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German Pages 376 Year 2021
Katharina Eck, Johanna Hartmann, Kathrin Heinz, Christiane Keim (Hg.) Wohn/Raum/Denken
Für Irene Nierhaus
wohnen +/− ausstellen Schriftenreihe Herausgegeben von Irene Nierhaus und Kathrin Heinz
wohnen +/− ausstellen Schriftenreihe, Band 5 Herausgegeben von Katharina Eck, Johanna Hartmann, Kathrin Heinz, Christiane Keim http://www.mariann-steegmann-institut.de/publikationen
Forschungsfeld wohnen +/− ausstellen Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik Universität Bremen
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept, Gestaltung und Satz: Christian Heinz Redaktion: Katharina Eck, Johanna Hartmann, Kathrin Heinz, Christiane Keim Lektorat und Korrektorat: Ulf Heidel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN: 978-3-8376-4517-0 E-Book-PDF: 978-3-8394-4517-4 https://doi.org/10.14361/9783839445174 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Katharina Eck, Johanna Hartmann, Kathrin Heinz, Christiane Keim (Hg.)
RAUM/ DE NK E N Politiken des Häuslichen in Kunst, Architektur und visueller Kultur
wohnen +/− ausstellen
IN
HAL T
Wohn / RAUM/DENKEN Wohn/Raum/Denken. Schnittstellen, Forschungsperspektiven und Positionierungen in einem transdisziplinären Feld
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Katharina Eck, Johanna Hartmann, Kathrin Heinz, Christiane Keim
I Stadtansichten
UND WOHNANORDNUNGEN „[…] in einem Saale unter Bekannten“. Entwürfe von Wohnen, Stadt- und Bildraum anhand von Figurationen des Römischen Karnevals im Journal des Luxus und der Moden
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Katharina Eck Historische Häuser (ver-)queeren: Destabilisierungen der Heteronormativität im National Trust Matt Smith
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Die Malerei als Baumeisterin des Interieurs. Zur ‚Geburt‘ des bürgerlichen Interieurs in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts
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Daniela Hammer-Tugendhat Raumkunst denken – Lenore Tawneys fiber art. Das In-Beziehung-Setzen von Kunst und Künstlerin auf Fotografien ihrer Wohnateliers
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Mona Schieren Experiment im Monument oder wie wohnt es sich bei Muche und Schlemmer? Artists in Residence in den Dessauer Meisterhäusern von Walter Gropius
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Alexia Pooth
II Ein-Blicke UND ZUR-SCHAUSTELLUNGEN
Wohnerfahrungen als queer-feministische Beziehungsarbeit: Die Fotografieserie Eine glückliche Ehe von Daniela Comani Barbara Paul
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Film- als Lebensraum: Carolee Schneemanns Fuses (1964–67) oder die Lust am Drehen
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Elena Zanichelli Die Scheibe und ihre Beschlagenheit: Film- und politiktheoretische Unterscheibungen zu einer Macht- und Einsichts-Einrichtung im sozialen Raum
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Drehli Robnik NetznomadInnen at home: Die Räume von Trecartin/Fitch
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Susanne von Falkenhausen
III Temporäre Aufenthalte
UND GLOBALISIERTES HEIMISCHSEIN (Un-)Möglichen Wohnräumen entkommen? Mit der Kamera durch Katastrophen ins Universum. Eine Erzählung in Bildern Silke Wenk
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Immer woanders – überall zu Hause. Eine durch Angelina Jolie verkörperte Figur oder: ein Bild von Prominenz, Paparazzi, Publikum
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Insa Härtel Wearable Homes. Die Verknüpfung von Bekleidungstheorie, Körperkonzepten und Wohndiskursen in Tragbaren Architekturen von den 1960er Jahren bis zur Gegenwart
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Astrid Silvia Schönhagen Architektur: Praxis der Kontingenz in Permanenz. Von Fundamentals, Sedimentierungen und Setzungen
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Gabu Heindl
IV Arbeitsorte
UND ANDERE WOHNSPHÄREN Wohnen ohne Haltegriffe Heidi Helmhold
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GW2 B3009. Über Bildungsarchitekturen
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Kathrin Peters Strategischer Separatismus Den feministiska Visionen/The Feminist Vision der Künstlerin Helena Olsson in der Ausstellung „OOMPH. Kvinnorna som satte färg pa Sverige/The Women who made Sweden colorful“ im Malmö Kunstmuseum. Eine kontextualisierende Analyse
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Elke Krasny Rein ins Haus. Raumverhältnisse und Wohnbeziehungen an stillen Orten
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Kathrin Heinz
Biografien
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Katharina Eck, Johanna Hartmann, Kathrin Heinz, Christiane Keim Wohn/Raum/Denken. Schnittstellen, Forschungsperspektiven und Positionierungen in einem transdisziplinären Feld
Das Wohnen scheint ein vertrautes Terrain privater Lebensgestaltung, mit dem wir vermeintlich selbstbestimmt umzugehen vermögen. Bei eingehenderer Beschäftigung erweist es sich jedoch als ein hoch komplexes, über private Bedürfnisse und individuelle Aneignungen weit hinausreichendes Thema, das in seinen wechselnden Konstellationen und spezifischen Ausprägungen von kultur- und gesellschaftspolitischen Interessen und Einflussnahmen bestimmt ist. Ein (Nach-)Denken über dieses Thema muss sowohl seiner politischen Dimension Rechnung tragen wie auch die vielschichtigen Vorstellungen vom Wohnen und seine vielgestaltigen Anordnungen berücksichtigen. Der Titel dieses Buches nimmt auf diese Zusammenhänge Bezug. In der kombinatorischen Abfolge von Begriffen, die durch die Einschnitte des Schrägstrichs, des Slash, in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, wird Wohnen nicht als festgeschriebenes Phänomen, sondern vielmehr als stets situatives und flexibles, von Verschiebungen und Wiederholungen ebenso wie von Paradoxien und Brüchen bestimmtes Kräftefeld erkennbar. Wohn/Raum/Denken steht für ein Forschungsverständnis, das seinen Gegenstand mit Prozessen des Denkens verknüpft: einerseits mit den immer wieder neu sich konstituierenden Formen der Reflexion über Gesellschaft und Kultur, die zu historischen Ausprägungen von Wohnräumen, Wohnkulturen und Bewohner*innenprofilen geführt haben, andererseits mit transdisziplinär ausgerichteten Denkbewegungen, die eine aktuelle Auseinandersetzung mit Dingen und Subjekten des Wohnens bestimmen.
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Wohn/Raum/Denken
„Der Slash“, so Irene Nierhaus, „ist sichtbar und schreibbar, wird selten gesprochen und ist dennoch Teil des Sprachlichen und markiert die sprachliche Verfasstheit im Nachdenken […]“ (Nierhaus 2016, S. 33). Das grafische Zeichen des Slash (er-)öffnet die „Bezugsspiele“ (ebd.), d. h. die Annäherungen, Widersprüche oder auch Konflikte zwischen Begriffen und Vorstellungen. Dieses Verständnis von einer Verbindung der Gegenstände, Thematiken und Denkprozesse zu miteinander vernetzten Strukturen und produktiven Gefügen prägen das Forschungs- und Lehrprofil von Irene Nierhaus und den Wissenschaftlerinnen im Forschungsfeld wohnen+/−ausstellen. Die in diesem von Irene Nierhaus und Kathrin Heinz initiierten Forschungsfeld1 eingerichtete Forschungsgruppe orientiert sich thematisch und konzeptionell an einer kritischen kunstwissenschaftlichen Forschung sowie an transdisziplinären, insbesondere von Gender Studies und Visual Culture Studies fokussierten Diskursen um Privatheit, Subjektivität, Autorschaft und Repräsentationskritik. Diese Ansätze sollen durch Untersuchungen zu Repräsentationen des Wohnens und Ausstellens in verschiedenen Medien des Zu-sehen-Gebens (z. B. Ausstellungen, Interieur/Bilder, Fotografie und Film, Zeitschriften) produktiv erweitert und fortgeschrieben werden. Die Forschungsaktivitäten umfassen mit Untersuchungen zu Raummodellen des Künstler*innen- und Architekt*innenwohnens, der visuellen Repräsentation von Privatheit im zeitgenössischen Film und Video, den Modi des Zeigens eines ‚richtigen‘ Wohnens auf Architektur- und Kunstausstellungen und anderem mehr ein breites thematisches Spektrum; die Formate reichen von Vortragsveranstaltungen über Forschungswerkstätten und Workshops bis zu internationalen Tagungen. Die vorliegende Publikation geht auf die Tagung zum Anlass des 60. Geburtstags von Irene Nierhaus mit Beiträgen von Marie-Luise Angerer, Caroline Arscott, Susanne von Falkenhausen, Gabu Heindl, Linda Hentschel, Cornelia Klinger, Elke Krasny, Barbara Paul, Kathrin Peters, Drehli Robnik, Matt Smith, Daniela Hammer-Tugendhat und Silke Wenk zurück. Der überwiegende Teil der Vortragenden hat sich an diesem Buch beteiligt. Weitere Texte ergänzen das Spektrum in thematischer wie methodischer Hinsicht. 1 Das Forschungsfeld wohnen+/−ausstellen ist eine Kooperation des Instituts für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender (Konzept und Leitung: Irene Nierhaus, Kathrin Heinz), siehe weiter zum Forschungskonzept, dem Aufbau des Forschungsfeldes und den Projekten http://www.mariann-steegmann-institut.de sowie auch Nierhaus/Heinz/Keim 2013.
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Katharina Eck, Johanna Hartmann, Kathrin Heinz, Christiane Keim
Irene Nierhaus’ Forschungsinteresse entstand aus der Übertragung von Fragestellungen einer kunst- und kulturwissenschaftlich fundierten Raumforschung auf das Gebiet des Wohnens. In Kunst- und Architekturgeschichte nimmt dieses Gebiet im Allgemeinen eine marginale Position ein; es gerät meist nur dort in den Blick, wo sich Wohnbauten, Raumpläne oder Designentwürfe in den Kanon sogenannter Meisterwerke einreihen lassen. An diesen von der Disziplin Kunstgeschichte gestifteten Hierarchien der Forschungsgegenstände und Forschungszugänge setzten Irene Nierhaus’ kritische Interventionen in den 1990er Jahren an. Ihr Interesse richtete sich zunächst insbesondere auf die Überlagerung von Raumkonzepten und Raumerfahrungen mit Konstruktionen von Geschlecht. „Den Raum als kulturelle Konfiguration sozialer Beziehungen zu lesen“, heißt es in Arch6, „und die räumliche Organisation der Gesellschaft als integralen Bestandteil der Herstellung sozialer Verhältnisse und nicht bloß als ihr Ergebnis zu verstehen, gehört zu den wichtigsten Wendepunkten im Nachdenken über das Verhältnis von Raum und Geschlecht“ (Nierhaus 1999, S. 20). Unter Wohnen, so lässt sich eine ihrer in weiteren Publikationen verfolgten und sukzessive ausdifferenzierten Kernthesen zusammenfassen, sei keineswegs die politikfreie Sphäre privater Verfügungsmacht zu verstehen, als die es gemeinhin gelte. Vielmehr könne Wohnen als eine komplexe Anordnung des Handelns und des (medialen) Zu-sehen-Gebens gelten, die an einer Schnittstelle zwischen Kultur, Gesellschaft, Ökonomie und Politik liege. So kennzeichne das Verständnis von Wohnen und Wohnung als Privates kein natürliches Verhältnis, sondern leite sich von sozial- und kulturpolitischen Richtungsbestimmungen ab, die seit etwa 1800 die Verbürgerlichung von Staat und Gesellschaft betreiben und bis heute in mannigfachen Formen Wirksamkeit entfalten. Auf das Gelingen dieses ‚Projekts des Privaten‘ hatten und haben die Akteur*innen des Wohnens entscheidenden Einfluss. An sie nämlich wenden sich die modellhaften, in Mediengefügen – Zeitschriften, Filmen, Ausstellungen u. a. m. – repräsentierten Anordnungen des Wohnens, die ihre Adressat*innen zu einem normativen Handeln anleiten wollen. Dabei weist das angestrebte Ziel über die Erziehung zur ‚richtigen‘ Ausstattung der Wohnung und einer entsprechenden Wohnpraxis hinaus: Mit dem Einrichten der Wohnung wie der Regulierung des Tuns sollen sich die Wohnenden in einer nach Alter, Geschlecht und Status stratifizierten Gesellschaft als soziale Subjekte wahrnehmen und positionieren lernen. Die Internalisierung der Codes, die festlegen, „was zum Wohnen gehört,
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Wohn/Raum/Denken
nicht gehört oder gehören könnte“ (Nierhaus/Nierhaus 2014, S. 12), zeigt sich gleichzeitig als ein Sich-Einverleiben der Regeln, die weitreichende Subjektivierungsprozesse an Kreuzungspunkten von Machttechnologien und Körperpolitiken in Gang setzen. Zwei konzeptionelle Begriffe von Irene Nierhaus, welche die gesellschaftspolitische Dimension des Wohnen als eines stets diskursiv hergestellten und vermittelten Feldes deutlich markieren, haben besonderes Gewicht: die Kennzeichnung des Wohnens als „Schau_Platz“ sowie die Rede vom „Wohnwissen“. Mit dem Begriff Schau_Platz wird Wohnen als Ort von gesellschaftlichen Verhandlungen gefasst, der durch ein (Sich-)Zeigen und Gezeigt-Werden Ausdruck erhält. Der Begriff Wohnwissen wiederum beschreibt das bewegliche und gleichzeitig machtvolle Geflecht von Kenntnissen, Begehrensstrukturen und habituellen Artikulationen, in denen sich Wohnvorstellungen manifestieren bzw. Wohnpraxis realisiert wird. Wichtiger Schau_Platz des Wohnens ist das Haus; unsere Wohnvorstellungen verkoppeln sich historisch wie gegenwärtig mit diesem Ordnungsgebilde, das uns Obdach gewährt, uns beheimatet oder beheimaten soll, uns lokalisiert (mit Klingelschild), das sich durch eine uns umgebende Grenze aus Vorhängen, Fenstern, Türen, Mauern und Dächern auszeichnet, die bei Bedarf mit Bewegungsmeldern bestückt sind, um das im Äußeren verortete als feindlich Imaginiertes erfassen und abwehren zu können. Haus, Häuslichkeit, Häusliches – diese Begriffe artikulieren das sogenannte Private, seinen privilegierten Ort, seine Atmosphären und Befindlichkeiten. Das Haus bezeichnet den Raum des vermeintlich Eigenen und Individuellen. Mit dem Hausinneren ist, betrachtet man die lang erprobte bürgerliche Wohngeschichte, die Vorstellung verbunden, „dass der Wohnung samt ihrer Ausstattung ein wesenhaft, psychisch-subjekthafter Charakter zugeschrieben“ wird (Nierhaus 1999, S. 100), der nicht nur als Ausdruck der Wohnpersönlichkeiten erscheint, sondern sie als diese erst hervorbringt. Inszeniert wird jenes Spiegelungsverhältnis zwischen Häuslichkeit und Innerlichkeit, Wohnraum und Individualität, welches auch das Versprechen begründet, sich von gesellschaftlichen Konventionen, sozialen Regeln und Normierungen ins Häusliche zurückziehen zu können – trotz besseren Wissens über die Durchlässigkeit und Fragilität dieser Wunschanordnung. Das häuslich Private als das Andere des Öffentlich-Politischen ist jedoch seit jeher Territorium von Regulierungstechniken, Erziehungsstrategien und Gewaltverhältnissen,
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von Beziehungsidealen und Verhaltensanleitungen, die ein gelungenes Leben prognostizieren und gewährleisten sollen. Kurz gesagt: Vor jedem Einzug ist das Haus schon längst bezogen. In Strukturen des Häuslichen, gedacht als komplexer Denk/Raum und gesellschaftliche Figuration, wird Subjektivität in ihren Bezüglichkeiten geformt und ausgebildet, Geschlecht eingerichtet, Nation verfasst, Gemeinschaft modelliert. Haus, Häuser: Ein- oder Mehrfamilienhaus, Wohnblock, Kaffeehaus, Gemeinschaftshäuser, Lehranstalt, Toilettenhäuser, Heimkino … Eine weitere Raumanordnung ist das Künstler*innenhaus, das in spezifischer Weise Wohnen und Arbeiten von Künstler*innen verbindet; organisiert zumeist um den zentralen Ort des Ateliers, jene mythisch aufgeladene Produktionsstätte, an der sich programmatisch die künstlerische Individualität zu entfalten vermag. Strukturell dem ‚privaten‘ Wohnraum ähnelnd, beherbergt das Atelier, in Kunst und Kunstgeschichte reichhaltig bebildert und ausgestellt, die Vorstellung eines zumeist von der öffentlichen Sphäre getrennten Ortes. Hier soll sich unter den Vorzeichen des Ungestörten, Verborgenen der kreative Prozess ‚frei‘ entwickeln können. Obgleich dieses ‚kultische‘ Raumgefüge längst von künstlerischen und kunstwissenschaftlichen Eingriffen und Diskursen dekonstruiert und verworfen worden ist, behauptet es durchaus, die Kritik reflektierend, seinen offenkundig wichtigen Stellenwert für die künstlerische Tätigkeit und im Rahmen von Künstler*innenausbildung und -förderung. Im Künstlerhaus Bremen, das sich als „Ort der Kunstproduktion und Künstler_innenförderung“ versteht, befinden sich unter einem Dach Ateliers und ein Ausstellungsraum, Werkstattbetriebe und weitere Institutionen wie etwa Künstler*innenverbände.2 In Verbindung mit der Konzipierung und Durchführung der Tagung Wohn/Raum/Denken wurde in Zusammenarbeit des Künstlerhauses Bremen mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender und dem Forschungsfeld wohnen+/−ausstellen das Ausstellungsprojekt „Dazwischentreten“ entwickelt, kuratiert von Fanny Gonella, Christian Heinz, Kathrin Heinz und Mona Schieren.3 Ziel war es, durch eine hauseingreifende Unterbrechung das Künstlerhaus als programmatischen und tradierten Schauplatz künstlerischer Produktion zu befragen. Entworfen wurde ein Parcours, der das Haus in seiner räumlichen, materiellen und inhaltlichen Verfasstheit und Anordnung selbst zum Thema machte, nicht 2 3
Siehe https://www.kuenstlerhausbremen.de. Die Ausstellung fand vom 6. Juni bis 10. Juli 2015 statt.
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im für Ausstellungen vorgesehenen Galerieraum, sondern in Ateliers, im Treppenhaus, in Durchgangsräumen, in den Wohnräumen des Gastateliers und auf dem Außengelände. Beteiligt waren die Künstler*innen Biba Bell, LIFE SPORT, Jeanne Faust, Kornelia Hoffmann, Annika Kahrs & Gerrit Frohne-Brinkmann, Franziska Keller, Lucas Odahara, Daniela Reina Téllez, Matthias Ruthenberg, Wantanee Siripattananuntakul, Mia Unverzagt, Doris Weinberger und Noriko Yamamoto. Mit ihren Arbeiten, Projekten und Performances ermöglichten sie eine reflexive Erprobung der Ortsstrukturen als Verhandlungsräumen von Kunst und Künstler*innenschaft, von Besucher*innen- und Betrachter*innenschaft. Im Passieren von Innen- und Außenräumlichkeiten, im Umordnen von räumlichen Begebenheiten wurden Ortssituationen generiert, die Seh- und Raumgewohnheiten sichtbar werden ließen wie auch verrückten und durchkreuzten. Die unterschiedlichen künstlerischen Arbeiten entwickelten dabei ein vielschichtiges, erkenntnisbildendes Gefüge, mit dem einmal mehr die Produktivität des Ästhetischen anschaulich wurde. Bezogen auf Strukturen eines spezifischen Häuslichen konnte ein Raumdenken eröffnet werden, mit dem Konstellationen des Ausstellens als kulturelle Konstruktionen in ihrer historischen Dimension und gegenwärtigen Wirkmächtigkeit thematisiert und reflektiert wurden. Das vorliegende Buch greift diese komplexen Zusammenhänge auf und entwickelt sie anhand von vier thematischen Schwerpunkten weiter. Die Spannbreite der Texte, die zur Vertiefung und Intensivierung der Forschungsinteressen beitragen sollen, reicht von Stadtansichten, Bildern und Raumanordnungen eines (nicht-)normativen Wohnens über fotografisch-filmische Einblicke in heterogene Wohnszenarien, visuelle und körperbezogene Strategien der Beheimatung bis hin zu Orten des Arbeitens und Studierens.
Stadtansichten und Wohnanordnungen Die Beiträge, die im ersten Teil des vorliegenden Bandes zusammengefasst sind, entwickeln ihr Wohn/Raum/Denken mit Blick auf Präsentationsformen und Zeigestrukturen, die sich auf Interieurs, Ateliersituationen und stadträumliche Szenarien richten und deren Inszenierungen sich durchweg eng an je spezifische Annahmen über die darin wohnenden Subjekte und ihre sozialen Konstellationen anlehnen. Die sich mit sehr unterschiedlichen Räumen und Materialien – von Printmedien über Ge-
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mälde und Fotografien bis hin zu ausgestellten Häusern – befassenden Artikel sind in ihren Verschiedenheiten miteinander verbunden über die Frage, was zu sehen gegeben wird, und ein auf die Zusammenhänge von Raum, Bild und Subjekt ausgerichtetes Erkenntnisinteresse. Im Fokus von Katharina Ecks Beitrag stehen ästhetische Strukturen des Weimarer Journals des Luxus und der Moden, die am Beispiel von Johann Wolfgang von Goethes Text Das römische Carneval aus dem Jahr 1790 untersucht werden. In seiner Text-Bild-Verknüpfung, die Modetafeln und einen programmatischen Titelkupfer als „Neujahrsgeschenk der Mode an die Leser und Leserinnen des Journals“ zusammenführt, eröffnet das Journal einen Schau-Lust-Raum, der durch die textlichen und visuellen Imagines von Rom und Karneval vorstrukturiert ist. Mit Blick auf die besondere Gestaltungsweise dieser Zeitschrift und ihre vielfältigen Verweisstrukturen zwischen Bild und Text zeigt die Autorin, wie das Journal seinen Leser*innen Vorstellungen von einer modernen Lebensweise vermittelt. Dabei werden Strategien der (Selbst-)Erfindung und des Wohllebens anknüpfend an ein reformuliertes Antike-Ideal propagiert. Wie die Gestaltung und Präsentation von Räumen, hier Wohnräumen, bestimmte Bewohner*innensubjekte sichtbar macht, ist Thema des Beitrags von Matt Smith, jedoch fragt er insbesondere danach, was nicht sichtbar ist. Als Künstler und Kurator der Gruppe Unravelled Arts hat Smith verschiedene Eingriffe in die visuellen Narrationen mehrerer historischer Gebäude des National Trust im Südosten Englands unternommen. Die der Öffentlichkeit zugänglichen Häuser erzählen in der Auswahl dessen, was in ihren Räumen auf welche Art und Weise gezeigt wird, Geschichten über ihre vergangene Bewohner*innenschaft. Dabei werden solcherart Auslassungen vorgenommen, dass ein – durchaus dagewesenes – nicht-heteronormatives Bewohnen dieser Räume unsichtbar bleibt bzw. unsichtbar gemacht wird. Die künstlerisch-kuratorischen Interventionen fügen diesen Selbstdarstellungen der Häuser weitere, zur bisherigen Erzählung sich eventuell dissonant verhaltende Geschichtsebenen hinzu. In ihnen erhalten queere Subjekte Raum und die Räume selbst können neu interpretiert werden. Bilder des Wohnens sind oftmals Bilder der Familie, des Familialen, da Wohndiskurse eng an die Entwicklung der bürgerlichen Kleinfamilie und die mit ihr verbundenen Vorstellungen von Privatheit und Intimität gekoppelt sind. Das sind Konzepte, wie sie ab dem 18. und verstärkt im 19. Jahrhundert theoretisch und didaktisch gefasst wurden. Wie Daniela
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Hammer-Tugendhat in ihrem Beitrag analysiert, finden sich bereits in den Interieurbildern der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts Darstellungen, die sich auf diese Konzepte beziehen lassen. Zusammenhängend mit der spezifischen ökonomischen, politischen und religiösen Situation, die bereits zu dieser Zeit die Entstehung der Kleinfamilie in den Niederlanden ermöglichte, zeigt sich im holländischen Tafelbild der Beginn einer Wohnkultur, die sich über die dargestellten Raum- und Subjektanordnungen artikuliert. Die Malerei kann so als Sichtbarmachung dieses frühen Wohnens gelesen werden, ohne sie als Wirklichkeit abbildend misszuverstehen. Vielmehr nimmt sie Interpretationen und Zuweisungen vor, wobei ihr oft realistischer Stil gerade darauf abzielt, Setzungen, wie etwa vorgeführte Geschlechterverhältnisse, als naturgegebene Ordnungen vorzustellen. Die Repräsentationen von Privatheit und Intimität haben das Private nicht nur dar-, sondern auch hergestellt und darin wesentlich zur Bildung moderner Subjektivität beigetragen. Mona Schieren richtet den Blick auf den Topos des Künstlerateliers, oder vielmehr des Künstlerinnenateliers. Am Beispiel der Wohn- und Arbeitsräume von Lenore Tawney untersucht Schieren die Übertragung asiatischer Denkfiguren in die Raumkonzeptionen der US-amerikanischen Künstlerin, wie sie sowohl in ihren Arbeiten der 1960er Jahre als auch in der Gestaltung und Nutzung ihrer Atelierräume während dieser Zeit sichtbar werden. Die großen textilen Webarbeiten Tawneys, die frei in den Raum gehängt wurden, werden bei Schieren zusammen mit der medialen Präsentation der Räume, in denen diese Arbeiten hergestellt und montiert wurden, zum Diskussionsfeld eines Raumdenkens, in dem asianistische Bezugnahmen artikuliert werden. Etwa in Verknüpfung mit Bildern meditativer Spiritualität oder spezifischen Weiblichkeitsvorstellungen zeigt die Künstlerin sich und ihre Arbeiten als explizit raumbezogen und raumproduzierend. Mit dem Thema des Künstlerwohnens und künstlerischen Produzierens beschäftigt sich auch der Beitrag von Alexia Pooth. Ausgangs- und Bezugspunkt sind hier die in den 1920er Jahren entstandenen Meisterhäuser in Dessau, die von der Architekturgeschichte als Musterbauten für einen modernen Wohn- und Lebensstil betrachtet werden. Heute auf der Liste des Weltkulturerbes stehend, wird eines der Häuser, das restaurierte Doppelhaus Muche/Schlemmer, seit 2016 für die Bauhaus Residenz, das Artist-in-Residence-Programm der Stiftung Bauhaus Dessau genutzt. Die Autorin geht zunächst der Frage nach, ob der erneute Gebrauch als Wohn-
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und Arbeitsstätte überhaupt mit dem an Auflagen gebundenen Denkmalstatus der Gebäude vereinbar sein kann. Ihr Hauptinteresse richtet sich dann auf Lebensweisen und Arbeitsprojekte der Stipendiat*innen während ihrer Residenz, insbesondere auf deren Umgang mit dem Meisterhaus als „aporetische[m] Ort, der leer und zugleich voller Geschichten ist“. Am Beispiel der Aufenthalte von Andrea Canepa, Clemens Krauss und Rudy Decelère wird gezeigt, in welch unterschiedlicher Form sich junge Künstler*innen das Architektur- und Bauhauserbe aneignen und welche Wohnund Arbeitsformen sie entwickeln.
Ein-Blicke und Zur-Schau-Stellungen Der Wohnraum und seine (Re-)Präsentation als Privat- und Intimitätsraum erfährt eine besonders markante Verschiebung zu einem Raum des Ausgestellt-Seins bzw. der ausgestellten Intimität in den Medien Fotografie, Film und Videoclip. Hier zeigen sich Wohnräume und -subjekte als inszeniert, montiert und ‚ab-gedreht‘, hier werden Wohnweisen und die im Wohnen sich entwerfenden (oder ins Wohnen hineingeworfenen) Subjekte dem Betrachter*innenblick vorgeführt. Die im Folgenden vorgestellten Beiträge, die sich auf unterschiedlichen Wegen der Repräsentation von Wohnen auf dem und über den Bildschirm annähern, beziehen sich auf Diskurse des Ausstellens, des Ein- und Ausschließens und der Sichtbarkeiten. Anknüpfend an Michel Foucaults Verständnis von Erfahrung als etwas stets ‚Selbstfabriziertem‘ sowie an feministische Projekte der 1970er Jahre, die sich aus repräsentationskritischer Perspektive mit Mythisierungen des Häuslichen auseinandersetzen, analysiert Barbara Paul die Fotografieserie Eine glückliche Ehe von Daniela Comani. Die Autorin erkennt in den Fotoarbeiten des 2003 von der Künstlerin begonnenen und als work in progress weitergeführten Projekts eine queer-feministische Beziehungsarbeit. Durch die Irritation eines eingeübten Wissens über das Wohnen und die Wohn-Dinge, künstlerisch hergestellt durch gezielte ästhetische „Ver-rückungen“, durchkreuzt Comani die heteronormative Geschlechterordnung. Die ‚normale‘ Zweierbeziehung tritt in diesem von zwei fiktionalisierten Subjekten aufgeführten Spiel mit Geschlechtlichkeit und geschlechtlich codierten Wohnanordnungen als „fabriziertes Gefüge“ in Erscheinung, das familiaristisch-bürgerliche Lebensmodelle in Frage stellt.
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Wie die Inszenierung eines Filmraums als Lebensraum in der feministischen Kunst programmatisch auf die Spitze getrieben werden kann, zeigt Elena Zanichelli am Beispiel von Carolee Schneemanns Fuses. Angelehnt an das neo-avantgardistische Kino der 1960er Jahre vollzieht Schneemann ein Verlassen des Kinoraums und zeigt ihre Lust am Drehen im (eigenen) Haus in nachträglich bearbeiteten Szenenfolgen. Lust und Begehren finden sich und findet sie beim Überarbeiten und bei der Montage des Filmmaterials. Im Sinne des expanded cinema ist ein Experimentieren entlang des eigenen Körpers im affektiven Austausch mit der häuslichen Umgebung zu sehen. Interessant ist hier die Frage, was in der Collage/Montage letztlich sichtbar und was überblendet wird. Dem Anspruch nach sollen Anstandscodes durchbrochen und eine sexuelle Befreiung – gerade in einem traditionell für weibliche Reproduktions- und Care-Arbeit vorgesehenen Umfeld von Haus und Schlafzimmer – vorgeführt werden; doch verschwimmen Codes, Privatleben und avantgardistischer Anspruch auch immer im von Schneemann postulierten „Verkehr zwischen der Kamera und meinem häuslichen Umfeld“ (Carolee Schneemann). Sichtbarkeitsregimes im Kontext einer geopolitischen Auseinandersetzung um räumlichen Aufenthalt und soziale und kulturelle Zugehörigkeit sind Thema von Drehli Robniks Beitrag. Im Mittelpunkt steht die Zurschaustellung von illegalisierten und ausreisepflichtigen Migrant_innen in einem sogenannten „Anhaltezentrum“ in Österreich, die hinter Glasscheiben zu sehen sind und damit wie ausgestellt erscheinen. Der Autor denkt also Wohnraum als Aufenthalts- und Durchgangsraum und die Glasscheibe als eine gerahmte Sicht darauf, auf der sich (politischer) Dunst ausbreiten und für Unterbrechungen sorgen kann. Die Scheibe interessiert ihn vor allem als beschlagene, denn es gibt kaum einen völligen Durchblick, vielmehr Einblicke, die einen zentral oder dezentral organisierten Machtzugriff sichtbar und verhandelbar machen können. Gleichzeitig entwirft der Autor einen Parcours durch Filmsequenzen, in denen Scheiben Durchblicke gewähren oder verweigern. Paradoxerweise können jedoch gerade Dunst, Störungen und Löcher dazu beitragen, dass gesellschaftliche Machtgefüge ‚durchschaut‘ werden. Robnik verknüpft diese Szenenfolge mit einem filmtheoretischen Ansatz, der das Kino als Haus analogisiert und als einen Ort versteht, an dem Geschlechterdichotomien, Moralvorstellungen und Alltagspraxen verhandelt werden. Einen weiteren Aspekt in Richtung der neuen, netzaffinen Kunstszene der 2000er Jahre behandelt Susanne von Falkenhausens Beitrag zu Netzno-
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madInnen ‚at home‘. Sie geht auf die inszenierten Wohnräume von Ryan Trecartin und Lizzie Fitch ein, deren mit schnellen Schnitten arbeitende Filme auf YouTube, aber auch in den ‚realen‘ Ausstellungsräumen diverser Kunstinstitutionen zu sehen sind. Die Autorin zeigt auf, wie die (zu consumer und producer werdenden) Zuschauer*innen über ein Gefühl von Beteiligung und Gemeinschaft in die scheinbar hermetisch abgeschlossenen und mit Mitteln der Übertreibung und Ironisierung präsentierten Innenräume einbezogen werden. Der Bildschirm stellt auch hier keine klaren Verbindungen oder Trennungen her; jedoch hebt die Autorin das Potenzial der kritischen Verdichtung in dieser Netzkunst hervor.
Temporäre Aufenthalte und globalisiertes Heimischsein Wie lässt sich Wohnen denken, wenn die Räume des Häuslichen verlassen werden, wenn Menschen auf der ganzen Welt zu Hause sein können respektive irgendwo auf dieser Erde eine Bleibe suchen müssen? Mit Blick auf die Privilegierten und die Benachteiligten globalisierter Bewegungsmuster müssen solche Fragen nach Räumen des Wohnens und Vorstellungen von Zuhausesein unterschiedlich gestellt und beantwortet werden. Wenn der Aufenthalt nur ein vorübergehender ist, Architekturen temporär gedacht werden, dabei eng an das Wohnsubjekt heranrücken und sogar in Berührung mit dem Körper kommen, entsteht ein anderes Wohnen, als wenn sich die Residenzen der global player über die ganze Welt verstreuen. Der Abschnitt Temporäre Aufenthalte und globalisiertes Heimischsein verbindet vier Beiträge, die (visuelle) Praktiken und (Bild-) Politiken von sich permanent in Veränderung befindlichen Wohnvorstellungen und -realitäten thematisieren. Silke Wenk geht den Narrationen nach, die sich beim Durchblättern des Heftschwerpunkts „The Year in Pictures“ des Time-Magazins aus dem Jahr 2013 ergeben. Die Repräsentationen von ganz unterschiedlichen Räumen verweisen auf ein Bewohnen der Erde, das aufgrund von Kriegen und sogenannten Naturkatastrophen extrem prekär geworden ist. Wenk lenkt den Blick auf die dargestellten Räume, die immer wieder Anmutungen Schutz gewährender Aufenthalte und vermeintlicher Geborgenheit mit Situationen massiver Gewalt und Zerstörung verbinden. Die Eingängigkeit der Bilder fördert ein Affiziertsein mit den gezeigten Situationen, changierend
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zwischen einem Erschrecken und der Beruhigung, die sich aus der sicheren Distanz einer Lektüre im heimischen Wohnzimmer ergibt. Ganz im Gegensatz zu diesen Aufenthalten der Krisenbilder transportieren Medienberichte über Celebrities Bilder eines globalen Wohnens. Stars leben ein VIP-Nomadentum, das jedoch niemals Heimatlosigkeit ausstrahlt, sondern offenbar ermöglicht, diverse Orte überall auf der Welt zu besiedeln und sich zugleich in medialen Narrationen zu beheimaten. Insa Härtel untersucht Medienauftritte Angelina Jolies, insbesondere solche, die die spezielle Familienbildung der Schauspielerin begleiten. Im Fokus auf Jolies Praxis, ihre Familie aus Kindern unterschiedlicher Herkunftsländer ‚zusammenzusetzen‘, um als white saviour ein internationales Zuhause zu erschaffen, konstruieren sie, wie Härtel herausarbeitet, die Vorstellung einer globalen und grenzenlosen Mutterschaft. Das globale Zuhause wird dabei zu einem sehr abgeschirmten, hochprivatisierten und zugleich extrem öffentlichen, weil medialisierten Aufenthalt. Mit anderen, ebenfalls nomadisch gedachten postmodernen Subjekten, die überall in der Welt behaust sein können oder müssen, und mit verschiedenen für dieses Leben entworfenen mobilen Behausungen befasst sich Astrid Silvia Schönhagen in ihrem Beitrag über tragbare Architekturen. Dabei geht es um eng an den Körper herangerückte Wohnhüllen, Kleidungsstücke, die als tragbare Wohnstätten fungieren, um ihren Träger*innen in Zeiten von Kriegen und Flucht, ökologischen wie ökonomischen Krisen Obdach, Schutz und einen Raum zum Wohnen zu bieten. Schönhagen zeichnet die unterschiedlichen Entwicklungslinien tragbarer Architekturen nach, die seit den 1960er und vermehrt in den 1990er Jahren an den Schnittstellen von Modedesign und Architektur entstanden sind, je nach Ausrichtung aus künstlerischem, technologischem und/oder politischem Interesse. Die Autorin diskutiert miteinander verknüpfte Körper-, Kleidungs- und Raumdiskurse in Hinblick auf eine Theoretisierung der Begrifflichkeiten und auf Funktionen der zum Bewohnen entworfenen Gewänder. Wie kann Planung und Architektur mit den sich immer in Veränderung befindlichen gesellschaftlichen Ordnungen umgehen und dabei nicht nur auf diese immer auch im gebauten Raum sichtbaren Ordnungen reagieren, sondern Planung als Medium politischer Handlungsfähigkeit begreifen? Mit dem Entwurf einer Praxis der „Kontingenz in Permanenz“ fordert Gabu Heindl ein Nachdenken über Architektur und Planung, die bereit ist, politisch motivierte Setzungen etwa hinsichtlich ökonomischer
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Katharina Eck, Johanna Hartmann, Kathrin Heinz, Christiane Keim
Situationen oder der Verteilung von Grund und Boden zu hinterfragen. Dabei geht es vor allem auch darum, die Planung von Stadt- und Wohnraum als immer schon ideologisch ausgerichtet zu erkennen und ihr innewohnende Interessen offensiv zu benennen. Mit dem eigenen Planungsprojekt „Donaukanal Partitur“ macht Heindl deutlich, dass dieser Ansatz heißen kann, statt einem Bauplan einen Nicht-Bebauungsplan zu entwerfen, um neoliberaler Privatisierung entgegenzuwirken und die gemeinschaftliche Nutzung nicht-kommerzialisierter Flächen zu ermöglichen.
Arbeitsorte und andere Wohnsphären Wohnen findet nicht nur in klassischen Wohnräumen statt und wird nicht nur in solchen visualisiert. Auch in anderen Räumen als in den eigenen vier Wänden kann in gemütlichen Sesseln Platz genommen werden. Heidi Helmholds Beitrag zum Wiener Kaffeehaus widmet sich einer besonderen Form individuellen und gesellschaftlichen Wohnens. Beispielgebend steht das Café Museum im Mittelpunkt ihrer Betrachtung, das als „semiöffentlicher“ Raum in seiner Geschichte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Rückzugsort, Arbeitszimmer und Stätte des Austauschs von Literat*innen und Intellektuellen diente und das „lebenslanger Existenzraum“ sein konnte, wie für die Wiener Schriftstellerin Elfriede Gerstl – oder ein „Stückerl Leben“ für Irene Nierhaus. Ausgehend von der Umbaugeschichte des Café Museum, in deren Rahmen nicht die ursprünglich von Adolf Loos bestuhlte, sondern die in den 1930er Jahren von Josef Zotti entworfene gepolsterte Einrichtung 2010 re-installiert worden war, setzt sich die Autorin mit dem für das bürgerliche Wohnen zentralen Konzept von Gemütlichkeit in den Einrichtungsdiskursen des 19. Jahrhunderts und der Kritik daran auseinander. Letztere zielte auf eine Verbannung des Textilen, verknüpft mit der Propagierung einer (männlichen) Rationalität, die einer weiblich konnotierten Stofflichkeit gegenübergestellt wurde. Mit Blick jedoch auf den erneuten Einzug des Gemütlichen ins Café befasst sich Helmhold mit der Potenzialität der gepolsterten Möblage, die sie als „Agenten für eine Leib/Raum-Beziehung“ bezeichnet, die stärker körperanalog und auf sensorische Kompetenz ausgerichtet ist, entgegen einer „taktilen Mangelernährung“. Im Fokus von Kathrin Peters’ Beitrag stehen die gebauten Räume des Lernens und Lehrens. Am Beispiel des Bremer Universitätsgebäudes GW2
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Wohn/Raum/Denken
(„Geisteswissenschaften 2“) und anderer universitärer Reformarchitekturen der 1960er und 70er Jahre untersucht sie die Verschränkung von Bildungsidealen und architektonischen Konzepten. Die großflächigen Campusarchitekturen, deren räumliche Anlagen manches Mal gleichermaßen Orientierung wie Verwirrung hervorrufen, sollten Reformziele wie Kommunikation, Transparenz und Enthierarchisierung nicht nur repräsentieren, sondern, mehr noch, durch ihre Organisation befördern. Wie Peters zeigt, wurde die Architektur als Teil eines reformerischen Bildungsprogramms entworfen und auf mögliche Erweiterbarkeit im Sinne dieser Programme angelegt. Mit einem kritischen Blick auf jüngere, auf die Prämissen von Exzellenzinitiativen ausgerichtete Umbauten verweist sie im Folgenden allerdings auf die von Heinz Behrendt bereits in den 1960ern gestellte Frage, ob es nicht besser wäre, statt der Variabilität der Systeme die Instrumente ihrer Veränderung zu planen. Elke Krasnys Beitrag führt zurück zum Wohnen. Ausgehend von der Ausstellung „OOMPH. The women who made Sweden colorful“ im Kunstmuseum Malmö 2016 beschäftigt sich die Autorin mit einem Projekt gemeinschaftlichen Wohnens von Frauen, das in der Schau in einer VideoInstallation von Helena Olsson präsentiert wurde. Sowohl die kuratorische Anordnung der Ausstellung wie die im Video gezeigte Wohngemeinschaft Elfvinggarden in Stockholm, die seit 1940 besteht, und den utopischen Roman Herland von Charlotte Perkins Gilman (1915), den Olsson die derzeitigen Bewohnerinnen lesen lässt, kennzeichnet die Autorin als Projekte eines „strategischen Separatismus“. Diese Kategorie feministischen Denkens und politischen Handelns gelte es, so Krasny, genau im Auge zu behalten, historisch exakt zu situieren und gleichzeitig kritisch zu reflektieren, um möglicherweise damit einhergehenden hegemonialen Tendenzen, die Ausund Einschlüsse produzieren, entgegenzuwirken. Kathrin Heinz richtet ihr Wohn/Raum/Denken auf das Haus als Ordnungsmodell und als sozialer und kultureller Bezugsrahmen; im Haus werden gesellschaftliches Handeln ausgebildet, Wohnvorstellungen, Subjektierungsweisen und Geschlechterverhältnisse konfiguriert. Künstlerische Arbeiten etwa von Birgit Jürgenssen oder von Maria Ezcurra veranschaulichen, wie die Autorin zeigt, eindrücklich die geschlechterstereotype Verfasstheit von häuslichen Strukturen und Hausarbeit. Mit ihren Ins-Bild-Setzungen wird eine Kritik an den oftmals hinter verschlossenen Türen sich vollziehenden hierarchischen Beziehungsverhältnissen thematisier- und sichtbar, die historisch wie gegenwärtig Bestandteil des
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Wohnens und seiner Geschichte sind. Inspiriert ist der Blick der Autorin dabei auf und in Häusliches nicht nur von den Forschungen derjenigen, der dieser Text gewidmet ist, sondern buchstäblich auch von deren Nachnamen NIERHAUS, mit dem sich verschiedene Perspektiven im Beitrag eröffnen oder weitergeführt werden. Ein zentraler Aspekt berührt die Auseinandersetzung mit dem im Wohndiskurs wenig besprochenen ‚stillen Ort‘. Die Autorin beschäftigt sich mit dem Raumverhältnis Toilette und den damit verbundenen alltäglichen Praktiken, Reinheitsvorstellungen und –bedürfnissen. Dabei wird deutlich, dass gerade dieses ‚Häuschen‘ „im Wohnen ein prekäres und Prekäres hervorbringendes Raumverhältnis“ offenbart, an dem sich die Entwertung von Haus- und Sorgearbeit besonders aufzeigen lässt. Der Beitrag stellt abschließend zugleich ein Plädoyer dar, dahingehend „eine Haus-Haltung zu entwerfen und zu stärken, die einmal mehr die Strukturen der Abwertung, des Gewaltförmigen und Diskriminierenden sichtbar macht“ und in diesem Sinne die politische Dimension des Häuslichen notwendig hervorhebt. Wir danken allen voran sehr herzlich den Autor*innen des Bandes für ihr Mitgestalten eines Wohn/Raum/Denkens in seinen vielfältigen Bezügen und transdisziplinären Perspektiven. Unser Dank gilt Marie Lottmann für die Übersetzung des Beitrags von Matt Smith. Wir danken sehr Christian Heinz für die Gestaltung und Ulf Heidel für das Lektorat. Für ihre organisatorische Unterstützung bedanken wir uns bei Eugenia Kriwoscheja und Julia Weiss. Jennifer Niediek vom transcript Verlag danken wir für die Betreuung der Publikation. Nicht zuletzt geht unser Dank an das Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender für die ideelle und finanzielle Förderung der Publikation.
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Wohn/Raum/Denken
Literatur Nierhaus 1999 Nierhaus, Irene: Arch6. Raum, Geschlecht, Architektur, Wien 1999. Nierhaus 2016 Nierhaus, Irene: Matratze/Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen, in: dies.; Kathrin Heinz (Hg.): Matratze/Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur, Bielefeld: transcript 2016 (wohnen+/−ausstellen, Bd. 3). Nierhaus/Heinz/Keim 2013 Nierhaus, Irene; Kathrin Heinz; Christiane Keim: Verräumlichung von Kultur. wohnen+/−ausstellen: Kontinuitäten und Transformationen eines kulturellen Beziehungsgefüges, in: Andreas Hepp; Andreas Lehmann-Wermser (Hg.): Transformationen des Kulturellen. Prozesse des gegenwärtigen Kulturwandels, Wiesbaden: Springer 2013, S. 117–130. Nierhaus/Nierhaus 2014 Nierhaus, Irene; Andreas Nierhaus: Wohnen Zeigen. Schau_Plätze des Wohnwissens, in: dies. (Hg.): Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bielefeld: transcript 2014 (wohnen+/−ausstellen, Bd. 1), S. 9–35.
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I Stadtansichten
UND WOHNANORDNUNGEN
Katharina Eck „[…] in einem Saale unter Bekannten“. Entwürfe von Wohnen, Stadt- und Bildraum anhand von Figurationen des Römischen Karnevals im Journal des Luxus und der Moden
In ihrer Forschung beschäftigt sich Irene Nierhaus sowohl mit urbanen Räumen als auch mit Räumen des Wohnens und den Verknüpfungen, die sich zwischen ihnen ergeben. Dabei spürt sie unter anderem Wissens- und Machtformationen in und um diese Räume auf und analysiert die Art und Weise des Ins-Bild-Setzens (oder: Ins-Bild-Gesetzt-Seins) dieser Formationen. Ein Stadt-Bild, das immer wieder im Fokus steht, ist Rom, genauer verschiedene Rom-Vorstellungsbilder: „Zu den Metaerzählungen der Stadt gehören Narrative, die sich um Vorstellungen von Mitte und Rand gruppieren. Rom ist neben Jerusalem und Babylon die Stadt, in der Mythen von Ursprung, Zentrum und Mythen von Untergang, Peripherie in allen Spielarten und Zeiten generiert wurden. […] (Dem) Rom als Zentrum der westlichen Zivilisation ist zugleich das ‚andere‘ Rom eingeschrieben. Rom als ‚Rand‘ verfügt über Bilder des politischen Verfalls, der Korruption, Ausbeutung und Kriminalität sowie moralischer Dekadenz und manifestiert sich u.a. im Film des Neorealismus […].“ (Nierhaus 2006, S. 49) Mit einer wirkmächtigen Meta-Erzählung, die diesen Rom-Mythos mit prägt, beschäftigt sich dieser Beitrag: In den Blick genommen werden Bilder des Römischen Karnevals und seine medialen Vermittlungen als eine von vielen „Spielarten“ (ebd.) dieses Mythos. Im Januar-Heft des Jahrgangs 1790 des Weimarer Journals des Luxus und der Moden (JLM) findet sich zum Einstieg ein, verglichen mit anderen Beiträgen, außerordentlich langer Text von großer literarischer und kulturhistorischer Bedeutung: ein Abdruck der bereits ein Jahr zuvor selbst-
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ständig im Unger-Verlag erschienenen Schrift Das römische Carneval von Johann Wolfgang von Goethe.1 Als Abschluss seiner Italienischen Reise konzipiert – die freilich erst deutlich nach Goethes Aufenthalt in Italien (1786–1788) als Teil seiner autobiografischen Schriften erscheint –, basiert Das römische Carneval scheinbar auf Goethes Eindrücken als nicht voll und ganz teilnehmender, vielmehr distanzierter Beobachter. Katja Gerhardt schreibt dazu: „Die Reflexion ist die Distanz. Je tiefer er sich in die Menge drängt, desto stärker muss er sich von der Menge distanzieren und das Gesehene begreifen. Er ist gleichzeitig Beobachtender und Beobachteter […].“ (Gerhardt 1996, S. 290) Man kann ihn sich als von seinem Zimmerfenster an der Via del Corso hinunterblickend vorstellen:2 als einen die Stadt Rom Bewohnenden und die sich dort abspielenden Szenen Beschreibenden, einen seine Textpassagen immer wieder neu Formenden und Vermittelnden. Was er vermittelt, sind vor allem Sprach-Bilder, die dann bei Unger 1789 in Form eines in betitelte Paragrafen gegliederten, ekphrastischen Textes mit einer vorangehenden Titelvignette von Johann Heinrich Lips und 20 Maskenfiguren nach Zeichnungen von Johann Georg Schütz erscheinen. Im JLM findet sich der Text dann ohne die 20 Kupferstiche wieder, gleichsam der begleitenden Maskenfantasien entledigt und eingebettet in eine eigene Journalästhetik.3 Der
1 Ohne hier auf die unterschiedlichen Fassungen näher eingehen zu können, sei zumindest erwähnt, dass das Unger-Buch als Prachtausgabe galt und in Antiqua gedruckt worden war, während die Zeitschriftenfassung ganz pragmatisch an den Rahmen und die sonstige Struktur des Heftes angepasst, d. h. auch aus Platzgründen komprimiert war. Allein durch diese typografischen und formalen Unterschiede wurde auch eine andere ästhetische Wirkung erzielt. Hierzu Rainer Falk: „Die Zeitschriftenfassung ist nämlich in Fraktur gesetzt und stellt somit den typographischen Normalfall der Zeit dar. […] Erlaubte das Quartformat des Erstdrucks einen großzügigen Satzspiegel mit breiten Rändern, so erzwang das Oktavformat der Zeitschrift neben der Wahl einer deutlich kleineren Schriftgröße eine Minimierung der unbedruckten Fläche, zumal eine geringere Seitenzahl – 45 gegenüber 67 Seiten – zur Verfügung stand. Nicht zu Unrecht hatte Bertuch also den Aufsatz zunächst als ‚für den engen Raum unsers Journals viel zu groß‘ erklärt und als eigenständiges Buch erscheinen lassen.“ (Falk 2006, S. 9f.) 2 Ähnlich wie auf dem bekannten Bildnis Goethes von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Goethe am Fenster der römischen Wohnung am Corso, zu sehen. 3 Das Journal des Luxus und der Moden wurde unter wechselndem Titel zwischen 1786 und 1827 sehr erfolgreich in Weimar verlegt, anfangs unter der Herausgeberschaft von Friedrich Justin Bertuch und Georg Melchior Kraus, die auch selbst viele der Beiträge schrieben. Jedes der monatlich erscheinenden Hefte eines Jahrgangs enthielt drei oder vier Kupfertafeln.
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temporäre Bewohner Roms und vermeintliche Bezeuger des dortigen Treibens wird zum Erzeuger neuer Mythen und als dieser selbst mit mythifiziert.
Die Bewohnbarkeit der Straße Ein Jahrhundert später hebt Herman Grimm die Wohnung Goethes in Rom als offenbar unabdingliche Voraussetzung der Konzentrations- und Schaffensfähigkeit des Dichters hervor: „Er fühlt sich zu Hause. Er nimmt sich eine bequeme Wohnung, er verliert all die frühere Hast, als müsse er sich sammeln […].“ (Grimm 1877, S. 52) Goethe reflektiert über den Karneval nicht mittendrin, sondern als Schreibender in seiner Wohnung, denn die Wohnung ermöglicht ihm Rückzug und Distanz, während sie zugleich als gebauter Raum Teil des Gefüges von städtischer Architektur, auftretenden Subjekten und momenthaften Ereignissen wird. Als LeserIn wird man mitgenommen auf die Spazierfahrt im Corso, wobei Corso, Piazza del Popolo, Obelisk oder Palazzo Ruspoli zu „urbanografischen Figuren“ (Nierhaus 2008) werden, die zusammen mit den Maskierten, den Wachen und den Pferdewagen ein Narrativ der sich selbst immer wieder neu erfindenden Stadt bilden. Das Wohnen kommt bereits auf den ersten Seiten direkt ins (Vorstellungs-)Bild; es zieht mit ein in den Reigen auf der Straße, dem sich das schreibende Subjekt widmet: „So scheint die Straße nach und nach immer wohnbarer“, so heißt es, und es werden Empfindungen wie „in einem Saale unter Bekannten“ beschrieben (Goethe 1790, S. 12). Diese Stelle ist bemerkenswert, finden sich doch dadurch die bewegten Massen, die mit (noch) nicht erkennbarer (Aus-)Richtung durch die Straßen ziehen, zusammen an einen nunmehr begreifbaren Ort, der dank stellenweiser Eingrenzung und erkennbarer Ordnungsstrukturen wie ein Wohnraum erscheint. Dieser bewohnbare Stadtraum ist wiederum nicht klar zu trennen vom Raum des Theatersaales, der immer wieder als Vorstellungsraum des Gespielten, feierlich Aufgeführten und zeitlich Begrenzten mit der Straße und ihren Nebenstraßen – oder auch: Nebenbühnen – verknüpft wird. Es wird dort aufgeführt und vorwärtsgetrieben, Pferde rasen mit ihren Wagen vorbei und in den Nebenstraßen kann ein Blick auf Geburt und Tod erhascht werden, wenn sich Gestalten aus dem Volk mit Messern bedrohen und eine Schwangere eine Gestalt gebiert, von der aber die Aufmerksamkeit der Lesenden sofort wieder abgezogen wird.
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Auch hierbei handelt es sich nur um kurze Stücke, Bilder oder Momente, die auf einer Bühne gezeigt werden, bevor man vom Rand der Stadt wieder zur Mitte gelangt. Das Randständige, von dem Nierhaus in Bezug auf die Statt/Stadt spricht – von einem Stadtbild ausgehend, das statt des Zentrums auch andere machtvolle und häufig verdrängte Elemente enthält –, kommt also durchaus auch vor: in den Nebenstraßen und der einbrechenden Nacht. Doch es weicht wieder dem hehren Dichterziel, „das Ganze in seinem Zusammenhange“ dargestellt zu wissen (ebd., S. 45). Es ist anhand des Textverlaufs nicht eindeutig zu entscheiden, wo der Wohnraum aufhört und die Bühne beginnt, wo eine (vom Autor umkreiste und nie eindeutig gezogene) Grenze verläuft und wo sich das Innen über das Außen stülpt oder umgekehrt. Es wäre wenig sinnvoll, diesem begrenzten Raum des Bewohnbaren im Text, der „Bekannte“ und keine Fremden hervorbringt, also wie ein Schutzraum wirkt, einen bedrohlichen Außenraum entgegenstellen zu wollen. Der Text nämlich enthält und vermittelt sehr fluide Konzepte von Raum und Zeit, von Fixpunkt und Bewegung, von subjektiver Wahrnehmung und (künstlerischer) Überformung; er schwelgt in der bildhaften Übermittlung von eigentlich nicht Darstellbarem. Es ist ein Schau-Lust-Raum, der sich im Moment des Lesens und Nachvollziehens eröffnet und der – wie zu zeigen ist – im Journal und seinen ästhetischen Rahmungen anders funktioniert als in Buchform. Im Folgenden soll es um ebendiese Rahmungen, um in Bild und Text bzw. Textbild ästhetisch vermittelte Räume gehen und um die Strategien, mit denen das Journal die sich in Bezug zu seinen Textbildern setzenden Subjekte formt, deren Denken es damit (neu) ausrichtet.
Schau-Lust-Raum Karneval. Vom Denkraum zum ‚kornukopischen‘ Raum des Modejournals Bleiben wir zunächst bei der Textstruktur des Römischen Carnevals selbst. Die Lust des Schauens wird hier zunächst geografisch-architektonisch, durch städtebauliche Merkmale Roms, sowie durch die volkstümlichen und rituellen Handlungen des dort zelebrierten Karnevals (in Verbindung mit Zeitangaben, die diese Handlungen verstärkt als Sequenzen eines großen Festes erscheinen lassen) in entsprechend betitelten Textpassagen strukturiert. Das, was thematisch die Gefahr des Ausuferns und
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Nicht-Beherrschens mit sich bringt, wird zugleich formal geordnet und in einen Sinnzusammenhang gestellt, der einem vorläufigen Endpunkt am Aschermittwoch entgegenstrebt. Was sich vielleicht sonst der Aufmerksamkeit entzog, wird hier vergegenwärtigt, oder wie Michael Maurer in Bezug auf das Gesamtprojekt der Italienischen Reise argumentiert: „Es war nicht eine bestimmte italienische Realität, die er zu sehen anleitete, keine kanonische Auswahl von Städten, Gebäuden, Kunstwerken und Naturschönheiten; Goethe wollte vielmehr primär das Sehen überhaupt lehren“ (Maurer 2010, S. 146). Der Text leistet dann eine Ordnungsarbeit, die dazu diente, „eine ihm sonst ungenießbare und unübersehliche Erscheinung genießbar und überschaubar zu machen“ (Batley 1988, S. 137). Es geht also um die – ästhetische! – Frage der Darstellbarkeit, die mit dem Themenkreis von Sehen, Begreifen und Anschauung eng verknüpft ist. Die Räume und deren (neu arrangierendes) Vor-Augen-Erscheinen respektive das ganz individuelle Gedanken-Bild-Gefüge von Rom, Innen- und Außenraum und Karnevalsfestivitäten unterliegen einem Denkprozess, der nicht stillsteht und das (Nicht-)Darstellbare immer wieder versuchsweise umkreist. Annette Graczyk spricht in Anlehnung an Gerhard Kaisers Vergleich des Goethe-Textes mit Merciers Tableau de Paris vom Goethe’schen „Denken in Metamorphosen“ (Graczyk 2004, S. 159,), das einer ständigen Veränderung und Umbildung des Beobachteten (der Natur, der gegebenen Phänomene im Außen) gerecht zu werden versuche – Goethes Begriffe des Schwankens und des kaum fixierbaren (weil vorüberziehenden) Augenblicks aus seiner „Morphologie“ erinnern sehr stark an die Karnevalsszenen und den Versuch, die Dynamik der Massen irgendwie einfassen und formen zu können. So, wenn er abwägt, dass „nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern dass vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke […]. Wollen wir also eine Morphologie einleiten, so dürfen wir nicht von Gestalt sprechen; sondern wenn wir das Wort brauchen, uns allenfalls dabei nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes denken“ (Goethe zit. n. Grave 2014, S. 58, Herv. d. Verf.). Wenn es Goethe also darum geht, die „äußern sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen“ und „so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen“ (ebd., S. 57), sind ähnliche Problematiken von Darstellbarkeit und ihren Grenzen angerissen wie im Römischen Carneval (vgl. Goethe 1790, S. 45). Was das schreibende Subjekt im und mit dem bildreichen Text tut, ist, etwas dem Geschauten zugrunde Liegendes
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erkennbar zu machen und gesetzmäßige Strukturen herauszufiltern. Es geht also auch um Bildung als Selbst-Bildung, und diese funktioniert hier über den ästhetischen Genuss. Goethe benötigt seine Wohnung am Corso, um einen Ort des Sammelns und der Fokussierung zu haben und als analysierendes und schlussfolgerndes – morphologisch beobachtendes, wissenschaftlich tätiges – Subjekt die Untersuchungsmasse des römischen Karnevals strukturieren zu können. Das auf das Wohlleben seiner LeserInnen abhebende Journal (wie es die Herausgeber immer wieder programmatisch als Ziel formulieren) benötigt seinerseits einen Denkraum, der im Januar 1790 eben gerade durch den Karnevalstext entsteht. Dieser wird wiederum Ausgangspunkt für damit verknüpfte journalspezifische Strategien, LeserInnen von einem auf Genuss und Konsum abhebenden Lebensstil zu überzeugen. Das Erinnern, Wiederholen und Weiterblättern der Journalseiten sind zentrale Mechanismen, die lesende und schauende Subjekte in wieder neue Denkund Vorstellungsräume bringen, welche durch die Konstrukte von Rom und Karneval vorstrukturiert sind. Der in diesen Vorstellungen enthaltene mythische Kern der Saturnalien, der Wiedergeburt und Erneuerung, wird auf einen Zyklus von moderner Lebensweise und Sich-neu-Erfinden übertragen. In Goethes Text gipfelt die Lust der Anschauung in dem Wunsche, „daß jeder mit uns, da das Leben im Ganzen, wie das Römische Carneval, unübersehlich, ungenießbar, ja bedenklich bleibt, durch diese unbekümmerte Maskengesellschaft an die Wichtigkeit jedes augenblicklichen, oft geringscheinenden Lebensgenusses erinnert werden möge“ (Schlusssatz des finalen Abschnittes „Aschermittwoch“, ebd., S. 47). Dieses Gleichnis verlässt also den Raum des karnevalesken Treibens und holt lesende Subjekte in einen Denkraum der Wertschätzung von gering scheinendem Lebensgenuss im Allgemeinen. Hier, in der Bedeutung des alltäglichen Erlebens und der Momente des Genusses, verbunden mit dem erwähnten Zustand des Zyklischen und der Erneuerung, kann das Journal nun wiederum seine LeserInnen erreichen, um Genuss als Konsum und Konsum als subjektkonstituierend zu vermitteln. Das JLM unterlässt es, an Goethes gelehrte Philosophie anzuknüpfen, die Bildung respektive Selbstbildung bleibt jedoch als Prinzip erhalten, wenn die Karnevalsbilder wiederum einer eigenen Logik folgend variiert werden und das Journal auf seine eigene Periodizität, seinen Beitrag zu Genuss und (KonsumentInnen-)Bildung verweist. Das römische Carneval ist nicht der einzige Karnevalsbezug im JLM; gerade die Karneval-Hotspots
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Rom und Venedig werden auch in anderen Heften und Jahrgängen immer wieder aufgegriffen, wie im Mai 1790 im Text über den Karneval in Venedig, der einer dreiteiligen Serie zu Festlichkeiten in Venedig angehört. Natürlich geht es auch darum, über Trachten, Mode-Erscheinungen und volkstümliche Sitten zu berichten, jedoch entwickelt das Journal damit eine ästhetische Struktur, die im Karneval ihren Dreh- und Angelpunkt hat. Diese Struktur fordert eine aktive LeserInnenrolle ein, da lesende Subjekte zugleich zu sammelnden und zusammensetzenden werden, wenn sie in hohem Maße ihre Imaginationsfähigkeit einsetzen müssen – das folgende Bild-Text-Beispiel soll dies noch näher zeigen. Wie schon festgehalten, enthält das Heft vom Januar 1790 keine der 20 Kupfertafeln mit Maskenfiguren aus der Unger-Buchausgabe des Römischen Carnevals; der Text hingegen ist mit allen Abschnitten vom „Corso“ bis zum „Aschermittwoch“ vollständig als in das neue Jahr einführende Sektion I abgedruckt. Direkt im Anschluss finden sich die Sektionen II bis VI, wobei Sektion II dem „Theater“ und Sektion VI dem „Ameublement“ gewidmet ist, wie es der gängigen thematischen Aufteilung im JLM entspricht. Dazu präsentiert das Journal drei Kupferstiche im Anschluss an diesen Textteil, zwei mit Modeabbildungen für junge Damen und für einen Offizier und einen weiteren mit einem Wandleuchter à l’arabesque. Besonderes Augenmerk soll hier auf das Titelkupfer gelegt werden (Abb. 1): Es spricht als ein „Neujahrsgeschenk der Mode an die Leser und Leserinnen des Journals“ (JLM 1790, S. 71) mit seinem aufgedruckten Text für sich selbst – bzw. erläutert sogleich während des Gelesen-Werdens seine Funktion – und zugleich für das vorliegende Heft bzw. den neuen Jahrgang 1790. Mit dem kompletten Re-Arrangement des Goethe-Textes und seiner Rahmung durch neue journalspezifische Abbildungen ändert sich auch die Aussage des Text-Bild-Gefüges nachhaltig. Die Herausgeber geben zu Beginn des Textes auf der ersten Seite in einer längeren Fußnote eine Erklärung dazu ab, was es mit dem Fehlen der Stiche von den 20 Maskenfiguren aus dem bereits veröffentlichten Buch auf sich hat. Zunächst wird auf die vorangegangene Dezember-Ausgabe verwiesen und darauf, dass LeserInnen, die keine Unger-Ausgabe des Römischen Carneval erwerben konnten, den Goethe’schen Text im vorliegenden Januar-Heft des JLM nun wie angekündigt vorfinden. Darüber hinaus hätten sie jedoch die Möglichkeit, die hier nicht enthaltenen Stiche von den Maskenfiguren, „die zwanzig Blatt ausgemahlter Kupfertafeln“, separat zu erwerben gegen eine Bezahlung von zwei Reichstalern
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1 Frontispiz „An Die Leser“, Journal des Luxus und der Moden, Jg. 5, 1790
und zwölf Groschen (JLM 1790, S. 4). Die Lektüre des bereits berühmten Goethe-Textes ist somit von Anfang an re-arrangiert, zudem um ein (kommerzielles) Angebot ergänzt, welches das Lesevergnügen mit der Logik einer neu aufkommenden Konsumgesellschaft und ihrem Vehikel – dem Journal selbst mit seinen vielfachen Anzeigen und Kaufanreizen – verknüpft. Der Text ist in die reguläre, sich Monat für Monat wiederholende Struktur des JLM eingebettet, zwischen das Titelkupfer und 72 Seiten, auf insgesamt sechs Sektionen verteilt, zu ebenfalls wiederkehrenden Themenbereichen. Dazu kommen die obligatorische, wie in einem Lexikon schematisch dargestellte „Erklärung der Kupfertafeln“ und die drei Kupferstiche mit den Modedarstellungen und dem Wandleuchter, die den
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Sektionen IV mit den „Mode-Neuigkeiten aus Frankreich“ und VI zum „Ameublement“ zugeordnet sind. Auch wenn die 20 Tafeln des Römischen Carnevals weiterhin in absentia präsent sind, sind sie nunmehr durch diese drei Tafeln ersetzt worden und darüber hinaus durch ein Titelkupfer, das auf den ersten Blick keineswegs mehr auf den Karneval oder die Saturnalien Bezug nimmt, wie es noch die Vignette von Lips tat, sondern nun Objekte der Mode- und Gesellschaftswelt vor Augen führt. Die Karnevalsthematik ist also einer Neuerfindung im Sinne einer innovatio unterzogen worden; ausgewählt, arrangiert und verkauft im Einklang mit der Logik des Journals und seiner Verknüpfung von Konsum, periodischem Erscheinen und Beförderung eines an einem Antike-Ideal orientierten Kultur- und Bildungsmusters.4 Sehr interessant in diesem Zusammenhang ist die Aufteilung des Bildraums des Titelkupfers, das stark mit visuellen Feldern und Zuordnungen arbeitet. Die zu sehen gegebenen Objekte sind in einer weiblichen und einer männlichen Gruppe angeordnet und somit gegendert (Abb. 1). Wie das Erklärungsblatt unterstreicht, präsentiert das sogenannte „Neujahrsgeschenk der Mode an die Leser und Leserinnen“ in dem Bereich oberhalb des Ovals mit der Widmung „An Die Leser“ einige weibliche Modedinge, während der kleinere Bereich unterhalb des Ovals die korrespondierenden männlichen Objekte zeigt – oder vielmehr, was als korrespondierend visualisiert bzw. in ein visuelles Überzeugungsmuster gesetzt wird. „Für die Damen“, heißt es in der schematischen „Erklärung“ zusammenfassend, sind erstens bis drittens ein „neuer Huth“, „zwey neue Hauben“ – mit der Ergänzung „zum vollen Anzuge“ – und „zwey Schärpen von neuester Mode“ zu sehen; „Für die Herren“ gibt es eine Gruppe erstens bis fünftens mit „einem englischen Jockey-Huth“, „Stiefel-Gamaschen“, „einem Degen“, „einer Badine von Pfefferrohr“ und „einer weißen Cravate zum Anzuge en Chenille“ zu sehen (JLM 1790, S. 71). Die letzteren, einem jungen Herrn zugeordneten Modeobjekte sind auf dem Frontispiz zu einem Kreuz geformt und bilden ein Podest für das darauf positionierte Oval mit dem Widmungstext. Die weiblichen Gegenstände hingegen bekrönen das Oval, ähnlich wie ein Hut oder eine Haube einen Kopf bekrönen würde. Somit ist der in das Oval wie in ein
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Zur Antike als Kulturmuster vgl. u. a. Borchert/Dressel 2004.
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Medaillon gesetzte Text wiederum bildräumlich als wertvoller, von den anderen Gegenständen gestützter bzw. überkronter eigener Gegenstand herausgehoben. Er kann gleichzeitig als Text gelesen und als Bildgegenstand wahrgenommen werden. Die Textzeilen selbst sind äußerst komplex; es handelt sich um eine anspruchsvolle Schachtelkonstruktion aus zwei Sätzen, die das Titelkupfer, den Jahrgang, das neue Jahr überhaupt (?!) den LeserInnen widmet – „An Die Leser“ – und auf „der Mode reiches Füllhorn“ verweist. Es heißt, jenes streue „Auf unser Weltchen weit und breit Von sich so manch Andenken; Aus ihrem bunten Krame weiht Euch, Leser, ihre Dankbarkeit Dies zu Neujahrsgeschenken“. Es ist ein auf den ersten Blick bizarres Arrangement, das seine Wirkung auf der Kombinatorik des die LeserInnen adressierenden Titelkupfers, des römischen Karnevals bzw. seiner Neupräsentation und der wiederum mit den Modegegenständen des Titelkupfers verbundenen drei Abschlussbildern aufbaut. Das Frontispiz führt sich selbst als ein Geschenk für die es gerade konsumierenden LeserInnen auf; es macht zugleich jedoch auch das Journal und sein Reklameprogramm für Mode-Erzeugnisse und für das Konzept eines (von jedem und jeder Einzelnen zu erprobenden) Wohllebens zu einem Geschenk. Wer sich mit dem JLM auseinandersetzt, wird mit periodisch immer wieder bestätigten Normen konfrontiert, die in unterschiedlichen Erscheinungsformen definieren, was als wichtige Neuigkeit und Empfehlung für das Sozialleben und das eigene Wohlbefinden darin zu gelten hat. Im Fall des ersten Heftes des Jahres 1790 liegt zudem das mit dem Karneval verbundene philosophisch-kosmologische Konzept eines Neubeginns zugrunde – das neue Jahr steht, ebenso wie ein neuer Jahrgang des Journals, gerade erst an und schon jetzt verstreut es einem Füllhorn gleich „bunte“ Dinge, nach denen es Begehren weckt. Doch diese bleiben nicht einfach hingestreut, sondern werden kontrollierbar, so wie in Goethes Text gerade durch Begrenzung und Aufteilung von (Stadt-)Raum die Straße bewohnbar und somit (scheinbar) übersichtlich gemacht wird. Im Journal wird in umfassenderer Weise das Wohlleben als Gesellschaftsideal konsumierbar und übersichtlich gemacht, die Dinge werden bildräumlich und in beschreibenden Sektionen, Schemata und Aufzählungen geordnet. Den kornukopischen Raum, den das Füllhorn eröffnet (oder besser: das Journal als immer wieder seine Geschenke verstreuendes Füllhorn), erfahren die LeserInnen in einem Zusammenhang mit Karnevalsbildern,
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zugehörigen antik gefärbten Ritualen und deren Reinigungsfunktion. So erfüllt auch das Journal selbst – als Medium – seine Funktion eines Rituals, wenn LeserInnen die Seiten aufschlagen, lesen und Verbindungen herstellen, die Kupferstiche wahrnehmen, gedanklich ordnen und materialiter sammeln bzw. aufbewahren; zudem auch den Kaufanreizen und diversen Lebensratschlägen Folge leisten und diese in ihre Lebenspraxis ‚übersetzen‘. Solche Rituale sind wiederum untrennbar verwoben mit Didaktiken von Konsum(ierbarkeit) und Selbstoptimierung. Die im Goethe-Text heraufbeschworene „allgemeine Betäubung“, in die dieses „modernde Saturnal“ des Karnevals führe, nachdem die Jagd auf die Moccoli und die Versuche, diese auszublasen (also der Konnex um Tod und Vergänglichkeit), wieder zum Stillstand gekommen sei (Goethe 1790, S. 45), kommt in der Journal-Logik nicht vor. Hier kreisen stattdessen die aus dem Füllhorn verstreuten materiellen Werte immer neu und immer anders arrangiert um die an sie angepassten Subjekte und vice versa.
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Literatur Batley 1988 Batley, Edward M.: Das Römische Carneval oder Gesellschaft und Geschichte, in: Goethe Jahrbuch 1988, Bd. 105, Weimar: Böhlaus Nachfolger 1988, S. 128–143. Borchert/Dressel 2004 Borchert; Angela; Ralf Dressel (Hg.): Das Journal des Luxus und der Moden. Kultur um 1800, Heidelberg: Winter 2004. Falk 2006 Falk, Rainer: Sehende Lektüre. Zur Sichtbarkeit des Textes am Beispiel von Goethes Römischem Carneval, in: Sonderforschungsbereich 626 (Hg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, Berlin 2006, https://www.gesch kult.fu-berlin.de/e/sfb626/veroeffentlichungen/literaturverzeichnis/onlineveroeffentlichungen/falk_2006/index.html (Stand: 10.4.2019). Gerhardt 1996 Gerhardt, Katja: Goethe und Das Römische Carneval. Eine Betrachtung zu Text und Bild, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften, Nr. 2, Jg. 42., 1996, S. 289–296. Goethe 1789 Goethe, Johann Wolfgang von: Das Römische Carneval [Johann Wolfgang von Goethe. Zeichnungen und Colorierung nach Entwürfen Goethes von Georg Schütz. Radierungen von Georg Melchior Kraus], Weimar: Ettinger’sche Buchhandlung 1789. Goethe 1790 Goethe, Johann Wolfgang von: Das Römische Carneval, in: Journal des Luxus und der Moden, Jg. 5, Januar 1790, S. 3–47. Graczyk 2004 Graczyk, Annette: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München: Fink 2004. Grave 2014 Grave, Johannes: Beweglich und bildsam. Morphologie als implizite Bildtheorie?, in: Jonas Maatsch (Hg.): Morphologie und Moderne. Goethes anschauliches Denken
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Abbildungsnachweis Abb. 1: Mit freundlicher Genehmigung der Klassik Stiftung Weimar (Herzogin Anna Amalia Bibliothek).
Matt Smith Historische Häuser (ver-)queeren: Destabilisierungen der Heteronormativität im National Trust
Die Künstler_innengruppe Unravelled Arts hat gemeinsam mit dem National Trust1 das dreijährige Projekt „Unravelling the National Trust“ („Den National Trust entwirren“) organisiert. Es bestand aus verschiedenen kuratorischen Interventionen in historischen Gebäuden des National Trust im Südosten Englands: in den Nymans House and Gardens, in The Vyne und in Uppark. Für jedes dieser Häuser haben Polly Harknett, Caitlin Heffernan und ich als Leiter_innen von Unravelled Arts zehn bis zwölf zeitgenössische Künstler_innen beauftragt, einen Beitrag zum jeweiligen Haus und zu seinen Geschichten zu gestalten. Aus diesen Aufträgen sind ortsspezifische Arbeiten entstanden, auch von Heffernan und mir selbst, die jeweils einige der zahlreichen Geschichten der drei Gebäude neu aufgreifen und untersuchen. Es war uns ein Anliegen, den jeweiligen Ort selbst zum thematischen Kern der Ausstellung zu machen und nicht ein Thema oder eine Idee von außen an diese Orte heranzutragen. Die Interventionen der beauftragten Künstler_innen machten einen Teil der vielfältigen Geschichten sichtbar, die den Häusern innewohnen, und gaben diesen die Möglichkeit, sich selbst als widersprüchliche Orte (vgl. Taylor 1997, S. 8) zu verstehen. So konnten homogene und vereinfachte Erzählungen zugunsten mannigfaltiger, diverser und dissonanter Geschichten aufgebrochen werden. An zweien der drei Orte stieß ich jeweils auf die Geschichte eines unverhei-
1 A. d. Ü.: Der National Trust for Places of Historic Interest or Natural Beauty ist die zentrale britische Institution zur Pflege von öffentlich zugänglichen Naturund Kulturgütern in England, Wales und Nordirland.
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rateten Mannes, dessen Intimitäten2 außerhalb der heterosexuellen Norm lagen. Meine eigenen Interventionen, die ich in diesem Text diskutieren werde, beschäftigen sich mit diesen beiden Männern. Alison Oram hat festgestellt, dass die Präsentation historischer Gebäude in Großbritannien für gewöhnlich die herrschenden Vorstellungen von nationaler Vergangenheit widerspiegelt und Familiennarrative verwendet, die über Aristokratie, Klasse, Erbfolge und Familie ein Gefühl von Stabilität und nationaler Identität herstellen sollen (vgl. Oram 2012, S. 533). Die Präsentation der historischen Gebäude liegt in der Hand der Kurator_innen, die entscheiden, welche Teile der Geschichte für die Öffentlichkeit geeignet sind und welche nicht. LGBT-Sexualitäten sind selten Teil der gezeigten Zusammenstellungen, von einigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen. Das führt zu einem interessanten Paradox, sind doch die sexuellen Verbindungen der Familienmitglieder und die Produktion von Nachkommenschaft, wie sie in Familienstammbäumen aufgezeichnet werden, die den ererbten Besitz des Hauses durch die Generationen verfolgen, der zentrale Bestandteil der Informationsbroschüren für Besucher_innen. Reproduktive und heteronormative Sexualität ist also ein wesentlicher Bestandteil des kuratorischen Narrativs. Die Familienstammbäume liefern hier eine bereinigte Geschichte heterosexueller Intimitäten, während sie gleichzeitig alle gleichgeschlechtlichen Beziehungen verschweigen, die ja bis vor Kurzem nicht durch Heirat oder offizielle Partnerschaft dokumentiert werden konnten und daher nicht verzeichnet sind. Sowohl Nymans House als auch The Vyne sind historisch verbunden mit Männern, die in ihrem Leben und ihren Intimitäten gegen soziale Normen verstießen, und zwar durchaus auch in der Öffentlichkeit. Es mag verlockend sein, diese Männer im Nachhinein als „schwul“ oder „homosexuell“ zu definieren, aber die spezifische historische Bedingtheit dieser Begriffe lässt dies problematisch erscheinen. Im Kontrast dazu ist „queer“ ein unpräziser Begriff, der es ermöglicht, alternative Intimitäten zu erkunden, weil er sexuelle Abweichung signalisiert, ohne diese zwangsläufig gemäß einer uns heute geläufigen Bedeutung festzu-
2 A. d. Ü.: „Intimacies“, wie es im Original heißt, bezeichnen auch ein Konzept in den Queer Studies und lassen sich weder eindeutig als „Beziehungen“ noch als „Sexualität“ übersetzen, sondern zielen gerade auf die Inklusion von verschiedenen Formen der Nähe ab.
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schreiben. So können heutige Besucher_innen sich mit der Vergangenheit identifizieren und zwischen uns und diesen „queeren“ Männern werden empathische Verbindungen möglich. Die Interventionen, die ich hier besprechen möchte, haben die betreffenden Orte auf zwei verschiedene Weisen verqueert: einerseits in ihrem Bruch mit den normativen kuratorischen Herangehensweisen und andererseits in ihrer Erkundung der vorhandenen LGBT-Geschichten. Die Arbeiten Piccadilly 1830 im Nymans House und The Gift und Dandy in The Vyne haben es mir ermöglicht zu hinterfragen, wie diese Häuser mit ihren eigenen queeren Geschichten umgehen, und die damit einhergehenden Verwicklungen zu untersuchen. Das besondere an künstlerischen Interventionen in diesem Kontext ist ihre Offenheit für vielfältige und uneindeutige Lesarten. Sie ermöglichen eine Öffnung der Geschichte dieser Häuser und umschiffen gleichzeitig die Gefahren zeitgenössischer, didaktischer Sprache im Umgang mit Intimitäten, die nicht der heterosexuellen Norm entsprechen.
Nymans House and Gardens Das Nymans House liegt in East Sussex, im Südosten Englands, wo es von einem besonderen Mikroklima profitiert, das ideal für das Anlegen von Gärten ist. Das hatte auch Ludwig Messel im Sinn, als er das Landgut 1890 erwarb und dort einen der herausragendsten englischen Landschaftsgärten entstehen ließ. Das Haus, das Ludwig Messel gekauft hatte, war eine frühe viktorianische Villa, die er erweiterte und umbaute. Das Ergebnis war allerdings nicht nach dem Geschmack seiner Schwiegertochter Maud, die das ererbte Haus zum „mittelalterlichen“ Herrenhaus umgestaltete, sodass es den Anschein erweckte, man habe im 14. Jahrhundert mit dem Bau begonnen und bis in die Tudor-Zeit immer neue Erweiterungen vorgenommen (The National Trust 1997, S. 10). Maud sammelte auf ihren Streifzügen durch die Cotswolds immer wieder architektonische Bruchstücke auf und integrierte diese in ihre Vorstellung des Hauses, eine Vorstellung, die auch ihr Mann Leonard und ihre drei Kinder, Linley, Anne und Oliver, teilten. 1947 wurde das Haus dann fast vollständig zerstört, als ein Klempner, der ein zugefrorenes Wasserrohr mit einem Brenner auftauen wollte, das Haus in Brand setzte. Der National Trust beschreibt die Überbleibsel als Ruine mit einer nun noch
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romantischeren antiquierten Anmutung als das ursprüngliche Haus (vgl. The National Trust 1997, S. 10); etwas Geisterhaftes umgibt heute das Gebäude, von dem nur noch ein kleiner Innenteil bewohnbar ist. Die letzte Bewohnerin des Hauses war Anne Messel, die dort als Witwe einzog, und das Haus ist in dem Zustand belassen worden, in dem sie es hinterließ. Spuren der alleinstehenden älteren Frau sind noch überall zu finden. Beim Gang durch das Haus stößt man aber auch auf Dinge, die eine merkwürdige Mischung aus Alter und Zurückgezogenheit einerseits und jugendlichem, theatralischem Camp (vgl. Sontag 1967) andererseits an dem Tag legen, so z. B. das Fernsehgerät, das von Annes Bruder, dem Bühnenbildner Oliver Messel, als Theater mit roten Vorhängen und goldenen Kordeln gestaltet worden war. Alle drei Geschwister, Anne, Oliver und ihr Bruder Linley, sind Thema in der 2007 herausgegebenen Informationsbroschüre The Nymans Story. Anne und Linley waren beide zweimal verheiratet. Linleys zwei Ehen (die erste wurde geschieden) werden in einem Absatz behandelt. Annes erste Ehe nimmt einen Absatz ein, ihre Scheidung und die zweite Ehe zwei weitere Absätze. Oliver sind drei Absätze gewidmet. Alle drei beschäftigen sich mit seiner beruflichen Laufbahn als Bühnenbildner und Inneneinrichter und mit seinen Verbindungen zu den anderen Familienmitgliedern (vgl. Brown 2007, S. 19ff.). Oliver führte fast 30 Jahre lang eine öffentlich bekannte Beziehung mit einem Mann, Vagn Riis-Hansen, der auch sein Geschäftspartner war. Diese Beziehung wird in der Broschüre nicht erwähnt. Annes und Linleys heterosexuelle Beziehungen werden offensichtlich ganz anders behandelt als die Beziehung von Oliver und Vagn, die schlicht ausgelassen wird. In anderen Publikationen von verschiedenen Autor_innen wird mit Olivers Privatleben und seiner Beziehung zu Vagn anders umgegangen. Oliver wird als Homosexueller beschrieben (vgl. Beaton et al. 1983, S. 18) und Vagn als Manager und Freund bezeichnet (vgl. Pinkham 1983, S. 15), als lebenslanger Gefährte und Verwalter, den Oliver „Vagnie dear“ nannte (Castle 1986, S. 124f.). Olivers Großneffe, Thomas Messel, beschreibt Vagn in der Biografie seines berühmten Verwandten als Olivers Gefährten („companion“) und ihre Beziehung als liebevolle Freundschaft, die 27 Jahre, bis zu Vagns Tod, hielt (vgl. Messel 2011, S. 25). Als Vagn mit Oliver 1964 nach Barbados zieht, ändert sich sein Titel im Buch von „companion“ zu „partner“ (ebd., S. 146). Die Mehrdeutigkeit der Bezeichnungen erzeugt auch für zeitgenössische Kurator_innen Schwierigkeiten.
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Die beiden Männer als Liebhaber zu bezeichnen, wäre einerseits ein vereindeutigendes rückwirkendes Outing, andererseits aber eine naheliegende Annahme auf der Grundlage der Informationen, die wir haben. Begriffe wie „partner“ beinhalten diese Mehrdeutigkeit und lassen keine endgültige Klarheit zu. Der Mangel an Klarheit stellt Kurator_innen wie Besucher_innen vor interessante, aber zugleich schwierige Fragen, und so ist es wenig überraschend, dass die Informationsbroschüre zum Nymans House diese Beziehung völlig außen vor lässt, die Beziehung zweier Männer also aus der Geschichte des Hauses tilgt und somit ausradiert. Die große Rolle, die Vagn und auch Nymans House in Olivers Leben gespielt haben, und die Zuneigung, die er zu beiden hatte, zeigt sich in seinem Wunsch, dass er und Vagn nach seinen genauen Anweisungen gemeinsam dort bestattet werden sollten, in jenem ummauerten Garten, den er seit seiner Kindheit so geliebt hatte (vgl. ebd., S. 26). Dass in der Kuratierung von ursprünglich privaten Wohnräumen ausgerechnet solche Beziehungen unter den Tisch fallen, ist besonders bitter, gehörten solche Privaträume in Großbritannien doch zu den wenigen Orten, an denen gleichgeschlechtliches Begehren auch schon gelebt werden konnte, bevor es 1967 entkriminalisiert wurde. Zugleich ist es eine Herausforderung, und ich stellte mir die Frage, wie meine Intervention im Nymans House diese Beziehung zum Thema machen könnte. Das Moment des Theatralen in Olivers Einrichtung hatte unser Interesse am Haus geweckt, daher sichteten wir auch die von ihm stammenden Arbeiten in der Sammlung des Victoria and Albert Museum, darunter viele Bühnenbilder und Kostüme. Ein Kostüm sprach mich besonders an: Oliver hatte es für den Tänzer Serge Lifar entworfen, den ehemaligen Liebhaber des russischen Ballett-Impresarios Sergej Djagilev (vgl. Jennings 2010), für seinen Auftritt als schottischer „Highlander“ in einem Tanzstück namens Piccadilly 1830, das Teil von Charles B. Cochrans Bühnenproduktion 1930 Revue war.3 Die Tatsache, dass Oliver das Kostüm später ändern ließ, um es bei einer Party von Daisy Fellowes, der Herausgeberin des französischen Harper’s Bazaar, zu tragen, zeigt seine Begeisterung für dieses Ensemble. Der Pastiche von Männlichkeit in der
3 Informationen zu dem Kostüm finden sich in der Datenbank zur Sammlung des Londoner Victoria and Albert Museum, http://collections.vam.ac.uk/ item/O133534/theatre-costume-messel-oliver-hilary/ (Stand: 21.3.2017).
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Militärkleidung, der bis zur Parodie gesteigert wird, und der überbordende Federkopfschmuck, der eher nach Varieté als nach Militär aussieht, verleihen dem Kostüm die Aura des Theatralen und machen es zu Camp. Mit seinem ursprünglichen Kostüm für Piccadilly 1830 verweist Oliver auf die unterschiedlichen Gegebenheiten an ein und demselben Ort, aber zu verschiedenen Zeiten: 1830 war Piccadilly ein Treffpunkt für Männer aus der Oberschicht, ganz anders als im Jahr 1930, als es zur Cruising Area für Arbeiterjungen und Stricher geworden war (vgl. Jobling 2012, S. 52). Es ist sehr wahrscheinlich, dass Oliver diese Geschichte bewusst war und dass das Kostüm – in seiner Assoziation des militärischen Kleidungsstils mit einem Ort für Gelegenheitssex unter Männern – ein Insider-Scherz war für alle, die über Piccadilly Bescheid wussten. Dass unterschiedliche Zeitlichkeiten aufeinandertreffen, lässt sich auch beobachten, wenn bei der Kuratierung historischer Häuser versucht wird, ein dynamisches, belebtes Umfeld als statischen Raum zu präsentieren; ebenso können die Besucher_innen solcher Häuser eine Verdichtung und Vereinigung von verschiedenen zeitlichen Epochen erleben. Beth Lord beschreibt diese Situation als Heterotopie, die disparate Objekte aus verschiedenen Zeiten in einem Raum vereint, der die Gesamtheit der Zeit einschließen will (vgl. Lord 2006, S. 3). Ich habe diesen theoretischen Rahmen übernommen und in einer Installation mehrere Momente der Nutzung des Hauses zusammengebracht: Anne Messels letzte Tage als alleinstehende Witwe, die 1930er Jahre als Zeit von Oliver Messels Ruhm und das Haus als Ort von Annes und Olivers Kindheit mit ihren Spielen, Verkleidungen und Fantasiewelten – eine Zeit, auf die auch das „verkleidete“ Fernsehgerät anspielt. Besagtes Kostüm würde darin, so hoffte ich, auch das Schweigen über die Beziehung von Oliver und Vagn ansprechen. Die Jacke für meine Installation Piccadilly 1830 (Abb. 1) im Nymans House war handgeschneidert und mit tausenden Spiegelperlen verziert, die einzeln per Hand aufgenäht wurden – ein langer, arbeitsintensiver und repetitiver Vorgang. Während der Herstellung erlebte ich eine „polychrone“ Zeit (vgl. Tucker 1996, S. 68). Marcia Tucker stellt der evolutionär und progressiv gedachten monochronen Zeit der „hohen“ Künste eine polychrone Zeit gegenüber, die in den langsamen und komplexen Prozessen der Handarbeit – des Stickens, Spitzenklöppelns, Strickens und Quiltens – erlebt wird, in der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwoben werden und in deren Objekten gemeinschaftliche Werte
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1 Matt Smith, Piccadilly 1830, 2012, Truthahn- und Straußenfedern, Keramik, Wolle, Leinen, Spiegelperlen, in Nymans House and Gardens
und Praktiken in die Gegenwart überliefert werden (vgl. ebd.). Diese Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart durchzog die Intervention. In Piccadilly 1830 ist die Jacke kombiniert mit einer überdimensionalen Bärenfellmütze aus Federn.4 Rahmen und Federn kamen von einem Federngroßhändler, der auch das Verteidigungsministerium beliefert. Das Hutband und die Rosette sind aus Keramik hergestellt. Die verwendeten Federn und die Wolle sind eher empfindliche und vergängliche 4 A. d. Ü.: Bärenfellmützen sind Teil der Zeremonialuniform einiger Teile der British Army.
