Grajdian 2008: 34 oder Napier 2000: 5). Populärkultur in Form von Anime wird nun in einem ideologischen Sinne nipponspiriert kulturell deutbar, kulturell verankerbar. 272 | St e pha n Köh n
Miyazaki Hayao, der »���������������������������������������������������� ����������������������������������������������������� God of Anime���������������������������������������� «��������������������������������������� , distanziert sich selber bemerkenswerterweise klar und deutlich vom Label Anime, unter das er in der Regel subsumiert wird. Obwohl er an der figürlichen Flächigkeit und der Betonung der räumlichen Schichtung bei den Cels, die typisch für den (Fernseh-)Anime sind, gezielt festhält (vgl. Lamarre 2009: 26–44), sieht sich Miyazaki mit seinem Schaffen in der Tradition der frühen, Disneyesken Tōei-Produktionen der Nachkriegszeit, weshalb die eigenen Produktionen auch nicht als anime, sondern als (manga) eiga bezeichnet werden (vgl. Miyazaki 2008: 81–84). Gerade diese gezielte Distanzierung vom Anime konterkariert nicht nur die Vereinnahmungsbestrebungen von staatlicher oder akademischer Seite, die ihn als repräsentativen Teil der Anime-Kultur sehen, sondern wirft gleichzeitig auch wieder die Frage nach Wesen und Substanz des japanischen Anime als solchem auf. Japanische Anime sind in Deutschland nur in Form von Fernsehserien und DVD-Releases wirklich angekommen. Im Sinne einer neuen »Nipponspiration« bleiben sie vornehmlich auf den Bereich einer Fernseh- und DVD-rezipierenden und -konsumierenden Jugend- und Subkultur beschränkt. Gerade weil sich dieser Teil der japanischen Populärkultur einer Absorption durch die Hochkultur – zumindest bis jetzt – erfolgreich verweigert hat, sind hier die Freiräume für Aneignung, Modifikation und kreative Transformation erst entstanden. Und in diesen Freiräumen ist es gerade das Mangaeske des Anime, die semiotische Kodiertheit und Verfremdung der Darstellung, gegen die sich Miyazaki mit seiner Grenzziehung manga eiga vs. anime richtet, die den kreativen, ludischen Umgang für die Rezipienten möglich macht. Nicht aufgrund einer vermeintlichen »Staaten- und Geruchlosigkeit« sind Anime in der hiesigen Jugend- und Subkultur angekommen (vgl. Iwabuchi 2002 und Lu 2008), sondern gerade aufgrund ihrer unleugbaren Erkennbarkeit als japanische Produktion. Inwieweit sich nun aber dieses Simulakrum Japan im Bereich der Anime-Rezeption tatsächlich als nachhaltig erweisen und den in der eingangs erwähnten Ausstellung in Bonn euphemistisch anvisierten Sprung aus der Jugendund Subkultur in die Mitte der Gesellschaft und der deutschen Kinokultur tatsächlich einmal schaffen wird, bleibt mehr als abzuwarten. Oscars und Bären reichen auf jeden Fall nicht, um eine ähnliche Begeisterungswelle auszulösen, wie dies Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Holzschnitten (ukiyo-e) in Europa der Fall war. Der Weg von Low zu High ist ein mühsamerer und gänzlich anderer als der von High zu Low.
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IMAGINÄRE HEIMAT JAPAN Aut o r/ i nne n vo n Ani me -Fa n fiction leben Japan Stephanie Klasen
Einleitung »Kon’nichi wa! Also ich mag Wölfe, wie mein Nickname schon zeigt (okami = japanisch für Wolf 狼), Japan, die Sprache, japanisches Essen, japanische Kleidung (hab auch einen Kimono im Schrank) und vor allem Mangas, ich lese zudem sehr gerne und sehr viele Fantasybücher. Zusätzlich lerne ich japanisch und bin mittlerweile im dritten Semester.« Okami961, Fanfiction-Autorin »Ich interessiere mich für Anime, Manga, japanische Videospiele, japanisches Essen, japanische Music, japanische Kultur, die japanische Sprache … Oh, habe ich schon Japan erwähnt? XD« Nenilein, Fanfiction-Autorin2
