Unbehaust Wohnen: Konflikthafte Räume in Kunst - Architektur - Visueller Kultur 9783839451229

Zerstörtes Wohnen in kriegerischen Konflikten, verlorenes Wohnen in Migrationen, temporäres Wohnen in Obdach- und Wohnun

199 72 27MB

German Pages 446 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Wohnschatten: Global und häuslich un/behaust
Zum Buch
IV. Verheerende und diskrete Desaster
Prekäres „Wohnen“ nach 1938
Shelter/Disaster: Flucht, Schutz und Architektur in der Moderne
Zu Hause im Unbehausten: Syrische Geflüchtete in Flüchtlingsunterkünften in Berlin und Zaatari
Da und dort zu Hause
Wohnräume im Wartezustand Zu den Interieurfotografien von Robert Haas
Möbeltransporte im Kontext des Massenmordes Die totale ,Verwertung‘ jüdischen Eigentums als materielle Dimension des Holocaust und die Rolle der Spedition Kühne + Nagel
II. Subjektkrisen und instabile Räume
„An einem Ort wie diesem?“ Geschichten über Demenz, Zuhause und Selbst
Die letzten Tage des Sommers. Ein E-Mail-Dialog
Überwachen und Sticken, um 1670
Habitate der Mobilität – Mary Mattinglys Wearable (Portable) Homes für eine postapokalyptische Ära
When Car Culture Meets Rape Culture Das Auto als Verhandlungsraum sexualisierter Gewalt in Three Weeks in May (1977) von Suzanne Lacy und in Hollywood-Filmen
Verrückte Möbel: Paranoia der Hausgemeinschaft
Sehen/Berühren. Das Krankenbett als Beziehungsraum
III. Strittige Territorien
Le Vele di Scampìa. Sterbende Moderne filmisch beschleunigt
Radikale, rebellische Städte. Vom Roten Wien zu sanctuary cities
Disrupted Living: Das Wohnen und die Sprache der Sharing Economy
Vom Diskurs der Obdachlosigkeit. Eine Annäherung
Unbehaust und exhausted in Zeiten des Faschismus: Mittelschichten, Kino und Demokratie in maintenance (gedacht mit Kracauer)
Biografien
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Unbehaust Wohnen: Konflikthafte Räume in Kunst - Architektur - Visueller Kultur
 9783839451229

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Irene Nierhaus, Kathrin Heinz (Hg.) Unbehaust Wohnen

wohnen   +/−   ausstellen Schriftenreihe Herausgegeben von Irene Nierhaus und Kathrin Heinz

wohnen +/− ausstellen Schriftenreihe, Band 7 Herausgegeben von Irene Nierhaus, Kathrin Heinz http://www.mariann-steegmann-institut.de/publikationen

Forschungsfeld wohnen +/− ausstellen Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik Universität Bremen

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept, Gestaltung und Satz: Christian Heinz Redaktion: Johanna Hartmann, Julia Weiss Lektorat und Korrektorat: Ulf Heidel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN: 978-3-8376-5122-5 E-Book-PDF: 978-3-8394-5122-9 https://doi.org/10.14361/9783839451229 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Irene Nierhaus, Kathrin Heinz (Hg.)

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Unbe aust h Woh Konflikthafte Räume in Kunst – Architektur – Visueller Kultur

wohnen +/−  ausstellen

In  halt

Wohnschatten: Global und häuslich un/behaust Irene Nierhaus

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Zum Buch Johanna Hartmann, Kathrin Heinz, Irene Nierhaus

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I. Verheerende und diskrete Desas- ter Prekäres „Wohnen“ nach 1938 Birgit Johler

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Shelter/Disaster: Flucht, Schutz und Architektur in der Moderne Burcu Dogramaci

81

Zu Hause im Unbehausten: Syrische Geflüchtete in Flüchtlingsunterkünften in Berlin und Zaatari Anna Steigemann und Amer Darweesh

101

Da und dort zu Hause Mehmet Emir

139

Wohnräume im Wartezustand Zu den Interieurfotografien von Robert Haas Annette Tietenberg

153

Möbeltransporte im Kontext des Massenmordes Die totale ,Verwertung‘ jüdischen Eigentums als materielle Dimension des Holocaust und die Rolle der Spedition Kühne + Nagel Henning Bleyl

173

II. Subjektkrisen und instabile Räume „An einem Ort wie diesem?“ Geschichten über Demenz, Zuhause und Selbst Ann Varley

199

Die letzten Tage des Sommers Ein E-Mail-Dialog Klaas Dierks und Michaela Schäuble

227

Überwachen und Sticken, um 1670 Michalis Valaouris

249

Habitate der Mobilität – Mary Mattinglys Wearable (Portable) Homes für eine postapokalyptische Ära Astrid Silvia Schönhagen

271

When Car Culture Meets Rape Culture Das Auto als Verhandlungsraum sexualisierter Gewalt in Three Weeks in May (1977) von Suzanne Lacy und in Hollywood-Filmen Franziska Rauh

293

Verrückte Möbel: Paranoia der Hausgemeinschaft Michael Schödlbauer

309

Sehen/Berühren Das Krankenbett als Beziehungsraum Monika Ankele

325

III. Strittige

Territorien

Le Vele di Scampìa Sterbende Moderne filmisch beschleunigt Salvatore Pisani

347

Radikale, rebellische Städte Vom Roten Wien zu sanctuary cities Gabu Heindl

367

Disrupted Living: Das Wohnen und die Sprache der Sharing Economy Christian Berkes

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Vom Diskurs der Obdachlosigkeit Eine Annäherung Elke Krasny

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Unbehaust und exhausted in Zeiten des Faschismus: Mittelschichten, Kino und Demokratie in maintenance (gedacht mit Kracauer) Drehli Robnik

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Bio gra fien

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Irene Nierhaus Wohnschatten: Global und häuslich un/behaust

Wohnen: Schatten, Positivität, Grundsatz Zerstörtes Wohnen, Auf-der-Flucht-Wohnen, migrantisches und wohnungsloses Wohnen, ökonomisch, körperlich und emotional prekäres Wohnen sind Situationen, von denen – jenseits eigener Erfahrungen – viel zu lesen, zu hören und zu sehen ist. Die Medien zeigen die Kriegszerstörung von Städten, Geflüchteten- und Internierungslager, Aufenthaltsorte von Wohnungslosen, Wohnungsräumungen, sozial prekäre Wohngebiete und sie berichten von familiären Gewalttaten, sexuellem, körperlichem und psychischem Missbrauch, von Depression, Alkoholsucht, Einsamkeit oder … Und obwohl es um Existenz und das Dringliche des Lebens geht, scheint das Reden und Zeigen merkwürdig ohne Konsequenzen oder Lösungen zu sein. Es ist immer da, bleibt beständiger Schatten des Wohnens, ist sein Teil. Hier wird es schwierig, denn das ‚Immer-Da‘, das für das Wohnen wie auch seinen Schatten gilt, macht es zu einer Grundkondition menschlicher Existenz, zu einem (scheinbar einfach) Bestehenden und Da-Seienden. Diese Positivität des Wohnens ermöglicht seine Auslegungen als Grundsätzliches, das jedoch ohne gesellschaftlichen Grund zur Natur mutiert. Dieses Naturalisierte des Wohnens zeigt sich in den Zuschreibungen und Bewertungen: Da wohnen dann ‚die Deutschen‘, ‚die Türken‘, ‚die Frauen‘, ‚die Männer‘, ‚die bildungsfernen Schichten‘, ‚die Jugendlichen‘ oder ‚die Afrikaner‘ auf diese oder jene bestimmte Art und Weise. Wohnen wird darin zur nationalen, geschlechtlichen, klassenbezogenen, ethnischen Natur.

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Wohnschatten Die Positivität des Wohnens wird vom Grundsätzlichen also in Grundsätze gesellschaftlicher Politiken und Ideologisierungen übersetzt, die so zu scheinbar unverhandelbaren, weil naturgemäßen Gesetzmäßigkeiten werden können und das domestische Dispositiv mitregieren. In diesem Verhältnis des Positiven zum Grundsatz liegt also das politische Potenzial, das die jeweiligen gesellschaftlichen Politiken, Strategien und Praktiken des Wohnens und der Wohnrechte formuliert. Dabei wird die Differenz zwischen Positivem und Grundsatz gerne gelöscht, sodass im Naturalisierungseffekt beide zusammenfallen, worauf dann soziale Festschreibungen aufbauen, also ‚die‘, ‚die anderen‘, ‚wir‘ wohnen so oder haben eben kein geordnetes Haus. Gegen eine solche Homogenisierung z.B. im Nationalismus schreibt Vilém Flusser: „Man hält die Heimat für den relativ permanenten, die Wohnung für den auswechselbaren, übersiedelbaren Standort. Das Gegenteil ist richtig: Man kann die Heimat auswechseln, oder keine haben, aber man muß immer, gleichgültig wo, wohnen. Die Pariser Clochards wohnen unter Brücken, die Zigeuner in Karawanen, die brasilianischen Landarbeiter in Hütten, und so entsetzlich es klingen mag, man wohnte in Auschwitz. Denn ohne Wohnung kommt man buchstäblich um.“ (Flusser 1994, S. 27)1 Gegen das Versprechen des Nationalismus, Wohnen und Heimat in eins zu setzen, trennt Flusser beides voneinander und vertritt damit ein Wohnrecht auch für jene ‚ohne Heimat‘ – ein Grundsatz solidarischen Handelns. In diesem Verhältnis zwischen Positivem und Grundsatz wird auch ein Öffentliches, Institutionelles und allgemein sichtbares Sprechen zum Wohnen entwickelt, das zugleich ein Positives meint, es jedoch mit dem Guten, dem Richtigen, dem Glück der_des Einzelnen und ihrer_seiner Gemeinschaft (meist als Familie gemeint) zusammenzieht. Wohnen als glücklicher

1 Vilém Flusser, selbst 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten aus Prag nach Brasilien emigriert und in den 1970er Jahren nach Frankreich übersiedelt, war Kommunikationsphilosoph. Daher bezieht sich dieses Zitat auch im Weiteren auf Kommunikation als soziales und individuelles Lebensprinzip: „Dieses Umkommen läßt sich auf verschiedene Weisen formulieren, aber die am wenigsten emotional geladene ist diese: Ohne Wohnung, ohne Schutz von Gewöhnlichem und Gewohnten ist alles, was ankommt, Geräusch, nichts ist Information, und in einer informationslosen Welt, im Chaos, kann man weder fühlen noch denken noch handeln.“ (Flusser 1994, S. 27) Flusser verfolgt damit jene Position, die Wohnen auch als Ort einer äußeren und inneren Existenz des Subjekts ausweist, ein Ort, an dem es sich seiner Existenz versichert, sich sortiert und von dem aus es zu handeln ansetzt.

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Irene Nierhaus

1  Wohnen in Bremen 1959

Raum der Gesellschaft, in denen die kleinsten Einheiten des Staates als Familien in Wohnungen leben, sich regenerieren, Kinder aufziehen, konsumieren und konstruktiv diesen sie ordnenden Staat reproduzieren. Diese moderne, okzidentale, fordistische, Kapitalismus und Sozialstaat verbindende Gesellschaft charakterisiert seit 1945 in weiten Teilen Europas dieses zum Glück verpflichtende domestische Dispositiv des Wohnens als Anund Aufforderung an die Bevölkerung als Bewohner_innen. Im Sprechen des Staates, der Kommune (Abb. 1),2 der Politik, der Ideologien oder des Marktes und ihrer Medien wird gelächelt, sich gefreut, freundlich saubergemacht, liebevoll den Kindern übers Haar gestreichelt. Da fällt kein

2 Solche Darstellungen der harmonisch imaginierten Wohnanlagen charakterisieren die Bilder der 1950er Jahre, hier z.B. eines vom Wohnbau in Bremen, entnommen aus einer Broschüre des Senators für das Bauwesen im September 1959 (Neugestaltung 1959).

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Wohnschatten Schatten ins öffentlich beleuchtete Wohnen. Die Krisen dieses glücklichen Raumes bleiben unsichtbar und verschwiegen oder werden als individualisierter und so vereinzelbarer ‚Fall‘ marginalisiert und als randständig chiffriert. Ränder und Fälle werden den dafür mit Expertise ausgestatteten Spezialist_innen des Sozialen und der öffentlichen und privaten Fürsorge überantwortet, so den Sozialdiensten, Mediziner_innen, Psychiater_innen, dem Care-Management oder im ‚Fall‘ der Migrant_innen den NGOs, den öffentlichen oder privaten Hilfsorganisationen. Als ob es sich um irgendjemandes Privatsache handle, wird das Wohnen jenseits seiner öffentlichen Transparenz im ‚Großen‘ der Politik und Ökonomie zum ‚Kleinen‘ geschrumpft. Und waren noch die Bedürftigen des fordistischen Staates bzw. Wohlfahrtsstaates paternalistisch der Besserung zuzuführende Opfer, unterliegen sie in der zunehmenden neoliberalen Sozialpolitik einem „Aktivierungsimperativ, der Individuen als unternehmerische, für ihre materielle Existenz selbst verantwortliche Subjekte adressiert“,3 deren Unvermögen oder Unwillen sanktioniert wird. Wohnung und Wohnen sind – anders als zumeist angenommen – sensible soziale Reaktionsräume und keineswegs garantierte, permanent gesicherte und sicher umschlossene Räume. Sie sind nicht immun gegen soziale Veränderung, sondern gehören in Veränderungsprozessen selbst zu deren Akteuren. Dis- und Relokation, De- und Reterritorialisierung, displacement, Dissoziation sind alltägliche Prozesse des Wohnens. Dabei handelt es sich auch nicht nur um ‚die‘ oder eine ‚andere‘ Seite des Wohnens, denn die prekären Situationen zeigen, dass sie nicht verheerende Ausnahmen, plötzliche Katastrophen oder diskrete Momente, sondern reguläre Seiten und Bestandteile des Wohnens sind. Die Motivation zu diesem Beitrag, wie zu diesem Band, ist, verschiedene Ebenen, Realien und Phänomene eines bedrohten und bedrohlichen Wohnens in einem Denkhorizont zueinanderzustellen und nicht zwischen ‚großer‘ Politik/‚großem‘ Staat und ‚kleinem‘ Subjekt/Wohnen zu trennen.