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2 Matt Smith, Piccadilly 1830, 2012, Truthahnund Straußenfedern, Keramik, Wolle, Leinen, Spiegelperlen, in Nymans House and Gardens
Materialien, im Gegensatz dazu geben Band und Rosette aus Keramik der Installation ein Element von Dauer, so sie nicht mit Gewalt zerstört werden. Mir gefiel der Gedanke, dass der_die zukünftige Kurator_in versuchen müsste, ein auf einen Metallrahmen genähtes Keramikband in eine (hetero-)normative Interpretation des Hauses zu integrieren. So wie Oliver das Bärenfell durch Straußenfedern ersetzt hatte, ersetzte ich meinerseits die geflochtenen Kordeln des Originalkostüms durch Spiegelperlen. Diese beiden Ersetzungen zeigen jene Anzeichen von Camp, die Susan Sontag in ihrem grundlegenden Essay von 1964 benennt: Übertreibung, Künstlichkeit, Ästhetizismus (vgl. Jobling 2010,
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S. 54). Die Beschreibung als Camp passt hier sehr gut. Sontag schreibt über dieses ästhetische Gefühl: „Camp taste turns its back on the goodbad axis of ordinary aesthetic judgement. Camp doesn’t reverse things. It doesn’t argue that the good is bad, or the bad is good. What it does is to offer for art (and life) a different – a supplementary – set of standards.“ (Sontag 1967, S. 286)5 Sontag weist hier darauf hin, dass Camp einen Raum für Differenz ermöglicht. Der Zweck von Camp ist dem der künstlerischen Interventionen ähnlich: Beide dienen dazu, Debatten zu eröffnen und gleichzeitig Normen in Frage zu stellen. Meine Intervention auf ein Outing Olivers zu reduzieren, wäre eine Fehlinterpretation. Die Intervention spielt gerade mit den subtilen Handgriffen und Tricks, in denen sichtbar werden kann, wie fragil die Performance von Männlichkeit ist: Steht eine Feder ein bisschen zu hoch, rutscht man von militärisch-butchiger Männlichkeit in die Effeminiertheit der Revuetänzerin (Abb. 2). Jacke und Mütze haben wir im Haus auf einer römischen Skulptur, The Antique Youth, montiert. Das Zusammenspiel aus der neuen Arbeit und dem existierenden Kunstobjekt war ein zentrales Anliegen der Intervention, denn durch eine solche Kombination lässt sich ein Wertesystem, das – sowohl im Bereich der Sexualität als auch in Kulturinstitutionen – Unterdrückung und Verschweigen bedingt, verqueeren und in Frage stellen (vgl. Mathieu 2003, S. 132). Diese Zusammenstellung war eine direkte Antwort auf das institutionalisierte Verschweigen im Nymans House. Wie bereits erwähnt war das Ziel von Piccadilly 1830, zwei Zeiten zusammenzubringen; jene, in der Oliver zum ersten Mal die Kostümjacke getragen hatte, und jene, zu der seine Schwester Anne im Nymans House wohnte, einen Höhepunkt aus Olivers Leben und einen Tiefpunkt aus Annes. Zum Zeitpunkt, als Anne in das Haus einzog, waren ihr zweiter Ehemann, der Earl of Rosse, und Vagn verstorben, beide Geschwister waren verwitwet. Als die Arbeit auf der Skulptur The Antique Youth montiert wurde, kamen Kunst und Ort endlich zusammen. Die Skulptur, die ihre Nase und ihre
5 A. d. Ü.: Der Bezug des vorliegenden Textes auf Susan Sontags Aufsatz lässt sich in der publizierten deutschen Übersetzung nicht nachvollziehen. Daher wird hier meine eigene Übersetzung aufgeführt: „Camp kehrt der üblichen Gut-schlecht-Unterscheidung des ästhetischen Urteils den Rücken. Camp verkehrt die Dinge nicht ins Gegenteil. Es geht nicht darum, das Gute als schlecht zu sehen und das Schlechte als gut. Was Camp für die Kunst (und das Leben) bietet, ist ein anderes, supplementäres System von Normen.“
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Genitalien eingebüßt hat, gibt der Intervention einen vergänglichen oder morbiden Charakter und kommentiert gleichzeitig Olivers Entsexualisierung. Sie wird damit zu einer Art queerem Memento mori. Es ist dem Team im Nymans House zu verdanken, dass Vagn nach der „Unravelling Nymans“-Ausstellung in den Familienstammbaum der Messels aufgenommen und mit Oliver verbunden wurde, so konnte dessen vorheriger Status als „Junggesellenonkel“ enträtselt (unravelled) werden.
The Vyne The Vyne ist ein großes, umgebautes Anwesen aus der Tudor-Zeit in der Nähe von Basingstoke in Hampshire. Anders als im Nymans House, das eine eher kurze Geschichte hat und dessen Interpretation durch den National Trust hauptsächlich auf die Zeit der letzten Bewohner_innen abzielt, zeigt die Kuratierung in The Vyne den Besucher_innen eine Vielzahl von Geschichten aus den Jahren 1500 bis 1950. Es ist also eine wesentlich komplexere Aufgabe, sich in der Aufteilung der Zeit in The Vyne zurechtzufinden. Zwischen 1754 und 1776 war John Chute der Besitzer des Anwesens. In der Informationsbroschüre steht über ihn: „John Chute as the youngest of Edward Chute’s ten children and, as he was unlikely to inherit the family estates, spent many years travelling in Italy […]. He was never to marry, but surrounded himself with younger men, including his handsome, wealthy and deaf cousin, Francis Whithead […]. In Italy the two inseparable cousins were called the ‚Chutheads‘.“ (Howard 2010, S. 53)6 Welchen Reim sollen wir uns auf diesen merkwürdigen Absatz machen? Die Verknüpfung von Johns Ehelosigkeit mit der Anwesenheit hübscher junger Männer kann eigentlich nur ein schwach getarnter Hinweis auf seine queere Lebensführung sein. Raymond Bentman hat es expliziter formuliert: „John Chute and Francis Whithead made no secret of their intimacy. They were inseparable … Chute referred to Whithead as ‚my other half‘“
6 „John Chute war das jüngste von Edward Chutes zehn Kindern. Da die Wahrscheinlichkeit, das Anwesen zu erben, für ihn gering erschien, reiste er viele Jahre durch Italien [...]. Er heiratete nie, sondern umgab sich mit jüngeren Männern, unter diesen sein gutaussehender, wohlhabender und gehörloser Cousin Francis Whithead [...]. In Italien wurden die beiden unzertrennlichen Cousins die ‚Chutheads‘ genannt.“ Alle Übersetzungen der im Text verwendeten Zitate stammen von der Übersetzerin.
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(Bentman 1997, S. 277).7 Die ganze Geschichte zu enträtseln ist allerdings schwieriger. Wie Bentman ausführt, können wir über die Bezeichnungen für diese Männer diskutieren, und wir werden nie wissen, was sie tatsächlich im Bett getan haben. Aber wenn wir alle verfügbaren Informationen in Betracht ziehen, ist die plausibelste Erklärung, dass diese Männer sexuell und emotional an anderen Männern interessiert waren und dass sie zu einer Gemeinschaft Gleichgesinnter zählten (vgl. ebd., S. 278). Francis Whithead starb schon in seinen frühen 30ern, etwa zehn Jahre nachdem er und John Chute in Florenz Horace Walpole bei dessen Grand Tour kennengelernt hatten. Die Beziehung von Chute und Walpole wird in einer meiner Interventionen in The Vyne erkundet. Glücklicherweise war Horace Walpole einer der fleißigsten Briefeschreiber des 18. Jahrhunderts, und so gibt er uns Einblick in die Intimitäten der beiden Männer. „Other half“ ist ein Begriff, den auch Walpole benutzt, viele Jahre nachdem Whithead von Chute so tituliert wurde. Walpole verwendet ihn nach Chutes Tod: „I am lamenting myself, not him! – no I am lamenting my other self. Half is gone; the other remains solitary“ (zit. n. Haggerty 2011, S. 14).8 Ich möchte nicht behaupten, dass dieser Begriff hier eine sexuelle, queere Beziehung bezeichnet, aber er weist doch auf eine große homosoziale Nähe hin. Walpoles Briefe wurden in zwei verschiedene Richtungen interpretiert, entweder um seine Homosexualität zu belegen (vgl. Bentman 1997, S. 278) oder um die Vorstellung zu untermauern, dass seine Beziehungen mit Männern und Frauen allesamt platonische Brieffreundschaften waren (vgl. Haggerty 2011, S. 111). So oder so blieb Walpoles nicht-normative Männlichkeit nicht unbemerkt. Ein Zeitgenosse, George Hardinge, kommentierte sein „effeminiertes“ Benehmen und fügte hinzu: „[…] some of his friends were as effeminate in appearance and in manner as himself and were as witty. Of these I remember two, Mr. Chute and Mr. George Montagu. But others had effeminacy alone to recommend them.“ (Zit. n. Bentman 1997, S. 277)9
7 „John Chute und Francis Whithead hielten ihre Intimität nicht geheim. Sie waren unzertrennlich. Chute bezeichnete Whithead als ‚meine andere Hälfte‘“. 8 „Ich betrauere mich selbst, nicht ihn! – nein, ich betrauere mein anderes Selbst. Die eine Hälfte ist gegangen, eine einsame Hälfte bleibt zurück.“ 9 „Einige seiner Freunde waren ähnlich effeminiert in Erscheinung und Benehmen, und ähnlich geistreich. Ich erinnere mich an zwei, Mr. Chute und Mr. George Montagu. Andere konnten sich ausschließlich durch ihre Effeminiertheit profilieren.“
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Chute selbst pflegte einen Sprachgebrauch, der heute mit einer schwulen Kultur in Verbindung gebracht würde, besonders mit der Tradition des Geschlechterrollentauschs, wie ein Auszug aus einem Brief an Walpole zeigt, in dem er ein Gemälde von Raphael in Rom beschreibt: „Such a Christ, as beautiful, as graceful, and we may suppose, if his petticoats were off, as well made as his elder brother of the Belvidere.“ (Zit. n. ebd.)10 Diese Beschreibung ermöglicht uns einen Einblick in die sozialen Erwartungen, die an Geschlechterrollen geknüpft waren, und an die Kontrolle ihrer Grenzen. George Haggerty schlägt vor, dass wir, um Walpole und seinen Kreis zu verstehen, nicht die sexuellen Handlungen in den Mittelpunkt stellen, sondern uns über die Mischung aus Junggesellentum, Freundlichkeit, Intimität und Humor Gedanken machen (vgl. Haggerty 2011, S. 13). Obwohl ich Haggerty hier zustimme, glaube ich, dass es genug Belege für ihren Nonkonformismus gibt, um vorsichtige historische Verknüpfungen herzustellen zwischen der Beziehung von Chute und Walpole und einer Kultur, die wir heute mit queerer Identität assoziieren. Wie diese queere Subkultur auch in den Wohnhäusern der betreffenden Männer als prägende Kraft wirkte, lässt sich in The Vyne auf besonders faszinierende Weise erleben. Mit Richard Bentley hatten Walpole und Chute ein „Komitee des Geschmacks“ gegründet, das den Ausbau und die Einrichtung von Strawberry Hill, Walpoles Villa in London, beaufsichtigte. Geschmack spielte hier eine wichtige Rolle, denn Geschmack war, wie Haggerty schreibt, ein Code für eine bestimmte Art von gemeinsamem Gefühl, das häufig mit sexuellen Präferenzen oder zumindest mit bestimmten Formen von Männlichkeit in Verbindung gebracht wurde (vgl. ebd., S. 15). Haggerty führt aus, dass Walpole und seine engen Freunde Geschmack als Wesensmerkmal betrachteten. Der Geschmack definierte sie und verband sie miteinander. Er war für Walpole und seine Freunde etwas Ähnliches wie das neuere Konzept von Identität, eine geteilte Vorliebe für künstlerischen Anspruch und Idiosynkrasie (vgl. ebd., S. 73). Haggerty zieht hier eine Verbindungslinie von Geschmack und visueller Sensibilität für häusliche Dinge zu Identitätspolitik. Daher möchte ich behaupten, dass wir das Selbstverständnis dieser Männer nur verstehen können, wenn wir uns genau ansehen, wie sie ihre Häuser
10 „Welch ein Christus, schön und anmutig, der, wie wir annehmen dürfen, seinem älteren Bruder im Belvedere auch in körperlicher Gestalt nicht nachstehen dürfte, wenn er sich seiner Unterröcke entledigte.“
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verwendeten, einrichteten und füllten, denn beides gehört untrennbar zusammen. Um Haggerty weiterzuführen: Diese Männer waren queer und sie richteten queere Häuser ein. Ich habe mir überlegt, zwei neuere queere visuelle Strategien zu verwenden: Camp und Kitsch liegen den Interventionen in The Vyne zugrunde. Walpole und Chute waren beide passionierte Sammler, eine Leidenschaft, der sie auf ihrer Grand Tour ebenso wie in ihrem Alltag nachgingen. Ich glaube, dass ihre Sammlungen als Selbstdarstellungen funktionierten und auch dem Zweck dienten, Gemeinschaft und ein Gefühl der Verbundenheit herzustellen. Wie Haggerty schreibt, waren dingliche Objekte für Walpoles Gefühl von Nähe zu den von ihm geliebten Männern wesentlich (vgl. ebd., S. 85). Michael Camille hat gezeigt, dass Sammeln eine Performance ist und eine besondere Rolle im Aufbau queerer Identität spielt. Dabei ist nicht nur bedeutsam, dass das unaussprechliche gleichgeschlechtliche Begehren als „Geheimnis“ in einer kodierten Sprache mitgeteilt werden muss, sondern auch, dass diese kodierte Sprache tatsächlich in einem Ensemble von Dingen besteht (vgl. Camille 2001, S. 2). An diese Idee anknüpfend habe ich die Sammelleidenschaft als Einstieg für meine erste Intervention, The Gift, in The Vyne genutzt. Obwohl Walpole und Chute einander gegenseitig beeinflussten, gab es in ihrem Verhältnis eine gewisse Unausgewogenheit, wie ein Kommentar Walpoles in einem Brief an George Montagu zeigt: „I don’t guess what sight I have to come in Hampshire, unless it is Abbotstone. I am pretty sure I have none to come at the Vine [sic], where I have done advising, as I see Mr. Chute will never execute anything.“ (Walpole zit. n. Bentley 1840, S. 314)11 Um Walpole nicht weiter zu verletzen, lässt The Gift Chute die verworfenen Dekorationsvorschläge zusammenpacken und unter dem zentralen Treppenaufgang verstecken. Weil er all diesen geschenkten Nippes nicht wegwerfen kann, sammelt Chute die diversesten Objekte, die ihm Walpole von seinen Reisen mitbringt und die dessen elsternhafte Suche nach schönen Dingen dokumentieren (Abb. 3). Diese disparaten Objekte wurden für die Intervention in Ton abgegossen und gebrannt (wodurch sie im Material vereinheitlicht wurden). So wurden sie neu inszeniert, um gewissermaßen eine Familienähnlich-
11 „Ich weiß gar nicht, was ich in Hampshire ansehen sollte, außer Abbotstone. Ich bin mir sicher, dass es im Vine [sic] nichts anzusehen gibt, denn obwohl ich ihn beraten habe, setzt Mr. Chute meine Vorschläge niemals um.“
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3 Matt Smith, The Gift, 2013, weißer Ton, Süßwasserperlen, Draht, 60 cm hoch, in The Vyne
keit zwischen Objekten herzustellen (vgl. Davis 2011, S. 310). Die Idee einer queeren Familiensaga, in der Sammlungen von Objekten für queere Familienzusammenhänge stehen, stammt von Whitney Davis (vgl. Davis 2011). Der_Die Sammler_in kann so das aus einer Gruppe von historischen Objekten und queeren Biografien bestehende Erbe antreten oder als Gründer_in einer neuen Ahnenreihe bisher unsichtbare Verbindungen zwischen Objekten schaffen; auch materiell, wie es beispielsweise auch in Walpoles Schrank im Victoria and Albert Museum unternommen wird, oder im Fall eines Kästchens mit Florentiner Mosaik in The Vyne, das John Chute um eine späte Rokoko-Halterung ergänzt hat. Die queere Familiensaga bietet hier einen schönen Kontrast zur Heteronormativität der
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4 Matt Smith, Dandy, 2013, weißer Ton, Lack, Abziehdekor, Süßwasserperlen, Draht, 130 cm hoch, in The Vyne
Erzählungen, die sich in historischen Anwesen um den Familienstammbaum drehen. Wenn wir uns an Davis’ Vorschlag orientieren, dann kann man The Gift als uneheliches Kind von Walpole und Chute verstehen, allerdings muss man jungfräuliche Empfängnis und Leihmutterschaft akzeptieren. Die Installation ist aber auch deswegen eine Bestätigung der Beziehung, weil sie einer zeitgenössischen Hochzeitstorte ähnelt. Die zweite Intervention in The Vyne, Dandy, befasst sich nur mit John Chute und seiner Selbstdarstellung. Der Dandy ist von einer neueren, industriell gefertigten Figurine eines Dandys mit Hund abgegossen. In den späten 1890er Jahren, als Oscar Wilde berühmt war, war die Rolle des Dandys als effeminierter Aristokrat mit einer ästhetizistischen Attitüde
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und wahrscheinlich gleichgeschlechtlichem Begehren klar definiert (vgl. Cook 2003, S. 22). Die abgegossene Dandy-Figurine steht oben auf einem Turm aus anderen abgegossenen Objekten, klassischen Vasen und Säulenteilen, die wiederum mit klassizistischen Zusätzen und Perlen versehen sind. Dieses Werk steht in The Vyne im Haupttreppenhaus, einem der Teile des Hauses, die von Chute umgebaut wurden (Abb. 4). Im 20. Jahrhundert wurden massenhaft billige Figurinen hergestellt, die den Dandy des 18. Jahrhunderts darstellten. Sie nahmen in der Populärkultur einen besonderen Platz ein, da sie sich nicht mit dem Massengeschmack verändert hatten und häufig einen nostalgischen Zug trugen. Mit diesen Figurinen zu arbeiten, bringt Fragen von Hoch- und Populärkultur, Klasse, Geschmack und Wert ins Spiel (vgl. Britton 2011, S. 33). So hält das gesamte 18. Jahrhundert Motive für die Inneneinrichtung bereit, die wiederholt in und aus der Mode kamen und die immer zwischen schlechtem und gutem Geschmack oszillieren. Mit Bezug auf Lisa Dowling schreibt Jasmine Rault, dass es sich um eine Epoche handelt, die auch für Dekadenz und Geschlechterabweichungen steht (vgl. Rault 2010, S. 196). In dem Dandy aus Keramik verschmelzen also zwei queere Gefühlslagen: Camp und ausschweifende Freiheiten. Die ursprüngliche Dandy-Figur, die für diese Installation abgegossen wurde, habe ich ausgewählt, weil man ihn ihr eine Art des Cruisens erkennt, die als „stand and pose“ (demonstrativ herumstehen) bekannt geworden ist – eine verdeckte Form des Cruisens, deren Subtext in etwa lautet: Ich lasse mein Interesse an dir nur erkennen, indem ich mich selbst dadurch begehrenswert mache, dass ich mich dir gegenüber vollkommen gleichgültig zeige (vgl. Crimp o. J., S. 52). Die Arbeit in The Vyne stellt John Chute als queeren Mann auf der Suche nach sexuellen Kontakten aus – und zeigt ihn dabei, wie er sich selbst ausstellt, auf einem Turm aus klassischen Vasen und Sockeln, die uns zurück zur Idee von Camp bringen. Patrik Steorn beschreibt theatralische Selbstdarstellung und Wertschätzung eines subkulturellen Geschmacks als zentrale Bestandteile des vielseitigen Konzeptes Camp. Sowohl das Sammeln als auch das Ausstellen und Wertschätzen von Objekten, Kunstwerken, Inneneinrichtungen, Kleidungs- und Erinnerungsstücken sind Praktiken, die Camp ermöglichen (vgl. Steorn 2010, S. 131f.). Die Verwendung der Dandy-Figur war eine bewusste Entscheidung für ein Originalobjekt von fragwürdigem Geschmack. Camp wird in der Installation ausbuchstabiert als engagierte Ironie, die – wie in den besten
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Definitionen von Camp benannt – gleichzeitig ein starkes Gefühl der Einbeziehung in die Situation oder zum Objekt und eine Wahrnehmung der Komik in den inhärenten Widersprüchen ermöglicht (vgl. Butt o. J., S. 91f.) und den queeren Kontext wahrnehmbar macht. Denn obwohl John Chute hier in erhabener Position steht, herrscht er doch nur über einen Haufen Plunder und ist so bestenfalls eine komische Herrscherfigur. Die Installation in diesem Treppenhausflur zu platzieren, erinnert dabei nicht nur daran, dass Chute diesen Teil des Hauses umgebaut hatte – es ergibt sich außerdem eine queere Dreiecks-Familienbeziehung mit den zwei Büsten von Caligula und Antoninus, die am Fuß der Treppe stehen. Whitney Davis’ Idee der queeren Familiensaga, in der eine eigene Genealogie aus Objekten entwickelt wird, war bereits Thema. Hier stellt die Intervention die Dandy-Figur an die Spitze eines Dreiecks historischer Biografien, die mit Queerness assoziiert werden: Chutes eigene Biografie, die wahllose sexuelle Aktivität Caligulas und Antoninus’ Adoption durch Hadrian nach dem Tod seines Liebhabers Antinoos. Alle drei Biografien bekommen durch die Installation einen queeren Widerhall und erfüllen damit Davis’ Vorstellung der queeren Familiensaga als einer Erzählung, die, indem sie Chute in einen queeren, außerhalb der Blutsverwandtschaft entstehenden Stammbaum einschreibt, eine solche Familie gesellschaftlich möglich macht (vgl. Davis 2011, S. 315).
Schluss Die Betonung, die in den historischen Gebäuden auf die Genealogien der wohlhabenden Familien, die die Häuser besessen haben, gelegt wird, macht ein heteronormatives Vorurteil stark. Es findet sich an diesen Orten jedoch auch ein innerer Widerspruch, denn während sie einerseits heteronormative Orte sind, waren viele auch Schauplatz queerer Intimitäten und bieten sich daher für eine Erkundung dieser Intimitäten an, in einer Art, in der Objekte in musealen Sammlungen dies selten tun. Einer der Kritikpunkte an der Auswahl der ausgestellten Häuser, nämlich die elitäre Herkunft ihrer Besitzer_innen, kommt hier den Besucher_innen zugute, deren eigene Sexualität nicht perfekt in die Hetero-Norm passt. Historische Beispiele lesbischer und schwuler Lebensführung finden sich häufig in den gesellschaftlichen Eliten bzw. in bürgerlichen Kreisen, die den Künsten zuneigen (vgl. Oram 2011, S. 193), da ökonomische Unab-
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hängigkeit ein Leben jenseits der Grenzen der gesellschaftlichen Normen erleichtert. So müssen die Besucher_innen bei ihren Identifikationen zwar möglicherweise Klassengrenzen überschreiten, aber zugleich können diese Orte historische Anknüpfungspunkte für heutige LGBT-Besucher_innen bieten. Eine Pilotstudie von Joe Heimlich und Judy Koke mit LGBT-Besucher_innen in nordamerikanischen Kulturinstitutionen, von Kunstmuseen und Opernhäusern bis zu Zoos und Parks, hat ergeben, dass LGBT-Befragte für ein Gefühl der echten Zugehörigkeit Folgendes bräuchten: LGBT-Personen, -Paare und -Gruppen müssten Teil der Bilder und Erzählungen sein, mit denen Ausstellungsstücke präsentiert werden, sodass sie die institutionelle Akzeptanz aller Besucher_innen reflektieren (vgl. Heimlich/Koke 2008, S. 100). Die Studie beschreibt auch, dass LGBT-Geschichte in den untersuchten Einrichtungen oft derart versteckt ist, dass LGBT-Künstler_innen und -Performer_innen als asexuell oder heterosexuell dargestellt werden oder dass ihre nonkonforme Geschlechteridentität nicht erwähnt wird (vgl. ebd.). Mit den Sammlungen von Objekten und den Räumlichkeiten in öffentlich zugänglichen historischen Gebäuden werden uns die Interessen und Wünsche der einzelnen Menschen vermittelt, die sie geschaffen haben. Damit ist es auch möglich, uns verdeckte, aber vielfältige Spuren des Wissens über queere Vergangenheiten aufzuzeigen. Wenn wir anfangen, ein historisches Gebäude nicht nur als Ort des heteronormativen Familienstammbaums zu verstehen, sondern auch als Ort der queeren Familiensaga, dann können wir uns dort in einzigartiger Weise von queeren Affekten berühren oder bewegen lassen. Die Interventionen im Nymans House und in The Vyne funktionieren jede auf ihre Art als feministische Praxis nach Hein: Die Vertauschung von Vordergrund und Hintergrund lenkt die Aufmerksamkeit auf das Übersehene und das Unterdrückte, lässt es sichtbar werden und fragt, warum es vernachlässigt worden ist (vgl. Hein 2010, S. 57). Kuratorisches (Ver-)Schweigen macht queere Geschichte nicht immer ungeschehen. Aufmerksame Besucher_innen können manchmal intuitiv erkennen, dass historische Gebäude Schauplätze queerer Geschichten waren. Wenn diese Geschichten aber nicht von den zuständigen Institutionen thematisiert werden, legt dies nah, dass queere Lebensformen (und damit möglicherweise auch queere Besucher_innen) nicht willkommen sind, zumindest still sein sollten oder zum Schweigen gebracht werden müssen. Die Darstellung der „Anderen“ an diesen Orten sollte keine bloß intellektuelle
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Übung sein, sondern auf eine korrektere Darstellung der Vergangenheit hinarbeiten. Die Kurator_innen können dem erklärten Ziel des National Trust, nämlich des „being relevant to everyone“,12 näherkommen, wenn sie entspannter im Umgang mit den jeweiligen queeren Geschichten werden.
12 A. d. Ü.: Diese Aussage zu den Bemühungen, für alle relevant zu sein, stammt von Jenny Henderson, der Visitor Reception Managerin der Nymans House and Gardens: „We wanted to promote the National Trust as being relevant to everyone“, Lisa Davies: Proud to be National Trust, Website des National Trust for Places of Historic Interest or Natural Beauty, 17.9.2012, http://www.nationaltrustjobs.org. uk/our-stories/proud-to-be-national-trust (Stand: 20.3.2017).
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Abbildungsnachweise Abb. 1–4: Fotografie Sussie Ahlberg, © Unravelled Arts.
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Daniela Hammer-Tugendhat Die Malerei als Baumeisterin des Interieurs. Zur ‚Geburt‘ des bürgerlichen Interieurs in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts
Irene Nierhaus und Kathrin Heinz schreiben in ihrem Geleitwort zum Band Interieur und Bildtapete. Narrative des Wohnens um 1800: „Die Schriftenreihe beabsichtigt eine kritische Reflexion und Analyse der Gewordenheit unseres Wohndenkens und Wohnwissens in ihren spezifischen Erzählungen, Mythensystemen und bedeutungsproduzierenden Diskursverschränkungen. Der vorliegende Band stellt sich diese Aufgabe und untersucht die Konstellation von Bildern, Räumen und Subjekten am Beispiel der Bildtapeten um 1800. Dieser Zeitraum der Ausbildung einer bürgerlichen Wohnkultur ist historisch ein zentraler Ausgangspunkt für Standardbildungen des Wohnens in der Moderne“ (Nierhaus/ Heinz 2014, S. 11). Katharina Eck und Astrid Silvia Schönhagen heben in ihrer Einleitung zum Band dann insbesondere die Zusammenhänge der Durchdringung von Natur und Wohnraum (im Medium der Bildtapete) hervor. Sie verweisen hier auf die philosophische Ästhetik im ausgehenden 18. Jahrhundert – insbesondere Karl Philipp Moritz’ Formulierungen zur „[h]äußliche[n] Glückseligkeit“ –, um festzuhalten: „Der private Wohnbereich erfährt in diesem Zusammenhang eine Emotionalisierung, die den vorangegangenen Jahrhunderten noch unbekannt gewesen ist“ (Eck/Schönhagen 2014, S. 29). Die Vorstellungen zum bürgerlichen Interieur, so meine These, finden ihre Voraussetzungen bereits vor dieser Zeit in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. In der Malerei werden oft Aspekte visualisiert, bevor sie realisiert bzw. begrifflich formuliert werden. Die Betonung liegt aber auch auf: holländisch; die Bedeutung
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Die Malerei als Baumeisterin des Interieurs
der bürgerlichen Kultur in der holländischen Republik des 17. Jahrhunderts wird bis heute unterschätzt. Das kleine Holland wird im Vergleich zu Deutschland, Frankreich und England oft übersehen. Die spezifische ökonomische, politische und religiöse Situation in den Niederlanden ermöglichte bereits im 17. Jahrhundert die Entstehung der Kleinfamilie, verbunden mit Vorstellungen von Privatheit und damit einer veränderten Konzeptualisierung von Heim und Wohnen (Westermann 2001; Frijhoff/ Spies 2004; Hollander 2002). Ich möchte im Folgenden einige Aspekte des komplexen Spektrums der Semantiken der holländischen Interieurmalerei vorstellen. Vorab muss gesagt werden, dass das holländische Interieur im 17. Jahrhundert zum neuen Raum der Malerei und damit der Kunstrezeption wurde. Der privilegierte Ort der Kunst war nicht mehr die Kirche; in den protestantischen Kirchen herrschte Bildverbot. Die höfische Repräsentation der Oranier in Den Haag spielte nur eine marginale Rolle. Das Medium des Bürgertums war das Tafelbild und das Tafelbild hängt im Interieur.1 Wir wissen, dass der Ort, an dem Kunst zu sehen gegeben wird, und die Art und Weise, wie dies geschieht, wesentlich die Rezeption mitbestimmen. Die holländische Interieurmalerei reflektiert immer auch den neuen Ort ihrer Präsentation und ihre gewandelte Funktion.2 Samuel van Hoogstraten und andere Künstler waren fasziniert von den perspektivischen Fluchten, den Durchblicken, den doorkijkjes (Abb. 1). Victor Stoichita hat diese Malerei mit der Thematisierung von innen und außen, von Bild- und Betrachterraum als Metamalerei beschrieben, als eine Malerei, die anhand von Blicken durch Türen bzw. Rahmungen ihren eigenen Status reflektiert (Stoichita 1998).3 Die BetrachterInnen werden oft durch Tiere, Hunde oder Katzen, als Betrachtende, als VoyeurInnen oder Störenfriede adressiert. Erinnert
1 Um 1640 hatten beispielsweise in Delft zwei Drittel aller Haushalte Bilder, und zwar im Schnitt 11 Stück, in reichen Haushalten waren es oft über 100 (Sluijter 2001, S. 104). 2 Ein exemplarisches Beispiel ist Samuel van Hoogstratens Bild Die Pantoffeln aus den späten 1650er Jahren (Hammer-Tugendhat 2000, S. 139–153; HammerTugendhat 2009, S. 285–291). 3 Martha Hollander (2002) hat den Durchblick in andere Räume, das „doorsien“, anders interpretiert, als Möglichkeit soziale Differenzierungen zur Diskussion zu stellen. Oft dienen, nach Hollander, die Szenen in den Nebenräumen als Kommentar für die Hauptszene. Insbesondere für die Werke der Lauscherinnen von Nicolaes Maes und die Bilder von Gerard Dou sind ihre Interpretationen sehr aufschlussreich.
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2 Jacobus Vrel, Frau am Fenster, 1654, Öl auf Holz, 66 × 47,5 cm, Kunsthistorisches Museum Wien
1 Samuel van Hoogstraten, Blick durch einen Korridor, um 1662, Öl auf Leinwand, 264 × 136 cm, Dyrham, Gloucestershire
sei an das Diktum von Leon Battista Alberti: Ein Bild ist wie ein Fenster, durch das ich in die Welt blicke. Das war die Renaissance-Konzeption; in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts sollen die BetrachterInnen räumlich in die Bildwelt einbezogen werden. Andere Künstler, wie Jacobus Vrel, entwickelten gleichsam einen Gegenentwurf zu Albertis Konzeption (Abb. 2). Das Bild ist kein Fenster, durch das ich in die Welt schaue, das Fenster ist im Bild, ich sehe (fast) nichts durch das Fenster. Das Fenster fungiert hier nicht als Blick in die Welt, wir erblicken keine Landschaft, auch keine Stadt. Die drei geschlossenen Fenster mit ihren mundgeblasenen Gläsern lassen das Licht in den
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3 Pieter Janssens Elinga, Interieur ohne Figuren, um 1665, Öl auf Leinwand, 53,5 × 62,5 cm, Privatbesitz
Raum fluten, verhindern aber den Durchblick. Lediglich das geöffnete Fenster erlaubt einen fragmentierten Blick auf die gegenüberliegende Hauswand mit einem geschlossenen Fenster; trotz des geöffneten Fensterladens lassen die opaken Scheiben unseren Blick nicht eindringen. Das Fenster des Interieurs öffnet sich auch nicht in den Betrachterraum, sondern in ein Außen des Bildes, das dem Betrachter weitgehend vorenthalten ist. Die Bildfigur ‚sieht‘ etwas, was ich nicht sehe. Es gibt somit nicht nur den dargestellten Bildraum und den Betrachterraum, sondern zudem einen dritten Raum, der uns entzogen ist und von uns nur imaginiert werden kann, aber eben dadurch auch unsere Imagination animiert. Die Schönheit des Interieurs wird gefeiert. Pieter Janssens Elingas Werk (Abb. 3) ist eines der ganz wenigen Interieurbilder ohne Figuren. Der Fokus liegt einerseits auf der Illusion von Räumlichkeit, auf dem Durchblick in andere Räume, anderseits auf der Faszination der Flächenwerte. Der ganze Raum ist aus Rechtecken gebaut: das geometrische Muster des Fußbodens, die rechteckigen Rahmungen von Türen, Fenstern, Gemälden und Spiegel, ja sogar die Stuhlelemente und der Tisch bis zu den Kasset-
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ten der Decke und den rechteckigen Fensterteilungen. Insgesamt herrscht eine klare Ordnungsstruktur. Konterkariert wird diese ‚Sinfonie in Geometrie‘ lediglich durch das Stillleben auf dem Tisch und die Landschaften auf den beiden Gemälden. Die eigentliche Ordnungsmacht des Bildes aber ist das Licht, das natürliche Licht.4 Das Licht, das diesen Raum durchflutet und eigene Formen auf Wand, Tisch und Boden entwirft. Teils wird es durch Läden abgehalten, ausgesperrt, dann ist totales Dunkel im Fenster, nur die Fensterstäbe werden vom Innenraumlicht angedeutet. Teils wirkt das Licht als Blendung. Das Licht kann Schatten werfen und Doppelgänger der Gegenstände wie den Stuhl an die Wand zaubern, die von ‚realen‘ Objekten kaum mehr zu unterscheiden sind. Es erzeugt auch ein Spiel mit Drinnen und Draußen, mit Innenraum und Landschaft, die aber wiederum nur als Bild im Bild, als Kunst auftritt. Die Wohnkultur, die Wohnungsgrundrisse veränderten sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Das voorhuis, der öffentliche Eingangsbereich, wurde verkleinert, verlor an Bedeutung zugunsten eines zweiten Raums. Die städtische Kleinfamilie entwickelte eine neue Vorstellung des Wohnens mit abgeschlossenen Räumen und damit mehr Privatheit und Intimität.5 Diese Ideen wurden in Frankreich und England erst im 18. Jahrhundert aufgenommen (Westermann 2001). Emmanuel de Wittes Interieur suggeriert den Eindruck eines getreuen Abbildes einer sozialen Wirklichkeit (Abb. 4). Trotz unseres Wissens, dass die Bilder Repräsentationen, Konstruktionen sind, verführt uns dieser Reality-Effekt, machen wir uns oft nicht klar, was uns zu sehen gegeben wird, und vor allem, was uns nicht gezeigt wird. Auf dem Bild von de Witte sehen wir eine aus drei hintereinanderliegenden großen Wohn4 Das natürliche Licht wurde erstmals von Caravaggio als übergeordnete Kategorie konzeptualisiert und spielt in der gesamten holländischen Malerei eine entscheidende Rolle. Das Interesse der Maler fand eine Entsprechung in den Diskursen zur Optik, insbesondere bei Descartes (Hammer-Tugendhat 2008, S. 177–189). 5 Entgegen der älteren Forschungsmeinung, nach der die Familie vor der Industriellen Revolution das ganze Haus und somit mehrere Generationen umfasste, war die holländische Familie eine Kernfamilie mit vier bis fünf Mitgliedern, inklusive einer Magd. 45 Prozent der niederländischen Bevölkerung lebte in der Provinz Holland, und davon der Großteil in den Städten (Westermann 2001, S. 52f.). Diese soziale Praxis wurde von Diskursen zu Ehe und Familie begleitet, besonders prominent in den Arbeiten des Schriftstellers und Ratspensionärs Jacob Cats, dessen Werk Huwelijk (Ehe) von 1625 ein ‚Bestseller‘ war (Sneller 1993; dies. 1994, S. 21–34).
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4 Emanuel de Witte, Interieur mit einer Dame am Virginal, um 1665, Öl auf Leinwand, 77,5 × 104,5 cm, Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam
räumen gebildete Zimmerflucht. Noch stärker als bei Janssens Elinga ist es das Licht, das den Raum strukturiert. Mir geht es hier allerdings nur um den Aspekt der Fiktion: Solche Fluchten, die aus mehreren großen Räumen bestanden, gab es in Holland in der Mitte des 17. Jahrhunderts in bürgerlichen Interieurs nicht. Eingelegte Marmorböden waren die absolute Ausnahme in privaten Räumen, wenn, dann gab es sie meist nur im voorhuis, jedoch nicht in allen Zimmern. Die Messingleuchter waren für Kirchen und öffentliche Gebäude bestimmt, nur ganz selten für die private Elite. Eine Fiktion, eine Traumwohnung. Der illusionäre Charakter wird durch die realistische Malweise unkenntlich (Fock 2001, S. 83–101). Die Malerei verfügt über die Möglichkeit, Unsichtbares sichtbar zu machen, sie kann aber auch Sichtbares unsichtbar werden lassen. In den vielen so unterschiedlichen holländischen Interieurbildern sehen wir Frauen, Mütter mit Kindern, Hausfrauen mit Mägden (Abb. 8). Männern begegnen wir selten, meist nur als Besuchern oder Boten (Honig 1997, S. 187–201).
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5 Jan Vermeer, Briefleserin in Blau, um 1662–1664, Öl auf Leinwand, 46,6 × 39,1 cm, Rijksmuseum, Amsterdam
6 Rembrandt van Rijn, Jan Six, 1647, Radierung, 24,6 × 19,1 cm, Rijksmuseum, Amsterdam
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Besonders brisant ist diese Asymmetrie bei dem Motiv der brieflesenden Frauen. Frauen, die Liebesbriefe empfangen, lesen, seltener selbst schreiben, waren ein Lieblingsthema der holländischen Interieurmalerei (Abb. 5). Fast alle holländischen Genremaler haben sich mit dieser Thematik befasst, etwa Dirck Hals, Pieter Codde, Frans van Mieris, Gabriel Metsu, Pieter de Hooch, Jan Steen, Gerard ter Borch und Jan Vermeer (Sutton et al. 2003). Männer werden in diesem Zusammenhang nur sehr vereinzelt gezeigt. Es muss sie aber gegeben haben, denn sonst wäre die Darstellung dieser Form der Kommunikation nicht möglich gewesen. Im 18. Jahrhundert entsteht dann bei Brieftheoretikern wie Christian Fürchtegott Gellert die Vorstellung, dass Briefschreiben ein genuin weibliches Genre sei. In der sozialen Praxis und im Diskurs war diese Festschreibung in Holland im 17. Jahrhundert nachweislich noch nicht gegeben. Männer von Bedeutung wie Constantin Huygens, Pieter Hooft und andere brillierten in privater Korrespondenz, Liebesbriefe inbegriffen. In der Forschung, die sich mit Deutschland, Frankreich, England und Spanien, aber eben nicht mit Holland befasst, wird diese Form der Briefkultur und deren Zusammenhang mit bürgerlicher Privatheit, Affektmodellierung und Innerlichkeit jedoch erst auf das 18. Jahrhundert datiert (Nickisch 1991; Luhmann 1994; Vellusig 2000; Koschorke 1999). Zur Entstehung dieses Diskurses haben allerdings die gemalten Fiktionen einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet. Die ‚realistische‘ holländische Malerei des 17. Jahrhunderts ist keine Widerspiegelung der damaligen sozialen Realität. Jedoch ist es eben dieser Realismus, der die geschlechtsspezifischen Asymmetrien nicht als soziale Konstrukte, sondern als natürliche Ordnung erscheinen lässt. Die Malerei hat dazu beigetragen, bestimmte geschlechtliche Identitäten, also: ‚Realität‘ zu stiften (Hammer-Tugendhat 2009, S. 251–258; dies. 2021). Außergewöhnlich ist eine Radierung Rembrandts aus den 1640er Jahren, die seinen Freund, den Schriftsteller Jan Six, zeigt (Abb. 6). Jan Six steht im Interieur vor einem Fenster, durch welches das Licht fällt: „A new vision of the thinking man at home“, wie Westerman treffend formuliert (Westerman 2001, S. 71). Das Objekt der Aufmerksamkeit ist jedoch kein (Liebes-)Brief; Jan Six liest in einem Buch. In dem kleinen Œuvre von Vermeer finden sich sechs Darstellungen von Frauen mit (Liebes-)Briefen, keine einzige mit einem männlichen Protagonisten. Vermeers männliche Figuren in Innenräumen befinden sich im Studiolo, wie in den Werken Der Geograph oder Der Astronom. Diese Männer lesen keine Liebesbriefe, sie erforschen die Welt.
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Das Interieur ist allemal weiblich konnotiert. Wo sind die Männer hin, wo sind sie geblieben? Wir können das private Interieur nur definieren im Vergleich mit seinem Gegenpart, dem öffentlichen Raum (Mare 1992, S. 64–79). Und hier finden wir die Männer: in den Gruppenporträts, die in allen öffentlichen Institutionen zu sehen und von hoher gesellschaftlicher Bedeutung waren (Riegl 1997; Wheelock/Seeff 2000; Hammer-Tugendhat 2009, S. 121–134). Das Zentrum bürgerlicher Macht in den Niederlanden war das Rathaus in Amsterdam. Dieses wurde, nachdem es Mitte des 17. Jahrhunderts neu errichtet worden war, mit Historienbildern geschmückt. In diesen Historienbildern finden wir mit ganz wenigen Ausnahmen keine weibliche Figur. Das ist bemerkenswert. Denn in der Kunst der höfischen Repräsentation wurden immer weibliche Figuren dargestellt, zumindest als Allegorien, als mythologische Figuren oder einfach als Zuschauerinnen. Ebenso aufschlussreich ist es, dass Ehepaare, wenn sie nicht wie üblich vor leerem Grund dargestellt sind, vornehmlich nicht im Interieur repräsentiert werden. Auch bei den Familienbildnissen wird das Interieur meist vage gehalten, oft wird die Familie in die Natur versetzt. Nicht nur die Männer werden im Interieurbild weitgehend unsichtbar gemacht; auch die Arbeit verschwindet fast gänzlich aus diesen Innenräumen, obwohl Hausarbeit ein wesentlicher Faktor auch für Frauen aus gehobenen bürgerlichen Schichten war. Eine Ausnahme bildet die Stichfolge von Geertruydt Roghman, die einfache Frauen bei der Hausarbeit zeigt (Abb. 7). Nicht zufällig stammen die Grafiken von einer Künstlerin. Wenn bürgerliche Frauen von männlichen Künstlern wie Pieter de Hooch bei der Hausarbeit dargestellt werden, dann wirkt die Arbeit, beispielsweise das Wäscheeinräumen, wie eine heilige Handlung (Abb. 8). Diese Sakralisierung von Hausarbeit sollte bei Frauen wohl ein hohes Maß an Identifikation befördern. Die Interieurbilder strahlen Ordnung, Harmonie und Geborgenheit aus.6 Das Interieur ist das Private. Aber das Private wird ausgestellt, auch das ganz Private, wie das stille Gebet als Zeichen protestantischer Frömmigkeit (Abb. 9). Das Private ist hier also durchaus ein öffentlicher Ort, in dem die Standards der Familie vorgeführt werden. Innerhalb des Hauses gibt es unterschiedliche Grade von Privatheit. Der 6 Jan Steen hat diese Konzeption bürgerlicher Sittlichkeit in seinen Bildern zum Unordentlichen Haushalt ironisiert (Chapman et al. 1996).
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7 Geertruydt Roghman, Frau in der Küche arbeitend, um 1650, Kupferstich, 21,3 × 17,1 cm, Rijksmuseum, Amsterdam
reiche Kaufmann Willem van Heythuysen ließ sich zweimal von Frans Hals porträtieren. Im allgemein zugänglichen voorhuis zeigt er sich elegant, repräsentativ, ganzfigurig mit Degen, der ihm als Bürgerlichem eigentlich gar nicht zukommt. In den privaten Gemächern findet sich eine ganz andere Selbstdarstellung: leger, mit übergeschlagenen Beinen auf dem Stuhl schaukelnd.7 Wohlgemerkt: Beide Werke stammen von Frans Hals, die Abstufung in der Repräsentation von Privatheit ist somit bewusst gewählt. Die holländische Interieurmalerei ist nicht lediglich ein Spiegel bürgerlicher Individualität und Identität. Vielmehr hat sie wesentlich zur Bildung von Privatheit, Individualität und Subjektivität beigetragen. Sie tut dies durch die Repräsentation von Privatheit und Intimität, wobei der Innenraum gleichsam für das Innen der Figur steht. Oft wird nur ein Raumausschnitt gezeigt, die Seitenwände werden unsichtbar. Der Maler
7 Das ganzfigurige Porträt: um 1625–30, Öl/Leinwand, 204,5 × 134,5 cm, München, Alte Pinakothek; schaukelnd: um 1635, Öl/Holz, 46,9 × 37,5 cm, Brüssel, Musées Royaux des Beaux Arts.
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8 Pieter de Hooch, Am Wäscheschrank, 1663, Öl auf Leinwand, 70 × 77,5 cm, Rijksmuseum, Amsterdam 9 Nicolaes Maes, Die betende alte Frau, um 1656, Öl auf Leinwand, 134 × 113 cm, Rijksmuseum, Amsterdam
nimmt einen Standpunkt innerhalb des darzustellenden Raumes ein, der nicht dargestellte Raumabschnitt wird diesseits der Bildfläche von uns, den Betrachtenden, ergänzt. So wird die Illusion erzeugt, als stünden wir im Bildraum. Jetzt schafft die Interieurmalerei für uns in der Tat den Eindruck, selbst Teil dieses Raums zu sein, wir werden als Individuen integriert. Das Private wird somit nicht nur dargestellt, sondern gleichsam produziert. Oder, wie Wolfgang Kemp es im Katalog Innenleben ausgedrückt hat: „Je mehr an äußerer und innerer Rahmung abgestoßen wird, desto weiter geht das Interieur des Ich auf.“ (Kemp 1998, S. 21). Aber die Welt wird immer mitgedacht: als Weltkarte, als Brief, durch Türen und Fenster, durch am Stuhl liegende Mäntel (Abb. 5). Mit Gerard ter Borch hat um die Mitte des 17. Jahrhunderts ein Wandel in der Genre- und Interieurmalerei stattgefunden: von vielfigurigen, oft derben Szenen zu gutbürgerlichen, eleganten Innenräumen mit wenigen Figuren. In einem eleganten Interieur sitzt eine junge Dame am Tisch und schreibt einen Brief (Abb. 10). Hinter ihr steht ein junges Mädchen, das der Schreibenden über die Schulter guckt, um den Inhalt des Briefes erspähen zu können. Sie spiegelt damit das Begehren der
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BetrachterInnen, denen nun aber der Inhalt des Briefes unbekannt bleibt. Auffallend ist die stehende, vornehm gekleidete Frau mit verlorenem Blick und einem Taschentuch in den Händen. Obwohl so prominent ins Bild gesetzt, bleibt ihre Funktion unbestimmt. Wir erhalten den Eindruck einer Geschichte, aber es gibt kein Narrativ. Die Erzählungen spielen sich vielmehr im Kopf ab und werden unterschiedlich sein. Diese Imaginationen finden im Interieur statt und werden durch das Interieur erzeugt (Hammer-Tugendhat 2009). Es können elegante bürgerliche Gemächer sein wie bei ter Borch oder de Hooch oder aber einfache Räume fast ohne Inventar wie bei Vrel. Wir blicken in einen leeren Innenraum, in das voorhuis, dessen einziger Einrichtungsgegenstand ein kleiner Stuhl ist (Abb. 11). Auf diesem ist ein Mädchen platziert, von dem kaum mehr als die langen blonden Haare zu sehen sind, die von einer Frau gekämmt werden. Ein Junge stützt sich auf den geöffneten Türflügel und blickt hinaus in das angedeutete Außen, versunken in Träumerei. Den größten Raum nimmt die weiße, lichtgesättigte Wand ein, die gleichsam eine Projektionsfläche für die Assoziationen der BetrachterInnen bietet. Im holländischen Interieurbild des 17. Jahrhunderts wurden somit ganz unterschiedliche Aspekte thematisiert, die erst in den wohntheoretischen und didaktischen Diskursen des 19. Jahrhunderts expliziter verhandelt werden sollten: ästhetische Fragen, soziale Abgrenzungen, Hausarbeit, das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, Geschlechterbeziehungen, psychische Prozesse und Affektmodellierung, Intimität und Verinnerlichung. Die holländische Interieurmalerei hat somit wesentlich zur Bildung moderner Subjektivität beigetragen. Wenn über das (reale) Interieur der beginnenden Moderne seit 1800 gesprochen wird, sollte die vorangehende holländische Malerei daher nicht ignoriert werden.
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10 Gerard ter Borch, Die Neugier, um 1660, Öl auf Leinwand, 76,2 × 62,2 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York
11 Jacobus Vrel, Interieur mit einer Frau, ein Mädchen kämmend, 1660–1662, Öl auf Leinwand, 55,9 × 40,6 cm, Detroit Institute of Arts
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Die Malerei als Baumeisterin des Interieurs Literatur Chapman et al. 1996 Chapman, H. Perry; Wouter Kloek; Arthur K. Wheelock: Jan Steen. Maler und Erzähler, Ausst.-Kat., hg. v. Guido M. C. Janssen, National Gallery of Art/Washington, Rijksmuseum Amsterdam, Stuttgart: Belser 1996. Eck/Schönhagen 2014 Eck, Katharina; Astrid Silvia Schönhagen (Hg.): Interieur und Bildtapete. Narrative des Wohnens um 1800, Bielefeld: transcript 2014 (wohnen+/−ausstellen, Bd. 2). Fock 2001 Fock, Willemijn C.: Semblance or Reality? The Domestic Interior in Seventeenth-Century Dutch Genre Painting, in: Mariët Westermann (Hg.): Art and Home. Dutch Interiors in the Age of Rembrandt, Ausst.-Kat., Denver Art Museum/Newark Museum, Denver u. a.: Denver Art Museum 2001, S. 83–101. Frijhoff/Spies 2004 Frijhoff, Willem; Marijke Spies: 1650. Hard-Won Unity (Dutch Culture in a European Perspective, Bd. 1), Assen/Basingstoke: Royal van Gorcum/Palgrave Macmillan 2004. Hammer-Tugendhat 2000 Hammer-Tugendhat, Daniela: Kunst der Imagination/Imagination der Kunst. Die Pantoffeln Samuel van Hoogstratens, in: Klaus Krüger; Alessandro Nova (Hg.): Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der Frühen Neuzeit, Mainz: Zabern 2000, S. 139–153. Hammer-Tugendhat 2008 Hammer-Tugendhat, Daniela: Gott im Schatten? Zur Bedeutung des Lichts bei Caravaggio und Rembrandt, in: Christina Lechtermann; Haiko Wandhoff (Hg.): Licht, Glanz, Blendung. Beiträge zur einer Kulturgeschichte des Leuchtenden, Bern u.a. 2008 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 18), S. 177–189. Hammer-Tugendhat 2009 Hammer-Tugendhat, Daniela: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen
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Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln u. a.: Böhlau 2009. Hammer-Tugendhat 2021 Hammer-Tugendhat, Daniela: Der Brief in der darstellenden Kunst I, in: Eve-Marie Becker et al. (Hg.): Handbuch Brief, Berlin: De Gruyter 2021 (im Erscheinen). Hollander 2002 Hollander, Martha: An Entrance for the Eyes. Space and Meaning in Seventeenth-Century Dutch Art, Berkeley: University of California Press 2002. Honig 1997 Honig, Elizabeth Alice: The Space of Gender in Seventeenth-Century Dutch Painting, in: Wayne Franits (Hg.): Looking at Seventeenth-Century Dutch Art. Realism Reconsidered, Cambridge: Cambridge University Press 1997, S. 187–201. Kemp 1998 Kemp, Wolfgang: Beziehungsspiele. Versuch einer Gattungspoetik des Interieurs, in: Sabine Schulze; Christoph Asendorf (Hg.): Innenleben. Die Kunst des Interieurs. Vermeer bis Kabakov, Ausst.-Kat., Städelsches Kunstinstitut Frankfurt a. M., Ostfildern-Ruit: Hatje 1998, S. 17–29. Koschorke 1999 Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München: Fink 1999. Luhmann 1994 Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität (1984), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994. Mare 1992 Mare, Heidi de: Die Grenze des Hauses als ritueller Ort und ihr Bezug zur holländischen Hausfrau des 17. Jahrhunderts, in: Kritische Berichte, H. 4, 1992, S. 64–79. Nierhaus/Heinz 2014 Nierhaus, Irene; Kathrin Heinz: Geleitwort, in: Eck/Schönhagen 2014, S. 9–11. Nikisch 1991 Nickisch, Reinhard M. G.: Brief, Stuttgart: Metzler 1991. Riegl 1997 Riegl, Alois: Das holländische Gruppenporträt (1902), Wien: Wiener Universitätsverlag 1997.
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Abbildungsnachweise Abb. 1: © National Trust. Abb. 2: © KHM-Museumsverband. Abb. 3: In: Krempel, Léon: Kabinettstücke. Camera elinga. Pieter Janssens begegnet Jeff Wall, Frankfurt a. M.: Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie 2002, S. 38. Abb. 4: © Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam. Leihgabe: Rijksdienst voor het Cultureel erfgoed / © Foto: Studio Tromp, Rotterdam. Abb. 5–9: © Rijksmuseum, Amsterdam. Abb. 10: © bpk/The Metropolitan Museum of Art. Abb. 11: © Detroit Institute of Arts, USA/Bridgeman Images.
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Mona Schieren Raumkunst denken – Lenore Tawneys fiber art. Das In-Beziehung-Setzen von Kunst und Künstlerin auf Fotografien ihrer Wohnateliers
Mit ihrer Einzelausstellung im Staten Island Museum im Jahr 1961 wurden die textilen Webobjekte der US-amerikanischen Künstlerin Lenore Tawney (1907–2007) und damit fiber art erstmals explizit im Kunstkontext präsentiert. Die frei hängenden gewebten Skulpturobjekte waren in der US-amerikanischen Kunst der frühen 1960er Jahre richtungsweisend für den Ausstieg aus dem Tafelbild und die Hinwendung zum Raum sowie die Verwendung von Textilem in der Skulptur und der sich entwickelnden Installationskunst. Im Anschluss an ihr Skulpturstudium bei dem Bildhauer Alexander Archipenko1 begann Tawney nach einigen Wandbild-Auftragsarbeiten offene Strukturen am Webrahmen zu produzieren, die sie als dreidimensionale Objekte im Ausstellungs- und in ihrem Atelierwohnraum platzierte. Ihr Ateliernachbar Ellsworth Kelly bezeichnete ihre großformatigen, frei im Raum hängenden Arbeiten aus Textil als wegweisend für die weitere Entwicklung der Installationskunst und den Umgang mit Raum und Material in der Kunst der 1960er Jahre. Dieses Raumdenken war unter anderem inspiriert durch die Lektüre der Schriften des indischen Gelehrten Swami Vivekananda und des 1 Tawney studierte 1946/47 am Institute of Design in Chicago, das sich als Nachfolger des Bauhaus verstand, hauptsächlich Skulptur bei Archipenko, belegte aber auch Kurse in Zeichnen bei László Moholy-Nagy und Zeichnen und Aquarell bei Emerson Woelffer sowie einen Webkurs bei Marli Ehrmann. 1954 lernte sie bei der Weberin Martta Taipale an der Penland School of Crafts in Penland, North Carolina.
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Taoismus. Tawney reihte sich damit ein in eine für ihre Zeit signifikante Auseinandersetzung mit asiatischen Denkkonzepten, die im Rahmen eines Transfers in den Westen von verschiedenen Mittlerfiguren übersetzt wurden. In dieser Auseinandersetzung sind zwar stereotype Projektionen wirksam, die aber zugleich einen kritischen Impuls für die Kunstproduktion darstellen und in einem semiologisch geprägten Verständnis spezifische Vorstellungen von Realität und Raum neu hervorbringen (vgl. Schieren 2016, S. 21). Ich möchte in diesem Aufsatz zeigen, inwiefern Tawneys Raumverständnis von asianistischen Raumvorstellungen beeinflusst ist. Dabei interessiert mich ihre Auseinandersetzung mit Raumkonzepten sowohl in ihrem Werk als auch in der Gestaltung ihres Ateliers. Die betreffenden Interieurs, die sich durch Fotos sowie Erzählungen von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen vermitteln, sind nicht weniger von Vorstellungen vom „Asiatischen“ affiziert als die Kunstwerke selbst. Dabei ist der Topos vom Atelier als Denkraum von zentraler Bedeutung: „Der Raum, in dem der Künstler denkt, ist demnach ein Denk-Raum, eine doppelte Einschließung, reziprok, selbstreferenziell und komprimiert.“ (O’Doherty 2012, S. 9) Wie die asianistische Folie, durch die ihre Arbeiten rezipiert werden, auch auf die fotografischen Repräsentationen Tawneys als Künstlerin zurückwirkt, möchte ich anhand einiger Fotografien analysieren, die Tawney in ihren Atelierwohnräumen zeigen. Außerdem soll dargelegt werden, wie diese Rezeptionsweise wiederum mit der Beurteilung des Dekorativen – und das hieß in den 1960er Jahren oft: seiner Abwertung – korrespondiert. Im Folgenden möchte ich daher zunächst die Etappen von Tawneys Werk skizzieren und parallel die Rezeption ihrer Arbeit im Spannungsfeld zwischen sogenannter Hochkunst und Kunsthandwerk beleuchten, um dann zu zeigen, wie sich asianistische Ideen in ihrer Kunst ebenso wie in deren Platzierung in den Wohnatelierräumen widerspiegeln.
Entwicklung zum Räumlichen: Vom textilen Wandbehang zur Installation im Raum Ab den späten 1950er Jahren werden Lenore Tawneys Arbeiten immer raumgreifender: 1957 zieht sie von Chicago in ein Atelierhaus am Coenties Slip 27 an der Südspitze Manhattans und arbeitet in der Nachbarschaft von Agnes Martin, Ellsworth Kelly, Jack Youngerman und Robert Indiana. Nach
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achtmonatigem Aufenthalt dort mietet sie um die Ecke, in der South Street 27, drei Etagen eines ehemaligen Segelmacherlofts mit einem „cathedral ceiling on the top floor“ (Mangan 1990, S. 22), um großformatige Webarbeiten realisieren zu können. Robert Rauschenberg, der nur wenige Blocks weiter sein Atelier hat, entwickelt dort seit 1958 seine combine paintings. Auch Tawney integriert gefundene Materialien wie Federn und Schiffszubehör in ihre Arbeiten. Ihr Webmaterial ist nicht nur klassischer Webfaden, sondern auch nautisches Garn von den in der Nachbarschaft angesiedelten Segelmachern und andere Fundstücke wie Möwenfedern. Laut Tawneys Mitbewohnerin am Coenties Slip, Ann Wilson, soll Ellsworth Kelly gesagt haben, Tawneys Überlegungen hinsichtlich Raum- und Installationskunst seien der zeitgenössischen Kunstdiskussion zum Ausstieg aus dem Tafelbild und dem Verständnis von (Installations-)Kunst im Raum „weit voraus“.2 In der Ausstellung im Staten Island Museum, ihrer ersten Einzelausstellung, zeigt Tawney 40 Webarbeiten, die zwischen 1955 und 1961 entstanden sind.3 Die Rezeption dieser Ausstellung gibt einen Vorgeschmack darauf, wie Tawneys fiber art in der Zukunft sowohl vonseiten der traditionellen Handwerkskunst als auch der bildenden Künste kritisiert werden sollte (vgl. Auther 2010, S. 29; dies. 2015, S. 151f.). Ihre Webstücke sind im Sinne des Handwerks nicht mehr zweckorientiert und bewegen sich außerhalb der traditionellen Webregeln. Die Künstlerin ist fasziniert von peruanischen Textilien und studiert bei der Weberin Lili Blumenau. Tawney experimentiert beispielsweise mit peruanischer Gazewebkunst und kombiniert verschiedene Webarten in einem Werkstück.4 Sie hängt ihre als abstrakt bezeichneten Objekte frei in den Raum oder mit einigem Abstand zur Wand, um die Plastizität und die Kontraste von Opazität und Transparenz hervorzuheben. Besonders sticht die Größe der Arbeiten hervor, die, bis zu acht Meter hoch, von der Decke hängen und einen kunsthandwerklichen Gebrauchswert verneinen. Die Enden der Gewebe
2 Gespräch mit Ann Wilson in Taos, 24. März 2012. 3 Die Ausstellung war zwar von der Abteilung für Kunsthandwerk finanziert, sollte Tawney aber – nicht zuletzt durch einen Text von Agnes Martin, der ihr künstlerische „Originalität“ bescheinigt – als bildende Künstlerin vorstellen und etablieren (vgl. Auther 2015, S. 150). 4 Impulse erhält sie durch ihre Reisen: Von 1949 bis 1951 lebt sie in Paris und bereist Europa und Nordafrika. Im Jahr 1956 folgen Reisen nach Griechenland und in den Nahen Osten, konkret in den Libanon, nach Jordanien, Syrien und Ägypten. 1963 reist Tawney dann nach Peru und Bolivien.
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1 Ausstellungsansicht „Woven Forms“, Arbeiten von Lenore Tawney, Museum of Contemporary Crafts, New York, 1963
schließt Tawney mit dicken Knotungen ab, die inspiriert sind von peruanischer Webkunst und ägyptischer Haartracht sowie von Seemannsknoten-Fender aus ihrer Umgebung am Coenties Slip (vgl. Auther 2010, S. 30). Ein Kommentar der Textilkünstlerin Alice Adams in der Zeitschrift Craft Horizons zu Tawneys Arbeiten honoriert ihren unkonventionellen Umgang mit Materialien und Techniken: Sie beschreibt Tawneys „enormous range of technique and a rare sense of image and object as one. The hangings […] are remarkable for the consistently free and courageous approach to the materials used.“ (Adams 1962, S. 39) Ab 1962 entwickelt die Künstlerin diese Techniken weiter zu einer Werkserie: „This new work is called Woven Forms. It is sculptural.“5 Die Bezeichnung woven forms wird in der Folge titelgebend für die 1963 im 5 So Tawney in einem Brief an Marna Johnson vom 1. August 1962 (zit. n. Mangan 1990, S. 24).
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Museum of Contemporary Crafts, New York, gezeigte Ausstellung von Arbeiten von fünf zeitgenössischen Textilkünstlerinnen, wobei Tawney den größten Teil der Schau bestreitet.6 In den ausgestellten Arbeiten zeigen sich die bahnbrechenden Neuerungen, die Tawney in die Webkunst einbringt: Bereits 1955 hat sie erstens begonnen, mit offener Kette zu weben.7 Zweitens löst sie eine kontinuierlich-gerade Webkante zugunsten eines freieren Randabschlusses auf, welcher die Webstücke abwechselnd breiter und schmaler werden lässt, wie bei der Arbeit The Path, die auf der Fotografie von der Ausstellung hinten links zu sehen ist (Abb. 1). Drittens webt Tawney auf mehreren Stegen, indem sie mittels eines offenen Webblatts die Kettfäden separiert. Sie können auch wieder zusammengeführt werden, sodass Aussparungen oder Schlitze innerhalb des Webstücks entstehen, wie bei Mourning Dove, der Arbeit aus schwarzem Garn mit Federn vorn im Bild. Das von der Künstlerin entwickelte offene Webblatt ermöglicht ihr auch, verschiedene Webtechniken in einem Webstück zu kombinieren. Die Kuratorin des Departments für Architektur und Design am Museum of Modern Art in New York, Mildred Constantine, bezeichnet die Ausstellung als „groundbreaking“ für die fiber-art-Bewegung (vgl. Auther 2010, S. 3). Tawneys woven forms sind nur noch teilweise an die Wand gehängt. Die meisten Arbeiten hängen frei im Raum. Nur einige sind mit Plinthen bzw. Sockeln in Relation zum Boden des Ausstellungsraums verortet. Im Jahr 1964 besucht Tawney den First World Congress of Craftsmen in New Jersey und sieht dort erstmals einen industriellen Jacquard-Webstuhl, dessen Handhabung sie alsbald am Textile Institute in Philadelphia erlernt. Ihre Auseinandersetzung mit der Fadenführung bei diesem Webverfahren führt zu diversen Zeichnungen auf Millimeterpapier, in denen sie die wechselseitige Durchwebung von Linien, die von verschiedenen Polen ausgehen, ins Bild setzt. Ein Beispiel hierfür ist die Zeichnung Union of Fire and Water von 1964 (Abb. 2), in der durch die Übereinanderlagerung von feinen roten und blauen Linien ein viel-
6 Zunächst war eine Einzelschau von Tawney geplant. Weil dies dann doch als unangemessen erschien, wurden vier weitere Textilkünstlerinnen, Alice Adams, Sheila Hicks, Dorian Zachai und Claire Zeisler, hinzugenommen (vgl. Cummings/Tawney 1971, S. 5; Auther 2010, S. 30). 7 Diese Technik wird heute als open-warp weaving (Weben mit offener Kette) bezeichnet. Charakteristisch dafür ist, dass in weiten Bereichen die unverwebte Kette zu sehen ist, häufig kontrastiert durch dicht gewebte Felder.
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schichtiges vibrierendes Feld entsteht. 1967 fertigt Tawney ihre vorerst letzte Arbeit mit dem Webrahmen, um dann in ihren Raumkunstarbeiten Fäden im Raum zu installieren, wie etwa bei den als Auftragsarbeiten entstandenen Cloud Series ab 1977/78. Für diese Arbeiten im öffentlichen Raum hängt sie unzählige lange Fäden, die nur durch ein an der Decke befestigtes Stück Leinwand gehalten sind, zu einem Feld, das auf die Umgebung, etwa auf Windstöße, reagiert. Tawney erweitert also ihre Kunst im Laufe der Jahre vom Webrahmen zu freien Gehängen wie den Cloud Series und weiteren Installationen im Raum. Während die oben bereits zitierte Alice Adams in ihrer Kritik von 1962 versucht, die Techniken und Entwicklungen innerhalb von Tawneys Arbeiten im Einzelnen zu benennen, nimmt die Kunstkritik Festschreibungen vor: Ein Kritiker der New York Times hebt zwar in seiner Besprechung der Ausstellung „Woven Forms“ hervor, Tawney sei „nicht bloß Weberin, sondern auch Künstlerin“ (zit. n. Auther 2015, S. 152). Doch ist die Trennung zwischen Kunsthandwerk und sogenannter Hochkunst die Folie, vor der Tawneys Arbeiten fortwährend rezipiert wurden. Ihr Werk lässt sich schwerlich mit dem Gebrauchswert von Kunsthandwerk in Verbindung bringen, gleichzeitig nutzt sie traditionelle Webverfahren und weitet diese aus. Dieser 1990 von einer Ausstellungsrezensentin monierte „Schwebezustand“ („limbo“, Smith 1990) von Tawneys gewebten Formen unterläuft die kategoriale Unterscheidung zwischen „dekorativem“ Kunsthandwerk und „ernst zu nehmender“ Hochkunst, die unter anderem durch Clement Greenberg – seit den späten 1930er Jahren eine der einflussreichsten Stimmen in der US-amerikanischen Kunstkritik – immer wieder bekräftigt worden ist (vgl. z. B. Greenberg 1997b; des Weiteren auch Auther 2008, S. 99–106); ein Großteil der zeitgenössischen Rezeption jedoch versucht ihr Werk weiterhin mit den alten Kategorien zu fassen (vgl. Auther 2015, S. 152). Auch wenn Tawneys Werke von einigen Kritikern und Kritikerinnen zur „Hochkunst“ gezählt werden, kommen bei ihrer Einordnung sicherlich auch geschlechterspezifische Zuschreibungen zum Tragen, wie die, dass das Webhandwerk die einzige von Frauen erfundene Kulturtechnik sei.8 Dass Tawney zwar bei dem Bildhauer Archipenko ausgebildet, dann aber über einen Amateur-Webrahmen und eher traditionelle Wandbehangsaufträge in Kir8 Dies behauptet bereits Sigmund Freud in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Vgl. dazu weiterführend Nierhaus 1999.
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2 Lenore Tawney, Union of Water and Fire, 1964, rote und blaue Tusche auf Millimeterpapier, 58,4 × 45,7 cm
chen und Restaurants zur fiber art gekommen war, schmälert offenbar in der Rezeption ihre Wertschätzung. So ist Tawney 1966 nicht in der von Lucy Lippard organisierten legendären Schau „Eccentric Abstraction“ vertreten, die durch die Einbindung der Kuratorin in den Kunstkontext sowie durch die dort vertretenen und in der Mehrzahl männlichen Künstlerkollegen der Hochkunst zugeordnet wird. Die dort gezeigten Objekte werden als avantgardistische Skulpturen verstanden.9 Tawneys Arbeiten 9 Vgl. das Statement des Kunstkritikers der New York Times Hilton Kramer: „[Zwar sind] die Arbeiten weder Gemälde noch Skulpturen im eigentlichen Sinne; […] um Kunst aber handelt es sich dabei auf irgendeine Weise schon.“ (Kramer 1966, S. 27, Übers. d. Verf.)
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sind jedoch 1969 in der Ausstellung „Soft Art“ am New Jersey State Museum zu sehen, kuratiert von Ralph Pomeroy, zusammen mit Arbeiten von Richard Tuttle, Eva Hesse, Claes Oldenburg und Robert Morris. Mildred Constantines und Jack Lenor Larsens Schau „Wall Hangings“ im Museum of Modern Art, in der die fiber art als neue Kunstgattung etabliert werden soll, zeigt 1969 ebenfalls Tawneys Arbeiten – allerdings an der Wand hängend.10 „Weich und plastisch. Soft Art“ ist der Titel der von Erika Billeter kuratierten Schau im Kunsthaus Zürich 1979, in der Tawney gleichfalls vertreten ist.11 Diese durchaus internationale Wahrnehmung der fiber art hat ihren Höhepunkt in den 1970er Jahren in den USA und auch in Europa, besonders in Zürich und bei der Biennale von Lausanne. Dann verebbt das Interesse für lange Zeit, trotz einiger Einzelausstellungen Tawneys in den Jahren 1975, 1990 und dann im Amsterdamer Stedelijk Museum 1996, dessen damaliger Direktor Rudi Fuchs Interesse an Textilkunst hat (vgl. Tawney 1996).12 Das Textile – und somit das Kunsthandwerk wie auch die fiber art – war „von geradezu konstitutiver Bedeutung für den damaligen Kunstbetrieb, auch wenn es von diesem in der Regel vernachlässigt wurde oder als gestaltende Kraft im fraglichen Zeitraum sogar unsichtbar blieb“ (Auther 2015, S. 150). So hatte die Ausstellung „Woven Forms“ 1963 ja durchaus 10 Zum kuratorischen Anliegen Mildred Constantines vgl. Auther 2015, S. 152. 11 Schon 1964 ist im Kunstgewerbemuseum Zürich die Gruppenausstellung „Gewebte Formen“ zu sehen. Tawney reist seinerzeit zum Aufbau nach Zürich, um ihre Arbeiten zu installieren, und kommt in Kontakt mit Max Bills Theorien zur Skulptur, in denen die Verbindung von Skulptur und umgebendem Raum thematisiert wird. 12 Einen Eindruck davon, wie im deutschsprachigen Bereich mit Literatur zu Tawney umgegangen und somit ihre „Relevanz“ bewertet wird, vermittelt folgender Recherchebefund: Aus der Bibliothek der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz wurde der bis dato umfassendste Werkkatalog der Künstlerin von 1990 „ausgeschieden“. Erst jüngst wird durch am Textilen interessierte Ausstellungen (wie „Textiles. Open Letter“, Museum Abteiberg, Mönchengladbach 2013, „Kunst und Textil“, Kunstmuseum Wolfsburg 2013/14) Tawneys Werk wieder wahrgenommen. Dieser Text ist 2016 entstanden, folgende Ausstellungen fanden danach statt: "Anni Albers", Tate Modern, London 2018, "Bauhaus Imaginista", SESC Pompèia, Sao Paulo / Haus der Kulturen der Welt, Berlin 2018/19, "Lenore Tawney: Mirror of the Universe", John Michael Kohler Arts Center, Sheboyan, Wisconsin 2019. Arbeiten der Künstlerin sind in Sammlungen wie dem Museum of Modern Art, dem Metropolitan Museum und dem New Yorker Museum of Arts and Design (vormals: Museum of Contemporary Crafts) im Depot zu finden, werden allerdings nicht ausgestellt. Zu einem Vergleich der Rezeption von Tawneys fiber art und Agnes Martins Malerei siehe Schieren 2016, S. 239–254.
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das Anliegen, das Textile vom Kunsthandwerk in die Hochkunst zu überführen und als Kunst zu legitimieren. Dies gelang den zeitgenössischen Akteurinnen und Akteuren jedoch wegen der im Kunstzusammenhang weiterhin betriebenen Marginalisierung von fiber art nicht; sie wurde eben doch „nur“ als Kunsthandwerk angesehen, was sicherlich immer noch mit Greenbergs Abwertung des Textilen und Dekorativen als Kitsch und Nichtkunst zu tun hatte (vgl. Greenberg 1997a). Das Moment des Dekorativen, das auch im Bereich des Wohnwissens (vgl. Nierhaus/Nierhaus 2014, S. 9) eine gewichtige Rolle spielt, ist für die Wahrnehmung von Tawneys Werk in der Tat relevant – insbesondere bei der Vermittlung ihrer Arbeiten durch eindrückliche Wohnatelieraufnahmen. In diesen Räumlichkeiten fallen besonders asianistische Bezüge ins Auge, sowohl was die Kunstobjekte im Einzelnen als auch was deren Installation und die Gestaltung der Raumensembles insgesamt betrifft.
Asianistische Bezüge Die mit Tawney befreundete Künstlerin Ann Wilson beschreibt ihre Eindrücke von dem Atelier in der South Street, in dem Tawney von 1958 bis 1962 wohnt und arbeitet, wie folgt: „Tawney’s great planes of hung shaped form spanned the ceiling of her 30-foot-high sail loft facing the East River […]. Her loft was an enchanted space. The floor and walls were white, and reflections of the East River illuminated arrangements of sculpture, ceramics, large stones, and natural forms – her collection from her wide travels. It was sheer inspiration to visit that space where formal arrangements suggested creative action. […] Tawney’s feeling for texture manifested in small votivelike installations here and there in the spare and Zen-like enormity of that white soaring loft, spoke of her skill with the creation of numinous metaphor. Her special ability in combining this attention to detail with the spare monumental planes of her woven sculpture had the aspect of devotional form.“ (Wilson o. J., S. 12) Wilsons Eindrücke des Andachtsvollen und Spirituellen in Tawneys Atelier verdanken sich offenbar insbesondere dem Verhältnis zwischen der Weite des Raums und einer außergewöhnlichen Aufmerksamkeit seiner Bewohnerin für Form, Textur und Detail. Tawney, die sich unter anderem mit Schriften der Teresa von Ávila, Johann Wolfgang von Goethes, Arthur Schopenhauers und Paul Klees
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beschäftigt hat, kommt schon früh auch mit Texten des hinduistischen Gelehrten Swami Vivekananda in Berührung. Vivekananda war einer der zentralen Agenten der Vermittlung und Verbreitung der Philosophie des Vedanta und damit des Yoga in den USA (vgl. Snodgrass 2003; King 2009). Bereits in den Jahren 1943 bis 1945 studiert Tawney zwei Bände Vivekanandas mit Vorträgen vom World’s Parliament of Religions in Chicago 1893, die ihr Schwiegervater, ein Professor der Philosophie, in seiner Bibliothek aufbewahrt (vgl. Cummings/Tawney 1971, S. 2, 5). Die Bände nimmt die Künstlerin bei ihrem Umzug mit nach New York, sie befinden sich noch heute mit vielen Markierungen und Unterstreichungen versehen in ihrem Nachlass. In seinem Text zum Jnana -Yoga schreibt Vivekananda über den Raum: „Raum ist eine der Substanzen, aus denen sich eine Form zusammensetzt. Und diese [Zusammensetzung] ändert sich ständig. Raum und Zeit sind in der Maya, und diese Idee wird in der Zeile ausgedrückt: ,Was hier ist, das ist auch dort.‘“ (Vivekananda 2009, S. 121) Als „Maya“ wird die in der Unterscheidung von innen und außen, Subjekt und Objekt liegende Täuschung bezeichnet. Insofern wird Raum durch die illusionäre Unterteilung in Gegensätze generiert, ist aber tatsächlich durch die Verwebung derselben gekennzeichnet. Alles hat auf alles einen Einfluss und ist miteinander vernetzt. Diese Raumvorstellung widerspricht beispielsweise der vom Raum als Behälter für einen distinkten Inhalt. Programmatisch führt Tawney das in ihrer Webarbeit Lekythos von 1962 vor (Abb. 1, zweite Reihe, links), deren Titel auf ein griechisches Gefäß für Öl verweist. Doch umwölbt diese Arbeit nichts, sondern sie ist ein Gewebe, in dem sich lose Fäden zu einer losen Struktur verdichten, die dann wieder in offene, herabhängende Fäden übergeht. Bei der in peruanischer Gazewebtechnik gefertigten lichten Struktur kann nicht zwischen innen und außen unterschieden werden. Die Bereiche sind ineinander verwoben und voneinander durchzogen. Die Auseinandersetzung mit den Konzepten Vivekanandas als dem maßgeblichen Vermittler hinduistischen Denkens in den USA ist dann auch Impuls für Tawneys weitere in diese Richtung gehende Interessen und Reisen.13 In den späten 1960er Jahren studiert sie Zen in New York
13 Im Jahr 1969 reist Tawney nach Japan und Thailand und hält sich mehrere Monate in Indien auf. Dort trifft sie 1970 Swami Muktananda und beschäftigt sich intensiv mit seinen Yoga- und Tantralehren. Eine weitere ausgedehnte
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und ist aktives Mitglied eines New Yorker Zendos sowie der Zen Studies Society. Die Papiercollagen mit den Titeln Médecins Anciens, 1966, Materia Medica, 1967, Rebirth in the Western Sea und Rivers in the Sea, beide von 1968, zeugen vom Umgang mit altem asiatischen Buchmaterial und Drucken, die die Basis der Papierarbeiten bilden. Tawneys Werke der 1970er Jahre sind gekennzeichnet durch Symbole wie das Kreuz, den Kreis und das Quadrat, die von der Rezeption als Zeichen der Einheit aufgefasst werden (vgl. Mangan 1990, S. 28). Diese Formen habe die Künstlerin bei ihren Studien zum Taoismus für sich entdeckt (vgl. Billeter 1990, S. 43). Tawney selbst bringt die schwarzen und weißen Garnelemente ihrer Arbeit in Verbindung mit dem taoistischen Konzept des Yin und Yang (vgl. Cummings/Tawney 1971, S. 5) und dem buddhistischen Konzept des „Void (sunyata)“, das die Verflochtenheit von Fülle und Leere thematisiert (vgl. Tawney zit. n. Wilson o. J., S. 8). Die Titel The Path, Tau, In Fields of Light und Waters Above the Firmament verweisen explizit auf asianistische Bezüge. Meine These ist, dass der oben skizzierte Raumbegriff, wie er in asianistischer Literatur und Meditationspraxis enthalten ist, auf Tawneys Raumgestaltungen, so wie sie etwa von Ann Wilson geschildert werden, sowie auf die von den Räumen aufgenommenen Fotografien in besonderer Weise Einfluss hat.
Fotografien von Tawneys Wohnateliers Die Literatur zur Rezeption Tawneys zeigt diese immer wieder als tätige Künstlerin in ihren (Wohn-)Ateliers. Ein Artikel im Philadelphia Inquirer vom Mai 1992 beginnt mit den Worten: „The moment you step into Lenore Tawney’s loft studio you begin to understand her life and her art. The studio, which is home as well as workplace, is an oasis of meditative tranquility […].“ (Sozanski 1992, C1) Diese Wahrnehmungsweise verweist auf den Topos des Atelierbilds, die Annahme und „soziale[] Übereinkunft“ nämlich, dass „das Atelier den Geist seiner Bewohner reflektiert“ (O’Doherty 2012,
Indienreise unternimmt sie in den Jahren 1976/77. Bis zum Ende ihres Lebens folgt sie dem Weg des Siddha Yoga und betreibt eine aktive Meditationspraxis, wie mir die Leiterin des Lenore Tawney Archivs Kathleen Nugent Mangan am 3. November 2015 in einer E-Mail schrieb.
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3 Lenore Tawney in her studio, 1991
S. 42), wie es Brian O’Doherty in seiner kritischen Betrachtung des mythisierten Atelierraumes formuliert hat. Diesem Topos, dem zufolge wir „Ateliers als Texte ,lesen‘, die auf ihre Weise ebenso aufschlussreich sind wie Kunstwerke selbst“ (ebd., S. 12), entspricht der gesamte Artikel im Philadelphia Inquirer. Das dazugehörige Titelfoto (Abb. 3) ist mit der Zeile unterschrieben: „Art and meditation are intrinsic to Lenore Tawney’s quest“ (Sozanski 1992, C1). Das Bild zeigt die Künstlerin in einer selbst geschneiderten Manteltunika im Meditationssitz unter einer nach vorn offenen pyramidenartigen Zeltkonstruktion. Tawney hat dieses Zelt aus weißem Baumwollstoff an Stangen befestigt und in ihrem Atelier aufgestellt. Es umrahmt die Künstlerin wie die von Buddha-Darstellungen her bekannte Aureole. Eine Reihe gesammelter Findlinge verläuft auf dem Boden im Vordergrund quer durch die Atelierfotografie und markiert bildlich die Schwelle des Eintritts. Nun verbinden sich in Tawneys Atelierpraxis schon früh Aspekte des (Sich-)Zeigens, die unter anderem von ihren Wohn- und Arbeitsbedingungen herrühren. So war zum einen Tawney als sogenannte Textilkünstlerin in geringerem Maße als ihre malenden Kollegen und Kol-
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leginnen in den Galeriebetrieb integriert und nutzte schon aus diesem Grund das Atelier als Ausstellungs- und Veranstaltungsort, lud auch Musiker wie Harry Partch zu Konzerten ein und stellte seine abstrakten Instrumente aus (vgl. Wilson o. J., S. 12). Um 1972 verfolgte sie zudem ein Wohnprojekt mit dem Ziel, Wohnen und künstlerisches Arbeiten und Ausstellen zusammenzubringen.14 Im Folgenden sollen zwei weitere Fotos, auf denen die Gestaltung des Atelierraums eine wichtige Rolle spielt, sowie die Funktion dieser Bilder für die Konstruktion des Images der Künstlerin untersucht werden. In den fotografierten Interieurs wird Tawney meist sitzend und bei der Handarbeit gezeigt. Häufig abgebildet wird das Atelierfoto „Tawney and her cat, Beekman Street studio“ von ca. 1965 (Abb. 4). Der vordere Bildraum ist durch einige Fäden bestimmt, die quer durch das Atelier gespannt sind. Dahinter hockt die Künstlerin inmitten ihrer Hängearbeiten mit ihrer Katze auf dem Boden. In diesem frühen Bild ist sie umgeben von Spindeln, was an den Penelope-Mythos erinnert.15 Ähnlich den fotografischen Repräsentationen Eva Hesses (vgl. Wagner 1996; Tietenberg 2005) ist Tawney in dieser Darstellung mit dem textilen Material ihrer Kunst regelrecht verwoben. Hier gehen nicht nur Denk- und Arbeitsraum der Künstlerin völlig ineinander auf, sondern in der Verbindung aus textilen Materialien und einer den fernöstlichen Raumkonzepten des Vedanta entlehnten Konstellation (geöffneter Raum zwischen den Objekt-„Körpern“ und ihrer räumlichen Umgebung) schreibt das Bild eine spezifische Vorstellung von Weiblichkeit bzw. weiblichem Künstlertum fest: insofern nämlich, als die Wechselbezüglichkeit zwischen Künstlerin
14 Zusammen mit dem koreanisch-amerikanischen Künstler Po Kim hatte sie dazu das „1844 Landmark House 37 East Fourth Street New York City“ renoviert. In der ersten und einzigen dort präsentierten Gruppenausstellung, „Wall Hangings/Ceramics“, waren 13 Künstler und Künstlerinnen vertreten, unter anderem Magdalena Abakanowicz und Toshiko Takaezu. Aufgrund von Differenzen mit Po Kim verkaufte Tawney schließlich ihren Anteil an dem Wohn- und Ausstellungsprojekt. 15 Möglicherweise spielt hier eine biografische Notiz eine Rolle: Lenore Tawneys Mann war jung gestorben. In Fotos wird sie immer wieder als alleinstehende Frau inszeniert, die aber im Unterschied zu Penelope mit dem Weben ihre Wiederverheiratung nicht hinauszuschieben versucht, sondern eine solche gar nicht erst im Sinn hat. Der Künstlerin war durch ihr Erbe ökonomisch unabhängig, konnte in der künstlerischen Produktion ihren Interessen nachgehen und war nicht darauf angewiesen, Wünschen von Auftraggebern und -geberinnen oder dem Ausstellungsbetrieb zu entsprechen.
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4 Tawney and her cat, Beekman Street studio, ca. 1965
und Material als immersive visualisiert wird und nicht, wie es wohl einem eher „männlich“ konnotierten Denkraum entspräche, als rational-distanzierte Gegenüberstellung oder als Genialitätsgestus von Kreativität als sexueller Potenz (vgl. Gelshorn 2010). Ein weiteres Foto Tawneys, das 1974 in ihrem ebenfalls in Lower Manhattan liegenden Atelier in der Wooster Street aufgenommen wurde (Abb. 5),16 scheint in besonderer Weise dazu geeignet, als programmatisch für das Verständnis ihrer Kunst angesehen zu werden. Der Raum ist ge-
16 Tawney lebte von 1973 bis 1977 in der Wooster Street 64. Bilder von diesem Shooting wurden erstmals 1975 im Katalog zu Tawneys Einzelausstellung an der California State University abgebildet (Tawney 1975).
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5 Wooster Street Studio with Dove, 1974
räumig und wirkt vergleichsweise leer, weil die Objekte im Vorder- und Mittelgrund in größeren Abständen voneinander platziert sind. Auf der rechten Seite des Bildes steht ein kleiner Sekretär mit Papieren und einer Schale der befreundeten japanischen Künstlerin Toshiko Takaezu. Tawney hat sich im Schneidersitz mit einer vom Rahmen genommenen Webarbeit auf einer niedrigen Meditationsbank niedergelassen und führt finale Arbeiten daran aus. Im Hintergrund ist eine großformatige helle Webarbeit über ein Podest gelegt. Von der Künstlerin ist nur die Silhouette zu sehen, weil sie vor dem gleißenden Sonnenlicht platziert ist, das, durch die rückwärtigen Fenster einfallend, vom gelackten Fußboden reflektiert wird. Im Vordergrund hängt auf Stangen frei im Raum die Webarbeit Dove von 1974 und erinnert so einerseits an die Aufhängung eines Kimonos, ande-
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rerseits, mit dem zentralen Mittelteil und den zwei Seitenelementen, unter denen eine weitere Meditationsbank steht, auch an ein Altartriptychon.17 Das Wohnatelier-Interieur wirkt durch die hohen Decken, die Fluchten von Stangen und Bodendielen, die Fenster und die Lichtgebung wie ein sakraler Raum. Das Außen gelangt in den Atelierraum, allerdings nicht in Gestalt der gegenüberliegenden Straßenfront, sondern als gleißendes Licht, das die Künstlerin umfasst. Tawney ist in der Bildmittelachse platziert, just an dem Ort, wo beide Sphären, Innen und Außen, sich ähnlich wie bei Union of Water and Fire (Abb. 2) verschränken – als diejenige Figur, die all diese Elemente ausbalanciert und vereint. Sie wirkt in der Mitte des Raums, als wäre sie der Schwerkraft enthoben. Betrachtet man dazu die Helligkeitswerte der Fotografie, so bildet die dunkle Webarbeit mit ihren lichtdurchfluteten Schlitzen das Pendant zu dem hellen Bereich, von dem sich die dunkle Silhouette der Künstlerin und die Fensterstreben absetzen. In dieser Hinsicht erinnert das Bild an das Yin-und-Yang-Zeichen, das Tawney häufig als für ihre Arbeit relevant anführt (vgl. Cummings/ Tawney 1971, S. 5). Die Interieurs auf den Fotos weisen nicht nur Elemente von in die USA übermittelten Meditationspraktiken und -zubehören auf, sondern sie scheinen programmatisch darauf angelegt zu sein, ein bestimmtes Image der Künstlerin zu vermitteln. Dieses bezieht seine Wirksamkeit aus dem Wechselspiel zwischen asianistischen Konzepten der Verwobenheit, Leere und Fülle und Weiblichkeitsvorstellungen. Auch im oben besprochenen Bild offenbart sich, wie schon in der Arbeit Lekythos, ein Verständnis des Raums nicht als Behältnis, sondern als wechselseitige Durchdringung verschiedener Sphären. Dass zudem die Künstlerin selbst in dem so dargestellten Raum platziert ist, bewirkt eine enge Verklammerung von Künstlerin und Werk, Denk- und Arbeitsraum. Dass dieser Arbeitsraum zugleich auch Wohnraum und das Wohnen wiederum als Domäne des
17 Die Altarform kennt Tawney aus ihrer katholisch geprägten Kindheit (vgl. Wilson o. J., S. 2), sie spielt aber auch im Hinduismus eine große Rolle. Tawney übernahm zu Anfang ihrer Webkarriere Aufträge für eine Kirchengemeinde und eine Synagoge: Ihre Arbeit für das Interchurch Center in New York, Nativity in Nature, zeigt eine Figuration Marias mit Elementen aus der Natur, unter anderem Vogelmotiven. 1963 entstand die vorhangartige Arbeit Ark Veil für die Congregation Solel in Illinois. Zunehmend distanzierte Tawney sich jedoch von Auftragsarbeiten: „I must throw off the desire to please.“ (Tawney zit. n. Mangan 1990, S. 20)
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Dekorativen konnotiert ist, setzt eine Assoziations- und Rückkopplungsmaschine auch hinsichtlich Tawneys textilen Arbeiten in Gang, die, vermittelt nicht zuletzt über die Asianismen, das so konstruierte Image der weiblichen Kunstproduzentin nachhaltig dem Zugriff der hegemonialen Avantgardekritik à la Greenberg aussetzt.