Wenn man in Düsseldorf den alljährlichen Japan-Tag besucht, ist man plötzlich umgeben von allerlei phantastischen Figuren, flauschigen Fellmonstern, Maids und Mädchen in japanischen Schuluniformen. Cosplayer (der Begriff steht für »Costume Play«) nutzen den Japan-Tag schon seit den frühen 2000er Jahren als Plattform zur Zurschaustellung ihrer Kostüme, die zu einem großen Teil auf Mangaund Animefiguren basieren, und zum Treffen von Gleichgesinnten. Auch andere Fans der japanischen Populärkultur strömen zum Japan-Tag, dessen Veranstalter sich mit Manga-Wettbewerb, Popkultur-Zone und Auftritten von J-Popbands auf diese Klientel längst eingestellt haben. Man könnte auf die Idee kommen, Japan sei ein einziges quietschbuntes Wunderland. Japan und die japanische Populärkultur scheinen hier eins zu sein. Welche Rolle spielen Japan bzw. der japanische Ursprung für die Fans von Anime und Manga aber tatsächlich? Ist Japan bloß ein exotisches Setting oder besteht ein tiefergehendes Interesse für die japanische Kultur? Seit den Anfängen von Anime- und Manga-Fandoms im Westen sind einige Jahrzehnte vergangen und das Internet hat die Art und Weise revolutioniert, in der I m a g i n ä r e H e i m a t J a p a n | 279
Fans miteinander interagieren können. Anime-Fans, die Anfang der 1990er Jahre noch eine kleine, weit verstreute Minderheit darstellten, können sich nun online vernetzen und mit Gleichgesinnten austauschen. Über Blogs, Foren und Twitter können Fans an der Fangemeinschaft teilhaben, ohne dass beispielsweise eine Initiation durch Insider nötig wäre, wie es in früheren Fan-Communities der Fall war. Zwar gibt es auch bei internetbasierten Fan-Communities Hierarchien unter den Fans, aber die Zugänglichkeit der Informationen ist höher und die technischen Hemmnisse der Teilhabe sind niedriger als früher. Auf Fanfiktion.de, einem deutschen Online-Archiv für Fanfiction, beispielsweise kann jeder alle Fanfictions einsehen und reviewen, jeder kann ein Profil erstellen und Geschichten veröffentlichen. Dies hat auch Auswirkungen in der Form eines sinkenden Altersdurchschnitts von Fans, die in ihrem jeweiligen Fandom3 aktiv werden. Und aktiv ist hier das Schlüsselwort, denn auch in der Forschung – hier ist besonders Henry Jenkins einflussreiche Studie Textual Poachers von 1992 zu nennen – hat man sich vom Bild des Fans als passivem Konsumenten dessen, was ihm vorgesetzt wird, abgewendet und betrachtet den Fan nun als »prosumer«, der sich auch künstlerisch mit seinem Lieblingswerk oder seinen Lieblingsfiguren auseinandersetzt.4 Zu diesen Praktiken zählt bei Anime- und Manga-Fans nicht nur – wie man vielleicht denken könnte – das Zeichnen von Manga (entweder eigene Stories und Figuren oder dōjinshi, d. h. AmateurManga, die von Fans unter Bezug auf eine bestehende Vorlage gezeichnet werden) oder Cosplay. Auch das Verfassen von Fanfiction gehört in diese Kategorie. Fanfiction, das sind nicht-kommerzielle, von Fans verfasste Erzählungen, die auf einem bereits vorhandenen Werk (Film, Serie, Comic oder Buch) beruhen und sich seiner Figuren oder Welt bedienen. Die enge Verbindung zwischen Animeund Manga-Fangemeinschaften zeigt sich allein schon an der großen Anzahl von Fanfictions, die zu Anime- und Manga-Vorlagen online veröffentlicht werden. Auf der Webseite Fanfiktion.de, dem größten deutschsprachigen Fanfiction-Portal, ist die Kategorie Anime/Manga bereits seit der Entstehung der Seite im April 2004 vorhanden.5 Inzwischen finden sich unter dieser Kategorie über 54 500 Einträge (Fanfiktion.de, Stand: 20.06.2012), mehr als zu Büchern (ca. 49 000)6 oder (realverfilmten) TV-Serien (ca. 24 000). Im Folgenden soll dieses Genre im Mittelpunkt stehen und insbesondere die Frage, welche Rolle Japan im weitesten Sinne für die Autor/innen von Fanfiction zu Anime und Manga spielt. Untersucht werden soll nicht in erster Linie, ob Manga und Anime als japanisch empfunden werden und was daran als japanisch empfunden wird, sondern zu welchem Zweck japanische Elemente in den Fanfictions tatsächlich herangezogen werden bzw. wie »Japan« und Elemente der japanischen Populärkultur auf den Nutzerprofilen und in den Fanfictions argumentativ gebraucht werden. 280 | St e pha nie Kla s e n