3 Bezogen auf Fragen der Migration und des Wohnraums in Deutschland, Stephan Lanz zit. n. Riedner 2018, S. 188. Der Paradigmenwechsel von der sozialstaatlichen Grundversorgung hin zu einem sozial deregulierten Staat, der seit den 1970er Jahren zuerst in den USA, dann in Großbritannien und allmählich auch in den anderen westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten Fuß fasst und mit dem staatlichen Strafapparat ein neues „Regime städtischer Marginalität“ durchsetzt, beschreibt Loïc Wacquant am Beispiel von Ghettoisierungsstrategien (Wacquant 2006, S. 7).

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Irene Nierhaus Verschiedene Formen des displacement von der Vertreibung bis zum Depressiven werden zusammengedacht, auch weil es im Rancière’schen Sinn des Politischen darum geht, von einem Wohnen zu sprechen, das gegen die Aufteilungen und Zuordnungen der Politik, der sozialen Klassifizierungen und wissenschaftlichen Disziplinen denkt und schaut – ein Assoziieren und Verbinden, das in gängigen Wohnideologien vermieden wird.

Häuslichkeit: Krieg, Flucht, Lager, wohnungslos Wohnen oder all das, was mit dem Haus als Figur des Heimischseins und Häuslichkeit geläufig ist, kann Objekt und Subjekt z.B. des Krieges und Kampfes werden, wie das in den Theorien der Massenvernichtung, des strategischen Bombardements und der psychologischen Terrorisierung gerade auch der Zivilbevölkerung im 20. Jahrhundert modernisiert wurde.4 Das Haus ist Ziel von Kriegstechniken, sei es bei der Enthausung großer städtischer Areale oder ganzer Dörfer, beim gezielten Angriff mit Drohnen oder beim Häuserkampf als Form des Bodenkriegs, wie er in stadtartigen militärischen Gefechtsübungsanlagen erprobt wird (Abb. 2). Nicht zuletzt wird das Haus, wenn nicht zerstört, eingenommen (Abb. 3) und angeeignet. Haus und Territorium werden neu- und wiederverwertet, sodass der Kriegsindustrie die Bauindustrie folgt. Ohne direkt diesen Zusammenhang von ökonomischen Kriegsgewinnen herzustellen, jedoch auf das beiden zugrunde liegende Zahlenwerk anzuspielen, präsentiert der palästinensische Künstler Taysir Batniji in seiner Fotoinstallation zerstörte Gebäude im Gazakonflikt 2008/09 in Form von Immobilienanzeigen (Abb. 4). Die Fotos zeigen Kriegsruinen mit genauen Angaben zu Grundstücksgröße und -qualität, Gebäudegröße, Anzahl und Standard der Wohnungen sowie zur Anzahl der ehemaligen Bewohner_innen. Die Fotos bilden als 20-teilige Reihe einen Display, der die Ware Wohnung als Schaustellungsformat der Immobilienagenturen reproduziert. Die Installation irritiert durch diese Übertragung in das Medien- und Displayfor4 Siehe z. B. Militärstrategien wie die 1921 vom Turiner Militärpublizisten Giulio Douhet veröffentlichten (Voldman 1996).

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Wohnschatten

2  Gregor Sailer, Gefechtsübungszentren in den USA und Europa als Teil des Projektes The Potemkin Villages, 2017

3  Besetzung von Salma (Syrien) als ‚Bild der Woche‘ im Stern, 21. Januar 2016

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4  Taysir Batniji: GH0809, 2010, Ausschnitt aus einer Fotoinstallation mit 20 C-Prints

mat der Immobilienanzeige und das darin als begehrenswert ventilierte Wohnobjekt, wodurch Zerstörung und Begehren in einem augenscheinlichen Widerspruch zusammenfallen, der jedoch auf Realien und das Reelle kriegerischer Konflikte verweist. Im hegemonial öffentlichen Diskurs wird der Zusammenhang von Krieg und Ökonomie verdeckt, kaum gesprochen (sofern es sich um die ‚eigenen‘ Interventionen handelt). Doch Krieg und Vertreibung bedeuten eine ungeheure Verschiebung von Gütern auch des täglichen Gebrauchs und des Wohnens. Eine Miniatur in einer Abschrift der Kynegetika des griechischen Autors Pseudo-Oppian aus dem 11. Jahrhundert zeigt Flüchtende, die aus einer brennenden Stadt Bettgestelle wegschleppen (Abb. 5). Geflüchtete ziehen in temporäre Unterkünfte, wie Lager, die, als eine Ansammlung von Schlafstätten mit Notversorgung begonnen, oft zu regelrechten und dauerhaften Städten mit allmählich

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Wohnschatten

5  Flüchtende aus einer Miniatur in einer Abschrift der Kynegetika von PseudoOppian, 11. Jahrhundert

ausgebauter Infrastruktur werden, wie z.B. das 2010 im äthiopischen Melkadida eröffnete UNHCR-Lager mit ca. 45.000 Bewohner_innen oder das im kenianischen Kakuma 1992 ebenfalls vom UNHCR errichtete Lager mit ca. 187.000 Bewohner_innen. Das Lager ist dabei keineswegs nur ein Schutzraum, denn es ist immer eine Kombination von Einschluss und Ausschluss, untergebracht an sozialen (Raum-)Rändern mit reglementiertem Zutritt und Ausgang. Das Reglement, das Integrations- oder Segregationspotenzial in Bezug auf das soziale Umfeld, steht unter jenen Vorzeichen, die eine Gesellschaft als Ziel dafür vorrätig hält. So hat Michel Foucault in seinem Nachdenken über Raumstrukturen der Gesellschaft die „Lagerungsbeziehungen“ – auch die der Menschen – als eine generellere Form der kapitalistischen Moderne bezeichnet (Klassifizierung, Demografie, Markierung etc., siehe Foucault 1990). Daran anschließend wird bei Giorgio Agamben das Lager zu einem paradigmatischen räumlichen und politischen Gefüge (auch der Gegenwart), in dem die souveräne Macht als Biomacht in einem totalitären rechtlichen Zugriff den Menschen ihre Sprachlichkeit und ihre Zugehörigkeiten raubt, um sie, sie solchermaßen auf das „nackte Leben“ reduzierend, zu unterwerfen (siehe: Homo-sacer-Projekt, Agam-

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Irene Nierhaus ben 2002, 2004), wobei das Grundbild dazu das nationalsozialistische Vernichtungslager ist. Dieses ist als industrialisierte Tötungsmaschine die Zuspitzung des Lagers, das jedoch im 20. Jahrhundert unterschiedliche Modernisierungen und Differenzierungen erfahren und dabei immer repressive Strukturen besessen hat, wie im Internierungslager, dem (Kriegs-)Gefangenenlager, dem Umerziehungslager, dem Zwangsarbeitslager, dem Flüchtlingslager.5 Auch wenn die Entkleidung bis auf das ‚nackte Leben‘ Ziel einer Biomacht über das Leben ist, sei doch mit dem oben zitierten Satz von Flusser – „und so entsetzlich es klingen mag, man wohnte in Auschwitz“ – an das Wohnen als lebenserhaltendes Handeln erinnert. Das soll wiederum nicht eine immer gegebene Handlungsmächtigkeit suggerieren, denn diese ist immer und grundsätzlich einschränkbar, wie sie etwa der von Agamben ausgelegte Ausnahmezustand als heutige gesellschaftspolitische Zone der rechtlichen Unbestimmtheit darstellt, die sich auch in Europa im allmählich allgegenwärtig gewordenen Sicherheitsdispositiv normalisiert. Da genügt ein Blick in das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, das in Art. 13, Abs. 1 die Unverletzlichkeit der Wohnung als Grundrecht festhält, um in den anschließenden sechs Absätzen zu erläutern, wann diese Unverletzlichkeit eben nicht gegeben sei (Verdacht auf eine schwere Straftat, Gefahr für die öffentliche Sicherheit, Schutz gefährdeter Jugendlicher etc.) und Durchsuchungen, technische Mittel der Überwachung oder Eingriffe und Beschränkungen der Unverletzlichkeit im öffentlichen Interesse notwendig seien. Dazu kommt, dass verschiedene als nicht der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ zugehörig definierte religiöse, soziale oder ethnische Gruppen in der gesellschaftlichen Siedlungs- und Wohnpolitik gleichsam rechtmäßig ‚unbehaust‘ bzw. ohne gleichberechtigtes Wohnrecht eingestuft wurden und werden. So waren und sind die Roma in vielen Ländern Europas und der Europäischen Union einer restriktiven Siedlungspolitik ausgesetzt, die sie räumlich absondern und ihnen den Zugang zu städtischen Infrastrukturen erschweren. Im burgenländischen Oberwart wurden z.B. die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurückkehrenden Roma, die den Nationalsozialismus überlebt hatten und deren ursprüngliche Wohnhäuser nach der Vertreibung geschleift und niedergebrannt worden waren, zuerst zwei Kilometer außerhalb des Ortes an einer NS-Schießstätte neben einem

5

Zur Geschichte des Lagers im 20. Jahrhundert vgl. Greiner 2013.

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Wohnschatten

6  Wohnschlafraum eines Wohnungslosen in Bremen 2017

7  Vivienne, Via San Calisto, Rom, Mai 2019

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8  Sitznische eines Wohnungslosen, Sta. Catarina dei Funari, Rom, Mai 2019

Tierkörperverwerter untergebracht – davon und von der Entwicklung der Wohnsiedlungen und ihrer Bewohner_innen erzählt Stefan Horvath.6 Nicht zuletzt ist Wohnungs- und Obdachlosigkeit ein Wohnhandeln in den ‚Lücken‘ des öffentlichen Raumes. Das Bild des Wohnschlafraumes eines Wohnungslosen im Bremer Stadtraum zeigt das sorgsam gemachte Bett samt Einrichtung mit Heiligenbild, Büchern, Blumen und Bär (Abb. 6). Die im Eingang der römischen Kirche Sta. Catarina dei Funari eingefügte Sitznische mit Zeitungen und Büchern ist eine sorgsam gebaute mini-

6 Vgl. den Bericht von Stefan Horvath 2013 zum Wohnbau der Roma in Oberwart sowie die entsprechenden Bezugnahmen im Katalog Romane Thana (2015). In Oberwart wurden am 4. Februar 1995 vier jugendliche Roma durch eine Rohrbombe eines Rechtsextremisten getötet. Auch die halbnomadisch in Wohnwagensiedlungen lebenden Sinti und Roma erhalten Stellplätze auf nicht verwertbaren zwischenräumlichen Grundstücken mit hoher Umweltbelastung entlang von Autostraßen, Eisenbahntrassen oder bei Müllplätzen mit schwierigem Zugang zu städtischen Infrastrukturen, vgl. Europäische Union 2010.

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Wohnschatten male Wohneinheit als wörtliche Besitzung (Abb. 7). Und Vivienne lebt seit vielen Jahren an der römischen Via di San Calisto und hat dort ihren Arbeitsplatz, an dem sie verschiedene kunsthandwerkliche Tätigkeiten ausübt (Abb. 8).7

Schrecken des Häuslichen Die vertraute Figur des Hauses kann selbst zur Kriegsmaschine taugen, so als Tarnung eines Zugangs zu einem Gefechtsstand (Abb. 9 und 10). Oder – Küchen, Bäder und häusliche Gegenstände werden zur Folter eingesetzt und nehmen darin eine neue „schreckliche Dimension“ an (Ross 1998, S. 369), wie dies der algerisch-französische Journalist Henri Alleg in seinem Bericht aus einem Internierungslager während des Algerienkriegs schreibt (Alleg 1958).8 Ein Kriegsgerät, das sich als Bauernhaus verstellt, kann metaphorisch aufgefasst für die Verstellungen in den geläufigen Wohnideologemen stehen. Da wird Wohnen zur einfachen Präsenz, es scheint einfach da, dauerhaft, sinnlich und dinglich wahrnehmbar, ein Bestand aus Greifbaren durch Objekte bestimmbar. In dieser Positivität des Wohnens als schlicht Gegebenes und nicht sozial Hergestelltes verspricht es ein mit sich selbst Identisches, das Einfache ohne Alterität, ohne Differenz, keine Entzweiung, bewohnt von einem vermeintlich kohärenten Ich und Wir. Die Moderne arbeitet seit 1800 an solchen Zuschreibungen tatsächlicher Positivität des Wohnens, in der, wie oben bereits erwähnt, das Positive des Gegebenen zugleich zum bejahenden, guten und glücklichen Raum wird. An diesen glücklichen Raum schließen die Reden zum Wohnen mit Vorliebe an, wie auch bei Gaston Bachelard, der in seiner Poetik des Raumes als phänomenologisch orientierter Untersuchung des Wohnens schreibt: „Wir wollen nämlich sehr einfache Bilder untersuchen, die Bilder 7 Der_Die Bewohner_in des Bremer Betts im Stadtraum konnte nicht befragt werden. Der Besitzer der Bücher erlaubte die Fotografie, wollte jedoch nicht namentlich genannt werden. Die wohnungslose Vivienne wollte namentlich und mit Ortsangabe genannt werden, sie lebt seit vielen Jahren auf der Straße. 8 Alleg, Herausgeber einer demokratischen algerischen Tageszeitung, war 1957 verhaftet und von französischen Besatzern gefoltert worden.