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Raumkunst denken – Lenore Tawneys fiber art Literatur Adams 1962 Adams, Alice: Lenore Tawney, in: Craft Horizons, Nr. 22, Jan./Febr. 1962, S. 39. Auther 2008 Auther, Elissa: Das Dekorative, Abstraktion und die Hierarchie von Kunst und Kunsthandwerk in der Kunstkritik von Clement Greenberg, in: Jennifer John; Sigrid Schade (Hg.): Grenzgänge zwischen den Künsten. Interventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen, Bielefeld: transcript 2008, S. 97–118. Auther 2010 Auther, Elissa: String, Felt, Thread. The Hierarchy of Art and Craft in American Art, Minneapolis: University of Minnesota Press 2010. Auther 2015 Auther, Elissa: Fiber Art und die Hierarchie von Kunst und Kunsthandwerk zwischen 1960 und 1968, in: Rike Frank; Grant Watson (Hg.): Textiles. Open Letter, Berlin: Sternberg Press 2015, S. 148–165. Billeter 1990 Billeter, Erika: A Very Personal Word for L.T., in: Lenore Tawney: A Retrospective, hg. v. Kathleen Nugent Mangan, Ausst.-Kat., New York: Rizzoli: American Craft Museum 1990, S. 39–43. Cummings/Tawney 1971 Cummings, Paul; Lenore Tawney: Oral history interview with Lenore Tawney, 1971 June 23, in: Archives of American Art, Transkript, 32 Seiten, http://www.aaa.si.edu/ collections/interviews/oral-history-interview-lenore-tawney-12309#transcript (Stand: 19.2.2017). Gelshorn 2010 Gelshorn, Julia: The Making of the Artist. Das Atelier als Ort männlicher Selbsterschaffung, in: Michael Diers; Monika Wagner (Hg.): Topos Atelier. Werkstatt und Wissensform, Berlin: Akademie Verlag 2010 (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte, Bd. 7), S. 93–110.
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Abbildungsnachweise Abb. 1: Foto: Ferdinand Boesch. Abb. 2: Foto: George Erml, Lenore Tawney Foundation, New York. Abb. 3: Foto: Cori Wells Braun, in: Sozanski 1992, S. C1. Abb. 4: Foto: Nina Leen, © Life Magazine, in: Tawney 1990, S. 16. Abb. 5: Foto: Clayton J. Price, 1974, in: Tawney 1990, S. 10, © Courtesy Lenore G. Tawney Foundation, www.lenoretawney.org
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Alexia Pooth Experiment im Monument oder wie wohnt es sich bei Muche und Schlemmer? Artists in Residence in den Dessauer Meisterhäusern von Walter Gropius
„Ich denke nicht so sehr darüber nach, dass dies ein Meisterhaus war, sondern dass es ein Künstlerhaus ist. Ich wollte herausfinden, wie es ist, als Künstler in diesem Haus zu leben. Ich habe mich gefragt, wie dieser Raum eine Arbeit verändern, inspirieren oder sogar einschüchtern kann. Für mich ist es schön, hier zu sein, aber ist es der richtige Ort für jeden Künstler oder nur für einige von uns?“ Rudy Decelère Ein Museum ohne Künstler*innen ist kaum vorstellbar, doch was passiert, wenn Kunstschaffende Ausstellungsflächen bewohnen oder den musealen Ort des Gedenkens zur Kunstproduktion nutzen? Eine Antwort kann das Artist-in-Residence-Programm Bauhaus Residenz liefern, das 2016 von der Stiftung Bauhaus Dessau ins Leben gerufen wurde, um jungen Künstler*innen aus aller Welt ein Leben und Arbeiten in den Dessauer Meisterhäusern zu ermöglichen. Zwischen 2016 und 2018 hatten 20 Designer*innen, Architekt*innen, Bildhauer*innen, Maler*innen, Performer*innen, Musiker*innen und Fotograf*innen die Gelegenheit, bis zu drei Monate in das 1925/26 von Walter Gropius erbaute Doppelhaus Muche/Schlemmer zu ziehen – unter immer gleichen Konditionen: Die Künstler*innen kamen auf Einladung, über einen Open Call oder im Zuge von Kooperationen, stets unter der Prämisse, sich mit dem Ort bzw. dem Bauhauserbe zu beschäftigten. Zudem konnten sie, wenn sie wollten, ihre Arbeitsergebnisse nach Beendigung der Residenz im Haus Gropius hin-
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1 Paul Klee in seinem Atelier, 1926
terlassen. Zwischen 2016 und 2018 baute sich so die Ausstellung „Haus Gropius // Zeitgenössisch“ auf, in der die Residenzler*innen ihre Arbeiten in Beziehung zum Gebäude und zu den bereits vorhandenen Werken brachten. Die Ausstellung war bis Ende 2019 zu sehen; ab 2020 beginnt eine neue Runde des Residenzprogramms.1 Was wie ein weiteres Format in der Landschaft der Künstlerresidenzen wirkt, hat es indes in sich: Die Dessauer Meisterhäuser sind nicht nur die ehemaligen Villen der Bauhausmeister, die noch heute nach den Erstbewohnern Walter Gropius, László Moholy-Nagy, Lyonel Feininger, Georg Muche, Oskar Schlemmer, Wassily Kandinsky und Paul Klee benannt sind, sondern sie fungierten in den 1920er Jahren auch als Musterhäuser der Moderne, als Orte, an denen sich die Hausbau-Ideen des 1 Zum Programm Bauhaus Residenz, zur Ausstellung und zu den Konditionen vgl. Perren/Pooth 2019.
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Bauhauses mit dem Anspruch auf Zukunftsorientierung verbanden. Auf diese Weise avancierte die Künstlerkolonie schnell zum Schauplatz der Avantgarde, zum Umschlagplatz wegweisender Ideen. Diese Blütezeit, in der Gäste, Freund*innen und Studierende das Areal besuchten oder auch zeitweilig dort lebten, endete bereits mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten in Dessau. Mit dem Wegzug der Bauhausmeister 1932/33 infolge heftiger Attacken seitens nationalsozialistischer Lokalpolitiker begann eine wechselvolle Geschichte: 1945 wurden die Häuser Gropius und Moholy-Nagy zerbombt; in den 1950er Jahren wurde ein herkömmliches Einfamilienhaus auf den Resten des Hauses Gropius errichtet. Nach der Wende von 1989/90 zeigte sich das Areal massiv vernachlässigt. Erst 1996 wurde dem Ensemble der Weltkulturerbe-Status verliehen, umfangreiche Sanierungsmaßnahmen folgten (Thöner/Markgraf 2014). Heute besuchen jährlich tausende Tourist*innen die Siedlung, die in ihrer Gesamtheit seit 2014 wieder erlebbar ist: Das Berliner Architektur-Büro Bruno Fioretti Marquez rekonstruierte die beiden zerstörten Häuser Gropius und Moholy-Nagy wie auch die in den 1960er Jahren niedergerissene Umfassungsmauer. Die beiden Neuen Meisterhäuser sind allerdings keine Eins-zu-eins-Rekonstruktionen, sondern zeichnen lediglich die Kubaturen nach: Wie die Erinnerungen an Vergangenes ist ihre Gestalt schemenhaft; im Inneren sind sie nicht mehr Wohnhaus, sondern Ausstellungsfläche (Thöner/Pooth 2017). Das Residenzprojekt findet also an einem Ort mit bewegter Kunst- und Architekturgeschichte statt. In dieser Kolonie, deren weiße Architektur schon den Dichter Tadeuz Peiper 1927 aufgrund ihres „Leuchtens“ begeisterte, wurde neben der Produktion von aktueller Kunst (Abb. 1) der Grundstein dafür gelegt, was in heutigen Haushalten die Norm darstellt, etwa die moderne Küche, der Einbauschrank oder die Waschmaschine.
Nutzungsfragen: Die Residenz zwischen Denkmalpflege und Funktionserhalt Seit ihrer Gründung 1994 kümmert sich die Stiftung Bauhaus Dessau um die wissenschaftliche Erschließung ihres historischen Erbes wie auch um die Befragung der Bauhaus-Ideen auf deren heutige Relevanz. Diese Befragung erfolgt meist künstlerisch-experimentell: Das Bauhaus soll kein bloßer Architekturprospekt sein, sondern Labor für neue Diskurse, in
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dem sich Designer*innen, Künstler*innen und Architekt*innen forschend dem Bauhaus und seinen Zukunftspotenzialen nähern. Daher liegt es nahe, mit dem Programm Bauhaus Residenz, das ebenfalls dieser Zielsetzung verpflichtet ist, zu fragen, wie es sich heute in den Meisterhäusern leben und arbeiten lässt. Sind die Musterhäuser der Moderne, die Gropius nach dem Weggang des Bauhauses 1925 aus Weimar im Auftrag der Stadt Dessau erbaute, noch mit den Lebensbedingungen heutiger Künstler*innen kompatibel? Welche Erkenntnisse ergeben sich aus einem aktuellen Gebrauch dieser exklusiven Ateliergebäude und ist das Bewohnen, d.h. die Wiederherstellung der ursprünglichen Nutzungsfunktion zumindest in einem der Häuser, nicht eine Form des Denkmalschutzes? Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Fragen ist stets der UNESCO-Status der Gebäude. Ihre Nutzung ist mit äußerst strengen Auflagen verbunden. Zwar ist heute vieles nicht mehr original, doch was an bauzeitlicher Substanz noch da ist, z. B. die Triolinböden und Einbauschränke, ist zu schützen. Ausdruck finden diese Vorschriften in der Hausordnung. In dieser wird aufgeführt, dass nichts an die Wände angelehnt oder an ihnen befestigt werden darf, dass die Häuser nicht mit Straßenschuhen zu betreten sind, dass Rollkoffer getragen werden müssen, dass Rotwein tabu ist, dass die historischen Ablageflächen nicht und die Küchen nur zur Zubereitung kleiner Mahlzeiten genutzt werden dürfen und dass die Häuser alarmgesichert werden müssen, sobald die Künstler*innen sie für einige Tage verlassen. Wohnen ist in Gropius’ Vorzeigearchitektur also nur eingeschränkt möglich, zu schädlich wirkt sich die Luftfeuchtigkeit, die durch Duschen oder Kochen entsteht, auf die Einbauten aus. Lediglich eine temporäre Nutzung mit wenigen Künstler*innen kam in Frage – auch wenn dies die Residenzler*innen in die paradoxe Situation brachte, die Häuser bewohnen zu sollen, dies aber laut Denkmalpflege eigentlich nicht zu dürfen. Da die Stiftung Bauhaus Dessau die Auffassung vertritt, dass Architektur nicht nur Kulisse, sondern auch in ihrer Funktion zu erhalten sei, wurde trotzdem das Wagnis der Residenz eingegangen. Die Teilnahme an Residenzprogrammen gehört heute zum kollektiven Erfahrungshorizont junger Künstler*innen (Glauser 2018). Wie sich etwa an den Bauhaus-Residenzlerinnen Amor Muñoz (Mexiko Stadt) oder Wagehe Raufi (Offenbach) zeigt, sind Mobilität und Internationalität, das Pendeln zwischen heimischem Studio und Kurzzeitaufenthalten sowie die Produktion von Kunst an unbekannten Orten Aspekte, die das aktuelle
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Künstlerleitbild bestimmen. Diejenigen bleiben im Gespräch, die sich spielerisch in den verschiedensten Kontexten zurechtfinden und auf die unterschiedlichen Orte mit ihren nationalen und institutionellen Bedingungen einlassen. Sowohl der Kunstmarkt ist global als auch das über Länderund Sprachgrenzen hinweg stattfindende Agieren der Künstler*innen, die hier leben, dort arbeiten und deren Arbeiten gleichzeitig an einem anderen Ort ausgestellt oder gehandelt werden. Parallel dazu ist die Teilnahme an Residenzen aufgrund des Fördercharakters für viele attraktiv. Die Absolventenzahlen der Kunsthochschulen korrespondieren häufig nicht mit den Arbeitsmöglichkeiten; die Mieten für Ateliers steigen. Um sich auf dem Markt behaupten zu können, wirkt die Mehrzahl der Künstler*innen zudem in Personalunion als Kunstproduzent*innen, Kommunikator*innen und Marketingexpert*innen in eigener Sache. Dies hat zur Folge, dass wenig Zeit zum Kunstmachen bleibt, sodass Residenzen den Künstler*innen die Chance bieten, sich für einen festgelegten Zeitraum allein auf sich und die Arbeit zu konzentrieren, ohne sich Sorgen um das eigene Auskommen machen zu müssen. Mit dem Format Residenz „trifft“ daher eine Arbeits- und Lebensrealität auf die Meisterhäuser, die aktueller nicht sein könnte, obgleich sie wiederum nicht direkt zu Gropius’ ursprünglichen Intentionen hinsichtlich der Nutzung der Häuser passt. Für den Direktor und seine engsten Mitstreiter konzipiert, galten die Reihenhäuser 1926 als Form der Distinktion innerhalb der Meisterschaft und als Aushängeschild für die Stadt Dessau: Für Jungmeister*innen wie Marcel Breuer hätte die Stadt, die Eigentümerin der Gebäude war, kein Geld gegeben. Durch die Residenznutzung der Gebäude erfolgt heute nun eine Transformation von der Künstlervilla zur Kurzzeit-Wohnung. Bei genauerer Betrachtung ist diese Art des Gebrauchs allerdings nicht so abwegig, wie es zunächst erscheinen mag. Da die Mieten bereits in der Erbauungszeit sehr hoch waren, wurde Karla Grosch schon 1926 Untermieterin im Haus Klee und Hannes Meyer zeitweiliger Mitbewohner im Haus Schlemmer. Nach dem Wegzug von Georg Muche und Oskar Schlemmer aus Dessau 1927 bzw. 1929 etablierten sich zudem in deren Doppelhaus Künstlerwohnungen: Hier lebten phasenweise mit Schepers, Arndts, Schmidts und Gunta Stölzl verschiedene Jungmeisterfamilien zusammen (Borgert 2003, S. 61). Was die heutige Residenznutzung unter dieser Prämisse damit genau für den Ort der Meisterhäuser und die weite Diskussion um Künstlerhäuser insgesamt heißt, muss auch im Hinblick auf die Begriffe Residenz und residency jedoch an anderer Stelle vertieft werden.
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2 Andrea Grützner im ehemaligen Esszimmer, Meisterhaus Schlemmer, 2018
Das Prinzip der Hausgemeinschaft findet sich auch in der Bauhaus Residenz, in der Künstler*innen aus Europa, Asien, Lateinamerika und den USA unter einem Dach lebten. Entsprechend viele Perspektiven auf den Ort, auf die Herausforderung im Denkmal zu arbeiten bzw. in einem Haus zu wohnen, das bereits durch die Überschrift Muche – Schlemmer – Bauhaus einschlägig markiert ist, gibt es. Als Schwierigkeit kommt hinzu, dass das Wohnen hinter geschlossenen Türen stattfindet – auch wenn zum Abschluss jedes Aufenthaltes das Doppelhaus Muche/Schlemmer im Sinne eines Open Studios geöffnet wurde. Wie das Probewohnen und -arbeiten wirklich aussah, lässt sich also nur anhand von Indizien rekonstruieren, zu denen insbesondere Fotografien gehören, die die Stiftung Bauhaus Dessau zur Dokumentation hat anfertigen lassen (Abb. 2). Zu berücksichtigen ist bei diesen Aufnahmen, dass sie genauso „komponiert“ sind wie die Bilder aus den 1920er Jahren, die Gropius z.B. in seiner Publikation Bauhausbauten Dessau zu Promotionszwecken einsetzte (Gropius 1930). Die heutigen Fotos sind Momente, in denen sich die Künstler*innen im
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Meisterhaus zu sehen geben und zeigen (vgl. Nierhaus/Nierhaus 2014, S. 21). Um einen Eindruck davon zu erhalten, wie es sich im Haus Muche/ Schlemmer leben und arbeiten lässt, mit welchen Aspekten des Bauhauserbes sich die Residenzler*innen beschäftigten und wie die Künstler*innen mit dem Problem des Wohnen-Sollens-aber-nicht-Dürfens umgingen, ist ein exemplarischer Blick in die Bauhaus Residenz sinnvoll.
Regeln und Freiheiten Das erste Beispiel ist die aus Lima stammende Künstlerin Andrea Canepa, die sich 2016 im Open-Call-Verfahren für die Bauhaus Residenz 2017 bewarb und von der Stiftung Bauhaus Dessau bzw. einer Jury ausgewählt wurde, da ihre Arbeiten formal-ästhetisch wie auch inhaltlich immer wieder Verbindungen zum historischen Bauhaus aufweisen. Wie sich z. B. an A reliable kind of uncertainty zeigt, beschäftigt sich Canepa seit Jahren mit dem Thema Spielen, wobei sie sich in ihrer aktuellen Arbeit mit der Frage auseinandersetzt, wie viel spielerische Freiheit es in einem System von Regeln gibt.2 Dazu untersuchte sie Computer- und Brettspiele sowie Spielgeräte und Spielplätze und entwickelte für die Bauhaus Residenz in Auseinandersetzung mit dem Choreografen Rudolf Laban (1879–1958) und den Bühnenexperimenten am Bauhaus eine Arbeit, in der sie Bewegungsvorgaben mit Zeichencodes verknüpfte. Das Ergebnis war das Video Until it lives in the muscle, in dem sich Tänzer*innen nach auf Bodenplatten aufgetragenen Codes bewegen. Die Notationen bewirken, dass sich Bewegungen ändern, sobald ein*e Tänzer*in die nächste Platte betritt, die entstehenden Dynamiken erinnern an Brettspiele. Aufgenommen wurde die Performance im Werkstattflügel des Bauhausgebäudes. Bemerkenswert an Canepa, ihrer Arbeit und damit ihrer Residenz in der Doppelhaushälfte Schlemmer ist, dass sie die einzige Künstlerin war, die mit einem fertigen Arbeitskonzept nach Dessau kam (Abb. 3). Das Meisterhaus diente Canepa folglich lediglich dazu, ihr Projekt inhaltlich-strategisch zu finalisieren, die Platten zu produzieren, die Absprachen mit den Tänzer*innen und dem Kameramann zu treffen und das Team während der Produktion des Films im Haus zu beherbergen. Die Meisterhäuser selbst, deren ikonische
2
Vgl. die Website der Künstlerin, www.andreacanepa.com.
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3 Andrea Canepa im Atelier, Meisterhaus Schlemmer, 2017
Architektur und Denkmalstatus spielten für sie eine untergeordnete Rolle. Das Bauhaus insgesamt erfüllte allerdings, wie sich an der Wahl des Werkstattflügels zur Durchführung der Performance zeigt, eine wichtige Funktion. Anders als in den Meisterhäusern wird das im Video thematisierte Verhältnis von Regeln und Freiheiten im Bauhausgebäude unter besondere Vorzeichen gestellt: Das Bauhaus steht als Lehranstalt selbst für Reglement und Selbstständigkeit – im Lehren und Lernen, in der künstlerischen Entwicklung und Produktion. Canepas Arbeit wird so räumlich kontextualisiert, wobei sie gleichzeitig die Botschaft in Richtung des denkmalgeschützten Meisterhauses zu senden scheint, dass auch in der Residenz mit ihren Vorgaben Freiheiten möglich sind, nämlich durch die Nichtbeachtung der Hausordnung.
Wie früher? Einräumen im Meisterhaus Der Aspekt des Einschreibens in die Bauhausgeschichte bzw. das Aufgreifen und Transformieren von Themen, die im Bauhaus gelebt wur-
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den, spielt auch für den Grazer Künstler Clemens Krauss eine Rolle. Krauss, der 2017 von der Stiftung Bauhaus Dessau eingeladen wurde, ist Maler, Performance-Künstler und Psychoanalytiker, was sich in seiner Auseinandersetzung mit dem Thema Körper im Raum widerspiegelt. Soziale Konstellationen sowie die Anordnung von Figuren in gesellschaftlichen und räumlichen Kontexten sind sein Gegenstand. Im Gegensatz zu Canepa spielte für ihn die sich auf den Denkmalschutz berufende Hausordnung eine große Rolle, weil sie ihn anregte, die Substanz und den langfristigen Erhalt seines eigenen Werkes zu reflektieren. Zugleich lautete die Grundfrage seiner Residenz, was es bedeutete, dass mit ihm erstmals seit dem Wegzug der Meister 1932/33 wieder ein Maler wie ehemals Klee, Kandinsky, Muche oder Feininger im Meisterhaus Schlemmer arbeitete. Im Zuge der Nutzung des Hauses kam Krauss zu dem Schluss, dass dieses für die Praxis des Malens wenig geeignet ist, etwa weil große Leinwände nicht durch das schmale Treppenhaus passen und eine „malerische Hausnutzung“, die auch das Kleckern mit Farbe umfassen würde, aktuell nicht erlaubt ist (Eidner/Pooth 2017, S. 31) – ein Paradox, das er in seiner Abschlusspräsentation unter dem Titel „Wasch mich, aber mach mich nicht nass!“ humorvoll pointierte. Trotzdem widmete sich Krauss dem Mythos der Bauhausmaler, weniger indem er malte, sondern indem er sich mit Holz und Möbelbau beschäftigte und auf diese Weise, so die These, seinen eigenen Zugang zum Meisterhaus Schlemmer fand. Auch heute verfügt die Stiftung Bauhaus Dessau über eine kleine Holzwerkstatt, wo Krauss gemeinsam mit den Tischlern eine Staffelei und eine Liege fertigte. Beide Möbel wirken zunächst als attributives Kennzeichnen für den Maler und Psychoanalytiker Krauss selbst. Blickt man allerdings auf die Herstellung der Objekte und die Residenz im Meisterhaus, dann lassen sich noch weitere Lesarten finden: Das Arbeiten mit Holz wie auch das Prinzip, sich in einer „Bauhaus“-Werkstatt mit einem neuen Werkstoff zu beschäftigen, evoziert die Transdisziplinarität am historischen Bauhaus und erinnert zugleich an das auf die Gleichstellung von Kunst und Handwerk abzielende Prinzip, dass Bauhausmeister*innen und Handwerksmeister*innen in den Werkstätten stets zusammenarbeiteten. Krauss scheint diese Kollaborationsregel wiederzubeleben, nicht nur weil er die Idee für Staffelei und Liege entwickelte und die Tischler mit ihrem Know-how die Umsetzung betreuten, sondern auch weil er – wie schon in den 1920er Jahren die Meister*innen – im Meisterhaus wohnte. Er ging also während seiner Residenz quasi von dem Ort aus zur „Arbeit“
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4 Clemens Krauss im Atelier, Meisterhaus Schlemmer, 2017
in die Werkstatt wie damals die früheren Bewohner*innen. Im übertragenen Sinne kommt es so zu einer Wiederbelebung der Arbeitsformen und Wege, die in den 1920er Jahren den Bauhaus-Alltag bestimmten. Dieser Aspekt der autorgeografischen Selbst-Positionierung (vgl. Pooth 2014) bzw. das performative Einschreiben in das Leben der Meister*innen wird durch die von Krauss produzierten Möbel noch unterstrichen. Blickt man über deren Funktion als persönliches Attribut hinaus, dann hängen Sofa und Malgerätschaft offenbar eng mit der Atelier-Ikonografie der historischen Meisterhäuser zusammen: Gleichgültig ob man die überlieferten Fotos aus dem Atelier von Lyonel Feininger, von Paul Klee oder auch von László Moholy-Nagy betrachtet, überall sind Staffelei und Liege zu sehen. Da sich Krauss während seiner Residenz nach eigenen Aussagen intensiv mit den Malern am Bauhaus beschäftigt hat, ist ihm ein Bewusstsein, wie die Ateliers historisch eingerichtet waren, zu bescheinigen – nicht zuletzt, weil die genannten Fotografien in fast allen Publikationen zum Bauhaus in Dessau abgebildet sind. Zwar ist das performative Agieren des Kurzzeit-Residenzlers Krauss (Abb. 4) nicht mit der Ateliernutzung etwa von Paul Klee zu vergleichen, doch es kann
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festgehalten werden, dass Staffelei und Liege und ihre Herstellung sich wie ein annäherndes Einräumen im Meisterhaus lesen lassen. Krauss, der Maler, platziert sich mit seinen Möbeln im Haus, setzt sich in Beziehung zum Ort und der historischen Bewohnerschaft und macht doch etwas anderes als die Bauhausmaler – allein, weil er kein Meister am Bauhaus ist, sondern Performance-Künstler, dessen Thema die Figur im Raum darstellt.
Ungewohnt. Museale Leere und Bewohnbarkeit Einer der wenigen Residenzler, die sich beim Wohnen fotografieren ließen, war der in Genf lebende Rudy Decelère, der in einer Fotoserie das heutige Wohnen im Meisterhaus Schlemmer demonstrierte (Abb. 5). Die Fotos aus dem Jahr 2016 zeigen ihn in Schlafzimmer, Küche und Bad bzw. auf dem Balkon. Da zahlreiche Fotografien der Meisterhäuser erhalten sind und also zum „Bildrepertoire einer medial vergegenwärtigten Wohn-Moderne“ gehören (Keim 2016, S. 206), evozieren die zeitgenössischen Bilder die historischen Innenraumansichten etwa von Lucia Moholy (Thöner/ Markgraf 2014). Dass Besucher*innen sich durch das Direktorenhaus und das Areal führen lassen können bzw. Interessierten mittels Fotografien Einblick in die Meisterhäuser gewährt wird, erinnert zugleich an die Vermarktungspraktiken von Ise Gropius. Eine bis heute wichtige Quelle ist der Film Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich?, der 1926 mit „Frau Gropius“ als Hauptdarstellerin angefertigt wurde.3 Dieser demonstriert nicht nur das den Häusern eingeschriebene Sendungsbewusstsein, sondern veranschaulicht auch, wie sich in den Meisterhäusern Wohnideale, reales Wohnen und das Ausstellen von Wohnen verknüpften. Allerdings eröffnet Decelières „Herumführen“ bei genauer Betrachtung andere Themen als diejenigen, die in den 1920er Jahren behandelt wurden – etwa die Frage, wie die Häuser für die Residenz heute eingerichtet sind. Dies machte die in New York lebende Fotografin Andrea Grützner deutlich: „Als ich zum ersten Mal ins Haus Schlemmer kam, war ich irritiert, weil dieser Raum auf einen Nullzustand zurückgesetzt ist. Zum Beispiel das ehemalige Wohnzimmer von Oskar Schlemmer mit seinen Stahlrohrmö3 Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? Aufnahmeleitung: Ernest Jahn, Fotografie: Rolf von Botescu, Humboldt-Film GmbH, Berlin-Wilmersdorf 1926–1928.
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5 Rudy Decelière im Badezimmer, Meisterhaus Schlemmer, 2016
beln sieht aus wie ein Wartezimmer bei einem schicken Zahnarzt. Es ist die Inkarnation einer männlichen Ungemütlichkeit ohne jegliche Spuren von anderen Menschen, die an diesem Ort gewohnt haben. Es war klar: Ich befinde mich in einem Museum. Die Küche war der wohnlichste Ort. Dort gab es noch Reste der anderen Künstler. Die Küche ist ein Ort, den man sich am schnellsten aneignet durch die Tätigkeit des Kochens […].“ (Grützner zit. n. Perren/Pooth 2019, S. 135) Grützners Aussage ist bemerkenswert, nicht nur, weil hier gängige Vorstellungen über Künstlerhäuser als auratisch-romantische Orte verräumlichter Künstlerschaft mitzuschwingen scheinen (Autsch 2005), sondern weil sie mit den Begriffen „Nullzustand“ und „Museum“ zwei Dinge anspricht, die für das Residenzwohnen bestimmend sind: Da die Meisterhäuser bis auf die für die Residenz genutzten Doppelhäuser Muche/Schlemmer öffentlich zugänglich sind, wohnen die Künstler*innen gewissermaßen in einer Architekturausstellung. Zugleich ist der beschriebene Nullzustand per se im Nutzungsformat angelegt. In der Regel reisen die Künstler*innen nur mit wenigen Dingen in eine Residenz, und da sie diese nach Beendigung ihres
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Aufenthaltes wieder mitnehmen, ist das Spartanische in residencies normal. Irritierend im Kontext der Bauhaus Residenz ist allerdings, dass das Museal-Leere einen Ort prägt, der durch die vielen historischen Fotografien, die Architektur und die großen Namen derart aufgeladen ist, dass die Erwartungen an die Häuser offenbar nur begrenzt eingelöst werden können. Daran ändert auch die Residenzmöblierung nichts, denn eigentlich ist alles da, was man zum Wohnen braucht – modernes Design etwa von Axel Kufus und Ikea, kombiniert mit historischen Stahlrohrmöbeln. Das Thema des Musealen wird durch die Exponiertheit im Wohnen noch unterstrichen. Jährlich besuchen tausende Tourist*innen das Areal, und da ihnen die Guides vor Ort erzählen, dass die Häuser Wohnmodelle waren und im Haus Muche/Schlemmer momentan zeitgenössische Künstler*innen leben, verwundert es nicht, dass die Tourist*innen das Recht der Künstler*innen auf Privatheit vergessen und durch die Fenster spähen bzw. an der Haustür klingeln. Durch die Neugierigen ergibt sich allerdings ein Link in die Vergangenheit. Schon Lyonel Feininger schrieb 1927 an seine Frau: „Der Sonntag ist mir ein gefürchteter Tag schon ohnehin; aber diese Menschen, die unablässig von früh bis spät vorüberschlendern und vor unseren Häusern glotzend stehen bleiben! […] Die Öffentlichkeit, die so auf einen hereinbrandet, die ist furchtbar!“ (Feininger zit. n. Perren 2019, S. 36) Auch der Residenzkünstler Jakob Gautel beschreibt dieses Problem: „Das Wohnen im Meisterhaus ist schwierig. Es ist ein Unding, weil das Haus ein Monument ist. Man darf nicht an die Wand und den Boden, die Wände sind nur gekalkt. Das macht das Wohnen schwierig. Man muss erstmal verstehen, was da los ist. Einerseits ist man blockiert, weil man sich nicht bewegen darf, andererseits ist man in einem Zoo. Man wird andauernd begafft von Touristen, die durch die Fenster schauen, von hinten kommen, fotografieren.“ (Gautel zit. n. Perren/Pooth 2019, S. 47) Um dieser Wohnsituation zu entgehen, findet man bei fast allen Künstler*innen ähnliche Wohn- und Hausnutzungsstrategien: Zum einen „flüchten“ viele ins Atelier im ersten Stock oder in den Keller. Zum anderen lässt sich fast durchweg bei allen Residenzler*innen eine Art Bewohnbar-Machung der Häuser beobachten, die dazu dient, die „leeren“ Räume zu füllen und für die Zeit der Residenz so zu personalisieren, dass die Prägung durch Schlemmer & Co in den Hintergrund tritt. Ob durch Kerzen, das Überhängen von im Haus angebrachten Informationsstelen mit Bildern oder das Platzieren von Blumen (Abb. 2), es wird Wohnlichkeit geschaffen und eine Verbindung zum Leben nach Hause hergestellt,
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also nach Wien, Seoul oder Miami. Diese Form der Individualisierung ist auch schon bei den Bauhausmeistern zu finden, die sich nach Einzug in die mit Lampen und Einbaumobiliar aus den Bauhauswerkstätten eingerichteten Häuser ihre mitgebrachten Möbel aufstellten oder, wie im Fall von Kandinsky, einen Rosengarten anlegten. Nichtsdestotrotz begreifen die Künstler*innen das Museal-Leere als Inspiration. Weil die Zeit gegeben ist, sich im Haus mit dem Bauhauserbe und dem eigenen Künstlersein auseinanderzusetzen, und weil Inspirationsräume entstehen können, die das „Zurückwandern“ in die Geschichte ermöglichen. Gerade abends, wenn die Tourist*innen weg sind, stellt sich etwa für die Koreanerin Jiyoung Yoon die Frage, wie wohl eine Konversation mit Schlemmer verlaufen wäre. Der Berliner Künstler Markus Hoffmann wiederum wird zu Raumerkundungen eigener Art angeregt: Er nutze die Abendstunden, um das Haus zu vermessen und die Maßeinheiten nachzusprechen, als raumperformative Reminiszenz auf die Stimmen, die früher im Haus zu hören waren. So werden die Meisterhäuser zu Orten der Einbildungskraft, an dem Bauhausgeschichte individuell erlebt und im Tun aktualisiert wird.
Fazit An den Beispielen zeigt sich, dass die Bauhaus-Residenzler*innen die Häuser so „belebten“, wie es ihrer Arbeitsweise und ihrem künstlerischen Vorhaben entsprach bzw. an diesem aporetischen Ort möglich war, der leer und zugleich voller Geschichten ist und der bewohnt werden soll, aber eigentlich nicht benutzt werden darf. Demgemäß bekam das Meisterhaus Muche/Schlemmer unterschiedliche Funktionen: Es wurde zur Bühne, zum wohnlich gemachten Rückzugsort oder, wie im Fall von Andrea Canepa, zur Logistikzentrale. Das Bauhaus und seine Ideen spielen für die Künstler*innen nach wie vor eine wichtige Rolle, aber das eigene künstlerische Tun und das Wohn-Wohlbefinden stehen – auch beim Logieren auf Zeit – im Vordergrund. Die Teilnahme an einem Programm wie der Bauhaus Residenz bedeutet nicht unbedingt, dass Gropius’ Architektur als absolut einmalig wahrgenommen wird. Neben aller Begeisterung wird auch immer wieder Kritik an den Ikonen der Moderne geübt – dann nämlich, wenn die Anschlussfähigkeit der historischen Wohn-Moderne an die heutigen Bedürfnisse nicht gewährleistet ist. Ein
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Leben ohne Straßenschuhe im Haus oder ohne Bilder an den Wänden ist offenbar nicht praktikabel – vielleicht, weil hier der Denkmalschutz zu stark in Lebenspraktiken eingreift, vielleicht aber auch, weil die Künstler*innen heute selbstbewusst sich selbst und nicht den in der Siedlung „verhäuslichten“ Kanon der Kunstgeschichte im Auge haben. Nichtsdestotrotz lassen sich erstmals seit dem Weggang der Meister wieder aktuelle Kunstdiskurse und künstlerische Biografien in den Meisterhäusern verorten. Mit dem Einzug der Residenzler*innen werden die Häuser zu „Lebensabschnittsstationen“. Dieses Station-Machen bietet Chancen, denn gleichgültig ob Künstlervilla, Künstlerhaus oder Meisterhausresidenz: Öffnen sich zum Abschluss einer Residenz die Türen, dann können die Besucher*innen eine „lebendige“ Vorstellung davon bekommen, wie es ist, wenn in diesen Häusern gelebt und experimentiert wird. Die Residenz ist eine Form der Vermittlung, in der Gropius’ Anspruch erlebbar wird, „Lebensvorgänge zu gestalten“ (Gropius 1930, S. 92), die allerdings auch die Gegensätze reaktualisiert, die das Leben in der Kolonie stets bedingte: Während die Siedlung in den 1920er Jahren den Widerspruch zwischen serieller Funktionalität und exklusiven Künstlerwelten symbolisierte, situiert sich die Bauhaus Residenz heute im Spannungsfeld zwischen der Hausordnung und dem Wunsch, das Doppelhaus Muche/Schlemmer sozusagen künstlerisch auf seine Aktualität zu befragen.
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Experiment im Monument Literatur Autsch 2005 Autsch, Sabine: „Expositionen“ – Künstlerhaus und Atelier im Medienumbruch, in: dies.; Michael Grisko; Peter Seiberg (Hg.): Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten. Zur aktuellen Situation von Künstler- und Literatenhäusern, Bielefeld: transcript 2005, S. 27–54. Borgert 2003 Borgert, Ulrich: Bau- und Nutzungsgeschichte der Meisterhäuser, in: August Gebeßler (Hg.): Gropius. Meisterhaus Muche/ Schlemmer. Die Geschichte einer Instandsetzung, Stuttgart: Krämer 2003, S. 46–69. Eidner/Pooth 2017 Eidner, Franziska; Alexia Pooth: Substanz entsteht erst durch Transformation. Ein Gespräch mit den Bauhaus Residenzkünstlern Clemens Krauss und Markus Hoffmann, in: Bauhaus, Nr. 9 (Heftthema: Substanz), 2017, S. 28–33. Glauser 2018 Glauser, Andrea: Der „Artist in Residence“ im Spannungsfeld von Globalisierung und Lokalisierung, in: Alexandra Grausam (Hg.): Away. The Book abaout Residencies, Wien: VfmK 2018, S. 40–49. Gropius 1930 Gropius, Walter: Bauhausbauten Dessau (1930), mit e. Vorbemerkung d. Hg. Hans M. Wingler, faks. Nachdruck, Mainz/ Berlin: Kupferberg 1974 (Neue Bauhausbücher). Keim 2016 Keim, Christiane: „Betten und Matratzen an die Sonne“. Die Neue Wohnung und der Normalisierungs- und Sexualisierungsdiskurs in der Weimarer Republik, in: Irene Nierhaus; Kathrin Heinz (Hg.): Matratze/Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur, Bielefeld: transcript 2016 (wohnen+/−ausstellen, Bd. 3), S. 205–221. Nierhaus/Nierhaus 2014 Nierhaus, Irene; Andreas Nierhaus: Wohnen Zeigen. Schau_Plätze des Wohnwissens,
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in: dies. (Hg.): Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bielefeld: transcript 2014 (wohnen+/−ausstellen, Bd. 1), S. 9–35. Perren 2019 Perren, Claudia: Wohnen als Funktion, Ausstellen als Position, in: Perren/Pooth 2019, S. 34–39. Perren/Pooth 2019 Perren, Claudia; Alexia Pooth (Hg.): Haus Gropius // Zeitgenössisch. Bauhaus Residenz-Programm 2016–2018, Bielefeld: Kerber 2019 (Edition Bauhaus, Bd. 56). Pooth 2014 Pooth, Alexia: Kunst, Raum, Autorschaft. Der Nachlass des US-amerikanischen Malers C. H. Phillips (1889–1975) aus autorgeografischer Perspektive, Bielefeld: transcript 2014. Thöner/Markgraf 2014 Thöner, Wolfgang; Monika Markgraf: Die Meisterhäuser in Dessau, Leipzig: Spector Books 2014 (Bauhaus Taschenbuch, Bd. 10). Thöner/Pooth 2017 Thöner, Wolfgang; Alexia Pooth (Red.): Neue Meisterhäuser in Dessau, 1925–2014. Debatten. Positionen. Kontexte, hg. von der Stiftung Bauhaus Dessau, Leipzig: Spector Books 2017 (Edition Bauhaus, Bd. 46).
Abbildungsnachweise Abb. 1: © Bauhaus Archiv Berlin (Inv. Nr. 12434/60), Foto: Lucia Moholy. Abb. 2: © Stiftung Bauhaus Dessau, Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz. Abb. 3–5: © Stiftung Bauhaus Dessau, Foto: Yvonne Tenschert. © VG Bild-Kunst, Bonn 2020: Lucia Moholy (Abb. 1), Walter Gropius (Abb. 2–5).
II Ein-Blicke
UND ZUR-SCHAU-STELLUNGEN
Barbara Paul Wohnerfahrungen als queerfeministische Beziehungsarbeit: Die Fotografieserie Eine glückliche Ehe von Daniela Comani
1. Einleitung Der Begriff der Erfahrung wird im Deutschen oft überstrapaziert und mit einem Authentizitätsversprechen verknüpft, so auch 2014 in der Zeitschrift ARCH+. Zeitschrift für Architektur und Städtebau. Das Novemberheft mit dem Themenschwerpunkt „Wohnerfahrungen“ fragt „nach der Bedeutung von Empirie für die Arbeit von (nicht nur) Architekten und Stadtplanern“ (Kraft 2014, S. 14) und operiert bei seiner Cover-Gestaltung (Abb. 1) mit einer berühmt gewordenen Fotografie der Kommune I, der 1967 in West-Berlin im Kontext der außerparlamentarischen Opposition und Studierendenbewegung gegründeten Wohngemeinschaft. Die von Thomas Hesterberg aufgenommene Fotografie zeigt acht nackte Menschen – Frauen, Männer und ein Kind – in Rückensicht, breitbeinig stehend und mit nach oben ausgestreckten, gegen die Wand gestützten Armen. Im Unterschied zur Originalfotografie fehlen auf dem Cover der ARCH+ „Wohn-Dinge“ (Nierhaus/Nierhaus 2014, S. 12) gänzlich.1 Mit der Wahl dieser Fotografie gibt sich ARCH+ betont anti-familiaristisch und
1 Auf der Originalfotografie (vgl. u. a. SZ Photo Ikonen: Das Foto der Kommune 1 (1967) von Thomas Hesterberg, in: SZ Photo blog, https://blog.sz-photo. de/aktuelles/sz-photo-ikonen-das-foto-der-kommune-1-1967-von-thomas-hesterberg/, 31.10.2018) sind links ein Waschbecken und rechts der äußerste Rand eines Betts zu sehen. Zu den prominentesten Mitgliedern der Kommune I, die mit wechselndem Personal und in unterschiedlichen Wohnungen bis 1969 bestand, zählten Dieter Kunzelmann, Dieter Langhans, Uschi Obermaier und Fritz Teufel (vgl. u. a. Enzensberger 2004).
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Wohnerfahrungen als queer-feministische Beziehungsarbeit
1 Cover von ARCH+. Zeitschrift für Architektur und Städtebau, Heft 218: Wohnerfahrungen, November 2014
ruft einige der mit der Kommune I verknüpften Vorstellungen auf, wie etwa deren Kritik an der bürgerlichen Kleinfamilie als kleinster Zelle des Staats, die es zu zerschlagen gelte und der alternative Wohn‑, Lebens‑ und Liebesformen entgegenzusetzen seien. Neben individuellen Erfahrungen ging es wesentlich um kollektive Erfahrungen und das Infragestellen (klein‑)bürgerlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Moral- und Sexualitätsvorstellungen, wofür die Kommune I prototypisch stand, die unter dem Motto der ‚freien Liebe‘ nicht länger in Abhängigkeit voneinander konzeptionierte Mann-Frau-Zweierbeziehungen und teilweise auch nicht-heteronormative Lebenspraxen erprobte. Es ist sicherlich gerechtfertigt, wie es ARCH+ vorschlägt, die praktischen Bedeutungen von habitualisierten Verhaltensregeln im Sinne von Pierre Bourdieu darauf hin zu befragen, „wie sich diese Regeln in der
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Raumdisposition und -nutzung niederschlagen“ (Kraft 2014, S. 15). In Hinblick auf künstlerische Argumentationen, namentlich die Fotografieserie Eine glückliche Ehe (2003–13) von Daniela Comani, möchte ich jedoch einen anderen Weg beschreiten und mit dem Erfahrungsbegriff von Michel Foucault arbeiten. In einem wenig beachteten Interview aus dem Jahre 1978 erläutert Foucault, dass er unter Erfahrung „immer eine Fiktion, etwas Selbstfabriziertes versteht, das es vorher nicht gab und das es dann plötzlich gibt“ (Foucault 1996, S. 30). Dabei ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass im Französischen das Wort expérience sowohl Erfahrung als auch Experiment bedeuten kann. Man sagt faire des expériences, Erfahrungen sammeln, und faire une expérience, ein Experiment machen. Aufgrund dieser basalen begrifflichen Nähe von Erfahrung und Experiment bei Foucault lassen sich diese beiden Perspektivierungen prädestinierterweise übereinanderlegen, auch ineinanderfalten und im Kontext von Macht, Wissen und Diskurs für eine repräsentationskritische Analyse von insbesondere solchen visuellen künstlerischen Arbeiten nutzbar machen, die es ermöglichen, weithin übliche heteronormative Positionen von Geschlechtern, Sexualitäten und Begehren mit ihren Normalisierungseffekten experimentierend zu unterlaufen. Es ist zu untersuchen, inwiefern dabei Erfahrungen im Foucault’schen Sinne als etwas „Selbstfabriziertes“ und als „Fiktion“ „plötzlich“ sichtbar und lebbar (gemacht) werden und welche Rolle dabei Kulturen des Wohnens und Häuslichen, des Intimen und Geschützten sowie des vermeintlich unpolitischen Privaten und Individuellen spielen.
2. Feministische künstlerische Positionen seit den 1970er Jahren Es sind vor allem feministische Künstlerinnen, die für das Thema ‚Wohn/ Raum/Denken‘ vornehmlich seit den 1970er Jahren einschlägige Argumentationen entwickelt haben. Sie beschäftigten sich, um nur an einige wenige Themenfelder zu erinnern, außer mit Fragen rund um Hausarbeit mit Frauen-Selbsterfahrungsgruppen und -räumen (Ulrike Rosenbach u. a.), mit dem Körper als Raum von (Grenz‑)Erfahrungen und von (transformatorischen) Imaginationen (VALIE EXPORT u.a.) und mit Raumbesetzungen sowohl im metaphorischen Sinne als auch ganz konkret, nämlich mit Hausbesetzungsprojekten und Fragen nach gesellschaftspolitischer
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2 Birgit Jürgenssen, Ohne Titel, 1973, Bleistift und Farbstift auf Büttenkarton, 44,5 × 62 cm
Teilhabe. Allein im Bereich Videofilm wurden zum letztgenannten Themenfeld im deutschsprachigen Raum bis zum Jahre 1990 mehr als zehn Arbeiten (Mirjam Quinte, Kristine Preuß u.a.) angefertigt und im Verleih angeboten (Bruns/Richarz 1990, S. 107–111). Gemeinsam ist diesen Interventionen und zahlreichen weiteren Arbeiten, dass „feministische Kunst als feministische Politik“ (Paul 2006, S. 480) zu operieren suchte. Ins Groteske und Surreale wendet hingegen die österreichische Künstlerin Birgit Jürgenssen oftmals die von ihr entwickelten Raum-Körper-Konstellationen. So gehen beispielsweise die in der Zeichnung Ohne Titel aus dem Jahre 1973 (Abb. 2) zu sehen gegebenen Körper bzw. Körperfragmente in das Mobiliar über und verschmelzen mit diesem, sodass modifizierte Körperfigurationen, ja Tisch-Körper-Konfigurationen entstehen. Die Künstlerin produziert unheimliche Körper-Raum-Konstellationen, die auch etwas Heimisches im Sinne von etwas Häuslichem und etwas Intimes aufweisen, das in einem, sieht man von einem dem Tisch zugeordneten, umgeworfenen Stuhl ab, nahezu leeren, ja nackten Raum zu sehen gegeben wird. Weitere Details,
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wie beispielsweise die rosa Socken an den Füßen des Mannes links im Bild und die blauen Schuhe an den Füßen der Frau rechts im Bild, die somit für die Umkehrung geschlechtsspezifischer farblicher Kodierungen stehen, verweisen auf die Beharrlichkeit und Konsequenz, mit der Jürgenssen die hegemoniale Geschlechterordnung in den 1970er Jahren kritisiert. Auf den Punkt bringt es Gabriele Schor, wenn sie bezüglich der „Mann-Frau-Beziehung“, die hier „radikalisiert“ wird, schreibt: „Ein zum Tisch mutiertes Paar birst entkörpert auseinander.“ (Schor 2010, S. 14) Körper und Wohngegenstände lassen sich streng genommen, was etwas Unheimliches hat, nicht mehr voneinander trennen, während der Raum keinen Veränderungen unterliegt und somit als Ort des Geschehens dominant bleibt.
3. Daniela Comani: Eine glückliche Ehe Im Unterschied zur Zeichnung von Birgit Jürgenssen scheint der Fotografieserie Eine glückliche Ehe von der italienischen, in Berlin lebenden Künstlerin Daniela Comani zumindest auf den ersten Blick etwas Alltägliches anzuhaften. Die seit 2003 in über zehn Jahren meist in SchwarzWeiß, zuletzt dann auch in Farbe angefertigte Serie umfasst 65 Arbeiten und wurde 2014 in der Züricher Edition Patrick Frey als (Künstler*innen-)Buch publiziert (Comani 2014; Abb. 3), in dem den einzelnen Arbeiten jeweils eine chronologische, fortlaufende Nummerierung zugewiesen werden.2 Ästhetisch gesehen rekurrieren die Fotografien mitunter auf Formate wie das Fotoalbum aus dem Amateur*innenbereich und auch den Fotoroman (vgl. dazu Rose 2010; Zuromskis 2013 u. a.). Trotz der offensichtlichen Alltäglichkeit der Aufnahmen erweist sich der durch den Titel noch verstärkte Eindruck, dass die Bilder ein glückliches Ehepaar zeigen, schnell als trügerisch. In den Fotografien wird vielmehr, so meine These, eine queer-feministisch motivierte Beziehungsarbeit3 zu sehen
2 Ich wähle im Folgenden für meine Analyse aus der Serie einzelne Arbeiten aus, die für meine Fragestellung interessant sind, und beziehe mich nicht auf die im Buch vorgebene Reihenfolge; dies ist meines Erachtens gut machbar, da die Fotografien in Ausstellungen auch in wechselnden Kombinationen präsentiert werden (vgl. auch Comani 2014, S. 96f.). 3 Als Beziehungsarbeit lässt sich, was für die Fotografieserie von Comani aufschlussreich ist, auch das Verhältnis von Kunst und Institutionen beschreiben, vgl. Fritz/Bogner 2011.
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3 Cover von Daniela Comani, Eine glückliche Ehe/Un matrimonio felice/A Happy Marriage, 2014
gegeben. Diese gestaltet sich mitunter insofern als schwierig, als sie auf Arbeit von Subjekten und immer wieder neu auszuhandelnden Überzeugungen beruht. Wohnerfahrungen können dabei zum Beispiel für ein vermeintlich heterosexuelles Paar und dessen Eheglück eine wichtige Rolle in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Stereotypisierungen und deren Umarbeitungen spielen. Wie en passant werden, um einen Einblick in die Serie zu geben (vgl. Abb. 4a–c und 5a–c), in Szenerien des Alltäglichen und Vertrauten Routinen vorgeführt, wie beispielsweise das gemeinsame Kochen oder Zähneputzen. Auch zahlreiche andere Tätigkeiten werden in der Zweier-Konstellation zu sehen gegeben, wie arbeiten, lesen, sich ausruhen und im Bett liegen. Hinzu kommen Fotografien, die außerhäusliche Aktivitäten des Paares behandeln, wie einkaufen gehen oder am Strand spazieren. Zudem gibt es Arbeiten, die das Paar dabei zeigen, wie es eine
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4a–c Daniela Comani, Eine glückliche Ehe: 11/2004, 6/2004, 61/2011
5 a–c Daniela Comani, Eine glückliche Ehe: 46/2006, 56/2009, 10/2004
Auswahl seiner eigenen Fotografien vorbereitet oder diese wiederum in einer Ausstellung selbst betrachtet (vgl. Comani 2014). Überschaut man die Fotografien der Serie Eine glückliche Ehe, so lassen sie sich mit Gilles Deleuze und Félix Guattari und ihren Überlegungen in dem Buch Tausend Plateaus als „Gefüge“ charakterisieren (Deleuze/ Guattari 1992, S. 12 und passim; vgl. auch Hoenes/Paul 2017, S. 13–15). Das Konzept des Gefüges beinhaltet stets etwas Prozessuales, es basiert
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auf Verflüssigungen, beispielsweise von vermeintlich festen Grenzen oder unverrückbaren Normen, und ist insofern abseits von dichotomischen Ordnungsmustern angesiedelt. Gemäß dieser theoretischen Rahmung wird das Subjekt als kontinuierlich im Werden aufgefasst, wobei das Gefüge mit seinen verschiedenen Formen der Verflüssigung auf eine „Art Organismus“ verweist und dabei ein „signifikantes Ganzes oder eine Bestimmung, die einem Subjekt zugeordnet werden kann“, aufruft (Deleuze/ Guattari 1992, S. 12f.). Zugleich operieren Deleuze und Guattari mit dem Begriff des „organlosen Körpers“, mit dem nicht nur komplexe Praktiken verknüpft sind, sondern „der unaufhörlich den Organismus auflöst, der asignifikante Teilchen, reine Intensitäten, eindringen und zirkulieren läßt“ (ebd., S. 13). Dies bedeutet nicht, dass der Körper und mit ihm das Subjekt zerfallen oder sich im Sinne einer Verflüssigung auflösen, sondern sie befinden sich stets im Werden und können neu zu signifizierende Teilchen oder Bausteine konstitutiv hinzufügen. Mit dieser Perspektivierung lässt sich künstlerisch, wie das Beispiel Daniela Comani zeigt, insofern arbeiten, als mit Blick auf Territorialisierung, Kodierung und Organisation von Körpern, Begehren und Sexualitäten sowie auch von Wohn-Dingen Re/Formulierungen vorgeschlagen werden können. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass Gefüge im Unterschied zu Ordnungen, die mit Identitäten und Grenzziehungen operieren, Verbindungen zwischen bestimmten Mannigfaltigkeiten produzieren, in denen sich individuelle Erfahrungswelten und auch Begehren herstellen. Bezogen auf die Fotografien von Daniela Comani wird es von daher um die Frage gehen, inwiefern die heteronormative Geschlechterordnung durchkreuzt wird und sich ein womöglich widerständiges, ver-rücktes Wohnwissen einstellen kann. Beim Betrachten der Fotografien wird nach und nach deutlich, dass beide Personen, die wir in der Regel als Mann und Frau zu lesen gewohnt sind, von ein und derselben Person aufgeführt werden. Es ist die Künstler*in selbst, die performt und die für diese Serie zunächst je zwei getrennte Fotografien hergestellt, diese dann montiert und (digital) bearbeitet hat. In den Fotografien lassen sich immer wieder kleinere Irritationsmomente finden, da die visuellen Unterschiede zwischen der als Frau und der als Mann lesbaren Person oft gar nicht so groß ausfallen, obwohl sie eindeutig als solche erkennbar sind und bleiben. Als Marker, der das Geschlecht vereindeutigt, fungiert vornehmlich der Drei-Tage-
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Bart.4 Auch ist der ‚Mann‘ immer so ins Bild gesetzt, dass ‚er‘, ein veraltetes Klischee aufgreifend, etwas größer wirkt. Die Rollenverteilungen sind durchweg stereotypisiert; so erscheint es zum Beispiel wie selbstverständlich, dass ‚sie‘ kocht und ‚er‘ kostet (11/2004; Abb. 4a). Was bei der Personencharakterisierung begonnen wird, findet seine Fortsetzung in der Raumgestaltung und den Wohnaccessoires. Alle Details sind akribisch komponiert und visuell perfektioniert. So findet sich etwa beim Zähneputzen (6/2004; Abb. 4b) im Badezimmer neben ‚ihr‘ die leere Toilettenpapierrolle auf dem Heizkörper, während auf ‚seiner‘ Seite ein großformatiges Duschhandtuch ‚für Männer‘ hängt. Oder sie werden zusammen auf einem Ledersofa sitzend gezeigt (61/2011; Abb. 4c), wobei ‚er‘ raumgreifend in der Mitte des Sofas und des Bildes inszeniert wird, während ‚ihr‘ ein Randplatz zugewiesen ist. Neue, selbstfabrizierte Wohnerfahrungen werden vor allem durch umgearbeitete Wohnnarrationen und -handlungen sowie durch deren fotografische Medialisierungen konfiguriert. Liegen und Sitzen, Arbeiten und immer wieder Lesen sind hier die bedeutungsstiftenden Kulturtechniken. Auf dem Bett halb sitzend, halb liegend breitet der ‚männliche‘ Protagonist in der Fotografie 46/2006 (Abb. 5a) mit ausladender Geste nicht nur eine Landkarte aus. Allein auf ‚seiner‘ Bettseite finden sich ein Nachttisch mit einem Bücherstapel und gelesenen Zeitungen sowie ein schlichter weißer Schrank, auf dem nochmals Bücher stehen. Auf ‚ihrer‘ Betthälfte gibt es hingegen in einer leicht geschwungenen Formation eine Kissenlandschaft und ‚sein‘ ausgestrecktes linkes Bein. Eine weitere Arbeit (56/2009; Abb. 5b) zeigt die beiden Protagonist*innen lesend im Bett. Vor einer gleichmäßig weiß gestrichenen Raufasertapete sind sie gleichberechtigt auf je einer Betthälfte mit eigener weißer Federbettdecke und jeweils einem Buch in den Händen positioniert. Der Clou in dieser Arbeit sind die umgearbeiteten Buchtitel und -cover, mit denen die Geschlechterordnung in der Literaturgeschichte parodiert wird, wobei Gustave Flauberts Madame Bovary in Monsieur Bovary und Ernest Hemingways The Old Man and the Sea in The Old Woman and the Sea umbenannt worden ist. Eine weitere Fotografie gibt Einblick in ein Arbeitszimmer (10/2004; Abb. 5c). Wir befinden uns erneut in einer Wohnung, wie ein im Bildhin-
4 Unter der Perspektive Haar und Behaarung beschäftigt sich Frédérique Villemur mit Daniela Comanis Fotografieserie Eine glückliche Ehe und betont „la similarité dans la différence“ (Villemur 2016, S. 6).
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tergrund durch eine offene Tür zu sehender Kleiderschrank verrät, der auf ein Schlafzimmer verweist. In dem formal zweigeteilten Bild posieren beide Protagonist*innen erneut für die Kamera. ‚Sie‘ ist beim Telefonieren zu sehen, wobei sie offensichtlich zuhört und dabei handschriftlich Notizen macht; auch der Kalender wird von ‚ihr‘ verwaltet. ‚Er‘ schaut hingegen, die Hände auf der Tastatur, konzentriert auf den Bildschirm eines Notebooks, einer im Vergleich zum Telefon neueren und avancierteren Medientechnologie. Einige Arbeitsutensilien bzw. Wohn-Dinge finden sich doppelt in der betont inszenierten Fotografie, so zum Beispiel das Telefon. Ein Schnurtelefon wird nur von ‚ihr‘, nicht jedoch vom ‚männlichen‘ Protagonisten benutzt, denn ‚ihm‘ ist zusätzlich ein Handy zugeordnet. Im Vordergrund ist außerdem noch ein überschaubarer Kabelsalat zu sehen, wobei sich das eine Ende eines Notebook-Netzteilkabels direkt zu dem von ‚ihr‘ verwendeten Telefonapparat hinschlängelt; zumindest potenziell wird also auch ‚ihr‘ ein Notebook zugedacht, wodurch die Hierarchie der Arbeitswerkzeuge und Wohn-Dinge andeutungsweise gebrochen wird.
4. Wohnerfahrungen als Beziehungsarbeit: ein künstlerisch fabriziertes Gefüge Je mehr und je länger man die Arbeiten aus Daniela Comanis Serie Eine glückliche Ehe anschaut, desto ähnlicher scheinen sich die beiden Protagonist*innen zu werden.5 Ihr Aufführen von Geschlecht wird nach und nach untergraben und zunehmend unglaubwürdiger, aber zugleich ist dieses Spiel bzw. die von Frank Wagner ausgemachte „Ungleichheit in der Gleichheit der Protagonistin“ auch „subtil und subversiv“ (Wagner 2014, S. 104). Die Alltäglichkeit des Heterosexuellen wird überreizt oder, wie Hanne Loreck es formuliert, „die so genannte Normalität überdeter-
5 Anna Schober analysiert in ihrer Auseinandersetzung mit der Serie vornehmlich Fotografien, auf denen die beiden Protagonist*innen symmetrisch angeordnet sind, und schlussfolgert, dass „new ‚neutral‘ or ‚androgynous‘ bodies“ und „‚unisex‘ persons“ (Schober 2013, S. 66) zu sehen seien. Dieser Aufffassung kann ich nicht wirklich folgen, zumal ich mich hier nicht mit den symmetrisch komponierten Fotografien beschäftige, da in ihnen Wohn-Dingen eine nur untergeordnete oder gar keine Bedeutung zukommt.
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miniert“ (Loreck 2005, S. 6; vgl. auch Loreck 2006, S. 122). Um es weiter zuzuspitzen, ließe sich sagen, dass die vermeintlich heterosexuelle Zweierbeziehung, die auf Arbeit basiert und keine glückliche Ehe zu sein scheint, in den Fotografien von Daniela Comani als ein künstlerisch fabriziertes Gefüge vorgeführt wird. Zu sehen gegeben werden nicht länger für sich genommene Wohnformen, sondern spezifische Wohnerfahrungen von zwei fiktionalisierten Subjekten. Das vermeintlich ‚normale‘ Paar wird derart performt, dass die Frage nach dem Subjekt und seiner Geschlechtsidentität an Bedeutung verliert. Dementsprechend werden auch die dem Paar zugeordneten Wohn-Dinge und -Handlungen im Kleinen verunklärt und konterkariert, wodurch ihr Authentizitätsanspruch ebenfalls peu à peu in Zweifel gezogen wird. Wie schon Foucault festhielt, bedeutet „das Subjekt in Frage zu stellen […], eine Erfahrung zu machen, die zu seiner realen Zerstörung, seiner Auflösung, seinem Zerbersten, seiner Verkehrung in etwas anderes [führt]“ (Foucault 1996, S. 36). Mit ihrem Camouflage-artigen Geschlechterspiel provozieren die Fotografien von Daniela Comani ein Hineingrätschen in die weithin heteronormativ legitimierte Ordnung und bringen in Bezug auf Wohnen und Leben das hegemoniale Archiv – das visuelle wie das Wissensarchiv – ins Wanken. Einzelne Partikel von Wohnwissen und Geschlechterwissen werden in den Fotografien queer-feministisch umgearbeitet, verändert gespeichert und neuerlich distribuiert. Epistemisch lässt sich das Archiv mit Foucault als „das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen“ verstehen, womit „Ereignisse“, „Dinge“, „das System ihrer Aussagbarkeit“ und „ihres Funktionierens“ gemeint sind und somit Konzeptionen des Regulierens, Disziplinierens, Verbreitens und auch Vorenthaltens von Wissen (Foucault 1986, S. 186–188). Demgemäß geht es auch in Kunst und visueller Kultur archivologisch darum, Möglichkeiten und Gesetzmäßigkeiten von visuell formulierten Aussagen und Aussage(neu)formationen genau im Prozess des Aussagens und Funktionierens, sei es in Produktionssituationen, sei es in Rezeptionskontexten, zu kommentieren. Insofern fungiert das Archiv als Instanz und ermöglicht nach Privilegierungen zu fragen sowie Heterogenitäten in den Blick zu nehmen. Besonders interessieren die „Lücken“ im Archiv (Didi-Huberman 2007, S. 22), wodurch Nicht-Wissen, das heißt unterdrücktes, tabuisiertes und verrücktes Wissen in den Fokus gelangt – und das Wort ‚ver-rückt‘ ist hier nicht nur raummetaphorisch gemeint, sondern auch als eine Bedeutung des Begriffs ‚queer‘: ver-rückt, sonderbar, verdächtig.
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6 Daniela Comani, Eine glückliche Ehe: 54/2007
Während in der Fotografieserie Eine glückliche Ehe die Darstellung häuslichen Zusammenlebens gemäß heteronormativen Vorstellungen auf den ersten Blick ‚stimmiger‘ als etwa bei Birgit Jürgenssen erscheint, geht Daniela Comani bei genauerer Betrachtung doch ganz andere, weiterführende Wege. Die von ihr ästhetisch vorgenommenen Ver-rückungen, auch operativen und unkalkulierten Verflechtungen, offerieren im Feld des Wohnens und Lebens ein Nicht-Wissen, das aber als Erfahrung und etwas Selbstfabriziertes zu Wissen werden kann. Fragen wie zum Beispiel, wer eigentlich wo und warum auf dem Sofa sitzt, werden zwar auf diese Weise noch (in den Raum) gestellt, aber zugleich als nicht mehr wirklich relevant deklariert. In der Fotografie 54/2007 beispielsweise (Abb. 6), die keine Paarkonstellation, sondern gleich mehrere Personen zu sehen gibt, findet sich konsequenterweise folgende visuelle Argumentation: Von den sieben Personen sitzen fünf nebeneinander aufgereiht auf einem Sofa, umgeben von einem Parkettboden mit einem vielteiligen, programmatisch Fischgrät genannten Muster. Die Protagonist*innen
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der Fotografieserie werden nicht auf dem im Nexus von Wohnen, Macht und Wissen profilierten Sofa platziert, sondern sitzen stattdessen links und rechts auf eigenständigen kleineren Möbeln, einem Stuhl und einem Couchtisch. Als nicht mehr existentes heterosexuelles Paar sind sie ganz offensichtlich auseinanderdividiert. Auf dem privilegierten, gemeinschaftsbildenden Sitzmöbel Sofa finden sie als subtil widerständige „Experimentator“*innen (Foucault 1996, S. 24) in der von Daniela Comani vorgeschlagenen Wohn-Ding-Formation keinen Platz mehr.
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Wohnerfahrungen als queer-feministische Beziehungsarbeit Literatur Bruns/Richarz 1990 Bruns, Karin; Claudia Richarz: FrauenVideoKatalog. Videofilme von Frauen aus dem deutschsprachigen Raum, Hamburg: Frauen-Anstiftung 1990. Comani 2014 Comani, Daniela: Eine glückliche Ehe/Un matrimonio felice/A Happy Marriage, mit Texten von Frank Wagner, Elena Zanichelli, David Wagner, Zürich: Edition Patrick Frey 2014 (No. 152). Deleuze/Guattari 1992 Deleuze, Gilles; Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II (1980), übers. v. Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve 1992. Didi-Huberman 2007 Didi-Huberman, Georges: Das Archiv brennt, in: Georges Didi-Huberman; Knut Ebeling: Das Archiv brennt, Berlin: Kadmos 2007, S. 7–32. Enzensberger 2004 Enzensberger, Ulrich: Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967–1969, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004. Foucault 1986 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens (1973), übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986. Foucault 1996 Foucault, Michel: Der Mensch ist ein Erfahrungstier – Gespräch mit Ducio Trombadori (geführt 1978, franz. Druckfassung 1994), übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996. Fritz/Bogner 2011 Fritz, Martin; Peter Bogner (Hg.): Beziehungsarbeit/Kunst und Institution, Ausst.-Kat. Künstlerhaus Wien, Wien: Schlebrügge 2011. Hoenes/Paul 2017 Hoenes, Josch; Barbara Paul: Perverse Assemblages. Queering Heteronormativity Inter/Medially, An Introduction, in: Barbara Paul et al. (Hg.): Perverse Assemblages. Queering Heteronormativity Inter/
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Medially, Berlin: Revolver Publishing 2017, S. 6–22. Kraft 2014 Kraft, Sabine: Editorial. Die soziale Wirklichkeit des Wohnens, in: ARCH+. Zeitschrift für Architektur und Städtebau, Heft 218: Wohnerfahrungen, November 2014, S. 14–16. Loreck 2005 Loreck, Hanne: Performing Show and Tell, in: Goldrausch Künstlerinnenprojekt art IT (Hg.): Daniela Comani. Eine glückliche Ehe/Un matrimonio felice/A Happy Marriage, Berlin 2005, S. 5–7. Loreck 2006 Loreck, Hanne: Das Imaginäre und die Sichtbarkeit. Visualität auf dem „achten Feld“, in: Ausst.-Kat. Das achte Feld. Geschlecht, Leben und Begehren in der Kunst seit 1960, hg. von Frank Wagner; Kasper König; Julia Friedrich, Museum Ludwig Köln, Ostfildern: Hatje Cantz 2006, S. 121–129. Nierhaus/Nierhaus 2014 Nierhaus, Irene; Andreas Nierhaus: Wohnen Zeigen. Schau_Plätze des Wohnwissens, in: Irene Nierhaus; Andreas Nierhaus (Hg.), Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bielefeld: transcript 2014, S. 9–35. Paul 2006 Paul, Barbara: Feministische Interventionen in der Kunst und im Kunstbetrieb, in: Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 8: Vom Expressionismus bis heute, hg. von Barbara Lange, München: Prestel 2006, S. 480–497. Rose 2010 Rose, Gillian: Doing Family Photography, Aldershot: Ashgate 2010. Schober 2013 Schober, Anna: Picturing ‚Gender‘: Iconic Figuration, Popularization, and the Contestation of a Key Discourse in the New Europe, in: Dennis Zuev; Regev Nathansohn (Hg.): Sociology of the Visual Sphere, New York/London: Routledge 2013, S. 57–80.
Barbara Paul Schor 2010 Schor, Gabriele: „Sklavin des Herzens“. Von der Liebe im Werk von Birgit Jürgenssen, in: Gabriele Schor; Heike Eipeldauer (Hg.): Birgit Jürgenssen, München: Prestel 2010, S. 11–27. Villemur 2016 Villemur, Frédérique: Queeriosité: le poil a-t-il un genre? Autour de Del LaGrace Volcano, Daniela Comani, Katarzyna Kozyra, Ana Mendieta et Cindy Sherman, in: Miranda, Heft 12, 2016: Mapping Gender. Old images; new figures, http://journals.openedition.org/miranda/8732 (Stand: 12.07.2018). Wagner 2014 Wagner, Frank: Szenen einer Ehe, in: Comani, Daniela: Daniela Comani. Eine glückliche Ehe/Un matrimonio felice/A Happy Marriage, Zürich: Edition Patrick Frey 2014 (No. 152), S. 103–105. Zuromskis 2013 Zuromskis, Catherine: Snapshot Photography, Cambridge (MA): MIT Press 2013.
Abbildungsnachweise Abb. 1: ARCH+. Zeitschrift für Architektur und Städtebau, Heft 218, November 2014. Für die Abb. 2–6: VG Bild-Kunst, Bonn 2020.
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Elena Zanichelli Film- als Lebensraum: Carolee Schneemanns Fuses (1964–67) oder die Lust am Drehen1
„Ich wollte, dass der Film mir das Gefühl vermittelt, dass ich mich der Taktilität annähere, den Empfindungen im Körper, die strömen und die unbewusst und fließend sind“ (Schneemann zit. n. Nixon 2015, S. 46). Erste Vorstellung, 1967: Im üppigen Grün gesättigte Bilder, kontrastreiche Laufspuren, senkrechte Kratzer, die wie monochrome Variationen den Titel begleiten. Es folgt eine Reihe von Kurzsequenzen. Zunächst kann das Auge nicht ganz mithalten, schielt zwischen Innen- und Außenraum: ein Close-up zärtlicher Gesichtsberührungen. Ein sich hinabbeugender Männerkörper auf dem Bett; schwarze Balken. Zwei Körperschatten im Innenraum, bisweilen stark ausgeblendet von Bearbeitungsspuren und Lochungen des Filmmaterials. Sprunghafte Blicke aus einem rahmenden Fenster, windflitternde Bäume. Ein Paar? Ein kopulierendes Paar. Eine in die Kamera blickende graue Katze. Eine am Strand schnell laufende Frauensilhouette. Ein Blowjob. Das „andere Kino“2, das andere Filmemachen im Kontext der US-amerikanischen Neo-Avantgarde am Anfang der 1960er Jahre, war mindestens genauso vielfältig wie die oft kinosaalfernen Räume, in denen es vorgeführt wurde. Mit Blick auf diese Zeit betont der Filmtheoretiker Bruce Jenkins die Wiederkehr des Zelluloids als Medium künstlerischer Arbeit. Noch
1 Dieser Text ist eine in Teilen veränderte Fassung eines Aufsatzes von 2016 (Zanichelli 2016). 2 Hier beziehe ich mich auf den Titel von Bruce Jenkins’ grundlegendem Aufsatz „The ‚Other‘ Cinema“, an dessen historischem Überblick ich mich orientiere (Jenkins 1996).
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Ende der 1950er Jahre (vgl. Jenkins 1996, S. 192) charakterisiert André Bazin den (europäischen) Filmemacher – am Beispiel von Michelangelo Antonioni oder Jean-Luc Godard – als „dem Romanschriftsteller ebenbürtig“ (Bazin 2001, S. 274): In all seiner sprachlichen Vielfalt einer „realistischen Wiedergeburt der Erzählung“ (ebd.) habe der ‚europäische‘ Filmemacher den Strang des Narrativen nicht aufgeben wollen. Wie entfalteten sich aber die damaligen künstlerischen Praktiken, wenn sie nicht darauf abzielten, die ZuschauerInnen an den (Kino‑)Stuhl zu heften, sondern, im anti-illusionistischen Impetus, neue Räume für neue Subjektartikulationen zu finden? Diese Fragen verknüpfte die US-amerikanische Avantgarde allgemein mit einem tendenziellen Verlassen sowohl des Kinoraums als Vorführungsraum als auch der Konventionen eines fixierten, zentrierten BetrachterInnenstandpunktes. Dass dieses Prozedere, bei allen Unterschieden, Konsequenzen hatte für eine neue bildliche als körperliche Erfahrung sowohl im Film als auch auf dem Filmstreifen, steht im Zentrum der folgenden Überlegungen zum Entstehungskontext von Carolee Schneemanns Fuses (1964–67). Für diese Filmproduktion installierte Schneemann entgegen gängigen Filmkonventionen ihre Kurbelkamera im eigenen Lebensraum und wendet diese in unterschiedlichen Positionen an, mit oder ohne Stativ, beim Aufzeichnen sexueller Interaktionen mit ihrem Lebenspartner. Dass sich hierbei die Lust am Drehen im eigenen häuslichen Umfeld, fern von herkömmlichen filmischen Konventionen, mit der Lust am Variieren der Produktions-, Überarbeitungs‑ und Montagebedingungen im Kontext neo-avantgardistisch orientierter Produktionsmodi überschneidet, bildet die Kernthese der folgenden Überlegungen.
„Migranten“ zwischen Film und Kunst Die in den 1960er Jahren bewusst gesuchten Verbindungen zwischen Film und Kunst – jene vom Autor und Filmemacher Sheldon Renan als „vierte“ Avantgarde des Films und als filmische Kunst („filmlike art“)3 bezeichnete 3 So reichen nach Renan die künstlerischen Film-Experimente zurück in die 1920er Jahre mit ihren avantgardistischen Bewegungen wie Dada und Surrealismus; die Wiederentdeckung neuer Formensprachen, etwa durch Maya Deren, kam erst in den 1940er Jahren zur Geltung (vgl. Renan 1967, S. 21–24). „The third avant-garde continues, but a fourth has begun. It is not certain what its ultimate characteristics will be. Currently it takes the form of film as en-
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Tendenz des expanded cinema – fand einen ihrer Hauptschauplätze in New York. In der schier unerschöpflichen Bandbreite der filmischen Versuche dieser „vierten“ filmischen Avantgarde stellt Jenkins, auch in Anlehnung an die Analyse des Filmtheoretikers David E. James, zwei Tendenzen fest: auf der einen Seite den independent film der ersten und zweiten Nachkriegsgeneration mit neuen visuellen Herangehensweisen an den – nicht zuletzt an die Filmgeschichte angelehnten – Hang zur Autobiografie, etwa bei Stan Brakhage; auf der anderen Seite die Suche von KünstlerInnen, MusikerInnen und ChoreografInnen nach geeigneten Medien und neuen Vermittlungsräumen im Zuge eines Kontextwechsels Mitte der 1960er Jahre (vgl. Jenkins 1996, S. 192). Dass diese Richtungen zur selben Zeit auftraten und sich auch ihre künstlerischen Sprachen teilweise gegenseitig beeinflussten, zeigen weitere Gegenüberstellungen, die explizit primär auf das Filmische abzielen. So unterschied die Film- und Kunsthistorikerin Annette Michelson 1965 in einem Vortrag beim New York Film Festival zwischen zwei jeweils radikalen Ansprüchen im neuen Underground-Kino: einem politischen Bestreben auf der einen Seite und einem formalen Bestreben auf der andern Seite (vgl. Michelson zit. n. Jenkins 1993). Besonders Renan steckte hier die neue Bewegung des Alternativen als underground cinema mithilfe einer explodierenden Reihe kontrastierender Formen ab: „There are underground films in which there is no movement, and films in which there is nothing but movement. There are films about people and films about light. […] There are some that have been banned, and there is one that was nominated for an Academy Award. There are sexy films and sexless films, political films and poetical films […]. […] underground film is nothing less than an explosion of cinematic styles, forms and directions.“ (Renan 1967, S. 17) ‚Movement‘, Bewegung spielte auch für Jonas Mekas, Mitbegründer der Filmmakers Cooperative und – nicht zuletzt wegen der mit George Maciunas gemeinsamen litauischen Herkunft – dem Fluxus nahestehend, eine wesentliche Rolle, als er 1964 die simple Unterscheidung zwischen zwei Extremen vorschlug: dem Langsamen und dem Schnellen.4
vironment, film as part of inter-media, film examined as a phenomenon of time and of light. It is sometimes called ‚expanded cinema‘.“ (Ebd., S. 104) Vgl. dazu die klassischen Studien: Youngblood 1970; James 1989. 4 „[…] the slow and the quick, as exemplified on the one hand by the long-take features of Andy Warhol and on the other by the kinetic, highly edited work of Stan Brakhage“ (Mekas zit. n. Jenkins 1993, S. 60f.). Darauf bezog sich bereits James 1989; vgl. auch Jenkins 1996, S. 192.
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David E. James hat in seinem grundlegenden Buch Allegories of Cinema (1989) im Hinblick auf die 1960er Jahre die anhaltende Präsenz einer Figur mit auktorialer Funktion konstatiert; diese bewege sich zwischen den zwei Extremen eines expressiven Individualismus auf der einen und der Konfrontation mit den dem Film als Medium spezifischen Möglichkeiten und seiner gesellschaftlichen Bedeutung auf der anderen, nämlich sozial-materialistischen Seite. Beides zeugt von einem starken Bedürfnis nach Erneuerung der Filmsprache, von einer obsessiven Beschäftigung mit einer persönlich geprägten, den standardisierten Produktionsmodi antithetisch gegenüberstehenden Vision – und zugleich von dem Versuch, filmisches Handwerk in industrielle Praxis zurückzuführen.5 Besonders stellt James bei experimentellen, mitunter strukturellen Filmpraktiken eine Präferenz für das Verlassen von Kinoräumen fest: „Here the assumption by film of the formal preoccupations of paintings and sculpture appears as a migration between mediums and their different constitutions as social practices; film ceased to be movies in order to become art – in both senses.“ (James 1989, S. 237ff., Hervorh. EZ; vgl. auch S. 317–320 sowie S. 268) Bei dem eingangs erwähnten Film von Carolee Schneemann, Fuses, handelt es sich um die Arbeit einer sich eigentlich (zumeist) in künstlerischen Kreisen bewegenden Autorin. James erwähnt sie in dem Kapitel „Cinema and Sexual Difference“. Wie kann ein Blick auf diesen Film aussehen, der sich auf (lebens‑)räumliche als gattungssprengende Anordnungen richtet?
Von Zeit-Künsten zu Raum-Künsten: Fluxus und die intermedialen Aktivitäten in der Judson Memorial Church Anfang der 1960er Jahre stand die US-amerikanische Aktionskunst zunächst in enger Verbindung mit der Experimentalmusik6 um den von Schü5 Für James markieren Stan Brakhage auf der einen und Andy Warhol auf der anderen Seite die beiden Pole; beide nennt er als paradigmatisch für alternative Möglichkeiten einer Reintegration des unabhängigen Autorenkinos in die industrielle Ökonomie des Spektakels (vgl. James 1989, S. 28). 6 Vgl. die Betitelung des ab Ende der 1950er von George Maciunas in Zusammenarbeit mit den John-Cage-Anhängern Jackson Mac Low und La Monte Young gestalteten Buchprojekts An anthology of chance operations concept art anti art indeterminacy improvisation meaningless work natural disasters plans of actions stories diagram music poetry essay dance construction mathematic compositions“, New York 1963. Zum erweiterten Partiturbegriff vgl. Appelt et al. 2008.
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lern von John Cage ausprobierten erweiterten Partiturbegriff, etwa im Rahmen der zunächst als Neo-Dada charakterisierten Fluxus-Veranstaltungen. Diese stießen, mitunter in ephemeren Aktionen, Objekten, Konzerten und Events, das Gebot von „Kunst und Leben“ bis hin zu dessen Implosion an. In seinem Text „Neo-Dada in Musik, Theater, Dichtung und Kunst“ stellte der Fluxus-Impresario Maciunas 1962 diese neo-avantgardistischen Tendenzen „in sehr ausgedehnten Gebieten der Kreativität“ dar. Diese kreativen Gebiete würden von „Zeit“-Künsten zu „Raum“-Künsten reichen: „Die neuen Aktivitäten der Künstler lassen sich also in ihrem Verhältnis zu zwei Koordinaten diagrammatisch verorten: Die horizontale Koordinate definiert den Übergang von ‚Zeit‘-Künsten zu ‚Raum‘-Künsten und wieder zurück zu ‚Zeit‘ und ‚Raum‘ usf., und die vertikale Koordinate definiert den Übergang von extrem artifizieller Kunst zu illusionistischer Kunst, zu abstrakter Kunst […] [und] zum milden Konkretismus, der immer konkreter oder vielmehr nichtartifizieller wird, bis er schließlich Nichtkunst, Antikunst, Natur, Realität ist.“ (Maciunas 2003, S. 894f.) Die Bandbreite der neuartigen Bereiche der Kreativität brachte der damals von dem Cage-Schüler, Komponisten und Verleger Dick Higgings geprägte Begriff intermedia zum Ausdruck. Er zeigte damit auf, wie sich infolge der Auflösung der klassischen Gattungsgrenzen auch die KünstlerInnen an keinem Medium mehr festhielten.7� Die jeweils berührten künstlerischen Felder wiesen durchaus eine Schwerpunktsetzung auf den Aspekt einer sich bisweilen phänomenologisch und dann ortsspezifisch im Raum ausdehnenden Bewegung auf, was dazu führte, dass die entstehenden Kunstpraktiken im Zuge der Auflösung der Gattungsgrenzen als Mischformen (re‑)konzeptualisiert wurden. Dies geschah sowohl ex negativo als auch einfach additiv – man denke etwa an die von Rosalind Krauss diagnostizierte Erweiterung des Skulpturbegriffs im Sinne einer Verzeitlichung (vgl. Krauss 1977, S. 276– 287), an Allan Kaprows spätestens 1966 kodifizierten Begriff vom environment (in dem sich BetrachterInnen bezeichnenderweise frei hin und her bewegten)8 als einem Mittelweg zwischen Assemblage und Happening,
7 Der Begriff intermedia wurde von Higgins im Kontext der Fluxus-Festivals und des damit einhergehenden Umgangs mit zum Teil herkömmlicherweise kunstfernem Material in Live-Aktionen geprägt (vgl. Higgins 1984). 8 „Environments are generally quiet situations, existing for one or for several persons to walk or to crawl into, lie down, or sit in. One looks, sometimes listens, eats, drinks, or rearranges the elements as though moving household objects around.“ (Kaprow 1966, S. 183)
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an Higgins’ Bezeichnung von Emmett Willliams’ und Robert Fillious „constructed poems“ als „intermedium between poetry and sculpture“ (Higgings 1984, S. 23) sowie an Benjamin Buchlohs 1978 anhand von Serras Filmarbeiten der späten 1960er Jahre geprobte prozessorientierte Betrachtung von „Film als Skulptur“.9 Wo und wie lässt sich also die Arbeit mit Bewegtbildern innerhalb dieses sich zwischen phänomenologischen und ortsspezifischen Ansätzen bewegenden Bestrebens nach einem sich erweiternden Kunstbegriff ansiedeln? Mit James lässt sich zunächst einmal feststellen, dass die Präsentations- oder eher Aufführungsorte solcher Mischformen mit räumlicher und zeitlicher Expansion sowohl dies- als auch jenseits herkömmlicher Ausstellungsräume, in jedem Fall aber außerhalb der Kinoräume lagen. So gastierte etwa Fluxus als polymorphe Aggregation experimenteller KünstlerInnen und MusikerInnen, aber auch TheoretikerInnen und KomponistInnen in Konzertsälen sowie auf Straßen, und dort ganz besonders im Austausch mit dem (zufälligen) Publikum. Und die New Yorker Judson Memorial Church wurde von Choreographien der aus ihrer Dancer’s Workshop Company in San Francisco kommenden Ann Halprin bespielt, also mit einer (neo-)avantgardistisch inspirierten, postmodernen Tanzpraxis. Hier wurden Aktivitäten des Alltags aufgeführt, die im starken Gegensatz zum herkömmlichen Bravour des traditionellen Tanztheaters standen, etwa in Yvonne Rainers Performance We Shall Run (1963), aber auch Experimente mit konträrer Ausrichtung, wie Thomas Crow konstatiert: Carolee Schneemanns Performance Meat Joy arbeitete beispielsweise „zu skandalöser Nacktheit und gewöhnlich tabuisiertem Körperkontakt mit rohem Fisch und geschlachteten Hühnern“ (Crow 1997, S. 127). Crow betont in Bezug auf diese Performance sowohl deren Improvisationscharakter als auch das Moment des Tabubruchs: „Einzelne Handlungen gingen in dem turbulenten Ereignis unter, männliche und weibliche Körper wurden mit Blut und Farbe beschmiert, die Anzahl der Mitwirkenden variierte ständig, da auch die Zuschauer aufgefordert waren, sich an der Schlacht zu beteiligen.“ (Ebd.) Auch in ihrer Struktur zielten die anti-hierarchischen, gemeinschaftlichen Projekte und Workshops in den Jahren unmittelbar nach der Kuba-Krise und der allmählich in einen Krieg übergehenden US-Intervention in Vietnam auf diese politischen Er-
9 Buchloh spricht über eine Eröffnung von „Wahrnehmungsformen physiologischer und psychologischer Identität“ für die BetrachterInnen (Buchloh 1978, S. 182, hier mit Bezug auf Serras Arbeiten von 1968).
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eignisse ab. So gestalteten sich die Arbeiten pazifistisch, aktivistisch und protofeministisch. 1967 organisierte etwa die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Kate Millett, die zwei Jahre später das programmatische Sexual Politics veröffentlichen sollte und sich auch als Bildhauerin betätigte, in den Räumen der Judson Gallery das Happening No, welches explizit auf die Antikriegsbewegung Bezug nahm.10� Die Kunsthistorikerin Liz Kotz hat vor allem die Spannung an der Schnittstelle zwischen experimentellem Tanz und medienbezogenen und multimedialen Projekten betont, die im Judson Dance Theater vorgeführt wurden. Gerade diese Spannung habe zu einer neuen Zusammensetzung geführt, die eine Öffnung des „geschlossenen und kodifizierten Mediums [des Filmes, EZ] für die Unvorhersehbarkeit und Unbestimmtheit der Live-Performance“ ermöglicht habe (Kotz 2012, S. 364). Dem experimentellen, offenen Charakter der sich zwischen Performance, Happening und Projektion bewegenden künstlerischen Aktivitäten entsprach eine bewusst multimediale Agenda: „Die Werte, die einem großen Teil der Kunst der 60er Jahre ihren eindeutigen Charakter verleihen sollten – serielle Wiederholung anstelle von Hierarchie, Gleichheit der einzelnen Teile, unbehandelte Oberflächen, die Ablehnung jeder Art von verklärender Selbstinszenierung – wurden im Judson-Kreis erstmals als moralische Imperative begriffen.“ (Crow 1997, S. 128) So überschnitten sich in den Aufführungen Tanz und Happening mit neuen Formen der – auch begrifflich erweiterten – Projektion in einem alternativen Projektionsexperiment außerhalb herkömmlicher Vorführräume.11 10 Deren Dokumentation wurde in einem von Jon Hendricks in der Manier der Fluxus-Box unter dem Titel Manipulations veröffentlicht, vgl. meinen Aufsatz „Corpi nel testo“ (Zanichelli 2012). Millett kommentiert dazu: „In October 1967 I was part of a group show called Manipulations. […] I called my piece ‚No‘. The performance happened to fall on the day of a demonstration against the Pentagon. The event consisted of ushering the audience down the stairs of the gallery in the dark and closing them into a big cage. When the lights went on, the people in the cage at first were amused but then became restive. They finally realized that they would have to find their own way out.“ (Millett 2000, S. 320) 11 Weitere Beispiele in diesem Kontext wären etwa die Aufführungen von VanDerBeek. Zur Bedeutung von Whitmans Projektionen im installativen Sinne vgl. Kotz 2012; auch Lilian Haberer äußerte sich zu diesem Thema in ihrem Vortrag „Installation Cinema Expanded: Bewegtbild und installative Architektur in zeitgenössischen Rauminstallationen“, ETH Zürich, 12.5.2011 (http:// schett.arch.ethz.ch/film_raum_architektur_vortragHaberer_Manuskript.html, Stand: 9.10.2019). Hier gibt Haberer auch einen genealogischen Überblick über die Relationen zwischen Rauminstallationen in der zeitgenössischen Kunst und Cinema Expanded.
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1 Trisha Brown mit auf den Rücken geschnalltem Filmprojektor in ihrer Performance Homemade, 1966
Eine Reihe sogenannter mixed-media evenings, die von unterschiedlichen FilmemacherInnen, von Elaine Summers bis Stan VanDerBeek, dem Erfinder des Begriffes des expanded cinema, gestaltet wurde, fand bezeichnenderweise im Judson statt. So wurde hier im Rahmen seiner Cinema Pieces 1964 Robert Whitmans Shower als Skulptur uraufgeführt: Eine duschende Frau, projiziert auf einen bildhauerisch aufgefassten Duschvorhang. Trisha Brown hingegen ging 1966 selbst auf die Bühne, mit einem auf den Rücken geschnallten Projektor, der einen Film von Robert Whitman wiedergab. Ihre Performance Homemade verstand sie seinerzeit freilich als individuelles Erinnerungswerk (vgl. Kotz 2012, S. 50f.). Besonders begeistert zeigte sich aber Mekas 1964 in seiner Rezension in der Village Voice von Elaine Summers’ in dieser Reihe präsentierten Fantastic Gardens. Er betonte den vielförmigen Charakter ihrer Aufführung, die mit der technischen Aufstellung von Multi-Projektionen verbunden war, und dazwischen
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immer wieder Performende und Publikum: „Fantastic effects were produced by using a split screen, a screen made of several dangling strips of white material which moved and separated, and there were human figures appearing through the partings, moving into and out of the screen, submerging, disappearing into it, participating in it, so that at times one didn’t know or knew only vaguely what was the photograph and what was the real live presence.“ (Mekas zit. n. Banes 1993, S. 190) Solche auch partizipativ ausgerichteten Mischformen – Summers war Choreografin und experimentelle Filmemacherin zugleich – zeugen von einem interaktiven Umgang mit dem Film als einem nicht-linearen Medium, das räumlich eingesetzt und dessen Projektionsstrahl als solcher sichtbar gemacht wurde (Abb. 1).