Sheenagh Pugh zitiert einen Fanfiction-Autor aus ihrem Bekanntenkreis zu den zwei grundlegenden Motivationen für das Schreiben von Fanfiction: »[…] people wrote fanfic because they wanted either ›more of‹ their source material or ›more from‹ it« (Pugh 2005: 19). Entweder können sie also gar nicht genug von ihrer Lieblingsserie bekommen und wollen immer mehr vom gleichen, oder sie sind unzufrieden mit einem bestimmten Aspekt des Ursprungsmaterials und schreiben eigene Versionen, die ihre Wünsche verwirklichen. Vielleicht wird den Figuren so im Nachhinein ein Happy End gegönnt, vielleicht verlief eine Liebesbeziehung in dem Buch, der Serie oder dem Film nicht so wie gewünscht, vielleicht fehlt es an der Thematisierung von zwischenmenschlichen Beziehungen oder an starken, interessanten Frauenfiguren. Sie können dabei entweder an den Lücken und Brüchen der Originalgeschichte ansetzen oder auch die gesamte Geschichte umschreiben, sich der vorhandenen Figuren bedienen oder auch neue dazu erfinden und sich sogar selbst hineinschreiben.7 Zwei weitere Motivationen für das Schreiben von Fanfiction haben ChandlerOlcott und Mahar (2003) im Rahmen einer Studie zum Nutzen von digitalen Medien zur Entwicklung der Lese- und Schreibfähigkeit von Jugendlichen festgestellt. Erstens wird das Schreiben als vergnüglich und als Stressabbau gesehen – eine Flucht aus dem langweiligen Alltag. Zweitens hat das Fanfiction-Schreiben eine sehr starke soziale Komponente: Durch das Schreiben und gegenseitige Lesen von Fanfictions können Freundschaften, sowohl online als auch offline, aufgebaut und gestärkt werden (Chandler-Olcott/Mahar 2003: 560). Wenn Fans Geschichten zu ihren Lieblingsanime- oder Mangaserien schreiben, dann machen sie diese zu ihren eigenen und können so ihre Wünsche und auch andere Bedürfnisse verwirklichen. Anhand der Untersuchung von Fanfiction zu Anime und Manga kann daher gleich zwei Fragen nachgegangen werden. Erstens: Welche Bedürfnisse der Jugendlichen werden durch diese Texte befriedigt? Und warum wählen sie dafür Manga- und Anime-Serien als Thema aus? Dies ist auch die Frage danach, worin für sie die Faszination der japanischen Populärkultur begründet liegt. Aufschluss darüber sollen die Nutzerprofile der Autor/innen geben sowie Fanfictions, in denen Japan thematisiert wird. Zur besseren Einordnung wird zunächst die Entwicklung von (Anime-/Manga-)Fanfiction im Zusammenhang mit dem weltweiten und dem deutschen Boom der japanischen Populärkultur nachverfolgt. Dies soll erste Erkenntnisse darüber liefern, wer wie und warum Anime-/MangaFanfiction schreibt. Im nächsten Abschnitt wird dies durch die Auswertung der Nutzerprofile weiter vertieft werden. In einem zweiten Schritt werden Fanfictions untersucht, in denen das Motiv der Japanreise herangezogen wird, um eine Begegnung der Figuren mit Japan zu thematisieren. I m a g i n ä r e H e i m a t J a p a n | 281
D ie E n twi c k l ung vo n Ani me -Ma nga -Fanfiction in D eu ts chl a nd i n Ve rbi ndung mi t de m Japan-Boom »[Patchiri] m a g / / Lavi × Süßigkeiten × Eistee × Plüschies × Yaoi × Musik × Visual Kei × Japan × Cosplay × Hello Kitty × Katzen × Taschenuhren × Animexx × Wärme × Farben × Reisen × Bücher × Kunst × Liebe × Conventions × ihre Freunde × Messengers × lange Briefe/E-Mails × Sich« Patchiri, Fanfiction-Autor/-in
Ab Ende der 90er Jahre kann man von einem Boom der japanischen Populärkultur im Westen sprechen. Manzenreiter sieht als Ursprung des Booms subkulturelle Gruppen, die sich auf japanische Populärkultur konzentrierten und sich über das Internet vernetzen konnten (Manzenreiter 2007: 8–9). Erste Anime-Fans gab es aber schon früher. In den USA wurde das Aufkommen von organisierten Animeund Manga-Fans im Zusammenhang mit der Entstehung von Science-Fiction/ Fantasy-Conventions und -Clubs in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren beobachtet (vgl. Patten 2004, zitiert nach Black 2008: 6). Ende der 1990er steigt die Popularität von Manga und Anime plötzlich rapide an. Dies ist in Deutschland erkennbar an der Zahl der Manga-Übersetzungen, der Gründung von Anime- und Manga-Fanclubs und ersten Conventions. Um 2002– 2003 wird die japanische Populärkultur zum Massenphänomen der Jugendkultur in Deutschland. Der Düsseldorfer Japan-Tag beispielsweise wird unter Mitgliedern der Cosplay-Community bekannt als eine Gelegenheit (neben zahlreichen Conventions), andere Cosplayer zu treffen. Nitta Seigo will um diese Zeit auch den Beginn der