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Irene Nierhaus

9, 10  Bauernhaus auf der kroatischen Insel Vis als getarnter Zugang zu Gefechtsständen, Außen- und Innenansicht, 2017

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Wohnschatten des glücklichen Raumes. […] die Räume der Feindseligkeit [werden] kaum erwähnt. Diese Räume des Hasses und Kampfes können nur studiert werden, wenn es sich um heiße Stoffe, um apokalyptische Bilder handelt. In unserem gegenwärtigen Zusammenhang wollen wir mit Bildern bekannt werden, die anziehen.“ (Bachelard 1987, S. 25, Herv. i. Orig.)9 Wohnen also als Anziehendes, glücklich Vor-Gestelltes, Ort des Schutzes und Friedens, der Häuslichkeit, der einträchtigen Familie sowie als individuelles Freisein vom Gesellschaftlichen. Insbesondere mit dem Wiederaufbau der Städte in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und seinen Verwüstungen sind das Haus und das Domestische zum Heilsgrund der Gesellschaften geworden, gefördert von Politik und Ökonomie. Das Haus als Zeichen des Gelingens, der Versöhnung mit dem Sein, als Begründung einer häuslichen Zukunft durch Arbeitsmigration wie auf einem Anwerbeplakat, mit dem italienische Arbeiter angesprochen werden sollten (Abb. 11). Die Verortung in einem erarbeiteten Häuslichen ist dann auch Teil der Selbstdarstellungen von Migrant_innen (Abb. 12).10 Das große Potenzial des Häuslichen als gelungenes Leben wird jedoch auch als öffentliche Aufgabe des privaten Wohnens eingefordert und ein zustimmendes Sprechen des wohlgeordneten Glücks und das beständige Wiederholen dieses Sprechens verordnet. Das vermeintlich dauerhafte Glück will dann auch gegen Eindringlinge, aufsteigende Traumata mit Sicherheitsdiensten aller Art verteidigt werden – wie Alessandro Mendini sagt: „Das Haus ist jene Schule, in der das Ausschließen gelehrt wird.“ (Mendini 1984,

9 Der Untersuchung von Gaston Bachelard kommt zugute, dass sie entgegengesetzt zu den oft vorwiegend quantitativ argumentierenden soziologischen oder architekturbezogenen Wohnuntersuchungen einen Blick auf das Wohnen eröffnet, der von der Einbildungskraft und der Bildlichkeit des Bewusstseins geprägt ist, „als direktes Erzeugnis des Herzens, der Seele, des Menschen in seiner unmittelbaren Gegenwärtigkeit“ (Bachelard 1987, S. 9). 10 Die Abbildung zeigt einen Ausschnitt aus dem Fotoalbum von Ružica und Novak Gavrić. Sie hatten 1970 in Wien eine kleine Erdgeschosswohnung mit WC am Gang bezogen, die als Hausbesorgerwohnung kostenfrei war. „Der Beruf der Hausbesorgerin war für Österreicher_innen wegen des geringen Verdiensts und der zumeist schlechten Beschaffenheit der Dienstwohnung immer unattraktiver geworden. Demgegenüber bot dieser Job für Migrant_innen die Möglichkeit, noch prekäreren Wohnverhältnissen zu entkommen.“ Zitat aus der Ausstellung „Geteilte Geschichte: Viyana – Beč – Wien“, Wien Museum 2017. Zunächst waren die sogenannten ‚Gastarbeiter_innen‘ oft in Wohnheimen untergebracht worden. Eine weibliche Stimme dazu ist Emine Sevgi Özdamars Roman Die Brücke vom goldenen Horn (Özdamar 1998).

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Irene Nierhaus 11  Ausschnitt aus einem Anwerbeplakat in Italien, o. J.

12  Aus dem Fotoalbum von Ružica und Novak Gavrić. Fotos ihrer ersten Wohnung in Wien 1970

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Wohnschatten S. 90) Das Krisenhafte des Wohnens wird aus dem Haus gescheucht oder unsichtbar werdend im Haus ausschließend eingeschlossen. „Tagtäglich konstituiert sich das häusliche Leben als ein Kompromiß aus Aggression und Versöhnung. Auch wenn die Wohnverhältnisse kläglich sind, übt die Wohnung als einzig legitimes Refugium doch eine beträchtliche Macht aus. Sie ist zugleich erobertes Terrain wie Ort der Unterwerfung unter die soziale Herrschaft. Diese grundlegende Dualität zwingt ihre Bewohner, in einer Mischung aus Angst und Zufriedenheit zu leben und zu wohnen.“ (Barbey 1984, S. 10) Da ploppen die Bachelard’schen „heißen Stoffe“, die „apokalyptischen Bilder“ auf: die Wohnungslosigkeit, die innerhäusliche Gewalt, das innerhäusliche Unbehaustsein, Krankheit, mühevolles Alter, schwierige Mutterschaft, abwesende Vaterschaft etc. In den Künsten werden solche Themen aufgenommen, wie in dem Kurzfilm Die Zuckerdose von Susanne Kutter, die mit einer vertraulichen Szene am häuslichen Teetisch beginnt, in der eine vergebliche und zurückgewiesene Liebkosung den ganzen Wohnraum schließlich zusammenfallen lässt und ihn zur Unkenntlichkeit zerquetscht (Abb. 13). Den häuslichen Raum als Raum der Ungleichheit, der Krisen, der Herabwürdigung oder Unterdrückung haben vor allem feministische Künstlerinnen thematisiert, wie Birgit Jürgenssen mit der Zeichnung Hausfrau von 1973 (Abb. 14), die das Häusliche als Käfig ins Bild setzt. Das Bild zeigt einen Innenraum, der von einem Gitter umschlossen wird, an dem eine Frau irgendwie herauszuklettern versucht. Der Käfigraum ist ein einer Puppenstube ähnliches, miniaturisiertes Standardwohnzimmer, in dem die Rollen bereits verteilt sind. Ein Kind im Laufstall, zwei Kinder sich balgend und ein davon abgewandter Zeitung lesender und rauchender Mann im Fauteuil. Eine Beziehung zwischen Vater und Kindern wird nicht gezeigt, elterliche Fürsorge ist der Konvention gemäß allein Aufgabe der Mutter, Ehe- und Haus-Frau. Doch diese scheint einem eingesperrten Tier gleichend, auch mit einem Katzenkopf versehen, entkommen zu wollen. Jürgenssen verbindet Gitter, Haus und Körper zu einer feministischen Kritik des Privathaushalts als Tierhaltung der Frau. Die bedrückende Ruhe als Einsamkeit im Häuslichen kommt in dem Dokumentarfilm Bag de ens facader (Hinter den gleichen Fassaden, DK 1961) von Peter Weiss ins Bild. Gedreht in einer Kopenhagener Großsiedlung, werden Bewohner_innen zu ihrem Leben befragt und in diesem dokumentaristischen Setting ergeben sich mit den gesprochenen Sätzen Pausen, Atemund Augenbewegungen, Gesten und Körperhaltungen. Zusammengenommen bilden sie das Wohnen als porösen Raum – darunter beispielsweise

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Irene Nierhaus

13  Susanne Kutter, Die Zuckerdose, Filmstill, 2011

14  Birgit Jürgenssen, Hausfrau, Zeichnung, 1973

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Wohnschatten eine Frau, die trotz ihrer Antworten so still ist, dass ihre Vereinzelung und Vereinsamung beklemmend hochkommt: Sie habe kaum Kontakt zu den Nachbar_innen, sitze meist allein zu Hause, stricke und denke an nichts. Eine andere Bewohnerin spricht die stille Einsamkeit der Haus-Frauen und Mütter aus: „Ich habe mit vielen Müttern kleiner Kinder gesprochen […], wegen der hohen Mieten arbeiten die Männer doppelt – dann sind die Frauen alleine und ziemlich isoliert“. Oder Angelika L. aus dem Projekt „Frauen aus einem Mietshaus in Wedding“ erzählt auf die Frage, wie sie lebe: „Äußerst trostlos – Haushalt, Küche, Kinder, einkaufen, fernsehen – ab und zu ein Bier trinken jehn, andere Menschen sehn – Ende.“ (Weimann 1982, S. 86) Vom Porösen und der Passage zum Schwierigen, Krisenhaften und Gefährdenden des Wohnens am Beispiel der Altersdemenz berichtet der Schriftsteller Arno Geiger im Buch über seinen Vater, Der alte König in seinem Exil: „Es muss um das Jahr 2004 gewesen sein, da erkannte er plötzlich sein eigenes Haus nicht mehr […]. Lange Zeit weigerten wir uns zu akzeptieren, dass der Vater so etwas Selbstverständliches wie das eigene Haus vergessen hatte. […] Alle fünf Minuten sagte er, dass er zu Hause erwartet werde, das war nicht zum Aushalten. […] Zu einer anderen Gelegenheit antwortete er auf meine Frage, ob er seine eigenen Möbel nicht erkenne. ‚Doch jetzt erkenne ich sie! […] Du, das ist gar nicht so leicht, wie du denkst. Auch andere Leute haben solche Möbel. Man weiß nie.‘ […] In anderen Situationen war er weniger einsichtig und musterte mit argwöhnischer Genauigkeit alle Einzelheiten, bis er die Vermutung aufstellte, man habe die Zimmer so eingerichtet, um ihn hinters Licht zu führen.“ (Geiger 2010, S. 52–54) Im Zerfall der erlernten mentalen und psychischen Kohärenz tritt eine Porösität des Wohnens hervor, die doch eigentlich zur Substanz modernen Wohnens gehört und sie historisch begleitet und kommentiert. Und nicht von ungefähr begleitet der Kriminalroman als Genre die Entwicklung des modernen Wohnens seit dem 19. Jahrhundert. Er enthält oft das Motiv gewaltsamer oder heimlicher Überschreitungen der Schwelle zum Häuslichen – von daher könnte man auch anhand der immer und überall präsenten deutschen Fernsehkrimis über das oben als „Mischung aus Angst und Zufriedenheit“ genannte Wohnen nachdenken. In dieses Umfeld des Bedrohlichen gehört auch die Kategorie des Unheimlichen, die mit Freud als Verdrängung verstanden grundsätzlich dem Wohnen zugehörig ist, wie die ebenso das moderne Wohnen begleitenden Hor-

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Irene Nierhaus rorgeschichten. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass das in die Privatisierung- und Individualisierungsprozesse eingebettete Wohnen der Moderne seit 1800 als psychischer Raum mit emotionaler, affektiver und intimer Ereignishaftigkeit aufgeladen wird und damit ein ganzes Spektrum von Affekten und Emotionen ermöglicht. Zugleich wird Wohnen gerne über die Wohnsubjekte als ein rein Individuelles versprochen und von seinen historischen und gesellschaftlichen Gründen abgelöst und doch zugleich immer deutlicher sozial reguliert und verwaltet. Modernes Wohnen ist also paradox: ganz privat und individuell und zugleich von den Räumen der Politik, des Staats, der Industrie und Finanz bewohnt. Über Wohnen zu sprechen, ist komplizierter und komplexer als oft angenommen, denn dieser vermeintlich so bekannte und von einem Ich und Wir durchsetzte Raum bildet sich in einem enormen Feld von Diskursverläufen und -verschränkungen, einem Gefüge aus all jenen sozialen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Prozessen und Praktiken, die eine Gesellschaft konfigurieren. Wohnen ist damit eine zentrale Begründung modernen Regierens, Verwaltens der Bevölkerung und Normalisierens der Bewohnerschaft. Wohnen, das Domestische (als das eher Vorgesehene) und das Häusliche (als das eher Erfahren-Ereignishafte) werden nicht nur durch jene Verhältnisse ‚ein_gerichtet‘, sondern ‚richten‘ vor allem die Verhältnisse ‚ein‘ und machen sie zur ge- und erlebten Wirklichkeit. Dazu gehören die Vorstellung von Wohnen als Privatsphäre, als Bezugsraum des Subjekts und die normierten und ‚norm‘alisierten Formen seines Zusammenlebens, wie seine Individualisierung und das Organisieren von Lebensbedürfnissen, Erstellen von Lebensperspektiven, Durchstehen von Lebenskrisen oder Lebensabbrüchen. Hier liegen die Angelpunkte der Verschränkungen von großen Verheerungen und diskreten Desastern und dem Erlittenen und zu Erleidendem wie auch den darin enthaltenen Potenzialen zur Unterbrechung und Neuerung.