Das häusliche Umfeld einbeziehen: Fuses als „Heimfilm“ 1964 startete Carolee Schneemann die Produktion des eingangs genannten Films. Sie arbeitete bereits im Rahmen der Abkehr vom Tafelbild und vom vorherrschenden abstract expressionism multi‑ oder intermedial und hatte bis dahin eigentlich nichts mit Film zu tun gehabt. Interessant wird diese Arbeit hinsichtlich der geschilderten anti-illusionistisch gehaltenen Präsentationsformen, welche selbst bei Einkanal-Projektionen die Grenzen des Films als die Grenzen seiner Aufführungspraxis abstecken. Momente aus Carolee Schneemanns Fuses: Eine weibliche Silhouette am Strand, wie vorm Meerschaum schwebend. Glühende Augen einer in sich ruhenden Katze. Ein Koitus am Türrahmen, die Einstellung auf den Kopf gestellt. Ein Baum. Bis 1964 hatte Schneemann zeitgemäß an Assemblagen, malerischen Konstruktionen heterogener Materialien (painting construction) sowie Environments gearbeitet12 und dafür den Begriff „kinetische Malerei“ gewählt. Als am Happening angelehntes „kinetisches Theater“ wurde die beschriebene Performance Meat Joy erstmals und ohne großen Aufruhr am 29. Mai 196413 anlässlich des von Jean-Jacques Lebel organisierten „Fes-
12 Im selben Jahr erhielt Robert Rauschenberg für seine combine paintings den internationalen Preis für Malerei bei der Venedig-Biennale. 13 Dann nochmals am 16. sowie 18. November 1964 am Judson Dance Theater in New York. Die Aufnahmen wurden von Pierre Dominick Gaisseau und von Bob Giorgio ediert und mit Tonspuren unterschiedlicher Art versehen.
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tival de la libre expression“ in Paris uraufgeführt. Inspiriert von Wilhelm Reichs psychoanalytischer Theorie sexueller Befreiung als Befriedigung, die herkömmliche Moralbegriffe angriff, wurde hier fleischliche Sinnlichkeit in einem Gemenge aus Farbe, bisweilen bluttropfenden Fischen und Hühnern sowie tanzenden Körpern visuell umgesetzt und akustisch erlebbar, riechbar, fühlbar gemacht. Retrospektiv betont die Künstlerin die eigene Amateurhaftigkeit, mit der sie sich zunächst konfrontiert sah, als sie im selben Jahr erwog, einen Film zu drehen: „Ich zögerte, mir selbst plötzlich ein komplexes und anspruchsvolles Medium beizubringen, ganz ähnlich, wie ich mich als Malerin gezwungen sah, zunehmend (mehr‑)dimensionale Materialien und Dias zu strukturieren, Töne zu komponieren, elektronische Systeme zu entwerfen und Darstellerinnen und Darsteller für meine Theater- und das Umfeld einbeziehenden Stücke anzulernen.“ (Schneemann 2015c, S. 152)14 Hatte Schneemann in den von ihr als „kinetisch“ bezeichneten Stücken eigenwillig versucht, die Kombination von Zeit und Raum im Material auszudehnen, so übertrug sie diese vom avantgardistischen Prinzip der Collage beeinflusste Arbeitsweise nun auf die Bearbeitung von Film-„Streifen“ als Material: „Und als Malerin stand es mir frei, das Zelluloid selbst zu untersuchen: es anzubrennen, zu rösten, zu zerschneiden und zu bemalen, mein Filmmaterial in Säure zu tauchen und dichte Collageschichten und -komplexe, mit Büroklammern zusammengehaltene A- und B-Rollen aufzubauen.“ (Schneemann 2015c, S. 152) (Abb. 2 und 3). Fuses (1964–1967) ist der erste Teil einer Filmtrilogie, die Schneemann 1978 abschloss.15 Die hier von ihr gewählte Handlung ist die Sexualität als „spontane“ Begegnung,16 am eigenen Leib erfahren während ihrer langjähri14 Eckdaten nach Kubitza 2002, S. 99–107; dort auch Ausführungen zur Bedeutung von Reichs im Rahmen der Studierendenbewegungen wiederentdeckten bzw. -aufgelegten Schriften, etwa Die Sexualität im Kulturkampf (1936). 15 Die beiden weiteren Teile dieser Trilogie sind Plumb Line (Lot) (1968–1971), 8-mm-Film, übertragen auf 16-mm-Film, über eine vorübergehende, schmerzhafte Beziehung sowie Kitch’s Last Meal (1973–78), gedreht auf Super-8-Film, in dem ihre Beziehung zum Künstler Anthony McCall sowie die zu ihrer inzwischen verstorbenen Katze Kitch thematisiert werden, vgl. Kubitza 2002, S. 123ff. 16 In ihrer autobiografischen Schrift Cézanne, She was a Great Painter (1975) erklärt sie, dass sie mit den Dreharbeiten zu Fuses begonnen habe, weil niemand anderes das Bild des Liebemachens als Kern spontaner Gestik und Bewegung behandelt hatte: „[R]eally because no one else has dealt with the image of love-making as a core of spontaneous gesture and movement.“ (Zit. n. Schneemann 1997, S. 32)
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2 Carolee Schneemann, Fuses, 16mm-Film, 1964–67
3 Carolee Schneemann, Fuses, 16mm-Film, 1964–67
gen Beziehung mit dem Komponisten und Musiktheoretiker James Tenney, einem Pionier auf dem Gebiet elektronischer Musik. Tenney war Schüler von Edgar Varèse und John Cage sowie ein Schulfreund von Stan Brakhage. Schneemann drehte in dem kleinen Ort New Paltz im Staat New York, wo sich das Paar damals in einem Landhaus wohnte. Im Film steht das häusliche Umfeld in Mittelpunkt: das Schlafzimmer, die Katze Kitch, die Gartenbäume, der Weihnachtsbaum, die Winterlandschaft vorm Fenster, die Kühe auf der Weide. Nicht zuletzt wegen der autobiografischen Prägung ist es die Manier von Stan Brakhages „Heim-“17 als Kunstfilm, wie er sie in Anticipation of the Night 1958 ausprobierte (und in dem auch das mit Brakhage befreundete Paar Schneemann/Tenney vorkam), die sie für ihre eigene Praxis erprobte. Charakteristisch für Brakhages Heimfilm war die Kombination der Kamera-
17 Vgl. zur Charakterisierung des Heimfilms Pantenburg 2010, S. 14–16; Bellenbaum 2013, S. 95.
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4 Stan Brakhage, Window Water Baby Moving, 1959
bewegung mit der nachträglichen Bearbeitung des Materials, „so als handele es sich um die editorische Variation der Schritt für Schritt erarbeiteten Zwischenergebnisse, diese auslotend und nachhaltig transformierend“.18 Schneemann, die mit Brakhage befreundet war, kannte seine experimentellen Heimfilme und nahm sie als Inspiration für ihr Formenvokabular und ihre Praxis auf: So folgen in Fuses die Sequenzen, ähnlich wie in Brakhages Filmen, ohne kausalen Zusammenhang aufeinander. Ebenso weichen die unmittelbare Abfolge und die Auswahl der Drehorte (Wohnzimmer/Schlafzimmer/Fenster/Landschaft/Strand) nebst der Entscheidung für das kostengünstige 16-mm-Filmmaterial von den damaligen Produktionsstandards ab. Dass die abrupte, disjunktive Montage die ZuschauerInnen dazu verführt, automatisch aus dem ‚Hors-champ‘ die Handlungen und ihre Fortsetzungen zu ergänzen, verstärkt den bereits durch die thematische Auswahl angelegten affektiv-antiillusionistischen Grundton in Fuses. Diesem Grundton entspre-
18 Bellenbaum 2013, S. 95, hier exemplarisch über Brakhages Anticipation of the Night (1958). Vgl. dazu auch Kubitza 2002, S. 138, sowie zur folgenden Charakterisierung des Heimfilms: Pantenburg 2010, S. 14–16.
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5 Stan Brakhage, Window Water Baby Moving, 1959
chend wird der Zufall – im Sinne von Spontaneität – von der Künstlerin selbst als konzeptuelles Mittel eingesetzt, um der im 30-Sekunden-Takt aufnehmenden Kurbelkamera die Kontrolle zu überlassen: „Oft bekam ich nicht die Filmabzüge zurück, die ich erwartet hatte. Wenn die Kamera auf einem Stuhl platziert wurde oder von einer Lampe hing, konnte es passieren, dass die sich vereinigenden Körper aus dem Blickfeld gerieten und die Bolex-Kurbelkamera, die man für 30 Sekunden aufziehen konnte, nur meinen Hintern oder eine grüne Fläche einfing … Ich akzeptierte das als den Film, der mir den Verkehr zwischen der Kamera und meinem häuslichen Umfeld bot … Ich wollte, dass der Film mir das Gefühl vermittelt, dass ich mich der Taktilität annähere, den Empfindungen im Körper, die strömen und die unbewusst und fließend sind – die ungesehene, orgiastische Auflösung, lebendig doch unsichtbar.“ (Schneemann zit. n. Nixon 2015, S. 46) Über die technisch-bildlichen und formal-disjunktiven Lösungen hinaus war es im Hinblick auf das Thema besonders Brakhages Film Window Water Baby Moving (1959), der Schneemann dazu anregte, in Fuses eine Alternative im Sinne einer nicht männlich bestimmten Sexualität zu visualisieren (Abb. 4 und 5). Insofern es dem Experimentalfilmemacher
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um das Aufnehmen der Geburt des eigenen Kindes (eine Premiere im Bereich des Films) ging, reproduzierte er vor allem die für Frauen geltende soziale Bestimmung des Sexuellen als reproduktive Arbeit – ganz im Sinne patriarchaler und kapitalistisch geprägter geschlechtlicher Differenzstrukturen mit Blick auf Lust und Begehren, wie diese kurz darauf von Kate Millett und Laura Mulvey analysiert und zum Teil entkräftet wurden.19 Im Gegensatz dazu konzentrierte sich Schneemann auf ihre eigene, emotional wie sexuell erfüllte Beziehung mit Tenney. Auch in den positiven Rezeptionen von Fuses – zuletzt etwa in der ersten umfassenden europäischen Retrospektive in Salzburg 2015 – wurde und wird üblicherweise die sexuelle Befreiung als thematischer Schwerpunkt des Films hervorgehoben. So unterstreicht Mignon Nixon (2015) noch einmal Schneemanns Vergnügen an der sexuellen Befreiung, nebst dem Vergnügen am eigenen Bild,20 und schließt somit an eine Reihe von Arbeiten vom Anfang der 1960er Jahre an, die gewissermaßen die Revolution der 1968er Jahre vorwegnahmen. Anette Kubitza hebt in Anlehnung an James’ Analyse entschieden das „von einem feministischen Standpunkt aus Innovative“ hervor, das sie allerdings weniger in der Motivik verortet, sondern vielmehr „in Schneemanns Vermögen, mit der nachträglichen Behandlung und Organisation der Bilder die Konventionen des männlich bestimmten Kinos zu durchbrechen“ (Kubitza 2002, S. 144). Auch Amelia Jones macht auf die innovative Bedeutung von Fuses aufmerksam hinsichtlich der visuellen Transformation und Produktion einer mit herrschenden binären Konventionen kontrastierenden Sexualität auf der Leinwand (vgl. Jones 2011). Diese Bedeutung ist von der Künstlerin stets bekräftigt worden und bestimmt ihren filmischen Blick, der durch den amateurhaften Technikeinsatz geprägt ist: „Die Kamera ist durch eine Fetisch-Komplikation gegangen, die Frauen sonst in ausbeuterischen [Sex-]Filmen demonstrieren: sie wurde mit Gürteln von der Decke gehängt, an Stühle gefesselt, mit Klebeband auf 19 Vgl. Schneemann 1971 sowie sämtliche Filmanalysen, exemplarisch: James 1989; Kubitza 2002, S. 142–151; Bellenbaum 2013, vgl. Anm. 33, S. 96f. Vgl. auch Milletts zitiertes Buch Sexual Politics sowie Mulveys grundlegenden, sich auf das Hollywood-Kino beziehenden Aufsatz (Mulvey 1994). 20 Mit der von ihr organisierten Retrospektive unterstreicht Sabine Breitwieser auch den Anspruch, Schneemanns Werk einer Neubewertung zu unterziehen: „Im Zentrum steht dabei Carolee Schneemanns Verständnis von kinetischer Malerei, ein Begriff, der von der ausgebildeten Landschaftsmalerin im Zuge der von ihr ausformulierten Praxis einer körper- und zeitbezogenen, generell einer intermedialen Kunst entwickelt wurde.“ (Breitwieser 2015b, S. 7)
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Bücherstapeln festgebunden, unsicher auf einem Knie, einem Tisch balanciert (und vorsichtig mit der Hand im Bett gehalten!).“ (Schneemann zit. n. Kubitza 2002, S. 147; vgl. dazu auch James 1989, S. 317–320). Der Kunsthistoriker Branden W. Joseph hebt an der zeitgenössischen kritischen Rezeption hervor, dass sie immer wieder auf Schneemanns „malerisches Chaos“ hinweist – ein Rezeptionsstrang, den Schneemann selbst textuell und nicht ohne Ironie in ihrem Film Kitch’s Last Meal (1973–1978) und dann wieder anlässlich der Performance in Interior Scroll (1975) übernimmt, wenn sie von ihrer erwähnten Begegnung mit einem strukturell arbeitenden Filmemacher berichtet: Dieser habe unter anderem „das persönliche Durcheinander / die Hartnäckigkeit der Gefühle / die Hand-Auflege-Sensibilität / die Nachsichtigkeit der Tagebuchschreiberin“ bei der Künstlerin abgelehnt.21 Zunächst wurde dieser „strukturelle Filmemacher“ als der im Kontext des expanded cinema arbeitende Anthony McCall identifiziert. Über diesen schrieb Schneemann, die Anfang der 1970er Jahre mit ihm liiert war, einen kritischen Kommentar in Form eines anonymen Briefes an die Kunstkritikerin Annette Michelson, bei der McCall studiert hatte und die sie als Filmemacherin ebenfalls ablehnte.22 Interessanter als diese Anekdote ist hier jedoch die Vorgeschichte: Schneemann bewegte sich in der New Yorker und internationalen Avantgardeszene wohl schon seit Mitte der 1960er Jahre, wurde zunächst gewürdigt („Sie sind reizend“, sagt ihr zunächst der „Filmemacher“), später wiederum abgewiesen. Dabei wird deutlich, dass das ihr zugeschriebene „malerische Chaos“ Hand in Hand mit der Konnotation dieses ‚Chaos‘ als ‚weibliches‘ Wirrwarr der Gefühle geht. Die malerische Vorgehensweise geht allerdings auch Hand in Hand mit gegenwärtigen Strategien des Ausstiegs aus dem Bild. Schneemann arbeitete bereits Anfang der 1960 Jahre an kinetischer Malerei, im Raum freistehenden Assemblagen, mit combine paintings vergleichbar, jedoch waren auch bewegliche Elemente und Motoren eingefügt, was die Rezeption zunächst weniger zu interessieren schien. Dass die Künstlerin selbst also Rezeptionsstränge hinsichtlich eines (weiblich) emotional konnotierten Beharrens auf Gefühlen vorwegnimmt bzw. diese widerspiegelt in ihrem fiktiven, dennoch auf biografischen Fakten basierenden oben genannten Dialog mit dem strukturellen Filmemacher in ihrer Arbeit Interior Scroll, machte die Ange-
21 Text aus der Papierrolle in der Performance Interior Scroll (Schneemann 2015d, S. 252; vgl. auch Joseph 2015, S. 27f.). 22 Vgl. Schneemann 2015d, S. 250, sowie Schneemann 2002, S. 319.
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legenheit noch brisanter. Und wenn nach ihren frühen Arbeiten der 1960er Jahre (etwa Fuses, Meat Joy, ab 1964; Eye Body: 36 Transformative Actions for Camera, ab 1963 u. a.) die späteren Arbeiten in der Suche des Propriums weiblicher Körperbilder eine gewisse Redundanz versprechen, so war diese Redundanz m. E. gewissermaßen notwendig, auch im Sinne einer „Dialektik von Reflexion und Revolte im Bildstatus der Frau“ (Eiblmayr 1993, S. 136).23 Besonders plausibel ist vor diesem Hintergrund die von Christine Stiles 1996 vorgeschagene Interpretation, Schneemann habe grundlegend mit Anstandsbrüchen, „breaches [of] decorum“, gearbeitet, was auch eine Erklärung für ihre Ablehnung (besonders bei der US-amerikanischen Kunstkritik) bereitstellt (vgl. Stiles 1996, S. 22). Joseph stellt 2015 Schneemanns Strategie von Exzess und maximaler Information heraus und plädiert für eine „disjunktive, dissoziative metaphorische Konnotation“ der Filme, etwa in Kontinuität mit der Konzeption von Live-Happenings wie Meat Joy und der darin enthaltenen, an Reich angelehnten Physiologie und Psychologie von Traumbildern (vgl. Joseph 2015, S. 37). Auch in diesem Sinne brachen m. E. vor allem die für die Projektion von Fuses ausgewählten Vorführungsorte Konventionen. Damals wurde der Film vornehmlich auf Veranstaltungen im Rahmen von Festivals gezeigt, sodass die Aufführung für ein größeres Publikum zugänglich wurde, das zudem auch partizipativ einbezogen war. Und in London war Fuses 1968 im Institute of Contemporary Art im Rahmen von Schneemanns Naked Action Lecture, einem Vortrag über die Frage (weiblicher) Nacktheit und inhaltlicher Relevanz, zu sehen.24 Dem Vortrag und der Diskussion folgte eine Exemplifikation des Collage-Prinzips, dies vor laufendem Projektor.25
23 Weiter heißt es bei Eiblmayr: „Es herrscht offensichtlich ein affirmativer und/ oder identifikatorischer Bezug zum eigenen Bildstatus, der jedoch andererseits notwendig scheint, um die ambivalente Doppelposition der Frau im Verhältnis zu ihrem eigenen Bild problematisieren zu können.“ (Eiblmayr 1993, S. 144) 24 Dabei stellte die Künstlerin die Frage, ob eine Frau überhaupt über öffentliche Autorität verfügen könne, und, wenn ja, ob sie dies auch könne, wenn sie nackt ist (vgl. Schneemann 2015b, S. 200). 25 So die Künstlerin zu dieser Aktion: „Wir würden uns alle ausziehen, uns mit Kleister bestreichen und von der Bühne in den Haufen mit dem geschredderten Papier springen. […] Wir zogen einander im Licht des Diaprojektors aus, bestrichen uns gegenseitig ausgiebig mit Leim, machten ein paar Probesprünge auf der Stelle und sprangen schließlich nacheinander in den Papierhaufen und drehten und wendeten uns dort hin und her. Dann begaben wir uns wieder auf die Bühne, und ich schloss meinen Vortrag mit ein paar Anmerkungen zum Collageverfahren und Gestaltmustern, die jetzt durch die drei Beispiele verdeutlicht worden waren.“ (Ebd.)
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Noch bei der Vorführung des Filmes am Londoner Institute of Phenomenological Studies ein Jahr zuvor fühlte sich die Künstlerin ausgeschlossen, obwohl sie zum dort stattfindenden Congress of Dialectics of Liberation eingeladen worden war: „Da es zu dieser Zeit keine im eigentlichen Sinne ‚feministischen‘ Themen gab, war bereits meine Teilnahme so etwas wie eine diffuse Anomalie … Im weiteren Verlauf von Round House [einem kinetischen Theaterstück, EZ] beschloss ich, Fuses im Kontext der Performance zu zeigen.“ (Schneemann 2015a; vgl. ausführlich dazu Harding 2010, S. 121ff.) Wie brisant dies war, wurde auch dadurch deutlich, dass Schneemann wegen „pornografischer Inhalte“ inhaftiert worden wäre, wenn sich die Veranstalter nicht entschieden für sie und ihre Kunst eingesetzt hätten und so ein Verfahren vermieden werden konnte. Noch ein Jahr später waren ZuschauerInnen des Kurzfilmprogramms beim Filmfestival in Cannes so verstört von den Film, dass manche beim Verlassen der Vorführung die Kinosessel mit Rasierklingen zerschnitten (vgl. Middleman 2018, S. 57). Daraufhin wurden weitere Festivalvorführungen schlicht untersagt (Abb. 6, 7, 8, 9).
6 Carolee Schneemann, Fuses, 16mm-Film, 1964–67
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7–9 Carolee Schneemann, Fuses, 16mm-Film, 1964–67
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Es wird deutlich, dass Schneemanns filmische Praxis, die, wie im Fall von Fuses, vor dem Hintergrund der beginnenden sexuellen Befreiung entstand, dem Kontext ihrer multimedial ausgerichteten Arbeiten und performativen Aktionen entsprang und sich deshalb an die jeweiligen Aufführungsbedingungen anpasste. Auch hier verhielt sich das „Kino“-Publikum anders, wenn es beispielsweise dazu eingeladen wurde, mitzumachen. Dabei spielte der „Anstandsbruch“ eine konstitutive Rolle als Bruch mit herkömmlichen Konventionen von Blick und Lust. Das impulsiv gedrehte, abschließend penibel de-montierte Filmmaterial von Fuses zeugt von der Hand der Assemblage- und Environment-Künstlerin, die das subjektive Begehren gewissermaßen in der direkten Verarbeitung des Zelluloidmaterials fragmentiert und damit Codes der Hoch- sowie der Filmkunst attackiert. Das Aufbrechen des herkömmlichen kinematografischen Dispositivs im Rahmen des expanded cinema führte auch im Kunstbereich zu neuen Präsentations- und Rezeptionsmodi. Diese hinterfragten konventionelle Rahmen- als Raumbedingungen und Sehgewohnheiten und konfrontierten sie mit divergierenden Lösungen, die wiederum Reflexionen des Kinematografischen im Kunstfeld hervorgebracht haben – bis zum heutigen „Installationsfilm“.26 1964 manipulierte Schneemanns kinetisch und mobil aufgefasste künstlerische Praxis den Filmstreifen taktil spürbar, arbeitete also assemblageartig und plastisch mit dem Filmstreifen, brannte und ätzte diesen mit Feuer bzw. Säure an, bemalte und collagierte ihn. Der Bezug auf die eigene (weibliche) Körpererfahrung konterkarierte hier die zeitgleich entstandenen Heimfilm-Experimente, etwa von Stan Brakhage – ein Konterkarieren, das sich sowohl auktorial, nämlich feministisch, als auch auf der Ebene des auch explizit gefilmten Begehrens von Körpern artikuliert. Dies führt uns zurück zum eingangs erwähnten Filmzitat: Schneemann operiert durch die Arbeit mit ihren eigenen Händen und die direkte Ver26 So beschäftigt sich die Kunstgeschichte seit zwei Dekaden verstärkt mit Fragen des ZuschauerInnen-Raums, seiner Aktivierung nach der digitalen Wende und seiner immersiven Sinnenreize, nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer historischen Re-Kontextualisierung von Praktiken des expanded cinema; Zeugnis von dieser Beschäftigung gaben und geben unter anderem das Symposium „Activating the Space of Reception“ in der Tate Gallery 2009, die New Museum Triennale in New York 2014 mit dem Titel „Surround Audience“ sowie die seit einer Dekade anlässlich der Berlinale stattfindenden Ausstellungen mit angegliederten Diskussionsrunden unter dem Titel „Forum Expanded“; vgl. auch die historisch übergreifende Publikation Frohne/Haberer 2012.
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arbeitung des Zelluloids auf der gesuchten Ebene der Übertragung der Filmstreifen in Berührungspunkte subjektiven Begehrens. Zur Frage, wie sich dieses Arbeiten mit Bewegtbildern in Beziehung zum Raum in den Kontext des sich in den 1960er Jahren zwischen phänomenologischen und ortsspezifischen Ansätzen erweiternden environment-Begriffs stellen lässt, kann man darüber hinaus sagen, dass die jeweiligen Aufführungsbedingungen wesentlicher Teil der künstlerischen Arbeit werden. Das hat zur Folge, dass sich auch die BetrachterInnen ihnen gegenüber anders verhalten, stehen ihnen jenseits des Ausstellungsraumes doch verschiedene Optionen zur Verfügung. Auf zwei Weisen stellt die maximale Bildinformation von Fuses einen Bezug zum strategischen Unterlaufen herkömmlicher Auffassungen vom Film als Medium von Bewegung und Zeit her: erstens durch die im avantgardistischen Gestus hervorgebrachte Charakterisierung des Films als Medium der Sichtbarkeit anstatt der Narration, wobei die Materialität des Filmstreifens in überhöht anti-illusionistischer Geste auf die eigene Gemachtheit zurückweist, etwa über die manuelle Bearbeitung des Filmstreifens; sowie zweitens durch die unterschiedlichen Arten der Aufführung in der Verschränkung oder auch (partizipativen) Einforderung von Bewegung durch den Vorführ- bzw. Präsentationsraum. Deren raumübergreifender Charakter hatte weniger mit der Tradition der Moderne zu tun als vielmehr mit der Verarbeitung eines nunmehr erweiterten Gattungskonzeptes.
Coda Dass Fuses in der filmischen Umkehrung herkömmlicher Film- bzw. Blickkonventionen eine beinahe ikonische Bedeutung für eine feministisch geprägte Codierung von Körpererfahrung und Begehren darstellt, zeigte jüngst die Tatsache, dass eine Filmsequenz daraus in die als postfeministisch erachtete TV-Serie I love Dick (2016/17) integriert wurde. In der dritten Episode wird Schneemanns von ihr selbst aufgezeichneter begehrt-begehrender Körper eingeblendet: liegend, gewunden, überblendet. Die Serie I love Dick wurde als Schauerkomödie negativ besetzten erotischen Begehrens von Jill Soloway für die Amazon Studios realisiert, nachdem Soloway mit Transparent bereits einen massenmedientauglichen Vorschlag für gegennormative, postpatriarchalische Konstellationen gemacht hatte. Bereits mit Lena Dunhams Girls (HBO 2012–17) war ein ‚weiblicher Blick‘
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ins Zentrum solcher Formate gerückt – zwar gewissermaßen peinlichkeitsgesteuert, aber antinormativ und vor allem anti-illusionistisch ausgerichtet, gerade auch in seiner authentisierend-femininen Redundanz: peinlicher und darum wirklichkeitsnaher Sex, ungewohnte Körperaufnahmen, unangenehme Geständnisse. Derzeitige Ansprüche und Versuche hinsichtlich der Erprobung eines female gaze – als nicht maskulin, nicht zwangsheteronormativ und nicht idealisiert –, wie sie etwa in TV-Serien allmählich lauter werden (aktuell: Fleabag für BBC, 2016, 2019), finden in Schneemanns eigenem Produktionsmodus offensichtlich einen wichtigen Vorläufer. Bereits mit Chris Kraus’ literarischer Vorlage I love Dick (1997) und der zwanghaften Fixierung ihres literarischen Alter Egos Chris auf „Dick“ – nomen (non) est omen – stand die Frage nach dem erotischen Objekt des Begehrens als Objekt ihres obsessiven Schreibdrangs als Ersatz für ihren Kreativdrang im Zentrum. Dieses Objekt wird zugleich aber auch zur Materialisierung der eigenen, verloren gegangenen Schöpferkraft der Filmemacherin, also dramaturgisch und narrativ eng verknüpft mit den eigenen Unzulänglichkeiten: Chris, Autorin und Filmemacherin, überschwemmt Dick mit Briefen. Zugleich kommt sie nicht zum eigenen Film, dennoch zum eigenen autobiografisch gefärbten Roman, der nun, so die Konstruktion ja auch vorliegt. Mit der genannten Soloway-Verfilmung des Briefromans als eine mehrteilige Serie wird 2016 die Frage auf einer neuen Ebene verhandelt. Die Episoden zeugen von einer neuen Auffassung sexuellen Begehrens, das sich nun – fast 20 Jahre nach Erscheinen des Romans – erlaubt, ausgesprochen, ausgeschrieben, ausgeschrien zu werden – und es geht weiter in eine queere Richtung, wenn zwei junge Frauen eine sexuelle Begegnung haben, wobei das Männliche hier zum erotischen Spielzeug wird („big cock“ genannt), als imaginierter Anlass und anziehender Moment der erotischen Begegnung. In ihrer Integration von Kurzsequenzen aus feministischen Klassikerinnen der Video- und Filmgeschichte der 1960er und 1970er Jahre – die wie Fuses die Darstellbarkeit von Begehren experimentell ausloten, im Bewusstsein der Gefahr einer Zensur aufgrund sexueller Inhalte – zeugt Soloways Adaption von Kraus’ Briefroman vom Wunsch nach einer aktuell notwendigen Reflexion der Versuche der vorangegangenen Generationen. Aus dieser Reflexion über Formen und Möglichkeiten anti-normativer Darstellungen von sexuellem Begehren wirkt Soloways Narrationsvorschlag als programmatisch für die Gegenwart. Das Begehren bleibt neurotisch, doch die Filmemacherinnen setzen sich durch.
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Filme Anticipation of the Night, R.: Stan Brakhage, USA 1958, 16mm, 42 Min., Farbe, ohne Ton. Fuses, R.: Carolee Schneemann, USA 1964–67, 16mm, transferiert auf High-Definition-Video, Originalfilm mit Feuer und Säure angebrannt, bemalt und collagiert, 30 Min., Farbe, ohne Ton.
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Film- als Lebensraum Kitch’s Last Meal, R.: Carolee Schneemann, 1973–78, Doppelprojektion, Super 8, transferiert auf digitales Video, 55 Min., Farbe, Ton. Plumb Line (Lot), R.: Carolee Schneemann, 1968–1971, Super 8, transferiert auf 16 mm und High-Definition-Video, 15 Min., Farbe, Ton. Window Water Baby Moving, R.: Stan Brakhage, USA 1959, 16mm, 13 Min., Farbe, ohne Ton.
Abbildungsnachweise Abb. 1: Fotografie der Aufführung der Performance Homemade von Trisha Brown (1966), Fotografie: Vincent Pereira, Website der Trisha Brown Dance Company, http://www. trishabrowncompany.org/content/images/ image_main2_52.jpg (Stand: 3.5.2017). Abb. 2: Filmstreifen des Films Fuses von Carolee Schneemann (1964–67), Website des Magazins Border Crossings, http://bordercrossingsmag.com/article/notes-on-fuseology (Stand: 18.5.2017). Abb. 3: Filmstreifen des Films Fuses von Carolee Schneemann (1964–67), Website der P·P·O·W Gallery, http://ppowgallery.tumblr. com/post/115948585415/carolee-schneemannand-james-tenney-in-fuses (Stand: 6.5.2017). Abb. 4: Still des Films Window Water Baby Moving von Stan Brakhage (1959), Website des CCCB. Centre de Cultura Contemporània de Barcelona, http://www.cccb.org/en/activities/file/diaries-notes-and-sketches/227239 (Stand: 21.5.2019). Abb. 5: Still des Films Window Water Baby Moving von Stan Brakhage (1959), Website Taste of Cinema, http://www.tasteofcinema. com/2019/10-short-film-masterpieces-youshouldnt-miss/2/ (Stand: 21.5.2019).
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Abb. 6–9: Stills des Films Fuses von Carolee Schneeman (1964–67), Webseite Ubuweb: http:// www.ubu.com/film/schneemann_fuses.html (Stand: 6.5.2017), Stills: Elena Zanichelli.
Drehli Robnik Die Scheibe und ihre Beschlagenheit: Film- und politiktheoretische Unterscheibungen zu einer Machtund Einsichts-Einrichtung im sozialen Raum
Die Scheibe wird hier verstanden als eine Einrichtung sowohl in Sachen politischer Macht einschließlich ihrer sozialen Wirkungen als auch in Sachen Einsicht – einer Einsicht, die einer aktuell etablierten Machtordnung zuwiderlaufen kann. Insbesondere um Glasscheiben geht es hier nun, zumal in ihrer visuellen Funktion als gerahmte Sicht, und das wiederum doppelt: die Scheibe als etwas, worauf sich etwas abbildet, und (gegen Ende) um die Scheibe als sichtbare in und auf Bildern, filmischen Bildern nämlich. Beim Film geht es hier primär um Gesellschaftserfahrung, nicht um Kunst; bei der Scheibe geht es, wie sich bald zeigen wird, um Dunst.
Eine steirische Abschiebungs-Scheibe Schauen wir uns zunächst eine ganz konkrete architektonisch-physische Glasscheibe an bzw. durch sie hindurch (hier zunächst nicht in Film-, sondern in Fernseh-Bildern bzw. in Videostills von diesen). Diese Glasscheibe führt uns ins österreichische Vordernberg. Nicht ins Gebirge von Vorarlberg (das ist woanders in Österreich), aber auch nicht ganz runter vom Berg, sondern eben vor den Berg, wo das steirische Voralpenland in die industrie- und tourismusruinenübersäten Gefilde nahe Eisenerz (or, for that matter: Mürzzuschlag) übergeht. Ebendort, in der verödungsgefährdeten Gemeinde Vordernberg, steht seit 2014 ein „Anhaltezentrum“, ein Abschiebehaft-Knast (österreichisch: Schubhaft-Häfn) für „Ausrei-
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sepflichtige“.1 Dieses „Anhaltezentrum“ ist dezidiert dezentral, weitab urbaner Ballungsräume wie … Wien (in Österreich die einzige, übrigens auch politisch landesuntypische, Großstadt), wo Migrant*innen ihren Aufenthalt verfestigen, ehe die Fremdenpolizei diesen vorzeitig deportativ verflüssigt, und wo Schubhaft-Räume der öffentlichen Wahrnehmung ausgesetzt sein könnten. Für seine Planungsarbeit am „Anhaltezentrum Vordernberg“ wurde das Wiener Architekturbüro SUE Architects heftig kritisiert: Eine Migrationsbekämpfungsanlage zu planen, sei nicht okay. Das Büro wiederum verweist auf sein anspruchsvolles Design und humanitäres Bauanliegen: nicht ein Gefängnis, sondern eine „Herberge“ Vordernberg sei ihr Anliegen gewesen, mit großem Aufwand bei Material und Infrastruktur samt Fitnessraum und Kiosk. Diese „Wertigkeit“ schulde der abschiebende Staat den Häftlingen, sagt das Büro und betont, man habe Glasscheiben anstelle von Mauern gesetzt. Das impliziert ein Versprechen von Demokratie qua Transparenz. Konkret formuliert Architekt Michael Anhammer in einer längeren Passage eines Gesprächs im Kulturmagazin Andererseits des Wiener Stadtfernsehsenders OKTO (23.01.2014) den Anspruch von SUE Architects wie folgt: „Wenn man sich Gefängnisse anschaut, ist da halt immer dieses Innen-Außen-Thema: Innen ist eine eigene Welt, und außen ist eine andere Welt. Das wird ganz stark definiert über diese Mauer – Mauer als undurchsichtige Sache: Das macht es natürlich sehr leicht, diese Welten zu trennen. Wenn man mit Schubhaft und mit Abschiebung und mit Situationen zu tun hat, die eigentlich in Europa so still und heimlich, aber sehr präzis und perfekt funktionieren – dann wollen wir das so behandeln, dass das etwas ist, das der Staat nicht versteckt, sondern wo sich der Staat, also unsere Demokratie, herzeigt und bekennt. Und deswegen war dieser Zaun auf der einen Seite, wo man sagt: Da ist ein Innen-Außen-Bezug, und dann funktioniert das nicht mehr so, denn wo man reinschauen kann, passieren Dinge anders als in einem Besenkammerl.“
1 „Das Anhaltezentrum Vordernberg ist eine Einrichtung des österreichischen Innenministeriums, in der Ausreisepflichtige, deren asyl- bzw. fremdenrechtliches Verfahren eine freiheitsbeschränkende Sicherung notwendig erscheinen lässt, untergebracht werden.“ (Wikipedia: Anhaltezentrum Vordernberg, http://de.wikipedia.org/wiki/Anhaltezentrum_Vordernberg [Stand: 31.5.2016])
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Ich will mit meinen Ausführungen nicht auf ein Tribunal gegen die Architekten hinaus. Vielleicht ließe sich – in ästhetizistischer Sicht (mit etwas abgeflachtem Rancière’schem Kunst-Universalismus) – ihr Bau und Argument ja wirklich als demokratisch verstehen: als Bruch mit jener Zuordnung, die besagt, Wohlfühlen und Sinn für gediegenes Design, das sei bloß für Bio-Ösis da und nicht für Schubhäftlinge. Jedoch: Solch ein Demokratiebegriff wäre kulturalistisch und (im Sinne des Hauptaugenmerks aufs Sinnliche) sensualistisch verkürzt: Hochwertigkeit und Wellness träten an die Stelle von Subjektivierung, Streit und Rechten, zumal dem Aufenthaltsrecht.2 Der Kerkermeister als Fitnesscoach und Herbergsvater; ein Demokratieanspruch versinkt da im Behaglichen und Gut-Gebauten. Pure Ideologie ist die Rede seitens des Büros von den Glasscheiben, die heimelig wirken und vor allem aber Heimlichkeit verhindern sollen – und das bei einem Bau, der ja eben nicht in der Stadt, sondern in der Alpen-Pampa steht. Vordernbergs Scheiben erzeugen keine Sichtbarkeit. Wie das helle Holz (also die Rede von der Hochwertigkeit) helfen die Scheiben und der Hinweis auf sie vielmehr, etwas im öffentlichen Diskurs – im optischen wie im Aufmerksamkeits-Sinn – unsichtbar zu machen: nämlich das Fremdenpolizei-Dispositiv rassistisch-klassistischer Gewalt und den Beitrag, den ambitionierte Baukunst dazu leistet, diese Gewaltmittel möglichst der Kritik zu entziehen. Mensch könnte hier nun einwenden, den EU-Mehrheitsbevölkerungen sei Polizeigewalt im Abschiebeknast mehrheitlich egal; dann liefe das Argument „Demokratie durch Scheiben statt Mauern“, in Ermangelung eines besorgten Allgemeinbewusstseins, zumindest ins Leere. Und schließlich: Sollte das quasi transparenzdemokratisch gut gemeinte Kalkül von SUE Architects aufgehen und sollte eine kritische (Vordernberger oder weiter gefasste) Öffentlichkeit sinnlich Anteil nehmen am Alltagsleben von Schubhäftlingen hinter Scheiben, dann wäre dies, gelinde gesagt, ein Verstoß gegen deren Menschenrecht auf Privatsphäre; weniger wohlwollend betrachtet liefe es auf eine Anlage hinaus, die Häftlinge wie in einem Zoo oder einer Menschenmenagerie zur Schau stellt.3 2 Allein, dieser Einwand müsste wiederum eine fast zynische Einsicht mitbedenken: Ein Aspekt von Egalität hieße, dass Migrant*innen dasselbe Recht darauf haben sollten wie Schengen-Menschen, ihrer Wellness zu frönen, ohne mit Politik, mit Rechten und Kämpfen, behelligt zu werden; das Recht, sich nicht um Rechte scheren zu müssen, macht Vollwert-EU-Subjekte aus. Möglicherweise. Für den Hinweis auf letztere kritische Sichtweise danke ich Rena Onat. 3
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Und doch: Gerade in all dem ideologischen Nebel macht die Scheibe, die eigentlich zu einer Vordernberger Verbergung dienen soll, zur humanitären Kaschierung eines inhumanen Grenzregimes, auch etwas sichtbar. Dies vielleicht deshalb, weil der Demokratie-Anspruch, der sich mit der Ersetzung der alten disziplinarischen Gitter durch das neue Kontrollmacht-affine Panzerglas verbinden will, gar zu – durchschaubar ist, wenn wir uns die Scheibe vor Augen führen. Auf der Scheibe wird ein Machtzugriff zumal in seiner Funktionsoptimierung durch Transparenzbehübschung sichtbar, wahrnehmbar (so, dass wir ihn in seiner Wahrheit nehmen, kritisch hernehmen können). Dass die Vordernberger Scheibe eine Trennscheibe ist, die mithilft, legal und illegal aufhältige Leute zu scheiden und dabei das EU-Abschiebungsregime (oder: EU-Abscheibungsregime) von manchen seiner hässlichen Erscheinungsformen zu trennen, das tritt umso deutlicher hervor, je mehr sich der ideologische Diskurs-Dunst mit der konkret im Raum stehenden Scheibe verbindet – wenn sich also die Scheibe mit Dunst beschlägt.
Was weiß der Dunst? Film und Kino in politischer Sicht – Schlüpmanns Haus, Kracauers Loch, Bazins Fenster, Deleuze’ Sinn und Marcharts Mauer Im Folgenden geht es mir um die beschlagene Scheibe. Weiterhin wortverspielt mehrsinnig. Die Scheibe ist beschlagen, das heißt auch: Sie ist schlau, sie weiß was. Wie geht und wie geschieht es, dass die Scheibe weiß? Nun, ganz einfach, so wie die Wäsche weiß – und die Scheibe glasklar wird: durch die übliche Aufbietung von schlecht oder nicht bezahlter weiblicher bzw. migrantischer Arbeitskraft. Diejenigen, die im Schengen-Reich in großem Maßstab Fensterscheiben putzen und Wäsche weiß waschen, sind meist selbst nicht weiß*. Jedenfalls: Gerade die beschlagene, nicht ganz transparente Scheibe gewährt uns kritische Einsicht in einem Sinn, der abseits von Bescheid-Wissen, von Überwachungs-Augen-Allmacht oder polizeilichem Durchblick situiert ist. Nicht zuletzt sind diese Scheibenspiele auch eine Verbeugung vor einem programmatischen Statement von Kathrin Heinz im Rahmen ihrer planerinnenseitigen Einleitungsworte zu der Bremer Tagung von 2015, auf der dieses Buch basiert. Die Tagung war Irene Nierhaus gewidmet, und Kathrin Heinz tat das (einzig) Richtige, indem sie – mit
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jener Nachträglichkeit, die dem Theoretisieren inniger verwandt ist, als es scheint – den Namen Nierhaus als programmatische Chiffre las. Sie las Nierhaus als jene Ansage in Sachen feministischer Perspektivierung von (im klassischen Architekturdiskurs meist ausgeblendetem) Wohnen und Häuslichkeit, als die der Name vielleicht eh immer gedacht war, also: Es geht ums Haus, und es geht um eine Infrastruktur der Reinigung in Nassraumgruppen (Niere), also um vorwiegend feminisierte Hausarbeit. – Wir sind mit dem/der Nierhaus ganz nah an der Scheibe, zumal der mit Dunst beschlagenen. Im Folgenden möchte ich etwas weniger charmant verdichtet, aber auch nicht wirklich konzeptueller – denn mit Gilles Deleuze gesagt ist der immer vorauszusetzende Nonsens auch nur der Platzhalter des Umstandes, dass der Sinn, auch der von Begriffen, weder aus sich selbst noch aus dem Nichts kommt (vgl. Deleuze 1993)4 – auf dem Wort- und Bild-Motiv-förmigen Einsichts-Schauplatz der Scheibe dreierlei konstellieren: erstens das Kino als Haus, zweitens den Film als Dunstbeschlag, drittens die Antagonismus-orientierte Sicht auf Politik und Gesellschaft als vermittelt durch eine Scheibe. Heide Schlüpmann (2012) zufolge gilt es zu bedenken, dass das Kino immer auch Haus ist, und zwar in einem ambivalenten Verhältnis zur Geschichte, zur europäisch-bürgerlichen wie auch zur individuellen. Das bürgerliche Heim als Privatsphäre dient einer (traditionell weiblicher Heim- und Infrastruktur-Arbeit zugedachten) Reproduktion von Moralität im Subjekt, die nie nur (wenn auch oft sehr) reduzierbar ist auf ihre ideologische Funktion gegenüber der bürgerlichen Warenwirtschaft und ausbeuterischen Zweckrationalität. Ist dieses Haus schon ambivalent, so verortet uns das Kino ambivalent zu diesem Haus. Kino als Haus, das wir aufsuchen, um im Anonymen Geborgenheit, im Öffentlichen Intimität zu erleben: Kino ist mit Schlüpmann gedacht (umfassender zu Kino und Moralität: Schlüpmann 2007) zum einen Ort eines Auszugs aus dem HeimHaus (in die Welt, die, wie auch immer, von Akerman bis Iron Man, im Kino erfahrbar wird), zum anderen aber ein Nachbild des Heim-Hauses, ein Ort der Melancholie über Verluste an Geborgenheit (Melodramen bringen dies dann auf den Bild-Punkt dessen, was im Kino projiziert
4 „Der Unsinn ist zugleich das, was keinen Sinn hat, sich aber als solcher der Abwesenheit des Sinns entgegensetzt, indem er die Sinnstiftung vornimmt. Und genau das hat man unter nonsense zu verstehen.“ (Deleuze 1993, S. 98)
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wird). Es ist die Melancholie darüber, dass das Heim dahin ist, aber auch darüber, dass sich der Glaube, das Heim sei nicht auch unheimlich und unmöglich (beruhe auf Ausschluss, Ungerechtigkeit, Gewalt), nicht mehr halten lässt, kurz: Im Kino als Haus sucht uns das Heim als durchschautes heim – als pure Projektion, aber dennoch schade, wenn sie vorbei ist. Ist das Kino einmal versuchsweise als Haus gesetzt (in das wir uns immer gern gesetzt haben, bevor wir in Serie gegangen, nämlich aufgrund von Laptop-Bingewatching-Attacken nicht mehr ausgegangen sind), dann schließt die Frage an, wie der Welt-Bezug von diesem Haus aus zu konzipieren ist: Wie kommt die Welt ins Haus? Was zählt an den Auslassungen in der Wand, als was zählen sie? Als Loch oder als Fenster? Das sind Schlüsselwörter oder auch – um näher an der einschlägigen Beschlagenheit von Scheiben zu bleiben – Schlagwörter zweier jeweils vom Theologischen herkommender realistischer Film-Denker: einerseits des jüdisch-messianisch inspirierten, sich zu Soziologie, Geschichte und Film als Erfahrung wendenden Siegfried Kracauer, anderseits des vom Katholizismus her zu einer Phänomenologie/Ontologie von Film als Kunst übergehenden André Bazin. Wenn bei Kracauer vom Loch die Rede ist, dann zum einen in Richtung einer Subjektkritik mit utopischer Aufladung – Chaplins Tramp-Figur als „ein Loch“ etwa im Unterschied zu den festgefügten Formen bürgerlicher Individualität –, zum anderen im Sinne von Fluchtmöglichkeiten und von Ahnungen möglicher Neubildungen, die sich im Zerfall einer jeweils gegebenen Raum- und Sozial-Ordnung abzeichnen, eben auch dort, wo sich Löcher auftun. Im Epilog seines autobiografischen Slapstick-Romans Ginster (1928) kommt die Titelfigur nach Marseille, das auch in Kracauers Vagabunden- und Exil-Flucht-Biografie ein signifikanter Ort ist, und fühlt sich dort in dem kaleidoskopischen Massenbetrieb der schäbigen Hafenstadt erstmals zu Hause. Ein seltsam heimeliges Wohlgefallen äußert Ginster etwa beim Beschreiben von urbanen Desorganisations-, Zerstreuungs- und Verfallsphänomenen wie diesem, das er an einem „alte[n] Patriziergebäude“ wahrnimmt: „Löcher an Löcher, oft fehlten die Scheiben“ (Kracauer 1990, S. 233). Das ist zweifellos nicht Kracauers prominenteste oder markanteste Loch-Textstelle, aber eine, die den Vorzug hat, dass sie die Scheibe mit einbezieht.5 5 Zur Loch-Politik und generell zum politischen Film- und Geschichtsverständnis bei Kracauer siehe: Robnik et al. 2013; Robnik 2013.
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André Bazins Rede vom Kino als „Fenster zur Welt“ wiederum (bzw. von der Filmleinwand als Welt-Fenster, ohne welches das Kino-Haus keinen Sinn hätte) ist so sehr zu einem prominenten Stück Theoriefolklore avanciert, dass sich kaum mehr nachvollziehen lässt, wie sehr Bazin dieses Wort-Bild en passant prägt, zumal in einem viel mehr dem Theater als dem Kino geltenden Text (vgl. Bazin 2004a, S. 198). Ungeachtet all der stilkritischen und medienphilosophischen Stärken und ergiebigen Unreinheits-Postulate von Bazins Film- und Kinotheorie tritt im Zeichen seines Ethos der Demut vor der schieren Wirklichkeit mitunter ein eigentümlich puristischer Gestus hervor, der seine sexistischen Schlagseiten hat. Etwa wenn er die (auch von Ästhetiken wie der Victor Sklovskijs vertraute) Emphase der durch Kunst vermittelten, unvoreingenommenen, singulär-erstmaligkeitsähnlichen Begegnung mit dem Wirklichen so altherrenhaft wie gegen den Dunst formuliert: „[…] die Leidenschaftslosigkeit des Objektivs, das den Gegenstand von Gewohnheiten, Vorurteilen, dem ganzen spirituellen Dunst befreit, in den ihn meine Wahrnehmung hüllte, ließ ihn wieder jungfräulich werden, so daß ich ihm meine […] Liebe schenkte.“ (Bazin 2004b, S. 39) Das heißt quasi: Durch die Demut der Kunst weg mit dem Dunst, dann kann ich mit der jungfräulichen Welt fensterln. Lieber nicht. Lieber wäre mir zum einen dies: Die Beziehung von Kino und Fenster, und zwar nicht als ein Weltverhältnis mannhafter Intention und christlicher Demut, sondern als untätige Haltung des Rausschauens, auch wenn die Erschöpfung gerade noch zu groß ist, um eine Einsperrung zu verlassen (der Wunsch aber bleibt am Leben). Diese Beziehung wäre besser aufgehoben in einem Zitat von Theodor W. Adorno (und Max Horkheimer), in dem der Frankfurter Verzweiflungsdenker sich in die Hausfrau (einmal mehr: das paradigmatische Gender-Subjekt etwa der Scheiben-Reinigung) „einbildet“: „Der Hausfrau gewährte das Dunkel des Kinos trotz der Filme, die sie weiter integrieren sollen, ein Asyl, wo sie ein paar Stunden unkontrolliert dabeisitzen kann, wie sie einmal, als es noch Wohnungen und Feierabend gab, zum Fenster hinausblickte.“ (Horkheimer/Adorno 1969, S. 147) Zum anderen: Herkommend von Schlüpmanns Haus mit Kracauers Löchern darin, durch die Welt sein kann und rein kann, und von diesem Sein-Können als Zerfall und Umbildung, nicht als Echtheitszertifikat verstanden, und eher ausweichend vor Bazin, dem Fenster-Denker, der die Welt vom Dunst befreien will, liegt ein Streiflicht auf den bereits er-
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wähnten Deleuze der Logik des Sinns von 1969 nahe. Am Fenster zählen der Dunst und die Scheibe, nicht das Pathos der Hellsicht. Dunst als Wort-Motiv kommt aus Deleuze’ Begriffslandschaft rund um den Sinn (z.B. Deleuze 1993, S. 26). Wie Dunst steigt der Sinn auf – Sinn als das niemals ganz zu verwirklichende Ereignismoment, das weiterwirkende Potenzial, das Virtuelle – an dem, was eintritt: etwas Phantomhaftes, das insistiert, nicht existiert; Rest einer Realisierung, reine Wirkung, die ein Ursachenfeld aufmischt. Und der Sinn ist das, was Sätze (auch Bilder) und Sachverhalte unauflösbar aufeinander bezogen hält, aber so, dass Satz und Sache einander immer mehr oder minder stark verfehlen. Sinn ist das Sitzen der Zeichen auf den Dingen, das nur als Schief-Sitzen möglich ist, weil ein Zustand der perfekten Passung von Zeichen und Ding (eine gottgegeben-paradiesische Adäquatheit des Namens hinsichtlich des Benannten) letztlich das Ende der Zeiten und die Unmöglichkeit von Geschichte-als-Veränderung bedeutet – eben auch die Unmöglichkeit von Veränderungen von Bezeichnungen und Setzungen (in Sätzen, Gesetzen, Ansprüchen …). Der Sinn ist, vergleichbar dem Kracauer’schen Loch, die Lücke im sozialen Gefüge, die Sozietät und deren Umgestaltung (bis hin zur Revolutionierung) ermöglicht. In dieser Eigenschaft von Lücke und Abstand ist Deleuze’ Rede vom Sinn auch ein blueprint für ein Herzstück seiner späteren Filmtheorie, nämlich für das Konzept des filmischen Affektbildes: vom Affekt als Intervall zwischen Bewegungen, in dem sich Subjektivität als Zone der Unbestimmtheit bildet, sprich: als Chance, dass Bewegungen anders fortgesetzt werden als bei ihrem Eintritt in die Zone. Der Affekt als Potenzial eines Anders-Werdens von sozialen Bildungen und bildförmigen Sozietäten, als reine Wirkung, die sich von einem Ursachenfeld absetzt (vgl. Deleuze 1989, Kap. 7). Und: Im Affekt, so Deleuze, keimt die Erfahrung, dass wir in der Zeit sind (anstatt dass die Zeit „in uns“ enthalten wäre, als wären wir Identitätsgefäße des Vergänglichen); die Zeit ist dabei wesentlich Spaltung in vergehende Gegenwart und sich erhaltende Vergangenheit, wodurch Zukunft möglich wird (vgl. Deleuze 1991, S. 109–113). Wir sind also in der Zeit, die sich und uns und unsere Ordnung spaltet; das ist Geschichtlichkeit. Das heißt, schematisch zusammengefasst: Affekt heißt Erfahrung von Zeitlichkeit, in der Geschichtlichkeit entsteht, als Erfahrung von Spaltung und der Möglichkeit, dass die Dinge auch anders geordnet sein können (Kontingenz); der Affekt ist ein Deleuze’sches Korrespondenz-Bild zum Sinn – und den Sinn fasst Deleuze einmal in einer eigentümlichen, prägnanten
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Raum-Figur, nämlich als Dunst. Wenn Scheiben Macht-Einrichtungen der Festsetzung und Trennung sind (Vordernberger Trennscheiben) oder auch Wissens-Einrichtungen der verwaltenden Aufzeichnung (früher Schallplatten, heute noch gebräuchlich: digitale Silber-Disks), dann ist der Dunst, dann ist die beschlagene Scheibe die nicht-loszuwerdende Wahrnehmbarkeit von Kontingenz (Spaltung, Konfliktivität) in den sozialen Institutionen von Macht und Wissen. Noch ein konzeptuelles Wort mit Bezug auf den Politik-Entwurf von Oliver Marchart, einem Sozial- und Politiktheoretiker, der ganz zentral vom Begriff der Kontingenz ausgeht, die den (notwendig politischen) Grund von Gesellschaft ausmacht. Mit Marchart – dessen Gesellschaftstheorie im engeren Sinn an prägnanten Stellen an den frühen, eher „dunstigen“ denn dionysischen Deleuze der Logik des Sinns anknüpft, zumal mit seiner Skizze einer „politischen Affektologie“ (vgl. Marchart 2013, S. 437–445) – können wir von einer politischen Alldurchdringung von Gesellschaft ausgehen. In diesem Sinn ist dann politische Theorie eine, oder vielmehr: die grundlegende Ontologie. Denn: Alles, was ist, ist in seinem Wesen sozial; alles Soziale ist politisch eingerichtet in der Gründung auf Abgründe von Spaltung und Konflikt, im Antagonismus. Dieser zeigt sich uns aber, so wie das Sein des Politisch-Sozialen, nie direkt, sondern tritt zutage als Störung im ontischen Register von Gesellschaft und Politik. Es ist nicht oft Massenaufstand, aber ständig Politik (vgl. Marchart 2010, Kap. 9). Das entscheidend Abgründige an Marcharts Polit-Ontologie ist, dass sie uns nicht ins dionysische Chaos kippt, sondern auf Formationen unseres Alltags verweist, wo sich nicht-loszuwerdende Konflikte und Vermachtungen auch für bildungsprivilegierte Schengen-Bürger*innen manifestieren. Konflikt-Politisches ist radikal überall; erfahren wird es oft, aber nur als Wahrnehmungsstörung, Sinnesirritation, unvollständige Transparenz von Gesellschaft zu sich selbst. Mehr noch: Erfahrung ist genau diese Trübung und Störung im Wahrnehmen von Sozietät. Gesellschaft wird nicht objektiv erfahren, sondern paranoid als omnipräsentes unmögliches Ding; das ist ein Problem-Anblick. Und: Gesellschaft wird nicht ganz gesehen; den Blick auf sie verstellt die „Mauer des Antagonismus“. So weit Marchart (2013, S. 329, 318). Aber: Wäre die Wahrnehmungsblockade, die uns das Soziale erfahren lässt, wirklich eine Mauer, würden wir gar nichts sehen. Die Stimmigkeit seines Arguments und die Realität sprechen dafür, dass da vielmehr – eine Scheibe ist. Wahrnehmen von Gesellschaft ist Erfahrung einer Scheibe – nicht Durchsicht
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durch sie, sondern ihr Wahrnehmen als beschlagene, als Aufzeichnungsfläche nicht von Beständen, sondern von Störungen und Konfliktzonen in Beschlägen.
Hitchcocks Handschrift, ein Mann namens Dana, Titanic, revenants und Dunstiges Um dies nun kurz anzuschneiden (wie Clips bzw. Scheibchen) mit Bezug auf die Vielfalt des populären Films, des Mainstream-Kinos, und des Sinns für beschlagene Scheiben, der sich da informell herausgebildet hat – ohne den geringsten Anspruch auf repräsentative Querschnitthaftigkeit oder darauf, damit „die älteste und erste Dunstscheibenszene der Filmgeschichte“ vorlegen zu können (was wäre das auch für ein Fund …?) –, ließe sich zunächst auf einen „alten Klassiker“, einen frühen Film eines der in der allgemeinen Wahrnehmung bekanntesten Filmregisseure verweisen: Alfred Hitchcocks The Lady Vanishes (Eine Dame verschwindet, GB 1938). Dieser Film kam Anfang Oktober 1938 ins Kino, kurz nachdem Großbritannien Nazi-Deutschland per Münchner Abkommen die Annexion des „Sudetenlandes“ gewährt hatte. Hitchcocks britischer Agentenkrimi, der so übervoll ist mit ominösen Geheimzeichen und Kryptogrammen aller Art, ist ein bitterer Kommentar zur Geopolitik, zumal zur britischen Unterschätzung der Dringlichkeit der europäischen Krise, und zugleich die Antizipation von sich abzeichnenden, staatlich organisierten Massengewalthandlungen. Mrs. Froy, eine alte Dame, die von den Geheimklauseln im Pakt zwischen zwei Großmächten weiß (dies ein Jahr vor Stalins Pakt mit Hitler samt fatalen Geheimklauseln), verschwindet in einem Eisenbahnzug durch Osteuropa. Zug und Kino, Anlagen der traumatischen Moderne, Deportation und Projektion: Im Verlauf von The Lady Vanishes wird dieses Verschwinden geleugnet oder im Appeasement schlicht ignoriert. Von der Auslöschung am Schauplatz des Zuges bleibt ein Rest: Mrs. Froys eigenhändiger Namensschriftzug im Dunstbeschlag auf der Scheibe (nur als kurzes Aufblitzen wieder lesbar), später ihr Teesäckchen als Abfall, der sich kurz außen auf der Scheibe des Zugabteils ablagert. Der Aufruf der jungen Heldin, den Zug zu stoppen, weil hier ein Gewaltverbrechen vorliege, wird seitens der Mitreisenden-Community als Wahn abgetan. Die Dame heißt Froy (nicht Freud): „It rhymes with Joy!“ So sagt sie selbst, als sie sich vorstellt. Später wird Froy durch eine Doppelgängerin ersetzt, die justament Miss Kummer heißt.
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An Hitchcocks Vorkriegs-Schreckensahnungen ließe sich in zweierlei filmisch-dunstige Richtungen anknüpfen. Zum einen ist da eine andere britische Lady, von Beruf Gouvernante wie Mrs. Froy: Die von Deborah Kerr gespielte Hauslehrerin und Nanny in Jack Claytons klassischer britischer Henry-James-Verfilmung The Innocents (Schloss des Schreckens, GB 1959) gesteht sich joy nur in Form von erotisch aufgeladenen Spuk-Projektionen zu – kulminierend in der Erscheinung des Gespensts des verstorbenen feschen Haushälters, den sie als Triebkraft hinter den Frechheiten und Anzüglichkeiten des kleinen Gutsherrensohnes imaginiert. Dieses Gespenst erscheint gegen Filmende hinter, vielmehr auf der dunstbeschlagenen Scheibe eines Treibhauses. Auch hier haben wir es mit einer Antizipation kommender soziopolitischer Umbrüche zu tun, allerdings weit weniger destruktiver und traumatischer Art als die in The Lady Vanishes. Es geht um die (Dunst-)Projektion kultureller und sexueller Umstürze der Sixties, für die Gestaltungen im britischen Pop und Film emblematisch wurden. In der popkulturellen Nähe dieser Prozesse werden hochgradig einprägsame Bilder aus The Innocents nachklingen – das Gouvernanten-Gespenst des Films (die Erscheinung der verstorbenen Vorgängerin, Miss Jessel, im Schilf am Seeufer) als unverkennbares Zitat auf dem Cover des Debütalbums von Black Sabbath oder die Swinging-London-Dandy-Ikone Peter Wyngarde (der Darsteller des Fernsehserien-Geheimagenten Jason King), der sein Filmdebüt als der Dunst-Geist des triebhaften Peter Quint hatte, sich abzeichnend auf beschlagenen Treibhaus-Scheiben im Schloss des Schreckens. Die andere Anknüpfungsrichtung in Relation zum ahnungsvollen Vorkriegsdunst führt uns zuvor noch in die unmittelbaren Nachkriegsjahre der USA und in ein linksliberal engagiertes Hollywoodkino, kurz bevor der McCarthyismus seinen (Kultur-)Kampf gegen „unamerikanische“ Aktivitäten (nicht nur) in der Filmindustrie beginnt. William Wylers The Best Years of Our Lives (Die besten Jahre unseres Lebens, USA 1946) – der Krieg ist vorbei, auch Hollywood macht nun etwas, das dem mitteleuropäischen „Trümmerfilm“ vergleichbar ist, mit einer Prise Neorealismus, oder mit Deleuze gesagt: mit etwas „Hellsicht“6, die gerade nicht Durchsicht heißt. Ein Air-Force-Bombenschütze, der eben noch machtvolles Überflieger-Subjekt war, ist nun out of work und out of time im Verhältnis zur sich formierenden 6 Zur neorealistischen Hellsicht als Bruch mit Routine-Konventionen der Wahrnehmung von Gesellschaft vgl. Deleuze 1991, Kap. 1.
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Konsumkultur, sodass er sich selbst als Geschichtsrest erfährt. Und zwar passiert ihm das im Angesicht seines ehemaligen Arbeitsplatzes, in einem der vielen zur Verschrottung abgestellten B17-Flying-Fortress-Bomberflugzeuge, zumal in der Glaskanzel des bombardier, deren Scheibe so blind ist, wie die Männerkörper und -psychen in diesem Film versehrt sind. The bomb-sight as site of insight: Sein regloses Gesicht in der Scheibe wirkt wie ein Fossil, eingeschlossen im Eis. Den Mann, der da durch die – von Verunreinigungen oder Dunstbeschlag – trübe Glaskanzelscheibe sichtbar wird, spielt der damals vielbeschäftigte Hollywood-Star Dana Andrews. Vielleicht sollte sein geschlechtsunspezifischer Vorname uns als Hinweis darauf dienen, dass er im Jahr darauf, 1947, einen weiteren Vertreter der US-Staatsmacht spielt, der sich bezüglich seines Handlungsvermögens und seiner Handlungsorientierung in einer Krise wiederfindet; und wieder ist eine beschlagene Scheibe im Spiel. Wenn der aufstrebende Jung-Staatsanwalt in Elia Kazans sozialkritischem Justiz-, Polit- und Procedural-Krimi Boomerang (USA 1947) gegen Ende eines Sensations-Mordprozesses allmählich die Seite wechselt und gegen sich selbst handelt, nämlich als Verteidiger des zu Unrecht Angeklagten (den er schließlich auch rettet, ohne den wahren Täter ermitteln zu können, so viel ausbleibender Durchblick muss sein) – dann gibt es für diesen Prozess, in dem ein Wissensakteur seine eigene Ohnmacht (Nicht-Wissen, Zweifel, Selbstkritik) kultiviert, in Boomerang zwei starke Bilder. Da ist einmal das Close-up der vermeintlichen Tatwaffe, die der Staatsanwalt auf seinen Hinterkopf abfeuern lässt (die Waffe klemmt, wie von ihm erwartet) – und da ist die Halbtotale im Inneren eines billigen Diners, in dem der Staatsanwalt, Rücken zur Kamera, vor einer von Kochdunst beschlagenen Auslagenfensterscheibe steht. Die Fast-Intransparenz der Glasfassade soll verdeutlichen, dass eine Zeugin sich ihrer Wahrnehmung durch die beschlagene Scheibe nicht sicher sein kann, und unversehens sieht die Scheibe so aus, als würde der Mann im Mantel vor einer Zeichnung eines himmelskörperübersäten Sternensystems stehen, mit der Dunstfläche als Milchstraße. Ein proto-kosmisches Korrespondenzbild zum proto-archäologischen in The Best Years of Our Lives: Das selbstgewisse Subjekt des Handelns im (archäologischen) Abgrund der historischen Zeit und im (kosmischen) Abgrund der Einbettung in ein Mehr, das über den Rahmen der zweckrationalen white middle class hinausgeht.7 7 Siegfried Kracauer übrigens nannte Kazans Boomerang wie auch Wylers Best Years of Our Lives 1948 als Beispiele für „slightly militant“ liberale „Movies
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Wie gesagt: Es soll hier nicht versucht werden, nach der Erörterung von Szenen aus vier „alten“ Filmklassikern nun noch rasch die restlichen Jahrzehnte der Kinogeschichte abzudecken (mit Dunst quasi). Stattdessen nur die streiflichtartige Montage bisheriger Scheibenbeschlags-Motive anhand zweier eher rezenter Filme. Im Raum stehen die Antizipation wie auch die Erinnerung moderner Ereignisse („modernist events“ im Sinne Hayden Whites) mit Massentodesfolge (Hitchcock, Wyler); die Selbsterfahrung eines Repräsentanten von Männlichkeit, Durchblicks-Wissen und Staatsmacht als ohnmächtig (Wyler, Kazan) bzw. das Herausfallen einer jungen Frau aus dem sozialen Konsensregime (Hitchcock, Clayton) sowie eine Art Vorgeschichte sexualisierter Pop-als-Konsumkultur (Clayton). Nehmen wir diesen kleinen Motivbestand kurz mit auf James Camerons Titanic (USA 1997), den kommerziell dritterfolgreichsten Film aller Zeiten. Ich beziehe mich auf die Sequenz unmittelbar vor Sichtung des Eisbergs. In einer dem Beweisen verpflichteten Weise, die als Weiterführung der Handschrift als existenzbezeugender Index der Mrs. Froy auf dem dunstigen Zugfenster und der gerichtlichen Beweisfunktion einer beschlagenen Scheibe in Boomerang gelesen werden könnte (wenn wir dem Dunst so viel an Sinn und eigendynamischer Beschlagenheit zugestehen wollen), verdichtet Camerons Filmerzählung und Inszenierung hier Bilder rund um Atmung und Hände. Was natürlich ist, ist stets Sache von Evidenz-Einrichtung unter Beweisdruck. James Cameron will mit Titanic den Beweis erbringen, dass Körper ostentativ lebendig sind und moderne Geschichte ganz dem sich regenerierenden Leben gehört. Unter Beweisdruck gestellt, wird der Teenie-Sex von Jack und Rose (Leonardo DiCaprio und Kate Winslet) auf dem Autorücksitz im Laderaum unter Deck zum Produktionsort von Wahrheit; diese Wahrheit zeigt sich im nachgerade Bazin’schen Scheiben-Hand-Abdruck (vergleichbar der Rede vom Film-Bild als „Schweißtuch der Veronica“), in der vera iconica orgastisch hingegebener Jungfräulichkeit. Rose’ erstes Mal – und sogleich hat Jack einen ultimativen Männlichkeitsbeweis erbracht, im
with a Message“, die allerdings von vornherein darauf verzichteten, eine starke, überzeugungskräftige demokratische Sicht der Dinge anzubieten, und sich stattdessen in Motive der Selbstabschwächung, etwa anhand melancholischer, weltmüder Handlungsträger – „the weary progressive“ –, flüchten (vgl. Kracauer 2012). Allerdings würdigt Kracauer noch 1960 in seiner Theory of Film die Verquickung von Kriminaldrama und Sozialdokumentarismus in Kazans Film und hält lapidar fest: „Boomerang is good cinema.“ (Kracauer 1960, S. 259)
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Die Scheibe und ihre Beschlagenheit
Erzeugen eines weiblichen Orgasmus, den die Hand der jungen Frau, mit gespreizten Fingern ekstatisch aus der Saunalandschaft des Wagen-Fonds heraus ans Innere des Autofensters geschlagen, offenkundig bezeugen soll. Future parents transpirieren in Semi-Transparenz. Von Rose’ Hand bleibt ein Abdruck auf der Scheibe. A rose is a rose is a hand. Ein schlagender Beweis. Der Wagen ist beschlagen; mit dem aus passionierten jungen Leibern aufsteigenden Dampf drinnen kontrastiert der kalte Hauch von klamm aneinandergeriebenen Händen draußen auf dem Deck des Dampfers. Vitalität wird in dieser implizit völkischen – ein organisches Volk (und inauthentische Kontrast-Populationen) beschwörenden – Motivkonstellation gefasst als eine Art Vollblut-Wärme der auf adäquate Weise Lebendigen – zumal des jungen Paares, das spätere Jugend-Genusskulturen, vom Sex im Auto(kino) bis zum Barfuß-Tanz beim Irish Rave, im Jahr 1912 vorwegnimmt, in das die Zeitmaschine Titanic sie rückprojiziert hat –, dies im Gegensatz zur Kälte, betont durch Hauch und Hände, der „Plutokratisch“-Unechten, bürokratisch Erstarrten und Geschminkten. Denken wir an die heuchlerische Finanzaristokratie, die britisch-steifen Sittenverwalter*innen und die leicht „tuntige“ Erscheinung von Rose’ lieblosem finanzmagnatischem Ehemann, sie alle schon Eis-Leichen, noch bevor sie als solche enden (ausführlicher zu all dem: Palm/Robnik 1999). Um Natur zu behaupten, tritt hier schließlich auch ein homophober Matrosenwitz an: Die – zu späte – Antizipation der eisigen Kollision, die alle Regeneration bedroht, wird verknüpft mit zwei anonymen Matrosen als Todesboten, die oben in ihrem kalten Ausguck warme Witze reißen: Ob es, um sich warm zu halten, nötig sei, dass sie einander küssen, so wie die von ihnen beobachteten Rose und Jack es gerade unter ihnen auf Deck tun – nein, bitte lieber doch nicht. Kaum aber haben die Matrosen sich, wie alle nur Schein-Lebendigen die Kälte ihres Hauchs und ihrer Hände zur Schau stellend, darauf geeinigt, sich einander doch nicht zu nähern, sieht einer von ihnen mit entgeistertem Blick den Eisberg und ruft seinem nautischen Kollegen neben ihm im Krähennest durch die vor Aufregung verbissenen Zähne zu: „Fuck – me!!!“8 Kommen wir, zum Glück nun nicht länger besorgt um Beweise für Gender-Identität und heterosexuelle Ordnungsgemäßheit, mit den Zu-
8 Laut Drehbuch und DVD-Untertiteln ruft er – anders als im Ton der Szene, aber bedeutungsgleich, mit noch stärkerem Akzent auf einem alten homophoben Slur für „Arschficker“ – die Aufforderung „Bugger me!“. In der deutschsprachigen Synchronfassung ruft er lapidar „Verfluchter Mist!“.
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Drehli Robnik
rückgekommenen, mit Les revenants, zum Ende. Und zwar mit der Hand, die über den Dunst auf einer Scheibe wischt, in der das Gesicht einer Frau im Zustand einer Zerrissenheit, einer Spaltung sichtbar wird: Das gilt für die einschlägige Einstellung am Ende des Films Les revenants (Robin Campillo, F 2004), der leider ohne deutschsprachigen Verleih geblieben ist, und am Beginn der gleichnamigen französischen Fernsehserie von 2012 und 2015 (erste und zweite Staffel), die von einigen Basis-Sujets des Films abgeleitet ist.9 Genau genommen ist es die allerletzte Einstellung des Films und die letzte Einstellung in der Montage, aus der die Signation der (ersten Staffel der) Fernsehserie besteht. Beide Einstellungen zeigen Ähnliches. Les revenants handelt, darin stimmen Film und Serie überein, von sozialen, psychologischen, moralischen, auch erotischen Problemen, die sich ergeben, als in einer properen französischen Alpen-Kleinstadt zahlreiche jüngst Verstorbene einfach so ins Leben zurückkehren, leicht verwirrt, aber sonst wie wir, und allmählich ihre vertrauten Plätze in ihren bisherigen Leben wieder einnehmen (ausführlicher: Robnik 2015, S. 55–58). Eine Untoten-Story also: in der Serie eher als Mystery-Melodram mit retroaktiven Rückblenden in einem volatilen, vorwiegend jungen Figurenensemble (zu einem Rock-Score von Mogwai) angelegt, im Film als fast schon obszön leise, langsame und sonnenlichtdurchflutete, melancholische Studie von Verhaltensformen und Macht-Wissens-Techniken in einem sorgfältig gemanagten Ausnahmezustand, eine Art von Zusammentreffen von George A. Romeros taumelnden (Klein-)Massen mit Michel Foucaults Gouvernementalitäts- und Biopolitik-Kritik im Rhythmus eines John-Carpenter-Thrillers. Mit beschlagenen Badezimmer-Glasscheiben in Filmen mit Untoten und in anderen (im weiten Sinn) Horrorfilmen ist das so eine Sache. Der Blick der Heldin (viel seltener: des Helden) in den Badezimmerspiegel ist ein – um bei Haus-Infrastruktur-Metaphern zu bleiben – zum Treppenwitz geratener Topos der Inszenierung von Antizipation und Überraschung bis hin zum Schock, auch dann, vielleicht gerade dann, wenn sich ein rezeptionsseitiges Bescheid-Wissen im Sinne von „Das hab ich tausendmal gesehen, ich weiß schon, was jetzt kommt!“ in den Ablauf mengt. Solche Ansprüche von Publikumsgruppen auf ihr Beschlagen-Sein arbeiten Badezimmerspiegel-Szenen immer öfter auch in ihre versetzten, 9 Der Film ist auch unter dem Titel They Came Back geläufig, die Serie unter The Returned.
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Die Scheibe und ihre Beschlagenheit
ins Unerwartete umgelenkten Abläufe ein, im Sinne der Ansage: „Wir kriegen – und schrecken – dich trotzdem!“ Umso markanter ist es, dass der Film Les revenants mit dem unverwandten Blick der Heldin in den Badezimmerspiegel endet, ganz ohne dass irgendetwas anderes zurückkommt, irgendwelche Fratzen erscheinen, Spiegel zerspringen, Messermörder von hinten herankommen etc. Sondern: Am Morgen, nachdem die Polizei mit den für den Kleinstadtnormalablauf zunehmend beschwerlichen, lästigen, als erratisch und als Bedrohung empfundenen „Zurückgekehrten“ aufgeräumt hat, nachdem die Leute, mit denen eine Zeit gelebt wurde, nun doch der Sonderbehandlung zugeführt und auf den Friedhof transportiert werden, wo sie auf ihre vormaligen Grabsteine gelegt werden und (ein wunderbar schlichter, unerklärt bleibender Fantasy-Moment) per Überblendung einfach verschwinden, nach dem Anblick leerer, sauberer Grabsteine und des leeren, sauberen Besprechungssaals mit Konferenztisch, an dem der Gemeinderat all seine zunehmend diskriminierenden administrativen Maßnahmen gegenüber den revenants diskutiert und verfügt hat – am Morgen danach kommt eine junge Gemeinderätin, die zu ihrem „zurückgekehrten“ Mann trotz beiderseitigem Bemühen keinen stabilen Zugang mehr gefunden hat, schlaff und müde nach Hause und schaut in den Badezimmerspiegel. Der Spiegel ist beschlagen; sie legt durch sanft wischende Handbewegungen – die Geste der Reinigungs-Hausarbeit, hier verbunden mit skeptischer Selbstvergewisserung – nach und nach ihr von Dunst umrahmtes Gesicht frei. So endet der Film Les revenants, danach Schwarzfilm und Abspann. Am Ende der Serien-Signation verhält es sich etwas anders: Da sehen wir zwei Sekunden lang eine der rothaarigen jungen Schwestern, die „zurückgekehrte“, durch eine beschlagene Scheibe im Inneren eines Hauses, bis ihre „normale“ Schwester von hinten hinzukommt, mit den Fingern über den Dunst wischt und mit dieser Geste sich und die andere junge Frau aus dem Bild zieht, sodass am Ende jeder Signation bloß die gerahmte, beschlagene Scheibe mit Hand- und Fingerabdruck zurückbleibt. Allerdings ohne Beweisfunktion – in beiden Fällen: Auch das Gesicht im Badezimmerspiegel stiftet kein Wissen, rahmt keine definierbare Erkenntnis. Auch wenn wir vielleicht nicht mit Foucaults nominalistisch-konstruktivistischem Pathos quasi aus der Schlusseinstellung der Ordnung der Dinge wetten wollen, dass „der Mensch“ (vielmehr: das westlich-weiße* Wohlstands- und Security-Subjekt) sich abzeichnet und
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verschwindet wie ein Gesicht (ein Handabdruck) im Dunst10 – diese offenen, nach Innen irritierenden Enden, diese Film- bzw. Vorspann-Enden im Zeichen der Prekarität von Lebendigkeits-Zuweisungen und Zusammenlebens-Definitionen, von Grenzziehungen und Berechtigungen, diese Erfahrung von Kontingenz im Angesicht der Scheibe und ihrer Beschlagenheit und im Sinn als Dunst sind ein guter Moment, um nun tatsächlich zum Ende zu kommen.
10 „[…] dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ (Foucault 1974, S. 462)
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Die Scheibe und ihre Beschlagenheit Literatur Bazin 2004a Bazin, André: Theater und Film, in: ders.: Was ist Film? Berlin: Alexander Verlag 2004, S. 162–216. Bazin 2004b Bazin, André: Ontologie des photographischen Bildes, in: ders.: Was ist Film? Berlin: Alexander Verlag 2004, S. 33–42. Deleuze 1989 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989. Deleuze 1991 Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Deleuze 1993 Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993. Foucault 1974 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974. Horkheimer/Adorno 1969 Horkheimer, Max; Theodor W. Adorno: Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug, in: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969, S. 128–176. Kracauer 1960 Kracauer, Siegfried: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality, Princeton/ New Jersey: Oxford University Press 1960. Kracauer 1990 Kracauer, Siegfried: Ginster. Von ihm selbst geschrieben, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990. Kracauer 2012 Kracauer, Siegfried: Those Movies with a Message, in: Johannes von Moltke; Kristy Rawson (Hg.): Siegfried Kracauer’s American Writings, Berkeley u. a.: University of California Press 2012. Marchart 2010 Marchart, Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin: Suhrkamp 2010.
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Marchart 2013 Marchart, Oliver: Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin: Suhrkamp 2013. Palm/Robnik 1999 Palm, Michael; Drehli Robnik: Leben auf der Titanic. Version 1.0 eines Kompendiums, in: Nach dem Film, Nr. 1, 1999 (Themenheft: Das Kino bebt. Katastrophenfilm), http://www.nachdemfilm.de/content/ leben-auf-der-titanic (Stand: 30.5.2016). Robnik 2013 Robnik, Drehli: Side by side als wirkliche Gegner: Zu politischen Einsätzen im FilmDenken von Kracauers History, in: Drehli Robnik et al. (Hg.): Film als Loch in der Wand. Kino und Geschichte bei Siegfried Kracauer, Wien/Berlin: Turia + Kant 2013, S. 160–182. Robnik 2015 Robnik, Drehli: Kontrollhorrorkino: Gegenwartsfilme zum prekären Regieren, Wien/ Berlin 2015. Robnik et al. 2013 Robnik, Drehli; Amàlia Kerekes; Katalin Teller (Hg.): Film als Loch in der Wand. Kino und Geschichte bei Siegfried Kracauer, Wien/Berlin: Turia + Kant 2013. Schlüpmann 2007 Schlüpmann, Heide: Ungeheure Einbildungskraft. Die dunkle Moralität des Kinos, Frankfurt a. M./Basel: Stroemfeld 2007. Schlüpmann 2012 Schlüpmann, Heide: Berührtwerden vom anderen Leben. Der Blick ins Dunkle, unveröffentl. Vortrag im Rahmen der Reihe Leben und Kino im Österreichischen Filmmuseum, Wien, Oktober 2012.
Filmografie Boomerang (Elia Kazan, USA 1947). Les revenants (Robin Campillo, F 2004; engl.: They Came Back).
Drehli Robnik Les revenants (TV-Serie, F 2012/2015; engl.: The Returned). The Best Years of Our Lives (William Wyler, USA 1946; dt.: Die besten Jahre unseres Lebens). The Innocents (Jack Clayton, GB 1959; dt.: Schloss des Schreckens). The Lady Vanishes (Alfred Hitchcock, GB 1938; dt.: Eine Dame verschwindet). Titanic (James Cameron, USA 1997).
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Susanne von Falkenhausen NetznomadInnen at home: Die Räume von Trecartin/Fitch
I 2014 hatte ein KünstlerInnenpaar, das meiner prä-digitalen Generation noch kaum aufgefallen war, eine große Einzelausstellung mit dem Titel „Site Visit“ in den Kunstwerken Berlin: Ryan Trecartin, Jahrgang 1981, seit einigen Jahren der Star der Post-Internet-Kunstszene, und die gleichaltrige Lizzie Fitch, deren Starruhm, wenig verwunderlich, bei Weitem nicht so ausgeprägt ist. Ihre Arbeiten sind der Anlass für die vorliegende Fallstudie zur Frage: Was machen NetznomadInnen mit dem Raum? Was bedeutet er für sie? Ich gehe davon aus, dass Kunst von NetznomadInnen einen privilegierten Zugang zu dieser Frage ermöglicht, insofern sie die Problematik verdichtet – und das tun die Arbeiten von Trecartin/ Fitch auf jeden Fall. Und als Kunst dürfen wir sie auch ansprechen; das MoMA PS1 (New York), das Museum of Contemporary Art (MOCA) in Los Angeles und andere Kunstinstitutionen haben Einzelausstellungen veranstaltet. Zu ihrer Ausstellung „Any Ever“ 2012 im Musée de l’Art Moderne de la Ville de Paris gibt es ein eindrückliches Video des E-Journals ParisLike, welches die Filme ebenso wie ihr „Habitat“, den Raum für die BetrachterInnen, zeigt.1 Fitch ist Bildhauerin und für die Räume – Filmsets wie Ausstellungsräume – und ihre Ausstattung zuständig, während Trecartin eine Gruppe junger Leute, Fitch und sich selbst eingeschlossen, dabei filmt, wie sie nach seinem Drehbuch und unter seiner Regie wild, queer und gefährlich sind, und das Ganze hochkomplex zusammenschneidet mit vorgefundenem Material aus dem Internet.
1 Alessandro Mercuri, Haijun Park: Ryan Trecartin, Lizzie Fitch: Any Ever, Musée de l’Art Moderne de la Ville de Paris, Video (12’30’’), ParisLike, Nr. 2, 2012, https://vimeo.com/42429673 (Stand: 2.3.2017).
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NetznomadInnen at home
Die junge netzaffine Kunstszene ist begeistert, sieht sich porträtiert. Jeffrey Deitch, Direktor des MOCA in Los Angeles, hatte bereits 2013 eine große Installation der beiden („B-Settings“) für das Museum gekauft. Trecartin wurde als ein Künstler beschrieben, „who mines the visual excesses and verbal tics of teenagers in the ADHD age of instant messaging“.2 Kurator und Kritiker Massimiliano Gioni fühlte sich angesichts von Tempo und Komplexität der Filme plötzlich alt: „Sein Einsatz von Farbe, Sprache und Schnitt wirkt wie James Joyce’ Finnegan’s Wake auf Twitter. Ich verstand, dass hier eine völlig neue Generation ankam, mit einer radikal neuen Ästhetik.“3 Die Filme, rasend schnell geschnitten, sind auch auf Youtube zu sehen. Die Figuren dagegen sind FreundInnen aus Trecartins „community of collaborators, living and working with him in a Los Feliz McMansion that looks like an abandoned swinger’s club, fuses elements of Warhol’s Factory, the Wooster Group, and MTV’s The Real World“.4 Im Film hat er die FreundInnen aus dieser Art post-occupational Community – sich selbst und Fitch inbegriffen – gleichsam überzogen mit Ganzkörperschichten von Farben und Zubehör, die er der Anzeigenwelt des Internet entnimmt. Über sein Vorgehen gibt eine Art Rezeptbuch Auskunft, man könnte es auch altmodisch kunsthistorisch als Musterbuch bezeichnen. Zu finden ist es auf der Website des DIS Magazine, steht also der Netzöffentlichkeit zur Verfügung und soll wohl zum Nachmachen anregen (Abb. 1).5 Exklusivität ist hier also kein Kunstkriterium, es wird „geshared“. Frei nach Andy Warhol könnte man von Do-It-Yourself-Art sprechen. Die von mir hier gesampelte Auswahl von Screenshots aus dem Online-Musterbuch kann nur ein blasses Bild geben von der Beziehung zwischen der Bild- und Logo-Zirkulation im Netz und den Ideen des Künstlers sowie den Verknüpfungen, die Trecartin ins Werk setzt. Von unreflektierter Zufallsgenerierung kann, wenn frau sich in Trecartins Kommentare auf der Website vertieft, keine Rede sein, auch wenn das
2 Jori Finkel: MOCA acquires massive Ryan Trecartin video installation, in: LA Times, 25.4.2013. Zit. n. Kolja Reichert: Eine Vorahnung auf die Welt nach dem Menschen, 3 in: Die Welt, 19.3.2014. 4 Jeffrey Deitch im Katalog zu Trecartin-Ausstellung Any Ever, 2010, MOCA, Pacific Design Center, zit. n.: Finkel, wie Anm. 2. 5 Vorgeführt und sehr gut zu sehen auf: http://dismagazine.com/dysmorphia/ 9844/ryan-trecartin-w-magazin e/ (Stand: 9.6.2016).
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1 Screenshots aus: http://dismagazine.com/dysmorphia/9844/ ryan-trecartin-w-magazine/
Resultat danach aussehen sollte. Welch hohes Niveau diese Arbeiten auf dem Feld der Network-Kunst erreicht haben, lässt sich im Übrigen leicht herausfinden, wenn frau die Youtube-Filme von NachahmerInnen vergleicht. Dies gilt für Konzepte, Bildfantasien und formale Komplexität wie für das Niveau der technischen Umsetzung. Auf der Website des DIS Magazine kann frau unter dem schönen Titel „Ryan Trecartin | Animation Companion“ das Ergebnis dieser frenetischen Copy-and-Paste-Arbeit6 des Künstlers für die Ausstaffierung der FreundInnen/Figuren in den Videos besichtigen (Abb. 2). Trecartin selbst erzählt, dass „editing“ seine absolute Lieblingsbeschäftigung sei,7 mit der er die unerschöpflichen Weidegründe des Internet abgrast. Größten Einfluss auf die Ergebnisse haben zudem die Software-Editing-Programme, die in einem nicht enden wollenden Fluss immer neuer Entwicklungen auch immer neue Film-Effekte ermöglichen. Hier tut sich eine ideale Spielwiese für einen Künstler jener Generation auf, von der Trecartin sagt, dass sie länger als frühere Generationen im Stadium der
6 http://dismagazine.com/dystopia/61220/ryan-trecartin-animation-companion/ (Stand: 9.6.2016). https://www.youtube.com/watch?v=XJeMKUl6xI4 (Stand: 9.6.2016). 7
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2 Ashland, Screenshot aus: http:// dismagazine.com/dysmorphia/ 9844/ryan-trecartin-w-magazine/
3, 4 Beispiele: links Paul McCarthy: Snowwhite, 2013, rechts Mike Kelley: More Lovehours than can ever be repaid and the wages of sin, 1987
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Kindlichkeit verharre. Er sieht dieses Verharren als Quelle einer Kreativität, der gegenüber das Erwachsensein offenbar eher als Bremse empfunden wird.8 Eine fremde Welt für jemanden meiner Generation, aber auch für Nicht-US-AmerikanerInnen, welche die Insider-Jokes, die Konsum- und Medienkultur, mit der die KünstlerInnen und ihre Personae aufgewachsen sind, nicht teilen. Diese Kunst hat eine doppelgesichtige Genese: Mit Internet und vor allem Youtube entsteht zwar eine globale Zirkulation, aber gleichzeitig hat diese Kunst eine eindeutig zuzuordnende regionale Kulturzugehörigkeit: die USA, genauer Kalifornien, wo es schon immer künstlerisch etwas bunter zugeht als an der Ostküste. Das teilt diese Kunst im Übrigen mit zwei Künstlern, die mir als mögliche Vorläufer einfallen: Paul McCarthy und Mike Kelley, beide exzentrische Aufarbeiter von Westcoast-bourgoisen Kindheits-Neurosen (Abb. 3 und 4).
II Hier soll es aber insbesondere um jenen Aspekt gehen, der sich möglicherweise mit dem Forschungsgebiet von Irene Nierhaus trifft: um das Wohnen, das Räumen und um Innenräume. Die Videos haben eine Behausung, in der sich die ZuschauerInnen niederlassen können. Diese Behausung nimmt unterschiedliche Charaktere an: Lounge, Jugendzimmer, Partykeller, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Zelt, Home-Office, Flugzeugkabine, alles zugleich oder teilweise zusammenmontiert zu mehr oder weniger absurden Kombinationen. Zuerst jedoch ein paar Beispiele zu den Schauplätzen in den Filmen; zumeist evozieren sie bürgerliches Vorstadtwohnen aus pubertärer Perspektive. Da wären das Kleinmädchenzimmer (Abb. 5), das Kinderzimmer (Abb. 6), ähnlich eng eine Flugzeugpassagierkabine, hier kombiniert mit einer Art Home-Office-Konferenz-Esszimmer für die ZuschauerInnen (Abb. 7), ein aufgemischtes Schlafzimmer (Abb. 8) und noch einmal die Flugzeugkabine (Abb. 9). Drei weitere Beispiele zeigen, wie die Zuschauerräume organisiert sind – als Partykeller (Abb. 10), Zelt/Lounge (Abb. 11) oder Wohnzimmer (Abb. 12). 8 Vgl. sein Interview: http://www.spiegel.de/video/us-videokuenstler-ryan-trecartin-im-interview-video-1522371.html (Stand: 9.6.2016).