zweiten Phase des Manga-Booms in Deutschland erkennen. Es sei der Beginn des »Manga made in Germany«, gleichzeitig aber auch eine Phase, in der paradoxerweise die ersten Zeitschriften wegen mangelnder Nachfrage wieder eingestellt werden (Nitta 2008: 149). Fanfiction gibt es, sagen manche, schon solange es Literatur gibt, vielleicht auch schon länger – zumindest, wenn man es nicht von anderen derivativen Textformen getrennt betrachtet (Derecho 2006: 62, 66). Vor der Erfindung geistigen Eigentums, der Idee des Copyrights, war es eine gängige Praxis, sich auf vorhergegangene Werke zu beziehen und sie zu kommentieren, indem man sie beispielsweise parodistisch umschrieb. Auch Shakespeare bediente sich für seine Stücke aus allen möglichen Vorlagen. Und man denke nur an Sherlock Holmes, der sich schon zu Arthur Conan Doyles Lebzeiten der Kontrolle seines Schöpfers entzog und den seine Fans einfach nicht sterben lassen wollen.8 Fanfiction im engeren Sinne begann jedoch mit Geschichten in Science-Fiction-Magazinen der 1930er Jahre und dann richtig 282 | St e pha nie Kla s e n
mit dem Auftauchen der »Trekkies«, Fans der Science-Fiction-Serie Star Trek, in den 1960er Jahren (Pugh 2005: 14–19). Fanfiction als Genre hat eine eigene Entwicklung durchlaufen, die als Fankultur Parallelen mit der Anime- und Manga-Fankultur im Westen aufweist. Busse und Hellekson beobachteten, dass die Organisation von Fans, egal ob von Anime oder realverfilmten Fernsehserien, mit der Entwicklung der Informationstechnologie zusammenhängt. Meist wird die jeweils billigste Technologie gewählt, von Fotokopien über Mailing-Listen zu Internetblogs und Online-Portalen. Mit der Zugänglichkeit der Medien veränderte sich auch die Altersstruktur der Fans. Wenn der Dialog mit anderen Fans beispielsweise nur auf Conventions über eine Initiation durch erfahrenere Fans möglich ist, kann nicht jeder gleichberechtigt teilhaben. Die Online-Portale, über die Gleichgesinnte heute kommunizieren und auf denen sie ihre eigenen Werke präsentieren können, ob es sich nun um Manga, Fotos von Cosplay-Kostümen oder Fanfiction handelt, haben keine Zugangsbeschränkung, keine Barrieren, die überwunden werden müssen, um als Künstler oder Autor aufzutreten. Dies ist sicher ein Grund, warum heute schon sehr junge Fans aktiv werden können. (Busse/ Hellekson 2006: 13). Die ersten Untersuchungen, die ab Ende der 80er Jahre zu Fanfiction veröffentlicht wurden, identifizierten vor allem erwachsene Frauen in ihren dreißiger Jahren als Verfasserinnen von Fanfiction. Überwiegend waren diese Frauen sehr gut gebildet und verfügten über die nötigen technischen Fähigkeiten, um die Listserver zu betreiben, die meist über leistungsstarke Universitätsserver liefen (Coppa 2006: 53). Eine ähnliche Entwicklung ist auch bei Anime- und Manga-Fans im Allgemeinen zu beobachten: Napier stellte in ihren Untersuchungen über Anime-Fans zu Beginn fest, dass überwiegend männliche Fans in den verschiedenen Gruppen vertreten waren (zwischen 76 und 85%; Napier 2006: 63). Black (2008) beschreibt den früheren typischen (amerikanischen) Fan japanischer Populärkultur als männlich und über 30-jährig, während inzwischen eine große Anzahl von Jungen und Mädchen im Schulalter hinzugekommen sei (vgl. Black 2008: 7). In den beiden Bereichen Fanfiction und Anime-Manga-Fandom findet sich also heute eine deutlich jüngere Klientel wieder als dies vor 15 Jahren der Fall war. Zudem ist das Anime-Fanfiction-Fandom eindeutig weiblich dominiert.9 Die von mir untersuchten Texte und Nutzerprofile10 auf der Seite Fanfiktion.de stammten überwiegend von jungen Mädchen und jungen Frauen im Alter von 12 bis 31 Jahren. Abbildung 1 zeigt die Altersverteilung der Nutzer nach dem in den Profilen angegebenen Geschlecht.11 Es wird deutlich, dass die Fanfiction-Autorinnen deutlich überwiegen. Nur 14 von 200 gesichteten Profilen stammten von gleichaltrigen jungen Männern (14 bis 28 Jahre). Der Altersdurchschnitt in dem I m a g i n ä r e H e i m a t J a p a n | 283
1 Diese Grafik verdeutlicht die alters- und geschlechtss pezifische Verteilung der Profile von Anime-Fans auf Fanfiktion.de.