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Desaster sprechen und zeigen Zum häuslichen Leiden und den das Wohnen betreffenden Desastern und Verheerungen äußern sich verschiedene Fachdisziplinen. Von jenen mit Gestaltung und Ästhetischem Beschäftigten sind es die Architektur und die Künste, weniger die Kunstwissenschaft und noch weniger die kunstwissenschaftliche Wohnforschung, sodass ein Transdisziplinäres dafür existenziell ist. Zu berücksichtigen ist dabei die Beziehung von Gewalt, Gewaltförmigkeit und gängigen Wertstrukturen in Kultur, Kunst und Wissenschaft, wie sie Andrew Herscher am Beispiel von Untersuchungen zu Kriegszerstörungen im Kosovo problematisiert hat: „Destruction usually displaces architecture from architectural discourse, if not the domain of ‚culture‘ more generally […]. The underlying assumption, characteristic in humanist discourse, is that ‚culture‘ and ‚violence‘ stand in unmediated opposition to one another, that violence is always absent or aberrant in fully ‚cultural‘ formations. This assumption sponsors not only opposing valuations of culture and violence but also opposing epistemologies: while cultural phenomena are posited as complex and necessary to interpret, violence is apprehended as obvious and apparent.“ (Herscher 2010, S. 4) Solche Vorannahmen zu Kultur und Gewalt als einfacher Opposition und damit ein hergestelltes Verhältnis zwischen Aussprechen und Verschweigen gilt es im Kopf zu behalten. Es sind dabei strukturelle Fragen und Formen der Wissensproduktion berührt, denn wenn das Desaster und die unter dem Desaster Leidenden gezeigt werden, stellen sich Fragen, wie sie Susan Sontag in Das Leiden anderer betrachten (2003) im Zusammenhang mit den Medien und ganz grundsätzlich Gayatri Chakravorty Spivak in Can the Subaltern Speak? (2008) im Zuge von Fragen zur Identitätspolitik und postkolonialen Analysen zur Wissensproduktion aufgeworfen haben. Die Debatten der letzten Jahre zu Regimen der Sichtbarkeit oder der Nicht- und Unsichtbarkeit, zu Sprechen oder Nichtsprechen, Sprachlosigkeit etc. sind insbesondere in der postkolonialen Forschung (Kilomba 2008), der Geschlechterforschung oder der politischen Philosophie geführt worden. Also: Welche Bilder (nicht) zeigen? Wer spricht, wer spricht über wen, wer spricht nicht? Wie sprechen, ohne einfach nur ein jenseits vom ‚Wir‘ gelegenes, bloß ärmliches ‚Ihr‘ zu erzeugen und so z.B. eine eindimensionale Viktimisierung zu produzieren? Es gilt, das Handlungspotenzial von Betroffenen

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15  Berlin, Einblick in Wohnungen von der Wohnungs-Enquete der Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker, 1910

zu achten, wie es z.B. die Quilombo-Gemeinschaften an den Tag leg(t)en. In diesen Gemeinschaften in Brasilien leisteten geflüchtete afrikanische Sklav_innen seit dem 17. Jahrhundert Widerstand und bildeten gemeinsam mit Angehörigen anderer ethnischer Gruppen eigene Territorien, die heute eine Bezugsidentität für antirassistische Bewegungen darstellen (Minihuber 2003). Zugleich gilt es, nicht unter dem Vorzeichen der in Rede stehenden Handlungsmächtigkeit – die zugleich paradigmatischer Teil neoliberaler (Sozial-)Politik ist – übereifrig den Erschöpften immer eine Aktion abzuzwingen, ihnen den Status des Opfers schlicht zu verweigern, sie immer bloß auf den Weg zu schicken, sich selbst zu helfen, und Fremdhilfe nur als Rückfall in paternalistische Formen der Sozialhilfe auszuweisen. Doch eben auch nicht die Ambivalenz der sozialkritischen Darstellungen von Armut und Not zu unterschlagen, wie sie diese seit

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Wohnschatten dem 19. Jahrhundert identifizieren, klassifizieren, demografisch zählen, Standards festlegen und mit der neuen Evidenztechnik der Fotografie (Abb. 15) beleg(t)en. All das lieferte zwar Grundlagen für soziale ‚Verbesserungen‘ und den Kampf gegen Ungleichheit und für Teilhabe an einem versorgenden Sozialstaat, doch zugleich auch für Normierungen von Lebensentwürfen und das Harmonisieren von sozialen Gegensätzen, oft ohne diese grundsätzlich in Frage zu stellen. Seit dem 19. Jahrhundert wird in der Wohnbaupolitik, der Familienpolitik, der Gesundheitspolitik etc. das Bild des Elends gezeichnet, das durch Expert_innen der Fürsorge und Wohlfahrt die Ausformulierung von Sozialpolitik konturiert. Mittels institutioneller Interventionen und neuer Formen der Wissensproduktion wurde auf eine umfassende Integration gesetzt, die zugleich die Verselbstständigung der Bewohner_innen in die warenförmige Zirkulation vom Arbeits- bis zum Konsummarkt ansteuert. In der sich dazu vermehrenden Bildproduktion gilt es nach dem Blick zu fragen, mit dem die Abgebildeten zu ihren (über sie Werturteile produzierenden) Betrachter_innen in Beziehung gesetzt werden, wie es beispielsweise Vrääth Öhner anhand des sozialkritischen Films Housing Problems (1935) analysiert hat: „Er lässt die Leute zwar selbst zu Wort kommen, tut dies aber allein aus dem Grund, um zu beweisen, dass es keine Differenz gibt zwischen der Sichtweise der einfachen, arbeitenden Bevölkerung, der Sichtweise der Experten und der Sichtweise jener, die über die Verwendung öffentlicher Ressourcen entscheiden. Mit Realismus oder gar mit Dokumentation hat diese Strategie nur noch gemeinsam, dass als realistisch gilt, worüber Konsens besteht: [So gelingt es Housing Problems] ‚die Leidenschaften der Wissens-Klasse als öffentliche Meinung zu naturalisieren‘, allerdings um den Preis, ‚nicht Lösungen für Probleme, sondern Opfer für Experten‘ zu produzieren.“11 (Öhner 2007, S. 165, Zitat im Zitat John Hartley, Herv. i. Orig.) Dagegen richtete sich Peter Weiss’ bereits oben genannter Film Bag de ens facader, in dem er Bewohner_innen der Großwohnanlage zu ihrem Wohnen sprechen lässt und dies mit Einstellungen zur Architektur und den sie umgebenden Freiflächen kontrastiert. Während sich in den Gesprächen mit den Bewohner_innen eine Kritik am architektonischen Raum, der Gleichförmigkeit der Gebäude oder der kargen Freiflächen nur vermittelt wiederfindet, setzt Weiss sie in den Aufnahmen

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Vgl. zu dieser Problematik auch Bartl 2016.

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16  Martha Rosler, House Beautiful: Bringing the War Home, Fotomontageserie, 1967–1972

der Architektur dramatisiert und deutlich: Mit Blicken von ganz unten wächst die Architektur megaloman in die Höhe oder führen Blickfahrten entlang von Fenster- und Balkonreihen ins endlos Gleichförmige. Damit erzeugt Weiss zwei sich gegenseitig kommentierende Diskurse, einen der deutlichen Kritik an der Architektur und einen zurückhaltenderen, eher zuhörenden, weniger schnell Position beziehenden in den Gesprächen mit den Bewohner_innen. Martha Rosler zeigt in ihrer Fotomontageserie House Beautiful: Bringing the War Home (1967–1972, Abb. 16), die den Vietnamkrieg kritisiert, nicht nur das Leiden der Opfer, sondern sendet den Blick auch zurück in das Land, das den Krieg begonnen hatte. Sie spannt ein typisiertes US-amerikanisches Zuhause und die US-amerikanische Intervention in Vietnam im Bild zusammen, da tauchen die enthausende Kriegsmaschinerie, die

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17  Jacqueline Salmon, Boulevard Péreire, 4 aus der Serie Chambres précaires, 1996–1998

18  Wolfgang Tillmans, Andy on Baker Street, 1993

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19  Rula Halawani, Untitled XIII, 2002

Zerstörung, die Toten und das Leiden im domestischen Wohlstand auf, mitten in Bildern aus der Wohnzeitschrift House Beautiful. Die Frage, wie Darstellende und Dargestellte in Beziehung gesetzt sind, begleitet die Debatte um die Darstellbarkeit von Not und Gewalt und die dabei verfolgten Logiken des Blicks und Politiken des Bildes. So ist im Hinblick auf die Darstellbarkeit der Shoah und der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus seit den 1980er Jahren von Theoretiker_innen wie Künstler_innen wie Claude Lanzmann oder Georges Didi-Huberman über die Position von Bildern, Bildsorten und Bildlichkeit vom Foto bis zum Denkmal diskutiert worden. In der Denkmaldiskussion ist ein Abrücken von der Darstellung der menschlichen Figur nachzuverfolgen, die eine Distanzierung von den Opfer- und Widerstandsdenkmälern mit leidenden und heldischen Figuren war und die seit 1945 immer auch als (mimetische) Nichtdarstellbarkeit diskutiert wurde. Künstlerische Arbeiten, wie die von Jacqueline Salmon, verhandeln diesen darstellerischen Zwiespalt. In der fotografischen Serie Chambres précaires (Abb. 17) mit leeren Betten in Obdachlosenunterkünften zeigt sie in der Reihung, in der Anordnung von Bettwäsche und Decken, der Geometrie der Architektur und den Bettgestellen das Gerüstete der Institution und zugleich

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Wohnschatten die Absenz bzw. die Präsenz des Abwesenden: „Im Gegenüber zwischen dem BETRACHTENDEN und dem, was sich in der Anonymität eines leerstehenden Raumes zeigt, ähneln die Fotografien […] jenen cineastischen GROSSAUFNAHMEN, bei denen die Gesichter Landschaften werden, da plötzlich in der optischen Vergrößerung jede Ähnlichkeit schwindet, um nur noch die geheime oder aufdringliche Erregung der lebenden Oberfläche durchscheinen zu lassen“ (Virilio 2000, S. 20 f., Herv. i. Orig.) – die lebende Oberfläche als Repräsentant der Lebenden. Anders verfährt Wolfgang Tillmans in Andy on Baker Street (1993, Abb. 18). Hier gibt es eine porträtierte Person mit Namen und Adresse, der obdachlose Mann richtet den Blick mit der Spur eines Lächelns an die Betrachtenden, gibt den Blick zurück. Damit wird die gängige Alltagspraxis der Vermeidung des Blickkontakts mit wohnungslosen oder auch bettelnden Personen im öffentlichen Raum unterbrochen. Hingegen verbindet Rula Halawani in Untitled XIII (2002) Zeigen und Verwischen des Reellen (Abb. 19). Sie hat das Foto eines zerstörten Hauses in der West Bank mit seiner Bewohnerin als Negativ zum Positiv gemacht und damit das Abgebildete in eine gemusterte Schwarzweißfläche verwandelt, die erst allmählich im Blicken den Zutritt zum Dargestellten, zum Haus, seiner Zerstörung und der Bewohnerin zurückholt.

Unbehaustes Behausen Das Wort ‚unbehaust‘ klingt nach Heidegger, der in seiner sprachbezogenen Philosophie – und das schätzen die Dekonstruktivist_innen an ihm – Fixierungen in einer spiralförmigen Bewegung aufschiebt. Allerdings evoziert er in seinen entzeitlichten Bildwelten Urgründiges, wie in dem die Architekt_innen stark affizierenden Vortragstext „Bauen Wohnen Denken“ aus den Planungsjahren des Wiederaufbaus. Da wird das Bild eines Hauses hochgerufen, ein Bauernhaus mit Satteldach (sein eigenes), Herrgottswinkel, gemeinsamer Tisch, die heiligen Plätze von Kindbett und Totenbaum; es ist ein gegen Modernisierung und Technik gedachtes Haus, die er als wesenhaft unheimisch verwirft (Heidegger 1991). – Da tritt eine Begründung im philosophischen Systemdenken zutage, die Wohnen im Ahistorischen und Naturgegebenen versenkt. Die darin enthaltene Verschränkung von Haus, Bewohner_innen und Landschaft vermittelt auch die Bindung von

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Irene Nierhaus Territorium und Bevölkerung, wie sie zur Grundlage des Wohnens der modernen Nationalstaaten wurde. In diesem Wohnen im ‚Wir‘ wurde und wird Einhausung, Domestikation realisiert. Es ist eine Art Container, der enthält und ent_hält, der inkludiert und exkludiert. So befindet Christina von Braun die Sesshaftigkeit in diesem Zugehörigkeitsdispositiv als gewaltförmig, wenn sie schreibt, dass die Epoche der Moderne die Welt in eine Wohnstube verwandelt habe, in der die Fremdheit im eigenen, nun unendlich erweiterten und okzidental positionierten Ich hergestellt würde und mit der „Fabrikation des Fremden außen“ als zu Vernichtendes einherginge (Braun 1987, S. 38). Also das Tilgen in Vertreibungs- und Vernichtungspolitiken, wie der Judenverfolgung, ihrer – und anderer zur Vernichtung Preisgegebener – ‚Konzentration‘ in Lagern, wie auch in heutigen Territorialkonflikten in Syrien oder dem Sudan oder … Damit sind immer Zerstörung oder Gewinnung von Wohnraum verbunden, so waren in Wien durch Judenverfolgung und Arisierung ab 1938 ca. 59.000 Wohnungen ‚frei‘ geworden, was fast die gleiche Zahl an Wohnungen ist, die das Rote Wien in der Zwischenkriegszeit mühevoll als Sozialwohnbau errichtet hatte (ca. 64.000). Und Kriege beinhalten auch Siedlungsprogramme, wie die Kolonialisierung Libyens und Äthiopiens im italienischen Faschismus oder die Planungen zum sogenannten „Generalplan Ost“ im deutschen Faschismus, der für eine besiegte Sowjetunion vorgesehen war. Siedlungspolitik als territoriale Einnahme und Befestigung, zu der heute unter anderem auch die israelische Siedlungspolitik oder in kleinerem Ausmaß saudische Planungen zu Wirtschafts- und Tourismusressorts gerade in von Schiit_innen bewohnten Regionen gehören. Das Behausen der Bevölkerung wurde seit dem 19. Jahrhundert von Fragen wie „Wie sollen wir bauen und wie sollen wir wohnen?“ begleitet. So schreibt Hermann Muthesius 1902, dass im Unterschied zu den Engländern „der Deutsche kein eigentliches Haus [hat]. Er sucht in einer Unstetigkeit, die noch etwas vom Nomadenleben zu haben scheint, im fabrikmässig hergestellten Mietshaus seine Unterkunft.“ (Muthesius 1902, S. 14) Das Zitat zeigt einmal mehr, dass Formen des Wohnens mit der Formierung von Bevölkerung identifiziert wurden, ein in ideologisch wechselnden Reden immer wieder hervorgebrachter Zusammenhang. Die Wohnbaupolitik hat dabei das Doppelspiel zwischen Behausen und ‚Ent_halten‘ entwickelt. ‚Ent_halten‘ als Einnehmen und Einschließen und ‚Ent_halten‘ als Heraushalten, als Trennmodus in der sozialen und räumlichen Segregation von ‚unteren‘ oder minoritären sozialen, ethni-