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5 l.o.: The Re´Search (Re´Search Waits), 2009–10 6 Mitte: Sibling Topics (section a), 2009 7 r.o.: Equal Plaza, 2011, PS1, built around K-CorealNC.K (section a), 2009 8 l.u.: I-Be-Area, 2007 9 r. u.: K-CorealNC.K (section a), 2009
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10 l. o.: Priority Innfield (Pole), Biennale Venezia 2013, One of 5 freestanding sculptural theatres, exhibiting Item Falls 11 r. o.: Ledge, Unique sculptural Theatre, 2014 12 unten: Available Sync, 2011
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In den Kunstwerken Berlin bei „Site Visit“ von 2014 konnten sich die ZuschauerInnen im Halbdunkel zu diversen Liegemöbeln vortasten und in diese hineinsinken, ringsherum und von oben umzingelt von Screens, auf denen in rasend schnellem Rhythmus und mit großer Lautstärke Dinge auf mehreren Ebenen geschahen, eingebettet in eine Ästhetik, die an die psychedelischen Zeiten der 1970er erinnerte (Abb. 13 und 14). Beschreiben lässt sich, was auf den Screens in den Kunstwerken Berlin zu sehen war, kaum adäquat. Eine Schar von jungen Personae in sehr schrillen, zombiehaften und metrosexuellen Aufmachungen tobt durch verlassene Innenräume, die jedoch die Ausstattungen ehemals bewohnter Räume wie Teppichboden, Vorhänge usw. aufweisen, schlägt dort Zelte auf, kokelt, zerschlägt, trinkt, drängt vor die Kamera, brabbelt Unverständliches, posiert. Dieser fast schon erzählerischen Ebene sind einzelne Elemente übermontiert, die aus dem Netz geholt und freigestellt wurden und nun auf der filmischen Oberfläche ohne Bezug zum Geschehen herumschweben. Und davor und darunter die ZuschauerInnen, zurückgelehnt in den Campingsesseln. Der Lärm ist enorm, der visuelle Beschuss auch. Da sind Campingsessel ein gutes Mittel, die Widerstandsfähigkeit der ZuschauerInnen durch Entspannung zu fördern – ein bisschen wie in einem Schwebebad, nur umgekehrt. Die schwerelose Immersion gilt hier nicht der Stille, sondern der systematischen kognitiven und sinnlichen Überforderung. Als nächste Rauminszenierung schlage ich Fitch/Trecartin deshalb ein Ambiente aus dem Wellness-Float-Sektor vor, entnommen aus dem Internet (Abb. 15 und 16). Die ZuschauerInnen machen es sich in funktional und symbolisch hybriden Räumen bequem; es sind immer hermetisch abgeschlossene Innenräume, wie es sich fürs Filme-Gucken gehört. Aber sie passen eben auch zu dem, was in meinen Augen und dem meiner GenerationsgenossInnen zum Ambiente passt, in dem die Digital Natives aufwachsen: Jugendliche sitzen im Dunkeln vor ihren Rechnern und tun etwas, das sie „kommunizieren“ nennen. Allein schon dieser Begriff von Kommunikation ist geeignet, prädigital sozialisierte Menschen zu verstören. Und so meinte eine – vermutlich prädigital sozialisierte – Frau aus dem Publikum während eines Gesprächs zwischen Trecartin und dem Tumblr-Gründer David Karp: „You keep talking about this is more human, it’s connecting folks, it’s a lot of fun, but it’s all like in front of the computer … where is the interaction?“ Darauf antwortete Trecartin, er sitze meist mit vier
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13, 14 Site Visit, KW Berlin 2014 15, 16 Zwei Screenshots von Float Berlin
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17, 18 Ledge 22 – 2014, legde 24 – 2014
Leuten vor dem Rechner!9 Auch mir fällt es schwer, die Produktionsformen der netzaffinen Kunst und die dahinterstehenden Lebensformen nachzuvollziehen. Aber vielleicht geben darüber ja die Räume Auskunft, die Fitch und Trecartin für ihre Filme und für deren ZuschauerInnen gebaut haben. Die Filme von Trecartin und Fitch können bei Vimeo und Youtube angeschaut werden. Beim Transfer von Fitchs/Trecartins Arbeiten ins Museum, in den Ausstellungsraum, wird die Frage nach der Einbeziehung der ZuschauerInnen interessant, von denen viele prosumer, d.h. gleichzeitig producer, z.B. von Youtube-Clips, und consumer im Netz sind. Welche Art von Suggestion ergibt sich aus diesen Räumen? In welchem Verhältnis stehen die Filmräume zu den Zuschauerräumen? Oft sind die Zuschauerräume klaustrophobisch eng, aber kuschelig, in Anspielung auf kindlich-heimische Rückzugsorte: ein Matratzenlager
9 Rhizome: Ryan Trecartin and David Karp, Reihe: Seven on Seven 2010, 2.6.2010, Video, 20’15 min., https://vimeo.com/12239333, hier: 17:57–18:17 (Stand: 9.6.2016).
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19 Range Week, 2014, built around Junior War, 2013 20 Living Comp, 2011, built around The Re´Search (Re´Search Waits), 2009–10, Installation view PS1, 2011 21 Common Shore, 2011, built around The Re´Search (Re´Search Waits), 2009–10
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22 P-opular S.ky (section ish), 2009 23 Public Crop, 2011, built around P-opular S.ky (section ish), 2009
mit Schlafsack, ausrangierte Kinositze – das Über-Kopf-Video, das eine liegende Betrachterposition praktisch erzwingt, weist den Blick hinein ins Geschehen oder hinaus in den Himmel (Abb. 17 und 18): Eine Mischform zwischen Sauna-Fitnesskeller und Lounge (Abb. 19) oder ein Schlafzimmer mit buchstäblich unheimlich vielen Gittern führen die wohlgemeinten Mittelstandsgefängnisse weißer Suburb-Pubertät vor Augen (Abb. 20). Eine Stockbetten-Lounge zeigt das durch die Inszenierung des Zuschauerraums induzierte Zuschauerverhalten: Sie lümmeln und unterhalten sich – die bereits erwähnte Aufmerksamkeitsdispersion (Abb. 21). Die Filmräume dagegen sehen anders aus. Destroy, they said! Der Vorstadtvillen-Pool wird auseinandergenommen (Abb. 22). Der Zuschauerraum dazu zeigt Wohnzimmerspießigkeit (Abb. 23).
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III Trecartins und Fitchs Einzug in die Kunstinstitutionen ist massiv: Die Ausstellungen umfassen oft mehrere dieser Räume mit jeweils mindestens einem Video. Für Netz-KünstlerInnen ist die Passage von den Internet-Plattformen, die zwar eine Netzöffentlichkeit, aber keine Real-Räume und -Objekte bieten, mit denen allein sich bisher Karriere als KünstlerIn machen ließ, in die Ausstellungsräume der Kunstinstitutionen ein großes, viel diskutiertes Problem. Trecartin und Fitch sind bereits seit 2007 in den Kunstinstitutionen aktiv. Für die KuratorInnen haben sie einen gewaltigen Neuheits- und Exotik-Wert. Sie sorgen nicht nur für die Sichtbarkeit der KünstlerInnen und ihrer Community außerhalb der Social Media, sondern auch für die der KuratorInnen in den Social Media. Dass heute sogar solch monumentale Formate marktfähig sind, spricht für die schnelle Anpassungsfähigkeit dieses Marktes, der jedoch zunehmend nur noch aus den SammlerInnen mit Privatmuseum und Museen mit reichen Trustees besteht. Was Fitch/Trecartin herstellen, sind tatsächlich Räume, nicht Installationen in Räumen. Sie nennen das sculptural theatre, manchmal entstehen mehrere unter einem Titel, manchmal eines: unique sculptural theatre. Die Räume haben gelegentlich eigene Titel, sie werden um eine Video-Arbeit herum gebaut. Trecartin/Fitch erobern gleichsam die Galerie, den White Cube, sie übernehmen ihn, besetzen ihn, schalten ihn mit ihren gebauten Räumen aus. Was im Film selbst gelegentlich sichtbar wird, nämlich dass es sich beim Zuschauerraum um ein gebautes Filmset handelt, dringt den MuseumsbesucherInnen nicht unbedingt ins Bewusstsein. Einmal drin, ist der Kunstraum für sie nicht mehr sichtbar. Und so wird der Zuschauerraum zum Teil des Erzählraums, erweitert das Assoziationspotenzial der Filme und saugt damit die ZuschauerInnen in das Filmgeschehen hinein, ohne jedoch jene Identifikationsfokussierung zu schaffen, die wir aus dem dunklen Kinoraum kennen. Hier spielt der Zuschauerraum mit und entgrenzt mithin den auf den Screen fokussierten Blick der ZuschauerInnen, zum Beispiel in Richtung der Mit-BetrachterInnen beim gemeinsamen Relaxen. Geht es dann wohl eher um Dispersion der Aufmerksamkeit als um Fokussierung? Schwer zu beantworten, denn immerhin sind die ZuschauerInnen mit hyperschnellen Schnitten, sehr bunten Farben, viel Bewegung und viel Sound konfrontiert – so viel, dass ein Rückzug in die
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Kuschelecke oder der Drink als Entzerrung der Sinnesbeanspruchung durchaus willkommen sein könnten. Angesichts des Livestyle-Faktors der Kultur, aus dem diese Filme sich nähren, nehme ich an, dass dies einkalkuliert wurde. Auch fordert die nichtlineare Erzählstruktur der Filme keine ungeteilte und ununterbrochene Aufmerksamkeit. Sie hat sich den Dynamiken der Youtube-Kultur mit den kurzen Clips angepasst, ja, ist aus ihr erwachsen. Trecartin spricht bei seinen Arbeiten auch von Youtube-Parodien.10 Trecartins/Fitchs Montage des Vertraut-unheimlich-kuschelig-eingesperrt-polymorph-pervers-Metrosexuellen im Film wie in den sculptural theatres ist so surreal wie treffsicher, zudem eine Art All-surround-Kunsterlebnis. Die BesucherInnen bleiben jedoch ZuschauerInnen, auch wenn sie beim Betrachten, sofern ein Sofa oder ein Matratzenlager zur Verfügung stehen, kuscheln können. Eigentlich müssten die Ausstellungsinstitutionen Bars installieren, damit frau sich noch einen Drink zum Kunstgenuss mitnehmen kann. Fitch und Trecartin bieten also im Museum so etwas wie pubertätsgerechte Wellness-Oasen an, die mitten im Getriebe der audiovisuellen Beschallung den Rückzug in die Intimität des Einzelnen, des Paares oder des Grüppchens ermöglichen. Gleichzeitig erhalten die ZuschauerInnen keine Chance, die hermetische Abgeschlossenheit dieser Räume vergessen zu können; so spiegeln die Zuschauerräume die filmischen Räume. Das gefährlich traute Heim von Vorstadt-Kindheit und Pubertät dient als Bühne, für die Gefilmten wie für die ZuschauerInnen. Allerdings bleibt die Slapstick-groteske Getriebenheit des filmischen Geschehens bei den ZuschauerInnen begrenzt auf das rein perzeptive Erleben; das Ausagieren pubertärer Traumata und Ausbruchsfantasien bleibt ein Privileg derer, die mitspielen dürfen.
IV Diese Arbeiten sind gut, wie ich finde, seit ich mich etwas eingesehen habe, weil sie Paradoxien aufmachen: globale Zirkulation und Kommunikation im engen, abgeschotteten Kinderzimmer; dem Rückzug in die Innenräume steht ihre Demontage gegenüber, die ZuschauerInnen wer10 http://www.spiegel.de/video/us-videokuenstler-ryan-trecartin-im-interview-video-1522371.html (Stand: 9.6.2016).
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den in ein Ko-Erlebnis gezwungen über die Inszenierung der Betrachterräume als verschobene „Zwillinge“ der Filmräume. Fitch/Trecartin und ihre Community erzählen von verstörender Kindheit und Pubertät, die daraus folgende Kreativität arbeitet mit der Ästhetik der Youtube-Produktion aus Kinderzimmer, Pool oder Partykeller, mit Slapstick-hafter Übertreibung jener Stereotypen, mit denen die Pubertäten dieser Digital Natives konfrontiert waren: prädigital sozialisierte Eltern und ihr Festhalten an präqueeren Identitäten von race und gender, die Konsumgewohnheiten von Eltern und Kindern auf der Schwelle von den mittlerweile verwaisten Shopping-Malls zum Internet. Die Kommunikation zieht sich ins Kinderzimmer vor den Rechner zurück, gleichzeitig reicht sie hinaus in die Social Networks. Dort erlebt frau Intimität anders: Die Augen, die dem Netz-prosumer aus dem Screen entgegenschauen, werden als affektiv reales Gegenüber empfunden. Das könnte im Übrigen auch ein in meiner Sicht seltsames Phänomen erklären: Das Internet wird offenbar als Realraum von Kommunalität und Teilen/Sharing erlebt. Dafür spricht, dass die Differenz zwischen der Medienvermitteltheit der Bilder und der Realität dem Anschein nach auch affektiv kaum noch erlebt wird. Imagination und Technologie verbünden sich. Schauen wir dafür kurz auf den Traum, den Karp, der Netzunternehmer, und Trecartin teilen. Trecartin und Karp sind nicht zufrieden mit der Art, wie die Medien bisher Communities ermöglichen: „There are some real shortcomings in the way we’ve been building communities around media“, heißt es einleitend in der ihr Gespräch begleitenden Präsentation (Abb. 24).11 Der Künstler und der Web-Unternehmer wollen eine Plattform entwickeln, auf der „content“ über ein Keyword in einem „random way“ über das Surfen nach Topics frei miteinander in kurzen Clips von der prosumer-Gemeinde verknüpft werden kann. Das soll im Dienste besserer Formen von Netz-Community entwickelt werden und eine Dynamik fördern, in der die Technologie zu einer „mythology of the moment’s singularity“ beiträgt.12 Damit sind wir wieder einmal bei der Überwindung der Schwelle zwischen Medium und Realität: Sie ist ein Begehren, das die Entwicklung der Social Media antreibt und Voraussetzung ihrer Kommerzialisierung ist. Die Begegnung
11 Rhizome: Ryan Trecartin and David Karp, Reihe: Seven on Seven 2010, 2.6.2010, Video, 20’15 min., https://vimeo.com/12239333, 00:52, (Stand: 9.6.2016). 12 Ebd.
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24 Seven on Seven, Podiumsgespräch David Karp und Ryan Trecartin 2010
des Blicks mit dem Blick aus dem Screen soll für die BetrachterInnen als realer Blickaustausch, als singulärer Moment von Intimität erlebbar sein. So wird dann auch die für meine Generation so schwer verständliche Erlebbarkeit von Sharing und Community über den Screen nachvollziehbar. Dagegen spricht allerdings wiederum, und auch das spricht für die Qualität der Ambiguität ihrer Arbeiten, dass Fitch/Trecartin ebendiese Hergestelltheit und die damit verbundenen Praktiken nie vergessen lassen. Sie stellen sie sogar in Struktur, Inszenierung und verhackstückter Erzählform extrem heraus und binden sie zurück an die spezifisch medial vermittelte Kultur ihrer Generation. Indem sie deren technische wie symbolische Repertoires, Eigenschaften und Kulturtechniken verdichten, zuspitzen und ad absurdum führen, produzieren sie offenbar unbegrenzte Kapazitäten zur selbstironischen Zerlegung von Identitäten. Diese wiederum basiert auf der Praxis von Tweens, Teens, Twens und inzwischen auch Thirty-Somethings, aus dem global zirkulierenden Symbolmobiliar des Internet und insbesondere von Youtube ununterbrochen neue Identitätsmontagen zu bauen und zirkulieren zu lassen. Damit werden einerseits die seit den 1990er Jahren festgefahrenen Strukturen der Identitätspolitiken von race, class und gender mit radikaler Unbekümmertheit
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zerlegt. Das neue Credo ist: „Personality is replacing gender!“13 Bei race habe ich da meine Zweifel, und bei class bin ich mir nicht so sicher, dazu sehen mir diese Erlebniswelten doch zu sehr nach Mittelklasse aus. Andererseits ist gerade diese Praxis auch getrieben von einem ebenfalls radikal ungebremsten Verlangen nach Dauerpräsenz auf dem Marktplatz der Netzzirkulation – ein Narzissmus als kulturelle Praxis, der sich befreit fühlt von den Gefängnissen sozial determinierter Identitäten. Dies gilt im Übrigen für die NetzkünstlerInnen wie für andere prosumer im Netz. So werden auch hier die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst so durchlässig wie die zwischen Kindheit und Erwachsensein. Es fragt sich allerdings erstens, ob dieses Modell post-jugendlicher Subkultur überhaupt als Subkultur zu verstehen ist, und zweitens, wie diese Kunst zu bewerten ist, wenn wir nach ihrem kritischen Potenzial fragen, Letzteres möglichst ohne Moralismen, wie die deutsche Debattenkultur sie so liebt. Die Diskussion über diese Fragen ist noch neu und erreichte mit der 9. Berlin Biennale 2016, die von der Gruppe DIS kuratiert wurde, nun auch die deutschen Feuilletons. Bisher scheiden sich diesbezüglich die Geister, und zwar soweit ich das aus Gesprächen erfahren konnte, zumeist an der Generationengrenze. Die Älteren lehnen die Kunst der Digital Natives meist als oberflächlich, unpolitisch und kommerziell ab, die Jungen hingegen stellen die Frage nach dem Politischen anders, nämlich gleichsam formatiert von den Umkehrungen, welche die digitale Welt hervorbringt: „das Virtuelle als das Wirkliche, Nationen als Marken, Menschen als Daten, Kultur als Kapital, Wellness als Politik, Glück als Bruttoinlandsprodukt“.14 Die Frage ist nur, ob die künstlerischen Resultate diese Paradoxien schlicht in einer Art „Realismus“ abbilden oder kritisch verdichten. Fitchs/Trecartins Praxis der grotesken, selbstironischen Überspitzung kann, wie ich meine, in diesem Spektrum durchaus als kritische Verdichtung gesehen werden.
13 Interview mit Ryan Trecartin, https://www.youtube.com/watch?v=XJeMKUl6xI4. 14 Aus dem Flyer zur 9. Berlin Biennale 2016, die unter dem Titel „The Present in Drag“ vom 4. Juni bis zum 18. September 2016 stattfand.
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Susanne von Falkenhausen Abbildungsnachweise
Abb. 21: Common Shore, 2011, built around The Re’Search (Re’Search Waits), 2009–10.
Abb. 1: Screenshots aus: http://dismagazine. com/dysmorphia/9844/ryan-trecartin-w-magazine/
Abb. 22: P-opular S.ky (section ish), 2009.
Abb. 2: Ashland, Screenshot aus: http://dismagazine.com/dysmorphia/9844/ryan-trecartin-w-magazine/
Abb. 23: Public Crop, 2011, built around P-opular S.ky (section ish), 2009. Abb. 24: Seven on Seven, Podiumsgespräch David Karp und Ryan Trecartin 2010. https:// vimeo.com/12239333 (9.6.2016).
Abb. 3, 4: links Paul McCarthy: Snowwhite, 2013, rechts Mike Kelley: More Lovehours than can ever be repaid and the wages of sin, 1987. Abb. 5: The Re’Search (Re’Search Waits), 2009–10. Abb. 6: Sibling Topics (section a), 2009. Abb. 7: Equal Plaza, 2011, PS1, built around K-CorealNC.K (section a), 2009. Abb. 8: I-Be-Area, 2007. Abb. 9: K-CorealNC.K (section a), 2009. Abb. 10: Priority Innfield (Pole), Biennale Venezia 2013, One of 5 freestanding sculptural theatres, exhibiting Item Falls. Abb. 11: Ledge, Unique sculptural Theatre, 2014. Abb. 12: Available Sync, 2011. Abb. 13, 14: Site Visit, KW Berlin 2014, zwei Ansichten. Abb. 15, 16: Zwei Screenshots von Float Berlin. http://www.durchdiestadt.de/touren/Berlin/ Gendarmenmarkt/float_berlin_mitte/#p=scene_sc5 (9.6.2016). Abb. 17, 18: Ledge 22 – 2014, ledge 24 – 2014. Abb. 19: Range Week, 2014, built around Junior War, 2013. Abb. 20: Living Comp, 2011, built around The Re’Search (Re’Search Waits), 2009–10, Installation view PS1, 2011.
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III Temporäre Aufenthalte UND GLOBALISIERTES HEIMISCHSEIN
Silke Wenk (Un-)Möglichen Wohnräumen entkommen? Mit der Kamera durch Katastrophen ins Universum. Eine Erzählung in Bildern
„Bringing the War Home“, „Der Krieg kommt ins Haus“, so lautete der Titel einer 1967–72 erstellten, 15 Fotomontagen umfassenden Arbeit der US-amerikanischen Künstlerin Martha Rosler, in der sie Bilder, die für „schönes Wohnen“ standen, mit Fotos aus dem Vietnamkrieg montierte. Was anlässlich dieses Krieges, der auch als „erster Fernsehkrieg“ bezeichnet worden ist, noch als Provokation erlebt werden konnte, dürfte heutzutage nur noch wenige ernsthaft schockieren. Bilder von Krieg und Gewalt lassen sich auch aus Wohnzimmern höchstens durch bewussten Verzicht fernhalten. Neben Fernsehen und Internet bieten schließlich auch Printmedien vielfältige Blicke auf Gewalt und Katastrophen unterschiedlicher Art. Man kann sie in bequemer Lage oder auch am Kaffeetisch rezipieren. Was tun solche Bilder mit uns an einem Ort wie dem Wohnzimmer oder anderen Räumen des (vermeintlichen) Rückzugs, wo man sich aufgehoben und sicher fühlen will? Diese Fragen drängten sich mir wieder einmal auf, als mir eine Ausgabe des amerikanischen Magazins Time in die Hände kam, die in einer Bilderfolge am Ende des Jahres 2013 nicht nur Bilder des Schreckens präsentierte, sondern auch Ausblicke in die Ferne des Universums – in einer Reihenfolge, die eine Erzählung ergibt. Sie schien mir lohnend rekonstruiert zu werden, als ein spezifisches Narrativ, in dem Räume, in denen man heimisch (gewesen) sein möchte, als nicht mehr sicher und auch nicht mehr unbedingt zentral erlebt werden können. Nicht so sehr die einzelnen Bilder, sondern ihre Zusammenstellung und Anordnung tangieren die Betrachter_innen und versprechen zugleich bei aller Beunruhigung auch Beruhigung und vermögen damit
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auf unterschiedliche Weise zu affizieren. Ich werde der Folge der Bilder nachgehen und ihrer Botschaft bzw. ihrer Bedeutung versuchen auf die Spur zu kommen.
(1) Ein Spektakel auf dem Meer, wie es sicherlich selten live zu beobachten ist: Eine Robbe ist einem Hai entwischt – zumindest in dem Moment, in dem das Foto geschossen wurde. Der Hai zeigt seine gefährlichen Zähne, sein Maul ist weit aufgerissen, er hat jedoch das deutlich kleinere Raubtier verpasst, es war offensichtlich schneller. Was uns auf dem Titelblatt (Abb. 1) des Time-Magazins im Dezember 20131 zu sehen gegeben wird, mag uns, die Betrachter_innen, staunen lassen; fast unvermeidlich und automatisch dürften wir eine Deutung, einen Text dazu im Kopf haben und uns vielleicht mit dem einen Tier freuen oder das andere bedauern. Vermutlich überwiegt die Freude über das Entkommen des kleineren Raubtieres, identifizieren wir uns doch wohl eher mit dem Schwächeren und können so zugleich mitfühlen von einer sicheren Position aus, die uns das Hochglanzfoto anbietet, das die Betrachter_innen zugleich hineinzieht und auf Distanz hält. Angesichts des angekündigten Heftschwerpunktes „The Year in Pictures“ mag man vielleicht auch rätseln, ob mit dem Titelblatt bereits metaphorisch auf das Jahr 2013 angespielt wird, auf ein Jahr voller Katastrophen, denen wir, in einer sicheren und wohl auch bequemen Position zu lesen in der Lage, entkommen sind. Im Einleitungstext zum Feature über das Jahr 2013 erläutern die Herausgeber_innen: „[…] we have curated the most striking pictures that defined this year: those that record great and terrible events, that discover new corners of the universe, that delighted or bemused or confounded us so much that we felt we just had to share them.“ (S. 19) Die Erfindung der Fotografie habe unsere Leben verändert, „our sense of 1 Time, Nr. 27, Jg. 182, 2013. Das Feature „The Year in Pictures“ befindet sich auf den Seiten 20–39. Die im Folgenden aufgeführten Seitenzahlen beziehen sich alle darauf. Laut Wikipedia lag die Auflage des in den USA wöchentlich erscheinenden Time-Magazins 2012 bei über 3 Millionen, die Zahl der Leser_innen soll bei 26 Millionen weltweit liegen, https://en.wikipedia.org/wiki/Time_ (magazine) (Stand: 6.7.2017).
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the world and our ability to explore it“; die Kamera lasse uns fühlen, dass wir überall zu jeder Zeit sein können. Das handliche Format des Magazins ermöglicht es, diese Erfahrung an jedem Ort nachzuvollziehen, sei es in einem öffentlichen Verkehrsmittel oder im privaten Wohnraum. Doch wohin führt uns diese imaginäre Reise? Ein erstes Durchblättern der Bilderserie zeigt, wir werden zum einen nicht verschont von Schreckensbildern, wie sie uns immer häufiger in unterschiedlichen Massenmedien zu sehen gegeben werden, wir werden zum anderen aber auch mit ebenso spektakulären Ausblicken in andere Räume jenseits der Erde versetzt. Die Anordnung der durchaus unterschiedliche oder gar gegensätzliche Emotionen mobilisierenden Bilder und Kommentare interessiert mich. Welche Botschaften vermitteln sie in ihrem Zusammenspiel? Wie wird auch schwer Erträgliches erträglich gemacht? Welche Angebote hält dieses Magazin bereit?
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(2) Das erste, zwei Seiten füllende Farbfoto (Abb. 2) gibt uns einen Einblick in ein Desaster, dessen Zeug_innen wir aus der Ferne wurden und das wir uns erneut vergegenwärtigen können, auf nahezu intime Weise. Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau in enger Umarmung. Er scheint sie hingebungsvoll festhalten zu wollen, während sie unter den Trümmern aus Beton und Bewehrung unserem Blick entzogen wird. Spätestens dann, wenn wir die Blutspur im Gesicht des Mannes entdecken, wird ersichtlich, dass es sich um eine letzte Umarmung handelt, „final embrace“ nennt es der Kommentar (S. 20). Dass es eine Umarmung war, ist keineswegs sicher, das Foto belegt nicht mehr und nicht weniger, als dass diese Haltung so gewesen ist – für einen Moment. Über den Kontext, in dem wir das Paar zu sehen bekommen, klärt uns der Textblock auf der linken unteren Seite auf. Wir werden verwiesen auf den Brand in der Textilfirma in Sarvar, Bangladesch – „the deadliest accidental structural failure in history“. Dieser Verweis bettet die Faszination, die die Szene haben mag, ein: die Faszination, das Wiedererkennen von Begehren wird zum Schrecken – die Fotografie fesselt. Sie verstört und hat doch auch etwas Besänftigendes. Die tonige, fast harmonische Farbigkeit, die das Erschreckende zusammenhält, lässt die Assoziation von Intimität aufkommen und zugleich Exotisches imaginieren. Der Blick wird gleichsam hineingezogen wie in einen Innenraum. Es fällt nicht leicht, den Blick von der stillgestellten Szene zu lassen. Dagegen hilft nur ein schroffes Abwenden des Blicks und weiterzublättern, was nicht zwangsläufig bedeutet, dass das Bild sich nicht einbrennt, um sich mit anderen Bildern im Kopf zu verbinden. Wir haben es längst schon gesehen, sprich nach bekannten Klassifizierungen eingeordnet: Die beiden Menschen auf dem Foto sind nicht weiß, wir schauen in eine ferne Welt, die zugleich nah erscheint. Der auf der rechten Seite in Versalien gedruckte Text gibt uns eine Deutung an die Hand und Halt, oder mit Roland Barthes gesagt, er fungiert als Relais. Der Fotograf spricht: Als er das Paar fand, habe er das Gefühl gehabt, dieses Paar zu kennen. „I felt like I knew them. Every time I look back to this photo, I feel uncomfortable. It haunts me. It’s as if they are saying, we are not a number, not only cheap labor and cheap lives. We are human beings like you.“ Eine Umarmung, die für Liebe stehen könnte, und Leiden bzw. Tod erinnern also an die Gleichheit aller Menschen? Die Ausführungen des
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Fotografen erinnern mich an die Kritik von Roland Barthes an der großen Ausstellung „Family of Man“, die Edward Steichen 1951 für das Museum of Modern Art konzipierte und die 1955 von New York aus startete. Die Wanderausstellung mit Fotografien von Menschen aus nahezu allen Teilen der Welt war von dem humanistischen Anliegen bestimmt, die globale Menschenfamilie zu sehen zu geben. Barthes übte in Mythen des Alltags heftige Kritik an einer spezifischen Naturalisierung durch die Ausstellung, zu der Fotografen aus vielen Teilen der Welt ihre Fotos beisteuerten (Barthes 2010, S. 226; vgl. auch Schmidt-Linsenhoff 2004). Morphologische Unterschiede zwischen Menschen würden ausgebreitet, und „dann destilliert man aus dieser Vielfalt auf magische Weise wieder eine Einheit: Der Mensch wird geboren, arbeitet, lacht [und ich könnte ergänzen: liebt] und stirbt überall auf die gleiche Weise.“ – „Müssen wir wirklich“, so fragt Barthes, „noch einmal sein Wesen [gemeint ist der Tod] besingen und dabei aus dem Blick verlieren, daß wir noch so viel gegen ihn tun könnten?“ (Barthes 2010, S. 228f.). Eine derartige Kritik bzw. Frage scheint nach wie vor aktuell – gerade auch angesichts der Schreckensbilder, die uns in den Printmedien und Jahr für Jahr auch über das „World Press Photo of the Year“ nahegebracht werden.
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Den spezifischen Naturalisierungen im Foto der „letzten Umarmung“ ist jedoch noch weiter auf die Spur zu kommen. Die spontane Deutung einer Liebesszene stellt sich ein, bestätigt über die Erinnerung an vor-gesehene, in unseren Köpfen gespeicherte Bilder. Mit dieser Lesart könnten wir allerdings auch falsch liegen, wurde doch dieser Anblick erst durch die Stillstellung von Bewegungen in dem fotografischen Ausschnitt möglich, nach dem Zusammenbruch des Fabrikgebäudes. Gleichwohl bleiben die Assoziation der Umarmung und die damit quasi automatisch – im tradierten Bilderrepertoire – verbundenen Bewertungen. Der Kunsthistorikerin kommen weitere Bilder in den Sinn. Darstellungen z.B. von Francesca da Rimini: der jungen Frau, die insbesondere durch Dantes Göttliche Komödie und als Thema der bildenden Kunst berühmt wurde. Dante erzählt von der des Ehebruchs bezichtigten und deswegen zusammen mit ihrem Geliebten ermordeten Frau, der er in der Hölle begegnet sei, in den Armen ihres Liebhabers ohne Ende durch die Lüfte schwebend. So wurde sie in der bildenden Kunst zu sehen gegeben, etwa bei den Präraffaeliten des 19. Jahrhunderts, aber auch im Nationalsozialismus, z. B. in einer Skulptur des NS-Staatsbildhauers Josef Thorak. Diese wurde 1943 in der „Großen Deutschen Kunstausstellung“ präsentiert, in einer Phase, in der sich zunehmend abzeichnete, dass die Nazis den Krieg nicht gewinnen konnten. Wie ich an anderer Stelle versucht habe zu zeigen, war in dieser Zeit aufgrund der verlorenen Schlacht von Stalingrad das Versprechen auf einen Sieg der Deutschen längst brüchig geworden. Willkommen war ein anderes Versprechen, nämlich auf ein imaginäres Weiterleben nach dem Tod – nicht als Schreckens-, sondern als Versöhnungsbild (vgl. Wenk 1990). Weitere Beispiele aus dem tradierten Bilderrepertoire wie auch weitere Erlösung verheißende Beschwörungen ließen sich sicherlich ergänzen. So dürfte einigen auch schon die Wendung aus Nietzsches gleichnamigem Gedicht „Doch alle Lust will Ewigkeit, – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ (Also sprach Zarathustra) in den Sinn gekommen sein. Es ist die spezifische Leistung der Fotografie, etwas als anwesend gewesen sein zu behaupten und es festzuhalten, zu fixieren, stillzustellen – gewissermaßen außerhalb der Zeit, entgegen allen Veränderungen; zugleich die Betrachter_innen hineinzuziehen und ihnen einen spezifischen Platz zuzuweisen. Wir sind als Zuschauende mit im Bild, insofern es ohne die Emotionen, die es aufruft, nicht funktionieren würde. Die verstörende und dadurch fesselnde Wirkung der Fotografie im Time-Magazin läge somit darin, dass sie Unerträgliches aushalten lässt und notwendig am-
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bivalent bleibt. Erhärten ließe sich diese These durch andere Beobachtungen, nämlich durch das, was nicht dargestellt, nicht gezeigt wird: z. B. Fotografien von zerstörten, zerstückelten Körpern der Textilarbeiter_innen, wie sie etwa im Internet zu finden sind, oder gar ein Verweis auf die „harten“ ökonomischen Fakten – oder unsere eigenen Konsumwünsche. Diese Zusammenhänge werden entnannt, im Blick auf das menschliche Wesen schlechthin, oder auch, wenn wir uns an das Titelfoto erinnern, auf den Kampf ums Dasein.
(3) Die Lektüre sollte jedoch nicht nur darauf aus sein, die „dahinter-“ oder „darunterliegenden“ Bilder aus dem kulturell bestimmten Bilderrepertoire aufzudecken, sie sollte auch das Medium bzw. das Format der Zeitschrift, das eine spezifische Betrachter_innenposition vorgibt, ernstnehmen. Blättern wir also um. So können wir die Narration aufdecken, durch die das Einzelbild einen weiteren Sinn bekommt. Bevor das nächste zwei Seiten füllende Foto folgt, werden wir mit neun kleinformatigen Fotos versorgt (S. 22f.), die uns an ein anderes Schreckensereignis in den USA selbst erinnern, das Attentat beim Marathonlauf in Boston. Doch die Perspektive, aus der dieses Ereignis zu sehen gegeben wird, ist eine andere als bei dem zuvor beschriebenen. Die Betrachter_innen werden nun zu Zeug_innen der Ergreifung des für den Schrecken verantwortlichen Täters. Die Folge der fotografischen Nahsichten lässt uns mitverfolgen, wie der Attentäter von Boston nach einer abenteuerlichen Jagd schließlich gefasst werden konnte. Die Opfer, die Verletzten oder die Helfer_innen werden uns kaum zu sehen gegeben, umso mehr werden wir zu Zeug_innen und fast zu Mittäter_innen der Verfolgung und Verhaftung. Der Verursacher der Katastrophe ist gefasst. Befriedigung über diesen Erfolg, festgehalten durch Fotos eines beteiligten Sergeants, dessen Perspektive wir als Leser_innen des Magazins teilen können, dürfte sich gerade auch nach dem ersten Schreckensbild einstellen. Wie anders eine Katastrophe, die man als Naturkatastrophe bezeichnen kann, wahrgenommen werden soll bzw. werden kann, zeigt uns die nächste Großaufnahme: „Shelter in the Sea“ (Abb. 3). Wir bekommen eine im Wasser stehende erwachsene Frau mit fünf Kindern zu sehen, von denen zwei sich schutzsuchend an die Frau klammern. Das Wasser steht ihnen
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3 Time, Nr. 27, Jg. 182, 2013
fast bis zum Hals. Wie uns der Text erläutert, handelt es sich um eine Großmutter und ihre Enkelkinder, die vor den Verheerungen eines Buschfeuers in Australien im Meer Schutz suchten. Der Großvater fotografierte sie mit seinem iPhone, um seiner Tochter mitzuteilen, dass sie noch leben – und überleben können, auch wenn sie alles, Haus und Besitz, verloren hatten. Das andere Element, „the sea“, war ihre Rettung, als das sie umgebende Land von den Flammen zerstört wurde, deren bedrohliche Hitze wir über die Farbigkeit der Fotografie nachfühlen können. „The land wouldn’t do, so they tried the ocean“ (ebd.). Den letzten Halt bot ein hölzerner Landungssteg. Wir als Betrachtende befinden uns auf der Höhe der Schutz Suchenden. Es handelt sich insofern um eines der drastischsten Fotos vom Buschfeuer in Australien, das im Internet zu finden ist, als wir den in letzter Sekunde dem Feuer Entkommenen direkt ins Gesicht schauen können. Aber wir können sicher sein, dass sie überlebt haben werden. Nicht zuletzt deshalb, weil wir über das Bild im iPhone „dabei“ zu sein scheinen. Dass dagegen für Menschen in einer anderen Gefahrenzone der Welt jede Hilfe zu spät kam, rufen die kleinformatigen Fotos, die am rechten Rand der Doppelseite vertikal angeordnet sind, in Erinnerung: Dokumentiert werden Todesopfer, die Gasangriffe in Syrien hinterließen.
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Das Medium der Fotografie und sein spezifisches Potenzial werden in der Bilderfolge über unterschiedliche Katastrophen – seien sie von Menschen oder von „der Natur“ verursacht – vorgeführt. Die Betrachter_ innen werden zu Zeug_innen von weit entfernten Ereignissen. Gleich wo man sich aufhält, nah der Gefahrenzone oder im sicheren Heim, man scheint dabei (gewesen) zu sein, erst recht im Fall des mit der neuesten Kommunikationstechnologie gepaarten Mediums des iPhone, unmittelbar und ohne zeitliche Distanz. Beim Durchblättern des Magazins bis hierhin könnte sich zugleich bei aller Schaulust eine Beunruhigung eingestellt haben – die Erde, auf der wir Fuß gefasst haben und weiter bleiben wollen, erscheint in den Bildern als verbrannt, auch im wörtlichen Sinne. Jedoch der folgende zweite Teil des Features verspricht mit einem neuen Bilderbogen unter dem Schlagwort „TRANSFORM“ (Abb. 4) einen Ausweg zu eröffnen. Der Blick wird abgewandt von der Erde zum Weltraum, zum „Universum, wie wir es nie sehen konnten“. Zu sehen gegeben wird der Planet Saturn, „where the Cassini spacecraft was: 1 billion miles (1,6 billion km) from earth“. „I was surprised at how surprised I am by the beauty of these images. This is a story of human accomplishment. How can anybody not be excited by
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that.“ So im Textblock am rechten unteren Rand der „leader of the Cassini imaging team, when the spacecraft first arrived at Saturn“ (S. 26ff.). Die Zeitschrift weiterblätternd haben wir die Schreckensbilder hinter uns gelassen und finden nun Wunder jenseits der Erde; dort zeigen sich technische Errungenschaften, über die neue An- und Aussichten jenseits der Schrecken eröffnet werden. „Transformation“ hieße somit auch Verschiebung unseres Interesses nach oben, in einen anderen Raum. Von Katastrophen auf der Erde, mag man denken, haben wir genug gesehen. Einen Blick von oben bieten uns die auf den nächsten beiden Seiten folgenden Satellitenfotografien (Abb. 5), Bilder, die eine Nahsicht auf die katastrophalen Zustände auf der Erde verhindern und die zugleich Übersicht versprechen. Wir sehen zum einen auf eine neu geplante Wohnstätte, eine künstliche Insel in Doha, zum anderen die Gefahr, die uns immer noch von einem Vulkan, dem Vesuv, drohen könnte. Konfrontiert und ergänzt werden diese Ansichten mit Blicken in eine Gebärmutter. Deren Vorstellungen sind wohl immer auch von widersprüchlichen Besetzungen geprägt: Enge/Eingeschlossen-Sein auf der einen Seite, Menschwerdung, das Wunder des Heranwachsens auf der anderen. Ein Blick in diesen Körperraum, in dem jede_r war, aber den niemand je von innen sehen
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konnte, dürfte immer wieder mit ambivalenten Gefühlen verbunden sein. Dominieren dürfte jedoch hier das Staunen über die Errungenschaften der Technologien des Sichtbarmachens. Diesem Bildtableau folgt im dritten Teil der Bilderfolge unter der Überschrift „EXPLORE“ eine zwei Seiten umfassende Fotografie: „Images took us into the heart of Nature’s drama, revealing power and mystery.“ Scheinen wir so wieder auf „der Erde“ angekommen zu sein, so befinden wir uns in sicherer Betrachter_innenposition, in sicherer Entfernung und doch „dabei“. Konnte man bereits bei den vorherigen Bildern an den amerikanischen Traum der Überwindung der Frontier (Go West) denken, so wird dieser nun im vierten Teil unter dem Schlagwort „TRIUMPH“ (Abb. 6) deutlich assoziiert. Das Foto des auf den Barrikaden die türkische Flagge schwenkenden Demonstranten im Gezi-Park lässt an das berühmte Foto der New Yorker Feuerwehrleute denken, auf dem sie über den Trümmern des World Trade Center 2001 die amerikanische Flagge hissen. Wie dieses wiederum lässt auch das Foto aus Istanbul das Denkmal für Iwo Jima in Washington erinnern, seinerseits vielfach zitiert und mit weiteren Bedeutungen aufgeladen (vgl. Wenk 2005). Der Textkommentar in Time erläutert: „He was just totally exposed to the
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tear gas. He stood there and waved the flag. For a few minutes until he couldn’t take it anymore and collapsed, he went back up again and did the same thing – wave the flag, collapse, go back.“ Mit diesem und den folgenden Anblicken geht es darum, Grenzen und Widerstände, seien sie durch Natur oder durch Menschen verursacht, zu überwinden, wozu der mit unterschiedlichen Technologien gewappnete Mensch fähig sein kann. Das veranschaulicht das letzte ganzseitige Foto im fünften Teil (S. 38f.). Unter dem Schlagwort „CONNECT“ (Abb. 7) wird uns der Start der Interkontinentalrakete Minotaur V in die Erdumlaufbahn zu sehen gegeben. Ein Frosch ist mit dem Auftrieb zufällig ins Bild geraten. Im mittig gesetzten Kommentar heißt es: „The photo team confirms the frog is real and was captured in a single frame by one of the remote cameras used to photograph the launch. The condition of the frog, however, is uncertain.“ Und weiter: „[…] the frog may well have reached its final frontier“. Die kleine Amphibie ist sozusagen unter die Räder der Technologien gekommen, „der Mensch“ überlebt, staunt, sofern er über die neuen Technologien des Sehens verfügt bzw. über sie verfügen oder zumindest an deren Resultaten partizipieren kann – und sei es über ein Magazin auf dem Wohnzimmertisch.
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(4) Zweifellos dient das beschriebene Feature „The Year in Pictures“ auch der Werbung, nicht nur für „Meister der Fotografie“, die, wie es im einführenden Text heißt, notfalls auch ihr Leben einzusetzen bereit waren (vgl. Text auf einführender Seite),2 sondern selbstverständlich auch für die Hersteller der Technologien – und nicht zuletzt die NASA und deren Leistungen. Doch über diese leicht zu entziffernde Botschaft hinaus lässt sich aus der Narration, die sich aus der Anordnung der Fotografien ergibt, ein weiterer Sinn herauslesen. Setzt die erste Bilderfolge „WITNESS“ mit Katastrophenbildern ein, die die Betrachtenden zugleich erschüttern, fast intim am Schrecken partizipieren lassen, sie also zugleich involvieren und sich in sicherer Distanz wissen lassen, so entwerfen die folgenden Bilderfolgen einen Ausweg: eine imaginäre Ausflucht in andere Sphären, deren „Schönheit“ gerade angesichts der Schreckensbilder umso evidenter erscheinen mag. Technologien des Sehens eröffnen real-imaginäre Räume, in die man sich auch trotz und in Anbetracht der auch von Menschen gemachten Katastrophen versetzen und in denen man sich einrichten kann – Räume außerhalb der Erde. Insbesondere mit den ausgebreiteten Blicken auf verschiedene Desaster lässt es sich mit den anderen Bildern bequem machen, auch mit dem Eingeständnis, dass man selbst als trotz alledem verletzliches Wesen Katastrophen ausgesetzt sein könnte. Letztlich bleibt die Botschaft „My camera loves me“, so lautet die Überschrift über den Selfies, die an das Feature anschließend auf einer der letzten Seiten des Magazins versammelt sind (S. 42). Man könnte übersetzen: Ich werde da gewesen sein. Hannah Arendt hat in den 50er Jahren das Verlassen der Erde als Traum des 20. Jahrhunderts beschrieben (Arendt 1989, S. 8). In dem Feature des Time-Magazins scheint sich Bekanntes zu bestätigen. Oder hat sich seither doch etwas verändert? Ein Vergleich bietet sich an: Zum Abschluss der Ausstellung „Family of Man“ zeigt ein großformatiges Foto zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, die Hand in Hand in eine offene, lichtdurchflutete Landschaft gehen, eine optimistische Metapher von
2 Im Einleitungstext heißt es: „The photographers featured here may have risked their lives to get the picture or invented an entirely new way to take it.“ (S. 19)
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(Un-)Möglichen Wohnräumen entkommen?
Zukunft. Im Time-Magazin führt uns die Kamera ins Universum. In einer Zeit, in der Bilder der – von Menschen gemachten – Katastrophen auf der Erde zunehmen und uns zugleich tagtäglich immer näher rücken, sei es auf dem Bildschirm oder über ein Magazin auf dem coffee table oder wo auch immer, hat sich offenbar die Bedeutung dessen verschoben, was mögliche Wohnräume sind bzw. sein können.
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Silke Wenk Literatur Arendt 1989 Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben (1958), München: Piper 1989. Barthes 2010 Barthes, Roland: Mythen des Alltags (1957), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010. Schmidt-Linsenhoff 2004 Schmidt-Linsenhoff, Viktoria: 1955–2001. ‚The Family of Man‘ und ‚here is new york‘, in: Jean Back; Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.): The family of man 1955–2001. Humanismus und Postmoderne. Eine Revision von Edward Steichens Fotoausstellung, Marburg: Jonas Verlag 2004, S. 8–27. Wenk 1990 Wenk, Silke: Götter-Lieben. Zur Repräsentation des NS-Staates in steinernen Bildern des Weiblichen, in: Leonore SiegeleWenschkewitz; Gerda Stuchlik (Hg.): Frauen im Faschismus in Europa. Pfaffenweiler: Centaurus 1990 (Frauen in Geschichte und Gesellschaft), S. 181–210. Wenk 2005 Wenk, Silke: Neue Kriege, kulturelles Gedächtnis und visuelle Politik, in: FrauenKunstWissenschaft, Nr. 39, 2005 (Themenheft: GenderMemory), S. 122–132.
Abbildungsnachweise Abb. 1–7: Time, Nr. 27, Jg. 182, 2013.
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Insa Härtel Immer woanders – überall zu Hause. Eine durch Angelina Jolie verkörperte Figur oder: ein Bild von Prominenz, Paparazzi, Publikum
2006 erscheint ein Artikel der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) anlässlich der bevorstehenden Geburt von Shiloh Nouvel Jolie-Pitt mit dem Titel „Das Fünf-Millionen-Dollar-Baby“. Das Oscar-prämierte Sportfilmdrama Million Dollar Baby (USA 2004) wird damit namentlich fünffach multipliziert. Mit dieser Zahl ist das Ende der Steigerungslogik noch nicht erreicht. Beginnt der Artikel doch mit einem Zitat aus dem New York Magazine, in dem es heißt: „Vergesst Jesus!“ Seien damals nur die Heiligen Drei Könige angelockt worden, so werde bei dieser Geburt „die ganze Welt dabei sein“ (Batthyany 2006). Celebrities – die ich hier als mediale Figuren, Personen-Konstrukte, Begehrensprodukte innerhalb eines kulturellen Gefüges verstehe – werden, wenn auch nicht ‚ernstlich‘, häufiger in göttliche oder heilige Sphären gerückt (vgl. Ward 2011). Wird das „Brangelina“-Baby in der NZZ mit Gottes Sohn assoziiert, nicht ohne ihn an erinnerungswürdiger Bedeutsamkeit zu überbieten, dann wäre Angelina Jolie, wirkmächtiger als die Gottesmutter, quasi im Begriff, einen Heiland zu gebären, während Brad Pitt in die Nähe des Nährvaters Josef gerät.1 Kein Kind sei „je verzweifelter erwartet“ und dabei bereits „zum Allgemeingut erklärt“ worden; der „rosa Kinderpopo“ werde – offenbar noch vor seinem In-Erscheinung-Treten – zu „eine[r] einzige[n] Projektionsfläche“ (Batthyany 2006). Die übergeordnete Frage richte sich dabei auf das Aussehen. Während der ebenfalls zitierte Chefredakteur von In Touch, Dan Wakeford, prophezeie, es werde „das schönste
1
Zur Trennung des Paars vgl. „Nachtrag“ (im März 2017).
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Kind seit Menschengedenken“, machten sich „die Paparazzi dieser Welt“ auf, „bewaffnet bis auf die Zähne mit ihren Teleobjektiven, Fernrohren und Helikoptern“: Man sage, „das erste Foto des Babys sei fünf Millionen Dollar wert“ (ebd.). Das Schönste, seit Menschengedenken, schwerbewaffnet …: In der Verschränkung seiner Schreibe mit Pressezitaten treibt der Artikel die Angelegenheit gleich auf die Spitze – so wie die Verehrung der ‚falschen‘ Promi-Götter in einem übertriebenen, absurden Moment resultiert. Als wäre das Überspannte notwendiger Bestandteil des medial-weltbildenden rosaroten Darstellungsstroms.
Ein Bild eines Geburtsorts Der NZZ-Artikel fährt fort mit dem Ort jener Geburt, über den lange spekuliert worden sei: „Paris? Wo Jolies Mutter wohnt? Malibu? Wo Pitt ein Haus besitzt? Berlin? Wo die beiden sich angeblich so wohl fühlen“. Die Auswahl scheint groß, doch: „Weder noch. Namibia soll der auserwählte Ort sein. Afrika. Die Wiege der Menschheit – und der Kontinent, an den Angelina ihr Herz verlor, nicht erst, seit sie letztes Jahr in Äthiopien ihr zweites Kind adoptierte, Zahara.“ (Ebd.) Laut Sunday Times of South Africa habe sich das Paar offenbar „bereits mit Regierungsvertretern aus Namibia […] über die Sicherheit unterhalten“; an anderer Stelle werde berichtet, sie hätten „ein Luxus-Hotel am Strand gemietet“ (ebd.). Verschwenderische Fülle in der Region der Hominisation – wobei die Ortswahl vor allem Sache Jolies zu sein scheint. Sie wolle, wie angegeben, mit ihrer ersten Geburt „in einem Entwicklungsland“ ein Statement setzen. Das zugrunde gelegte Motto „Make children. Not war“ wird angeführt und „Entbinden statt ausbeuten!“ hinzuaddiert (ebd.). Zusammengenommen wird die ganze Welt zum Geburtsort des auserwählten Kindes geködert, welcher als temporär eingenommene Promi-Bleibe zugleich Ort der Menschheitsentwicklung, ‚Entwicklungsland‘ und Luxusquartier, ins Herz geschlossener Kontinent und eine Art Anti-Gewalt-Statement ist. „[I]mmer mehr Journalisten“ träfen am Flughafen ein, es würden erster Tumult, Wortgefechte, Verhaftungen gemeldet (ebd.). „Noch hat das Kind nicht geschrien, und bereits verlieren einige ihre Nerven“; die Ausrufung des Ausnahmezustands sei absehbar (ebd.). Keines der entsprechenden Magazine dürfe sich ein Ereignis wie dieses entgehen lassen. „Darf sich CNN erlauben, nicht vom Kriegsgebiet zu berichten? Eben“, so
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die Chefredakteurin von Life & Style, Debra Birnbaum (zit. n. ebd.). Doch sei ihr zufolge „das Brangelina-Baby […] grösser als alles bisher Dagewesene“: Als „der Heilige Gral‘“ (zit. n. ebd.) wird es zur mythenumwobenen Kostbarkeit. Die sich auf die Suche begebenden ‚bewaffneten‘ Welt-Vertreter/innen kommen jedoch kaum zum Zug: Die „Chance, als Paparazzo das Kind in Namibia zu fotografieren, im Arm der Eltern“, werde für doch eher gering gehalten. „Das Haus sei zu abgeschottet, die Bodyguards seien zu zahlreich, Pitt und Jolie zu einflussreich“; Birnbaum sei der Ansicht, sie könnten „sogar ein Flugverbot veranlassen“ (Batthyany 2006). Bei der Entscheidung für den Ort, an dem das Ausnahmewesen geboren werden soll, geht die Friedensmission offenbar mit einer frappanten Abschirmung einher. Diese Spannung möchte ich in meinem Beitrag aufgreifen und – mit Augenmerk besonders auf die kulturelle Figur Jolie,2 samt Projektionen von hinten – den NZZ-Artikel zum Anlass nehmen, um nach ‚globaler Mutterschaft‘ (Shome 2011), nach Bewegungen der Aneignung erwählter Kinder und Orte sowie nach Distanzierungsbestrebungen im Medienkontext zu fragen. Wie kreisen im hier betrachteten Fall geradezu grenzenlose Ausdehnungen, Abstandnahmen von ‚eigenen Verortungen‘ und ideologisches Gefangensein ineinander?
Ein Bild von Humanität Der abgewandelte Hippie-Slogan „Make children, not war“ ersetzt „love“ durch „children“ und lässt dadurch auch etwas von Jolies Transformation vom „verruchten Sex-Symbol“ zur „Supermama und eine[r] Mutter Teresa mit Sexappeal“ erahnen.3 Jolie ist bekannt für ihr humanitäres Engagement für Geflüchtete, das unter anderem auf die Dreharbeiten zum Film Lara Croft: Tomb Raider (2001) in Kambodscha zurückgehen soll.4 So wurde sie 2001 Sonderbotschafterin des UN-Flüchtlingshilfswerks und 2012 UNHCR-Sondergesandte. – Celebrity humanitarianism wird kontro-
2 Dieser Artikel steht in Zusammenhang meiner Untersuchung medialer Inszenierungen der prophylaktischen Mastektomie Angelina Jolies. 3 Julia Zahnweh: Die schönste Psychopathin der Welt, in: News.de, 5.8.2010, www.news.de/medien/855067896/die-schoenste-psychopathin-der-welt/1/ (Stand: 3.8.2016). 4 Jolie erscheint auch „systematically […] in films that address human-rights issues“ (Chouliaraki 2012, S. 10).
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vers diskutiert. Einerseits soll ein Bewusstsein befördert werden, wie etwa ein entsprechender Aufruf Kofi Annans an Prominente zeigt (dazu etwa Choliaraki 2012). Andererseits wirkt der humanitäre Einsatz als Mittel des self-branding der prominenten Figur (vgl. dazu Jerslev 2014, S. 172). Unabhängig von den Intentionen Einzelner lässt sich gezeigte Hilfsbereitschaft, Mitgefühl oder Ähnliches fast schon als Teil des ‚Berufsbilds‘ von Stars beschreiben; Celebrities werden quasi zu Missionar/innen von heute, „who are also engaged in a process of image building through philanthropy“ (Magubane 2008, S. 4). Jolies ‚Mission‘ scheint in einer Verbesserung der Welt zu bestehen – auch wenn es abgedroschen klinge, „so whatever it takes to do that, I’m there“ (Jolie zit. n. Barron 2009, S. 222). I’m there: Auch der Aufenthalt anlässlich der Kindsgeburt – entbinden statt ausbeuten – wird mit Jolies Anliegen verknüpft, Namibia und den dort lebenden Menschen mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, sie durch eine philanthropische Organisation zu unterstützen (vgl. Jackson et al. 2016, S. 160). Ein Unterfangen der Sichtbarmachung oder Sensibilisierung; zugleich ist die von Jolie und Pitt betriebene massive Abschirmung in Namibia zum Anlass für die Beschäftigung mit celebrity colonialism geworden (vgl. O’Neill 2006). Offenbar wurden in der Tat ein Flugverbot für den Küstenbereich in Kraft gesetzt und strenge Regeln für Medienvertreter/innen durch die namibische Regierung erlassen, die sich durch die prominente Geburt bzw. die damit verbundene öffentliche Aufmerksamkeit etwa eine Zunahme des Tourismus erhoffte (vgl. Jackson et al. 2016, S. 157). Ausländische Reporter/innen durften etwa nur mit Einverständnis des Hollywood-Paares einreisen, Paparazzi konnten des Landes verwiesen werden. Deutlich werde, so die Kritik, wie Berühmtheiten dieser Art, „whether knowingly or not, can easily exploit the weaknesses of small impoverished states“ (O’Neill 2006). Entbinden und ausbeuten?5
5 Vgl. Katharine Bells Kommentar: „This is not to suggest that celebrity activism and philanthropy relating to distant locales can only ever be self-serving for the celebrity or disempowering for those who might be helped by their philanthropic efforts“ (Bell 2013, S. 22).
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Ein Bild von Rettung Afrika taucht im NZZ-Artikel nicht nur als zukünftiger Geburtsort des ersten leiblichen Kindes, sondern auch als Herkunftskontinent eines der Adoptivkinder auf. Jolie, deren ‚mütterliche Besorgtheit‘ zu einer (gegenderten) Legitimation ihres sozialpolitischen Aktivismus werden kann (vgl. Duvall 2009, S. 100), wirkt auch als Verfechterin transnationaler Adoptionen, die einmal mehr das ‚private Leben‘ des Stars einbeziehen und an Vorstellungen weltumfassender Fürsorge anschließen. Von den Adoptionsorten spricht Jolie offenbar als „red alert areas“ (Van den Bulck 2009, S. 130), Hinweis etwa auf dortige schlechte Lebensbedingungen – es ist nicht untypisch, das von den üblicherweise weißen Prominenten aufgenommene Adoptivkind als etwa vor Krieg oder Hunger zu errettendes Opfer vorzustellen (vgl. Kapoor 2013, S. 27f.). Die Figur des white saviour ist nicht zuletzt aus Hollywood-Filmen bekannt; Jolies Wirken als Star in Abenteuerfilmen, „often in ‚exotic‘ locales, bolsters her power as a celebrity ambassador“ (Bell 2013, S. 5). Ihre Rollen als Heroine und Mutter spielen gleichsam zusammen (vgl. dazu Jerslev 2014, S. 176). Das ebenso als nicht-bedrohlich, formbar wie als dringend hilfsbedürftig und damit sozusagen potenziert unschuldig geltende Kind wird mit der Adoption quasi in ein ‚verheißungsvolles‘ Zuhause (vgl. Ortiz/Briggs 2003, S. 41ff.) und ans Licht der Moderne befördert (vgl. Shome 2011, S. 396, S. 402). Westlich figurierte globale Mutterschaft6 nimmt Gestalt an im Zuge einer entstellten Darstellung existierender Machtverhältnisse und Ausblendung ‚heimischer‘ Missstände. In familial-räumlicher Wendung wird Afrika potenziell selbst wie eine Art ‚primitives‘ bzw. abhängiges Kind behandelt, das einer Bemutterung (vgl. Bell 2013, S. 22) bzw. „western care and guidance“ bedarf (Repo/Yrjölä 2011, S. 51).
Ein Bild vom Überall Jolie hat drei Kinder aus Kambodscha (2002), Äthiopien (2005) und Vietnam (2007) adoptiert, während sie 2008 außerdem Zwillinge in Frankreich, das
6 „The white mother can only occupy the position of a ‚global mother‘ by erasing the non-white maternal body from visions of global domesticity“ (Shome 2011, S. 399).
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heißt nicht in einem sogenannten Entwicklungsland, entbunden hat (möglicherweise auch aufgrund der Namibia-Kritik, vgl. Jackson et al. 2016, S. 162, S. 164). 2006 äußert sie offenbar die Absicht, eine „rainbow family“ schaffen zu wollen: „I believe I am meant to find my children in the world and not necessarily have them genetically.“ (Jolie zit. n. Shome 2011, S. 401) Sie wolle aus jedem Land ein Baby adoptieren, so Jolie 2004, „mixing all different cultures and religions in the same house. I think that’s what the world should be like“ (Jolie zit. n. McHugh 2014, S. 9): eine Art Idealisierung privilegierter Familienfülle, von der auf die ganze Welt geschlossen wird, als könnten „forms of social, racial, class, and even international inequality […] be resolved through the assembling of families in the ultimate ‚privatizing‘ gesture“ (Negra 2010, S. 60). Familienausdehnende Bestrebungen dieser Art haben andernorts auch zu Formulierungen wie der der (inzwischen Ex-) „United Nations of Brangelina“ geführt. Kritisiert wird etwa die harmonisierende Anmutung oder der Eindruck, hier würden Kinder ‚gesammelt‘, die Familie eigenmächtig ‚zusammengestellt‘.7 Auch werden dieserart Bestrebungen als exzessiv abgehandelt – als hätte Jolie die ‚wilden‘ Obsessionen der Vergangenheit durch so etwas wie eine ‚weltverbessernde‘ häusliche Sucht ersetzt (vgl. Wilson 2010, S. 28). Nicht nur scheint Jolie Kinder zu ‚retten‘, sie scheint auch selbst durch die Mutterschaft gerettet zu werden (vgl. Favara 2015, S. 637). Ihr Engagement wirkt auch als Teil von Selbstentfaltung bzw. die Familienbildung als Wahl einer Lebensführung (vgl. Chouliaraki 2012, S. 11). „There’s something about making a choice, … waking up and traveling somewhere and finding your family“ (Jolie zit. n. Jackson et al., S. 155). Über ihr erstes Adoptivkind heißt es auch, „it was like he chose me“ (Jolie zit. n. ebd.). Auswählen als Auffinden geht über in Erwähltsein: „I like to think we chose each other“ (ebd.). In dieserart Inszenierung, die historische Kontexte und Vorgaben des ‚individuellen Wählens‘ weitgehend ausspart (vgl. dazu Favara 2015), werden scheinbar körper- und ortsungebunden Kinder entdeckt und in ein ‚erlösendes‘ Zuhause transportiert – das sich selbst wiederum, wie auch der NZZ-Artikel andeutet (s. o.), in eine Reihe von Weltenorten ausdifferenziert. Die sich hier scheinbar grenzenlos ausdehnende Mutterschaft Jolies, die bei jedem Kind ein Anderswo einbaut, scheint an nichts außer an das Auf- und Aussuchen selbst ge7 Bei den Adoptionen gehe es Jolie zufolge auch um eine Art Ausbalancierung von Geschlecht, Land und race (vgl. Bell 2013, S. 16).
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bunden zu sein. „Unsere Kinder sind überall auf der ganzen Welt geboren. Und wir reisen sehr viel, zeigen unseren Kindern, woher sie kommen, aus welchen Ländern, welche Geschichten damit verbunden sind.“8 Während Jolie früher manchmal ausgerufen habe: „O Gott, wo gehörst du eigentlich hin?“, habe sie nun „Kinder aus anderen Ländern“ und fühle sich „überall zu Hause“.9 Die ‚globale Mutterschaft‘ (s.o.) geht einher mit Versprechen nicht nur individueller Wahlmöglichkeit, sondern auch freier Mobilität (vgl. Favara 2015) – ein offenbar einträchtiges Überall, dem, wie das Namibiabeispiel zeigt, zugleich eine vereinnahmend-abschottende Qualität zu eigen sein kann. Deutlich wird dann, wie die dargebotene Ad-infinitum-Mutterschaft bzw. grenzenlose Verfügbarkeit selbst Ein- und Ausschließungen generiert. Die ‚globale‘ weiße Mutter funktioniert hierbei als Figur, die historische, nationale und kulturelle Grenzen ebenso überwindet wie stillschweigend neu einschreibt (vgl. Shome 2011, S. 392).
Ein Bild von Einfachheit Die Adoptionen Jolies haben im Vergleich (z. B. zu Madonna) eher wenig Kontroversen ausgelöst. Als glaubwürdig gelten insbesondere auch ihre aktiven Einsätze vor Ort, für die sie (im Unterschied zu dem im Geburtskontext genannten Luxus-Hotel) „ihr luxuriöses Umfeld zugunsten eines ‚guten Zwecks‘“ verlässt (vgl. Frei 2012, S. 93). In ihren Notes from My Travels erklärt Jolie (2003) im Rahmen der Mission to Africa einmal, ihre einfache Reiseunterkunft zu lieben (vgl. Kapoor 2013). Das dann in seiner Mäßigkeit liebenswerte ‚kindliche‘ Afrika wird im „[h]aving been there“ (vgl. Jerslev 2014, S. 177) auch zum Ort einer Authentizität. Deren Herstellung lässt sich wiederum als ein favorisiertes Ziel von 8 Angelina Jolie hat Verständnis für Paparazzi, Interview von Peter Beddies, in: Berliner Morgenpost, 22.6.2008, http://www.morgenpost.de/vermischtes/ article104666290/Angelina-Jolie-hat-Verstaendnis-fuer-Paparazzi.html (Stand: 4.8.2016). Weiter heißt es: „Für uns ist es enorm wichtig, dass wir in der Mitte der Welt leben, auch wenn es das natürlich eigentlich nicht gibt. Aber von Europa nach Asien oder Afrika ist es einfach kürzer als von den USA aus“ (ebd.). 9 Edmund Brettschneider: Angelina Jolie: „Ich bin keine Superfrau“, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 22.5.2009, http://www.ksta.de/kultur/angelina-jolie--ich-bin-keine-superfrau-,15189520,12931168.html#plx344940077 (Stand: 4.8.2016).
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„celebrity image management“ beschreiben (Mendelson 2007, S. 175); gerade die Materialität der Fotos vor Ort und die Beschreibungen der entsprechenden Reisen kreieren einen „star/poverty space“ (Goodman/ Barnes 2011),10 der den angenommenen Exzessen der celebrity culture entgegenwirken soll (vgl. ebd., S. 80). Als wolle Jolie weniger als Ikone denn als eine Person wie jede andere erscheinen, „[b]ut in terms of status, she is not“ (Barron 2009, S. 212); oder: als wolle sie diesem Status unterwegs entkommen, wiewohl es sich eher umgekehrt verhält. Der Status erst macht die Berühmtheit zu einer, die jene Reisen unternimmt und zu einem „observer of refugee experiences“ werden kann (ebd.). Soll der Status an dieser Stelle dann quasi dazu dienen, ihm selbst zu entkommen, so lässt sich umgekehrt sagen: Das dargebotene Einfach-wie-alle-Sein kann zur Prominenz beitragen. Gerade auch die Diskrepanz zwischen der luxuriösen Celebrity-Welt und den zeitweilig aufgesuchten Situationen von Armut, Leiden oder Ähnlichem ist es, was die Medien interessiert und Aufmerksamkeit sichert – „rather than the issue being promoted“ (Hawkins 2011, S. 98). Etwa der Anklang des Stars und wohl weniger ein Einsatz für die Sache wird durch das ‚authentisch‘ Bekenntnishafte an den Beglaubigungen Jolies (auf die sich das Leiden quasi überträgt)11 befördert (vgl. Chouliaraki 2012). Und auch wenn Jolie ihre eigene Privilegiertheit anerkennt, gerät in dieser Art humanitärer Einstellung demnach kaum in den Blick, wie diese Begünstigungen gegebenenfalls „contribute to the spaces where suffering takes place“ (in anderem Kontext: Littler 2008, S. 248).
10 Im dortigen Zusammenhang heißt es: „We refer to this as the creation of star/poverty space in and through the materialities of photographs, images and texts that work to create the development celebrity alongside its transnational networks and connections of care and compassion. In essence, then, the creation of star/poverty space is performed through the ‚materialities of authenticity‘ that are at the centre of the material and discursive networks of development celebrity.“ (Goodman/Barnes 2011, S. 73) 11 Chouliaraki spricht auch von einer Art Zusammenfallen der Stimme des namenlosen Leidenden mit der weltbekannten Promi-Stimme; schließlich werde „the affective relationship between spectator and sufferer onto a relationship between spectator and celebrity as the most ‚authentic‘ figure of pity“ verschoben (Chouliaraki 2012, S. 15).
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Ein Bild von Aneignung Folgt man dem oben betrachteten NZZ-Artikel, dann wird zur Geburt jenes ‚schönsten Kindes‘ (eine Erwartung an das Aussehen, die so nur für das leibliche Kind möglich ist) quasi die ganze Welt angelockt, die sich somit an einem Ort versammelt. Und die ‚unheiligen‘ Paparazzi dieser Welt mit ihren Waffen fallen am Ort der Entstehung des Menschen ein (statt wie die Heiligen Drei Könige mit ihren Gaben den Heiland im Stall aufzusuchen) – um schließlich abgewiesen zu werden. Ein Ausschluss vom begehrten ersten Anblick, der – entgegen dem angeführten Statement „Make children, not war“ – dem Artikel folgend zu Ausnahmezuständen bzw. fast schon kriegsähnlichen Kämpfen führen wird. Denn die Bedeutung der Promi-Geburt für einschlägige Magazine wird mit der eines Kriegsgebiets für CNN verglichen, wobei das erwartete Baby alles übertrifft; und die Einreise des prompt verfolgten Paares bringt demnach Rumor nach Namibia (Batthyany 2006). So wie die schwangere Jolie und Pitt, sich verschanzend, das ‚afrikanisch-kindliche‘ Namibia ‚belagern‘, so werden sie durch die angezogenen Journalist/innen bestürmt, die sich folglich ebenso eines Ortes bemächtigen und ein Kind ‚finden‘ wollen. Aneignend-grenzüberschreitende Impulse verschiedener Qualität zirkulieren. Die veranlassten Versuche, des Baby-Bildes habhaft zu werden, und deren abschirmende Zurückweisung gehören auch insofern zusammen, als die Aufgabe der Paparazzi, deren Mobilität jener der Stars korrespondiert (vgl. dazu McNamara 2011), just darin besteht, „to penetrate that wall“ (Sekula 1984, S. 29), durch die das Bild der Prominenz gewahrt und geschützt werden soll. Ohnehin geächtet und dämonisiert, verkörpern Paparazzi geradezu die aggressiv-aufgerüstete Grenzüberschreitung (vgl. dazu Mendelson 2007) – quasi auf der Suche nach dem, was nicht enthüllt werden soll, in der Annahme einer „higher truth of the stolen image“ (in anderem Kontext: Sekula 1984, S. 29).12 Ward spricht von einem ‚faustischen Pakt‘ (Ward 2011, S. 103), dank dem Prominente durch erwartete Enthüllungen auch intimer Details wiederum etwa Berühmtheit erlangen können (vgl. ebd.). Der Celebrity-Medienlogik lässt sich also auch bei erfolgreicher Abschirmung kaum entkommen.
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Eine stets verfehlte Suche, die jener nach Authentizität ähneln kann.
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Ein Bild medialer Bilder „Viel wahrscheinlicher“ (als ein Paparazzi-Erfolg in Namibia), so die NZZ, sei es, „dass das Paar die Bilder einem Magazin verkaufen wird. Exklusiv“ – um wohl den Betrag zu spenden (Batthyany 2006), den sich nur wenige geeignet erscheinende Magazine leisten könnten. Am Ende werde man „sie sich ansehen, die glücklichen Eltern, das niedliche Strampelhöschen, die winzigen Hände zu Fäusten geballt. Und das kleine Näschen erst. Dieses kleine goldige Näschen.“ (Ebd.) Mit einer solchen Unterscheidung zwischen Magazinen, welche die Promis – als eine Art verlängerter Arm von deren Vermarktungsstrategie – auf eine von ihnen selbst gewählte Weise präsentieren, und jenen Paparazzi, „whose mainstay is the celebrity ‚gotcha‘ photograph“ (Mendelson 2007, S. 169), wird eine weitere Wendung vollzogen. Die ersten Fotos von Shiloh Jolie-Pitt wurden in der Tat für anschließend gespendete Millionen von Dollar verkauft, und es wurde durchaus bezweifelt, dass das Celebrity-Interesse in Namibia tatsächlich vornehmlich auf erwirkte Sicherheit und nicht mehr auf eine Art Medienhandhabung ziele (vgl. Kapoor 2013, S. 18). In diesem Bild geht es dann weniger um ein Promi-Paar, dessen private Sphäre bedroht erscheint, als vielmehr um das Bemühen, möglichst kontrolliert ein möglichst passendes Image zu kreieren und dieses möglichst profitabel für einen guten Zweck zu veräußern (vgl. dazu Mendelson 2007). Exklusivität – Exklusion: Der Genuss des ‚Ursprünglichen‘, ‚Ersten‘ wird den geködert-verfolgenden Journalist/innen vorenthalten, die „das Geschäft ihres Lebens“ wittern, „auf ein Rekordsalär“ hoffen (Batthyany 2006) (und selbst eine Spur kindlich, wie aufsässig oder ohne rechte Einsicht in ihre Lage erscheinen). Jener Genuss bleibt wohl den (einfluss-) reichen Auserwählten vorbehalten. Wenn der NZZ-Artikel den Einfluss des Geldes auf den Zugang zu dem am Ende weniger heiligen denn mit ‚goldenem Näschen‘ ausgestatteten Kind herausstellt, dann scheint er zugleich eine ‚realistisch-wissende‘ Position gegenüber dem ‚Nervenverlieren‘ etablieren zu wollen. Er wirkt in weiten Teilen wie ein Text über das Agieren anderer, die zum Teil ziemlich übertreiben. In Zitaten und Zuspitzungen, die einen Wahnwitz hervorzukehren scheinen, wird mehr noch als das Glamour-Paar das ‚projektive‘ Interesse an diesem vorgeführt. In gewisser Weise nimmt sich der NZZ-Artikel selbst aus jener von ihm differenzierten Medienwelt aus bzw. vollzieht eine Absetzbewegung zum Promi-System. Doch solcherart Grenzziehung
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ist genau Bestandteil der Celebrity-Welt (s.o.). Der Artikel scheint sich (wie die Prominenten) von allzu großer Nähe zu einem Medienrummel ‚abschirmen‘ zu wollen, den er okkupierend zitiert, von dem er zehrt; auch er lockt seine Leser/innenschaft imaginär zum erwarteten Baby nach Namibia.
Ein Bild von einem Publikum Immer wieder scheinen Prominenz, Paparazzi, Artikelschreiber/innen zur Publikumsgewinnung auf je eigene Art diesseits des ‚Hollywood-Scheins‘ gelangen zu wollen. Unüblich ist es dabei nicht, dass auch Prozesse des star-making system selbst zum Teil von Enthüllungen werden (vgl. Ward 2011, S. 106). Den Adressat/innen wird dann eine privilegierte Position als ‚Bescheid-Wissende‘ angeboten, aus der man nicht nur in einer Art ausgleichender Gerechtigkeit mit den beneidenswert begünstigten Promis kritisch ‚abrechnen‘, sondern zugleich das eigene mediale Urteilsvermögen unter Beweis stellen kann. Kritisch oder zynisch distanzierte Diskurse angesichts der „celebrity-machine“ können diese – gleichsam zurückgelenkt – ausdrücklich füttern (in anderem Kontext: Littler 2003, S. 22). Auf diese Weise lassen sich z.B. Rezipient/innen gewinnen, die sich nicht mit der Promi-Sphäre identifizieren wollen, „even whilst they may be reinforcing it“ (ebd., S. 23). Einem für sich reklamierten Unglauben hängen dabei wohl die meisten an: „As it is, most people believe in the power of celebrity to work on other people, even as they demonstrate that it does not work on themselves“ (in anderem Kontext: Brockington/Henson 2015, S. 445). Das ‚bessere Wissen‘ gegenüber den Celebrity-Verlockungen wird potenziell zur Wirksamkeitsbedingung – so wie das Wissen um fake möglicher Bestandteil der Anziehung ist (vgl. Ward 2011, S. 106). Gerade indem ‚wir‘ um die Fabriziertheit der celebrity culture wissen, kann diese als uneingestandener Genuss dessen wirksam werden, wovon man sich distanziert: im Glauben an Prozesse des (Aus-)Erwählens, an ein ‚authentisch‘-humanitäres Beteiligtsein13 oder gerade im grenzüberschreitend-aneignenden Impuls.14 Im Sinne exkulpierender Distinktionsgewinne kann man unter
13 Dies geschieht gewissermaßen aktivitätsdelegierend (s. o.). 14 Vgl. in anderem Zusammenhang: „[C]ynical reason, with all its ironic detachment, leaves untouched the fundamental level of ideological fantasy“ (Žižek 1992, S. 30).
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Verkennung eigener Verortungen in der einflussreichen wie unfairen celebrity culture schwelgen. Ausgehend von dem NZZ-Artikel lässt sich so zeigen, wie ein DerCelebrity-Welt-Verhaftetsein in der Abstandnahme funktioniert: wenn man auch sich selbst immer anderswo positioniert. Deutlich wird, wie das räumliche Abrücken von einem Ort, den vor allem unschuldige und/oder eher entwertet-naive ‚kindliche Andere‘ zu bevölkern scheinen, ein westlich-ideologisches Festsitzen zu bewirken vermag. Das gilt dann ebenso für die teils ausgeblendete Komplizenschaft des Publikums, für die ‚global mütterlich‘ konstruierte Promi-Figur wie für den davon untrennbaren medialen Zugriff. Auf gewisse Weise muss sich auch die Kritik z. B. am celebrity colonialism (so sehr man deren Aufgebrachtheit vermutlich teilt) der Frage stellen, inwiefern sie vielleicht selbst jener Medien- bzw. Celebrity-Kultur verbunden ist (so wenn es manchmal scheint, als müsse Afrika ein weiteres Mal gerettet werden: nun vor den Prominenten selbst) (Clarke 2009, S. 3). In der Zusammenschau führt das nicht nur dazu, dass eine Reflexion von ‚außen‘ kaum funktioniert, sondern läuft auch auf ein verfolgendes Kreisen einer nahezu geschlossenen celebrity-machine hinaus. Dieser kann natürlich auch mein Schreiben, in diesem Eindruck, es gäbe kein Entrinnen, nicht entkommen. Als würde mein Text eine Abschottung – die immer auch gefangen nimmt – wiederholen, die undurchdringlich bleibt, sich zugleich überallhin ausdehnt und jeden Versuch, etwas anderes, Nicht-Vorgesehenes ‚einzubauen‘, auf sich zurückwenden kann. Wird jede Abstandnahme sofort absorbiert, dann hätte dieser Beitrag die thematisierte exzessive Logik aus Aneignung, Gefangennahme, Enthüllungsund Rettungsphantasie, die sich auch als Kehrseite der propagierten Ideologie eines uneingeschränkt kosmopolitischen Weltbewohnens verstehen lässt, einigermaßen konsequent vor- und fortgeführt. Wenn das grenzüberschreitende ‚Überall‘, wie skizziert, neue Grenzen generiert, die zwar keinen Standpunkt ‚außerhalb‘, aber vor Ort zum Teil schwer erträgliche, ‚exklusiv‘ bemächtigende Wirkungen nach sich ziehen, dann sind es genau diese Wirkungen, die in den immer weiteren Kreisen symptomatisch aus dem Blick geraten. Gilt es dann, sich mit dem Symptom, das ‚von hinten‘ ein Genießen organisiert, zu identifizieren, wenn dadurch auch Ausgeschlossenes wiederkehrt?
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Insa Härtel
Nachtrag Kurz nach Fertigstellung dieses Artikels wurde im September 2016 die Trennung Jolies von Pitt „for the health of the family“ vermeldet (auch „Braxit“, „BrexPitt“ oder ähnlich genannt). Der vorher immer mehr verwirklicht erscheinende „Traum von der perfekten Familie“15 mit ihren Kindern und Reisen scheint nun zerbrochen. Bedeutet dieser ‚Schock‘ eine Art Unterbrechung bisheriger Aufladungen der kulturellen Figur Jolie? Laut Bild zeige sich in der Art von Jolies Vorgehen: „Sie ist eben doch keine Heilige, sondern auch nur eine Frau, die Fehler macht.“16 – An dieser Stelle nur einige sehr vorläufige Spekulationen: Ist Jolie zuerst, wie man in diesem Zusammenhang wiederholt lesen kann, anscheinend am alleinigen Sorge- oder Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder interessiert und scheint sich in dem medial gezeichneten Bild auf diese zu konzentrieren (wenn es ihr dabei gerüchteweise möglicherweise auch um anderes gehen könne, wie z.B. eine politische Karriere anderswo), dann sieht es so aus, als könne die Trennung zugleich ihre Position als alleinige ‚Übermutter‘ fortschreiben. „In fünf Jahren würde ich gerne durch die Welt reisen und meine Kinder besuchen, in der Hoffnung, dass sie alle glücklich sind und interessante Dinge tun. Ich stelle mir vor, dass sie in verschiedenen Teilen der Welt wohnen und ich sie unterstütze“, wird Jolie in einem „Überraschendes Geständnis nach der Scheidung“ überschriebenen Artikel von der Bunten zitiert.17 Stellt jene Paar-Entzweiung also durchaus auch ein konsequentes Voran- und Auf-die-Spitze-Treiben des (eben immer schon ambivalenten) Versprechens globaler Mutterschaft dar? Eine Bewegung, die das verheißungsvolle Bild zugleich potenziell überspannt, sodass es zunehmend zu seiner Kehrseite hin tendiert, unglaubwürdig und verdorben erscheint? So ist in den wiederum widersprüchlichen medialen Reaktionen auf den Trennungsverlauf zum Teil von einem Kampf Jolies um ihr 15 Angelina Jolie lässt sich von Brad Pitt scheiden, in: Der Tagesspiegel, 20.9.2016, http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/hollywood-angelina-jolielaesst-sich-von-brad-pitt-scheiden/14575506.html (Stand: 25.3.2017). 16 Brangelina – vielleicht ist alles viel einfacher, als wir alle denken, in: Bild. de, 25.9.2016, http://www.bild.de/unterhaltung/leute/scheidung/vielleichtist-alles-viel-einfacher-als-wir-denken-47987736.bild.html (Stand: 25.3.2017). 17 Simone Vollmer: Überraschendes Geständnis nach der Scheidung, in: Bunte.de, 20.2.2017, https://www.msn.com/de-de/unterhaltung/celebrity/angelina-jolie-%C3%BCberraschendes-gest%C3%A4ndnis-nach-der-scheidung/ ar-AAn7bKc?li=BBqg6Q9 (Stand: 25.3.2017).
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Immer woanders – überall zu Hause
Image die Rede. Es wirkt dann, als ob die in meinem Beitrag umrissenen Szenen mit zunehmender Ausschlachtung fortlaufend zu einem Punkt der Selbstzerstörung tendieren, den Exzess also schon in sich tragen. Weitere (Kipp-)Bewegungen bleiben abzuwarten.
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Insa Härtel Literatur Barron 2009 Barron, Lee: An actress compelled to act: Angelina Jolie’s Notes from My Travels as celebrity activist/travel narrative, in: Postcolonial Studies, Nr. 2, Jg. 12, 2009, S. 211−228. Batthyany 2006 Batthyany, Sacha: Das Fünf-Millionen-DollarBaby, in: Neue Züricher Zeitung, 23.4.2006; www.nzz.ch/articleE1Y2V-1.27360 (Stand: 3.8.2016). Bell 2013 Bell, Katherine M.: Raising Africa? Celebrity and the Rhetoric of the White Saviour, in: PORTAL: Journal of Multidisciplinary International Studies, Nr. 1, Jg. 10, 2013, S. 1–24 (PDF), http://epress.lib.uts.edu. au/journals/index.php/portal/article/ view/3185 (Stand: 3.8.2016). Brockington/Henson 2015 Brockington, Dan; Spensor Henson: Signifying the public: Celebrity advocacy and postdemocratic politics, in: International Journal of Cultural Studies, Nr. 4, Jg. 18, 2015, S. 431–448. Clarke 2009 Clarke, Robert: The ldea of Celebrity Colonialism: An Introduction, in: ders. (Hg.): Celebrity Colonialism: Fame, Power and Representation in Colonial and Post-Colonial Cultures, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2009, S. 1−12. Chouliaraki 2012 Chouliaraki, Lilie: The Theatricality of Humanitarianism: A Critique of Celebrity Advocacy, in: Communication and Critical/ Cultural Studies, Nr. 1, Jg. 9, 2012, S. 1−21. Duvall 2009 Duvall, Spring-Serenity: Dying for Our Sins: Christian Salvation Rhetoric in Celebrity Colonialism, in: Robert Clarke (Hg.): Celebrity Colonialism: Fame, Power and Representation in Colonial and Post-Colonial Cultures, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2009, S. 91−106.
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Astrid Silvia Schönhagen Wearable Homes. Die Verknüpfung von Bekleidungstheorie, Körperkonzepten und Wohndiskursen in Tragbaren Architekturen von den 1960er Jahren bis zur Gegenwart
„A house will no longer be this solidly-built thing which sets out to defy time and decay, and which is an expensive luxury by which wealth can be shown; it will be a tool as the motor-car is becoming a tool. The house will no longer be an archaic entity, heavily rooted in the soil by deep foundations, built ,firm and strong‘, the object of the devotion on which the cult of the family and the race has so long been concentrated.“ (Le Corbusier 1998, S. 237, 263) Diese Zeilen schrieb Le Corbusier im Jahr 1927, als er über die Zukunft des Wohnens, genauer die von Wohnungsarchitekturen reflektierte. Knapp 90 Jahre später erscheint im Architektur- und Design-Blog des britischen Guardian ein Artikel, der die Weitsicht des Architekten zu bestätigen scheint. Er trägt den vielversprechenden Titel „The ‚Wearable Dwelling‘ – A Coat for Refugees That Turns into A Tent“ (Hartley 2016). Vor dem Hintergrund aktueller Flucht- und Migrationsbewegungen im Spätsommer 2015, insbesondere infolge des bereits vier Jahre anhaltenden Syrienkrieges sowie des brutalen Vormarschs des sogenannten Islamischen Staats in den arabischen Ländern, hatte eine Gruppe von Designstudierenden des Londoner Royal College of Art (RCA) ein Kleidungsstück entworfen, das in eine Behausung für Geflüchtete, „a wearable dwelling [for refugees]“, verwandelt werden kann (ebd.). Bei dem prototypischen Textil handelt es sich um ein schlichtes weißes Cape mit Kapuze, das sich in einen Schlafsack oder ein Zelt, in dem bis zu vier Personen Platz finden können, umfunktionieren lässt (Abb. 1a–c). Die
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1a–c Wearable Dwelling, DesignProjekt von Studierenden des Royal College of Art (RCA) in London, 2015/16
Anleitung zum Auseinanderfalten des Kleidungsstücks bzw. zum Aufbau des Zeltes mittels ultraleichter Teleskopstangen ist in eine der Innentaschen des Gewandes eingearbeitet, in denen auch persönliche Wertgegenstände oder wichtige Dokumente (wie ein Smartphone oder der Reisepass) verstaut werden können. Von besonderem Interesse ist die Materialität des Capes: Die äußere Schicht besteht aus Tyvek, einem papierartigen Vliesstoff mit extrem hoher Dichte, der gewöhnlich bei der Herstellung von Schutzanzügen für die chemische Industrie, aber auch bei der Fabrikation witterungsbeständiger und wasserabweisender Kleidung Verwendung findet. Als Isoliermaterial auf der Innen- respektive Rückseite dient Mylarfolie, die aufgrund ihrer hervorragenden thermischen Eigenschaften etwa bei Raumfahrtanzügen oder Rettungsdecken zum Einsatz kommt und hier wie dort der Regulierung der Körpertemperatur dient. Es ist diese Kombination unterschiedlicher Materialien, die die Strapazierfähigkeit des Wearable Dwelling ausmacht und es seinen Träger_innen ermöglicht, sich gegen jegliche Unbilden der Natur zu wappnen. Die Studierenden des RCA entwickelten damit ihr ganz spezifisches emergency-design-Objekt, mit dem sie dem Problem zu begegnen hofften, dass Migrant_innen auf der Flucht meist nicht mehr als die eigene Kleidung am Leib tragen und als Heimatund Wohnungslose schutzlos der Fremde ausgeliefert sind (vgl. ebd.).
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Ungeachtet dessen, ob man den hierin aufscheinenden Idealismus der Studierenden teilt oder ihn bloß als Ausdruck eines elitären, vermeintlich sozial engagierten Kunst- und Design-Dünkels betrachtet,1 lohnt es der Frage nachzugehen, mit welchem Vokabular dieses prototypische Kleidungsstück in den Medien verhandelt wird. Emma Hartley vom Guardian beispielsweise spricht, wie bereits ausgeführt, von einem „wearable dwelling“, einer tragbaren Wohnstätte oder Behausung für Geflüchtete, ebenso Krithika Varagur in der Huffington Post (Varagur 2016). Alice Morby wiederum charakterisiert das multifunktionale Gewand im Architektur- und Design-Magazin dezeen als „wearable habitation coat“, als tragbaren Wohnmantel oder -anzug, und spricht verallgemeinernd auch vom „wearable habitation project“, einem Projekt für tragbare Wohnungen (Morby 2016). Bei allen Kommentator_innen deutet die Verwendung des Adjektivs „wearable“ auf eine Wortspielerei zwischen „to wear“ (ein Kleidungsstück am Körper tragen) und „wear“ ([Be-] Kleidung, Mode), die in der deutschen Übersetzung „tragbar“ bedauerlicherweise verloren geht. Damit wird in den Beschreibungen dieses in eine temporäre Wohnstatt verwandelbaren Kleidungsobjekts ein Konnex, wenn nicht gar eine Analogie zwischen (Be-)Kleidung, Körper und Wohnen respektive Wohnraum aufgemacht, die – so die These – charakteristisch für den Typus der Tragbaren Architektur ist. Als Tragbare Architekturen oder Wearable Architectures werden im Folgenden Textilien bezeichnet, die sich in temporäre Wohnstätten oder mobile Behausungen, zumeist Zelte, transformieren lassen. Vermehrt entwickelt werden sie seit den 1990er Jahren, als Conceptual-Fashion-Designer_innen wie Junya Watanabe (*1961), Issey Miyake (*1938) oder Hussein Chalayan (*1970) begannen, die Grenzen zwischen Mode/Fashion und Architektur in dekonstruktivistischer Manier zu befragen (vgl. Quinn 2003, S. 4–9, 65–76). Entsprechend findet der Begriff Tragbare Architekturen vor allem im künstlerisch-textilen Bereich Verwendung, wo ihn die Kunstschaffenden zur Charakterisierung und Betitelung ihrer Projekte heranziehen. In der sehr rar gesäten wissenschaftlichen Literatur zu diesem Themenfeld finden sich hingegen Wortschöpfungen wie der von Jennifer 1 Eine Kommentatorin schreibt etwa: „The design will do nothing to assist refugees in the long-term. It’s a high-fashion approach that denies any notion of an actual humanitarian crisis“ (Morby 2016). Mit dem hier anklingenden Aspekt der „Ausbeutung“ des Schicksals von Geflüchteten im Kunstkontext hat sich kritisch Wolfgang Ullrich in einem lesenswerten Artikel mit dem Titel „Kunst und Flüchtlinge: Ausbeutung statt Einfühlung“ auseinandergesetzt (Ullrich 2016).
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Johung verwendete Begriff der Body Architecture, der Körper-Architektur, oder die von Bradley Quinn geprägten Neologismen garment-cum-shelter (Gewand-mit-Schutz[hütte]) und garment-cum-habitat (Gewand-mit-Habitat/Habitat-Gewand) (vgl. Johung 2012, S. 97–129; Quinn 2003, bes. S. 157–162). Im Gegensatz zu Quinn, der damit den funktionalen Aspekt wandelbarer Kleidungsstücke betont, lenken Bezeichnungen wie Tragbare Architektur oder Body Architecture den Fokus stärker auf die konzeptuellen Bezüge derartiger Gewandtypen an der Schnittstelle von Architektur und Mode. Angesichts solcher begrifflichen Unschärfen ist es Anliegen des vorliegenden Aufsatzes, Ansätze für eine Historisierung, Theoretisierung und Konzeptualisierung des Begriffs der Tragbaren Architekturen zu entwickeln. Hierzu werden im Folgenden exemplarisch weitere bewohnbare Kleider-Architekturen vorgestellt und Gemeinsamkeiten, aber auch etwaige Unterschiede herausgearbeitet. Diese Beobachtungen werden wiederum rückgebunden an eine kritische Auseinandersetzung mit einhergehenden Vorstellungen und Konzepten von Körperlichkeit, (Be‑)Kleidung und Wohnen, die im Dialog mit Gottfried Sempers Bekleidungstheorie sowie dem Topos von der Architektur als dritter Haut entwickelt werden.2
Jenseits der Architektur – Archigram und das Konzept der pneumatischen ,Raum-Anzüge‘ in den 1960er Jahren Zu den Ersten, die sich bereits in den 1960er Jahren mit der Thematik wandelbarer Kleider-Architekturen auseinandersetzten, zählt Archigram. Die Gruppe, die als lockerer Zusammenschluss der britischen Architekten Peter Cook (*1936), Warren Chalk (1927–88), Dennis Crompton (*1935), David Greene (*1937), Ron Herron (1930–94) und Michael Webb (*1937) zwischen 1960 und 1974 aktiv war, ist heute vor allem für ihre experimentellen Entwürfe utopistischer Stadt- oder Megastrukturen bekannt. Eine leitende Fragestellung von Archigram war, wie sich in Megacitys der
2 Wichtige Referenzen sind in diesem Kontext Quinns Studien zum Einfluss der Architektur auf die Mode, publiziert in The Fashion of Architecture (2003), sowie Johungs Replacing Home. From Primordial Hut to Digital Network in Contemporary Art (2012), in der die Autorin zeitgenössische ortsspezifische Installationskunst im Kontext diverser mobiler (Wohn‑)Architekturen untersucht.