untersuchten Feld bestätigt zudem die These, dass Anime- bzw. Manga-FanfictionAutor/-innen deutlich jünger sind als früher. Es ist jedoch anzunehmen, dass der Wandel der Teilnehmer sich in verschiedenen Fandoms verschieden stark auswirkt – je nachdem, welche Altersgruppe das Ursprungsmedium vor allem rezipiert. Fan-Aktivitäten rund um Anime und Manga lassen sich grob in drei Kategorien unterteilen: 1. Aktivitäten, die der Verbreitung dieser japanischen Medien dienen, z. B. durch die Anfertigung von nicht-kommerziellen Untertiteln für Anime- oder japanische Fernsehserien (fansubs) oder Übersetzungen von Manga (scanlations), 2. kreativere Ausdrucksformen wie dōjinshi, Fan Art oder Fanfiction und 3. den Austausch mit anderen Fans (vgl. Black 2008: 6). Die Begeisterung für Anime scheint auch auf andere Aspekte der japanischen (Populär)-Kultur übertragen zu werden. Die Webseite Animexx.de schließt ausdrücklich die Beschäftigung mit japanischer Kultur im Allgemeinen mit ein und begrüßt die Besucher auf der Startseite mit folgendem Statement: »Animexx.de ist ein Onlineclub, der allen Freunden von Anime, Manga und japanischer Kultur offen steht.« Animexx.de bietet Fans zahlreiche Möglichkeiten sich auszuleben. Als Unterseiten gibt es u. a. die Kategorien: Fanart, Fanfictions, Dōjinshi und Online Manga, Cosplay-Fotos und Basteleien. Die Fans können also in verschiedensten Formen kreativ tätig werden und ihre Werke präsentieren. 284 | St e pha nie Kla s e n
Obwohl sie auf der Hauptseite als Fanfictions zu Anime bezeichnet werden, finden sich im Archiv neben Anime- und Manga-Fanfiction und Fanfiction über J-Pop und J-Rock-Bands sogar Beiträge zu Mangakas und Conventions, aber auch zahlreiche Werke zu westlichen Comics, Romanen (auch hier sind Harry Potter und die Bis(s)-Reihe gut vertreten) und verschiedenen nicht-japanischen Musikgruppen. Dass die Seiten oft genre- und medienübergreifend sind, spiegelt die Interessen der Fans wider. Wie oben erwähnt gibt es auf der Webseite Fanfiktion.de ebenfalls Anime- und Manga-Fanfiction. Dass die Anime- und Manga-Fanfiction alle anderen Genres zahlenmäßig übersteigt ist insofern bemerkenswert, als die Geburtsstunde von Fanfiction im engeren Sinne mit der Entwicklung von Fangemeinschaften zu TV-Serien verbunden wird. Es hat also im Vergleich zu den Anfangszeiten der Fanfiction ein Wandel stattgefunden, der sich auf den mittlerweile deutlich jüngeren Altersdurchschnitt von Fanfiction-Autor/-innen zurückführen lässt.
Ja pa n a ls »grand narrativ e« »Ich bin ein Manga und Anime Freak, und nerve meine Freunde damit zu Tode. Außerdem zeichne ich liebend gern und, auf die Gefahr hin, eingebildet zu klingen, sagen wir, akzeptabel. Cosplayerin bin ich auch, da ich mich bemühe, alle Otaku12-Aktivitäten wie Cosplay, Anime Marathons […] und Mangas zeichnen, ab zu decken.« Ima-Chan, Fanfiction-Autorin, 12 Jahre
Die Japanbegeisterung, die in vielen der in diesem Aufsatz genannten Zitate zum Ausdruck kommt, könnte vermuten lassen, dass der japanische Ursprung die Attraktivität von Manga, Anime usw. mit ausmacht. Charles Fliss, der die Interaktionen und Entwicklung der amerikanischen Fan-Gemeinschaft der fan-subber betrachtete, stellte die These auf, dass hinter den Diskussionen der Fans um originalgetreue oder an die amerikanische Kultur angepasste Untertitel und Synchronisationen eine Vorstellung von einem »reinen«, ursprünglichen Japan steht, das es zu verstehen gilt (Fliss 2012: 72). Diese hinter den Äußerungen liegende Idee von Japan bezeichnet Fliss unter Bezug auf Ōtsuka Eiji und Azuma Hiroki als »grand narrative« (Fliss 2012: 72). Der japanische Autor Ōtsuka Eiji stellte in den 1980er Jahren eine Theorie auf, die das Konsumverhalten von japanischen Otaku folgendermaßen erklärte: Die Otaku konsumieren zahlreiche small narratives, die beispielsweise aus diversen Merchandising-Produkten zu einer bestimmten AnimeSerie, Episoden dieser Serie oder Adaptionen des Stoffes bestehen können. Die einzelnen small narratives konstruieren die grand narrative, der man sich durch die I m a g i n ä r e H e i m a t J a p a n | 285