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Wohnschatten schen oder religiösen Schichten, z.B. in riesigen, infrastrukturschwachen Stadtrandsiedlungen. Eine solche Wohnbaupolitik wurde immer wieder problematisiert, etwa wenn Alexander Mitscherlich den Wohnungswiederaufbau in seinem Text „Von der Unmöglichkeit, zu Hause zu sein“ als „größte Fehlunternehmung“ bezeichnete, in der die „Wohnleidenden“ der „Front der Großunternehmer (die sich gerne ‚gemeinnützig‘ nennen) gegenüber fast wehrlos“ seien (Mitscherlich 1965, S. 159). Und doch wurde damit Wohnraum für breite Bevölkerungsschichten erstellt, wenn das auch den nationalstaatlichen und marktwirtschaftlichen Effekt einer Art Binnenkolonialisierung hatte. Es ist Integration in das fordistisch-kapitalistische Domestische. Es ist eine Domestikation der mobilen, unsteten, unbehausten, oft als geistig wie körperlich verwahrlost beschriebenen und kriminalisierten ‚Massen‘ und der von ihnen ausgehenden Gefahr und Bedrohung für Sicherheit, Gesundheit und Besitzwert. Heute ist das unter anderem das Sprechen vom sogenannten Sozialbetrug, von den ‚bloßen‘ Wirtschaftsflüchtlingen oder vom Missbrauch ‚unseres‘ Kindergeldes, mit dem sich die „transnationalen Mütter“ der migrantischen Care-Arbeit in ihren Herkunftsländern ein vermeintlich luxuriöses Leben leisteten.12 Behausungsprozesse sind begleitet von Vorstellungen und Reden über die ‚vaterlandslosen Gesellen‘ der proletarischen Massen, die ‚Heimatlosigkeit‘ des ‚wandernden Juden‘ oder die ‚heimatlosen Nomaden‘ der Sinti und Roma, die alle als Verursacher_innen von Krisen und gesellschaftlicher Instabilität ausgemacht wurden. In der Kritik solcher Maximen von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit wurde in Philosophie, Kunst und Kultur oft mit dem Begehren nach Entzug von der domestischen Katastralisierung reagiert und auf das Vagabundieren, Unbehaustsein und das Nomadisieren als wahrhaftigere Existenzform gesetzt – so bei Charles Baudelaire, Henri Lefebvre oder Irit Rogoff (Rogoff 2000). Da schreibt Adorno unter dem Eindruck von Shoah und Weltkrieg: „Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. […] es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein.“ (Adorno 2012, S. 42f.) Dieses Nicht-bei-sich-selber-zu-Hause-Sein als reflexives Unbehaustsein neigt jedoch dazu, das Häusliche abzuwerten oder gar zu löschen, weil es im Regime des Domestischen von Politik und

12 Zu den Bedingungen und Formen der migrantischen Care-Arbeit, die insbesondere Arbeit von Frauen als „transnationale Müttern“ ist, vgl. Lutz/Amelina 2017.

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Irene Nierhaus Kapital zugerichtet und zugleich als rein privat mythisiert ist. Diese Befreiungsfantasie vom Häuslichen und Domestischen reproduziert dabei jene Dichotomie der bürgerlich-kapitalistischen Moderne, die die gesellschaftlichen Räume nach privat/individuell/Wohnen versus öffentlich/ allgemein/Stadt bzw. Staat aufteilt. Und im Abwehrgestus des Häuslichen liegt oft zugleich die Abwehr eines Weiblichen und Mütterlichen, das diesem Raum zugeschrieben ist – d.h., die im Wohnen verhandelten Geschlechterdispositive werden übersehen, neutralisiert oder mit patriarchaler Geste radikal getilgt. In diese Aufteilung haben Feminist_innen interveniert und den Zusammenhang von Wohnen und Geschlecht auf vielfache Weise thematisiert, wie unter anderem in der Forderung, privat geleistete Arbeit der Frauen in Haushalt oder Pflege als Lohnarbeit einzustufen oder Prozesse der Körperlichkeit selbst zu bestimmen. Behaustes und Unbehaustes haben im europäischen Kontext lange Diskurskonventionen, die hier einem Spiegelgrund gleich nur aufblitzen können. Das Unbehauste ist Schatten und Begleitfigur des Wohnens, das trotz seiner Widersprüchlichkeit und Ambivalenz dennoch ein Wohnrecht braucht, das vielleicht nicht auf den ‚glücklichen‘ Raum Anspruch erhebt, doch auf einen – wie auch immer dieser verstanden wird – sozial und individuell geglückten Raum jenseits der Normalisierung des Prekären.

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Wohnschatten Literatur Adorno 2012 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012. Agamben 2002 Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (1995), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. Agamben 2004 Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand (Homo Sacer II.1) (2003), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. Alleg 1958 Alleg, Henri: Die Folter, übers. v. Hede von Ullmann, mit Geleitworten von Jean-Paul Sartre und Eugen Kogon, Wien u. a.: Desch 1958. Bachelard 1987 Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes (1957), Frankfurt a. M.: Fischer 1987. Barbey 1984 Barbey, Gilles: WohnHaft. Essay über die innere Geschichte der Massenwohnung, Braunschweig u. a.: Vieweg 1984 (Bauwelt Fundamente, Bd. 67). Bartl 2016 Bartl, Angelika: Beweisstück Matratze. Dokumentarische Blicke ins Wohnen der Anderen, in: Irene Nierhaus; Kathrin Heinz (Hg.): Matratze/Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur, Bielefeld: transcript 2016 (wohnen +/− ausstellen, Bd. 3), S. 291–307. Braun 1987 Braun, Christina von: Der Einbruch der Wohnstube in die Fremde, Bern: Benteli 1987. Europäische Union 2010 Europäische Union (Hg.): Wohnverhältnisse von Roma und Travellern in der Europäischen Union. Vergleichender Bericht, Oktober 2009, Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften 2010, https://fra.europa. eu/de/publication/2012/wohnverhaltnisse-von-roma-und-travellern-der-europaischen-union (16.8.2019).

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Flusser 1994 Flusser, Vilém: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, in: ders.: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Bensheim: Bollmann 1994, S. 15–30. Foucault 1990 Foucault, Michel: Andere Räume (1967), in: Karheinz Barck et al. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1990, S. 34–46. Geiger 2010 Geiger, Arno: Der alte König in seinem Exil, München: Hanser 2010. Greiner/Kramer 2013 Greiner, Bettina; Alan Kramer (Hg): Die Welt der Lager. Zur ‚Erfolgsgeschichte‘ einer Institution, Hamburg: Hamburger Edition 2013. Härle et al. 2015 Härle, Andrea (Hg.): Romane Thana. Orte der Roma und Sinti, Ausst.-Kat. Wien Museum, Wien: Czernin Verlag 2015. Heidegger 1991 Heidegger, Martin: Bauen Wohnen Denken (1951), in: Mensch und Raum. Das Darmstädter Gespräch 1951, Braunschweig: Vieweg 1991, S. 88–102 (Bauwelt Fundamente, Bd. 94). Herscher 2010 Herscher, Andrew: Violence Taking Place. The Architecture of the Kosovo Conflict, Stanford: University Press 2010. Horvath 2013 Horvath, Stefan: Atsinganos. Die Oberwarter Roma und ihre Siedlungen, Oberwart: edition lex liszt 12 2013. Kilomba 2008 Kilomba, Grada: Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism, Münster: Unrast Verlag 2008. Lutz/Amelina 2017 Lutz, Helma; Anna Amelina: Gender, Migration, Transnationalisierung. Eine intersektionale Einführung, Bielefeld: transcript 2017. Mendini 1984 Mendini, Alessandro: Wohnzynismus, in: Freibeuter, Nr. 22: „Befreites Wohnen“, 1984.

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Film Bag de ens facader (Peter Weiss, DK 1961). Housing Problems (Edgar Anstey, Arthur Elton, UK 1935).

Abbildungsnachweise Abb. 1: Senator für das Bauwesen 1959.

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Wohnschatten Abb. 2, 3, 4 (Biennale in Venedig 2011), 5 (in der Biblioteca Marciana, Venedig), 11, 13, 14, 16: aus dem Archiv der Autorin. Abb. 6, 8, 18, 19: Fotos © Irene Nierhaus. Abb. 7, 9, 10: Fotos © Antonio Volonnino. Abb. 12: Fotografiert in der Ausstellung „Geteilte Geschichte: Viyana – Beč – Wien“, Wien Museum 2017, Foto © Irene Nierhaus. Abb. 15: Asmus, Gesine (Hg.): Hinterhof, Keller und Mansarde. Einblicke in das Berliner Wohnungselend 1901–1920, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1982, S. 116. Abb. 17: Virilio, Paul; Jaqueline Salmon: Chambres précaires, Heidelberg: Kehrer 2000, S. 45.

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Johanna Hartmann, Kathrin Heinz, Irene Nierhaus Zum Buch

Zerstörtes Wohnen in kriegerischen Konflikten, verlorenes Wohnen in Migrationen, temporäres Wohnen in Obdach- und Wohnungslosigkeit, prekäres Wohnen in ökonomischer, emotionaler und körperlicher Unversorgtheit, ängstliches Wohnen in Subjektkrisen – zum Wohnen, gedacht als Existenz und Heim/at, gehört immer auch ein unbehaustes Wohnen. Über Wohnen wird oft doppelt positiv als Da-Seiendes und Gutes gesprochen: Wohnen ist da. Es ist gebaut, es ist ausgestattet, es existiert durch Häuser, Wohnungen, Möbel. Seine Geschichte wird durch seinen Bestand, seine Dinglichkeit in der Wissenschaft bis hin zur persönlichen Erinnerung erzählt. Wohnen erscheint als positivistisch schlicht Gegebenes. Und Wohnen wird gerne als positiv im Sinne von gut, als sichernder und glücklicher Raum eines Selbst, einer Familien-, Status- oder Territorialzugehörigkeit beschrieben. Zu diesem vermeintlich sicheren Wohnen gehört jedoch auch ein unbehaustes Wohnen von den großen Verheerungen bis zu heimlichen und diskreten Schrecknissen. Unbehaust Wohnen schließt das Konflikthafte im Behausten ein und attackiert und demoliert es zugleich. Unbehaust Wohnen ist ein stetiger Teil der Geschichte und auch Theorie des Wohnens. Es wird vergessen, nicht besprochen, verborgen oder zum Diskurs von Spezialist_innen des Sozialen und zugleich ist es – wie in Kunst und Theorie – auch ein besonders sichtbar gemachter Teil des Wohnens, denn in der Wohnkritik wird es zur gesellschaftlichen Gegenrede, manchmal zum gewollt Nichtidentischen und Instabilen, zur Flucht aus einer als desaströs befundenen Zuflucht. In diesem Entgrenzen des Behausten wohnt oft auch eine Rhetorik inne, die einen Auszug ins Befreite verspricht. Der Komplexität des Themas entspricht eine transdisziplinär gedachte Versammlung verschiedener Ebenen eines Unbehausten, die in den drei Teilen des Buches

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Zum Buch „Verheerende und diskrete Desaster“, „Subjektkrisen und instabile Räume“ und „Strittige Territorien“ aus kunst- und kulturwissenschaftlicher, philosophischer, historischer, ethnografischer, architekturtheoretischer, psychiatrischer sowie künstlerischer Perspektive thematisiert werden.