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Zukunft (etwa in der von Cook entworfenen Plug-in-City von 1964) durch eine Modularisierung von Wohnen/Wohnraum, Versorgungsstrukturen und Kommunikationswegen Mobilität und insbesondere Flexibilität im urbanen Raum erreichen lasse (vgl. Düesberg 2013, S. 90–108). Zu diesem Zweck entwarf Chalk beispielsweise Wohnkapseln (1964) in Form miniaturisierter, industriell gefertigter und standardisierter Wohneinheiten, die beliebig zu Wohntürmen gestapelt oder an bestehende Gebäudekomplexe angedockt werden konnten. Weniger bekannt ist hingegen, dass die Auseinandersetzung mit der Mobilität des Wohnens bei einigen dieser Megastrukturalisten zu einem radikalen Bruch mit dem ‚klassischen‘ Verständnis von Architektur führte. Eindrücklich zeigt sich dies in den Entwürfen Greenes und Webbs aus den späten 1960er Jahren, die als Urtypen Tragbarer Architekturen gelten. Greenes Inflatable Suit (1968) etwa ist ein durchsichtiger, eng anliegender membranartiger Ganzkörper- oder Schutzanzug, der sich im aufgeblasenen Zustand in eine Art pneumatische Wohnkapsel mit eingelassener Matratze verwandelt.3 Demselben Prinzip folgt Webbs Suitaloon (1966), den dieser bezeichnenderweise als „clothing for living in“ (Kleidungsstück zum Drin-Wohnen) und als „minimal house“ (Mini-Behausung oder Mini[mal]-Haus) bezeichnet (Cook 1999, S. 80; dt. in Crompton 2012, S. 207).4 Im Unterschied zu Greenes Inflatable Suit ist dieser „Raum-Anzug“5 (space suit) jedoch zusätzlich mit Steckern versehen, über die sich die_der Träger_in mit anderen Hüllen und deren Bewohner_innen, aber auch mit Gebäuden verbinden kann (Abb. 2). Fahrgestelle erlauben zudem die motorisierte Fortbewegung, wobei die Modellpalette vom sportlichen Gefährt bis zur ‚Familienkutsche‘ reicht; die von ihnen mechanisch erzeugte Energie wird wiederum zur Versorgung zahlreicher im Innern des ‚Raum-Anzugs‘ verlaufender Kommunikations- und Verbindungskabel genutzt, sodass Webbs Suitaloon letztlich als eine autarke, mobile, aufblasbare Wohneinheit fungiert. In einem Jahrzehnt, in dem die Mobilität der Erdbewohner_innen durch den fort-
3 Unverkennbar ist die Ähnlichkeit mit Cooks Blow-out Village (1966), bei der eine flexible, beliebig erweiterbare städtische Struktur unter einer gewaltigen Kuppel Platz findet. 4 Der Begriff Suitaloon ist eine Wortschöpfung Webbs, die sich aus den Nomina „suit“ (Anzug) und „balloon“ (Ballon, auch Sprech- oder Denkblase) zusammensetzt. 5 In der deutschen Fassung von A Guide to Archigram 1961–1974 wird „space suit“ mit „Hausanzug“ übersetzt (Crompton 2012, S. 207).
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2 Michael Webb, Suitaloon, 1966
schreitenden Siegeszug des Automobils sowie die erste Mondlandung (1969) zu einem wichtigen gesellschaftlichen Movens wurde, sind die aufblasbaren ,Raum-Anzüge‘ von Archigram, die nicht von ungefähr an Raumfahrtanzüge oder Überlebenskapseln der NASA erinnern (vgl. Kronenburg 2002, S. 45; Sadler 2005, S. 110), damit eine mögliche Antwort auf die sich damals nicht nur in der westlichen Hemisphäre im Wandel befindlichen Lebensbedingungen. Sie sind, wie Webb treffend im Zusammenhang mit dem Cushicle (1967), seinem zweiten prototypischen Entwurf eines pneumatischen Raumes mit Fahrgestell und mobiler (Unterhaltungs-)Elektronik, bemerkt, die idealen Behausungen moderner Nomad_innen.6 6 Webb führt hierzu aus: „The Cushicle is an invention that enables a man to carry a complete environment on his back. It inflates-out when needed. It is a complete nomadic unit – and it is fully serviced.“ (Cook 1999, S. 64) Zum Aspekt des Nomadischen in den Entwürfen Archigrams siehe auch Quinn 2003, S. 97–100.
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Revolutionär und für den Kontext dieses Aufsatzes besonders relevant ist die Auffassung von Architektur bzw. architektonischem Wohnraum, die hinter diesen Projekten steht. „[…] we get close to something very like man-as-a-bat where the skin of the enclosure is dependent upon a system of vertebrae that respond very directly to the nervous system of the person within“, führt Peter Cook in seinem Buch Experimental Architecture (1970) aus (zit. n. Sadler 2005, S. 114). Ausgehend von der ‚natürlichen‘ Schutzfunktion der Haut, die den menschlichen Körper – ebenso wie die Kleidung als zweite Haut – schützend umfängt, wird hier auf die Idee der Architektur als dritter Haut rekurriert. Mit dieser im Architekturdiskurs der Moderne weit verbreiteten Körpermetapher geht die Vorstellung einher, dass Architektur etwas Flexibles, Membranartiges sei, das ebenso wie die Epidermis direkt auf die Bedürfnisse der in ihr Lebenden ,reagieren‘ könne (vgl. Härtel 1999, S. 98–103). Diesen Wunsch nach einer ,intelligenten‘, „aktiven Architektur“, einer „[architecture of] exchange and response […] that really respond[s] to human wish“ (Cook 1999, S. 80), bedienen die pneumatischen Raumentwürfe Greenes und Webbs – zumindest theoretisch. Das Sprechen von der Architektur als dritter Haut impliziert aber auch eine Entmonumentalisierung (vgl. Sadler 2005, S. 107–117); Jennifer Johung spricht sogar von einer „Dematerialisierung“ (Johung 2012, S. 105). Anders als in der westlichen Kultur der Moderne üblich wird damit Architektur – und indirekt auch das Wohnen – als nicht ortsgebunden und gebäudezentriert, eben als entmonumentalisiert, vorgestellt. Simon Sadler hat hierfür in Bezug auf Archigram den treffenden Begriff der „Architecture without Architecture“ geprägt (Sadler 2005); die Gruppe selbst spricht auf dem Cover der siebten Ausgabe ihres namensgebenden Magazins Archigram, dessen visuelle Gestaltung deutliche Anleihen bei der Textilkunst nimmt, von „[Architecture] beyond Architecture“ (zit. n. ebd., S. 93). Mit diesem konzeptuellen Verständnis einer Entmonumentalisierung von Architektur stand das Kollektiv in den 1960er Jahren nicht allein. Bereits 1965, kurz bevor Webb und Greene ihre pneumatischen ‚Raum-Anzüge‘ in der Öffentlichkeit bekannt machten, hatte der britische Architekturkritiker Reyner Banham (1922–1988) einen Artikel mit der Überschrift „A Home Is Not a House“ publiziert. Hierin träumte er, angeregt durch Richard Buckminster Fullers (1895–1983) experimentelle Kuppeln sowie die Verwendung neuer formbarer Materialien beim Bau, von durchsichtigen Plastik-„domes“ oder „environment-bubbles“, unter denen größere Menschengruppen mit
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dem für sie Notwendigsten (darunter dem Zeitgeist entsprechend vor allem Unterhaltungselektronik) Platz finden sollten (Banham 1965, S. 77). Solche klimaneutralen, sich selbst regulierenden „Nicht-Häuser“ („un-house[s]“) oder „non-architectural anti-building[s]“ würden, so Banham, über kurz oder lang eine „domestic revolution“ einleiten (ebd., S. 75f.). Neben Banham, den Sadler als wichtige Referenz und Inspirationsquelle für Archigram anführt (vgl. Sadler 2005, S. 113), setzten sich aber auch andere, heute international anerkannte Architekten mit pneumatischen Räumen auseinander – darunter die österreichische Gruppe Coop Himmelb(l)au, die mit der Villa Rosa (1968) einen im Koffer transportablen, aufblasbaren Raum mit eingebauter Luftmatratze schuf, der sich an andere Räumlichkeiten andocken lässt. Im Unterschied zu diesem und anderen Entwürfen besteht die Besonderheit der ,Raum-Anzüge‘ von Archigram allerdings darin, dass nicht eine körperlose Hülle oder Membran, sondern die Kleidung selbst in einen pneumatischen Raum umfunktioniert werden kann, die potenziellen Bewohner_innen ihre Behausung also stets am Leibe tragen. Damit fallen die Vorstellung der Kleidung als zweiter und die der Architektur als dritter Haut in eins und überlagern sich im konzeptuellen Sprechen von der Wearable Architecture, der Tragbaren Architektur. Maße und Ausdehnung des geschaffenen Wohnraumes wiederum werden realiter vom menschlichen Körper und dessen Volumina bestimmt, wie dies auch Jennifer Johung auf den Punkt gebracht hat: „[…] Webb’s Cushicle/Suitaloon […] challenged the material foundation of modern architectural organicism, suggesting that the biological form of a body could literally take the place of a built site.“ (Johung 2012, S. 106)
Kleider des Anstoßes – die Politisierung des KleiderKörpers in Lucy Ortas Wearable Architectures Unter völlig anderen Vorzeichen greift in den 1990er Jahren die britische Künstlerin und Aktivistin Lucy Orta (*1966) das Konzept der Tragbaren Architektur auf. Zu Beginn des Jahrzehnts kehrt die ausgebildete Modeund Textildesignerin der glamourösen Fashion-Welt den Rücken zu und widmet sich verstärkt gesellschaftspolitischen Themen und Fragestellungen. Ihre Beweggründe hierfür sind vor allem die hohe Arbeits- und Obdachlosigkeit während der Wirtschaftskrise im Großbritannien der Thatcher-Ära (1979–90), aber auch die Folgen von Flucht- und Migrati-
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3 Lucy Orta, Refuge Wear – Habitent, 1992/93, Installationsansicht Galerie Anne de Villepoix, Paris
onsbewegungen im Zuge der Kriege in Ruanda, dem Irak und dem ehemaligen Jugoslawien. Als eine ihrer ersten künstlerischen Arbeiten entsteht zwischen 1992 und 1998 die Serie Refuge Wear (Schutzbekleidung). Bereits der Titel impliziert, dass Orta ihre Tragbaren Architekturen als ehemalige Modedesignerin primär von der Kleidung her denkt und konzipiert, und nicht wie Archigram in Auseinandersetzung mit Architekturdiskursen und -utopien der Moderne. Es verwundert daher nicht, dass ihr wohl bekanntestes Objekt dieser Serie – die Arbeit Habitent7 (1992/93),
7 Der Begriff Habitent ist, wie auch die Bezeichnungen der Tragbaren Architekturen von Archigram, ein Wortspiel. Er verweist einerseits auf die dritte Person Plural des französischen Verbs „habiter“ (wohnen), andererseits ist er eine Wortschöpfung, die sich aus den englischen Nomina „habitat“ (Habitat/Lebensraum) und „tent“ (Zelt) zusammensetzt.
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ein aluminiumbeschichteter Regenmantel aus Polyamid, der sich in ein Igluzelt verwandeln lässt (Abb. 3) – im Bereich des Produktdesigns zum Vorbild einer Reihe multifunktionaler, witterungsbeständiger Outdoorjacken für Festivalbesucher_innen und Trekkingbegeisterte wurde.8 Auch das prototypische Wearable Dwelling der Studierenden des RCA orientiert sich zweifelsohne an diesem Modell. Anders als den unter rein funktionalen Gesichtspunkten vermarkteten Lifestyle-Produkten oder Tent Coats für Outdooraktivitäten liegt Ortas Habitent, ebenso wie dem Projekt der Studierenden, die mobile/tragbare (wearable) Behausungen für Flüchtende schaffen wollten, allerdings ein sozialkritischer Impetus zugrunde. Für Orta haben die Kleidungsstücke der Refuge-Wear-Serie vor allem Zeichencharakter; sie sind textile Marker, die zum Nachdenken über die Folgen von Wohnungs- und Heim(at)losigkeit obdachloser und/oder expatriierter Mitmenschen anregen sollen – solcher Personen also, denen im städtisch-urbanen Raum bzw. im öffentlichen Diskurs über diesen gewöhnlich kein fester Ort und auch keine Stimme zugewiesen wird (vgl. Pinto 2003, S. 34–39; Johung 2012, S. 107f.; Quinn 2003, S. 159–161). Um auf deren prekäre physische und psychische Situation aufmerksam zu machen, nutzt die Künstlerin einzelne Objekte dieser Serie als Leinwand für manifestartige Statements oder Piktogramme. Auf einem ihrer Kokons, die (ebenso wie das spätere Zelt-Cape der Londoner Studierenden) häufig mit nützlichen Accessoires wie Taschen für die bewegliche Habe ausgestattet sind, ist beispielsweise ein Kompass abgedruckt, mit dem indirekt auf die geografische und gesellschaftliche Orientierungslosigkeit von Flüchtenden und Migrant_innen hingewiesen wird. Ein anderer Aspekt wird mit dem schlafsackähnlichen Mobile Cocoon with Detachable Baby Carrier (1994) (Abb. 4) angerissen, auf dessen Vorderseite zu lesen ist: „Les séjours prolongés sans abris dégradent rapidement la santé physique et morale. Le temps de sommeil insuffisant majore le stress, affaiblit les défenses immunitaires et accélère la perte d’identité et la désocialisation.“ Orta zufolge begünstigen also Flucht und Wohnungslosigkeit, die sich ihrer Ansicht nach vor allem im Fehlen eines (persönlichen/privaten) Schutz- oder Rückzugsraumes („sans abris“) widerspiegeln, Prozesse
8 Von den vielen Produkt- oder Industrial-Fashion-Designer_innen, die solche Tent Coats für kleine ‚Alltagsfluchten‘ schaffen, seien exemplarisch Moreno Ferrari (für C.P. Company), Mark und Zana Bahlig (von spark design + creation) sowie Justin Gargasz genannt.
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4 Lucy Orta, Refuge Wear City Interventions, 1993–96
der Vereinsamung, der Desozialisation sowie des Identitätsverlusts. Auf diese Argumentation nimmt etwa Paul Virilio Bezug, wenn er in einem vielzitierten Katalogbeitrag zur Refuge Wear schreibt: „[Orta’s] work corresponds to a disintegration of society. […] Their main task is to warn of social breakdown – social divorce.“ (Virilio 1996, S. 2) Dass damit auch der Verlust familiärer Bindungen, insbesondere zwischen Mutter und Kind, verbunden sein kann, darauf referiert Orta mit ihrem Mobile Cocoon, dem ein nicht nur symbolisch abtrennbarer Babyschlafsack beigefügt ist (vgl. Quinn 2003, S. 168f.). Orta begnügt sich allerdings nicht mit dem bloßen Aufzeigen der von ihr konstatierten sozialen Missstände in Form von Kleider-Objekten, die im Kunst- und Ausstellungskontext leicht zu oberflächlichen Kunstobjekten werden könnten. Soziale Integration oder gesellschaftlicher Ausschluss gehen gewöhnlich mit der Sichtbar- oder Unsichtbarkeit der betroffenen Bevölkerungsgruppen (Obdachlose, Arbeitslose …) in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft einher. Im Sinne eines partizipativen Kunstverständnisses sowie mit dem Ziel der ‚Sichtbarmachung der Unsichtbaren‘ präsentiert Orta ihre Tragbaren Architekturen daher stets in Interaktion mit unterschiedlichen Träger_innen‑/Nutzer_innen-Gruppen sowie in un-
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terschiedlichen sozialen Kontexten. Neben Collective Dwelling Workshops, bei denen sie im Vorfeld ihrer Projekte mit diversen Personengruppen (Obdachlosen, sozial benachteiligten Teenagern, aber auch Künstler_innen und Ausstellungsbesucher_innen) über Themen wie Kleidung, Wohnen oder die Bedeutung von Schutzräumen im öffentlichen oder privaten Bereich diskutierte, veranstaltete sie zwischen 1993 und 1996 sogenannte City Interventions. Bei diesen stadträumlichen Interventionen waren die Workshopteilnehmer_innen eingeladen, sich in den fertigen Gewändern durch den urbanen Raum zu bewegen und markante öffentliche Orte und Plätze (wie Wohnblöcke, U-Bahn-Stationen, Rathausplätze etc.) zu ‚besetzen‘. Besonders spektakulär waren beispielsweise eine Aktion im Jahr 1995 mit Bewohner_innen aus Le Corbusiers Cité de Refuge, einem bekannten, von der französischen Heilsarmee finanzierten Pariser Wohnheim für Bedürftige und Obdachlose, oder die provokative Refuge Wear Intervention im Carroussel du Louvre ein Jahr zuvor, die parallel zu einer glamourösen Modenschau von Vivienne Westwood während der Fashion Week stattfand. Im Gegensatz zu den Archigram-Architekten interessiert Orta an ihren Tragbaren Kleider-Architekturen also nicht nur deren Schutzfunktion (ganz im Sinne der weiter oben ausgeführten konzeptuellen Vorstellung von Kleidung als zweiter und Architektur als dritter Haut), sondern sie lenkt im Medium des wandelbaren Textils sowie der stadträumlichen Intervention den Fokus auf die Bedeutung und soziale Dimension von Schutz- oder Wohnräumen sowie deren Abwesenheit (vgl. Johung 2013, S. 26–28). Dabei werden indirekt der Körper der Träger_innen sowie dessen Sichtbar- oder Unsichtbarkeit im Stadtraum, wie Johung mit Verweis auf Quinn ausführlich im Kapitel „Visibly Skinned“ ihrer Untersuchung Replacing Home (2012) dargelegt hat, zum Aushandlungsort sozialer Integration oder Isolation (vgl. Johung 2012, S. 111–129; siehe Quinn 2003, S. 161–166). Um die Mechanismen und gesellschaftlichen Strukturen, die sich hinter der In- oder Exklusion sozialer Gruppen verbergen, noch deutlicher sichtbar zu machen, entwickelte Orta ihre Tragbaren Architekturen im Verlauf der 1990er Jahre konzeptuell zu kommunikativen, textilen Strukturen weiter.9 Ihre Arbeit Body Architecture – Collective Wear 4 Per-
9 Mit dem Aspekt vielfältig verknüpfbarer Tragbarer Architekturen als Spiegel komplexer sozialer Strukturen setzt sich ausführlich Quinn in The Fashion of Architecture, konkret im Kapitel „Intimate Architecture: Lucy Orta’s Social Structures“, auseinander (Quinn 2003, S. 155–186, bes. S. 166–182).
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sons (1994) ist beispielsweise eine Variante ihres Habitent, wobei das Zelt, wie das Homophon „fo(u)r“ impliziert, in diesem Fall allerdings aus vier typengleichen Kleidungsstücken zusammengesetzt wird. Ähnlich funktioniert ihre Connector-Mobile-Village-Serie (2000–2003), bei der Schlafsäcke in beliebiger Zahl miteinander verknüpft werden – ein Prinzip, das bereits bei Archigram im Motiv der Stecker, über die einzelne Kleiderhüllen miteinander verbunden werden können, angelegt ist. Eine gleichsam ins Unendliche erweiterbare, „rhizome-like architectural configuration[ ]“ (Orta zit. n. Pinto 2003, S. 57) stellt auch Ortas Nexus Architecture dar. Im Gegensatz zu ihren Zelt-Kleidern, die sie als „portable habitats“ (tragbare/mobile Lebensräume) des „homo mobilis“ charakterisiert (Orta o. J.), nimmt die Künstlerin hier jedoch eine deutliche konzeptuelle Verschiebung vor: Während bei Ersteren das textile Gewand noch in eine mobile Behausung umfunktioniert werden kann, kommt den nicht wandelbaren, schlauchartig zu einer Menschenkette verknüpfbaren Overalls der Nexus Architecture eine rein repräsentative Funktion zu. Kleidung bzw. die am Körper getragene Kleidung steht damit, wie das Nomen „architecture“ im Titel herausstreicht, ausschließlich metonymisch für gebaute Architektur und deren soziale Funktionen.10 Gleichzeitig wird der (individuelle) Körper der Träger_innen als ‚lebender Kleiderständer‘ selbst zur Be-Hausung, zum Habitat, und zum „builder of relationships“ (Pinto 2003, S. 39) innerhalb eines komplexen Gefüges von Architektur- und Wohnraum-Denken (siehe auch Quinn 2003, S. 160). Orta führt hierzu aus: „Since to inhabit a space means to consider it part of one’s body, clothes are fully entitled to become architectural dwellings […]“ (zit. n. ebd.). Dies erklärt auch, warum Johung im Zusammenhang mit Ortas Projekten den von der Künstlerin selbst in den Diskurs eingebrachten Begriff der Body Architecture dem der Wearable Architecture vorzieht (vgl. Johung 2012, S. 97–129).11 Insofern Orta in dekonstrukti10 Zur Kleidung als Metonym für Architektur siehe auch meinen Artikel zu Azra Akšamijas Wearable Mosques – Kleidern und Gewändern, die sich in mobile Orte des Gebets, sogenannte Tragbare Moscheen, verwandeln lassen (Schönhagen 2016). 11 Auch Quinn verwendet den Begriff Body Architecture (vgl. Quinn 2003, S. 163–166). Im Gegensatz zu Johung dient er bei ihm jedoch nicht zur Charakterisierung des von mir als Tragbare Architekturen bezeichneten Kleidertypus, sondern er bezieht sich ausschließlich auf Ortas gleichnamige Werkgruppe, zu der auch das Zelt für vier Personen gehört. Als Gattungsbegriff präferiert Quinn hingegen seine Wortfindung garments-cum-habitats (ebd., S. 159), womit
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vistischer Manier der 1990er Jahre die Grenzen zwischen dem Körper als Be-Hausung und architektonisch-textilen Konstruktionen des Habitats befragt, oszillieren ihre Tragbaren Architekturen nämlich nicht nur zwischen Diskursen um Architektur, Kleidung und Wohnraum, sondern sie thematisieren über die Sichtbar- oder Unsichtbarkeit des Textilen und insbesondere des Körpers auch gesellschaftliche In- und Exklusionsmechanismen, die wiederum langfristig Einfluss auf die Städteplanung und die Wohnungsbaupolitik haben. „[They] determine […]“, wie Johung in sozialutopistischem Gestus schreibt, „a visibly continuous, participant-driven, publicly enacted flexibility between independence and interdependence, which together are necessary for any long-term program of socially engaged public housing. [Hence,] Orta’s work suggests that individual homes, as well as systems of community formation, are based on the ability of bodies to come together not only easily and efficiently, but also publicly and visibly.“ (Johung 2012, S. 124)
Mary Mattingly – tragbare Camouflage-Architekturen fürs Anthropozän Das vierte Projekt, dem im Rahmen dieses Aufsatzes nachgegangen wird, sind die (Portable) Wearable Homes/Architectures der US-Amerikanerin Mary Mattingly (*1979).12 Mattingly, die vor allem an Fragen ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit interessiert ist und mit ihren Arbeiten mehr als nur ein Zeichen gegen die aktuelle Wegwerfgesellschaft, den Konsumwahn und den Turbokapitalismus setzen möchte, beschäftigt sich seit Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn mit dem Thema Wohnen. Nicht zu übersehen im Stadtraum großer Metropolen wie New York oder Philadelphia sind ihre bepflanzten, energieneutralen Hausboote oder schwimmenden Gärten (Waterpod 2009, Flock House 2012/13, Triple Island 2013),
er auf den funktionalen Aspekt dieser Kleiderobjekte fokussiert, die konzeptuelle Verschränkung von (Be‑)Kleidungs-, Körper- und Architekturdiskursen allerdings vernachlässigt. 12 Im Gegensatz zu Archigram und Lucy Orta, die bereits in den Kanon westlicher Kunst- und Architekturgeschichte aufgenommen wurden, ist Mattingly – zumindest in Europa – relativ unbekannt. Eine Monografie zu ihrem Œuvre steht bisher aus; der einzige verfügbare Katalog Mary Mattingly. Mass and Obstruction (2016) hat eher den Charakter eines Bildbandes.
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die in einer Mischung aus Land-Art-Projekt, Guerilla Gardening und Kuppeln à la Buckminster Fuller zur Selbstversorgung einladen. Claudia Bodin bezeichnet Mattingly daher nicht ohne Grund als „Musterbeispiel eines relativ neuen Künstlertypus“, der sich – wie Hanno Rauterberg in seinem Buch Die Kunst und das gute Leben (2015) ausführt – nicht der Autonomie der Kunst, sondern der „Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände“ verschrieben habe (Bodin 2016, S. 91). Bevor sich Mattingly ihren schwimmenden „Inseln der Selbstversorgung“ (ebd., S. 92) zuwandte, die sie gemeinsam mit Ingenieur_innen, Wissenschaftler_innen, Aktivist_innen und Künstler_innen entwickelt und bewohnt, setzte auch sie sich mit dem Konzept der Tragbaren Architektur auseinander. Ihre als Wearable Homes bezeichneten Schutz- oder Haus-Anzüge tauchen erstmals 2004/05 in ihrem Œuvre auf. Es handelt sich um sehr rudimentär gestaltete Kleidungsstücke, die sich – ebenso wie die ‚Raum-Anzüge‘ der Archigram-Architekten Greene und Webb – theoretisch in pneumatische Räume oder mobile Wohnstätten verwandeln lassen (etwa in das Inflatable Home [2008] aus der Serie Nomadographies). Sie erinnern zudem an zeitgenössische, noch im Entwicklungsstadium befindliche i-Wear, ‚intelligente‘ Hightech-Mode mit integrierter Elektronik. So sind Mattinglys Wearable Homes beispielsweise ausgestattet mit transportablen Solarzellen zur Stromerzeugung, GPS-Mikrogeräten zur Orientierung sowie temperaturregulierenden Sensoren, die in unterschiedliche Stoff- oder Materialschichten (subtropical layer, watertight shell und subarctic layer) eingearbeitet sind und es ihren Träger_innen ermöglichen sollen, unter den unwirtlichsten Bedingungen zu überleben (vgl. Mattingly 2004). Im Sinne utopistischer Materialeigenschaften soll zudem eine Kapuze Schutz vor gefährlicher Sonneneinstrahlung oder Radioaktivität bieten. Als mobile Schlafstätte kann eine Hängematte dienen, die in einer Rückentasche mitgeführt wird. Mattinglys Wearable Homes sind damit einerseits eine konsequente Weiterentwicklung der ‚Raum-Anzüge‘ von Archigram, bei denen die als lebensnotwendig erachtete elektronische Versorgungs- und Kommunikationsinfrastruktur stets mit sich herumgetragen werden konnte. Andererseits kombinieren sie auf innovative Art und Weise die Materialeigenschaften ,intelligenter‘ Hightech-Mode mit dem Konzept der Tragbaren Architektur. Die Zukunfts- und Technikbegeisterung, die sich sowohl in den Entwürfen des britischen Architektenkollektivs der 1960er Jahre als auch in der technoiden i-Wear-Fashion der Gegenwart widerspiegelt, ist bei
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Mattingly allerdings einem düsteren Zukunftspessimismus gewichen. Für die Künstlerin sind ihre Haus-Anzüge oder „tragbaren Heime/Häuser“ Sinnbilder einer nicht allzu fernen menschenfeindlichen Zeit, in der die Erdbewohner_innen aufgrund selbstverschuldeter klimatischer Katastrophen, kollabierender Ökosysteme und damit einhergehender ökonomischer wie politischer Konflikte zu steter Mobilität und Selbstversorgung gezwungen sein werden.13 Die Anzüge sind, wie Mattingly selbst in einem Interview ausgeführt hat, „metaphors for a future based on the most rudimentary and distorted survival“ (Jones/Mattingly 2013). Vor diesem Hintergrund inszeniert die US-Amerikanerin ihre Kreationen in fast menschenleeren, wüstenartigen oder überfluteten Landschaften, die häufig Assoziationen an die surrealen Landschaftskompositionen des Malers Yves Tanguy (1900–1955) oder des zeitgenössischen Künstlerduos Robert & Shana ParkeHarrison wecken. Eine solch dystopische, postapokalyptisch anmutende Szenerie bildet etwa die Fotoarbeit The New Mobility of Home (The Nobility of Mobility) aus der Serie Second Nature (2005/06) ab.14 Sie zeigt vor der Kulisse einer wolkenverhangenen, tundraartigen Landschaft die Rückenansicht einer Person in einem zotteligen, fellartigen Etwas, wodurch die gesamte Darstellung wie eine Referenz an Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer (1818) und Bildmodi der Schwarzen Romantik wirkt (Abb. 5).15 Das zugegebenermaßen sehr abstrakte Wearable Home sowohl dieser als auch anderer Fotografien steht damit enigmatisch für die Vereinzelung der Menschen in einer „apocalyptic […] world after civilization“ (Rosenberg 2009), in der die „Kohabitation der Erdenbürger“, um einen Begriff Peter Sloterdijks aufzugrei-
13 Vor diesem Hintergrund definiert Mattingly Mobilität wie folgt: „I think about mobility – how it will become necessary for us to be able to move freely with no ties to a permanent home, due to environmental changes […]“ (zit. n. Schwendener 2006). 14 Der Aspekt des Apokalyptischen in den Bildfindungen Mattinglys wird toposartig in allen Besprechungen ihrer frühen Serien Second Nature (2005/06) und Nomadographies (2007–09) aufgegriffen und setzt sich auch in den Charakterisierungen ihrer späteren Wohnprojekte fort (siehe z. B. Lynch 2011). 15 Der Begriff Schwarze Romantik wurde 1930 von dem Literaturwissenschaftler Mario Praz geprägt. Er bezeichnet eine sich im späten 18. Jahrhundert herausbildende Geistesströmung, die das Unheimliche, Irrationale und Makaber-Groteske, aber auch die Todessehnsucht und andere menschliche Abgründe zum darstellungswürdigen Sujet erhob. Als wichtige Vertreter dieser ‚Nachtseite‘ der Romantik gelten in der bildenden Kunst Caspar David Friedrich, Johann Heinrich Füssli und Arnold Böcklin.
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5 Mary Mattingly, The New Mobility of Home (The Nobility of Mobility) aus der Fotoserie Second Nature, 2005/06
fen (Sloterdijk 2015, S. 44), gescheitert ist – auch und gerade im Wohnen, denn die wandelbaren Haus-Kleider ermöglichen zwar Mobilität und Flexibilität bei der Wahl des Wohnorts,16 als Ein-Personen-Konstrukte tragen sie jedoch gleichzeitig erheblich zur Entfremdung der Menschen in einer ohnehin ungastlichen Welt bei. Um dem Effekt der Vereinzelung und Entfremdung etwas entgegenzusetzen, entwickelte die Künstlerin 2011 ihre bisherigen Haus-Anzüge zu einer stärker auf gemeinschaftliches Beisammensein ausgerichteten Wearable Portable Architecture weiter. Ganz im Sinne sowohl kleidsamer (wearable) als auch transportabler Gewand-Architekturen fertigte sie hierzu Capes, die sich mittels eines Metallgerüsts sowie im Verbund mit anderen prototypischen Gewändern ihrer Art in eine Zeltplane oder eine wabenartig zusammengesetzte Kuppel umfunktionieren lassen (Abb. 6).
16 Mattingly führt hierzu in der manifestartigen Beschreibung ihrer Haus-Kleider aus: „The Wearable Home is for a time when contemporary architecture provides temporal services, it becomes a space we move in and out of daily, and do not need or depend on […]“ (Mattingly 2004).
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Dieses Prinzip des Verknüpfens Tragbarer Architekturen ist bereits von Webbs Suitaloon sowie aus Ortas Serie Body Architecture – Collective Wear bekannt. Innovativ und neu ist bei Mattingly allerdings, dass die einzelnen Capes mit Camouflage-Mustern bedruckt sind. Damit überträgt die Künstlerin das aus dem militärischen Bereich bekannte Prinzip des Tarnanzugs auf den Typus der Tragbaren Architektur. Gleichzeitig hebt sie das Spiel von Sichtbar- und Unsichtbarkeit, das nicht nur ein Charakteristikum militärischer Camouflage-Kleidung, sondern im Wechsel von sichtbarer Kleidung/unsichtbarer Architektur und sichtbarem Wohnraum/unsichtbarer Gewandung auch ein Wesensmerkmal Tragbarer Architekturen ist, auf eine andere, neue Ebene. Hierzu geht sie weit über formalästhetische Bezugnahmen auf die je nach Situation und Verwendungszweck (un‑)sichtbaren ‚Raum-/Haus-Anzüge‘ von Archigram und Orta hinaus. Sie konterkariert sogar Ortas Kleider-Ordnung, die mit ihren Zeltkleidern bestimmten Bevölkerungsgruppen im Stadtraum wieder Sichtbarkeit verleihen wollte. Im Gegensatz dazu ist es bei Mattingly nämlich gerade die Camouflage, die den Träger_innen bzw. Bewohner_innen ihrer Wearable Portable Homes visuellen Schutz und Unsichtbarkeit durch Tarnung garantiert – in einer menschenfeindlichen Umwelt, wie der von ihr prophezeiten, ein nicht ganz unwesentlicher Faktor fürs Überleben. Angesichts dessen können auch diese Entwürfe Mattinglys zweifellos als „post-apocalyptic survival suits“ (Hodgens 2016) bezeichnet werden, die – gewandet in die düstere Metaphorik einer apokalyptischen Zukunftsvision – ebenso wie ihre früheren Wearable Homes Ausdruck einer Kultur- und Zivilisationskritik an den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen sind. Sie sind die Tragbaren Architekturen des Anthropozäns, eines vom Menschen und dessen blinder Zerstörungswut bestimmten, unweigerlich in die ökologische Katastrophe steuernden Zeitalters.
Kleidsame Körper-Architekturen – von der Bekleidungstheorie zur Tragbaren Architektur als dritter Haut Jede (Künstler_innen‑)Generation bzw. jeder Zeitgeist bringt, wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben, einen spezifischen Typus von Wearable Architecture hervor. Tragbare Architekturen sind damit, ebenso wie die Kleidung, die wir am Leibe tragen, unterschiedlichen
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6 Mary Mattingly, Desert Deployment 2 aus der Fotoserie Wearable Portable Architecture, 2011
‚Moden‘ oder Diskursen unterworfen. Die pneumatischen ‚Raum-Anzüge‘ der Archigram-Architekten Greene und Webb sind beispielsweise Ausdruck der Technikbegeisterung und der Zukunftsgläubigkeit der 1960er Jahre. Mattinglys Wearable (Portable) Homes, die über 40 Jahre später entstanden sind, verweisen hingegen auf die andere, die dunkle Seite dieses Zukunftsoptimismus, der sich infolge des Raubbaus an der Natur um die Millenniumswende in eine düstere Endzeitvision der Künstlerin und Aktivistin verkehrt hat. Nicht ökologische, sondern gesellschaftspolitische Belange stehen im Fokus von Ortas Projekten. Ihre Wearable Architectures sind Symptom von und Reaktion auf einschneidende politische und ökonomische Krisensituationen der 1990er Jahre, die die
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ausgebildete Mode- und Textildesignerin durch das Sichtbarmachen des Ausschlusses bestimmter Bevölkerungsgruppen (Arbeitslose, Obdachlose, Migrant_innen …) aus dem öffentlichen Raum sowie die Politisierung des Kleider-Körpers thematisiert. In der Nachfolge Ortas steht auch das jüngste betrachtete Projekt, das Wearable Dwelling der Design-Studierenden des Royal College of Art (RCA). Es ist der Versuch, auf eine menschliche Tragödie anderer Art – nämlich eine der größten Fluchtund Migrationsbewegungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges – zu reagieren und der im Spätsommer/Herbst 2015 vielfach empfundenen politischen Ohnmacht künstlerisch etwas entgegenzusetzen. Trotz dieser unterschiedlichen historischen Kontextualisierungen zeichnen sich die Projekte durch eine Vielzahl gemeinsamer Bezugsfelder aus, die als Anregung für weitere Forschungen kurz umrissen werden sollen. Der wohl kleinste gemeinsame Nenner ist das allen zugrunde liegende Bewusstsein um die Notwendigkeit mobiler, nicht ortsgebundener Architekturen oder Behausungen, die in Zeiten steter globaler Mobilität ,modernen Nomad_innen‘ eine temporäre Heimstatt und Schutz bieten sollen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Bewohner_innen solcher Tragbaren Architekturen (wie Obdachlose) ,Fremde‘ in der eigenen Gesellschaft oder (wie politische Migrant_innen und Klimaflüchtlinge) ,Fremde in der Fremde‘ sind oder eventuell sogar freiwillig unterwegs sind, wie die technikaffinen, mobilitätsbegeisterten Nomad_innen der Architektengruppe Archigram. Das Subjekt der Postmoderne wird als nomadisches gedacht, das wie Nicolas Bourriauds Randikanten17 überall in der Welt behaust sein kann und muss.18 Angesichts dessen erscheinen die Wearable Architectures als Verkörperungen eines Ausspruchs Zygmunt Baumans, der in The Individualized Society (2005) schreibt: „The new global power structure is operated by the oppositions between mobility and sedentariness, contingency and routine, rarity and density of constraints. It is as if the long stretch of history which began with the triumph of the settled over the nomads is now coming to its end […].“ (Bauman 2005, S. 35) Ent-
17 Den Begriff des Randikanten entlehnt Bourriaud der Botanik, wo er Pflanzen bezeichnet, die an jedem beliebigen Ort, also auch in ihnen fremden Lebensräumen/Habitaten, Wurzeln schlagen und überleben können. Damit wird die Frage nach der Herkunft solcher gebietsfremder Arten – ebenso wie die der postmodernen Nomad_innen – obsolet. 18 Im Gegensatz dazu sind die Nomad_innen Quinns ausschließlich städtische, urbane Nomad_innen (siehe Quinn 2003, S. 95–118).
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gegen der abendländischen Tradition, die das Wohnen als ortszentriert definiert, impliziert eine solche Koppelung von Wohn- und Nomadismusdiskursen eine konzeptuelle Erweiterung des ‚klassischen‘ Architekturverständnisses in Richtung eines Wohnens als Wohnen in Bewegung. Oder anders formuliert: Wohnen wird, wie Martin Heidegger dies in Wohnen, Bauen, Denken (1951) in der Metapher der Brücke versinnbildlicht hat, zu einem Durchgangsstadium, das nicht nur das Ergebnis konkreter Bautätigkeiten ist, sondern auch durch das In-Beziehung-Setzen verschiedener Raumrelationen und Objekte entsteht.19 Im Falle der Tragbaren Architekturen geschieht dieses In-Beziehung-Setzen durch die Verknüpfung von Körper-, Textil-/Kleidungs- und Raumdiskursen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Rekurs auf das bereits im Titel dieser wandelbaren Kleiderobjekte angelegte Konzept der Architektur als Bekleidung, in dem sich – wie auch Quinn dargelegt hat – das Themenfeld der (Be‑)Kleidung/Mode mit dem der Architektur überlagert und Architektur als Kleidung gedacht wird und umgekehrt (vgl. Quinn 2003, S. 2f., 172). Erste Ansätze einer solchen Verknüpfung von Architektur- und (Be‑)Kleidungsdiskurs finden sich bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts bei Ennemond Alexandre Petitot (1727–1801). Seine Kupferstichfolge Mascarade à la Grecque (1764/71), die menschliche Figurinen gewandet in spolienartig arrangierten Pilastern, Konsolsteinen, Architraven oder kannelierten Säulenschäften zeigt, wirkt wie eine frühe visuelle Vorwegnahme Tragbarer Architekturen des 20. und 21. Jahrhunderts (Abb. 7). Bereits die Titelgebung dieser kleinen Serie impliziert, dass hier die visuelle Verschmelzung von Kleidung und antikisierenden Architekturversatzstücken weit über die Darstellung des rein Ornamentalen hinausgeht. Die schmucken Spolien- oder Architektur-Mannequins verkörpern vielmehr Diskussionen um den ‚guten Stil‘, der mit einem Klassizismus griechischer Prägung gleichgesetzt wird. Petitot bedient sich also der Bildformel der im steten Wandel begriffenen Kleidung/Mode, um über die ‚Moden‘ in der Sprache der Architektur zu reflektieren. Diese äußerst anschauliche Art der Stildiskussion wird knapp ein Jahrhundert später von Gottfried Semper (1803–1879), der als
19 Bei Heidegger ist zu lesen: „Der Ort ist nicht schon vor der Brücke vorhanden. […] So kommt denn die Brücke nicht erst an einem Ort hin zu stehen, sondern von der Brücke selbst her entsteht erst ein Ort […].“ (Heidegger 2000, S. 156)
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7 Ennemond Alexandre Petitot (inv.), Benigno Bossi (sculp.), Berger à la Grecque aus der Kupferstichfolge Mascarade à la Grecque, 1764/71
Begründer der Bekleidungstheorie gilt, in seiner Schrift Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten (1860) auf eine konzeptuelle Ebene gehoben. Vor dem Hintergrund des aufkommenden Historismus sowie zur Überwindung der gängigen Unterscheidung von Gebäudekern (Konstruktion) und Gebäudehülle (Dekor) entwickelte der theoretisch versierte Architekt – unter anderem in Anlehnung an Wilhelm von Humboldts Begriff der Wortbekleidung – eine poetische Bekleidungsmetaphorik (vgl. Gnehm 2004, S. 102–117). Das In-Analogie-Setzen von menschlicher Bekleidung und architektonischer Gewandung respektive Ver- oder Bekleidung eines Gebäudes diente Semper dabei zur Begründung einer entwicklungsgeschichtlich orientierten Stil- und Materialgeschichte der Architektur, der zufolge die Ursprünge ornamentaler Wand- oder Fas-
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sadengestaltung in den textilen Künsten liegen; als einfachste Form des Wandschmucks oder der Raumbegrenzung gelten entsprechend gewebte Stoffe oder Teppiche, deren Strukturen und Muster in die Baukunst wanderten (vgl. Semper 2008, bes. S. 227–229). Damit fallen, wie Semper schreibt, „die Anfänge des Bauens mit den Anfängen der Textrin zusammen“ (ebd., S. 227). Adolf Loos (1870–1933) wird dieses poetisch-konzeptuelle Verständnis von Architektur aufgreifen, wenn er 1898 in seinem Aufsatz „Das Prinzip der Bekleidung“ schreibt: „Im Anfang war die Bekleidung. Der Mensch suchte Schutz vor den Unbilden des Wetters, Schutz und Wärme während des Schlafs. Er suchte sich zu bedecken. Die Decke ist das älteste Architekturdetail.“ (Loos 2010, S. 138) Vermittelt über Henry van de Velde (1863–1957) und die kunsthandwerkliche Reformbewegung um 1900 wird die Semper’sche Bekleidungstheorie schließlich sogar in den Architekturdiskurs der Moderne Einzug finden, wenn etwa die weiß getünchten, von jeglichem Ornament befreiten Wände von Le Corbusiers Gebäuden (nicht nur von ihm selbst) mit schlichten, zeitgenössischen Herrenanzügen gleichgesetzt oder von der verspielten, zumeist weiblichen Mode vergangener Jahrhunderte abgesetzt werden.20 Dabei dient, wie Marc Wigley in seiner fulminanten Monografie White Walls, Designer Dresses (1995) dargelegt hat, die Kleidungsmetapher in der Nachfolge des entwicklungsgeschichtlich determinierten Semper’schen Stilbegriffs dazu, die Fortschrittlichkeit und Modernität der Le Corbusier’schen Architektur bzw. des Neuen Bauens im Allgemeinen herauszustreichen (vgl. Wigley 1995, S. 9–23). Im Typus der Tragbaren (textilen) Architektur wird dieser Bekleidungsdiskurs der Moderne aufgegriffen und auf neue, innovative Weise weitergedacht. Eine poetische Bekleidungsmetaphorik im Sinne Sempers hat sich dabei – außer in Ortas Nexus Architecture, wo die rhizomatisch verbundenen Körperhüllen metonymisch für gebaute Architektur stehen – überlebt. An ihre Stelle ist eine direkte Auslegung von ‚Architektur als Bekleidung‘ getreten, bei der die Gewandung realiter, wenn auch nur temporär, in Architektur oder umgekehrt Architektur
20 Zur Rezeption der Bekleidungstheorie seit Semper siehe überblicksartig Quinn 2003, S. 136–138; zur Verschränkung von (Innen‑)Architektur, Bekleidungsthematik und geschlechtlich kodierten Körperbildern speziell in den Kleiderreform-Diskursen um 1900 siehe Threuter 2001.
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in Kleidung transformiert werden kann. Die bereits im Zusammenhang mit den pneumatischen ,Raum-Anzügen‘ Archigrams konstatierte Entmonumentalisierung von Architektur ist damit der Tatsache geschuldet, dass (textile) Kleidung als ein flexibles, formbares, zweifelsohne modischen Veränderungen unterworfenes Medium – ebenso wie Sempers gewirkte Wand oder das Zelt nomadischer Kulturen – Temporalität und Mobilität von Behausungen denk- und erfahrbar macht. Dies impliziert auch, dass den Wearable Architectures ein Architekturkonzept zugrunde liegt, das nicht mehr auf baulichen respektive monumentalen Parametern beruht, sondern auf anthropologischen. Das heißt, Architektur und Wohnen werden im Sinne des in den 1990er Jahren ausgerufenen Spatial Turn vom menschlichen Körper her als Körper-Raum-Relation gedacht. Kleidung wird damit – ähnlich wie in Le Corbusiers eingangs erwähnter Charakterisierung zukünftiger Architektur als „tool“ bzw. des Möbels als Erweiterung oder Prothese der Bewohner_innen eines Hauses – zu einem Werkzeug, einem Medium, über das Fragen von Architektur als sozialem Raum verhandelt werden können.21 Dieses anthropologische Verständnis greift beispielsweise Mattingly auf, wenn sie formuliert: „Architecture is the interplay between physical space, network space, and mental space.“ (Mattingly 2004) Die skizzierte Auffassung von Architektur, die auch der Grund ist, warum Johung von Body Architecture und nicht von Wearable Architecture spricht (vgl. Johung 2012, S. 97–129), spiegelt sich auf der praktischen Ebene vor allem in der Wandelbarkeit der Kleidungsobjekte. Das unentwegte Spiel dieser Vexiergewänder, das zwischen der Sichtbar- und Unsichtbarkeit der Kleidung als Be-Hausung des menschlichen Körpers und der zur mobilen Behausung transformierbaren Kleidung oszilliert, korrespondiert mit der Sichtbar- oder Unsichtbarkeit der Körper der Träger_innen oder Bewohner_innen und der von ihnen ,markierten‘ Orte. Infolgedessen können auch Nicht-Orte im Sinne Marc Augés, darunter öffentliche Plätze, Bahnhöfe, Transitzonen, ‚Haltestellen‘ auf der Flucht oder unwirtliche Landstriche, zu bewohnbaren Orten oder temporären Wohnstätten werden (vgl. auch Johung 2013, S. 30).22 Besonders deutlich zeigt sich dies in Mattinglys Camouflage-Architekturen, die nicht nur
21 Zum Möbel als Prothese bei Le Corbusier siehe z.B. Keim 1999, S. 74f. 22 Zur Verschränkung von Narrativen des Raumes bzw. Augés Non-Places und urbaner Mode siehe allgemein auch Quinn 2003, S. 25–30.
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ihre Träger_innen, sondern auch die von ihnen markierten Orte in einer menschenfeindlichen Welt unsichtbar machen können, oder bei Orta, wo über das Wechselspiel der Tent Coats auch den aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen eine Wohnstatt zugewiesen wird und damit deren zweifelsohne vielfältig konnotierten Körper eine extreme Politisierung erfahren. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass der geschlechtlichen und ethnischen Kodierung von Kleidung, die nicht nur in der Fashionund Modeindustrie, sondern auch in der Rezeption der Semper’schen Stilgeschichte der Bekleidung durch die Epigon_innen des Neuen Bauens eine wichtige Rolle spielte, auf der Produktionsebene dieser Gewänder zumindest vordergründig keine besondere Bedeutung von den hier vorgestellten Architekten und Künstler_innen beigemessen wird. Alle Kleider sind durchweg sehr schlicht gehalten, ohne modischen Firlefanz – teils sind sie, wie im Falle von Mattinglys The New Mobility of Home, sogar nur rudimentär als Bekleidung erkennbar. Die Wearable Architectures scheinen damit in gewisser Weise ein Statement für Anti-Fashion zu sein. Orta bemerkt beispielsweise in einem Interview: „I try to question fashion, to go beyond fashion – not its functional aspects but its social and poetical aspects.“ (Orta 2000, S. 136) Mattingly geht noch einen Schritt weiter, indem sie konstatiert, sie wolle Haus-Kleider („wearable homes“) schaffen, die auf universalistischen, kulturübergreifenden Prinzipien des Bekleidens beruhen. „In the design of the Wearable Home, I examine the cohesive threads of cultures’ and groups’ clothing throughout the world; […] the blandification and brandification of garments spanning cultures worldwide to make one, general look de-emphasizing [the notion of the, A.S.S.] self […]. The result, then, may be that one wearer would be indistinguishable from the other […].“ (Mattingly 2004) Äußerungen wie diese sind es, die Johung dazu verleitet haben, den Typus der Wearable Architecture als geschlechtsneutral („gender-unspecific“) zu charakterisieren (Johung 2013, S. 25). Dennoch zeigen sich – insbesondere im Sprechen über diese wandelbaren Textilien – deutliche Bezugnahmen auf sowohl geschlechtlich als auch historisch determinierte Gewandformen, etwa wenn Greenes Inflatable Suit mit einem gewöhnlich als männlich konnotierten (Raum‑)Anzug („suit“) verglichen wird oder der Entwurf des Wearable Dwelling der Studierenden des RCA sich an der Grundform eines femininisierten Capes orientiert. Solchen Feinheiten in der geschlechtlichen Kodierung der Gewänder sowie etwaigen Verschiebungen oder (räumlichen) Neu-Kontextualisierungen bei
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deren Nutzung nachzugehen, ist sicherlich ein lohnendes Unterfangen für weitere Forschungen. Körperlichkeit wird in den Tragbaren Architekturen jedoch noch auf andere Art und Weise verhandelt, nämlich in der Bezugnahme auf das Konzept der Architektur als dritter Haut. Hierauf spielt etwa Cook an, wenn er Architektur mit der Metapher der Haut als etwas Flexibles und Membranartiges umschreibt, das die in ihr Wohnenden schützend umfängt; auch Orta bezieht sich hierauf, wenn sie ihre Refuge Wear und ihre Body Architecture als den Versuch bezeichnet, „to mimic certain characteristics of the skin“ (Orta 2003, S. 138). Beim Konzept der Architektur als dritter Haut handelt es sich also um eine naturalisierende Körpermetapher, mit der – in Analogie zur menschlichen Haut, die den Körper schützend umgibt – Architektur als eine von zwei weiteren (an-)organischen ,Schutzhüllen‘ versinnbildlicht wird. Während Kleidung dabei als textile, zweite Haut gedeutet wird, repräsentiert (gebaute) Architektur die dritte Haut. Dies erklärt, warum in den Beschreibungen der hier betrachteten Tragbaren Architekturen Körpermetaphern solch große Bedeutung beigemessen wird, denn diese Haus-Kleider sollen vor allem eines: ihre Träger_innen vor den Unbilden der Natur, des Lebens und der Gesellschaft schützen. Die Haut-Architektur-Analogie impliziert allerdings noch etwas anderes: Die Psychoanalyse kennt seit Didier Anzieu die Theorie des ‚Haut-Ichs‘. Dieses entwickelt sich, so die These, bereits im Mutterleib, wenn sich beim Ungeborenen infolge des ‚Erfahrens‘ seiner Körperoberfläche ein Bewusstsein vom eigenen Selbst in Abgrenzung vom Körper der Mutter herausbildet (siehe Härtel 1999, S. 100f.). Mittels der Haut und deren Grenzen wird so ein Innen und ein Außen, ein Eigenes und ein Anderes denk- und erfahrbar und der Mutterleib zur ursprünglichsten Form der Be-Hausung (ebd.). Die Argumentationslinie im Hinblick auf das Sprechen von der Architektur als dritter Haut funktioniert analog: Ebenso wie die Haut als eine Hülle den Körper umgibt und ein ‚Haut-Ich‘ vom Außen abgrenzt, wird die (gebaute) Architektur zur Haut/Hülle, die gleichsam ein Innen von einem Außen scheidet. Dabei besteht, wie Ulla Terlinden bemerkt, allerdings grundsätzlich die Gefahr, dass ein solches Sprechen oder Denken – insbesondere in Bezug auf Geschlechterfragen – in essentialistische Diskurse abdriftet (vgl. Terlinden 2010, S. 17). Dem wirken die Tragbaren Architekturen entgegen, indem sich bei ihnen das naturalisierende Sprechen von der Kleidung als zweiter sowie der Architektur als dritter Haut und Diskurse um die geschlechtliche Ko-
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dierung von Körpern sowie (Be‑)Kleidung überlagern und im Sprechen vom Wearable Home ‚berühren‘.23 Der von den Tragbaren Architekturen umfangene soziale Raum wird also grundsätzlich immer auch als ein geschlechtlich kodierter gedacht.
Der Einzug von Wohn- und Wohnlichkeitsdiskursen in die Tragbaren Architekturen Es bleibt die Frage, wie das bisher Gesagte an das vielfach touchierte Themenfeld des Wohnens rückgebunden werden kann. Sprich wie wird das ‚Haut-Ich‘ zum ‚Wohn-Ich‘24? Die Antwort ist ebenso naheliegend wie kompliziert: über verschiedene Rhetoriken von Häuslichkeit oder Wohnlichkeit. Vordergründig wird auf das Diskursfeld des Wohnens vor allem über die Titel und Charakterisierungen der Tragbaren Architekturen Bezug genommen. Dabei lassen sich graduelle Abstufungen und Differenzierungen ausmachen, je nachdem ob die wandelbaren Kleider-Objekte als „dwellings“ (Wohnungen, Behausungen – RCA-Projekt), „(minimal) house“ (Haus – Webb), „habitent“ (Orta), „habitation“ oder „(portable) homes“ (Wohnung oder Heim, Zuhause – Mattingly) bezeichnet werden. Insbesondere bei den letztgenannten Begriffen schwingt eine Vielzahl weitergehender Konnotationen mit – so bei dem Wort ,home‘, das im Englischen auch ,Heimat‘ bedeuten kann, oder bei dem Nomen ,habitation‘, in dem sowohl das Wortfeld der Gewohnheit (habit) als auch das des Habitats, des natürlichen Lebensraumes einer Spezies, enthalten sind. Neben diesen etymologischen Referenzen wird auf der Ebene der konkreten gestalterischen Umsetzung (bei Orta, dem Wearable-Dwelling-Projekt des RCA sowie Mattingly) aber auch auf eine spezifische Form und Vorstellung von mobilem Wohnen bzw. gewohnter Mobilität rekurriert, die in der westeuropäischen Moderne vor allem mit nomadischen Kulturen oder dem (selbstbestimmten) Reisen von Ort zu Ort assoziiert wird: das Zelt.
23 Diese Lesart geht deutlich über die bei Johung und Quinn formulierte Vorstellung der wandelbaren Kleider-Architektur als geschlechtsneutrale „second skin“ hinaus (hierzu Johung 2013, S. 22; Quinn 2003, S. 166). 24 Dieter Funke entwickelt den Begriff des ,Wohn-Ichs‘ in Auseinandersetzung mit Anzieus ,Haut-Ich‘ (vgl. Funke 2006, S. 85f.).
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Der von der Zeltwand umgrenzte Raum oder Ort wird dabei wie selbstverständlich mit Diskursen um Öffentlichkeit und Privatheit verknüpft. Bei Orta geschieht dies beispielsweise eher implizit, indem sie ihre Akteur_innen in ihren Zelt-Kleidern an öffentlichen Plätzen agieren lässt und damit nicht nur auf das Fehlen privater Rückzugsräume für Obdachlose, sondern indirekt auch auf die „Instabilität“ des Konzepts vom „Haus als Ort des Privaten“ verweist (Quinn 2003, S. 161). Ähnlich argumentiert Webb, wenn er den ‚pneumatisch umfriedeten‘ Raum seines Cushicle als „domestic“ und „part of a more widespread urban system of personalized enclosure“ charakterisiert (Cook 1999, S. 64). Solche Vorstellungen eines von der Gesellschaft abgegrenzten, privaten Rückzugsraumes beruhen auf der kaum hinterfragten Idee der Wohnung als dem eigentlich Privaten, wie es sich spätestens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Naturalisierung geschlechtlich kodierter Rollenbilder sowie der damit verbundenen diskursiven Entstehung privater und öffentlicher Sphären in Europa herausbildete – eine Konzeption von Privatheit, die sich noch heute im dichotomen Sprechen vom öffentlichen Raum der Gesellschaft und dem privaten des Heims oder Zuhauses widerspiegelt. Selbst Semper nimmt hierauf in seiner Stilgeschichte der Bekleidung Bezug, wenn er schreibt: „[…] so bleibt gewiss[,] dass die Benützung grober Gewebe, vom Pferch ausgehend, als ein Mittel das ‚home‘, das Innenleben, von dem Aussenleben zu trennen und als formale Gestaltung der Raumesidee, sicher der noch so einfach konstruierten Wand aus Stein oder irgend einem anderen Stoffe voranging.“ (Semper 2008, S. 228) Bei Semper fungiert also ein Stück Stoff, um das Private, das Zuhause („home“) vom Öffentlichen zu trennen. Ähnlich dient auch bei den Tragbaren Architekturen die entfaltete Zeltplane oder die pneumatische ,Körper‑/Kleiderhülle‘ dazu, ein Außen und ein Innen zu definieren und (im psychologisierenden, essentialisierenden Wortduktus Dieter Funkes gesprochen) ein ,Wohn-Ich‘ in Abgrenzung zum Anderen, dem Außen, zu konstituieren (vgl. Funke 2006, S. 83–151). In Rhetoriken des Wohnens zeigt sich diese Ausdifferenzierung von Außen- und Innenraum, von Privatheit und Öffentlichkeit durch die trennende Wand im Allgemeinen am deutlichsten in der Raumfiguration des Schlafzimmers, das als Ort der Rekreation und der geschlechtlichen Reproduktion des Menschen als das Privateste des Privaten vorgestellt wird. Der Schlaf wird damit – metaphorisch gesprochen – als Sitz der Privatheit inszeniert, an dem das ‚Wohn-Ich‘ zu sich selbst findet. Vor diesem Hintergrund kommt der bisher vernachlässigten Tatsache, dass dem Zelt in
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nicht-nomadischen, westlichen Kulturen gemeinhin nur die Funktion einer temporären Schlafstatt zugewiesen wird, besondere Sprengkraft zu – ebenso wie der Beobachtung, dass in die ‚Kleidung‘ vieler Tragbarer Architekturen aufblasbare Matratzen (Greene, Coop Himmelb(l)au) oder Hängematten (Mattingly) integriert sind, andere hingegen selbst, wie das prototypische Wearable Dwelling des RCA oder Ortas Connector Mobile Village, in Schlafsäcke umfunktioniert werden können. Cornelia Helfferich, Angelika Hägele und Alexandra Heneka haben in einer lesenswerten empirischen Studie mit dem Titel „Wohnen ohne ‚dritte Haut‘“ (2000) untersucht, wie obdachlose Frauen durch „kognitive Repräsentationen von [Wohn‑]Raum“ Vorstellungen von Wohnlichkeit bzw. Häuslichkeit evozieren (Helfferich et al. 2000, S. 75). Neben dem Mental Mapping als Verfahren zur Herstellung von Ortsbezügen zwischen städtischen Räumen und Plätzen, die für Menschen mit festem Wohnsitz ‚unsichtbar‘ bleiben, identifizierten sie behelfsmäßig hergerichtete Schlaf- und Aufenthaltsorte als eines von vielen Mitteln, um ein Gefühl von Wohnlichkeit zu erzeugen (Helfferich et al. 2000). Ähnliche Mechanismen greifen, so die abschließende These, auch bei den Tragbaren Architekturen der Nomad_innen der Postmoderne. Auch hier dienen – ganz im Sinne von Le Corbusiers bereits mehrfach erwähnter Vorstellung vom Möbel als Prothese – spezifische Marker oder Objekte wie der Schlafsack und die Matratze dazu, Wohnlichkeit zu erzeugen. Dass sich dabei insbesondere auf die Matratze bezogen wird, hat einen einfachen Grund: Sie ist – ebenso wie das Schlafzimmer als der privateste Raum des Privaten – das „intimste[] Menschenmöbel“, eine „sozial möblierte Raumkonfiguration, auf der in besonderem Maße scheinbar Gegensätzliches wie Öffentliches und Privates, Subjekt und Abjekt, Staat und Individuum“ verhandelt werden (Nierhaus 2016, S. 16). Sie ist ein, wenn nicht der Privatraum, der „Selbstidentisches“ verspricht und in der Bezugnahme auf „Figuren der Nähe, des Körperlichen, des Affektiven und des Nichtregulierten“ auch einlöst (ebd.). Anders als in Darstellungen von Geflüchteten in Wohnheimen, wo Matratzen als Marker für die Abwesenheit von Privatheit fungieren (vgl. Riedel 2016), verweisen sie in Tragbaren Architekturen also gerade auf die Möglichkeit der Erzeugung eines ,privaten Raumes‘ in mobilen, nur durch textile Wände von der Außenwelt abgegrenzten Behausungen. Letztlich sind die Wearable Architectures damit nicht nur Vexierbilder, genauer Vexiergewänder, die – wie weiter oben ausgeführt – für die Sichtbar- oder Unsichtbarkeit von geschlechtlich und sozial kodierten Körpern stehen, sondern über sie werden auch Fragen nach der archi-
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tektonischen und gesellschaftlichen Determiniertheit von Diskursen um Wohnen und Privatheit gestellt. In ihren vielfältigen Bezugnahmen auf die Bekleidungstheorie, Körpermetaphern und Wohndiskurse oszillieren sie dabei, wie Johung im Hinblick auf Ortas Projekte treffend bemerkt hat, zwischen Konstruktion und Dekonstruktion (vgl. Johung 2012, S. 100). Was für den Kontext dieses Bandes, der mit Wohn/Raum/Denken überschrieben ist, jedoch noch wichtiger ist: Sie befragen auf konstruktive Weise eine gebäude- oder monumentenzentrierte Auffassung von Architektur und Wohnen, die typisch für die westliche Hemisphäre ist, in der Postmoderne durch die stete Mobilität nomadischer Subjekte aber zusehends ins Wanken gerät.
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Abbildungsnachweise Abb. 1a–c: © Foto: Royal College of Art, Josh Tarn. Abb. 2: aus: Cook, Peter (Hg.): Archigram, New York: Princeton Architectural Press 1999, S. 80f. Abb. 3: aus: Pinto, Roberto; Nicolas Bourriaud; Maria Damianovic (Hg.): Lucy Orta, London: Phaidon 2003, S. 42, © VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Pierre Leguillon. Abb. 4: aus: Pinto, Roberto; Nicolas Bourriaud; Maria Damianovic (Hg.): Lucy Orta, London: Phaidon 2003, S. 139, © VG Bild-Kunst, Bonn 2019. Abb. 5 und 6: © Mary Mattingly. Abb. 7: © Metropolitan Museum of Art, Harris Brisbane Dick Fund, 1940, Inv.-Nr. 40.59.1.
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Gabu Heindl Architektur: Praxis der Kontingenz in Permanenz. Von Fundamentals, Sedimentierungen und Setzungen
Ungeplante Situationen, das Auftauchen von nicht vorhergesehenen AkteurInnen und generell Konfliktverhältnisse mit Anderen – das gehört untrennbar zum urbanen Leben. Klassische (oder nennen wir sie modernistische oder auch wohlfahrtsstaatlich motivierte) Architektur versucht allerdings, Unvorhergesehenes gerade zu vermeiden, richtig zu sortieren und die NutzerInnen von geplanten Gebäuden vorweg so gut zu studieren, dass die Gebäude auf diese Nutzungsmuster hin optimiert werden können. Doch auch wenn sie auf die eine oder andere Weise kurzfristig unterdrückt werden, tauchen Konflikte oder unvorhergesehene AkteurInnen permanent wieder auf. Kritische ArchitekturproduzentInnen mit Interesse an der Herstellung oben genannter – eben mit Nachdruck offener – Urbanität finden sich also in einem Handlungsdilemma, heißt doch Planen und Bauen immer auch räumliches Ordnen und Fixieren. Gegenwärtige marktliberale Stadtplanung allerdings steht da keineswegs vor einem Dilemma beziehungsweise setzt sie sich keiner Widerspruchs-Situation aus: Als Teil post-politischer „New Governance“1 geht sie allzu dogmatische Planungsprozesse erst gar nicht an – damit für diverse noch nicht bekannte Markt-Interessen alle Möglichkeiten offenbleiben. Wenn nun keine klaren städtebaulichen Planungsvorgaben erstellt werden, dann ersparen wir uns zwar in der öffentlichen Planung einiges an Problemen, die von dem herrühren, was wir „Paternalismus“ nennen könnten (die Art vormundschaftlicher Beziehung 1 Zum Zusammenhang von flexibilisierten neoliberalen Stadtplanungsprozessen und post-politischer Governance siehe u.a. die Einleitung von Wilson/ Swyngedouw 2014.
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Architektur: Praxis der Kontingenz in Permanenz
zwischen Planenden und „Beplanten“, die der Top-down-Planung anhaftet); aber zur Wahrnehmung öffentlicher Interessen braucht es Planung als vorausblickende Setzung, gerade in neoliberalen Zeiten und – was zunächst vermutlich paradox klingt – gerade in Hinblick auf mögliche, noch gar nicht bekannte popular-agency-Interessen. Meine These lautet folglich: Um Offenheit für Unvorhergesehenes zu erzeugen, braucht es klare planerische Setzungen – allerdings gekoppelt mit dem Bewusstsein, dass diese Setzungen immer kontingent und somit strittig sind. Ich möchte im Folgenden also Planung (als zentrale Tätigkeit von Architektur und Stadtplanung) mit dem Begriff Kontingenz, mehr noch: mit „Kontingenz in Permanenz“ konfrontieren. Dabei beziehe ich mich auf Kontingenz als Begriff aus der postfundamentalistischen politischen Theorie2 und versuche ihn in Richtung einer radikaldemokratischen Stadtplanung zu aktivieren, einer Planung, die sich ihrer Kontingenz bewusst ist und sich gerade deshalb einmischt und Position ergreift.
Architektur geht alle an,3 oder: Das Angehende der Kontingenz Schon etymologisch hängt Kontingenz mit dem Angehen zusammen, bedeutet doch contingere: berühren, anrühren, anliegen, angehen, betreffen. Kontingenz als Begriff politischer Theorie könnten wir, verkürzt gesagt, als die Nicht-Notwendigkeit potenzieller Ereignisse beschreiben: Etwas kann, muss aber nicht so oder so sein. Das bedeutet im Postfundamentalistischen gerade nicht Relativismus, sondern „Ungründbarkeit“. Denn: Es gibt keinen letzten Grund für etwas – was sicher ist, ist die Kontingenz selbst. In seinem Buch Die politische Differenz definiert Oliver Marchart Kontingenz als den „Name[n] für den abwesenden Grund“ von Seinsweisen und vor allem von Gesellschaften. Und weiter: „Politisch an Kontingenz ist genau die Erfahrung, dass die Dinge auch anders liegen können, dass Gesellschaft auch anders geordnet sein kann. Und diese Erfahrung
2 Für eine Einführung in die postfundamentalistische Theorie in Bezug auf Planungszusammenhänge siehe Heindl 2020, v. a. Kapitel 6 – darauf basieren Teile des vorliegenden Texts. 3 Dieser Ausspruch wird laut mündlicher Überlieferung der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky zugeordnet.
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Gabu Heindl
entspringt Momenten des Konflikts, in denen das Aufeinanderprallen sozialer Kräfte Kontingenzbewusstsein erzeugt“ (Marchart 2010, S. 80). Kontingenz ist jedoch nicht dasselbe wie Akzidenz, Zufälligkeit. Eine Orientierung an der Zufälligkeit läuft letztlich auf Ergebenheit gegenüber einem blinden Schicksal hinaus. Mehr noch: Akzidenz im Sinne von „alles ist möglich“ bedeutet Gleichgültigkeit. Damit aber lässt sich nicht leben, nicht in Gesellschaft und nicht im architektonischen Raum. Bei Kontingenz liegen die Dinge anders. Wir können das zum Beispiel mit dem Begriff der „Geworfenheit“4 umschreiben, wobei aber ins Spiel kommt, dass wir dem, in das wir geworfen sind, verfallen sind, dass das die soziale Existenz ausmacht und dass daher alles einen Unterschied macht. Die jeweilige Geworfenheit ist also immer ein Problem, das auch hinterfragt werden kann und hinterfragt werden muss (sofern wir Existenzbedingungen nicht als gleichgültig hinnehmen). Bei Marchart heißt Kontingenz, dass nichts mit Notwendigkeit erfolgt, ebendies aber notwendigerweise. Kontingenz tut not, wirft dringliche Fragen auf. „Obwohl Gesellschaft nicht ultimativ zu gründen ist, so die postfundamentalistische Pointe, muss sie dennoch provisorisch gegründet werden“ (ebd., S. 246). Das heißt, in der Kontingenz können und müssen Setzungen vorgenommen werden, die nicht auf Notwendigkeit basieren, jedoch immer anstelle anderer Setzungen erfolgen, gegen die sie sich durchgesetzt haben. Setzungen sind somit notwendiger Teil eines Streits – und bleiben zugleich bestreitbar. Das gilt eben auch für jene Setzung im urbanen Raum, die wir Planung nennen: Gerade ihre Bedingtheit macht sie strittig. Bedingtheit und Strittigkeit sind aber gerade kein Grund, Planen aufzugeben.
Setzungen und Sedimentierungen Der Architekt und Architekturtheoretiker Jeremy Till bezeichnet in seinem Buch Architecture Depends Architektur als „the contingent discipline par excellence“ (Till 2009, S. 61). Kontingenz verstanden als Unsicherheit birgt für ihn eine Chance: „Order and certainty close down […], contingency and uncertainty open up“ (ebd., S. 55). Till geht es nicht um Rela-
4 Zu einer Auslegung des Kontingenzbegriffes, die – im Unterschied zu Heideggers Sein und Zeit – nicht existenzial-ontologisch, sondern politisch formatiert ist, siehe Marchart 2010, Kap. I.3.
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tivismus, dieses Konzept wäre zu offen, gekennzeichnet von „ultimately weak choices“ (ebd., S. 58), während im Feld der Kontingenz bewusst gesetzte, starke Aussagen nötig sind: „Contingency asks of us to make choices“ (ebd., S. 59). Und das heißt etwas ganz anderes als anything goes, denn für Till eröffnet sich so ein produktives Spannungsfeld: „Because contingent choices are grounded in concrete reality, we are made to be aware of the effect of any decisions we come to […]“ (ebd., S. 60). Damit stellt sich die Frage, welche Entscheidungen überhaupt getroffen werden können, aber auch, welche getroffen werden müssen. Was kann und soll Architektur bestimmen, was nicht? Kontingenzbewusstsein eröffnet einen Blick für die Abhängigkeiten von Architektur, aber auch für die grundsätzlich kontingente Situation der Stadt sowie die der Institution, auf die ein Planungsprozess trifft. Stadträume wie Institutionen sind oft „eingesessen“: entsprechend einer nach einer kontingenten Setzung sedimentierten Situation. Dabei ist Architektur von jeher ein stark verbundener, auch eingebundener Teil von formalisierten Institutionen – ob auftraggebend oder interessensvertretend –, wie etwa der Kommune, diversen Magistratsabteilungen und öffentlichen Stellen, Immobiliengesellschaften, ArchitektInnenkammern, Wirtschaftskammern, NutzerInnenvertretungen und vielen mehr. Der Philosoph und für die postfundamentalistische politische Theorie wichtige Impulsgeber Ernesto Laclau beschreibt den Prozess der Sedimentierung dergestalt: „Sofern ein Institutionsakt von Erfolg gekrönt ist, kommt es zu einem tendenziellen ‚Vergessen der Ursprünge‘, das System möglicher Alternativen beginnt zu verschwinden und die Spuren der originären Kontingenz verwischen. Auf diese Weise tendiert das Instituierte dazu, die Form reiner objektiver Präsenz anzunehmen. Dies ist das Moment der Sedimentierung“ (Laclau 1990, S. 34). Wenn die ursprüngliche Kontingenz etwa einer Planung verwischt, verschwindet mitunter auch ihre Hinterfragbarkeit sowie die Problematisierbarkeit ihrer Ergebnisse. Mit der postfundamentalistischen Theorie aber lässt sich der gebaute Raum als Raum verstehen, der die ihm inhärenten kontingenten Entscheidungen und entschiedenen Konflikte sedimentiert hat.5 Das heißt folglich auch, dass der Konflikt noch anwesend ist und
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Zu Dingen als sedimentierten Konflikten siehe auch Sternfeld 2016.
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die verschütteten Alternativen reaktiviert werden könnten.6 Wir könnten dies also wie folgt auf den Punkt bringen: Die Stadt ist die kontingente Sedimentierung von Konflikten.
Architektur ohne Fundament Während Konzepte der modernistischen Architektur und Stadtplanung lange recht unbehelligt auf Fundamenten wie etwa Rationalisierung, Effizienz, Gleichheit oder Funktionstrennung aufbauten, wurde ihre Selbstsicherheit durch die Kritik an ihrem „Masterplan“ und ihren autoritären Zügen in den 1960er und 70er Jahren erschüttert. Planung wurde einem reflexiven und selbstkritischen Prozess unterzogen, teilweise bis zu einer Form von Antifundamentalismus (vgl. etwa Peter Eisenmans Experimente in Hinblick auf Eliminierung von Intention oder Autorenschaft in der Planung), bis hin zum Punkt des kategorischen Aufgebens jeglichen Ansatzes zur Gründung oder Setzung, also der völligen Zurücknahme von Architekturschaffenden (vgl. etwa Eilfried Huths radikale Partizipationsprozesse im Wohnbau, u.a. für die Eschensiedlung in Deutschlandsberg, 1972 bis 1990). Als Ausweg aus der Verantwortlichkeit und zugleich aus dem „Drama“ der Planung galten auch Improvisationen, Aktionen, Kunst-Events und so weiter. Vor allem die SituationistInnen (u.a. auch ihr Konzept des dérive, eines erkundenden ziellosen Herumschweifens) hatten großen Einfluss auf die Architektur. Doch die Anrufung von Improvisation oder Zwischennutzungen, von romantischen Vorstellungen der Störung, die immer nur vorübergehender Augenblick ist, greift auf Dauer zu kurz. Das wurde 1995 auch vom Architekten Rem Koolhaas in seinem einflussreichen Text „What ever happened to Urbanism“ treffend analysiert: „[19]68 launched the idea of a new beginning for the city. Since then, we have been engaged in two parallel operations: documenting our overwhelming awe for the existing city, developing philosophies, projects, prototypes for a preserved and reconstituted city and, at the
6 Der Konflikt um die Nutzung von städtischen Straßen wäre ein anschauliches räumliches Beispiel für so einen sedimentierten Konflikt, dessen ehemalige Alternativen wieder sichtbar werden: Die Vorherrschaft des Automobils – ob im Verkehr oder parkend – ist heute weltweit wieder bestreitbar und es entstehen Wohn- und Spielstraßen.
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same time, laughing the professional field of urbanism out of existence, dismantling it in our contempt for those who planned (and made huge mistakes in planning) airports, New Towns, satellite cities, highways, high-rise buildings, infrastructures, and all the other fallout from modernization.“ (Koolhaas 1995, S. 965) Zugespitzt würde ich das wie folgt ins Heute übersetzen: Während engagierte UrbanistInnen dérive-mäßig flanieren, bemächtigt sich der neoliberale Zugriff auf private Profite des Zentrums der Städte und gestaltet sie in seinem Sinn um. Am Ende seines kanonischen Urbanismus-Texts meint Koolhaas lakonisch: „What if we simply declare that there is no crisis – redefine our relationship with the city not as its makers but as its mere subjects, as its supporters? More than ever, the city is all we have.“ (Ebd., S. 971) Knapp 20 Jahre später tut Koolhaas 2014 als Chef-Kurator der Architektur-Biennale in Venedig mit seiner Ausstellung im italienischen Pavillon tatsächlich so, als ob es keine Krise gäbe, und nennt seine Ausstellung programmatisch „Fundamentals“. Die Auseinandersetzung mit fundamentalen Basis-Elementen und Fragestellungen der Architektur sollte die Disziplin wieder stärken. Bezeichnend und viel diskutiert war die Wahl der 12 Fundamentals der Hauptausstellung, die sich aus Raumelementen wie dem Balkon oder der Treppe, dem Wasserklosett oder dem Gang zusammensetzten. Politik, Ökonomie oder auch eine Debatte über Grund- und Bodenverteilung kamen darin nicht vor. All diese Themen fehlten bei Koolhaas in der Liste der Fundamentals der Architektur (siehe auch: Martin 2014). Es klingt, als hätte Rem Koolhaas seine eigene These vergessen. Wenn er nun die Zurückbesinnung auf architektonische Grundelemente fordert, tut sich ihm gegenüber, in Anlehnung an seine Kritik an den 68er-Architekturschaffenden, eine ähnliche Polemik auf: Architektur kann sich noch lange mit den unterschiedlichsten Formen von Fenstern oder Gängen beschäftigen, während ökonomische Parameter oder neoliberale Bodenpolitik unhinterfragt die Basis für neoliberale Stadtplanung im großen Stil bilden. Nach 1968 und in verstärktem Maß durch die intensivierte Neoliberalisierung werden Hoheitsplanungen wie Masterpläne, Leitlinienpläne, Regulierungspläne, die eine politische Setzung, z.B. zur Grund- und Bodenpolitik, vornehmen müssten, oft mit Argumenten von Ungründbarkeit und Unbegründbarkeit abgetan. Dieses Abtun von Setzungen geschieht gerne auch mit dem Argument, dass Planung nicht ideologisch sein darf. Wenn heute von öffentli-
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cher Seite konkrete Pläne (in Form von Setzungen) erstellt werden, dann ist diesen Plänen das Bemühen anzumerken, möglichst un-ideologisch zu klingen: Sie beschreiben meist „technische“, vermeintlich objektivierte Planungsparameter. Gerade technokratische, ökonomische oder ökologische Parameter werden dann so formuliert, als ob sie ohne Alternative wären.7 Planung ist aber gewissermaßen immer ideologisch, in dem Sinn, dass sie in einem sozialen Raum unterschiedlicher, oft konfligierender Interessen durch Ziele motiviert ist und eine Agenda formuliert. Dabei ist ein Plan immer eine prekäre Setzung, die trotz Ungründbarkeit gesetzt oder erwirkt werden muss und zugleich aufgrund von Ungründbarkeit anders gesetzt werden kann. Oft erst bringt eine raumbeschreibende Planung mit konkreten Aussagen die Forderungen und Vorstellungen aufs Papier, die, bevor diese Zeichnung entsteht, sehr unterschiedlich interpretierbar sind.
Planung als Setzung von Möglichkeitsräumen Wenn ich hier von Planung spreche, meine ich vor allem öffentliche Planung, also eine planende Auseinandersetzung mit gebauter und zu bauender Umgebung, die sich einem Mandat der Öffentlichkeit verpflichtet sieht – auch wenn es nicht ein Mandat der jeweils hegemonialen öffentlichen sozialen Ordnung ist. Wie aber kann das Mandat einer Öffentlichkeit benannt werden? Und welche Öffentlichkeit ist überhaupt gemeint? Der öffentliche Raum bietet einen Kontext für sehr widersprüchliche Ansprüche – welche sind hier wichtiger? Im öffentlichen Raum ist die Kontingenz von Planung deutlicher als anderswo: Geht es doch um eine klare Setzung für Möglichkeitsräume, deren Nutzung nicht klar ist (im Sinn der ganz zu Beginn formulierten Urbanität). 7 „There is No Alternative“ – diese Essenz neoliberaler Aussagen ist auch in der Stadtplanung bekannt. Als Beispiel aus meiner eigenen Praxis sei hier die Entwicklung am Wiener Donaukanal genannt: Für die Gewährleistung basalster öffentlicher Infrastruktur (etwas WC-Anlagen) gibt es laut Wiener Stadtplanungspolitik keine Alternative zur großflächigen Gastronomisierung der urbanen Wasserkante: Diese exklusive Privatnutzung zentraler urbaner Flächen sei unumgänglich, weil die GastronomInnen u.a. den öffentlichen Zugang zu WCs gewährleisteten – eine Dienstleistung, die in Zeiten schrumpfender Kommunalbudgets mit der Quasi-Privatisierung von öffentlichem Raum abgegolten wird.
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Von einer solchen Anforderung, also von der Planung von öffentlichem Raum, handelt ein Projekt aus meiner eigenen architektonischen Praxis: die „Donaukanal Partitur – Gestaltungs- und Entwicklungsleitlinien für den Wiener Donaukanal“8 (mit Susan Kraupp), deren Setzung ein Plan gerade in Form eines Nicht-Bebauungsplans ist – als explizite Ansage gegen die neoliberale Quasi-Privatisierung von zentralem Uferraum in Wien. In Umkehrung eines Bebauungsplanes beschreibt die „Partitur“ die Entwicklung des Ufers über seine Nicht-Bebauung – also nicht wachstumsorientiert, sondern in Hinblick auf ausreichend freien Raum und Möglichkeitsräume für eine wachsende Zahl an Erholungsuchenden, die sich im Zentrum der dichter werdenden Stadt ohne Konsumzwang am Wasser aufhalten wollen. Der Nicht-Bebauungsplan schützt vor Verbauung: die Wasserkante sowie die Uferzone auf einer entsprechenden Bewegungsbreite, weiters sämtliche Treppen und Rampen, zum Wasser wie auch von Stadtniveau auf Kai-Ebene, schließlich die noch nicht kommerzialisierten Flächen. Dieser Setzung der Nicht-Bebauung des städtischen Ufers geht ein klares Bekenntnis zur Verdichtung der Stadt voraus – es geht hier um die Möglichkeit von relativer Entdichtung inmitten von Verdichtung. Anhand eines öffentlichen Streits über die (Nicht‑)Bebauung einer der letzten freien, nicht-kommerzialisierten Wiesen, in dem unser Plan eine relevante Rolle für die BürgerInnen-Initiative „Donaucanale für alle“ 9 spielte, zeigte sich das Aufeinanderprallen sozialer Kräfte, und eben Kontingenz in ihrer Ausformung als konfliktuöse Politik: Wichtig ist in diesem Kontext, dass dieser Plan, der sich auch als ein technisch-administratives Tool verstehen lässt, zu einem Medium, Schauplatz und Spieleinsatz in einer politischen Konstellation wurde. In diese Richtung geht mein Votum für Planung, starke Setzung, als Politik-Ermöglichung (vgl. Heindl 2017).
8 Die Kurzfassung der „Donaukanal Partitur – Gestaltungs- und Entwicklungsleitlinien für den Wiener Donaukanal“, die im Auftrag der Magistratsabteilung 19 der Stadt Wien von 2012 bis 2014 entwickelt wurde, findet sich auf der Webseite der Stadt Wien veröffentlicht. Siehe Heindl/Kraupp 2014. 2015 konnte ein auf einer dieser noch nicht kommerzialisierten Flächen 9 als alternativlos beschriebenes geplantes Groß-Gastronomie-Projekt durch den Protest der BürgerInnen-Initiative „Donaucanale für alle“ mit Bezug auf die „Donaukanal Partitur“ erfolgreich abgewehrt werden (siehe: https://donaucanale.wordpress.com).
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Am Ende seines dauerhaft einflussreichen Buches 1922. Ausblick auf eine Architektur schreibt Le Corbusier im Kapitel „Baukunst oder Revolution“, dass sich die Revolution vermeiden lässt – die Voraussetzung für seine Aussage war bekannterweise eine fundamentale Hingabe an das Neue Bauen (Le Corbusier 2008). Die Frage, wie Architektur heute als Disziplin der Kontingenz schlechthin mit dem Wissen um ihre eigene Ungründbarkeit umgehen könnte, bringt mich wieder zur Revolution, jedoch auf das Konzept der „permanenten Revolution“ des marxistischen Denkers Leo Trotzki. Bei Trotzki bezieht sich der Begriff „permanent“ auf mehrere miteinander verbundene Prozesse: auf den Übergang von der demokratischen zur sozialistischen Revolution, auf die sozialistische Revolution selbst und auf den Übergang von dieser zur Weltrevolution. Das sind nicht unmittelbar unsere heutigen Agenden (aber wer weiß, in ein paar Jahren vielleicht wieder). Was kann Revolution in Permanenz – im Kontext unserer Frage für die Architektur – heute heißen, noch genauer: im Verhältnis zu Kontingenz? Zum einen heißt das, dass immer mehrere heterogene Konfliktfelder zugleich im Spiel sind. Zum anderen, dass wir uns also nach potenziellen Anschluss- und Verbindungsstellen fragen müssen, nach Übersetzungen, Fortsetzungen, Allianzen oder Wiederaufnahmen.
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Architektur: Praxis der Kontingenz in Permanenz Literatur Le Corbusier 2008 Le Corbusier: 1922. Ausblick auf eine Architektur, 5. Aufl., Gütersloh/Berlin: Bauverlag 2008. Heindl 2017 Heindl, Gabu: Powerfully (Precariously) Positioned Planning Proposition, in: Volume, Nr. 50, 2017, http://volumeproject.org/ powerfully-precariously-positioned-planning-proposition/ (Stand: 10.10.2017). Heindl 2020 Heindl, Gabu: Stadtkonflikte. Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung, Wien: Mandelbaum 2020. Heindl/Kraupp 2014 Heindl, Gabu; Susan Kraupp: Donaukanal Partitur – Gestaltungs- und Entwicklungsleitlinien für den Wiener Donaukanal, Kurzfassung, im Auftrag der Magistratsabteilung 19 der Stadt Wien, Wien 2014, https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/e000012.pdf (Stand: 10.10.2017). Koolhaas 1995 Koolhaas, Rem: Whatever Happened to Urbanism, in: ders.; Bruce Mau (Hg.): S,M,L,XL. Small, medium, large, extra-large, Office for Metropolitan Architecture, Rotterdam: 010 Publishers 1995, S. 958–971. Laclau 1990 Laclau, Ernesto: New Reflections on the Revolution of Our Time, London/New York: Verso 1990. Marchart 2010 Marchart, Oliver: Die politische Differenz, Berlin: Suhrkamp 2010. Martin 2014 Martin, Reinhold: Fundamental #13, in: Places Journal, Mai 2014, https://placesjournal.org/article/fundamental-13/ (Stand: 15.07.2016). Till 2009 Till, Jeremy: Architecture Depends, Cambridge (MA): MIT Press 2009. Sternfeld 2016 Sternfeld, Nora: Der Objekt-Effekt, in: Martina Griesser et al. (Hg.): Gegen den Stand der
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Dinge. Objekte in Museen und Ausstellungen, Berlin/Boston: de Gruyter 2016, S. 25–33. Wilson/Swyngedouw 2014 Wilson, Japhy; Erik Swyngedouw (Hg.): The Post-political and Its Discontents. Spaces of Depoliticization, Spectres of Radical Politics, Edinburgh: Edinburgh University Press 2014.
IV Arbeitsorte
UND ANDERE WOHNSPHÄREN
Heidi Helmhold Wohnen ohne Haltegriffe1
„Denken ist eine Umgebung, in der man sich bewegt und aus der man sich den ganzen Krempel holt, aus dem man dann seine Sperrmüll-Einrichtung bastelt und hübsch anordnet“ (Jelinek 2005)
Gemütlichkeit und De-Textilisierung Café Museum. Es hat wieder geöffnet. Schon seit Oktober 2010 hat es wieder geöffnet. Nach einem neuen Umbau, nachdem der alte Umbau nicht der richtige Umbau war. Die Besucher_innen waren weggeblieben nach dem alten Umbau: „Der Versuch, Loos nachzubauen, ist in die Hose gegangen“, so der Kaffeehausbesitzer Bernd Querfeld.2 Dabei hatte man versucht, das Café in seiner historischen Authentizität zu rekonstruieren, und hatte zu diesem Zweck die Ersteinrichtung (1899) von Adolf Loos re-installiert. Der Wiener Journalist Ludwig Hevesi, Zeitgenosse von Loos, rezensierte diese mit ironischem Unterton: „Etwas nihilistisch zwar, sehr nihilistisch, aber appetitlich, logisch, praktisch. […] Wie weit Loos Künstler ist, ja ob er es überhaupt ist, muß erst die Zukunft erweisen. … Er will den reinen Gebrauchsgegenstand machen“ (zit. n. Hevesi 1993, S. 102). Die Einrichtung von Loos war in den 1930er Jahren abgeschafft worden. Die damaligen Besitzer des Cafés, die Familie Pretscher, beauftragten den Wiener Architekten und Designer Josef Zotti für eine neue Einrichtung. Zotti, ein Schüler von Josef Hoffmann, überzog nun das Café mit Plüsch und einer Optik von
1 In Abwandlung des Titels der Laudatio von Elfriede Jelinek auf Elfriede Gerstl anlässlich der Verleihung des Ben-Witter-Preises 2004: „Denken ohne Haltegriffe“ (Jelinek 2005). 2 Zit. n. Cafe Museum: Loos-Interieur verschwindet, in: Wien.ORF.at, 11.4.2012, http://wiev1.orf.at/stories/454334 (Stand: 20.8.2016).