Inbesitznahme diverser Bruchstücke annähern kann. Ōtsuka beschreibt die grand narrative auch als »worldview«, worunter die Gesamtheit aller Details, die z. B. zur Welt einer Serie oder eines Films bekannt sind, fällt. Charles Fliss hält diesen Erklärungsansatz auch im Falle der amerikanischen Fansubber für schlüssig. Nur sei es bei diesen nicht eine einzelne Serie, oder auch nur ein bestimmtes Genre, es sei vielmehr eine Vorstellung von Japan, die konstruiert werde und der man sich anzunähern versuche. Die Otaku als Fans sind aber nicht bloße Konsumenten, sie können, wenn sie den Code verstanden haben, nach dem small narratives konstruiert werden, auch selber zu Produzenten von eigenen small narratives werden, die ihrerseits auch Einfluss auf die grand narrative haben können. Der Kritiker Azuma Hiroki hat Ōtsukas Erklärungsversuch für die postmoderne Gesellschaft weiterentwickelt. Er stellt die These auf, dass in der postmodernen Konsumgesellschaft die ›großen Erzählungen‹ immer mehr wegfallen, wobei er unter »grand narrative« etwas anderes versteht als Ōtsuka, nämlich Konzepte wie Nation oder Religion. An der Stelle, an der bei Ōtsuka noch die grand narrative bzw. worldview stand, sieht Azuma eine Datenbank, die sich aus den verschiedenen Bestandteilen kleiner Erzählungen zusammensetzt und aus der der Konsument, hier der Otaku, einen Sinn generiert. Die verschiedenen small narratives, also die verschiedenen Anime und Manga, bilden die Oberfläche, welche die Otaku wahrnehmen. Die small narratives werden von ihnen in ihre Bestandteile zerlegt, z. B. Plot, Setting, Figuren, und diese Elemente werden wieder zum Teil der Datenbank, aus der alle möglichen small narratives neu zusammengesetzt werden können. Einen umfassenderen Erklärungszusammenhang wie eine grand narrative gibt es dann nicht mehr. Charles Fliss kombiniert Ōtsukas und Azumas Thesen und geht davon aus, dass die amerikanischen Fans aus den japanischen ›Artefakten‹ auf eine dahinterstehende große Erzählung schließen, die für sie das »authentische« Japan ist: »pure Japan« (Fliss 2012: 2). Tatsächlich sei das, was sie als das reine Japan verstehen, aber eine stark orientalistisch geprägte Sicht auf Japan. Es sei nur die Datenbank, die aber aus der Perspektive einer grand narrative, dem Orientalismus, interpretiert werde. »Through the surface small narratives American fans thereby view the database, but the database they view is colored by Orientalism – in this case a belief in a grand auteur of ›Japan‹.« (ebd.: 72)
In der Gemeinschaft der Fansubber gebe es Elite-Fans, die ihre Version des »reinen Japan« gegenüber anderen Fans oder auch Außenseitern durchsetzen können (ebd.: 3). Fan-subbing setzt im Gegensatz zu manch anderen Fanaktivitäten gewisse 286 | St e pha nie Kla s e n
technische und sprachliche Ressourcen voraus. Hier konnte sich eine Elite, die eine bestimmte Vision von Japan kontrolliert, viel eher bilden als dies im Bereich Fanfiction anzunehmen ist. Ob es auch in den deutschen Fanfictions ein solches JapanLeitbild gibt, wird im Folgenden anhand von Nutzerprofilen und ausgewählten Fanfictions genauer betrachtet.