I. Verheerende und diskrete Desaster Der erste Teil des Buches, „Verheerende und diskrete Desaster“, wird von einem Text eröffnet, der Wohnen als von Macht durchzogenes politisches Handlungsfeld in den Verfolgungsstrategien der Nationalsozialist_innen ab 1938 aufzeigt. Mit dem Fokus auf Wien zeigt B i rg i t Jo h l e r jene Maßnahmen auf, mit denen Jüdinnen und Juden aus ihren Wohnungen vertrieben und dazu gezwungen wurden, in sogenannten „Sammelwohnungen“ zusammenzuziehen. Johler benennt die von der Mehrheitsbevölkerung getragenen Praktiken der Vertreibung und Beraubung, die das doppelte Ziel einer Wohnraumbeschaffung für die nichtjüdische Bevölkerung und einer „Konzentration“ und Überwachung der jüdischen Stadtbewohner_innen hatte. Was diese Vertreibungen und Beraubungen für die Verfolgten bedeutete, lässt sich aus erhalten gebliebenen Tagebuchaufzeichnungen erahnen. Johler lässt jene Menschen zu Wort kommen, denen die Möglichkeit genommen wurde, die „grundlegenden psychologischen und physiologischen Wohnbedürfnisse wie Schlaf, Ruhe, Schutz, Sicherheit, Privatsphäre“ zu stillen. Gleichwohl versuchten sie, diese immer prekärer werdenden Unterkünfte zu „beheimaten“ und sie sich als Wohnraum trotz allem anzueignen. Johler behandelt das Hineinreichen der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen in den intimen Raum des Wohnens bzw. macht an ausgewählten Beispielen deutlich, welche politische Bedeutsamkeit dem Wohnraum und seinen alltäglichen Gegenständen zukommt. Sie betont, dass dieser politische Zugriff aufs Private nicht hinter verschlossenen Türen, sondern vor den Augen vieler stattfand, von denen etliche von den „frei gewordenen“ Wohnungen und Dingen profitierten. Konträr zu den Wohnräumen, die ihre Funktion als schützendes Zuhause für die in ihnen Lebenden verloren haben, stehen jene des nächsten Beitrags: B u rc u D o g r a m a c i diskutiert Flucht- und Schutzarchitekturen,

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emergency shelters, als immanente Bauaufgabe der Moderne. In ihren Fragen nach den Anforderungen an ein Wohnen in Zeiten großer Umbrüche, ausgelöst etwa durch ökonomische Krisen oder kriegerische Konflikte, zeigt die Autorin erkenntnisreiche Verbindungslinien auf, die sich spannen lassen zwischen den ephemeren Krisenarchitekturen für ein Interimswohnen auf der Flucht und den Bauten für ein modernes Nomadentum, das auf Veränderungen im Lebensalltag möglichst flexibel reagieren will. Dogramaci analysiert die Koinzidenz von modernistischen Ideen für einen funktionalisierten Wohnbau einerseits und notwendigen Entwicklungen diverser Schutz- und Notunterkünfte andererseits anhand verschiedener Beispiele, von Wohnkonzepten, die von einer „grundsätzlichen Instabilität des Daseins“ ausgingen (Martin Wagners Wachsendes Haus und Igloo Houses), über strategisch einsetzbare Bauten, die das Wohnen von der Notwendigkeit des Grundbesitzes lösen sollten (Buckminster Fullers Dymaxion-Modell), bis hin zu Notbehausungen wie denen Norman Nissens, die zum Einsatz kamen, als räumliche Verortung und wohnräumlicher Besitz als Folge von Kriegszerstörungen verloren gegangen waren. Ein weiterer Fokus liegt auf der Umnutzung bereits vorhandener Bauten wie im Fall von Lagerarchitekturen, wobei die Autorin zu der von ihr angestrebten „alternativen Architektur- und Kunstgeschichte der emergency shelters“ auch künstlerische Arbeiten wie die Lagerfotografien von Ré Soupault und Madame d’Ora oder die Multimedia-Arbeit der Künstlerin Michaela Melián zum Lager Föhrenwald heranzieht. Der Beitrag von A n n a S t e i g e m a n n und A m e r D a r we e s h ermöglicht gewissermaßen eine Verbindung zwischen den beiden vorangegangenen Beiträgen. Hier werden Krisenarchitekturen und Notunterkünfte aus der Sicht ihrer Bewohner_innen betrachtet und die Frage gestellt, ob und wie diese Räume als Zuhause wahrgenommen werden können. In einer ethnografisch angelegten Studie untersuchen die Autor_innen die Wohnsituation von syrischen Geflüchteten in temporären Containersiedlungen in Berlin und im Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien, wobei ihr Blick im Speziellen auf die räumlichen Praktiken und Aneignungsstrategien der geflüchteten Menschen im Umgang mit den ihnen zur Verfügung stehenden Behausungen und den an sie geknüpften Verhaltensmaßregeln gerichtet ist. Sich in den temporären Unterkünften einzurichten, sich darin ein Zuhause zu schaffen, bedeutet für die dort Lebenden die Möglichkeit, emotionale Beziehungen zu ihrem neuen sozialräumlichen Umfeld aufbauen zu können. Dafür erweisen sich selbstbestimmte Nut-

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Zum Buch zungsstrategien und Umgangsweisen mit Raum und Alltagsdingen als essentiell. So wird beschrieben, wie die Bewohner_innen des riesigen Flüchtlingscamps Zaatari durch die selbstorganisierte Umgestaltung der räumlichen Anordnung von Zelten und Containern dem ursprünglich rasterförmig aufgebauten Camp die sozialräumliche Struktur einer typischen syrischen Stadt mit Wohnquartieren, Marktstraßen und öffentlichen Institutionen gegeben haben. In den Berliner Flüchtlingsunterkünften sind räumliche Veränderungen, die den Bewohner_innen das Gefühl eines (Übergangs-)Zuhauses vermitteln könnten, weitaus weniger leicht umzusetzen. Restriktive Vorgaben wie das Verbot einer eigenen Möblierung und strenge Kontrollen machen die Prozesse eines home-making deutlich schwieriger. Steigemann und Darweesh beschreiben jedoch, wie auch hier Möbel verschoben, Räume mit neuen Funktionen belegt, mithilfe von Textilien visuelle Barrieren errichtet, sogar Gärten angelegt werden, um das wenige zur Verfügung Stehende sowohl materiell als auch emotional als Zuhause erlebbar zu machen. M e h m e t E m i r s Beitrag, in dem der Autor von eigenen biografischen Erfahrungen des Un/Behaustseins berichtet, schließt an solche Beschreibungen an und macht deutlich, wie das gleichzeitig temporäre und doch langfristige Exil-Zuhause nicht nur aus räumlichen Aneignungspraktiken entsteht, sondern auch aus bestimmten Bildern und Beschreibungen, die davon produziert werden. In Form von drei Briefen, zwei an seinen Vater adressiert, einer an seine Mutter, lässt Emir uns teilhaben an den Schwierigkeiten zweier aus der Türkei nach Österreich eingewanderter Generationen sowie an den darüber in der eigenen Familie produzierten Narrative, die insbesondere Fragen des Wohnens in der neuen Heimat gleichsam schillernd illustrierten und dennoch vage ließen. Emirs Vater, der 1964 als „Gastarbeiter“ nach Wien kam, schickte sorgfältig inszenierte Selbstporträts „nach Hause“, deren Kulissen aus Rosengärten und Wiener Sehenswürdigkeiten nichts von den Baracken der Asphaltfabrik verrieten, die seine Unterkünfte als Straßenarbeiter waren. Als Emir 1981 seinem Vater nach Wien folgte, wurde er mit dieser gänzlich unerwarteten Prekarität des Behaustseins sowie mit der Herausforderung konfrontiert, die (nicht nur) familiale Erzählung eines besseren Lebens in der Emigration nun entweder selbst fortzuführen oder zu verändern. Zwischen seine hier abgedruckten Briefe, die sich nicht nur als persönliche Botschaften an die Mitglieder einer Familie richten, sondern auch als allgemeinere sozial- und wirtschaftspolitisch interessierte Auseinandersetzung mit den Lebenswirklichkeiten von

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Arbeitsmigration zu lesen sind, sind eine Reihe von Fotografien gesetzt, die einerseits die Inszenierungen des Vaters als glücklich im Westen angekommenen Stadtbewohner der 1960er Jahre vorführen und diese farbintensiven Fantasien andererseits mit schwarzweißen Dokumentationen des arbeitsmigrantischen Alltags im Wien der 1980er Jahre konfrontieren. Wie auch der Text von Birgit Johler behandelt der Beitrag von A n n e t t e T i e t e n b e rg zerstörte Wohn- und Lebensräume von als Jüdinnen und Juden kategorisierten in Wien beheimateten Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus, doch nähert sich die Autorin dieser Thematik aus einer anderen Perspektive. Sie widmet sich Interieurfotografien aus dem Nachlass des Fotografen Robert Haas, der im Auftrag von Vertriebenen deren unfreiwillig verlassenen Wohnräume nach ihrer Flucht für sie aufgenommen hatte. Beispielgebend befasst sie sich mit zwei unterschiedlichen Wiener Innenräumen und den Lebensumständen der Bewohner_innen: Zum einen betrachtet sie die 1937 von Haas fotografierte großbürgerliche Wohnung von Hilde Blumberger und Jacques Groag, die im Stil der modernen Wiener Wohnkultur eingerichtet ist, und zum anderen Wohnräume von Louisa und Gustav Stern, die einer konservativeren, hochherrschaftlichen Wohnkultur verpflichtet sind – hier hatte Haas die Bilder kurz nach der Flucht der Sterns im Frühsommer 1938 nach Prag aufgenommen. Mittels eines Briefes hatte Louisa Stern aus der noch nahen Erinnerung Haas durch ihre Wohnräume geleitet, in denen alles an seinem vertrauten Platz zurückgelassen worden war, vermutlich mit der Hoffnung, dorthin zurückkommen zu können. Die fotografierten „Wohnräume im Wartezustand“ verraten nichts von der komplexen Erzählung, die die Autorin freilegt, sie verweisen nicht auf die Geschichte der vertriebenen, enteigneten, ihrer Heimat und ihrer Existenz beraubten Bewohner_innen und auch nicht auf die des Fotografen, der als Jude wenig später im Jahr 1938 selbst nach England emigrieren musste. Haas’ Fotos waren zuallererst Dokumente eines in Wien eingerichteten Lebens, Erinnerungsbilder, die „von dem Versuch, das Absente in Präsenz zu überführen“, berichten. Dass die menschenleeren Interieurs nachträglich geradezu zu Zeugnissen eines ausgelöschten Lebens(raums) wurden, „[d]ass es sich bei den von Haas eingefangenen Schattenwesen der Fotografie um die gespenstische Wiederauferstehung von etwas endgültig Verlorenem handelte“, war zum Zeitpunkt ihrer Entstehung für die Bewohner_innen nicht absehbar. Der Text von H e n n i n g B l e yl , der den ersten Teil beschließt, schlägt einen Bogen zurück zu den bereits thematisierten Verfolgungs- und Be-

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Zum Buch raubungstaktiken in der Wohnungspolitik der Nationalsozialist_innen. Bleyl berichtet ebenso wie Johler und Tietenberg über eine besonders effektiv umgesetzte und über lange Zeit ebenso effektiv beschwiegene Praxis des Unbehaust-Machens in der Zeit des NS. Verbunden mit der Vertreibung und Deportation von Jüdinnen und Juden wurde die sogenannte „Arisierung“ ihres Besitzes vorgenommen, ein logistisch umfassend organisierter Raub des gesamten Hausrates, der eingesammelt und der „Verwertung“ zugeführt, also der nicht-jüdischen Bevölkerung kostenfrei zur Verfügung gestellt oder zu einem günstigen Preis verkauft wurde. In detaillierten Recherchen arbeitet Bleyl die Rolle des in Bremen beheimateten Speditionsunternehmens Kühne + Nagel heraus, das diesen Möbelraub logistisch mit verantwortete. Bleyls Text, der die materielle Dimension der Verfolgung sichtbar werden lässt, macht den an Jüdinnen und Juden begangenen Massenmord als Massenraubmord verständlich und zeigt auf, dass „der gewaltige Umfang der vielen großen und kleinen Profitgelegenheiten aufgrund von ‚Arisierungs‘-Vorgängen“ wesentliche „Bedeutung für die Herrschaftsstabilisierung des Nationalsozialismus“ hatte. Der Verbleib der unzähligen geraubten Wohngegenstände ist heute für die Familiengeschichten sowohl jüdischer Überlebender als auch der Nachfahr_innen der Tätergeneration bedeutsam. Für die einen bedeutet die „Verwertung“ jüdischen Eigentums ein schmerzhaftes Fehlen von Erinnerungsstücken, für die anderen eine Erbschaft, deren Kontext zumeist familienbiografisch tabuisiert wurde und die nur langsam in die Aufarbeitung eigener familiärer Beteiligungen an nationalsozialistischen Verbrechen einbezogen wird.