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„Gemütlichkeit“ jenseits reiner Praktikabilität. Vor diesem Hintergrund erscheint es interessant, dass der heutige Besitzer Querfeld 2003 die auf den ersten Blick nicht auf Profitabilität zielende Geschäftsidee umsetzte, diese als „gemütlich“ konnotierte Einrichtungshaut des Café Museum zu entfernen und das Kaffeehaus wieder im Stil Adolf Loos’ re-installieren zu lassen, mithilfe von Repliken der Originaleinrichtung.3 Das hieß: Verzicht auf plüschige, haptisch weiche Polstersitze, keine Jugendstil-Ornamentik, freie Tischaufstellung, glatte Wände, Messingleisten, Marmortische mit Holzfüßen, Bugholz- und Korbstühle, Stromdrähte mit Glühlampen (ohne Lampenschirme), Röhren, die sowohl als Gasleitungen als auch als Kleiderstangen genutzt wurden, und Spiegel zur Raumvergrößerung.4 Aber: Diese Rekonstruktion wurde nicht angenommen; die Stammgäste blieben aus. 2009 schloss das Café erneut für einen Umbau und die nachempfundene Zotti-Einrichtungsversion wurde nun ihrerseits re-installiert.5 Anlässlich der erneuten Eröffnung argumentiert Querfeld: „Unser Ziel war es, wieder Gemütlichkeit reinzubringen“.6 Gemütlichkeit. Ein an die deutsche Sprache gekoppeltes Raum/Körper-Empfinden, dessen situative Stimmigkeit nicht nur visuell, sondern auch von Rezeptoren der Haut juriert wird. Neben warmer Lichtstimmung sitzen akustische Gedämmtheit, weiche Wohntextilien und Polster über die Utopie von Sorgenfreiheit und einge-räumter Glückfristung zu Gericht. Gemütlichkeit ist im 20. Jahrhundert nicht modernefähig; diese im 19. Jahrhundert situierte Wohnsüchtigkeit (Walter Benjamin) war insbesondere Zielscheibe der „modernen Katastrophenrhetorik“ (Nierhaus 2014, S. 165) des Neuen Bauens, die das individuelle Wohnen einer stilistischen Normierung unterzog und zur nationalen pädagogischen Aufgabe erklärte: „Es ist ein Stellungskrieg von
3 Das Wiener Café Museum hat wieder geöffnet, in: Relevant.at, 18.10.2010, https://relevant.at/2010/10/18/wiener-cafe-museum-hat-wieder-geoeffnet/ (Stand: 18.10.2019). 4 Vgl. den Abschnitt „Umgestaltungen“ im Wikipedia-Eintrag zum Café Museum, https://de.wikipedia.org/wiki/Caf%C3%A9_Museum#Umgestaltungen (Stand: 11.5.2017). 5 „Für die Rekonstruktion der Zotti-Einrichtung durchforsteten die Querfelds mit Architekt Hans-Peter Schwarz diverse Kellerräume sowie Garagen und Lager privater Sammler. Unter anderem seien 40 desolate Originalstühle, eine Reihe von Tischfüßen, die nun nachgegossen wurden, und 19 alte Wandlampen aufgetaucht, erzählte der neue Pächter, der auch Spartenobmann der Kaffeesieder ist“ (wie Anm. 3). 6 Ebd.
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Deutungseliten um die mit der industriellen Warenproduktion scheinbar unendlich werdende visuelle Oberfläche der Dinge […]. Mit Diskursen um Technik, Komfort und Ästhetik wird das scheinbar stabile Verhältnis zwischen Innenraum, Dingen und Subjekten erneut zur Disposition gestellt.“ (Ebd.) Irene Nierhaus hat den Begriff des Wohnwissens geprägt, das unter anderem die immer neu verhandelte Konstruktion von individuellem und gesellschaftlichem Wohnen umfasst. Auch die zwischen den zwei Ästhetiken von Loos und Zotti pendelnde Umbaugeschichte des Café Museum ringt mit der Schnittmenge von individuellem und gesellschaftlichem Wohnen und eben auch mit Nähe und Ferne zur Gemütlichkeit. Hier, an dem semiöffentlichen Ort Kaffeehaus, einer „Wärmestube“ (Rössner 1999, S. 16) in räumlicher Polarität von Kommunikation und Rückzugsort (Portenkirchner 1999, S. 34), wurde Gemütlichkeit verbannt und installiert und wieder verbannt, um dann erneut installiert zu werden. Die Umbaugeschichte des Cafés ringt auch mit dem Diktat einer moralisch-sittlichen Kulturtheorie, mit der Adolf Loos 1908 das Ornament – worunter auch jedes textilintensive und damit als gemütlich verdächtige Interieur subsumiert wurde – aus Architektur und Wohnen zu tilgen beabsichtigte (Loos 1962). Jedenfalls dort, wo es öffentlich sichtbar war. Dank der Arbeiten von Irene Nierhaus (1999), Annette Geiger (2003) und Anne Katrin Rossberg (2008) wissen wir, dass das „Ornament“ als textilintensive Räumlichkeit in einem von Frauen bewohnten Raum von Loos jedoch geduldet, ja geradezu gefordert wurde. Hier greifen der Einrichtungsdiskurs des 19. Jahrhunderts und die Zuordnung an geschlechtsspezifische Räumlichkeit – das Schlafzimmer seiner Ehefrau Lina Obertimpfler ist vollständig „bekleidet“; Textilien wie weißer Batist und weiße Angorafelle (Nierhaus 1999, S. 87) bauen hier einen kontrolliert gefalteten sakralen Anbetungsraum, dessen materiale Oberflächen wohl eine haptische und sexuelle Sinnlichkeit bedienen mögen – in Loos’ ambivalenter Vorstellung jedoch nur ein Übergangsstadium in der Entwicklung der Frau kennzeichnen. Diese sollte eines Tages wirtschaftlich eigenständig und vom Diktat ihrer Sinnlichkeit und allem textilen Tand befreit sein (Loos 1997c, S. 132). Für Loos ist die Emanzipation der Frau damit ein erzieherischer Prozess der „Ent-Sinnlichung“ und „Ent-Erotisierung“ und die Gleichstellung damit an die Rationalisierung ihres Wesens gebunden, „was sie direkt in die Ökonomie des Mannes eintreten lässt“ (Geiger 2003, S. 64). In der Einrichtung des Café Museum von 1899 vermeidet Loos Ornament und Textilien; er bespielt den männlichen, den rationalen Raum, in dem konkret die Beine der Stühle eine Analogie zur geraden Linie herstellen, die
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im Sinne von Loos als „unerotisch und damit als ornamentfrei interpretiert werden kann“ (Geiger 2003, S. 66). Loos’ Einrichtung installiert eine männliche Ökonomie von Raum – er exterritorialisiert das modifizierte häusliche Herren- und Arbeitszimmer des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Nierhaus 1999, S. 102). Noch in den 1920er Jahren war die räumliche Erziehung der Frau durch den Mann prominent wirksam: So baute z. B. der Loos-Schüler Paul Engelmann mithilfe von Ludwig Wittgenstein das Stadtpalais für dessen Schwester Margarethe Stonborough-Wittgenstein, wobei der Philosoph Metallkurtinen vor den Fenstern installieren ließ, die seiner an die Moderne anschlussfähigen Ästhetik entsprachen, und bei der Fertigstellung des Palais seiner Schwester den Gebrauch raumverunklärender Gardinen und Teppiche untersagte (Helmhold 2012, S. 27).7
Bohemien, Raucherhöhle und Wolkenwand Zwischen 1890 und 1950 ist das Kaffeehaus Rückzugsort, Arbeitsplatz und Börse des männlich dominierten Literaturbetriebs; nach Alfred Polgar Heimstätte von Schriftstellern, „der traute Herd derer, denen der traute Herd ein Greuel ist“ (Polgar 1959, S. 8). Als gefühlter Raum8 siedelt es zwischen weltlichem Rückzug und gleichzeitigem Anschluss an das politische, wirtschaftliche und kulturelle Geschehen der Stadt. Es fungiert in dieser Zeit als intensive Raumblase zwischen „Körper und Geist, Einsamkeit und Gesellschaft, Privatheit und Öffentlichkeit“ (Portenkirchner 1999, S. 34). In der urbanen Architektur markiert es den urbanen Raum, worin sich das stadtnomadische Ich zwischen Schlafwohnung (Zuhause) und Arbeitswohnung (Kaffeehaus) verorten kann: „Angesiedelt meist in Ecklagen eines offenen Platzes, betritt es [das Kaffeehaus] der Besucher durch einen Windfang, der in einen offenen, saalartigen Raum geht, beleuchtet durch große Luster, ausgestattet mit Marmortischen, Sitzkassa, an der früher die Sitzkassiererin thronte, Wandspiegeln, Zeitungshaltern und Garderobenständern.
7 „Wittgenstein erlaubte keine Vorhänge, keine Teppiche – Dekorationsmittel, die schon von Gewicht und materieller Dichte her nicht Teil seiner Architektursprache sein können, ganz abgesehen von ihren Raum absorbierenden Eigenschaften und ihrer Ungenauigkeit, was Grenzen und Übergange im Raum betrifft“ (Leitner 1989, S. 172). 8 Siehe den Kontext von Emotionalität/Affektpolitiken und Raum in Helmhold 2012, S. 20–22.
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Der offene Hauptraum, innerhalb dessen eine Kontaktaufnahme zwischen den einzelnen Tischen leicht möglich ist, wird unterteilt durch kleine Runden und Fensternischen, die freie Sicht auf einen Platz oder die Straße gewähren“ (ebd.). Ein entschleunigter Raum, in der Mitte des Raumes eine zentrale Kommunikationsinsel, umgeben von Nischen und Fensterkojen an der Peripherie. In dieser typisierten Version auch eine Produktionsstätte von Erfolg und Misserfolg im Literaturbetrieb, von Anekdoten und lokalen (Ego-)Legenden, Konstruktionen von Lebensgefühl, deren Protagonisten Karl Kraus in seinem Nachruf auf das Café Griensteidl – anlässlich des Abrisses des Palais Herstein, in dem das Café untergebracht war – zynisch als „Obdachlose“ bezeichnete. Wie er überhaupt die Oberflächlichkeit der Kaffeehausliteraten und ihre inszenierte Antibürgerlichkeit verurteilte (ebd., S. 38). Die räumliche Situation wird in der literarischen Konstruktion von z. B. Jan Neruda oder Franz Kafka als eine räumliche Enge in dichtem Zigarettenrauch, schummriger Beleuchtung und großer Lautstärke beschrieben (Pähl 2009, S. 16, Position 275). Die Prager Schriftstellerin Lenka Reinerová hingegen konstruiert in ihrer Erzählung Traumcafé einer Pragerin (1996) das Café als Ort der imaginären Begegnung, als Refugium inmitten des Krieges, als Schutzraum, dessen Wände aus Äther sind, Wolkenwände, die beiseitegeschoben werden können, um bessere Sicht nach „draußen“ zu erlangen (Pähl 2009, S. 17, Position 293). Sie hebt damit nicht auf Enge, Qualm, Lichtlosigkeit und Lautstärke ab wie ihre männlichen Kollegen, sondern wortzeichnet das Café als wolkennahen, traumhaften Ort, dessen Potenzial es ist, verlorene, verstorbene und vertriebene Freunde wieder zusammenzubringen. Ein „selbst gebautes“ Café, das die Utopie einer einzigen, in sich befriedeten Gesellschaft als Gegenwelt zu einer Biografie der jahrelangen Exile entwirft.
Die Jagd auf Polster und Textilien Adolf Loos definiert das Kaffeehaus nicht primär als den entschleunigten, persönlich nachdenklichen Raum im Gegensatz zur umtriebigen kollektiven Urbanität, sondern er definiert es als einen eigenen Mobilitätsraum – eine Konzeption, die er auch in seiner Architektenausbildung, der Loos-Schule, weitergab: Verschiebbare Stühle statt fester Polstergruppen, Spielzimmer und Beleuchtungskonzepte (Meder 2008, S. 214f.) sorgten für sozialaktive Räumlichkeiten, die nur bedingt die egozentrierte Versunkenheit eines
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Bohemiens ansprachen. Die Aspekte von Mobilität und räumlicher Umtriebigkeit setzte Loos auch in seiner Lehre um; er gab sein Wissen mobil, umherstreifend auf Spaziergängen, in Kaffeehäusern, Cabarets und Nachtlokalen weiter (ebd., S. 216). Sitzmöbel sollten nach Loos’ Einschätzung das Bedürfnis nach verschnellertem Ausruhen bedienen. Dabei verlangten Nutzer_innen einen jeweiligen Typus von Sessel oder Stuhl, wichtig aber war dabei, dass er nach dem Credo „time is money“ beschleunigt ausruhen konnte (Loos 1997b, S. 84). Stühle im Kaffeehaus bedienten also gar nicht erst das Bedürfnis nach Ausruhen, sondern sie sollten gemäß dieser Logik das Ausruhen verhindern und Aktivität fördern.9 Stühle im Kaffeehaus waren demnach Indikatoren (männlicher) intellektueller Aktivität und in ihren Herstellungsbedingungen eher an den männlichen intellektuellen Architekten als den (verweiblichten) Polsterer gebunden, dessen Berufsgruppe Loos wie folgt beschrieb: „[…] ließ sich nun die haare wachsen, zog ein samtjaquet an, band sich eine flatternde krawatte um […]“ (ebd., S. 69). Loos zeichnete in seinen historischen Reflexionen „Interieurs“ den Verlust des handwerklichen Hoheitsgebietes des Tischlers nach, nicht ohne seinen persönlichen Ekel gegen die Ästhetik des gepolsterten Möbels rhetorisch zu inszenieren: „Dem ehrlichen handwerker [dem Tischler, H. H.] aber war dieser Schwindel zu viel. Da konnte er nicht mit. […] Da wurde er unter kuratel gesetzt. […] Der tapezierer […] hatte seinen vorteil bald heraus und warf eine unzahl neuer formen auf den markt. Es waren möbel, die so vollständig gepolstert waren, daß man das holzwerk des tischlers nicht mehr erkennen konnte. Man jubelte den Sachen zu. […] Und nun begann die herrschaft des tapezierers, eine schreckensherrschaft, die uns noch allen in den gliedern liegt. Samt und seide und mangel an luft und licht und potièren und teppiche und arrangements – gott sei dank, daß es damit nun vorbei ist. Der tischler bekam einen neuen Vormund. Das war der architekt. Der wußte gut mit der einschlägigen fachliteratur umzugehen und konnte daher mit leichtigkeit alle […] aufträge in allen stilarten ausführen. […] Aber einen Mangel hatten die zimmer der architekten. Sie waren nicht gemütlich genug. Sie waren kahl und kalt. Gab es früher nur Stoffe, so gab es jetzt nur profile, säulen, gesimse. Da wurde denn wieder
9 In diesem Sinne beschreibt auch Siegfried Kracauer 1926 das Frankfurter Haus von Ernst May: „Dies ist ein Haus für gerade Menschen, die dem Dunkel abhold sind, Bewegung lieben und bewußt Anteil nehmen an der Zeit“ (zit. n. Nierhaus 2014, S. 173).
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der tapezierer herbeigeholt, der die gemütlichkeit per meter an türen und fenstern aufhing. Aber wehe dem armen raum, wenn die stores und die portère zum reinigen herabgenommen werden mußten. Dann konnte es kein mensch in dem öden zimmer aushalten, und die hausfrau schämte sich bis in den tiefsten grund ihrer seele hinein, wenn sich zu der zeit, in der die gemütlichkeit und traulichkeit des raumes ausgeklopft wurde, ein besuch einfand. […] Der Tischler verträgt keinen vormund, und es wäre die höchste Zeit, wenn man die vollständig ungerechtfertigt verhängte kuratel aufheben würde.“ (Loos 1997a, S. 68–71) Gemütlichkeit und textile Stofflichkeit waren, ebenso wie die Emotionalität von Frauen, nach Loos nicht anschlussfähig an die Moderne. Aber – Gemütlichkeit und textile Stofflichkeit können ihm zufolge durch die gelehrte Rationalität eines Architekten, gepaart mit den klaren Formgebungen eines Zimmerers, überwunden werden. Diese Haltung manifestierte sich in dem modernen Einrichtungskonzept des Café Museum, welchem Zynismus und ästhetischer Ekel vor einer „Gemütlichkeit per Textil-Meter“ als Vermeidungsstrategie zugrunde lagen. Zum Ende des Ersten Weltkrieges intensivierte sich dieser Typus von Kaffeehaus als ein Ort der intellektuellen Unruhe (Meder 2008, S. 216f.). Dass hier Offenheit, Emanzipation und soziale Akzeptanz gelebt werden würden – dem widersprach schon Alfred Polgar in seiner Theorie des Café Central: Es gab soziale No-go-Areas, räumliche Ein- und Ausschluss-Settings und klar erkennbare intellektuelle und räumliche Hierarchien (Portenkirchner 1999, S. 38f.). Noch die Wiener Schriftstellerin Elfriede Gerstl beschreibt den gönnerhaften und konkurrentischen Habitus in den literarischen Avantgardezirkeln der Wiener Kaffeehäuser in den 1950er Jahren: „Erfolglosen Frauen und jungen Elevinnen tätschelte Hermann Hakel die Wange, nannte sie ‚Kinderl‘ und behandelte sie mit freundlicher Herablassung, erfolgreichen Frauen unterstellte er krankhaften Ehrgeiz und daß sie sich Lektoren an den Hals geworfen hätten […]. […] eifersüchtig wachten sie darüber, daß es keine Grenzgänger gab, wer sich beim Konkurrenten einfand, musste damit rechnen, verstoßen zu werden“ (Gerstl 1993, S. 37). Trotz dieser asymmetrischen Sozialästhetik, von der sie persönlich teilweise betroffen war, blieben Kaffeehäuser für Gerstl allerdings auch ein lebenslanger Existenzraum: „Ich bin von frühester Jugend an aus zu engen Wohnungsverhältnissen ins Kaffeehaus geflüchtet, um dort den ganzen Tag zu lesen, zu schreiben und zu essen. Ich habe alles mitgenommen. Da ich als Studentin in den 50er Jahren wenig Geld hatte,
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bin ich stundenlang in Lokalen gesessen – für mich ein Ort des Trosts. Später habe ich auch im Kaffeehaus geschrieben, weil ich eng, unbequem und laut gewohnt habe. Das war also keine Marotte, sondern eine reine Notlösung“ (zit.n. Sindemann 2008, S. 100). In der Tatsache, dass Elfriede Gerstl ihre Wohnverhältnisse floh, liegt auch eine tiefe existenzielle Kerbe. Als Jüdin wurde die 1932 geborene Gerstl in Wien vom Schulbesuch ausgeschlossen, von 1942 bis 1945 musste sie sich vor den Nazis in wechselnden Verstecken verbergen, zum Schluss eingesperrt in der mütterlichen Wohnung – in abgedunkelten Räumen10 durfte sie nur flüsternd sprechen. Nach der Naziherrschaft, in der „bleiernden sogenannten Nachkriegszeit“11, stellte sie zudem acht Mal vergeblich Gesuch auf eine Gemeindewohnung in Wien. Für sie gab es keinen Weg hinaus aus der Wohnungsenge der Zimmerküche, dem sogenannten Kabinett, das ihr von den Nazis zugewiesen worden war. Als sie auf dem zuständigen Amt fragte, wo sie denn schreiben und arbeiten sollte, riet man ihr, im Sommer in den Park und im Winter ins Kaffeehaus zu gehen.12 Trotz dieses zynischen Ratschlags ist vor dem Hintergrund ihrer Wohnbiografie das Kaffeehaus für Elfriede Gerstl mit Weite, mit Öffentlichkeit und mit Akzeptanz von Anwesenheit verbunden. Solange es ihr gesundheitlich möglich war, ging Gerstl in verschiedene Wiener Cafés, traf 10 „An ihrem [Gerstls] Denken ist nichts Archaisches, sie stellt nicht gleich eine ganze Nation, ein ganzes Volk, unter dem sie weiß Gott selber genug gelitten hat, als jüdisches Kind in einer ständig verdunkelten Wohnungskiste, bei der jederzeit der Boden herausfallen konnte, aber nicht durch einen Zaubertrick, bei dem man sich in einen andren Raum retten hätte können, und wärs nur vorübergehend, da war nur der Abgrund persönlich“ (Jelinek 2005). 11 „[…] ([…] All das Blech, das man dann geredet hat!) als bleiernde sogenannte Nachkriegszeit, die aber keine Nachkriegszeit war, sondern eine Verlängerung der Kriegszeit mit unlauteren Mitteln […]. […] Der Krieg hatte sie ja hochgespült, und die andren sollten verschwinden, ja, Gerstl auch. Wieso ist sie noch da? Sie soll verschwinden, wenn sie schon nicht tot ist. Verschwinden Sie! Arbeiten können Sie im Kaffeehaus, solange Sie niemanden stören. Eine Wohnung, die brauchen Sie nicht! Ilse Aichinger hat dazu ergänzt: Schlafen können Sie auch in der Hängematte. Das hat ihr ein braver Wiener Beamter gesagt. Sowas hat man sich damals anhören müssen“ (Ebd.). 12 „Die ganze Verachtung gegenüber intellektueller Arbeit schlägt einem entgegen, wenn man am Wohnungsamt zu hören bekommt, der Schriftsteller kann ja überall arbeiten. Wörtlich wurde mir einmal von einem Beamten gesagt: im Sommer im Park, im Winter im Kaffeehaus. Der Vogelfreie wird an die Luft oder ins Kaffeehaus gesetzt; geschieht ihm recht, wenn er einen so windigen Beruf hat“ (Gerstl 1993, S. 97). Vgl. auch den Dokumentarfilm Elfriede & Elfriede, D 2002/03, R.: Hanna Laura Klar, hier 00:22:14.
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ihr wichtige Menschen, auch wenn sie die neuen (synthetischen) Gerüche und die (Handy-)Telefonate in ihrer Sitzumgebung beklagte (Sindemann 2008, S. 101). Sie ist Expertin in der Beurteilung von Kaffeehäusern, kennt deren räumliche Biografien und macht indirekt Angaben zum Bequemen, das ein Kaffeehaus bieten sollte: „Heute wird das Café Museum von den Stammgästen gemieden, weil es in die Originalausstattung zurückverwandelt wurde. Aber tatsächlich ist es jetzt unbequem und unbeliebt. Das ist bei einigen Lokalen geschehen. Manche Leute sind stilistisch unempfindlicher, aber wer sensibel in Bezug auf Architektur ist, wendet sich ab“ (ebd., S. 102f.). Damit spricht sich Gerstl, ohne diese explizit zu erwähnen, für die gemütliche Zotti-Ausstattung des Café Museum aus den 1930er Jahren aus. Was sind hier die Komponenten von Bequemlichkeit und Beliebtheit? Die Zotti-Ausstattung sah im Original Sitzlogen mit gepolsterten roten Lederbänken vor. Für die Re-Installation dieser als gemütlich empfundenen Einrichtung wurden die Sitzlogen nachgebaut, Lampen und Interieur-Details ließ Querfeld neu anfertigen. Die Bänke der Sitzlogen sind aktuell mit rotem Stoff überzogen, die eine abgerundete, dem Original nachempfundene Polsterform formen.13 Die Möbel des Café Museum sind damit Agenten für eine Leib/ Raum-Beziehung, die affektpolitisch14 wohnanaloge Performanzen ermöglicht: Sitznischen bieten Gelegenheit zum cocooning im homogenen Raum, Polster und faseroffene Oberflächen respondieren mit dem Leib der Nutzer_innen (Helmhold 2012, S. 17–19). Ein Stuhl und eine gepolsterte Sitzloge bedienen andere Intensitäten von Körpererfahrung und formen damit andere Affektpolitiken (ebd., S. 20–22) als die Originalausstattung. Polster bilden eine zweite textilaffine Architektur, einen sensing space15 innerhalb der gemauerten Wände der gebauten Architektur. Samt oder samtähnliche Oberflächen auf Sitzmöbeln offerieren eine vergrößerte Oberfläche und werden durch Haptik rezipiert. Grundsätzlich ist die körperliche Situie-
13 Cafe Museum: Loos-Interieur verschwindet, in: Wien.ORF.at, 11.4.2012, http://wiev1.orf.at/stories/454334 (Stand: 20.8.2016). 14 Sarah Ahmed entwickelt in The Cultural Politics of Emotion den für das Leib/ Raum-Wohnen interessanten Begriff der Affektpolitik, der Emotionalität nicht diffus im Subjekt situiert, sondern an zirkuläre Prozesse bindet (Ahmed 2004, S. 10). 15 Carole Collet und Mette Ramsgard Thomsen zum Beispiel interpretieren in ihrem Projekt Poetic Textiles and Behaving Architectures die Interaktionen zwischen Raumtextilien und ihren Nutzer*innen als eine „persönliche und emotionale Beziehung“. Siehe dazu Heinrich/Eidner 2009 und Eidner 2010, S. 9.
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rung im Raum ein vitaler Akt, der sich deutlich vom passiven Erleiden der vorgefundenen Architektur unterscheidet. Was hier als bequem oder gemütlich adressiert wird, beschreibt einen komplizierten leiblichen Rezeptionsprozess zwischen dem Mobiliar und seinen Nutzer_innen auf der Innenseite einer gebauten Architektur. August Schmarsow hatte, aus den physiologisch-psychologischen Forschungsansätzen seiner Zeit heraus, bereits hervorgehoben, dass Raum auch „unter Beihülfe anderer leiblicher Faktoren“ wahrgenommen wird, dessen sinnliche Wahrnehmung auch „Muskelgefühle unseres Leibes, die Empfindlichkeit unserer Haut wie den Bau des ganzen Körpers“ involviert (Schmarsow 2002, S. 323f.). Diese Art Muskelgefühle werden auf Holzstühlen anders abgerufen als auf Polstersitzen; die somatischen Marker sind, wie die heutige Hirnforschung zeigt, an jeweils spezifische Rückkoppelungsprozesse zwischen Körper (soma) und Nervenprozess (Hirn) geknüpft (Damasio 2010, S. 207). Die Aktualisierung von Gefühlen und Emotionen16 ist danach an Körperwissen gebunden, das im Falle von Polstern und textilen Oberflächen an ein frühes Wissen menschlicher Leibbiografie gekoppelt ist: Als Säuglinge haben wir Hautkontakte in die soziale, aber auch in die materielle Umgebung. Gehalten zu werden liegt der Entwicklung von Vertrauen und Ich-Funktionen zugrunde (Winnicott 1969, S. 667), geht aber zugleich mit dem Empfinden von Hilflosigkeit einher (Nussbaum 2003). Zudem sammeln wir mit Hautsinnen und Muskelaktivitäten nachgeburtlich Informationen zu Raum und Zeit (Anzieu 1996, S. 26) – all diese Kompetenzen werden auch in Polstern und Kissen gebildet und gefestigt. Es ist immer noch weitgehend dem räumlichen Behältermodell (Löw 2001, S. 112–115, S. 158–161) geschuldet, dass wir Möbel als eine Einrichtung in Räumen interpretieren.17 Doch Möbel konstruieren durch eben die leiblich-räumlichen Wahrnehmungen einen eigenen Raum für die
16 Hier Antonio Damasio in seiner hirnbiologischen Unterscheidung folgend, dass „Emotionen also Akte oder Bewegungen [sind], die größtenteils öffentlich und sichtbar für andere sind“, während „Gefühle immer verborgen“ sind (Damasio 2003, S. 38, Anm. 8). 17 „Es ist der Herrschaftskultur einer Begriffsgeschichte geschuldet, dass mit Architektur der gebaute, zeitfeste Raum bezeichnet und diese stets einem Autor, dem Architekten zugeordnet wird […]. Es wird übersehen, dass textile Medien, einschließlich Kleidung, einen signifikant responsiven Raumbezug haben. Sie sind nicht nur Bestandteile von Einrichtung im Raum oder das Material, aus dem die Kleider sind, sondern sie sind auch Konstrukteure von Raum“ (Helmhold 2012, S. 18f.).
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Wohnsubjekte, der frühe Erfahrungen wieder-holen, sie verneinen und überwinden oder wiederholt aufsuchen kann – immer aber ist hier eine sensorische Kompetenz von Akteur_innen anzutreffen, die mit der „Katastrophenrhetorik“ der Moderne (Nierhaus 2014, S. 165) verdächtig wurde und eliminiert werden sollte. Die textile und dingliche Überstückung von Innenräumen war dem männlichen Blick ein Graus, obwohl oder weil sie haptisch eine ganz große Oper an Tastsinnesinformationen war. Rezeptoren von Tastsinn befinden sich in der menschlichen Haut, in den Gelenken, Muskeln und Sehnen; die gesamte Anzahl aller Tastsinnesrezeptoren in unserem Körper wird auf 10–20 Millionen geschätzt (Grunwald 2008, S. 46). Ästhetisch sind die textilen Traumata des bürgerlichen Individualwohnens des 19. Jahrhunderts heute kaum noch anzutreffen, aber als Zitate werden sie geschätzt, wenn nicht sogar gesucht – so zum Beispiel als heutige „Sehnsucht nach Tuchfühlung“ (Lembke 2016), aber eben auch in der Polsterloge eines Kaffeehauses. Dass ein Kaffeehaus in Gemütlichkeit „rückgebaut“ wird, mag auch eine taktile Mangelernährung bedienen, in der sich Menschen in einer visuell dominierten Welt befinden (Helmhold 2012, S. 70f.). Elfriede Jelinek hat ihre Laudatio auf Elfriede Gerstl anlässlich der Verleihung des Ben-Witter-Preises mit „Denken ohne Haltegriffe“ betitelt. Jelinek analogisiert darin das männliche Denken als ein zusammengeschustertes Denken aus dem Krempel der Umgebung: „Denken ist eine Umgebung, in der man sich bewegt und aus der man sich den ganzen Krempel holt, aus dem man dann seine Sperrmüll-Einrichtung bastelt und hübsch anordnet. Man kann das alles dann jeden Tag, jeden Monat oder jedes Jahr oder jahrzehntelang gar nicht neu arrangieren, damit man sich selber neu oder wie neu erscheint“ (Jelinek 2005). Elfriede Gerstl ist in diesem Sinne für Jelinek keine Denkerin, wenngleich diese denkt – originär denkt, ohne Haltegriff im Denksystem des üblichen Referenzzirkels großer Denkautoritäten (ebd.). Übertragen auf ein Wohn|Raum|Denken in einem Café lebte Elfriede Gerstl dort ein „Wohnen ohne Haltegriffe“. Kein räumliches Setting einer persönlichen Einrichtung, keine Inblicknahme von Dingen des eigenen Wohnraums, die optisch und situativ in Wohn- und Arbeitszimmern als ästhetische „Haltegriffe“ fungieren. Auch wenn sie in späteren Jahren ein Arbeitszimmer besaß, war sie immer auf der Flucht vor ebendiesem.
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Sie beschreibt in ihrem Buch Kleiderflug. Texte – Textilien – Wohnen18 ihr eigenes und das Leben ihrer Mutter in der späteren Flucht als eine Kleider-Biografie – worin die lost clothes auch der Motor für eine eigene große Kleidersammlung werden, die Elfriede Gerstl in späteren Jahren zuerst in ihrer Wohnung, später in einem eigens dafür angemieteten Depot anlegt. Diese Sammlung19 vergrößert sie durch Ankäufe kontinuierlich – Kleider, die sie jedoch nicht trägt, sondern deren bloßer Besitz ihr kostbar ist.20 Wörtersammeln und Kleidersammeln gehören für Elfriede Gerstl zusammen im „immer unterwegs gewesen – provisorien lärmig – ruhebedürfnis / wenn wenig kohle […] / […] wird herumgescheucht / wohnen im unterwegssein – umziehen in umkleideklos / lese-schreib-redecafés – substituiertes wohnen […] / trost im befühlen schöner stoffetzen – schmeichelseide“ (Gerstl 1995, S. 19). Das Wohnen und Arbeiten (in Gerstls Leben oft ein Synonym) im Café ist das Wohnen am wohnungslosen Ort – das Ersatzwohnen – das nicht nur ein Schutzraum, sondern auch eine Leerstelle in der Dichte, vielleicht auch in der bedrückenden Über-Dichte ihres Lebens ist. Insofern ein Wohnen ohne Haltegriffe, das seinerseits wieder Halt und Geborgenheit gibt. Beide, Elfriede Gerstl und Irene Nierhaus, sind KaffeehausWohnerinnen, und zwar beide auch im Café Museum. Befragt zu diesem Ort schreibt mir Irene Nierhaus in einer E-Mail im Sommer 2016: „[…] also bitte zum Café Museum, was soll ich da für einen Satz sagen, da reicht doch mein Lebtag nicht ein Satz, und einen Report dazu kann ich nicht schreiben – denn das Café Museum ist wie ein Stückerl Leben von mir. Da war ich als in Wien neue Studentin mit wenig Geld, las dort stundenlang mit einer Tasse ,kleinem Schwarzen‘ (Espresso) und jede halbe Stunde kam der Ober und brachte ein Glas Wasser. Da wars schön warm und wohlig. Irgendwie doch ein staunendes Zuhause, die Zeitungen, die anderen Gäste, ab und zu FreundInnen. Das hat mich irgendwie beschützt, vor dem vielen Unsicheren. Wien war damals eine scheiß-unfreundliche Stadt mit giftigen und bösartigen Alten und es gab keine Orte, wohin man ohne Geld und gerne hingehen könnte. Wenn ich mich heute dran erinnere, hab ich mich 18 Irene Nierhaus sei an dieser Stelle herzlich gedankt für dieses wunderbare Buch, das alles weiß zwischen Worten und Wohnen und Texten und Textilem. 19 „Sammlungen wachsen wie Hühneraugen, irgendeinen Schmerz oder Druck mildernd/abpolsternd“ (Gerstl 1995, S. 62). 20 „Ich zähle mich selbst zu den unechten Sammlern, denen es ums Finden und Kaufen geht“ (Gerstl 1995, S. 61).
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schon ausgesetzt gefühlt in eine kühle Welt – aber das ist sicher so wie mit Jugenderinnerungen, wer weiß, wie man die in der Erinnerung zusammenbastelt – aber heut ist das halt meine …“
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Wohnen ohne Haltegriffe Literatur Ahmed 2004 Ahmed, Sarah: The Cultural Politics of Emotion, Edinburgh: Edinburgh University Press 2004. Anzieu 1996 Anzieu, Didier: Das Haut-Ich, übers. v. Meinhard Korte und Marie-Hélène Lebourdais-Weiss, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996. Damasio 2003 Damasio, Antonio R.: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, München: List 2003. Damasio 2010
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Kathrin Peters GW2 B3009. Über Bildungsarchitekturen
„GW2“ – das heißt „Geisteswissenschaften 2“. Es gibt auch „GW1“, da sitzt Jura. Ich habe überlegt, was es bedeutet, wenn Jura als Geisteswissenschaft behauptet wird, aber es ist nicht nötig, diesen Gedanken weiterzuverfolgen, um den Gebäudecodes der Universität Bremen auf die Spur zu kommen, denn die Geschichte ist eine andere. GW1 war das erste Gebäude der neu gegründeten Universität, es wurde 1971 fertig, GW2 ein Jahr später.1 Aber so viel Geisteswissenschaft, um zwei mehrstöckige Gebäude zu füllen, brauchte man bald nicht mehr. 20 Jahre nach der Eröffnung dieser völlig neuen Universität mit ihrer neuartigen Fachbereichsstruktur, die mit einem komplexen Leitsystem und entsprechenden Kürzeln erschlossen wird, zieht in GW1 Jura ein. „Die Signifikanten bleiben, die Signifikate ziehen vorüber“, hat Roland Barthes 1967 in einem Vortrag zu Stadtplanung formuliert (Barthes 1988, S. 205). Das Signifikat Geisteswissenschaft ist vorübergezogen, das Gebäude steht noch, ebenso das Kürzel an der Wand. Auch GW2 ist nicht für geisteswissenschaftliche Fächer im engeren Sinne reserviert. Hier befinden sich Wirtschafts-, Sozial- und immerhin Kultur- und Erziehungswissenschaften. Auch die Big Band hat hier ihren Platz sowie das Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik, das sich inzwischen in „Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik“ umbenannt hat. Es ist das Institut, in dem Irene Nierhaus arbeitet, und es liegt im mittleren Trakt des dreiteilig ineinandergeschachtelten Baukörpers, genauer: im B-Trakt auf der dritten Ebene, daher „B3“. Irene Nierhaus’ Büro hat den Code „B3945“. Der große Seminarraum, in dem die Tagung zu ihren Ehren stattfand, heißt „B3009“. Seit den Studierendenprotesten 2012, die sich gegen den 1 Das Gebäude wurde von Kurt Schmidt, Kristen Müller und Werner Glade (Bremen) entworfen.
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GW2 B3009
Bologna-Prozess und seine kleinteiligen Studienordnungen sowie Sparmaßnahmen richteten, trägt er auch den Namen „Offener Studiersaal für alle“. Wie wir sehen werden, sind „offen“ und „für alle“ Signifikanten, die direkt zurückweisen auf die Konzeption der Universität Bremen. „Der ausladende drei- und viergeschossige Baukörper ist von keinem Punkt aus als architektonische Ganzheit zu fassen. Stattdessen gibt er sich demonstrativ als eine Baustruktur, die bei Bedarf erweitert werden könnte. Großmaßstäblich beherrschen die schweren Brüstungsbalken der umlaufenden Fluchtbalkone das Gebäude. Dieser horizontalen Dominanz antworten die außen vorgesetzten Treppentürme und die wuchtigen Haustechnikaufsätze auf dem Dach. Kleinmaßstäblich tritt das fast ornamental wirkende Gefüge der vorgefertigten Betonbalken in den Vordergrund.“ (Architekturführer Bremen o. J.) Der Architekturführer des Bremer Zentrums für Baukultur bringt auf den Punkt, was nicht nur die Gestalt der Universität Bremen, sondern die Struktur der universitären Neugründungen in der BRD der 1960er Jahre insgesamt ausmachte: Erweiterbarkeit; das heißt die Errichtung einer auf eine lange Zukunft hin projektierten baulichen Struktur, die das Wachsen und die Veränderlichkeit von Universität einplant. Die Universität Bremen gehört zu diesen Neugründungen, neben der Freien Universität Berlin, den Universitäten bzw. Gesamthochschulen im Ruhrgebiet (Bochum, Essen, Duisburg, Dortmund), in Bielefeld sowie in Süddeutschland (Konstanz und Regensburg). Diese Neugründungen nutzten keine bereits bestehenden Gebäude und erweiterten diese, sondern entwarfen großflächige Campus-Architekturen gänzlich neu. In mehrfacher Hinsicht lassen sie sich als Reformuniversitäten verstehen, denn die Reform bezog sich sowohl auf die gebaute Architektur als auch auf die Architektur von Fakultäten, Disziplinen und Lehrstühlen. Reformen sind ja nie abgeschlossen, die Reform von Bildungseinrichtungen ist in der Moderne geradezu auf Dauer gestellt. In einem andauernden Akt der Selbstbestimmung gehören Umbenennungen, Umstrukturierungen, Zusammenlegungen und Trennungen von Instituten und Fakultäten zum Alltagsgeschäft von Hochschulen. Es könnte daher sein, dass „Bologna“ vielleicht gar keine so mächtige Zäsur ist, sondern eine symptomatische Fortsetzung eines anhaltenden Reformprozesses, allerdings eine, die Reform ins unendlich Kleine auffächert, weil jede Modulbeschreibung nun beständig überarbeitet werden muss, immer dem Phantasma verpflichtet, man habe den Studienprozess endgültig geregelt und jede Ausnahme formalisiert.
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Kathrin Peters
Das Verhältnis von gebauter und universitärer Struktur ließe sich als Ergebnis parallel verlaufender Reformanstrengungen begreifen, so als ob ein bestimmter, zeittypischer architektonischer Stil zufällig mit einem soziologisch motivierten Bildungsverständnis zusammenfiele, das wird aber nicht hinreichend beschrieben. Vielmehr sind beide – und das ist hier meine Überlegung – Elemente eines Dispositivs, das Bildungs- und Baukonzepte, Betonpfeiler und Studienpläne, Freitreppen und Fachbereiche gleichermaßen umfasst. Einiges davon ist derzeit in Umbau begriffen, manches abgeschafft oder abgerissen worden. Grund genug, die Entstehung der Reformuniversitäten mit jenen Umbaumaßnahmen zusammenzudenken, die die gegenwärtige Universität kennzeichnen. Es ist nicht zuletzt das, was ich von Irene Nierhaus gelernt habe: Architektur reguliert Subjektivität. So war es erklärtes Ziel der universitären Baustrukturen, dass sie auch Strukturreformen manifestieren und prägen sollten. „Wissenschaftliche Arbeit […] wird von einem Gebäude nicht nur beherbergt, sondern auch in sich strukturiert“, so 1967 der spätere Rektor der Universität Bielefeld, Peter Grotemeyer (zit. n. Hnilica 2014, S. 227).2 Ob das gelungen sein mag oder nicht, ist hier weder entscheidend noch zu entscheiden, zu komplex ist die Verwobenheit von politischen und ökonomischen Bedingungen, von Personalentscheidungen, der Beharrlichkeit akademischer Traditionen auf der einen und Studierendenbewegungen auf der anderen Seite. Aber aus einer kultur- und medienwissenschaftlichen Perspektive ist dennoch nicht von der Hand zu weisen, dass bauliche Rahmung und architektonische Bedingungen die Arten des Sich-Treffens, des Sprechens und Forschens verändern. Wenn das Schreibgerät an den Gedanken mitschreibt, dann tun das wohl auch die Gebäude. „Welche Architekturen produzieren welche Texte?“, fragt Rembert Hüser. „Vielleicht sollten wir an das Schreiben unserer Texte auch einmal den Maßstab der Gebäude anlegen, in denen wir sitzen. Beiderlei Aufbau in Beziehung setzen. Versuchen wir zur Abwechslung einmal, von unseren Gebäuden Notiz zu nehmen.“ (Hüser 2010, S. 57f.) Ich versuche hier also, von einigen Universitätsgebäuden der 1960er Jahre Notiz zu nehmen.3 2 Die Universität Bielefeld wurde 1965 gegründet, 1969 begann der Lehrbetrieb. 3 In diesem Sinne ist mein Beitrag notizenhaft, folgt einer persönlichen Auswahl von Universitäten und ist in erster Linie ein Geburtstagsmitbringsel. Eine umfassende Analyse der Architekturen und städtebaulichen Strukturen der sogenannten Massenuniversitäten steht noch aus. Für einen kenntnisreichen Anfang, der mir viele Anknüpfungspunkte geboten hat, siehe Hnilica 2014. Außerdem
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Anlässlich des architektonischen Ideenwettbewerbs zur Universität Bremen hatte die Zeitschrift Bauwelt 1967 ein Gespräch zum Universitätsbau initiiert (Bauwelt 1967).4 Die am Gespräch beteiligten Architekten (die rein männliche Form ist hier korrekt) beklagten bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen einhellig die Diskrepanz zwischen der ehrgeizigen Bremer Ausschreibung – verlangt war eine erweiterbare Großstruktur – und den schließlich ausgewählten Entwürfen. Die Universität Bremen, wie wir sie kennen, hätte also noch viel besser, und das heißt hier: planerisch konsequenter sein können. Von einem Hochschulbausystem, wie es in Marburg, Berlin oder Essen angewendet wurde, das vorgefertigte Elemente in eine durchgerasterte Struktur einbrachte, hatten die verantwortlichen Ausschüsse in Bremen schon im Vorfeld Abstand genommen und die Realisierung der Einzelgebäude an verschiedene Architekten vergeben, die sich einzig an ein Grundraster halten sollten. Dagegen war in Marburg bereits ab 1961 ein Bausystem entwickelt worden, worauf der anwesende Helmut Spieker vom Universitätsneubauamt Marburg, sich seiner Vorreiterrolle bewusst, im Bauwelt-Gespräch verwies (es waren allerdings genau Vorbilder wie dieses, die die Bremer Ausschüsse von einem Bausystem abrücken ließ). Anders als Bremen hatte Marburg bereits eine alte Universität. Sie heißt auch Alte Universität und liegt in der Oberstadt. Unterhalb, in den Niederungen der Uferwiesen der Lahn, bekamen ab 1964 die geisteswissenschaftlichen Institute einige Hochhäuser.5 Dazu eine Magazinbibliothek, die sich hinter einer silbrigen Fassadenverkleidung verbirgt und zugleich von beinahe überall in der Stadt sichtbar ist, fast wie die Alte Universität, deren Ordinarien-Innenschau sich ja auch immer sehen lässt. Etwas später kamen in Marburg Neubauten für die naturwissenschaftlichen Institute hinzu. Sie wurden außerhalb des Stadtzentrums auf den angrenzenden Lahnbergen errichtet, die durch ein geschwungenes Autobahnstück erst erschlossen wurden. Das Hochschulbausystem, das hier Anwendung fand, übertraf den Modernismus der glatten Fassaden der „Phil. Fak.“-Solitäre in den Lahnwiesen um einiges. „Totale Rasterung“ war das Prinzip des
liegen Publikationen zu einzelnen Universitäten vor, insbesondere sei hier der sehr umfassende Band zur Ruhr-Universität Bochum genannt: Hoppe-Sailer et al. 2015. 4 Zu dem vierstündigen Gespräch versammelten sich elf Architekten, die zum Teil selbst Entwürfe eingereicht hatten. Die Gesprächsleitung hatte Ulrich Conrads. 5 Außerdem wurde Anfang der 1960er das Hörsaal-, das zentrale Verwaltungsgebäude und eine Mensa in zentraler Lage errichtet.
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Geisteswissenschaftliche Institute der Philipps-Universität, Marburg, WilhelmRöpke-Straße, 1967
„Marburger Systems“, das es ermöglichte, schnell und variabel verschiedene Gebäude- und Raumtypen auf der Grundlage von Stahlbetonfertigteilen zu errichten und Elemente sowohl horizontal als auch vertikal aneinanderzureihen, sodass die Anlage potenziell in alle Richtungen erweiterbar war (vgl. Bauwelt 1962). Denn wer weiß, welche Fachbereiche man noch erfinden würde und wie sie an andere anschließen könnten – Medienwissenschaft zum Beispiel: Wer hätte 1962, als Marshall McLuhan The Gutenberg Galaxis: The Making of Typographic Man veröffentlichte, daran gedacht? Oder Gender Studies, die heute, schon kurz nach ihrer Etablierung, viele so wenig mögen wie die Hochschulbausysteme. Die Abneigung gegen Hochschulbausysteme mag darin begründet liegen, dass es bei ihnen nicht um die, „man wagt es ja gar nicht mehr zu sagen, künstlerische“6 Gestaltung eines einzelnen Baukörpers geht, die dem strukturalen Nachkriegsmo6
So Werner Lehmann im Bauwelt-Gespräch (Bauwelt 1967, S. 1075).
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dernismus als Fassadenkosmetik galt, sondern um die Entwicklung eines technischen Systems, in das sich alle Bauteile einfügten bzw. dessen Form und Funktion sich erst aus allen Teilen ergeben würde. Das Projekt einer solchen Universität würde immer unabgeschlossen bleiben. Ein Bausystem konzipiert keine Einzelgebäude, die sich gemäß dem Primat natürlichen Wachstums möglichst organisch miteinander verbinden. Vielmehr wurde gerade umgekehrt eine Anlage oder eine Umgebung geplant, die, wie es zeitgenössisch aus dem Universitätsneubauamt Marburg verlautete, als „Koordinations-Instrumentarium“ für die Verteilung von Menschen und Objekten wirken sollte (zit. n. Hnilica 2014, S. 216). Eher als um Architekturen im Sinne eines gestalteten Baukörpers mit Wänden und Dach ging es um Strukturen und Infrastrukturen. Die Gestalt einer solchen Universität entsteht erst aus der Relation der verwendeten Fertigteile und Raster, so wie diese Struktur ihrerseits Relationen zwischen den Personen, die sich in ihr bewegen, herstellt. Weil diese Systeme alles umfassen, was einer Universität zugerechnet wird – Bibliotheken, Seminarräume, Büros, Einkaufszentren, Mensen, Studierendenwohnheime und sogar, wie in Bochum, „Professorenbungalows“ –, ist die Stadtanbindung minimal gehalten. Das beste Beispiel für das Projekt einer Universitätsmaschine, das Le Corbusiers Idee der Wohnmaschine weiterdenkt, ist die Ruhr-Universität Bochum, die einem Satelliten gleich über dem Ruhrtal schwebt und nur über eine Autobahnbrücke und eine Tiefgarage erreichbar ist. Im Bauwelt-Gespräch waren sich die Teilnehmer einig, dass in Bochum eine wegweisendere Architektur realisiert würde als die, die in Bremen zu erwarten sei. Dabei blieb Stadtanbindung ein ambivalentes Thema. Einerseits lässt sich hier das Erbe des Modernismus mit seinen Trabanten- und Satellitenkonzepten wiederfinden, andererseits ist die Rückwirkung der Maschine Universität in die Stadt, die im Zuge einer Öffnung der Hochschulen ja gerade hergestellt werden soll, vom Stadtrand aus schwer zu bewerkstelligen. Das räumlich eng begrenzte Bundesland Bremen hatte kein zentraler gelegenes Areal ausfindig machen können und wollte es womöglich auch nicht. Aber auch in der Innenstadt sah es 1967, als der Dortmunder Architekt Werner Lehmann7 zum Ideenwettbewerb nach Bremen reiste, nicht viel besser aus als am Stadtrand: „Ich bin in Bremen um 20 Uhr angekommen und auf den Marktplatz gegangen, um 7 Lehmann hatte mit seinem verdichteten städtebaulichen Entwurf zur Ruhr-Universität den dritten Platz gemacht (Apfelbaum/Schmitz 2015, S. 67).
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zu fragen, wo ich essen kann. Ich habe überhaupt keinen Bürger getroffen, denn da war gar keiner zu dieser Zeit. Es wird schwierig sein, eine Begegnung überhaupt zustande zu bringen.“ (Bauwelt 1967, S. 1062) Der bereits in der Ausschreibung projektierte „Zentralbereich“ der Bremer Universität mit seinem „Boulevard“ ist Knotenpunkt für den Zugang zu den einzelnen Gebäuden – die Treppe in der Mitte öffnet den Zentralbereich noch luftig in die Vertikale und ist als tageslichtbeschienenes Atrium angelegt. Die Verdichtung von Geschäften, Cafeteria und Mensa im aufgeständerten Zentralbereich sollte zwar für „jedermann offen“ sein, aber zugleich von Beginn an „den Eindruck von Menschenmassen vermeiden“ (Baumeister 1977, S. 833). Die Ambivalenz zwischen Verdichtung und Auflockerung8 lässt sich an den Universitäts-Neugründungen immer wieder nachvollziehen. Es ist ein Konflikt zwischen Großuniversität einerseits und einer familial verstandenen Universität mit ihren Doktorvätern andererseits. Zehn Jahre nach dem Wettbewerb, als die Universität Bremen bereits 8.000 Studierende zählte, sollte die Anbindung an die Stadt noch einmal verbessert werden, und zwar durch die „Herstellung einer städtischen Umwelt, die ihren Bewohnern durch ein vielfältiges Angebot an Wohnformen und sozialer Infrastruktur die Chance zu persönlicher und familiärer Entfaltung und differenziertem kommunikativem Handeln bietet“ (ebd.). Die Ruhr-Universität Bochum hatte im Gegensatz dazu in Ausschreibung und Preisvergabe ganz entschieden auf eine quasi-urbane Struktur gesetzt, auf eine Hochschulstadt, die von der Universität selbst gebildet würde, mit einem „Forum“, das Hochhäuser, Audimax und Bibliothek räumlich zusammenhält. Die Architektin und Kritikerin Ingrid Krau bringt dieses planerische Konzept mit der Demokratisierung von Bildung zusammen: „‚Konzentration‘ und ‚Verdichtung‘ führen also zum Erlebbarmachen des Massenbedürfnisses ‚Bildung‘: im ‚Zusammenhängen‘ begreift man die ‚Zusammenhänge‘. Dieser Trend verläuft ganz analog mit der ‚allseitigen Verflechtung der Einzeldisziplinen‘ in der Wissenschaft.“ (Krau 1967, S. 1048) Eine solche neue Universität ist zugleich höher und flacher als die alte. Die Höhe der Hochschulbauten markiert gewissermaßen die Niederschwelligkeit des Zugangs. Der Ende der 1960er Jahre aufkommenden Kritik an den Massenuniversitäten, die in den vorgefertigten
8 Für den BRD-Wiederaufbau in der Nachkriegszeit war die „aufgelockerte Stadt“ das Leitbild, das eine Funktionstrennung von Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Verkehr anstrebte und mit großflächiger Durchgrünung arbeitete.
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Hochschulbausystemen ihre rationalistisch-technische Materialisierung gefunden zu haben schienen, antwortete Krau furios: „Sie [die Kritik] ruft nach ‚Überschaubarkeit‘ und ‚Bezogenheit auf Intimbereiche‘ und schafft es nicht, über den kleinmaßstäblichen Horizont hinaus die Integration in eine polynomische Gesellschaft zu sehen. Der Kritiker verlangt nach den ‚lebbaren Bezügen‘ einer höchstens 5000 [sic!] umfassenden englischen Kleinuniversität, um nicht neurotisch zu werden (und fährt für sein erschriebenes Geld wahrscheinlich nach Paris, um sich in der Unüberschaubarkeit der Bezüge wohl zu fühlen).“ (Ebd., S. 1049) Von der Ruhr-Universität war zu diesem Zeitpunkt der erste Bauabschnitt bereits realisiert. Aus dem Bochumer Ideenwettbewerb, zu dem auch international bekannte ArchitektInnen eingeladen worden waren, war schließlich ein Entwurf des Düsseldorfer Büros Hentrich + Petschnigg als Sieger hervorgegangen und mit einer Planung des Staatshochbauamts zusammengewürfelt worden. Ein avancierter Entwurf von Georges Candilis, Alexis Josic und Shadrach Woods hatte sich nicht durchsetzen können. Im Bauwelt-Gespräch berichtete indes Jürgen Nottemeyer vom Hochschulplanungsamt Berlin ein bisschen stolz vom Baubeginn am sogenannten Obstbaumgelände, wo Candilis, Josic und Woods ein Gebäude für die Geisteswissenschaften der Freien Universität errichteten.9 Candilis, Josic und Woods waren Mitglieder des „Teams X“, eines losen Zusammenhangs von Architekten, das den Modernismus Le Corbusiers reformulierte. Was die „Rostlaube“ – wie sie heute heißt, weil die Fassade von Jean Prouvé aus einer speziellen Stahllegierung im Berliner Regen oxidierte – von der modernistischen Architektur mit ihren Kuben und glatten Fassaden unterscheidet, ist die Arbeit mit zahlreichen Vor- und Rücksprüngen, mit einer verschachtelten, teppichartig sich ausbreitenden Raumanordnung. Geplant waren, anders als in Bremen, Marburg oder Bochum, nur zwei Geschosse. Die mögliche Ausdehnung und Verdichtung wurde in der Horizontalen anvisiert, durch die Umnutzung der zahlreichen Innenhöfe zum Beispiel oder durch verschiebbare Wände. Der Entwurf einer solchen nicht-hierarchischen, „teppichartige[n] Verkettung“10 für die Bochumer Universität war vom Preisgericht allerdings abgewiesen worden. Er kam einigen „ori-
9 Der Architekturwettbewerb fand 1963 statt, bezogen wurde das Gebäude erst zehn Jahre später, 1973. Der Entwurf wurde zusammen mit Manfred Schiedhelm realisiert. 10 Preisgerichtsbewertung, zit. n. Apfelbaum/Schmitz 2015, S. 63.
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entalisierend“ vor: Es sei ein Entwurf, der „uns fremd ist und ein wenig an einen überbauten Basar erinnert“.11 Bezüge zur Architektur Nordafrikas, mit der sich das Team beschäftigt hatte (vgl. Avermaete et al. 2010), sollten zumindest im Ruhrtal nichts zu suchen haben. Vom Modernismus stammt das Konzept der Straßen im Gebäude, der Binnenstraße: Die Räume sind über breite Wege erreichbar, viel breiter, als zur reinen Passage notwendig ist. Ein Haus soll eine Stadt werden, eine Stadt ein Haus, das Urbane wird in das Gebäude übertragen. Mögliche Vergrößerungen oder Schrumpfungen von Fachbereichen könnten sich so direkt räumlich umsetzen lassen, Montage und Demontage sind impliziert.12 1967, im selben Jahr, als in Bremen eine Universität geplant wurde, in Bochum ein Universitäts-Torso stand, in Berlin der Bau der Rostlaube begann und in Marburg die Bebauung der Lahnberge, als Roland Barthes über Stadtplanung vortrug und sich im Bauwelt-Gespräch über neue Universitätsarchitekturen gestritten wurde, legte der deutsche Wissenschaftsrat das Programm „Sonderforschungsbereich“ (SFB) auf. „Sonderforschungsbereiche sollen“, so hieß es da, „vor allem für solche Gebiete eingerichtet werden, in denen es auf die Zusammenarbeit mehrerer Lehrstuhlinhaber, auch über die Fakultätsgrenzen hinweg, ankommt. […] Das Forschungsgebiet eines einzelnen Lehrstuhlinhabers wird dagegen als Thema eines Sonderforschungsbereiches nicht ausreichen.“ (Zit. n. Bunia 2015, S. 21) Gegen die Lehrstuhlherrlichkeit mit ihren Assistenten und Oberassistenten, die die alte Universität ausmachte, sollten SFBs für eine „gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen jüngeren und älteren Wissenschaftlern“ sorgen (ebd., S. 17). Und in wunderbarer Selbstreflexivität widmete sich einer der ersten SFBs dem Thema Hochschulbau.13 Die neuen Hochschulbausysteme standen also im Zeichen von Übergängen zwischen den Seminarräumen, zwischen den Statusgruppen und darüber hinaus zwischen den Fakultäten, die nun Fachbereiche hießen. Diese Übergänge waren und sind durchaus als gebaute Interdisziplinarität zu verstehen, die bereits hoch im Kurs stand. Daher verfügen diese Gebäude über derart viele Tunnels und Überführungen, über Treppenhäuser, die uns in Flure 11 So ein Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von 1963, zit. n. Apfelbaum/ Schmitz 2015, S. 63. Die Aussage ist auf den Entwurf zur Ruhr-Universität gemünzt. 12 Dass diese Raumveränderungen meines Wissens nie durchgeführt wurden, ist eine andere Geschichte, die mit technischen Anforderungen, industriellen Produktionsweisen, Standardisierung und ästhetischen Richtungswechseln zu tun hat. 13 In Stuttgart 1969–1976.
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werfen, ohne dass wir sogleich erkennen, wohin wir gehen müssten, wenn wir dort ankommen wollen, wo wir mal hin wollten. Wo sind wir? Wo wollen wir hin? In welchen Flur, in welches Fach? Das sind Fragen, die nicht durch bauliche Mängel aufgeworfen werden. Sie sind Konzept. Eine Diplomarbeit, die 1974 am Institut für Sozialbauten der TU Berlin eingereicht wurde, gibt Aufschluss über den Zusammenhang von Bildung und Bauen. Sie findet sich im Archiv der Universitätsbibliothek Oldenburg, die BIS, Bibliotheksund Informationssystem heißt – eine zeittypische Benennung, die statt eines tendenziell elitären Begriffs wie Bildung den der Information in den Mittelpunkt stellt.14 Diese Diplomarbeit befasst sich mit dem „tertiären Bildungssektor“ und dessen „baulicher Konkretisierung“ (Dzwillo et al. 1974). Und wie es bei Diplomarbeiten der Zeit möglich und üblich war, handelt es sich um eine Gemeinschaftsarbeit. Die drei Autoren entwerfen darin eine Bebauung für die „Integrierte Gesamthochschule Oldenburg“. Das Projekt ist nicht realisiert worden. Umso aufschlussreicher ist der Sound der Kritischen Theorie, der diese Arbeit kennzeichnet (es wird sehr oft Habermas zitiert), weil er sich von der gegenwärtigen Exzellenz- und Bologna-administrativen Tonlage so grundsätzlich unterscheidet, schon allein dadurch, dass das Wort „Verwaltung“ nicht auftaucht: „Ziel intendierter Formen wissenschaftlichen Zusammenhandelns in Forschung, Lehre und Studium sollte die Überwindung desintegrierter Realitätsbezüge fachimmanenten Denkens zugunsten eines fachwissenschaftsübergreifenden Gesellschaftsbezugs sein. Angestrebte Erkenntnisse und Zielvorstellungen auf der Grundlage überfachlichen Zusammenhandelns von Einzelwissenschaften in Forschung, Lehre und Studium sind als Prozesse zu verstehen, deren Basis Kommunikation ist.“ (Ebd., S. 40) Fachimmanenz geht nicht mehr. Was gehen soll, ist der Abbau des hierarchischen Lehrbetriebs mit seinen Lehrformen Vorlesung und Seminar zugunsten eines Projektstudiums in problemorientierten AGs, die ohne Leistungsziele arbeiten. Statusgruppen sowie das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden sollten abgebaut werden. Denn „Kommunikation verstanden als gemeinsamer Erkenntnisprozeß“ soll „an die Stelle der bisherigen autoritätsgelenkten akademischen Wissensvermittlung traditioneller fachimmanenter Vorlesungen,
14 Die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg ist die Partneruniversität der Universität Bremen und auch ein Arbeitszusammenhang von Irene Nierhaus, die hier an einem hochschulübergreifenden Kolloquium zur Methodologie kunstwissenschaftlicher Geschlechterforschung beteiligt war.
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Seminare und Übungen treten“ (ebd., S. 44). „Kommunikation“ war eines der Zauberworte der 1960er/70er Jahre. Es stand für Verständigung und Konsens, die beim besten politischen Willen erreichbar schienen. Für die Uni Oldenburg, die sehr schnell errichtet werden musste, weil man sich zwar jahrelang in Ausschüssen getroffen hatte, aber die zu erwartenden Studierendenmengen bei Aufnahme des Lehrbetriebs 1974 doch nicht bedienen konnte, wurde ein Hochschulbausystem verwendet, das aus Nordrhein-Westfalen stammte: das sogenannte NRW 75, das neben dem Berliner und dem Marburger System das prominenteste der Zeit war. Das NRW-System setzte „Erschließungskerne“ ein, von denen aus die jeweiligen Etagen und Flure zentral zugänglich werden. Aber Erschließungskerne fand die erwähnte Diplomarbeit schon 1974 zu festgelegt und monoton. Die „Kommunikationsfelder“ würden zu gering ausfallen, die einzelnen Geschosse und damit die Fachbereiche zu unabhängig voneinander bleiben. In der Universität-Gesamthochschule Essen, die 1971 im NRW-System gebaut wurde, sah man das ähnlich. Der Campus der Uni-GH Essen besteht aus besagten Kernen und „stapelbaren Bereichen“ mit einer großen Wiese in der Mitte. Da in dieser architektonischen Anlage, die keine Haupt- und keine Nebengebäude kennt, nicht mehr zu ermitteln ist, wo man sich befindet und wo man hinmuss, wurde ein visuelles Leitsystem entwickelt, das die einzelnen Gebäude und Fachbereiche farblich codierte.15 Warum auch nicht? – Jedes komplexe bauliche Gefüge braucht Wegweiser. Aber die Kritik folgte auf dem Fuße: „Endlose Gänge […]. Türen ziehen, Türen drücken – hunderte. Schon die Vorstellung nimmt einem den Atem, hinter den immer gleichen Türen könnte irgendwo ein Seminar über [Adalbert] Stifter stattfinden.“ (Ulrich von Altenstadt zit. n. Hnilica 2014, S. 215) Und wenn es eins über Michel Foucault gewesen wäre? Hätte das mehr Sinn ergeben? Zum Beispiel über dessen Begriff des Dispositivs, der wie von den Hochschulkonglomeraten her entwickelt zu sein scheint. Ein Dispositiv ist „ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt.“ (Foucault 1978, S. 119f.) Oder Gebautes ebenso wohl wie Ungebautes. 15 Ich habe in R12 Kommunikationsdesign studiert (Gebäude 12, das rot markiert ist).
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Universität Essen, 1977
In Bremen bestand der strukturell weitreichendste Wettbewerbsentwurf in einer Container-Struktur, in die mittels fahrbarer Kräne einzelne Container eingehängt werden konnten – angelehnt, so scheint es, an Cedric Prices gleichfalls unrealisiert gebliebenen „Fun Palace“, den er in den 1960er Jahren als leasure and learning machine geplant hatte. Der Architekt dieser Krankonstruktion, Lyubomir Szabo, sprach ganz explizit von einer Maschinenstruktur, die sich aus quantifizierbaren Variablen errechnen lassen müsste (vgl. Bauwelt 1967, S. 1058). Das Konzept der Super- oder Megastruktur, das hier – im Wortsinn – zum Tragen kam, wendete sich noch dezidierter von gestalteten Einzelbaukörpern ab, als es die Bausysteme bereits taten.16 Die Megastruktur zielte auf die Konstruktion sich selbst steuernder Systeme, die auf der Basis von Technologien das Verhältnis
16 Auch im Ideenwettbewerb bestand der allgemein als innovativste angesehene Entwurf – der von Eckhard Schulze-Fielitz stammte – in einer aufgeständerten Tragstruktur, in die Raumelemente eingehängt werden konnten und die sich als Raumstadt in zwei Achsen über das Gelände zog (vgl. Apfelbaum/ Schmitz 2015, S. 61f.).
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Universitätsgelände Bremen: Studentenhaus mit Boulevard, Cafeteria, Universitätsbibliothek, Betriebshof und NW2, 1977
von Mensch und Umwelt austarieren, ja die selbst eine Umwelt bilden, die technisch bestimmt ist.17 Elemente technischer Infrastrukturen wie Heizungsanlagen, Belüftungs- und Transportschächte werden zu tragenden Prinzipien eines Gebäudes, das keines mehr ist, zumindest nicht im Sinne einer fixen Gestalt oder eines identifizierbaren Einzelgebäudes. Angesichts dieser Betonung von Rasterung, Variablen und Variabilität drängt sich mir der Eindruck auf, dass sich seither zwischen Bau- und Hochschulkonzepten etwas verkehrt hat: Container in ein Kransystem einzuhängen klingt, wie Module in einen Studienverlaufsplan einzubauen. Das „Konglomerat“ besteht nun nicht aus Fertigbauteilen, sondern aus Creditpoints, Workloads, Studierendenzahlen und Deputaten, die unter Berücksichtigung von Anrechenbarkeit und Überschneidungsfreiheit für verschiedene Studiengänge 17 Hier lohnt es sich weiterzudenken und den Bezug zur Kybernetik herauszuarbeiten. Eine Untersuchung zum Begriff des environment bei Reyner Banham, dem Vordenker der Megastrukturen, findet sich bei Sprenger 2015.
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Cafeteria im Gebäude Geisteswissenschaften 2, 1975
auszurechnen sind. Das gelingt zunehmend nur mehr mit Algorithmen; menschliche KoordinatorInnen müssen einstweilen einspringen und eine zum Scheitern verurteilte Kommunikation bewältigen. Seit im Jahr 2000 der Bologna-Prozess begonnen hat, ist man von der Vorstellung, Baustrukturen könnten das Studium regulieren, abgerückt und hat dieses Regulierungsbegehren auf Modulsysteme in Studienordnungen verschoben. Hier regiert die Vorstellung, dass sich mit einer perfekt erdachten Modulstruktur, die alle Elemente umfassend bedenkt und Entwicklungen sowie Sonderfälle antizipiert, inhaltliche Diskussionen über das, was ein Studium ausmachen soll, von selbst erledigen würden (vgl. Packard 2013). Ziele wie „Interdisziplinarität“, „Forschendes Lernen“, ein durchlässiges Verhältnis
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von „Hochschule und Öffentlichkeit“, „Gleichstellung“ mögen noch ähnlich lauten wie in den 1960er Jahren. Aber an ihnen hängen inzwischen andere Signifikate: Interdisziplinarität ist eng mit Drittmittel-Akquise verschnürt und „Exzellenz“ meint schließlich etwas ganz anderes als Öffnung für alle. Während man zu Zeiten der Reformuniversitäten davon träumte, Leute von außerhalb der Universitäten in diese einzubeziehen, und sei es nur zum Kaffee-Trinken, wird das Verhältnis von „Bürgern“ und Universität heute, zu Zeiten von Exzellenz, als „Transfer“ in die Öffentlichkeit apostrophiert. Zum neuen Studiensystem scheinen die mittlerweile alt aussehenden Hochschulbausysteme denn auch nicht mehr zu passen. Die infrastrukturelle Logik der Hochschulbausysteme, die ganze Lern- und Forschungsumwelten umfasste, hat sich ins Administrative zurückgezogen, geradezu eingekapselt, um hinter transparenten Fassaden zu verschwinden. In Marburg wird an die Stelle der modernistischen Solitäre der „Phil. Fak.“ eine gläserne Universitätsschlange in die Innenstadt treten, der „Campus Firmanei“ als neues geistes- und gesellschaftswissenschaftliches Zentrum.18 Die Universität Essen fusionierte mit der in Duisburg und vereint schufen beide die Gesamthochschule ab, jenes Bildungskonzept, das Nicht-AbiturientInnen eine Hochschulbildung eröffnete. Und in Bremen will man von unprätentiösen Eingangsszenarien nichts mehr wissen, baut den Boulevard zurück und setzt einen gläsernen Vorbau über den Zentralbereich, der sich wie ein Portal ausnimmt. So gilt am Ende wohl für Bauten wie für Studienordnungen, was der Essener Architekt Heinz Behrendt mehr oder weniger ungehört in die Bauwelt-Runde eingeworfen hatte: „Denn auch ein System kann natürlich veralten in einer gewissen Zeit. Es geht vielleicht weniger darum, ein vollständig variables System zu planen, sondern vor allem darum, die Instrumente zur Veränderung dieses Systems zu planen.“ (Bauwelt 1967, S. 1058)
18 Das Universitätsneubauamt hat 1984 das letzte Gebäude realisiert. Ein unter Denkmalschutz stehendes Gebäude auf den Lahnbergen soll abgerissen werden. Zu den Bauaktivitäten der Philipps-Universität Marburg siehe deren Website, https://www.uni-marburg.de/aktuelles/bau (Stand: 22.9.2016).
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GW2 B3009 Literatur Apfelbaum/Schmitz 2015 Apfelbaum, Alexandra; Frank Schmitz: Universitas durch Dichte. Der Ideenwettbewerb zur Ruhr-Universität 1962/63, in: Richard Hoppe-Sailer; Cornelia Jöchner; Frank Schmitz (Hg.): Ruhr-Universität Bochum. Architekturvision der Nachkriegsmoderne, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2015, S. 59–78. Architekturführer Bremen o. J. Architekturführer Bremen, hg. v. bremer zentrum für baukultur, www.architekturfuehrer-bremen.de/n_anzeigen.php?id=48 (10.3.2017). Avermaete et al. 2010 Avermaete, Tom; Serhat Karakayali; Marion von Osten (Hg.): Colonial Modern. Aesthetics of the Past, Rebellions for the Future, Ausst.-Kat., Haus der Kulturen der Welt Berlin, London: Black Dog Publishing 2010. Barthes 1988 Roland Barthes: Semiologie und Stadtplanung (1967), in: ders.: Das Semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 199–209. Baumeister 1977 Universität Bremen. Bauliche Entwicklung – Gesamtplanung, in: Baumeister. Zeitschrift für Architektur – Planung – Umwelt, H. 9, Jg. 74, September 1977, S. 832–837. Bauwelt 1962 Ein Bausystem für Hochschulinstitute, in: Bauwelt, Nr. 48, Jg. 53, November 1962, S. 1339–1349. Bauwelt 1967 Ergebnis des Ideenwettbewerbs Universität Bremen (Gespräch), in: Bauwelt, Nr. 42/43, Jg. 58, Oktober 1967, S. 1053–1075. Bunia 2015 Remigius Bunia: Von Häuptlingen und den übrigen Forschern, in: Merkur 69, 2015, S. 17–30. Dzwillo et al. 1974 Dzwillo, Rolf; Norbert Leroudier; Bernd Möller: Untersuchungen von Strukturmodellen des tertiären Bildungssektors und ihrer Auswirkungen auf die bauliche Kon-
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Abbildungsnachweise Abb. S. 307: Foto: Hoffmann, © Bildarchiv Foto Marburg/Hoffmann.
Kathrin Peters Abb. S. 314: Foto: Wolfgang Schöller © Bildarchiv Foto Marburg/Wolfgang Schöller. Abb. S. 315: Foto: Elisabeth Dickmann © Universität Bremen. Abb. S. 316: Foto: Elisabeth Dickmann © Universität Bremen.
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Elke Krasny Strategischer Separatismus Den feministiska Visionen/The Feminist Vision der Künstlerin Helena Olsson in der Ausstellung „OOMPH. Kvinnorna som satte färg pa Sverige/ The Women who made Sweden colorful“ im Malmö Kunstmuseum. Eine kontextualisierende Analyse
„Kannst du dich an den Film erinnern, den wir letzten Sommer im Kunstmuseum in Malmö gesehen haben?“ Mein jüngster Sohn antwortet ohne Zögern. „Ich weiß, welchen Film du meinst“, sagt er. „Der Film handelt von Frauen, die miteinander in einem Haus leben. Männer und Kinder dürfen nicht dort leben.“ Ich richte die Frage auch an meine Tochter. „Ich kann mich an alles in diesem Film gut erinnern“, sagt sie. „Es geht um Frauen. Sie sprechen über ihr Leben in dem Haus, in dem sie wohnen. Sie sprechen viel über diesen Roman, der wichtig für ihr Haus ist.“ Helena Olssons The Feminist Vision wurde in Elfvinggården gedreht, einem seit 1940 in Stockholm bestehenden separatistischen Frauen-Wohnprojekt. Bei dem Roman, über den im Film gesprochen wird, handelt es sich um den 1915 von Charlotte Perkins Gilman veröffentlichten feministisch-utopischen Science-Fiction-Roman Herland, der in einem nur von Frauen bewohnten Land spielt (Perkins Gilman 1998). Während ich gemeinsam mit meinen Kindern und meinem Partner den Film sehe, verdeutliche ich mir, dass ich mich von ihnen trennen müsste, würde ich in Elfvinggården einziehen. Ich frage mich, was eine Politik separatistischer Trennung im Jahr 2017 bedeutet (Abb. 1).
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1 Die Familie der Autorin in der Videoinstallation The Feminist Vision von Helena Olsson, 2016
Der Besuch der Ausstellung „OOMPH. The Women who made Sweden colorful“, die vom 4. Juni bis zum 4. September im Malmö Kunstmuseum stattfand und in deren letztem Raum Helena Olssons Video-Installation zu sehen war, ist der Ausgangspunkt für die folgende kontextualisierende Analyse. Meine historiografisch orientierte feministische Kulturanalyse verbindet die Ausstellung, die künstlerische Arbeit, das Wohnprojekt und den utopischen Roman durch die Kategorie des strategischen Separatismus. Zuerst erfolgt die Kontextualisierung der Ausstellung „OOMPH“ im Zusammenhang der durch die Ideologien des schwedischen Wohlfahrtsstaats propagierten Geschlechterpolitiken. Dann fasse ich durch die Einführung des Begriffs des strategischen Separatismus die feministische Nur-Frauen-Praxis im Ausstellen wie im Wohnen. Während strategischer Essentialismus durch
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die dekonstruktivistische, marxistisch-feministische Arbeit von Gayatri Chakravorty Spivak seit Mitte der 1980er Jahre sowohl als theoretische Analysekategorie wie als Benennung einer politischen Handlungspraxis etabliert ist, hat strategischer Separatismus, seit der ersten Frauenbewegung wesentlicher Teil eines feministischen Handlungsspektrums, bis dato nicht zu einer umfassenden kritischen Theoretisierung und Historisierung geführt (vgl. Spivak 1988, 1990). In der politischen Theorie ist Separatismus als das Streben nach Abtrennung von einem bestehenden Staat, um einen eigenen zu gründen, definiert. Strategischer Separatismus im Feminismus kann daran angelehnt als Abtrennung einer Gemeinschaft von Frauen, eines weiblichen Kollektivs, mit dem Ziel selbstbestimmten Verfügens über Ressourcen, Infrastrukturen und Institutionen definiert werden. Im strategischen Separatismus feministischer Geschlechtertrennung lassen sich die folgenden Strategien unterscheiden: Gründerinnen-Separatismus führte zur Planung und Umsetzung von Frauenwohnprojekten, aber auch Institutionen wie Frauenmuseen oder Frauenuniversitäten. Im Rahmen dieser Institutionen gibt es Bauten und Einrichtungen, in denen ein permanenter Separatismus einschließlich eines permanenten Ausschlusses von Männern praktiziert wird. Daneben gibt es einen temporären Separatismus, der bestehende Räume, Infrastrukturen oder Institutionen auf Zeit für Nur-Frauen-Projekte nutzt, wie bei Frauenausstellungen, die sich nicht-separatistisch an die Öffentlichkeit richten. Meine Analyse hier arbeitet heraus, wie diese unterschiedlichen Separatismen die in diesem Essay behandelten Beispiele „OOMPH“, Elfvinggården und Herland auszeichnen. Meine kontextualisierende, recherchebasierte Analyse entfaltet Verbindungen zwischen Ausstellung, Wohnprojekt und utopischem Roman. Zu diesen Verbindungslinien zählen die longue durée einer „häuslichen Revolution“ (vgl. Hayden 1981), aber auch die Verdrängungsbewegung einer „strategischen Ignoranz“ (vgl. Bailey 2007) im Hinblick auf den „eugenischen Feminismus“ (vgl. Seitler 2003) sowie die „wohlfahrtsstaatliche Eugenik“ (vgl. Lundberg/Tydén 2010). Diese verdrängende, strategische Ignoranz verdeutlicht die notwendige Intensivierung einer kritisch-differenzierenden feministischen Kulturanalyse, welche die Politiken des strategischen Separatismus in seinen materialisierten Manifestationen wie Wohnen oder Ausstellen im jeweiligen historischen Kontext situiert und verdrängendignorierendes Trennen in der feministischen Rezeptionstradition von strategischem Separatismus, vor allem auch in seinen Utopien, aufzeigt.
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„OOMPH. The Women who made Sweden colorful“. Die Ausstellung im Kontext des schwedischen Wohlfahrtsstaats und seiner Geschlechterpolitik „OOHMPH“ – Mit diesem Ausruf, dieser Interjektion, vermittelt der Titel die Ausstellung an die Öffentlichkeit. Interjektionen, auch Empfindungsworte genannt, sind kurze Worte, die kraftvoll starke Gefühle wie Überraschung, Freude oder Ärger ausdrücken. OOMPH kommt aus dem Hollywood-Zeichentrickfilm der 1930er Jahre und verbindet sich mit Vorstellungen von Dynamik, Schwung, Attraktivität, in einer heteronormativen Logik Attraktivität für das andere Geschlecht (vgl. Widenheim 2016, S. 10).1 „Die Frauen, die Schweden bunt gemacht haben“, der zweite Teil des Ausstellungstitels, soll Interesse wecken für ein frauengemachtes buntes Schweden. Der Titel gibt sich ahistorisch. Erst auf den digitalen Kommunikationskanälen des Kunstmuseums Malmö, etwa auf seiner Website oder seiner Facebook-Seite, finden sich Hinweise, dass es sich um eine designhistorische Ausstellung handelte, in der die Leistungen schwedischer Designerinnen zwischen 1944 und 1964 präsentiert wurden. Die Website zeigt einen Teppich, eine Wandtapete, ein geflochtenes Korbsitzmöbel, eine futuristisch anmutende Hausarbeiterin, ein Glasobjekt. Der Begleittext zu den Bildern lautet: „Eine Ausstellung über die Frauen, die in den Wäscheschränken, den Wohnzimmern, der Textilund Bekleidungsindustrie Revolution gemacht und Schweden auf die internationale Designlandkarte gebracht haben.“2 (Abb. 2) Selbstbewusst, kämpferisch, revolutionär gibt sich die Ankündigungsprosa. In Schweden hat eine häusliche Revolution stattgefunden, die auch international die Leistungen des schwedischen Designs bekannt machte. Die Revolution ist biopolitisch. Sie dringt bis in den intimen Bereich des Wäscheschranks. Die Revolution braucht Akteur_innen in den eigenen vier Wänden, zu 1 Anhand der in der Pressemitteilung zur Verfügung gestellten Fotos kann in Erfahrung gebracht werden, dass der Ausstellungstitel „OOMPH“ designhistorisch begründet ist: Ein von Viola Gråsten entworfenes, auf Leinen gedrucktes Textilmuster aus dem Jahr 1952 heißt so, http://www.mynewsdesk.com/se/ malmo/pressreleases/oomph-paa-malmoe-konstmuseum-omkvinnorna-som-satte-faerg-paa-sverige-1417649 (Stand: 9.3.2017). 2 Oomph. The Women Who Made Sweden Colorful. 4 June–4 September 2016, Website der Stadt Malmö, http://malmo.se/Kultur--fritid/Kultur--noje/ Konst--design/Malmo-Konstmuseum/Malmo-Art-Museum/Exhibitions/Pastexhibitions/Oomph.html (Stand: 9.3.2017), Übers. d. Verf.
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2 Das von Viola Gråsten entworfene Muster OOMPH aus dem Jahr 1952
Hause, wo das alltägliche Leben gelernt wird. Ich schlage eine erweiternde Lesart des Titels vor. Die Frauen, die Schweden bunt gemacht haben, sind nicht nur die Designerinnen, sondern alle Frauen, die als aktive und kompetente Konsumentinnen, als energiegeladene, dynamisch-attraktive Hausfrauen in Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer und Wäscheschrank die häusliche Revolution gemacht haben. Es erfolgt nun die Kontextualisierung der in der Ausstellung gezeigten Arbeiten von Designerinnen in der Phase der Einführung des schwedischen Wohlfahrtsstaats und seiner Durchsetzung mittels Transformation von Wohnen, Haushalt und Konsumption. Das Zuhause war für die Etablierung und Durchsetzung des Wohlfahrtsstaats in seiner frühen Phase zentral. Die feministische Historikerin Yvonne Hirdman hat betont, dass das Konzept des folkhem, des people’s home, für die Ideologie des Wohlfahrtsstaats zentral ist, und nachgewiesen, dass der Begriff folkhem erstmals von Per Albin Hansson, dem Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Schwedens, für einen Neujahrsgruß in Morgenbris, der Zeitung der sozialdemokratischen Frauen, verwendet wurde (vgl. Hirdman 2010, S. 66). In seinem Neujahrsgruß für das Jahr 1928 schrieb Hansson: „We have come so far that we are now able to begin to prepare the big home for the people. The task is to make it comfortable and cheerful, to make it cozy and warm, bright, glowing, and free. There
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is probably no more enticing task for a woman.“ (Ebd., Übers. v. Hirdman) Metonymisch stellt Hanssons politische Rhetorik eine Kontiguität her zwischen Einzelheim und Volksheim. Der Neujahrsgruß verbindet die folgenden zwei Argumente: Erstens wird das Heim, das Zuhause als zentraler Austragungsort der biopolitischen Interessenspolitik des wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaftsumbaus eingeführt. Zweitens wird den Frauen bei diesem Gesellschaftsumbau eine tragende Rolle zugewiesen. Diese Rolle ist jedoch keineswegs neu, sondern folgt der historisch etablierten genderspezifischen Rollenverteilung, die auf größtenteils von Frauen geleisteter, unbezahlter reproduktiver Hausarbeit beruht. Von der politisch argumentierten Frauenaufgabe, das Heim, das eigene wie das Volksheim, fröhlich und frei zu machen, zu den Frauen, die Schweden bunt gemacht haben, lässt sich die ideologische Verbindungslinie in der wohlfahrtsstaatlichen häuslichen Revolution erkennen. Wiewohl Hansson den wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaftsumbau in seiner politischen Rhetorik als „verlockende“ Aufgabe für Frauen darstellte, war diese Aufgabe im Kern ein gesellschaftliches Problem. Für Alva Myrdal, die Soziologin und Politikerin, war das Problem der Frauen „das allgemeine Problem“ (Hirdmann 2010, S. 66). Die Vereinbarkeit von der von Frauen in der Familie und im Berufsleben zu leistenden Arbeit bedurfte der Regelung durch den Wohlfahrtsstaat. Einen Lösungsansatz sah Myrdal in der Entindividualisierung von Haushalten, Familienarbeit und Kinderversorgung. Sie konzipierte ein kollektives Haus, in dem die Reproduktionsarbeit professionalisiert wird. „[D]amit Männer und Frauen gleichberechtigt in der großen Welt leben können, müssen Kinder von Expert_innen in der kleinen Welt aufgezogen werden.“ (Ebd., S. 68) Myrdal konnte ihr Konzept an einem Modell in die Realität umsetzen. Sie trieb die notwendigen finanziellen Mittel auf, beauftragte den Architekten Sven Markelius und ließ 1934 das Kollektivhus errichten (vgl. Herman 2011, S. 522). Das Kollektivhus wurde kein Erfolg, blieb Einzelfall. Weitere kollektive Häuser für Familien wurden nicht errichtet.3 Die Frauen-Arbeit des Buntmachens ist vor dem Hintergrund wohlfahrtsstaatlicher Geschlechterpolitik durchaus widersprüchlich zu sehen. Kerstin Wickmann, eine der Kuratorinnen von „OOMPH“, schreibt in ih-
3 Das einzige bis heute existierende Wohnprojekt aus dieser Phase des schwedischen Wohlfahrtsstaats, in dem die Hausarbeit kollektiviert wurde und das ebenfalls auf Privatinitiative beruhte, ist Elfvinggården.
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3 „OOMPH. The Women who made Sweden colorful“, Installationsansicht. Das S/W-Foto zeigt die Teilnahme schwedischer Designerinnen an der Mailänder Triennale in den 1950er Jahren
rem Katalogbeitrag, dass es an Einrichtungsgegenständen und Haushaltsobjekten für einen bunten Alltag mangelte (vgl. Wickmann 2016, S. 15). Die Designerinnen, die durch ihre innovativen, funktional fortschrittlichen Designlösungen Schweden bunt gemacht haben, waren einerseits in die wohlfahrtsstaatlichen Geschlechterpolitiken involviert. Andererseits eröffneten sich für Frauen, gerade weil Wohnen und Haushalten als „women’s work“ galten, im Bereich Design neue Chancen und Möglichkeiten (vgl. ebd., S. 17) (Abb. 3).
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„OOMPH“. Eine Frauenausstellung Die Ausstellung „OOMPH“ steht in der Tradition einer separatistischen Ausstellungspraxis in der Institution Museum. Diese gibt es in Kunst, Architektur und Design. Als Gruppenausstellungen, die Leistungen von Künstlerinnen, Architektinnen oder Designerinnen präsentieren, geben sie meist einen Überblick über einen bestimmten Zeitraum und sind als internationale oder nationale Leistungsschau konzipiert. Folgende Beispiele bezeugen die aktuelle Kontinuität dieser separatistischen Ausstellungspraxis: „AA XX 100. Celebrating 100 Years of Women in the Architectural Association“ in der Architecture Association in London 2017, „Frau Architekt“ im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt 2017, „W. Women in Italian Design“ im Triennale Design Museum in Mailand anlässlich der Expo 2017, „Sturm-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910–1932“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt 2016, „Designing Modern Women 1890–1990“ im Museum of Modern Art New York 2013/14. Und bereits 2007 war das Jahr der feministischen Kunst-Blockbuster-Ausstellungen: „WACK! Art and the Feminist Revolution“ im Museum of Contemporary Art Los Angeles und „Global Feminisms“ im Brooklyn Museum in New York. Entstanden ist der strategische Separatismus von Frauenausstellungen im Umfeld der ersten Frauenbewegung auf den Weltausstellungen des industriebürgerlichen Kapitalismus im 19. Jahrhundert. Auf den Weltausstellungen in Wien 1873, in Philadelphia 1876 sowie in Chicago 1893 gab es eigene Frauenpavillons. Diese bezeugen folgende Forderungen nach Gleichberechtigtsein: erstens die Öffnung von Professionen und des Arbeitsmarkts für bürgerliche Frauen und zweitens die Teilhabe an der symbolischen Repräsentation (vgl. Pepchinski 2007; Boisseau/Markwyn 2010). 1910 wurde die separatistische Ausstellungspraxis der Frauenpavillons auf eine temporäre Ausstellung in der Institution einer Künstlerorganisation übertragen. Zwei Künstlerinnen, Ilse Conrat und Olga Brant-Krieghammer, organisierten mit mehr als 300 Werken die in der Secession in Wien gezeigte historische Überblicksausstellung „Die Kunst der Frau“ (vgl. Johnson 2012). Im Umfeld der zweiten Frauenbewegung formierten sich Künstlerinnen im Kampf gegen die strukturelle Diskriminierung von Frauen, die Kunst machten, und gegen die strukturelle Disqualifizierung von Kunst von Frauen als „schlechte Kunst“ (vgl. Pollock 2006, S. 37). Gleichzeitig zur Forderung nach gerechter Teilhabe in Kunstinstitutionen und Museen entstanden selbstorganisierte, separatistische
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Frauenkunsträume, die kollektiv erarbeitete Frauenausstellungen zeigten (vgl. Nairne 1996; Kaiser 2013; Deepwell/Jakubowska 2017). Strategischer Separatismus ist heute als akzeptiertes kuratorisches Verfahren im institutionellen Museumszusammenhang etabliert und operiert im Inneren der Institution mit Einsichten aus der feministischen Kunstwissenschaft, die aufzeigte, dass Museen keine neutralen Institutionen sind, sondern „ideologisch und gendered“ (Deepwell 2006, S. 67). Strategischer Separatismus wird kuratorisch eingesetzt, um gegen weiterhin bestehende strukturelle „institutionelle Diskriminierung“ vorzugehen (Kaiser 2013, S. 12). Temporär werden materielle und immaterielle Ressourcen der Institution, von der kuratorisch-wissenschaftlichen Recherche und der Organisation über Öffentlichkeitsarbeit, Marketing und Vermittlung bis zu Räumen und Budgets, für das Ausstellen der Leistungen und Arbeiten von Frauen eingesetzt. Die Nur-Frauen-Überblicksausstellung ist ein kompensatorisch-additives Verfahren, das darauf abzielt, die Leistungen von Frauen in den hegemonialen Kanon von Design, Architektur und Kunst einzuschreiben. Die Institution Museum affirmiert durch repräsentative Überblicksausstellungen, die kuratorisch auf strategischem Separatismus beruhen, sowohl die Kategorie Frau als auch das modernistische Format der Ausstellung. Die Kunsthistorikerin Malin Hedlin Hayden warnt, dass die Kategorie Frau einem zu lange aufrechterhaltenen strategischen Essentialismus geschuldet ist, der Gefahr läuft, die Strukturen des Essentialismus zu reproduzieren, und letztlich zu einer Feier des Separatismus führt (vgl. Hayden 2010, S. 59, S. 76). Das Format der modernistischen Ausstellung, das hegemonial den globalisierten Ausstellungsbetrieb bestimmt, hat Angela Dimitrakaki wie folgt kritisiert: „[T]he ‚show‘, the exhibition, has been a historical format suited to a particular kind of art – an art that was to be seen (on walls, pedestals, or in glass cases), an art committed to the visual and invested in representation […]. We have, however, ways of making art that do not subscribe to these principles of visuality – for example within the feminist practices of the 1970s and increasingly so today with the rise of a biopolitical paradigm, where the artistic ‚act‘ unfolds within the social life (bios, in Greek) proper.“ (Dimitrakaki 2010, S. 70) Für eine feministische kuratorische Praxis, die designhistorische Objekte aus Haushalt und Wohnen zeigt, stellt sich daher zentral die Herausforderung, wie in die essentialisierende Kategorie Frau und das modernistische Format der normiert-distanzierenden, warenförmig-zelebrierenden und dekontextualisierenden Sockel-Podest-Vitrinen-Ausstellung interveniert werden kann.
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4 Ausstellungsansicht „OOMPH“ mit Vasen von Ingrid Atterberg and Anna-Lisa Thomson, Teppich Pine von Astrid Sampe, Tisch und Lampe von Greta Grossman, Textilien von Alice Lund
Wie die oben aufgelistete Auswahl aktueller Ausstellungen, die auf strategischem Separatismus beruhen, zeigt, handelt es sich um ein durch das Museum zunehmend institutionalisiertes Ausstellungsformat. Der Trennungskomplex, der die Leistungen von Frauen besondert, um in institutionelle Diskriminierung zu intervenieren und die Leistungen von Frauen repräsentativ sichtbar zu machen, hat sich zu einem etablierten, für das Ausstellungspublikum gut wiederzuerkennenden Genre von der separatistischen Überblicksausstellung bis hin zum separatistischen Blockbuster verdichtet. Wiewohl diesen Ausstellungen nicht ihre Legitimation, kompensatorisch-additive Kanonkorrektur zu betreiben, abgesprochen werden soll und wiewohl sie der öffentlichen Wissensvermittlung über die Leistungen von Frauen in Kunst, Architektur und Design
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dienen, zeigt meine Analyse, dass es sich um ein arriviertes, hegemoniales Ausstellungsgenre handelt, dessen Ausschluss- und Einschlussmechanismen einer feministisch fundierten Kritik zu unterziehen sind, um die Entwicklung neuer feministisch orientierter kuratorischer Verfahren zu befördern (Abb. 4).