Ana l yse der Nutzerprofile: Ange he nde Sc hri ftsteller und Otakus So individuell wie die Fans und ihre Motivationen sind, so vielfältig sind auch ihre Internetauftritte. Ziel dieser Betrachtung ist es nicht, generalisierende Aussagen zu treffen, die erkl���������������������������������������������������������������� ä��������������������������������������������������������������� ren sollen, wie Anime-Fans sind, sondern welche Argumentationsmuster der Fans in Bezug auf Japan sich auf den Profilseiten finden lassen. Im Fokus steht dabei, welche Bezüge zu Japan und zur japanischen Populärkultur hergestellt werden und welche unterschiedlichen Motive sich für die Partizipation als Fanfiction-Schreiber an einem Anime-/Manga-Fandom herauslesen lassen.13 Autoren und Leser können auf Fanfiktion.de ein Nutzerprofil erstellen, wenn sie sich anmelden und können dieses verschieden ausgestalten. Folgende Felder sind dort vorhanden: Vorname, Nachname, Wohnort, Land, Geschlecht, Geburtsdatum, Homepage, ICQ-Nummer, Profilbild und ein Textfeld für weitere Informationen zur Person. Es ist auch möglich, einzelne Felder leer zu lassen. Dementsprechend variiert die Länge und Ausschmückung der Profile von wenigen Sätzen zu elaborierten, vielteiligen Selbstdarstellungen, deren Inhalt eher realitätsnah oder offensichtlich fiktiv sein kann. Viele Nutzer verzichten darauf, allzu genaue persönliche Angaben zu machen oder ein echtes Foto von sich einzustellen. Die Profile unterliegen einem starken Wandel und können immer wieder aktualisiert und neu ausgeschmückt werden. Um den Aufbau und die inhaltliche Gestaltung der untersuchten Nutzerprofile besser nachvollziehen zu können, werden zwei Profile exemplarisch ausführlicher beschrieben. Im Anschluss werden die analysierten Profile insgesamt zusammengefasst und analysiert.
Beispiel 1: Ryuuk Ryuuk ist seit 2007 auf Fanfiktion.de aktiv. Sie ist laut eigenen Angaben weiblich und um die 20 Jahre alt. Neben Fanfictions zu Mangareihen und allgemeineren Kurzgeschichten finden sich unter Ryuuks Werken auch zwei Haiku-Sammlungen. I m a g i n ä r e H e i m a t J a p a n | 287
Das Profilbild, das Ryuuk benutzt, ist ein Cosplay der Figur L Lawliet aus dem Manga Death Note – genauso wie ihr Profilname sich auf eine weitere Figur aus diesem Manga bezieht. Den Auftakt zu ihrer Selbstpräsentation unter dem Punkt Biographie bildet der Satz: »Watashi wa Ryuuk desu«, also eine Selbstvorstellung auf Japanisch. Vor einer Liste von Lieblingsmanga und Anime betont Ryuuk ihr allgemeines Interesse und ihre Bewunderung für Japan: »Zuerstmal liebe ich Japan. Es ist wirklich ein beeindruckendes Land. Die Sprache, die Schrift, die Kultur. Und Anime und Manga kommen ja auch aus Japan.« Dieses Interesse für Japan bekräftigt sie am Schluss ihrer Selbstvorstellung mit der Absichtserklärung: »Ja, und irgendwann dann besuche ich das Land der aufgehenden Sonne.« Neben japanischen Anime und Manga findet sich unter Ryuuks Interessen eine bunte Mischung aus japanischer und amerikanischer Populärkultur von Charmed und King of Queens über Nirvana bis zur japanischen Visual-Kei-Band MUCC. Durch die Verwendung der ursprünglichen, japanischen Figurennamen (z. B. »Raito« statt Light) und den japanischen Satz zu Anfang macht Ryuuk ihre Insiderkenntnisse deutlich. Ihr Interesse an Anime und Manga hat sich anscheinend auf Japan als Ursprungsland übertragen, wobei man ihre Aussage auch so interpretieren könnte, dass ihre Bewunderung für die japanische Kultur ihre Begeisterung für Manga und Anime begründet hat. Ob sie Anime und Manga tatsächlich als Teil der japanischen Kultur betrachtet oder als unabhängig davon, weil sie Kultur und Populärkultur als verschieden begreift, lässt die Formulierung auch offen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Ryuuks japanbezogene Interessen sich auf ein breites Feld verteilen und mit japanischer Sprache und Haiku nicht nur die gegenwärtige japanische Populärkultur umfassen. Der gemeinsame Fokus all dieser small narratives ist Japan. In ihren Fanfictions thematisiert sie Japan nicht explizit, z. B. als Setting für ihre Geschichten.