II. Subjektkrisen und instabile Räume Der zweite Teil, „Subjektkrisen und instabile Räume“, beginnt mit A n n Va r l e ys Text, der das Nachdenken über die Verbundenheiten des Selbst mit dem Zuhause auf zwei spannend miteinander verknüpften Reflexionsebenen fortsetzt: In deutlich unterschiedlichen, einander abwechselnden und im Dialog miteinander stehenden Textsorten denkt die Autorin erstens über die Bedeutsamkeit des Zuhauses für ihren an Demenz erkrankten Vater nach, dem mit seinem notwendig gewordenen Auszug aus

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diesem räumlich wie emotional sinnstiftenden Ort wesentliche physische wie psychische Stabilitäten abhanden gekommen sind, und entwickelt mit Blick auf diese in ihrer familiären Situation so unmittelbar sichtbar werdenden Bedingtheiten von Subjekt und Zuhause zweitens eine theoriegeleitete Diskussion, in der sie den materiellen Raum des Zuhauses als wertvolle Unterstützung für individuelle und kollektive Narrative von Identität aufzeigt. Dabei argumentiert sie gegen jene insbesondere auch von weißen Feministinnen geäußerten Kritiken am Zuhause als entpolitisierendem Raum und spricht sich für ein differenzierteres Verständnis des Zuhauses in seinen Ambiguitäten aus, die einen Halt gebenden, Subjektivierung ermöglichenden Raum umfassen. Mit Bezug auf die Arbeiten von unter anderem Iris Marion Young, Seyla Benhabib, bell hooks und insbesondere Jessica Benjamin plädiert sie für „eine konstruktivere Antwort auf die entpolitisierenden und ausschließenden Aspekte des Zuhauses“, in der „nicht die Werte des Häuslichen zurückzuweisen, sondern diese Werte für alle einzufordern“ sind. Der Wert des Zuhauses, auch in diesem Fall eines konkreten Ortes, eines Hauses, das als Familienheim fungiert hat und nun aufgegeben werden muss, spielt auch in dem folgenden, per E-Mail geführten Gespräch von K l a a s D i e r k s und M i c h a e l a S c h ä u b l e eine zentrale Rolle. Der Ausgangspunkt der schriftlichen Unterhaltung zwischen dem Regisseur und der Sozialanthropologin ist ein Kurzfilm von Dierks, der die Vorbereitung des Verkaufs seines Elternhauses und einen damit verbundenen Streit zwischen ihm und seiner Mutter thematisiert. In einem Prolog und fünf Akten werden in diesem Film verschiedene Standbilder und knappe Kameraschwenks, die ein halb ausgeräumtes, gewöhnliches Einfamilienhaus vorführen, zu einer Tonspur montiert, in der sich die Mitschnitte des telefonisch geführten Streits zwischen Sohn und Mutter mit Ausschnitten aus zwei musikalischen Werken abwechseln. Der kurze autobiografische Familienfilm, der in berührender Weise die schwierige Verbundenheit der Mutter und auch des Sohnes mit dem Haus wie auch miteinander zeigt, eröffnet in der E-Mail-Korrespondenz über seine Komposition und Machart sowie seine Rezeption ein Reflektieren über das Erzählen intimer und doch uns allen (unangenehm) bekannter familialer Wohn-Geschichten, die beklemmende Gemeinsamkeiten mit uns als Zuschauer_innen herstellen und uns dann doch auch wieder in die erträglichere Differenz entlassen. Dabei wird das Haus als Familienwohnraum zugleich als intimer Raum einer individuellen Auseinandersetzung zwischen Sohn und

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Zum Buch Mutter präsentiert sowie als zentrales Gefüge politisch zu denkender Narrative, die von unter anderem sozialen, finanziellen, moralischen und emotionalen Werten des (Familien-)Hauses sprechen. Die Beziehung des wohnenden Subjekts zu seinem Haus diskutiert anhand eines gänzlich anderen Materials auch der nächste Beitrag. M i c h a l i s Va l a o u r i s ’ Studie einer kleinen Serie von vier Stickbüchern aus dem 17. Jahrhundert untersucht Narrative einer Performance des Einhausens und Behaustseins. Valaouris macht die Handarbeitsbücher als frühe Medien einer Wohnlehre verständlich, in denen die Leserin durch die dekorative Nadelarbeit in den stetig sich wiederholenden Akten eines Häuslichmachens angeleitet wird, die eine immer wieder und weiter fortzusetzende Reaffirmation körperlicher und geistiger Verbundenheit mit dem Raum des Wohnens verlangt. Die moralisierenden Texte, die den Stickanleitungen beigefügt sind, halten zum Fleiß an und mahnen vor Müßiggang, sie sprechen von Jungfrauen, die Muscheln und Schnecken gleich im Innern ihrer Behausungen bleiben, Körper wie Geist an tugendhaften Aufgaben schulen und sich den lockenden Lastern wie Faulheit oder sexueller Lust versagen. Valaouris arbeitet heraus, wie im Begriff des „Frauenzimmers“, der sich in diesen Texten findet, sich Raum und Subjekt in essentialistischen Vorstellungen einer immanenten Verbindung von Innenraum und Weiblichkeit überblenden. Die Kupferstiche auf den Titelseiten der vier Stickbücher illustrieren das Ideal der handarbeitenden Frau, wobei die dargestellten weiblichen Figuren, die sich eifrig mit den Materialien und Werkzeugen einer dekorativen Hausverschönerung befassen, immer auch konfrontiert sind mit den zu jeder Zeit vorhandenen Gefahren einer Enthausung, die bei lasterhaftem Verhalten droht. Zur Überwachung der patriarchalen Geschlechterrollen und Raumzuweisungen ist, wie Valaouris aufzeigt, ein göttliches Auge eingesetzt, unter dessen wachsamem Blick die Bildbetrachterin und Leserin lernt, sich selbst im eigenen Tun zu kontrollieren und die Grenzen der Häuslichkeit nicht zu übertreten. Die Verknüpfung zum folgenden Beitrag, in dem sich A s t ri d S i lv i a S c h ö n h age n mit den Arbeiten der US-amerikanischen Künstlerin und Umweltaktivistin Mary Mattingly befasst, liegt in der Verbindung von Körper und Behausung. Mattinglys Wearable Homes (2004–09) und Wearable Portable Architecture (2011), die als utopische Reaktion auf menschenfeindliche Lebens- und Umweltbedingungen in einer postapokalyptischen Zukunft zu verstehen sind, formulieren ein Wohnen, das mobil statt statisch und körper- statt ortsbezogen funktionieren soll. Schönhagen stellt Mattinglys tex-

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tile Entwürfe, die zugleich Kleidungsstücke und temporäre Behausungen sind, in den Kontext tragbarer Architekturen anderer Künstler_innen und körpernaher Minimalwohneinheiten verschiedener Architekt_innen und Designer_innen. Dabei geht sie insbesondere auf die visuelle Inszenierung der Arbeiten Mattinglys ein, in denen die Künstlerin „das postmoderne Theorem des nomadischen Subjekts mit der für sie besonders virulenten Thematik des Klima- und Umweltschutzes koppelt“. Die Autorin macht Mattinglys bewohnbare Kleidungsstücke lesbar als künstlerische Auseinandersetzung nicht nur mit der Schutzbedürftigkeit des menschlichen Körpers angesichts extremer Klimaereignisse, sondern grundsätzlicher noch mit Fragen von Möglichkeiten des Wohnens in einem Zustand des Unbehausten, wobei die von der Künstlerin geschaffenen Körperhüllen mit ihren Camouflageprints zwischen textiler Mode und Überlebenshilfe in einer bedrohlichen Umwelt oszillieren. Auch Fr a n z i s ka Ra u h s Text setzt sich mit einer künstlerischen Arbeit auseinander, die, wenn auch vor ganz anderem Hintergrund, ebenfalls die Verletzlichkeit des Körpers und seinen Aufenthalt in spezifischen Gehäusen thematisiert: Suzanne Lacys mehrteilige Performance-Arbeit Three Weeks in May (1977) verhandelt sexualisierte Gewalt in Bezug auf ihre räumliche Verortung. Ausgehend von den Polizeimeldungen zu Vergewaltigungen im Stadtraum Los Angeles im Zeitraum von drei Wochen erstellte Lacy sogenannte Rape Maps, in denen die Orte der Übergriffe eingetragen wurden, und entwickelte eine Radio-Performance, bei der sie die Polizeimeldungen verlas. Rauh betrachtet die von der Künstlerin aufgenommenen und erneut artikulierten Verortungen der Übergriffe in unterschiedlichen Innen- und Außenräumen und hebt das Auto als auffällig häufig genannten Tatort hervor. Das vehicle scheint „eine prominente Rolle in den Übergriffen“ zu spielen und führt Rauh zu einer Untersuchung des Autos als Verhandlungsraum von sexualisierter Gewalt und Geschlechterdifferenz. Dafür weitet die Autorin den Blick auf ausgewählte Beispiele des Hollywood-Kinos aus, in denen das Auto zum Spielplatz patriarchal strukturierter, als Sex präsentierter Gewaltszenen fungiert. Die Diskussion von American Graffiti (Georg Lucas, USA 1973), License to Drive (Greg Beeman, USA 1988), aber auch Thelma & Louise (Ridley Scott, USA 1991) zeigt auf, welche bedeutsame Rolle das Auto als Aushandlungsort sozialer Geschlechtervorstellungen und vergeschlechtlichter Hierarchisierungen hat, in denen die gesellschaftliche Akzeptanz sexualisierter Gewalt begründet ist. Lacys nüchterne Performance, in

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Zum Buch der die Künstlerin weder Automarken noch die während der Tat abgespielte Musik nennt, „verweigert […] den Eindruck, dass es sich bei den (versuchten) Vergewaltigungen lediglich um schlecht verlaufenen Sex handeln könnte“. Rauh macht deutlich, wie Lacys Arbeit gegen gängige Vergewaltigungsmythen operiert und das Auto gleich der Wohnung als nicht sicheren Ort markiert. In M i c h a e l S c h ö d l b a u e r s Beitrag geht es um andere Unsicherheiten, die sich in den vermeintlich sicheren Räumen des wohnlichen Aufenthalts auftun können. Von der „Kehrseite des Heimischseins“, den unheimlichen Abgründen des umhüllenden Behaustseins, handelt seine psychiatrisch motivierte Auseinandersetzung mit Roman Polańskis Film Der Mieter (Le locataire, F 1976), in dem die Verbindung des Protagonisten mit seiner Wohnung bzw. mit den darin von der Vormieterin zurückgelassenen Objekten eine das wohnende Subjekt vernichtende Qualität annimmt. Schödlbauer formuliert eine Dialektik des Wohnens, in der nicht nur „wir Häuser und Wohnungen […] bewohnen, sie vielleicht sogar besitzen, sondern […] auch wir von ihnen und ihrem Interieur selbst bewohnt, wenn nicht besessen werden“. Polańskis Mieter ist in einem Haus gelandet, das nicht nur bewohnt ist, sondern selbst wie belebt erscheint, Geräusche und Visionen produziert, die die „Grenzen des Raums und der Psyche und deren Brüchigkeit, die bis zur psychotischen Auflösung führen kann“, bespielen. Schödlbauer nutzt die Analyse des Films, um zu verdeutlichen, wie in der Psychose des wohnenden Subjekts die heimeligen vier Wände so unheimlich und ihre als dritte Haut verstandene Hülle so unzuverlässig und löchrig werden kann, dass das Wohnen paranoides Potenzial entfaltet. Der Film, in dem das räumliche Verrücktwerden der Möbel und das psychische Verrücktwerden des Bewohners gemeinsame Bewegungen vollführen, dient einem Nachdenken über die Verbindungen von Interieur und psychischer Innerlichkeit, wobei Schödlbauer betont, dass das „Psychotische keine rein psychische Disposition einzelner Individuen [ist], vielmehr wohnt das Paranoide jeder Hausgemeinschaft inne.“ Raum, Möbel und psychische Erkrankung sind zentrale Parameter auch des abschließenden Textes des zweiten Teils. M o n i ka A n ke l e untersucht in ihrem Text das Krankenbett psychiatrischer Anstalten um 1900 als „Bezugs- und Beziehungsraum“ für die Patient_innen, für die dieses Bett, in dem sie sich gemäß der zu dieser Zeit eingeführten „Bettbehandlung“ aufzuhalten hatten, jener Ort war, „den sie im Zustand des Unbehausten temporär bewohnten“. Mit dem Verweis auf Vilém Flussers Ausfüh-

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rungen zum Bett als „Weltenmitte“ beschreibt Ankele das Psychiatrie-Bett, dessen eng bemessene Ausdehnung den Handlungsspielraum der Kranken begrenzen und ihren Aufenthalt auf eine liegende Position festlegen sollte, als „Mikroraum“, der sich für die Patient_innen „zwangsläufig zu jener Weltenmitte aus[bildete], von der sie die Welt herausforderten und auf die sie sich vor der Welt zurückzogen“. Ankele nützt Roland Barthes’ Beschreibung des Bettes als „proxemischer Raum“ für ihre Überlegungen zu den Praktiken der Aneignung dieses Raumes durch die Patient_innen. Sie untersucht Krankenakten, in denen zahlreiche Handlungen vermerkt sind, die die Patient_innen in ihren Betten vollzogen. Liegen, Schlafen, Lesen, Sehen, Lachen, Weinen, Sprechen, Schreien, Trommeln auf Bett und Gestell, Handarbeiten, Hin- und Herschaukeln, Schweigen. Diese Handlungen, die den Ärzten bedeutsam genug erschienen, um sie zu beobachten und daraus Schlüsse über Krankheit und Behandlung zu ziehen, versteht Ankele als „materielle Mikropraktiken“, die den Patient_innen ermöglichten, sich diesen Raum des Bettes, das in der Anstalt Ort der Behandlung und Disziplinierung war, „wenn auch nur für die Dauer eines Augenblicks, zu eigen zu machen und sich damit im Zustand des Unbehausten eine Weltenmitte, einen proxemischen Raum zu schaffen“.