The Feminist Vision: Gelebter Separatismus Im letzten Raum der Ausstellung „OOMPH“, nach dem designhistorischen Überblick mit Arbeiten von 30 schwedischen Designerinnen,4 nach dem Raum mit einer Kinderspielecke und einem großen Lesetisch, auf dem ausstellungsrelevante Literatur wie Where Are the Women Architects von Despina Stratigakos oder Women’s Places, Architecture and Design 1860– 1960, herausgegeben von Brenda Martin und Penny Sparke, auslag, befand sich Helena Olssons Video-Installation. Wiewohl der Raum, in dem der Film gezeigt wurde, zuerst dunkel wirkte und die Videoprojektion die einzige Lichtquelle zu sein schien, registrierte ich allmählich, dass der kleine Raum in einen rosa Farbton getaucht war. Entlang der Seitenwände standen Grünpflanzen in Töpfen auf verschieden hohen Etageren. Sie wurden von sanftem rosa Licht angestrahlt. In dem Video sind ebenfalls viele Grünpflanzen, wie Rhododendren oder Birkenfeigen, zu sehen. Manche stehen nebeneinander auf niedrigen Tischen, manche auf länglichen Rollmöbeln, manche auf einer bodennahen runden Platte, unter die Räder montiert waren, manche auf Klappstühlen, manche auf hohen Blumenständern. Die Grünpflanzen stellten die physische Verbindung zwischen dem Video und der Installation im Ausstellungsraum her. Im Video hören wir ein Gespräch zwischen Frauen. Sechs verschiedene Stimmen lassen sich unterscheiden. Eine spricht nach der anderen. Sie sprechen Schwedisch. Manchmal sagt eine zustimmend hm. Manchmal sagen mehrere hinter-
4 Folgende Designerinnen waren in der Ausstellung vertreten: Ingrid Atterberg, Hertha Bengtson, Karin Björquist, Monica Bratt, Sigrun Bülow-Hübe, Torun Bülow-Hübe, Ibe Dahlquist, Ingrid Dessau, Estrid Ericson, Ulla Ericson Åström, Maud Fredin Fredholm, Katja Geiger, Viola Gråsten, Ingeborg Hammarskjöld-Reiz, Kerstin Hörlin-Holmquist, Lena Larsson, Thea Leonhard, Syliva Leuchovius, Ingeborg Lundin, Greta Magnusson Grossman, Mona Morales-Schildt, Barbro Nilsson, Signe Persson-Melin, Marianne Richter, Sonna Rosén, Astrid Sampe, Mari Simmulson, Anna-Lisa Thomson, Göta Trägårdh und Marianne Westman.
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einander zustimmend hm. Hm, hm, hm. Manchmal lacht eine von ihnen, zurückhaltend, vorsichtig. Wir hören die Stimmen. Wir sehen ihre Körper nicht. Die Zweikanal-Video-Installation zeigt nebeneinander unterschiedliche Filmbilder. Manchmal bleibt die rechte Seite schwarz. Nach und nach wird der Unterschied zwischen der linken und der rechten Seite klar: Links sind Innenaufnahmen zu sehen. Wir folgen langen Kameraeinstellungen, die langsam, unaufdringlich-distanziert, fast bedächtig durch Korridore und Stiegenhäuser führen. Wir sehen einen Speisesaal, einen Salon. Viele Grünpflanzen. Wir sehen Sessel, Stühle, Tische. Schwedisches Design. Rechts sind Außenaufnahmen zu sehen. Die Kamera bewegt sich durch Landschaften. Die Bewegungen sind von vergleichbarer Langsamkeit wie in den Innenräumen. Jedoch sind im Gegensatz zur linken Seite viele der Aufnahmen unscharf, verschwimmend. Die Farben erinnern an den rosa Farbton im Ausstellungsraum. Ich höre den Frauen beim Sprechen zu. Ich lese die englischen Untertitel. Ich frage mich, ob es Frauen gibt, die aus Elfvinggården wieder ausgezogen sind. Ich frage mich, ob es hier Frauen gibt, die immer ausschließlich mit anderen Frauen zusammengelebt haben. Ich frage mich, in welchem Verhältnis Elfvinggården zu lesbischen, queer-feministischen Wohnformen steht. Ich denke über Geschlechterseparatismus im Wohnen nach, historisch, heute. Ich stelle fest, dass Separatismus in dieser Frauenausstellung nur in der künstlerischen Arbeit von Helena Olsson zum Thema gemacht, verhandelt wird. Wie Helena Olsson mir erzählte, ist sie im Zuge von Recherchen zu einem anderen ihrer Projekte, das sich mit nicht-heteronormativen Lebensweisen befasst, auf das wenig bekannte Stockholmer Wohnprojekt Elfvinggården gestoßen.5 Die Häuser, in denen das Projekt realisiert wurde, wurden 1939/40 von den Architekten Sven Backström und Leif Reinius gebaut (vgl. Gearty 2016, S. 2f.). Wiewohl während der Etablierungsphase des schwedischen Wohlfahrtsstaates realisiert, geht die Idee für solch ein Wohnprojekt für alleinstehende gebildete und berufstätige Frauen historisch auf die erste Frauenbewegung zurück. Ingeborg Carolina Elfving (1833–1902) und Gunborg Anna Elfving (1850–1921), die zur ersten Generation alleinstehender berufstätiger Frauen in Schweden zählten und im Fredrika-Bremer-Verband, der ältesten schwedischen Frauenrechtsorganisation, aktiv waren, verfügten in ihrem Testament die Gründung
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Skype-Gespräch mt Helena Olsson vom 19. September 2016.
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einer Stiftung für solch ein Wohnprojekt.6 Dieses Wohnprojekt, obwohl erst 1940 fertiggestellt, ähnelt so auch älteren Projekten, wie sie seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in europäischen und nordamerikanischen Großstädten realisiert wurden. Despina Stratigakos hat dies in ihrem Buch A Women’s Berlin. Building the Modern City von 2008 am Beispiel der Hauptstadt des Deutschen Reichs umfassend dargestellt. Ich schlage vor, diesen strategischen Separatismus, der Einrichtungen von Frauen für Frauen im städtischen Maßstab anstrebte und zur Errichtung von Wohnhäusern, Clubs, Schulen, Altenwohnheimen oder Krankenhäusern führte, als Gründerinnen-Separatismus zu bezeichnen. Genealogisch zeichnet sich Elfvinggården aus durch separatistischen Gründerinnen-Separatismus und durch kooperatives Haushalten, das von materialistischen Feministinnen wie Melusina Fay Peirce oder Charlotte Perkins Gilman im Zuge der Ersten Frauenbewegung propagiert wurde. Möglich wurde die Realisierung nicht nur durch die Stiftung der Schwestern Elfving, sondern auch durch das, wie ich am Beispiel des Kollektivhus von Alva Myrdal gezeigt habe, bestehende wohlfahrtsstaatliche Interesse an einer häuslichen Revolution. „By daring to speak of domestic revolution, Peirce, Perkins Gilman, and other material feminists developed new definitions of economic life and settlement design […]. In addition, the material feminists won allies in Europe, such as Alva Myrdal in Sweden […].“ (Hayden 1981, S. 5) Helena Olssons Arbeit stellt den historisch relevanten Zusammenhang zwischen Elfvinggården und der Tradition des materialistischen Feminismus her. Für das Projekt wählte die Künstlerin wie erwähnt Herland von Charlotte Perkins Gilman als Lektüre für eine von ihr in Elfvinggården initiierte Lesegruppe. Per Aushang im Wohnprojekt suchte sie nach Frauen mit Interesse an einer Diskussion des feministisch-utopischen Science-Fiction-Klassikers. Sechs Frauen trafen sich dreimal für den Lesekreis, die Gespräche wurden aufgezeichnet. Im Film sind Stimmen von professionellen Sprecherinnen zu hören, die das Transkript der Lesekreisaufzeichnungen als Gespräch aufführen. Herland erschien 1915 als Fortsetzungsroman in dem von Perkins Gilman monatlich herausgegebenen Magazin The Forerunner, wurde während des second-wave feminism als separatistische Utopie eines nur von Frauen bewohnten Landes wiederentdeckt und 1979 erstmals in Buchform 6 Vgl. die Informationen zu den Elfving-Schwestern auf der Website des Wohnprojekts, https://elfvinggarden.com/historia/ (Stand: 8.3.2017).
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5 „One would probably be hidden away or be forced to give away one’s child“, Zitat aus The Feminist Vision von Helena Olsson, 2016
veröffentlicht. Mutterschaft, Pflege und Kindererziehung sind in Herland zentrale Topoi. Das titelgebende Land erscheint wie ein einziger großer, gut gepflegter Garten. Die Herlanderinnen widmen ihre gesamte Energie der biologischen Reproduktion, die sich dank Parthenogenese ohne Männer vollzieht, und der Kindererziehung. Wie andere Feministinnen rezipierte Perkins Gilman aufmerksam die wissenschaftlichen Erkenntnisse ihrer Zeit und war mit der Theoretisierung der Haushaltsökonomie ebenso vertraut wie mit der zeitgenössischen Rassentheorie und Eugenik. In Herland vertrat sie einen „eugenischen Feminismus“, der auf der engen Verknüpfung von fitter Mutterschaft, Reproduktion der Nation und „racial improvement“ beruhte (siehe Seitler 2003; Ziegler 2008) (Abb. 5). Helena Olsson, die gesprächsweise erwähnte, dass ihr bewusst war, dass Perkins Gilman eugenische Standpunkte vertrat, hatte Herland
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ausgewählt, um Bewohnerinnen von Elfvinggården eine Möglichkeit zu geben, über Unterschiede zwischen mutterschaftszentriertem und kinderlosem Separatismus von Frauen zu sprechen. Die Lesekreisgespräche blendeten Rassismus und Eugenik aus und wiederholten damit strukturell die Rezeptionsgeschichte von Herland im second-wave-Feminismus. Nach seiner Wiederentdeckung wurde der Roman als Frauen-Utopie gefeiert, wobei die rassistischen Implikationen des eugenischen Feminismus und der propagierte „Glauben an die weiße Superiorität“ strategisch ignoriert wurden (vgl. Knight 2000, S. 159, Übers. d. Verf.). Ebenso wird die Verbindungslinie zu Alva Myrdal, Dolores Hayden zufolge eine der Verbündeten von Perkins Gilman in Europa, die nicht nur das Interesse an Kollektivierung von Hausarbeit mit ihr teilte, sondern auch das an Eugenik, mit „strategischer Ignoranz“ ausgeblendet (vgl. Herman 1992; Bailey 2007). Die wohlfahrtsstaatliche Eugenik ist seit den 1990er Jahren Gegenstand historischer Forschung (vgl. Lundberg/Tydén 2010; Bühl 2009; Etzemüller 2007; Spektorowski/Mizrachi 2004). 1934 erschien das von Alva Myrdal gemeinsam mit ihrem Mann Gunnar verfasste Buch Kris i befolkningsfrågan („Eine Krise in der Bevölkerung“), das „großen Einfluss auf die Einführung des Sterilisationsgesetzes“ im selben Jahr hatte, das zur Sterilisierung von 3.000 Menschen zwischen 1935 und 1941 führte (vgl. Bühl 2009, S. 39). „Alva Myrdal forderte noch im Jahr 1946, den Ausbau der Sozialsysteme durch extensive Sterilisierungsprogramme begleiten zu lassen.“ (Thomas Etzemüller zit. n. Bühl 2009, S. 39) Die kontextualisierende Analyse der designhistorischen Frauenausstellung „OOMPH“ sowie des Frauenwohnprojekts Elfvinggården und des utopischen Romans Herland, die durch Helena Olssons künstlerische Arbeit miteinander verbunden sind, führte zur Einführung der Kategorie des strategischen Separatismus. Dieser spielte im Wohnen und im Ausstellen in den historischen Frauenbewegungen eine bedeutende Rolle und bedarf zukünftig einer umfassenden kritischen Historisierung und Theoretisierung in der feministischen Forschung. Notwendig ist vor allem die historisch-kritische Untersuchung des durch strategisches Ignorieren in feministischer Historiografie und frauenbewegter Rezeption des strategischen Separatismus Verdrängten und Abgetrennten. Und es stellt sich die Frage nach einer möglichen und relevanten feministisch-separatistischen Praxis im gegenwärtigen wie zukünftigen Wohnen und Ausstellen.
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Abbildungsnachweise Abb. 1 und 5: Fotos: Elke Krasny. Abb. 2–4: Fotos: Kunstmuseum Malmö.
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Kathrin Heinz Rein ins Haus. Raumverhältnisse und Wohnbeziehungen an stillen Orten Für Irene NIERHAUS
Rein ins Haus gibt eine Richtung an. Rein ins Haus ist eine Aufforderung: Gerichtet werden soll der Blick auf Raumpraktiken und Beziehungskonstellationen im Häuslichen und zugleich auf das „Häuschen“, das tagtäglich mehrfach genutzt wird. Der Text hat seinen Ausgangspunkt in meiner Rede für Irene Nierhaus auf der Tagung Wohn/Raum/Denken. Inspiriert wurde diese Rede von dem Flyer zur Tagung und von Vorkommnissen auf einer Universitätstoilette, auf die ich später zurückkommen werde, sowie buchstäblich vom Nachnamen derjenigen, der die Tagung und dieses Buch gewidmet war bzw. ist: NIERHAUS. Der Name ist, wie sich zeigen soll, gewissermaßen Programm und sucht sich seinen Weg durch den Text.
Flyer und Toilettenpapier Der dreiteilige Flyer1, im geschlossenen Format in der Größe einer A6-Postkarte, zuoberst zu lesen in Großbuchstaben: WOHN, mit leichtem Abstand folgt ein Schrägstrich, aufgeklappt eröffnet ein weiterer Schrägstrich den
1 Der Flyer wie das gestalterische Gesamtkonzept für die Tagung Wohn/Raum/ Denken wurde von Christian Heinz entwickelt, dem mein großer Dank gilt für seine mehr als anregende, vielmehr produktive Übersetzung in Gestaltung.
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RAUM, zuunterst folgt DENKEN (Abb. 1).2 Dazwischen befindet sich eine Zick-Zack-Falz, vielmehr eine Lochstanzung, eine von feinen, gleichmäßig langen Schlitzen unterbrochene Linie. Ähnlich Wörtern in einem Satz, deren Eigensinnigkeit durch sie umgebende Zwischenräume bzw. Leerzeichen möglich wird. Der eingesetzte Schrägstrich fügt sich in diesen Spalt, vermindert den Abstand, setzt die Wörter in ein Verhältnis und verbindet sie zu einem Bedeutungszusammenhang. Irene Nierhaus konstatiert: „Der Slash eröffnet dabei einen Zeichenraum, der sich in die Linearität der Wortfolge stellt und einen Berührungs- und Konfliktzone eröffnet, in der es sich situativ, historisch, reflexiv, experimentell, instabil ein-richten lässt.“ (Nierhaus 2016, S. 36, Hervorh. im Orig.) Die perforierte Falz, gelesen als eine gestalterische Übersetzung des Schrägstrichs, verweist auf dieses Moment des Reflexiven, Instabilen. Sie initiiert zugleich eine Bewegung, ein Abtrennen von ‚Wohn‘ vom ‚Raum‘ vom ‚Denken‘, um in der Folge die auseinandergerissenen Wortkarten zu neuen Konstellationen zueinanderzufügen. Sinnbildlich und dynamisch entfaltet sich der Wohn/Raum zu einem Denkgefüge und als eine zu befragende Anordnung3, der hier nachgegangen werden soll, ausgehend von perforierten Dingen, vielmehr einem anderen gestanzten Papier, mit dem sich der Blick auf ein dem Wohnen wesentliches Raumgefüge richten lässt. Allenthalben begegnen wir Perforationen im Alltäglichen: bei Gelben Säcken, Gefriertüten, Müllsäcken, Küchenrollen. Oder Toilettenpapier: ständig im Gebrauch, auf Rollen aufgewickelt und dann im Achter- oder Zehnerpack oder auch im preisgünstigeren Großpack zu erstehen, zweilagig, dreilagig, vierlagig, aus Recyclingfasern, klassisch, hautfreundlich, mit Duft, gern Aloe Vera oder Kamille, sanft und sicher, saugstark, traumweich, Deluxe oder Premium. Permanent in Benützung, Blatt für Blatt lassen wir es mehrfach täglich abrollen. Es geschieht beiläufig, gehört zum zutiefst Gewöhnlichen unseres täglichen Tuns. Nur wenn wir keines vorfinden, empören wir uns zuweilen. Gemeinhin verlassen wir uns darauf, Toilettenpapier vorzufinden. Gehört es mit Vilém Flusser gespro-
2 Verwendet wurde die groteske Schrift GT Haptik, die von Reto Moser und Tobias Rechsteiner/Grilli Type (https://www.grillitype.com/typeface/gt-haptik [Stand: 9.10.2019]) entwickelt wurde. Sie ist dadurch charakterisiert, dass sie auch ohne Ansicht, nur durch Berühren gelesen werden können soll. Sie zielt folglich darauf ab, dass die Lesenden das Geschriebene auch ertastend wahrnehmen können. Siehe hierzu auch die Einleitung zu diesem Band. 3
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1 Flyer zur Tagung Wohn/Raum/Denken, 2015
chen zum „‚dumme[n] Zeug‘“, zu den „verächtliche[n] Dinge[n]“ wie die Zahnbürste (Flusser 1993, S. 7f.)? „Sei es, weil ich mich auf sie verlassen kann und sie auch tatsächlich periodisch verlasse, mit der Sicherheit, sie jederzeit an dem ihnen zukommenden Ort wiederzufinden. Sei es, weil ich sie verbraucht habe […].“ (Ebd., S. 7) Oder gehört besagtes Papier zu den schätzenswerten Dingen: „Sei es, weil ich weiß, diese Dinge nur schwer oder gar nicht entbehren zu können.“ (Ebd., S. 8). Wie ‚teuer‘ für
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Flusser Toilettenpapier ist, wie es ihn ‚bedingt‘, muss dahingestellt bleiben (vgl. ebd.). Sicher ist es von äußerstem Vorteil, wenn wir Papier in öffentlichen Toiletten oder auf dem Klo in unserer häuslichen Umgebung vorfinden. Was tun wir mit diesem speziellen Ort? Wie nutzen wir ihn? Wie halten wir ihn aus? Wie haushalten wir mit unseren Bedürfnissen, wie gehen wir mit unseren alltäglichen Verrichtungen um und vor allem, wer geht mit ihnen um? Mein Text beschäftigt sich mit diesem oftmals im Sprechen über das Wohnen vernachlässigten Raumgefüge und damit, welche Wertigkeit diesem vermeintlich stillen Ort zugesprochen wird – bzw. welche Bedeutungsproduktionen und insbesondere geschlechtsspezifischen Positionierungen am Häuslichen haften, vor allem am Arbeiten zwischen Wänden, auf Böden, hinter Türen. Um dieses aufzeigen zu können, bewegt sich das Geschriebene entlang verschiedener Orts- und Objekterkundungen, entrollt sich gewissermaßen Blatt für Blatt und verknüpft unterschiedliche historische, künstlerische und sozialwissenschaftliche Einblicke ins Haus und Häuschen. Aber zuerst zum Buchstäblichen und vermeintlich Vorherzusehenden.
NIERHAUS: /HAUS – oder: Verdeckte Einschreibungen im Häuslichen Der Name ist Erkennungszeichen einer Person, der Nach- oder Familienname verweist zugleich auf die Zugehörigkeit einer Person, er geht ihr voraus und reiht sie ein in eine vorgegebene Ordnung. Für Walter Benjamin „[ist] der Name Gegenstand einer Mimesis […]. Freilich ist es deren besondere Natur, sich nicht am Kommenden sondern immer nur am Gewesnen, das will sagen: am Gelebten, zu zeigen. Der Habitus eines gelebten Lebens: das ist es, was der Name aufbewahrt aber auch vorzeichnet.“ (1991, S. 1038; vgl. auch Widmer 2010, S. 64) Auf dieses schon im Namen Vorausgesagte soll sich der Blick richten. Um es zu verdeutlichen (gleichwohl es eigentlich auf der Hand liegt), möglich wäre auch, im Nierhaus’schen Sinne einen Schrägstrich dazwischen zu platzieren: NIER/HAUS. Ein kleiner Einschnitt im Nachnamen unterbricht nicht nur die gewohnte Buchstabenreihung, sondern veranlasst dazu, das Bedeutungsstiftende des Namens wörtlich zu nehmen. So scheint namentlich schon vorweggenommen, was späteres Forschen prägen soll: Wo Irene Nierhaus sitzt, steht und geht, das HAUS ist immer schon dabei, wo sie ist, ist HAUS – jenes architektonische Gebilde, feststehende Gebäude
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und gesellschaftliche Organisationsmodell. Das Haus ist Inbegriff unserer Vorstellung vom Wohnen. Wie klein oder groß, wie viele Stockwerke auch immer, ob mit Wellblech bedeckt oder mit Flach- oder Satteldach, mit Gauben oder fensterlos, ob mit Keller, einfachem Fundament oder ganz ohne – im Haus realisieren sich soziale, kulturelle und ökonomische Ordnungsmuster. In ihm gestaltet sich Subjektivität aus, in ihm wird das Zwischenmenschliche erprobt und eingeübt, werden gesellschaftliche Traditionen und Normierungen erlernt und verworfen. Im Haus als Raum und als komplexer Bezugsrahmen veräußern sich in Grundrissen, Einrichtungen, Objekten, Materialien und Dinganordnungen vielfache Beziehungskonstellationen. In seinem Inneren, im Häuslichen werden Geschlechterverhältnisse konfiguriert. Irene Nierhaus hat in ihrer richtungsweisenden Forschung aus einer gendertheoretisch und transdisziplinär orientierten kunstwissenschaftlichen und architekturgeschichtlichen Perspektive die konstitutive Verbindung und Überlagerung von Raum- und Geschlechterkonstruktionen medienübergreifend analysiert. Sie konnte aufzeigen, wie grundlegend Geschlecht als „komplexe Apparatur von sozialen Praktiken, die unser gesellschaftliches Wahrnehmen in immer wieder neu geschriebenen Übersetzungen organisiert“ (Nierhaus 1999, S. 10), Raumerfahrungen in Geschichte und Gegenwart ausbildet und Konzeptionen von Räumen und ihre Visualisierungen strukturiert. Ins Bild gesetzt und zu sehen gegeben werden ‚verräumlichte‘ und ‚gewohnte‘ Rollenzuweisungen und Handlungsmuster, die unsere Vorstellung vom Wohnen und mithin von den Subjekten, die eingerichtet werden und sich einrichten, formen und immer wieder hervorbringen. Spätestens seit dem „wohnsüchtig[en]“ 19. Jahrhundert (Benjamin 1991, S. 292) manifestiert sich unter den Vorzeichen einer patriarchal verfassten Gesellschaft eine machtvolle und tiefgreifende Dichotomie, die Wohnen als weibliche Sphäre signifiziert (hat). Das Haus, historisch überwacht von seinem männlichen Vorsteher, wird „über der Frau errichtet, die gleichsam den zentralen Körper des Hauses repräsentiert. Die bürgerliche Frau ist immer die mit dem Haus versehene, die behauste Frau.“ (Nierhaus 1999, S. 39) Louise Bourgeois hat bekanntermaßen auf paradigmatische Weise die verhäuslichte Frau mit ihrer Serie Femme Maison von 1947/48 (Abb. 2) ins Bild gesetzt. Künstlerinnen haben immer wieder mit ihren Arbeiten die geschlechterstereotypen Zuschreibungen und die damit verbundenen gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse und hierarchischen Strukturen sichtbar gemacht und kritisch kommentiert. Die Ausstellung „Desperate Housewives? Künstlerinnen räumen auf“ versammelt
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3 Cover des Katalogs Desperate Housewives? Künstlerinnen räumen auf, 2015
2 Louise Bourgeois, Femme Maison, 1947
beispielhaft seit den 1960er Jahren entstandene Werke von Künstlerinnen, die sich mit Machtkonstellationen, Beziehungsverhältnissen und der Arbeit im Häuslichen auseinandersetzen.4 Das Cover des Ausstellungskatalogs zeigt ein klassisches Utensil der Hausarbeit und Reinigung: ein handelsübliches Geschirrtuch, weißer Stoff, klassisches Karo-Design (Abb. 3). Meist ist es aus Baumwolle oder hochwertiger aus Halbleinen oder Leinen. Es gehört zur Standard-Ausstattung eines ‚ordentlichen‘ Haushalts und ist, bei 60° bis 95° Grad gewaschen, womöglich gebügelt, akkurat gestapelt im Wäsche- oder Küchenschrank, Zeichen einer korrekten Haushaltsführung. Es ist noch nicht allzu lange her, da waren Geschirrtücher und andere Heimtextilien Bestandteil der Aussteuer oder Mitgift, die die Braut mit in die Ehe brachte, um so als gut ausgestattete Frau im Haus dazustehen. Birgit Jürgenssen hat 1974 eine „Hausfrau“ (Abb. 4) als eine von Mustern
4 Die Ausstellung wurde von Ina Ewers-Schultz und Martina Padberg kuratiert und von 2015 bis 2017 an mehreren Orten in Deutschland gezeigt (vgl. Desperate Housewives 2015).
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4 Birgit Jürgenssen, Hausfrau, um 1974, Farbstift, Bleistift auf Büttenkarton, 62,5 × 44,6 cm
überzogene gezeichnet. Auf einem Geschirrtuch, das als Bild im Bild mit Wäscheklammern aufgehängt ist, platziert sie eine Büste, eingekleidet komplett in unterschiedliche Karo-Optiken, blau-weiß karierte Küchenschürze mit dem Schriftzug „Hausfrau“, rotweißes Kopftuch, selbst Gesicht und Haut sind durchgemustert. Gebräuchliche Musterungen, die textile Karo-Struktur überzieht den Hausfrauenkörper, ist Körper-ein- und -umfassend. Spuren des Schmutzes befinden sich auf den Stoffen, sie verweisen zum einen auf die mögliche getane Arbeit, zum anderen auf das, was zu tun
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5 Maria Ezcurra (in Zusammenarbeit mit Pedro Orozco), Burral, aus der Serie Guardarropa del ama de casa perfect (The Perfect Housewifeˇs Wardrobe), 2008, C-Print, 80 × 100 cm
ist: abwaschen, abtrocknen, putzen – alltägliche Routinen. Die den Mustern inhärenten Wiederholungsstrukturen korrelieren mit den unentwegt wiederkehrenden häuslichen Aufgaben, die, so scheint es, die Hausfrau im Bild ‚versteinern‘, stillstellen. Die Musterung ihres Oberkörpers lässt weiter auch an Millimeterpapier denken, gitterartiges, kleinkariertes Papier, das den Hausfrauenkörper zu normen scheint und ihn gleichsam zum Verschwinden bringt, eingerastert, eingerastet – in einer heteronormativen Gesellschaftsordnung, die Hausarbeit historisch wie gegenwärtig weitgehend in weibliche Hände delegiert. Beispielhaft scheint Maria Ezcurra in ihrer Fotografieserie The Perfect Housewife’s Wardrobe (2008), die in der Ausstellung „Desperate Housewives?“ vertreten war, diese heterosexuell begründete Rollenaufteilung in ihrer Klischeehaftigkeit aufzugreifen. Wir sehen die Protagonistin der Serie beim Bügeln (Abb. 5). Ihre mit einer weißen Bordüre
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6 Birgit Jürgenssen, Bügeln, 1975, Bleistift, Farbstift auf Büttenkarton, 62,5 × 43,5 cm
versehene Schürze verlängert sich zur Bügelbrettauflage. Anders noch als bei Jürgenssens Arbeit „Bügeln“ (1975) (Abb. 6), bei der die auf dem Tisch hockende Frau in der Überblendung von weiblichem Körper, Körperkleid und Tischdecke sich gewissermaßen selbst ‚glatt‘ bügelt (vgl. Schor 2009, S. 22), glättet sie nicht nur ihre Schürze, sondern die Krawatte des sich zu ihr hinabbeugenden Mannes, der, gekleidet in schwarze Hose und weißes Hemd, noch kurz ihrer Dienste bedarf, um dann womöglich das Häusliche zu verlassen. Sie hingegen bleibt mit den häuslichen Objekten verbunden. In einer weiteren Fotografie der Reihe sitzt in einer Küche an einem Tisch jener Mann (Abb. 7). Sie steht an der Kopfseite des Tisches und gießt gerade Wasser in ein Glas ein. Dabei trägt sie eine fein rot-weiß gestreifte Schürze, mit Blumen auf der Bordüre. Unter der Schürze trägt sie ein weißes, kurzärmeliges T-Shirt, es scheint warm zu sein. Durch das vordere angeschnittene Fenster dringt Sonne in den Raum ein. Auch sein rotes T-Shirt scheint farblich abgestimmt mit ihrer Kleidung. Selbst das Marmeladenbrot
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7 Maria Ezcurra (in Zusammenarbeit mit Pedro Orozco), Manditel, aus der Serie Guardarropa del ama de casa perfecta (The Perfect Housewifeˇs Wardrobe), 2008, C-Print, 100 × 80 cm
fügt sich farblich ein. Beinahe harmonisch erscheint das Farb- und Beziehungsgefüge. So wirkt auch die verlängerte Kittelschürze, der stoffliche Übergang von Schürze in Tischdecke, vermeintlich unaufgeregt, alltäglich. Sie isst nicht mit ihm. Sie serviert ihm lediglich sein Essen auf ihrem Schürzenkleid. Auch hier ist ihr Körper über die textile Verlängerung untrennbar mit ihrer Rolle als Bedienende verbunden. Schürze wie Tischdecke sind sauber und rein, keine Spuren der Essenszubereitung. Die Arbeit der Zubereitung bleibt unsichtbar. Er sieht sie nicht an. Sie könnte sich abwenden, sie könnte gehen und mit einem Ruck das Arrangement zu Fall bringen. Was wie eine Momentaufnahme daherkommt, wirkt wie arretiert bei diesem alltäglichen Tun. Mögliches Widerständiges scheint (Wunsch-)Vorstellung zu bleiben. Sie tritt auf als Dienende und Bedienende, ‚eingehaust‘ in einer geschlechtlich konnotierten hier-
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8 Maria Ezcurra (in Zusammenarbeit mit Pedro Orozco), Guardapolvo, aus der Serie Guardarropa del ama de casa perfecta (The Perfect Housewifeˇs Wardrobe), 2008, C-Print, 80 × 100 cm
archischen Arbeitsteilung, die sie im Wohnraum fixiert. In anderen Arbeiten der Reihe wird ihr Hochzeitsschleier zu seiner Zudecke5 oder ihre Bluse verlängert sich zum Vorhang6, der Vorhang ist Teil ihrer Bluse. Fenstergitter, Schattenwürfe, Kacheln ordnen den Raum und sie ein. Ihr vermeintlich sehnsuchtsvoller Blick geht nach draußen, in den Garten, ins Grüne. Ihr Ort aber ist im Haus, sie ist eingeschränkt in ihren Bewegungsmöglichkeiten, sie ist gekleidet und kleidet das Haus ein. Sie ist Teil des häuslichen Inventars, verschränkt mit den Dingen, bedeckt mit 5 Maria Ezcurra (in Zusammenarbeit mit Pedro Orozco), Colacha, aus der Serie Guardarropa del ama de casa perfecta (The Perfect Housewifeˇs Wardrobe), 2008, C-Print, 100 × 80 cm, in: Desperate Housewives 2015, S. 77. 6 Maria Ezcurra (in Zusammenarbeit mit Pedro Orozco), Cormisa, aus der Serie Guardarropa del ama de casa perfecta (The Perfect Housewifeˇs Wardrobe), 2008, C-Print, 100 × 80 cm in: Desperate Housewives 2015, S. 76.
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Dingen. Bedeckt von einem Sofaüberwurf bzw. einem gestreiften Bezug in dunkelbraunen und roten, orangenen, beigen und wollweißen Streifen, mit dem auch die drei Kissen bezogen sind (Abb. 8). Sie sitzt beinahe in der Mitte des Sofas, von ihr zu sehen sind nur ihre Waden und Füße. Sie scheint ihre guten Schuhe zu tragen und nicht die Flipflops wie in der Bügelszene. Ihr Körper ist unter der Decke. Rechts neben ihr sitzt ihr männlicher Gegenpart in nun legerer Kleidung: Trikot, Adidas-Turnschuhe, auch hier Streifen. Er hat es sich bequem gemacht. Mit Flasche in der Hand schaut er aus dem Bild heraus. Sie dagegen ist annähernd verschwunden, wird einmal mehr Teil des Mobiliars. Nicht nur der Möbelkörper ist verdeckt, sondern auch der Hausfrauenkörper. Die Geschichte könnte lauten: An seinem Feierabend scheinen ihre Dienste nicht mehr vonnöten. Oder anders: Das Feierabend-Bier ist nur ihm gestattet – hat sie nicht gearbeitet? Auch als Beziehungs- oder gar Gesprächspartnerin ist sie überflüssig. Das Unter-der-Decke-Sein bietet hier keinen Schutz – es bietet ihr lediglich, seinen Anblick nicht ertragen zu müssen. Er sitzt auf der Decke, sie ist überdeckt von Streifen und eingedeckt im Interieur, sie ist nicht nur „Ausstatterin“ (Nierhaus 1999, S. 115), sondern wird selbst zur Ausstattung, verkörpert diese und wird gewissermaßen entkörpert und im wahrsten Sinne des Wortes stillgestellt. Stillgestellt unter Streifen, die an die karierten Muster der Jürgenssen’schen Büste erinnern. Sich wiederholende Streifen – sich wiederholende Rollenklischees und Beziehungsanordnungen, im Bild reproduziert und überzeichnet, um die gesellschaftlich idealisierte Paarkonstellation und die mit ihr einhergehenden Liebes- und Glücksversprechen zu durchkreuzen. Zu sehen ist ein scheinbar gewöhnlicher und ordentlicher Haushalt, der gerade in seinem ‚geglätteten‘ Zustand die gewaltförmige Zurichtung und Einhausung der Hausfrau im Häuslichen ‚verschleiert‘ und ‚verdeckt‘. Zu diesem Glätten gehört zweifelsohne, dass die Routinen, die das Häusliche zum Häuslichen machen (sollen), nicht gezeigt werden. Unsichtbar bleiben auch die sich permanent wiederholenden Tätigkeiten des Reinigens, Spülens, Putzens, Instandhaltens etc. Es ist grundlegend für (Vorstellungs-)Bilder des Wohnens, dass zumeist gereinigte Räume zu sehen gegeben werden. Paradigmatisch lässt sich dies etwa an Wohnzeitschriften und Medien der Wohnwerbung ablesen. Hier werden mithin die nicht weiter erwähnenswerten und abgewerteten häuslichen Arbeiten dadurch medial in Szene gesetzt, dass sie nicht
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dargestellt werden.7 Der Reinigungsvorgang verdoppelt sich im medialen Wohnraum, er ist auf den Blättern schon vollzogen, ist selbst weggeputzt, hinweggefegt, ausgekehrt. Diese Bilder des Wohnens dienen als Imaginationsräume, in die es sich bestmöglich hineinzuprojizieren gilt.
NIER : REIN – oder: Vom Umgang mit Hinterlassenschaften Die Kehrseiten des aufgeräumten Wohnens, Flecken, Staub, Schmutz, sind nicht abbildungswürdig. Unsere Hinterlassenschaften, unser Müll, unsere körperlichen Ausscheidungen werden folglich nicht nur nicht zu sehen gegeben, getilgt von der Oberfläche werden sie weit mehr noch zumeist auch im Sprechen über das Wohnen unter den Teppich gekehrt – entsorgt, hinabgespült, ausgelüftet. Das heißt auch, dass der Wohndiskurs selbst in diesem Sinne ein bereinigter ist. Und spätestens jetzt drängt sich der erste Teil von Irene Nierhaus’ Nachnamen auf, um das Buchstäbliche wieder aufzugreifen: ‚Nier‘, was in der Umkehrung, also rückwärtsgelesen, nichts anderes heißt als: ‚Rein‘. Rein ins Haus, wo es rein sein soll, rein an einem spezifischen Ort, um zum Ausgangspunkt des hiesigen Wohn/Denkens zurückzukehren, jenem stillen Ort, Häuschen, von dem besonders erwartet wird, dass er bzw. es gereinigt ist und dass wir uns dort reinlich verhalten: die Toilette, das Klo oder WC. Und um das Namensspiel noch weiterzutreiben: Ein kleines ‚e‘ hinzugefügt und aus dem ‚Nier‘ wird die Niere, von der wir zwei haben, wobei wir aber mit nur einer leben können. Auch sie tut vor allem eines, uns reinigen, sorgt sie doch dafür, dass unser Wasser- und Elektrolythaushalt funktioniert und wir über den Urin Giftstoffe ausscheiden können. Das tun wir in der Regel auf besagtem Ort, auf dem wir diese lebensnotwendige Handlung verrichten, über die abgesehen von medizinischen und hygienischen Fachdiskursen im Wohnen vergleichsweise wenig gesprochen wird. Gert Selle schreibt in seinem Buch Die eigenen vier Wände zu Beginn des Kapitels zum WC: „Über das stille Örtchen wird kaum geredet oder geschrieben. Es erscheint an den
7 Vgl. hierzu die Arbeiten im Forschungsprojekt „Wohnseiten. Deutschsprachige Zeitschriften zum Wohnen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart und ihre medialen Übertragungen“; siehe insgesamt dazu Eck/Heinz/Nierhaus 2018 sowie darin Umbach 2018.
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äußersten Rand des Wohnbewußtseins gedrängt, obwohl es sich in der Wohnung befindet und in doppeltem Sinn intim ist. Die Einrichtung ist als Privatraum zu betrachten wie der schmale Gang zwischen Bettkante und Wand, der für das erwachende Subjekt der Neuzeit so bedeutsam war. Auch das WC garantiert eine Spanne des Allein- und Für-sich-Seins, durch Schloß oder Riegel gesichert.“ (Selle 2011, S. 125) Mehrmals täglich machen wir die Tür hinter uns zu, schließen ab. Der Gang auf die Toilette unterbricht unser Tun, unterbricht soziale Situationen, er ist gewissermaßen so etwas wie ein Auslassungszeichen im tagtäglichen Rhythmus, das wir hinnehmen müssen – weil wir müssen. Peinigend kann das Müssen-Müssen sein, wenn die vollständige Kontrolle der Schließmuskel zu versagen droht und die Notdürftigkeit drängt. Und eine Wohltat, wenn wir endlich Platz nehmen können auf dem WC. Auf der Toilette sitzend gewähren wir uns – wie lang auch immer, ob geschäftig schnell, vor uns hin sinnierend, lesend oder Beckenboden trainierend – Pausen. Wir ziehen uns zurück, entziehen uns, auch aus unliebsamen Gesprächen und Begebenheiten. Und erlauben uns gesellschaftlich zugestanden ein Austreten, in der Regel zwischen fünf und fünfzehn Minuten, um uns unseren Ausscheidungen zu widmen, beiläufig, notwendig, mit Wonne, schmerzhaft, lustvoll, mit Erleichterung. Wir entledigen uns dessen, was wir ungern aussprechen, sprachlos, lange auf Flachspülern, einer deutschen Besonderheit, die uns unser Veräußertes noch kurz zur Betrachtung serviert, um es dann hoffentlich effektiv hinabzuspülen, auch um die Ausbreitung von unliebsamen Gerüchen zu minimieren. Besser sind Tiefspüler, die sich durchgesetzt haben, die auch weniger sogenannte ‚Bremsspuren‘8 ermöglichen. Die Zukunft gehört allerdings den Dusch-WCs, wie der Sanitärforscher Mete Demiriz prognostiert (vgl. Demiriz/Siebeck 2017; Stang 2017). Derzeit noch hochpreisiger Luxussitz, werden sie als äußerst hygienisch vermarktet und bewirken, wie der Hersteller von Sanitärprodukten Geberit in der Zeitschrift Schöner Wohnen sein Produkt bewirbt, „ein völlig neues Gefühl von Frische und Sauberkeit“. Der Slogan: „Das WC, das Sie mit Wasser reinigt. Das neue Wohlbefinden.“9 Was hier als Neuheit seit einigen Jahren im deutschsprachigen Raum vermarktet wird, die Reinigung des Pos mit Wasser nach dem
8 Zur Geschichte der Scheiße im Besonderen siehe Werner 2011. 9 Werbeanzeige für Geberit AquaClean, in: Schöner Wohnen, November 2016, S. 201.
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Toilettengang, ist in anderen Kulturen wie etwa in muslimischen Ländern oder in Japan gängige Praxis.10 Die Benutzung von Toilettenpapier11, gleich welcher Musterung und Färbung, ob blütenweiß, rosa oder Recycling-gräulich, gilt nicht als ausreichende hygienische Maßnahme. Der stetig anwachsende Bedarf an Feuchttüchern, der für ein Bedürfnis nach einem Mehr an Reinigung spricht, schafft allerdings neue Probleme. Entweder verstopfen sie Abflüsse und machen den Kläranlagen zu schaffen, da sich Feuchttücher im Gegensatz zum Toilettenpapier in Wasser nicht zersetzen, oder sie vermehren die Müllmenge, schnell verstaut im kleinen Abfalleimer mit Deckel, der diskret im besten Fall neben dem Klo steht. Die Nutzung eines Bidets als selbstverständliches Mobiliar hat sich im deutschsprachigen Raum nicht etabliert.12 Die Entscheidung für ein bestimmtes Toilettenmodell hängt außer mit den Hygiene-Vorlieben der Toilettengänger_innen vor allem mit den räumlichen Begebenheiten zusammen, die überhaupt zur Verfügung stehen.13 Wenn es eine vom Badezimmer getrennte Toilette gibt, befindet sich diese ergänzt um ein schmales Waschbecken zumeist in einem kleinen kabinenartigen Raum. Das standardisierte Badezimmer besteht in der Regel aus Waschbecken, Dusche oder Badewanne und Toilette (vgl. Pälmke 2018). Beispielsweise haben deutsche Badezimmer durchschnittlich eine Größe von knapp acht Quadratmetern, ein Drittel der Badezimmer misst weniger als sechs Quadratmeter.14
10 Zu den Besonderheiten und ideologischen Implikationen des Toilettengangs, bezogen auf die kulturellen Verschiedenheiten und nationalen Differenzen im Vergleich zwischen Frankreich, Deutschland und den USA, siehe die Ausführungen von Slavoj Žižek im Rahmen seines Vortrags auf dem Congreso Internatcional de Arquitectura y Sociedad: Arquitectura: Más por menos, Pamplona, 10.6.2010, nachzusehen unter: https://www.youtube.com/watch?v=xdbiN3YcuEI (Stand: 9.10.2019). 11 Zur Geschichte des Toilettenpapiers vgl. Furrer 2007, S. 175–178. 12 Weit beliebter und verbreiteter ist das Bidet bzw. der ‚Sauberkeitsstuhl‘ in Frankreich, vgl. ebd., S. 169. 13 Unbenommen ist, dass dies nur für einen Teil der Weltbevölkerung gilt. Längst ist es nicht selbstverständlich, dass alle Menschen Zugang zu einer Toilette haben, geschweige denn einen eigens dafür vorgesehenen Raum zur Verfügung haben, der nur von ihnen genutzt wird. Für ca. 40 Prozent der Menschen weltweit gibt es keine Toiletten, vgl. Besetzt! 2010, S. 18; siehe dazu auch die Initiativen der World Toilet Organization (WTO), die sich global für die Verbesserung der sanitären Grundbedürfnisse und Ausstattung einsetzt: http://worldtoilet.org 14 Siehe z. B. GARANT Profi – Das Netzwerk professioneller Bäderbauer: https://www.badträume.de/informationen/wie-gross-ist-ein-badezimmer.html (Stand: 9.10.2019).
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9 Nachtstuhl meiner Urgroßmutter
Die Entwicklung der heutigen Sanitäreinrichtungen findet ihren Ausgangspunkt im Aufbau von Kanalisationssystemen und Entsorgungsinfrastrukturen im 19. und 20. Jahrhundert. Erst diese grundlegenden Veränderungen, die sich zuerst in den städtischen Räumen vollzogen, eröffneten die zunehmende „Verhäuslichung von Harn- und Kotentleerung“, wie es Peter Reinhard Gleichmann konstatiert (1985). Der Einzug des WC (water closet), der Toilette mit Wasserspülung und Abflussvorrichtung, erfolgte jedoch erst allmählich.15 In ländlichen Gebieten sollte es bis in die 1960er und 1970er Jahre dauern, bis sich Wasserklosetts im Wohninneren flächendeckend etablierten. Zwar war Wohnen immer schon von menschlichen Ausscheidungen, ihren Gerüchen und ihrer Entsorgung betroffen. Doch nun mussten Urin und Kot nicht mehr etwa durch Klappen an Aborterkern ins Freie befördert werden oder in Nachttöpfen zum Plumpsklo hinter dem Haus gebracht werden. Auch brauchte es keine Zimmerklosetts oder keine sogenannten Nacht-, Leib- oder Kackstühle mehr, die als Mobiliar kaschiert wurden (Abb. 9).16 Möglich wurde durch den Auf- und Ausbau jener Infra-
15 Zur Geschichte der Toilette vgl. etwa Gleichmann 1985 und 2004; Furrer 2007; Besetzt! 2010; Carstensen/Stiewe 2016. 16 Dieser Nachtstuhl stand im Schlafzimmer meiner Urgroßeltern Elisabeth und Albert Zimmermann im hessischen Burgsolms. Wie lange er als Nachtstuhl
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strukturen ein effektiveres Verschwindenlassen der Hinterlassenschaften, überantwortet den Entwässerungssystemen und denen, die in den unterirdischen Kanälen und Klärwerken für Ordnung sorgten und für den Abbau der Fäkalien zuständig waren und sind. Diese einschneidende Verschiebung führte dazu, dass „[d]ie Entleerungsvorgänge selbst weitgehend aus dem gemeinsamen Wahrnehmungsraum eliminiert [sind]“ (ebd., S. 14). Die sich vollziehende „Einhausung“ (ebd., S. 9) in Kombination mit den seit dem 19. Jahrhundert sich durchsetzenden Hygienestandards und Reinheitsregeln bewirkten einen Zuwachs an Kontrolle und eine deutliche Distanznahme, die sich darauf bezog, zumeist nicht mit den Ausscheidungen der anderen in Kontakt zu kommen bzw. ‚kontaminiert‘ zu werden, nicht dem an ihnen haftenden Gerüchen ausgesetzt zu sein – möglichst unberührt zu bleiben von dem, was zumeist als ekelig und abstoßend, als unrein und infektiös, als schmutzig empfunden wird. Wobei es, wie Mary Douglas nachdrücklich gezeigt hat, „Schmutz als etwas Absolutes nicht [gibt]“ (1988, S. 12). Das, was wir als Schmutz deklarieren, und wie mit ihm umgegangen wird, welche Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit vorherrschen, ist immer kulturell codiert und Resultat gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Reinheit und Sauberkeit lassen sich nur herstellen und aufrechterhalten durch „Trennen, Reinigen, Abgrenzen und Bestrafen von Überschreitungen“, Vorgänge, die „vor allem die Funktion haben, eine ihrem Wesen nach ungeordnete Erfahrung zu systematisieren“ (ebd., S. 15). Offenkundig notwendig, um eine Grenzziehung vorzunehmen zu dem, was uns äußerlich wird, letztlich äußerlich werden muss, da wir sonst sterben: „Die Äußerlichkeit und die Andersartigkeit des Körpers reichen ins Unerträgliche: Auswurf, Dreck, widerlicher Abfall, der auch Teil von ihm ist, der immer noch aus seiner Substanz und vor allem aus seiner Tätigkeit besteht, denn er muss dies alles ausstoßen […]. Von der Ausscheidung bis zum Auswuchs der Nägel […] muss er den Rückstand oder den Überschuss seines Anpassungsvorgangs, den Überschuss seines eigenen Lebens nach draußen befördern und sich abtrennen.“ (Nancy 2017, S. 24f.) Abtrennen vom Abjekten, das verworfen werden muss, da es in Permanenz das Subjekt im Gebrauch war, ist nicht mehr bekannt. Überliefert ist, dass, nachdem ein Wasserklosett in den frühen 1950er Jahren im Haus eingebaut wurde, er bei gutem Wetter in den Sommermonaten auf dem Hof stand und dazu einlud, in ihm zu verweilen, eine Pause im alltäglichen Tun einzulegen. Heute steht der Stuhl in meinem Schlafzimmer, versehen mit einem Kissen, das ursprüngliche Polster, welches die Holzplatte verdeckte, muss irgendwann entsorgt worden sein.
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auf seine porösen Grenzen verweist bzw. es angreift (vgl. Kristeva 1982). Bedrohlich werden wir konfrontiert mit dieser existenziellen Fragilität, einer Löchrigkeit, einem gewissermaßen Perforiert-Sein, welches in dem von uns Veräußerten seine Gestalt findet, die wir im Falle des Toilettengangs ‚untenrum‘ auswerfen in ein anderes Loch, in dem diese indifferente Materialität verschwinden kann, möglichst unbeobachtet, allein wollen wir sein bei dieser „Schamvollzugsveranstaltung“.17 Denn selbst wenn wir Erleichterung spüren, es befriedigend finden, gar dem ganzen Vorgang Genuss abgewinnen können oder es als lustvoll erleben, bleibt dieses vergleichsweise unsagbar und möglichst hinter der verschlossenen Tür.18
Beziehungsweise im Sitzen: Exkurs auf eine Universitätstoilette Wie hinter einer verschlossenen Universitätstoilettentür der Wunsch nach Reinheit, Kontrolle und Abgrenzung manifest wurde, soll anhand der folgenden Darstellung einer wiederholten Begehung dieses alltagsnahen Ortes gezeigt werden. Auf der Etage des Seminar- und Forschungsverfügungsgebäudes (SFG) der Universität Bremen, auf der das Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender bis 2018 angesiedelt war, bemühten sich andere Flurbewohner_innen mehrfach, den Toilettengang auf der öffentlichen Frauentoilette, die aus einem kleinen Vorraum mit Waschbecken und Spiegel, Seifenbehältnis und Abfallkorb sowie einer Kabine mit WC, Abfalleimer, Klopapierhalterung mit Rolle (Ersatzrollen befinden sich auf der Heizung) sowie einer Halterung
17 Der Begriff ist Wolfgang Herrndorfs Text „Scham & Ekel GmbH“ entwendet, wo er ihn benutzt, um die Phase der Pubertät zu beschreiben, in der so vieles peinlich ist und wird (Herrndorf 2017, S. 33). Zwar ein anderer Kontext – jedoch besteht auch eine Verbindung, ist die Pubertät doch eine Zeit, in der oftmals im Innerhäuslichen die Toilette und/oder das Bad zu einem wichtigen Aufenthaltsort für Rückzug, zur ausgiebigen Körperpflege, zum Telefonieren, Serien-Schauen etc. gebraucht wird. Zu denken wäre auch an die Schultoilette, in der so manche erste Zigarette und anderes geraucht wird. 18 Etwas vernachlässigt werden hier die Stehenden bzw. die männlichen Urinierenden, die sich aufgereiht an Pissoirs vor gekachelten Wänden in öffentlichen Bedürfnisanstalten oder an Bäumen, Zäunen oder in Vorgärten erleichtern. Das letztere sogenannte ‚Wildpinkeln‘ stört die öffentliche Ordnung, ist daher strafwürdig und kann mit Bußgeld geahndet werden.
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mit Hygienebeuteln besteht, zu regulieren. Statt der üblichen, oft auf einem Schild stehenden Bitte, die Toilette sauber zu hinterlassen, war hier folgender Text in der Kabine zu lesen: „Liebe Gäste, bitte setzen sie sich beim Urinieren auf die Toilettenbrille! Falls Sie dieses gerade nicht vorhaben, suchen Sie sich bitte eine andere Toilette.19 Wir haben hier auf unserer Etage eine einigermaßen saubere Toilette und wollen, dass es so bleibt! Es ist zum einen den Raumpflegerinnen gegenüber respektlos, diesen eine überurinierte Toilette zu überlassen; zum anderen greift Urin die Fliesen an und sickert in die Fugen, was erbärmlich stinkt. Der Schaden kann nur mit großem Aufwand behoben werden. Da dieser Aufwand voraussichtlich nicht betrieben werden wird, wird es ständig nach Urin in dieser Toilette und auf dem Flur stinken, wenn sie daneben urinieren. Daneben müssen wir als Mitarbeiterinnen Ihre Hinterlassenschaften beseitigen. Und das wollen wir nicht! Wir sind es leid, uns vor Ihren Hinterlassenschaften zu ekeln und uns über Ihre Rücksichtslosigkeit aufzuregen.“20 Als diese Aufforderung offensichtlich nicht ordnungsgemäß befolgt wurde, wurde die Toilette kurzerhand mittels eines angeklebten Papiers auf der Außentür als Personaltoilette ausgewiesen. Andere Besucherinnen wurden gebeten, die „öffentliche Toilette“ […] im Erdgeschoss […] zu nutzen“ (Hervorh. im Orig.). Offenkundig sollte so dieser Ort gewissermaßen ‚privatisiert‘ werden, und unliebsame Benutzerinnen sollten gänzlich abgewiesen werden. Auch dieses Unterfangen schien jedoch nicht zu fruchten. Es folgte ein weiterer Regulierungsversuch, nun wieder in der Toilette (Abb. 10)21, der etwas genauer in den Blick genommen werden soll. Hier scheinen alle Register im Hinblick auf die gewünschte Selbstkontrolle der Toilettengängerinnen gezogen zu werden. Erneut wird der stille Ort mit Sprachgewalt überzogen. Scheinbar weniger autoritär, mehr zugewandt und ‚komisch‘ kam die Anleitung daher! Neu ist, dass wir mit Du angesprochen werden, jenes Du mit Aufforderungscharakter, das so typisch für unser „Wohnwissen“ ist, wie es Irene Nierhaus gezeigt hat (vgl. Nierhaus 2016, S. 30). Sätze wie „Diese Toiletten sind sitzend zu gebrauchen, ansonsten sind die Fußspuren natürlich auch zu entfernen“, werden mit Icons,
19 Die Wörter „suchen Sie sich bitte eine andere Toilette!“ waren gelb markiert. 20 Da es hier nicht relevant ist, wer sich als Absender_in der Verlautbarungen auszeichnet, habe ich mich gegen eine Nennung entschieden. 21 Dieser Aushang wurde in dreifacher Ausführung in der Toilette angebracht.
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10 Verlautbarung auf einer Frauentoilette an der Universität Bremen, 2016
Piktogrammen, Zeichnungen, Fotos zur richtigen Benutzung versehen. Womöglich könnte sich dahinter die Überlegung verbergen, dass nicht alle Menschen auf gleiche Weise ein WC gebrauchen und auch nicht alle Nutzerinnen in einer sich als international verstehenden Universität die deutsche Sprache sprechen. Gleichwohl konterkariert die Art und Weise der textlichen und bildlichen Äußerungen diese Überlegung, mitnichten scheint eine auf Diversität ausgerichtete Geste beabsichtigt zu sein. Ziel bleibt und ist, dass jegliche Spuren der Nutzerinnen zu verschwinden haben, „mit Respekt“, denn es ist „nicht euer Eigentum“. Visualisiert wird diese Aufforderung mit der hineinkopierten Zeichnung eines Kleinkindes und dem Slogan „Respect Life“. Ein Zeichen, wie es sich beispielsweise auf der Website einer katholischen Kirchengemeinde in Littleton, Colorado, findet, die für den sogenannten Schutz des ungeborenen Lebens und gegen das Recht auf Abtreibung kämpft.22
22 http://www.sfcparish.org/new-events/2016/4/28/parish-respect-life-meeting (Stand: 4.4.2017). Diesen Hinweis verdanke ich Eugenia Kriwoscheja. Bei der Rückverfolgung dieses Icons finden sich auch weitere Websites von Abtreibungsgegner_innen. Dank auch an Alessa Lubig für die Recherche.
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Mit dieser Bedeutung des Bildes in Verknüpfung mit dem Text und dem Ort, an dem es nun angeordnet ist, wird der Anschein erweckt, es gelte noch mehr zu schützen: die Toilette, der Abort, vor Unreinheit und das ungeborene Leben vor Abortion, welche von den Abtreibungsgegner_innen als moralisch verwerflich stigmatisiert wird, als ‚unrein‘ im Sinne ihrer erzkonservativen, frauenverachtenden Ideologie. Hervorgerufen und verstärkt wird durch diese Text-Bild-Kombination der Eindruck, dass es sich in beiden Fällen um weiblich signifizierte ‚falsche‘ Körperpolitiken handelt, die so nicht nur kommentiert werden, sondern wie im Falle der inkorrekten Toilettennutzung auch zu sanktionieren sind. Denn weiter unten auf dem Aushang findet sich die Kopie eines Schildes mit der Bitte der „Reichsbahndirektion“, „Mängel den Diensthabenden Beamten mitzuteilen und Übeltäter anzuzeigen“, also einer unverhohlenen Aufforderung zur Denunziation.23 Lustig soll das alles sein: „Klingt komisch … / … is’ aber so.“ Mit „Lustig“ wird die Gebrauchsanweisung abgeschlossen, denn in den Mund gelegt werden die Worte Peter Lustig, dem im deutschsprachigen Raum bekannten und 2016 verstorbenen Moderator der Kindersendung Löwenzahn. Die bereits erwähnte Ansprache mit ‚Du‘ überlagert sich zugleich mit dem üblichen Duzen von Kindern, an die bevorzugt pädagogische Anweisungen gerichtet werden. Aber hier gilt die Erziehungsmaßnahme uns Toilettennutzerinnen. Wir werden gemaßregelt, infantilisiert und konfrontiert mit einer ideologischen und biopolitischen Gemengelage. Vergleichsweise indiskret wird uns mit erhobenem Zeigefinger und wenig Abstand auf den Leib gerückt. Die offenbar als Grenzverletzung empfundene, weil nicht korrekte Nutzung der Toilette wird gekontert mit einer ebensolchen Überschreitung, die die eigentlich anonymisierte Örtlichkeit, die für einen kurzen Moment zur intimen Sphäre werden könnte, durchkreuzt mit dem Tadel, der mir entgegenschlägt und jedwede Illusion, unbeobachtet zu sein, nahezu vorführt und hintertreibt. Die Notdürftigkeit derer, die ‚unbeschmutzt‘ die Toilette gebrauchen möchten, ohne Abdruck der anderen, paart sich mit deren Kommunikationsbedürfigkeit, der wir ausgesetzt werden, sowie dem Konterfei Peter Lustigs, einem im Raum installierten überwachenden (männlichen) Blick. Toiletten wurden seit jeher auch zum Kommunizieren genutzt, sei es ganz entgegen heutiger
23 Vollständig lautet der Satz: „Zum Vorteil der Benutzer der Bedürfnisanstalt; den Abort sauber zu halten. Wände und Türen nicht zu beschreiben, Mängel den Diensthabenden Beamten mitzuteilen und Übeltäter anzuzeigen.“
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Schamgrenzen nebeneinanderhockend wie in römischen Latrinen oder auf mittelalterlichen Abtritten, auch „Sprachhäusel“ (vgl. Keunecke 2016) genannt, sei es auf einsehbaren Abortsitzen, die nur seitlich durch sogenannte „Schamwände“ (Gleichmann 1985, S. 9) abgetrennt waren, oder – um einen weiten Bogen zu spannen – sei es allein in einer Kabine sitzend mit Blick auf beschriebene Wände, Klo-Graffitis, über die kommuniziert wird und mit denen sich der Ort in spezifischer Weise angeeignet wird. Die meistgeschriebene Äußerung lautet: „Ich war hier“ (vgl. Raub 2016, S. 95).24 Hier, auf dieser Universitätstoilette, sollen wir aber eigentlich nicht gewesen sein – bzw. der Anweisung Folge leisten und uns entgegen jedweder Abstandshaltung hinsetzen. Eine Nähe zum Objekt WC, die sonst meist von Männern gefordert wird, die nämlich nicht im Stehen urinieren sollen. Hernach beziehen sich die Piktogramme (Abb. 10) auch auf diese Handlungsanweisung, denn hier überrascht, dass nicht die – in der vorherrschenden binären Toilettenlogik – weibliche Gegenfigur mit Kleid zu sehen ist. Es ist zu vermuten, dass dies schlicht dem geschuldet ist, dass bei der Google-Bildersuche „Bitte im Sitzen pinkeln“ nur solche Piktogramme zu finden sind. Auch ist nicht davon auszugehen, dass dies als Appell zu lesen ist, dass die Toiletten von Männerhand gereinigt werden sollen. Mit Blick zurück auf die erste Ansprache ist unmissverständlich, wer es leid ist, den Schmutz zu beseitigen, sie selbst, die Mitarbeiterinnen auf dem Flur, und die Raumpflegerinnen, für die sie gleichfalls zu sprechen beanspruchen.
Geputzt – oder: Reinemachen Oftmals frühmorgens und in aller Stille sorgt das Reinigungspersonal für Sauberkeit und überlässt die Toilette den Nutzer_innen, wobei die eigene Arbeit auf dafür aushängenden Formularen mit Datum, Uhrzeit und Unterschrift quittiert wird – zur Dokumentation und Kontrollbierbarkeit ihrer Tätigkeit, zur Vergewisserung für die, die dem Schmutz der anderen keineswegs nahekommen wollen. Getilgt die Spuren, weggewischt von
24 Zu Klo-Grafitti siehe z. B. die Arbeit von Katrin Fischer (2009), die die „halb-öffentliche Universitätsklozelle“ als Kommunikationsort behandelt und auf die sich auch Raub bezieht.
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den glatten weißen Kacheln und der weißen Keramik – „Hygieneweiß“, „das Antikörperliche und Antiseptische […], das nicht schmutzt, verwest oder stinkt, sondern so sauber ist, dass es sogar alles Unreine von sich abweist“ (Ullrich 2003, S. 224). Oberflächenbeschaffenheiten, die „einerseits das Putzen [erleichtern] und andererseits zu Kontrollflächen einer Hygienevorstellung [werden]“ (Vismann/Bredella 2008, S. 191). Diese „Disziplinierung der Raumoberflächen“ (Nierhaus 1999, S. 129) lässt Schmutz besser erkennbar werden, mithin auch die Regelverstöße, wenn nicht ordentlich geputzt wurde. Möglichst unsichtbar soll die verrichtete Arbeit sein, unsichtbar bleiben oft die Reinigungskräfte selbst, sie operieren an den Tagesrändern. Ihre Beschäftigungsverhältnisse sind oftmals prekär und Reinigungsarbeiten, so angewiesen wir darauf sind, zählen zu den abgewerteten Tätigkeiten. Wird im Rahmen des Ausstellungsprojektes „Besetzt! Geschichten im stillen Örtchen“ zu Recht gefragt: „Wer macht da eigentlich immer schön sauber?“ (Besetzt! 2010, S. 68), und stellt diejenigen vor, die für den reibungslosen Ablauf sorgen: Doris und Torsten an ihrem Arbeitsplatz in der Kaufhaustoilette, Klofrau und „WC-Mann“ (ebd., S. 70), verdeckt dies zugleich das Ungleichheitsregime bezüglich solcher Reinigungstätigkeiten im öffentlichen wie privaten Bereich. Einzig, dass Torsten sich selbst auch als „Klofrau-Mann“ bezeichnet (ebd.), gibt zu erkennen, dass es sich vornehmlich um eine feminisierte Beschäftigung handelt. Denn in der Tat werden Reinigungsarbeiten in der Mehrzahl von Frauen erledigt. Für die österreichische Reinigungsbranche spricht Karin Sardadvar von ca. zwei Dritteln Frauenanteil (vgl. Sardadvar 2016, S. 324). Der Reinigungsbereich ist, wie sozialwissenschaftliche Forschungen aufzeigen (vgl. ebd.), ein zutiefst geschlechterstrukturierter Bereich. Je schlechter entlohnt wird, je prekärer die Bedingungen, desto mehr Frauen sind beschäftigt und desto mehr Migrant_innen finden sich unter den Arbeitnehmer_innen; in Privathaushalten häufig in nicht sozialversicherungspflichtiger Anstellung oder in illegalen Beschäftigungsverhältnissen, womit Abhängigkeitsbeziehungen und Machtkonstellationen zulasten der Arbeiter_innen installiert werden, mit denen sie der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft besonders schutzlos ausgesetzt sind. „Das Zusammenspiel von Geschlecht, Herkunft und Klasse macht Reiniger_innen zu besonders verwundbaren Arbeitnehmer_innen“ (ebd., S. 327). Ihr Gefährdet-Sein korreliert dabei mit der Unsichtbarmachung ihrer Arbeit sowie damit, dass Reinigungstätigkeiten gerade im Häuslichen strukturell entwertet werden als ver-
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meintlich unproduktiv, einfach zu verrichten, leicht erlernbar und körperlich wenig anstrengend. Ihre Tätigkeiten nah am Körperlichen, (zu) nah an den körperlichen Ausscheidungen, (zu) nah am Schmutzigen führen zu sozialer und gesellschaftlicher Degradierung. Ausgehend von Analysen der US-amerikanischen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts und sogenannten „Americanization programs“ sowie rassifizierenden Darstellungen in Seifenwerbungen kann Rosie Cox aufzeigen, wie sehr der Bereich häuslicher und haushaltsnaher Reinigungsarbeiten von geschlechtlichen und rassistischen Strukturen durchwoben ist und wie sehr sich nachhaltig ein Denken manifestieren konnte, das Vorstellungen von Sauberkeit und Reinheit mit Weißsein verbindet (vgl. Cox 2011 und 2016). „The most disadvantaged groups are still thought to be less clean than the privileged, and therefore suited to dealing with domestic dirt, and the proximity to this dirt still demeans the people who work to eradicate it.“ (Cox 2011, S. 65) Der Zusammenhang von „Feminisierung und Kolonialität“ (Gutiérrez Rodríguez 2011, S. 215) begründet insofern nachhaltig und wirkmächtig die Abwertung von Hausarbeit respektive Reinigungsarbeiten. „Die gesellschaftliche Entwertung von Hausarbeit hat weniger mit ihrem konkreten reproduktiven Charakter zu tun als mit ihrer kulturellen Kodifizierung. […] Der Wert von Hausarbeit wird von einem kulturellen System der Bedeutungsproduktion vorgegeben, das sich auf historische und soziopolitische Systeme geschlechtsspezifischer Unterscheidungen und rassifizierter Hierarchien stützt. Dies korreliert mit seiner feminisierten Arbeitskraft, insbesondere jener der rassifizierten, feminisierten Subalternen.“ (Ebd., S. 216) Immanent ist diesem System die Geringschätzung von körperlicher und fürsorglicher Arbeit, und zwar wie gezeigt vor allem bezogen auf körpernahe Tätigkeiten und besonders im häuslichen Kontext. Die beispielhaft gezeigten Fotografien von Maria Ezcurra geben etwas von diesen Ungleichheitsverhältnissen und dichotomen hierarchischen Beziehungsstrukturen zu sehen, die sich zu oft noch ‚verdeckt‘, hinter verschlossenen Türen manifestieren und aktualisieren. Gleichwohl lassen sich durchaus Veränderungen der Geschlechterarrangements und bei der Aufteilung von Hausarbeit konstatieren – und das führt an den stillen Ort zurück: „Studies of time use show that men now do more childcare than they used to and they are also more likely to do grocery shopping than in the past, but the task they are least likely to do is cleaning the toilet, the dirtiest work of all.“ (Cox 2016, S. 105) Die Toilette bleibt vornehmlich in den bewährten weiblichen Händen, wobei die
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Reinigung von den im Haushalt lebenden Bewohnerinnen durchgeführt oder an Haushaltsarbeiterinnen oder Reinigungskräfte im öffentlichen Sektor delegiert wird. So lebenswichtig dieser Ort ist, so notwendig seine Reinigung, er bleibt offenbar in Verruf und mithin bleiben es auch die, die ihn sauber machen. Die Toilette stellt gerade strukturell im Wohnen ein prekäres und Prekäres hervorbringendes Raumverhältnis dar, das weiter ‚durchgelüftet‘ werden sollte – wie überhaupt das Häusliche und insgesamt unsere Vorstellungen vom Wohnen, wie es Irene Nierhaus maßgebend und konzeptionell aufgezeigt und für eine kritische Wohnforschung produktiv gemacht hat. Das Häusliche in seinen Bezüglichkeiten und die Wohnenden in ihren Bedürftigkeiten in den Blick zu nehmen, heißt in diesem Sinne aber nicht die Tür zu schließen, im Gegenteil: Es gilt weiter eine Haltung, eine Haus-Haltung zu entwerfen und zu stärken, die einmal mehr die Strukturen der Abwertung, des Gewaltförmigen und Diskriminierenden sichtbar macht und dazu beiträgt, diese mit Verve hinwegzufegen.
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Abbildungsnachweise Abb. 1: © Christian Heinz. Abb. 2: © The Easton Foundation / VG BildKunst, Bonn 2020. Abb. 3: Foto: Kathrin Heinz. Abb. 4, 6: Nachlass Birgit Jürgenssen, z966 und z963; © VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Abb. 5, 7, 8: Fotos: Gerardo Montiel Klint. Abb. 9, 10: Fotos: Kathrin Heinz.
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Bio
GRA FIEN
K a t h a r i n a E c k (Dr.) hat an der Universität Bremen am Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik in der Kooperation mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender promoviert, ihre Forschungsschwerpunkte sind: Zeitschriftengestaltung und Subjektformung, Theorien und Methodologien des Interieurs, Gender Studies (18./19. Jahrhundert). Von Oktober 2018 bis September 2020 absolviert sie ein Referendariat für den höheren Bibliotheksdienst an der Universitätsbibliothek Marburg. Eine Auswahl ihrer Publikationen: „Houses are Organisms“. Fluchtlinien durch Wohnungen, Beziehungsgeschichten und indigene Zeit-Räume in Gabriella Giandellis ‚interiorae‘, in: Closure. Kieler e-Journal für Comicforschung, Nr. 3, 2016, S. 23–46; Seitenweise Wohnen: Mediale Einschreibungen, FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und Visuelle Kultur Nr. 64, 2018 (hg. zus. mit Kathrin Heinz und Irene Nierhaus); Tapezierte Liebes-Reisen. Subjekt, Gender und Familie in Beziehungsräumen des frühindustriell-bürgerlichen Wohnens, Bielefeld 2018 (wohnen +/− ausstellen, Bd. 4). S u s a n n e vo n Fa l ke n h a u s e n ist emeritierte Professorin für Neuere Kunstgeschichte mit dem Schwerpunkt Moderne der Humboldt-Universität zu Berlin. Letzte Buchveröffentlichung: Jenseits des Spiegels. Das Sehen in Kunstgeschichte und Visual Culture Studies, Paderborn: Wilhelm Fink 2015. D a n i e l a H a m m e r -T ug e n d h a t hat in Bern und Wien Kunstgeschichte und Archäologie studiert. Promotion bei Otto Pächt über Hieronymus Bosch und die Bildtradition, Habilitation 1993 zu Studien zur Geschichte der Geschlechterbeziehungen. Lehrte Kunstgeschichte an der Universität für angewandte Kunst Wien, seit 2012 emeritiert, jetzt Honorarprofessorin. Gastprofessuren 1997 an der Universität Frankfurt a. M., 2015 und 2016 an der FU Berlin. 2009: Verleihung des österreichischen Staatspreises Gabriele Possanner. 2012: Verleihung des Ehrenringes der Universität für angewandte Kunst Wien. 2009–2013 Mitglied im ERC, European Research Council in der EU in Brüssel für den Advanced Grant. Forschungsschwerpunkte: Malerei der Frühen Neuzeit, insbesondere der niederländischen, Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft, Geschlechterbeziehungen in der Kunst. Publikation u. a.: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2009. Painted Social Life? The Significance of Seventeenth-Century Dutch Paintings of Interiors for the Emergence of a Bourgeois Identity, in: Joachim Eibach,
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Wohn/Raum/Denken
Margareth Lanzinger (Hg.), The Domestic Sphere in Europe (16th to 19th Century), London: Routledge 2020 (im Druck). I n s a H ä r t e l , Dr. phil. habil, Professorin für Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Kulturtheorie und Psychoanalyse an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU). Forschungsschwerpunkte: Kulturelle Produktionen, Raum/Phantasmen, psychoanalytische Kunst- und Kulturtheorie, Sexualitäts- und Geschlechterforschung. www.ipu-berlin.de/haertel Jo h a n n a H a r t m a n n war bis Juli 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen in Kooperation mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender und Mitglied des dort angesiedelten Forschungsfelds wohnen +/− ausstellen. Sie hat Gender Studies und Lateinamerikanistik in Berlin und Sussex studiert und promoviert derzeit mit einer Arbeit über Lehrstücke des Wohnens in den 1950er Jahren in der BRD. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Raum, Subjekt-, Geschlechter- und Körperkonzepte, Diskurse des Wohnens und der Stadt, Diskurse des Zeigens und Ausstellens, Verknüpfungen von Design und Politik, Architektur der Nachkriegsmoderne. Publikationen (Auswahl): Figuren der Stadt. Lektüre einer Wohnungsbau-Broschüre, in: Nordico Stadtmuseum (Hg.): „Hitlerbauten“ in Linz. Wohnsiedlungen zwischen Alltag und Geschichte. 1938 bis zur Gegenwart, Salzburg: Anton Pustet 2012, S. 180–196; Möbel, Pläne Körper. Lehrstücke des Wohnens in den 1950er Jahren, in: Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus (Hg.): Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bielefeld: transcript 2014, S. 39–55 (wohnen +/– ausstellen, Bd. 1); How to Set a Table (and Other Things): On the Aesthetics and Politics of a Postwar West German Film about Domestic Work, in: Interiors. Design, Architecture, Culture, H. 2, Jg. 5, 2014; Modern traditions: the modernist apartment and the detached single-family house in early post-war conceptions of the ideal home in West Germany, in: Christiane Cantauw, Anne Caplan, Elisabeth Timm (Hg.): Housing the Family. Locating the single-family home in Germany, Berlin: jovis Verlag 2020, S. 200–217; ‚Heile Welten‘ nach 1945: Heimat, Wohnkultur, Tourismus (zus. mit Nils Jablonski, Christian Schmitt), in: Jan Gerstner, Jakob C. Heller, Christian Schmitt (Hg.): Handbuch Idylle. Traditionen – Verfahren – Theorien, Stuttgart: J. B. Metzler Verlag (erscheint 2020).
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Biografien
G a b u H e i n d l , Dr. phil, ist Architektin, Urbanistin und Aktivistin in Wien. Ihr Architekturbüro GABU Heindl Architektur ist spezialisiert auf öffentliche kulturelle und soziale Bauten und urbanistische Projekte im öffentlichen Raum. Sie lehrt an der AA|Architectural Association London und als Visiting Professor an der University of Sheffield. Internationale Publikations- und Vortragstätigkeit: Ihre Veröffentlichungen behandeln u.a. Erinnerungspolitik im öffentlichen Raum, Stadtplanungspolitik und Solidarität als Planungsparameter. Mitherausgeberin von Building Critique Architecture and its Discontents, Leipzig: Spector Books, 2019 (mit Christina Linortner, Michael Klein). Monografie Stadtkonflikte. Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung, Wien: Mandelbaum 2020. Sie war bis 2017 Vorstandsvorsitzende des Vereins ÖGFA-Österreichische Gesellschaft für Architektur. K a t h ri n H e i n z (Dr.) ist Kunstwissenschaftlerin. Sie ist Leiterin und Geschäftsführerin des Mariann Steegmann Instituts. Kunst & Gender (MSI), und Leiterin des Forschungsfelds wohnen +/– ausstellen und Herausgeberin der gleichnamigen Schriftenreihe (transcript), gemeinsam mit Irene Nierhaus in der Kooperation des Instituts für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik an der Universität Bremen mit dem MSI. Forschungsschwerpunkte: Kunst- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Konzeptionen von Künstler- und Autorschaft in der Moderne, Geschlechterforschung. Seit 2005 ist sie Mitherausgeberin der Fachzeitschrift FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Publikationen (Auswahl): Heldische Konstruktionen. Von Wassily Kandinskys Reitern, Rittern und heiligem Georg, Bielefeld: transcript 2015; Matratze/Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur (hg. zus. mit Irene Nierhaus), Bielefeld: transcript 2016 (wohnen +/– ausstellen, Bd. 3); Seitenweise Wohnen: Mediale Einschreibungen, FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Nr. 64, 2018 (hg. zus. mit Katharina Eck und Irene Nierhaus); Zeichen/Momente. Vergegenwärtigungen in Kunst und Kulturanalyse (hg. zus. mit Sigrid Adorf), Bielefeld: transcript 2019. H e i d i H e l m h o l d (Prof. Dr.) lehrt Ästhetische Theorie am Institut für Kunst und Kunsttheorie der Universität zu Köln. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind nutzerbezogene Raumperformanzen sowie Emotionalität und Raum, dazu 2012 die Monografie Affektpolitik und Raum. Im Schnitt-
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Wohn/Raum/Denken
feld von Raumsoziologie, Raumtheorie und künstlerischer Raumintervention arbeitet sie vor Ort an gesellschaftlichen Heterotopien wie Flüchtlingsheimen, Strafvollzugsanstalten und urbanen Sozialräumen. Vorbereitung einer Monografie Strafende Räume. Wohnpraxen in der Gefängniszelle, Bielefeld: transcript. C h ri s t i a n e Ke i m (Dr. phil. habil.) ist Kunstwissenschaftlerin und arbeitet als Universitätslektorin am Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen sowie als assoziierte Wissenschaftlerin am Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender, Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Architektur des 20. Jahrhunderts, Wohnen und Ausstellen in der Moderne, theoretische und methodische Ansätze der Gender Studies sowie der Forschung zum Verhältnis von Mensch und Tier. Neueste Publikation: Heim/Tier. Tier-Mensch-Beziehungen im Wohnen (hg. zus. mit Silke Förschler und Astrid Silvia Schönhagen), transcript: Bielefeld 2019 (wohnen +/– ausstellen, Bd. 6). E l ke K r a s ny ist Kulturtheoretikerin, Stadtforscherin und Kuratorin. Sie forscht zu Architektur, zeitgenössischer Kunst, Urbanismus, Geschichten und Theorien des Kuratierens, kritischen Historiografien des Feminismus, Politiken der Erinnerung und deren Überschneidungen. Sie ist Professor_in für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien. Sie hat an der University of Reading promoviert. 2012 war sie Visiting Scholar am Canadian Centre for Architecture in Montréal. Zu ihren kuratorischen Arbeiten zählen Suzanne Lacy’s International Dinner Party in Feminist Curatorial Thought (2016) und Care + Repair mit Angelika Fitz (2017–2019). Sie ist Ko-Herausgeber_in von: Critical Care. Architecture and Urbanism for a Broken Planet (MIT Press, 2019), In Reserve: The Household! (2016), Women’s: Museum. Curatorial Politics in Feminism, Education, History, and Art (2013) und HandsOn Urbanism. The Right to Green (2012). Zu ihren 2020 veröffentlichten Essays zählen: The Unfinished Feminist Revolution. Radicalizing Reproduction in Feminist Performance Art, https://www.fkw-journal.de/; In-Sorge-Bleiben. Care-Feminismus für einen infizierten Planeten in dem bei transcript erschienenen Band Die Corona-Gesellschaft sowie Radicalizing Care. Living with a broken and infected planet, https://www.thesitemagazine.com B a r b a r a P a u l (Dr.), Professorin für Kunstgeschichte am Institut für Kunst und visuelle Kultur der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
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Biografien
und stellvertretende Direktorin des Zentrums für interdisziplinäre Frauenund Geschlechterforschung, 2013–16 Sprecherin des Oldenburger postgradualen Helene-Lange-Kollegs Queer Studies und Intermedialität: Kunst – Musik – Medienkultur; zuvor 2003–08 Professorin für Kunstgeschichte und Kunsttheorie/Gender Studies an der Kunstuniversität Linz. Jüngste Publikationen u. a.: un/verblümt. Queere Politiken in Ästhetik und Theorie, Berlin: Revolver 2014 (hg. zus. mit Josch Hoenes); Perverse Assemblages. Queering Heteronormativity Inter/Medially, Berlin: Revolver 2017 (hg. von Barbara Paul et al.); Geschlechterwissen in und zwischen den Disziplinen. Perspektiven der Kritik an akademischer Wissensproduktion, Bielefeld: transcript 2020 (hg. zus. mit Corinna Bath und Silke Wenk). K a t h ri n Pe t e r s , Professorin für Geschichte und Theorie der visuellen Kultur an der Universität der Künste Berlin, zuvor an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ko-Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs „Das Wissen der Künste“ an der UdK Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Gender und Medien, Geschichte der Gestaltung, Theorien der Fotografie. 2012–2020 Redaktionsleitung der Zeitschrift für Medienwissenschaft. Jüngste Buchpublikation: Wessen Wissen? Materialität und Situiertheit in den Künsten (hg. zus. mit Kathrin Busch, Christina Dörfling und Ildikó Szántó), Paderborn: Fink 2018. A l e x i a Po o t h (Dr.) studierte in Berlin und Madrid Kunstgeschichte und promovierte über den Nachlass des US-amerikanischen Künstlers C. H. Phillips an der Universität Bremen. Zwischen 2014 und 2019 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Stiftung Bauhaus Dessau. 2015/16 baute sie dort das Artist-in-Residence-Programm Bauhaus Residenz auf, das sie bis Ende 2018 leitete. Aktuell ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Historischen Museum Berlin tätig. Zu ihren letzten Veröffentlichungen gehören u.a.: Große Pläne! Moderne Typen, Fantasten und Erfinder. Zur Angewandten Moderne in Sachsen-Anhalt, 1919–1933 (hg. zus. mit Claudia Perren und Torsten Blume), Bielefeld: Kerber 2016 (Edition Bauhaus 50); Haus Gropius // Zeitgenössisch. Bauhaus Residenz-Programm 2016–2018 (hg. zus. mit Claudia Perren), Bielefeld: Kerber 2019 (Edition Bauhaus 56). D re h l i Ro b n i k ist Theoretiker in Sachen Film und Politik, Essayist, Gelegenheitskritiker, Edutainer, singender Disk-Jockey. Seine Tätigkeit in
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Wohn/Raum/Denken
Forschung, Polemik, Begriffsbildung und Unterhaltung gilt Konzepten der Wahrnehmung politischer und sozialer Machtverhältnisse und Subjektivierungen in öffentlichen Inszenierungen (insbes. Film und Kino, Popmusik, Public History). Sein Doktorat in Medien- und Kulturwissenschaften stammt von der Uni Amsterdam (2007). Er ist Autor bzw. Mit-Herausgeber von Bänden zu Kracauer und Rancière, Kriegs- und Historienfilm, Stauffenberg und Cronenberg. Er ist Herausgeber der Film-Schriften von Siegfried Mattl (2016). Seine jüngsten Monografien sind: Film ohne Grund. Filmtheorie, Postpolitik und Dissens bei Jacques Rancière (2010), Kontrollhorrorkino: Gegenwartsfilme zum prekären Regieren (2015) und DemoKRACy: Siegfried Kracauers Politik*Film*Theorie (im Erscheinen). Er „lebt“ in Wien-Erdberg und ist in Teilen lesbar unter https://independent.academia.edu/DrehliRobnik. M o n a S c h i e r e n (Dr.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Künste Bremen. Studium der Kunstgeschichte und Philosophie in Hamburg, Nizza und Bremen. Forschungsschwerpunkte liegen in verbindenden Ansätzen von Theorie und Praxis kultureller Produktion, Transkulturellen Studien, Asianismen, Körperpraktiken. Mitglied der Forschungsgruppe wohnen +/– ausstellen und im DFG-Netzwerk Entangled Histories of Art and Migration: Forms, Visibilities, Agents. Jüngere Publikationen: Kunsttopographien globaler Migration. Orte, Räume und institutionelle Kontexte transitorischer Kunsterfahrung (hg. mit Birgit Mersmann, Burcu Dogramaci und Anna Minta), kritische berichte, Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, 43/3, Jonas Verlag: Marburg 06/2015; „Every Moment Is a Moment of Learning“. Lenore Tawney – New Bauhaus und amerindische Impulse, in: bauhaus imaginista, Onlinejournal, hg. v. Marion von Osten und Grant Watson, http://www. bauhaus-imaginista.org/articles/2623/every-moment-is-a-moment-oflearning; Agnes Martin – Transkulturelle Übersetzung. Zur Konstruktion asianistischer Ästhetiken in der amerikanischen Kunst nach 1945, Verlag Silke Schreiber: München 2016; Re: BUNKER. Erinnerungskulturen – Analogien – Technoide Mentalitäten (hg. mit Katrin von Maltzahn), Berlin: argo books 2019; Transkulturelle Verwebungen. Lenore Tawneys fiber art, in: Burcu Dogramaci (Hg.), Textile Moderne, Böhlau Verlag: Wien/ Köln 2019. A s t r i d S i l v i a S c h ö n h a g e n , M.A., ist freie Kunstwissenschaftlerin, Lektorin und Kunstvermittlerin. Sie lehrt und forscht zur materiellen All-
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Biografien
tagskultur der Moderne sowie zur Verknüpfung von Architektur-, Modeund (Be-)Kleidungsdiskursen in der Kunst der Gegenwart. Von 2010 bis 2017 war sie freie Mitarbeiterin in der Daimler Art Collection (Berlin/ Stuttgart), 2018/19 Mariann-Steegmann-Lehrbeauftragte an der Universität Bremen. Im Rahmen des Bremer Forschungsfeldes wohnen +/− ausstellen promoviert sie zu exotistischen Bildtapeten und Strategien kolonialkultureller Subjektformierung im Wohnen um 1800. Publikationen (Auswahl): Heim/Tier. Tier-Mensch-Beziehungen im Wohnen (hg. zus. mit Silke Förschler und Christiane Keim), Bielefeld: transcript 2019 (wohnen +/− ausstellen, Bd. 6); Das Interieur als Bühne. Dufours tapeziertes Südsee-Arkadien und die Verinnerlichung naturalisierter ,Geschlechtscharaktere‘ im Wohnen, in: Gerald Schröder; Christina Threuter (Hg.): Wilde Dinge in Kunst und Design. Aspekte der Alterität seit 1800, Bielefeld: transcript 2017, S. 30–59; Azra Akšamijas Wearable Mosques. Kleidung als transkulturelle Camouflage, in: kunst und kirche, H. 2, 2016, S. 4–11. M a t t S m i t h ist Künstler und Kurator, er lehrt an der Konstfack in Stockholm, Schweden. Er hat mit einem künstlerisch-wissenschaftlichen PhD über Queer Craft an der University of Brighton promoviert, das Projekt wurde vom Arts and Humanities Research Council (AHRC) gefördert. Er stellt aus, Einzelausstellungen waren unter anderem Milk (Aspex, 2010) Queering the Museum (Birmingham Museum and Art Gallery, 2010–11) und Other Stories (University of Leeds, 2012), und hält regelmäßig Vorträge über seine Arbeit, u. a. in der Tate Modern, der Valand Akademie der Universität Göteborg und der Akademie für Kunst und Design Bergen (KHIB). In der Zeit von 2010 bis 2015 war er einer der Leiter_innen von Unravelled Arts, 2015/16 war er Artist in Residence im Victoria and Albert Museum, London. S i l ke We n k ist Professorin (i.R.) für Kunstwissenschaft mit Schwerpunkt Geschlechterforschung am Institut für Kunst und visuelle Kultur der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. Allegorien in der Moderne, Nationalsozialismus, Gedächtnis und Geschlecht, visuelle Vergangenheitspolitiken. Sie ist zus. mit Sigrid Schade Herausgeberin der Schriftenreihe Studien zur visuellen Kultur im transcript Verlag. Publikationen (Auswahl): Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld (hg. zus. mit Sigrid Schade), Bielefeld: transcript 2011; Praktiken des Zu-sehen-Gebens, in: Thomas
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Wohn/Raum/Denken
Alkemeyer; Gunilla Budde; Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld: transcript 2013; Myths, Gender and the Military Conquest of Air and Sea (hg. zus. mit Katharina Hoffmann und Herbert Mehrtens), Oldenburg: BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg 2015. Jüngste Publikation: Geschlechterwissen in und zwischen den Disziplinen. Perspektiven der Kritik an akademischer Wissensproduktion (hg. zus. mit Barbara Paul und Corinna Bath), Bielefeld: transcript 2020. E l e n a Z a n i c h e l l i (Prof. Dr.), Kunsthistorikerin, Kunstkritikerin und Kuratorin, seit dem Wintersemester 2018/19 Juniorprofessorin für Kunstwissenschaft und Ästhetische Theorie am Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen sowie am Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender. Nach einem Studium der Kunstgeschichte an den Universitäten Parma, Bonn und Zürich wurde sie mit einer Arbeit über das „Private“ in der Kunst der 1990er Jahre an der Humboldt-Universität zu Berlin 2012 promoviert. Neben wissenschaftlichen Lehrtätigkeiten (u.a. Humboldt-Universität, Universität der Künste Berlin, Leuphana Universität in Lüneburg) war sie im Sommersemester 2018 Inter-artes-Gastdozentin an der Universität zu Köln. Zudem wirkte sie an verschiedenen Kunstinstitutionen und Ausstellungen mit, u. a. der documenta 12, 2007. Zuletzt kuratierte sie die umfassende Ausstellung Women in Fluxus and Other Experimental Tales. Eventi Partiture Performance in Reggio Emilia, Palazzo Magnani 2012/13. Autorin von Privat – bitte eintreten! Rhetoriken des Privaten in der Kunst der 1990er Jahre (Bielefeld 2015) sowie zahlreichen Aufsätzen zur Gegenwartskunst seit der Neo-Avantgarde. Derzeit forscht sie über den künstlerischen und (massen-)medialen Wandel von Familienbildern seit der Moderne und arbeitet an einer Anthologie (zusammen mit Valeria Schulte-Fischedick) zum künstlerischen und kunsthistorischen Begriff der Formlosigkeit.
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Kunst- und Bildwissenschaft Elisa Ganivet
Border Wall Aesthetics Artworks in Border Spaces 2019, 250 p., hardcover, ill. 79,99 € (DE), 978-3-8376-4777-8 E-Book: PDF: 79,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4777-2
Artur R. Boelderl, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)
»Die Zukunft gehört den Phantomen« Kunst und Politik nach Derrida 2018, 430 S., kart., 21 SW-Abbildungen, 24 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4222-3 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4222-7
Chris Goldie, Darcy White (eds.)
Northern Light Landscape, Photography and Evocations of the North 2018, 174 p., hardcover, ill. 79,99 € (DE), 978-3-8376-3975-9 E-Book: PDF: 79,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3975-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kunst- und Bildwissenschaft Thomas Gartmann, Christian Pauli (Hg.)
Arts in Context – Kunst, Forschung, Gesellschaft September 2020, 232 S., kart. 39,00 € (DE), 978-3-8376-5322-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5322-3
Reinhard Kren, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)
Kultur – Erbe – Ethik »Heritage« im Wandel gesellschaftlicher Orientierungen Juli 2020, 486 S., kart. 49,00 € (DE), 978-3-8376-5338-0 E-Book: PDF: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5338-4
Susanne von Falkenhausen
Beyond the Mirror Seeing in Art History and Visual Culture Studies July 2020, 250 p., pb., ill. 60,00 € (DE), 978-3-8376-5352-6 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5352-0
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