Beispiel 2: KamuiSakurai KamuiSakurai (weiblich) ist seit dem Frühjahr 2010 auf Fanfiktion.de aktiv. Sie hat bisher vier Geschichten zu verschiedenen Anime- und Mangaserien verfasst. Die längste ist 17 Kapitel lang. Seit Ende 2011 war sie nicht mehr auf Fanfiktion.de aktiv. KamuiSakurais Profil zeigt ein über die japanische Populärkultur hinausgehendes Interesse an Japan. Wie die meisten der analysierten Nutzer hat KamuiSakurai, die den Angaben der Seite zufolge mit Vornamen Sharina heißt, aus Deutschland kommt und 17 Jahre alt ist, für ihr Profil eine Zeichnung im Mangastil gewählt – in diesem Fall eine Zeichnung von einem etwas aufreizend da liegenden Mädchen. 288 | St e pha nie Kla s e n
Der erste Satz ihrer Selbstdarstellung lautet: »Ich bin ein waschechter Otaku.« (Profil KamuiSakurai). Auf ihrem Profil gibt sie zudem ihre Lieblingsanime- und Mangaserie sowie weitere Hobbies an. KamuiSakurai stellt ihre Familie, ihre zwei Schwestern, vor und betont ihr Interesse an Sprachen. Bisher lernt sie Deutsch, Englisch und Französisch, möchte aber später auch Japanisch lernen. Ihr Interesse an japanischer Populärkultur überträgt sie anscheinend auf Japan im Allgemeinen: »Ich liebe Japan, auch wenn ich noch nicht dort war. Mein Traum ist es einmal in Japan gewesen zu sein und Japanisch sprechen zu können«. Was genau sie an Japan fasziniert, wird durch die Art der Formulierung nicht deutlich. Sie sagt nicht, ihr Traum sei es in Japan zu sein oder dorthin zu reisen, sondern dort »gewesen zu sein«. Dies deutet darauf hin, dass dies genauso eine Kompetenz für einen »waschechten Otaku« ist, wie die japanische Sprache zu beherrschen. Vielleicht aber bedeutet es auch, dass es nicht wirklich um eine Begegnung mit dem realen Japan geht; möglicherweise ist vor allem von Bedeutung, was die Erfahrung in Japan »gewesen zu sein« für den Status in der Anime- und Manga-Fancommunity bedeutet. Auf der anderen Seite gibt es aber auch einige Profile, auf denen der Wunsch geäußert wird, für immer nach Japan zu ziehen. Der Unterschied liegt darin, ob die deutsche Fan-Community in den Mittelpunkt gestellt wird, bzw. die Autorität, die Japanerfahrung oder beispielsweise die Kenntnis der japanischen Sprache einem Mitglied in der Gemeinschaft verleihen können, oder ob die Begegnung mit Japan an sich hervorgehoben wird. Diese auf die Fangemeinschaft bezogene Funktion Japans, so lautet meine These, ist jedoch nicht grundsätzlich verschieden von der Sehnsucht nach einem Leben in Japan, denn letzteres ist auch der Wunsch nach dem Eintauchen in das »Fantasyscape« Japan. Wie Kapitel 5 zeigen wird, steht bei der Begegnung mit diesem imaginären Japan auch immer die Begegnung mit anderen Fans und mit den geliebten Anime- und Manga-Figuren im Mittelpunkt. Beide Funktionen von Japan stehen also in Beziehung zur Community der Fans.
Auswertung Die untersuchten 62 Profile ließen erkennen, dass es für die Fans der japanischen Populärkultur bzw. Japan-Fans selber anscheinend nicht einfach in Worte zu fassen ist, was es denn konkret ist, das sie an Japan so fasziniert. Japan gilt als »cool« (Profil Akasuna no Sasori), »großartig« und »faszinierend« (Profil Hinata555). Die Begeisterung für Japan ist dabei allumfassend. Was an Japan gemocht wird ist nicht weniger als »alles was mit Japan zu tun hat« (Profil Alwena93). Oft wird in Bezug auf Japan auch die Formulierung verwendet: »Ich interessiere mich für so I m a g i n ä r e H e i m a t J a p a n | 289
ziemlich alles was aus Japan kommt« (Profil Branini), wobei als Beispiele meist Aspekte der japanischen Populärkultur genannt werden, wie Anime, Manga, Cosplay, J-Rock und J-Pop, japanische dorama oder Filme, Videospiele oder Visual Kei. BourbonKid führt als Aspekte, die an Japan geliebt werden, folgendes an: Land, Sitten, Geschichte, Sprache und die Menschen. Weitere Punkte, die als positiv genannt werden, sind: Japan als Ursprung von Manga und Anime, die Kultur, Landschaft, das Zeitalter der Samurai, das Essen, Musik, Kleidung und die japanische Schrift. Damit werden zwar die Facetten, die den/die jeweilige(n) Nutzer/in ansprechen, vergleichsweise genauer spezifiziert. Was es aber wirklich ist, das die Attraktivität Japans ausmacht, wird kaum weiter ausgeführt. »Woher die Begeisterung für Japan? – Sie ist einfach da. Plötzlich ergriff sie mich und krallte sich an mich und ließ mich nie wieder los. :3 – … und war im Herzen gefangen … bis zum Ende.« (Profil InsaneOoO)
Die Japanbegeisterung wird hier beschrieben als etwas, das einen überkommt wie eine Krankheit oder Besessenheit. In manchen Profilen wird dies auch mit einem Zustand der Verliebtheit verglichen: »seit ich 8 bin einfach nur in Mangas/Animes und Japan verliebt