III. Strittige Territorien Der dritte Teil, „Strittige Territorien“, wird eröffnet von S a lva to re P i s a n i s Text zu den Vele di Scampìa, einer Großwohnsiedlung am nördlichen Rand Neapels. Die sieben riesigen segelförmigen Sozialbauten, die ihr Architekt Francesco di Salvo in visionärer Nähe zu Le Corbusiers Wohnmaschinen sah, wurden mit ihren rund 1.000 Wohneinheiten in standardisierter Fertigbauweise Mitte der 1970er Jahre als sozialutopischer Gegenentwurf zu den prekären Wohnverhältnissen in der neapolitanischen Altstadt erbaut, die als zu beengt und als Gesundheitsrisiko bewertet worden waren. Bereits ein Jahrzehnt später war allerdings deutlich, dass die neue Ordnungsarchitektur am Stadtrand nicht die in sie hineingeplante, „auf Kalkül begründete Sozialgemeinschaft“ entstehen ließ. Stattdessen bot die Architektur mit ihren „unüberschaubaren Verzweigungen, Verwinkelungen und Leerstellen“ in Kombination mit der gesellschaftlichen Situation ihrer Bewohner_innen, die durch die Umsiedelung an den Stadtrand aus funktionalen sozialen

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Zum Buch Strukturen herausgerissen worden waren und nun mit niedrigem Einkommen oder arbeitslos sowie schlecht angebunden am Stadtrand lebten, ideale Bedingungen für eine Übernahme durch die Mafia. 30 Jahre nach ihrer Erbauung waren die Vele zum zentralen Schauplatz des von der Camorra kontrollierten Drogenumschlags und damit von Gewalt, Kriminalität und sozialem Elend geworden. Die „Idee der Ordnung“, die di Salvos Entwurf verkörpern sollte, ließ sich laut Pisani in „die Figur des Labyrinths“ umwandeln; die Planung hatte befördert, was sie zu bekämpfen angetreten war. Durch die Verfilmungen von Roberto Savianos Roman Gomorra – 2008 als Spielfilm und 2013 als TV-Serie, die an Originalschauplätzen gedreht wurden – erfuhren die Vele eine sie noch weiter vernichtende mediale Aufmerksamkeit. Pisani argumentiert, „dass die Medien- und Filmindustrie mit ihrem Ruf nach law and order dazu beigetragen hat, dass die Notlage in der Großwohnsiedlung sich verschlimmerte und der Verfall sich ingesamt beschleunigte“. Er plädiert für eine Aufklärung über die Aufklärung, die über die Motive der architektonischen Moderne ebenso reflektiert wie über ihre medialen Auftritte. Auch G a b u H e i n d l s Beitrag befasst sich mit den Prozessen urbaner Veränderungen im Kontext kapitalistischer Interessen, allerdings geht es hier um Entwicklungen, die sich innerhalb staatlicher Regelungen bewegen. Schauplatz ist Wien, der Text stellt einander zwei „politische Siege“ gegenüber: auf der eine Seite die Errungenschaften des Roten Wien, der sozialdemokratischen Kommunalpolitik der 1920er und frühen 1930er Jahre, die mittels einer radikalen Umverteilungs-Steuerreform unter anderem ein umfassendes soziales Wohnbauprogramm auflegte, dessen Bauten noch heute in roten Fassadeninschriften von ihrer Entstehung erzählen. Auf der anderen Seite, und räumlich ganz in der Nähe der beeindruckenden Gebäudekomplexe dieses gelungenen innerstädtischen Sozialwohnbaus, finden sich dazu konträre Narrative, die vom Sieg „investitionsfreundlicher neoliberaler Politik in Sachen Kapitalisierung von öffentlichem Stadtraum“ künden. Man müsse die Häuser nicht bewohnen, sie zu besitzen reiche schon, um die Stadt Wien zu lieben, zitiert Heindl den Text auf einer Baustellenplane – „postpolitischer“ Ausdruck eines neoliberalen Siegeszugs, der die Wohnung in privatwirtschaftlichem Interesse als Finanzprodukt denkt. Ausgehend von dem Blick auf solche Vermarktungserzählungen verfolgt Heindl die Entwicklungen, die in den Zwischenkriegsjahren eine Politik gedeihen ließen, der es „um den Kampf um gesellschaftliche Hegemonie [ging] – im Bereich von Alltag und Kultur, mit dem zentralen Ansatzpunkt

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der Gestaltung (im weiten Sinn) des Wohnraums und Wohnumfelds“. Der Blick, den Heindl mit „Gramscis Überlegungen zur Relevanz von Kultur und Alltagsleben in der Herstellung politischer Hegemonie“ zurück aufs Rote Wien wirft, und das Sinnieren über die neoliberalen Sinnsprüche zeitgenössischer Wohnungsmakler_innen führt die Autorin zu einem Nachdenken über neue munizipalistische Bewegungen und Stadtregierungen, die etwa als sanctuary cities „institutionelle Alternativen zum globalen Neoliberalismus“ bieten wollen. In einigen Punkten vergleichbar mit den Ansätzen des Roten Wien, handele es sich dabei allerdings um Bottom-up-Initiativen, die basisdemokratisch und feministisch die Stadtbewohner_innen selbst als politische Expert_innen verstehen. Wer bewohnt die Städte? Die Plattform AirBnB koordiniert jene Menschen, die Wohnraum für touristische Nutzung vermieten, mit jenen, die ein temporäres Zuhause suchen und in dieser Suche emotional und scheinbar individualisiert angesprochen werden wollen, sich aber dennoch einen Aufenthalt „ohne Reibung, ohne Andersheit, ohne Unsicherheit“ wünschen. C h ri s t i a n B e r ke s befasst sich mit diesem Vermittlungsinstrument und untersucht, wie dort bestimmte Begriffe – von disruption, latent assets oder venture capital ist die Rede – mit spezifischen ökonomischen Konzepten verbunden werden. Angestrebt wird eine kulturwissenschaftliche Diskussion von AirBnB, jedoch entlang solcher wirtschaftswissenschaftlicher Konzepte: das online vermittelte Wohnen als Beispiel einer Sharing Economy. Dabei will Berkes zu dem Unternehmen, das etwa in seiner Missachtung des Mietrechts oder seinen Steuervermeidungspraktiken jegliche gesellschaftliche Verantwortung negiert, jene Hintergrundinformationen liefern, die im Alltagshandeln mit der Wohnungsvermittlungsplattform im „Moment des neoliberalen Geschichte-Vergessens“ (Angela McRobbie) ausgeblendet werden. Der „Markt für Wohninnenwelten“, wie Berkes die von AirBnB erfolgreich praktizierte Ökonomisierung von Wohnerfahrung nennt, verkauft seinen Kund_innen nicht nur die „materielle Hülle“ einer Unterkunft, sondern „immaterielle Erfahrungen“. Das zugleich individualisiert und vergleichbar angelegte Wohnerlebnis wird zum Vermögenswert in einem milliardenschweren Geschäft, das, so Berkes, auf der einen Seite unter Missachtung diverser gemeinwohlorientierter Regelungen eine scheinbar genau darauf ausgerichtete Gemeinnützigkeit, ein commoning verspreche und auf der anderen Seite durch seine Ökonomisierung sozialer Praktiken Begriffen wie etwa sharing ihre emanzipative Bedeutung nehme.

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Zum Buch Von den problematischen Vermarktungen des temporären Bewohnens geht es im nächsten Beitrag ins Unbehauste. E l ke K r a s ny geht den Diskursen über Obdachlosigkeit nach. In dem von ihr als erste Annäherung bezeichneten Beitrag werden viele der verschiedenen thematischen und gesellschaftlichen Felder aufgespürt, die an einer Wissensproduktion über das unbehauste Leben beteiligt sind. Wenn hier sowohl all jene „Bereiche, deren Arbeit mit den Menschen, ihrem Regiert-Werden, ihrem Verwaltet-Werden, ihrer Gesundheit, ihrer Wohlfahrt, ihrem Zusammenleben befasst sind“, also „die Politik, die Verwaltung, die Rechtsprechung, die Polizei, das Gesundheitswesen, die Medizin, die Sozialarbeit, die Stadtplanung, das Wohnungswesen, die Architektur sowie der Aktivismus“, als auch „alle Forschungsgebiete und Disziplinen, die sich der Generierung von Wissen über den Menschen widmen“, in den Blick genommen und daraufhin untersucht werden, mit welchen Begriffen, Bildern, Konzepten, Vorstellungen, aber auch Praktiken sie die unbehausten Menschen verhandeln, wird Obdachlosigkeit als wirkmächtige Wissensformation in einem vielschichtigen Zusammenspiel von Beteiligten sichtbar. Gewissermaßen als Auftakt zu einer noch zu leistenden Forschung in diesem Feld unternimmt Krasny Tiefenbohrungen in ausgewählte historische Momente, die „entscheidende Wendungen in der Formation des Diskurses der Obdachlosigkeit in der Moderne“ zutage befördern: Friedrich Engels’ Text zur Lage der arbeitenden Klasse in England von 1845 wird als erste Analyse der Zusammenhänge von moderner Stadtentwicklung im Zuge der Industrialisierung und einer Krise des Wohnens herangezogen. Die rund hundert Jahre später veröffentlichte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) dient Krasny als Ausgangspunkt für eine Diskussion über ein Recht auf Wohnen als Menschenrecht bzw. über Obdachlosigkeit als Menschenrechtsverletzung. Und schließlich schlägt die Autorin vor, Obdachlosigkeit im Kontext eines Öko-Kollaps im Anthropozän in einer deutlich größeren, nämlich „planetarischen“ Dimension zu denken und eine handlungsorientierte Perspektive auf die äußerst prekäre Bewohnbarkeit der Erde und eine drohende „planetarische Obdachlosigkeit“ einzunehmen. Der abschließende Beitrag von D re h l i Ro b n i k spricht noch eine weitere Ebene der Unbehaustheit an: Mit Bezug auf Georg Lukács und insbesondere fortführend mit Siegfried Kracauer wird hier neben der bis dahin zumeist besprochenen wohnungslosen Unbehaustheit eine „transzendentale Obdachlosigkeit“ ausgemacht, eine „kategorische Un-

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sicherheit des Grundes“, die eine soziale Erfahrung bzw. Bedingung moderner Welt- und Selbst-Wahrnehmung benennt. Die beiden Kategorien von Obdachlosigkeit, also die unmittelbar erfahrene, wohnungslose Unbehaustheit auf deren einen Seite und die transzendentale, auf das Sein bezogene Obdachlosigkeit auf der anderen, sind dabei Robnik zufolge nicht losgelöst voneinander, sondern im Gegenteil in enger Beziehung zueinander, ja ineinander verschränkt zu denken. Kracauers machtdiagnostische Ausführungen, in denen das Obdachlos-Sein des modernen Subjekts, insbesondere, und mit Blick auf die deutsche Gesellschaft der 1930er Jahre, der Mittelschichten, parallel diskutiert wird mit konkreten Krisen urbaner Behausungen und einem „normalisierten Ausnahme-Aufenthalt“ in „unlebbaren Massen-Räumen“, dienen hier einem Nachdenken über Demokratie, in dem ein Theoretisieren von Gesellschaft die Reflexion über alltagsräumliche Orte und ihre Fähigkeit, Behaustheit zu bieten, beinhaltet. Und schließlich begleitet Kracauer, der von Robnik nicht nur als Soziologe und Geschichtsphilosoph, sondern auch als Filmtheoretiker angesprochen wird, den Autor zum Film als Erfahrung einer ideologischen und mentalen Obdachlosigkeit und Fragmentiertheit des eigenen Seins, das in der Infrastruktur des Kinos eine Art Behausung seiner „öffentlichen Intimität“ erfährt.

Dank Unser großer Dank gilt den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und ihr Denken zum Unbehausten. Wir danken Johanna Hartmann für ihre redaktionelle Arbeit und Julia Weiss für die redaktionelle Mitarbeit. Ulf Heidel danken wir für das Lektorat, Marie Lottmann für die Übersetzung des Textes von Ann Varley. Auch danken wir Anke Poppen vom transcript Verlag für die Betreuung unseres Bandes. Nicht zuletzt geht unser besonderer Dank an Christian Heinz für sein produktives Übersetzen in Gestaltung.

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I. Verheere und diskrete

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Desaster

Birgit Johler Prekäres „Wohnen“ nach 1938

Wohnen bzw. Wohnraum ist nicht nur ein soziales, sondern zu jeder Zeit auch ein politisches Thema und wird aktuell etwa in Zusammenhang mit Migrations- und Asyldebatten äußerst kontrovers diskutiert. So forderte im Dezember 2017 in Wien ein FPÖ-Politiker das Ende der Unterbringung von AsylbewerberInnen in kleineren Gruppen und privaten Unterkünften in der Stadt. Stattdessen sollten die Asylquartiere an den Rand der Großstadt verlagert werden. Dort, so der Vertreter der Freiheitlichen, gäbe es genügend Gebiete, wo weniger Menschen wohnen würden (vgl. Der Standard 2017). Die Idee, AsylbewerberInnen in gemeinsame Unterkünfte einzuweisen und sie räumlich von der Gesellschaft zu trennen, erinnert an die Praktiken der NationalsozialistInnen und deren Konzept, „die Anderen“, also die nach dem Verständnis der NSDAP „Unzugehörigen“, an einen Ort zu übersiedeln und zu „konzentrieren“, um sie von der „NS-Volksgemeinschaft“ zu separieren. Dieser Beitrag widmet sich ausgehend von der NS-Wohnungspolitik in Wien nach 1938 der Wohn- und damit auch Lebenssituation der vom NS-Regime als Jüdinnen und Juden verfolgten Menschen. Vor dem Hintergrund systematischer und zunehmend drastischeren Verfolgungsmaßnahmen durch die NationalsozialistInnen frage ich nach Praktiken und auch Materialitäten und deren Funktionen im Lebens- und Wohnumfeld der Verfolgten. Für die Analyse verwende ich zunächst zeitgenössische Tagebuchaufzeichnungen, zum einen jene der Wienerin Therese Lindenberg (2010), die in einer „nicht privilegierten Mischehe“ lebte, zum anderen jene des Dresdner Literaturwissenschaftlers Victor Klemperer (1995). Im Gegensatz zu Lindenberg, deren Bezüge zur Realität aus Angst, ihren

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jüdischen Mann zu gefährden, oft verschlüsselt blieben, wollte Klemperer, der als Jude verfolgt wurde und mit einer nichtjüdischen Frau verheiratet war, mit seinen Tagebuchnotizen „Zeugnis ablegen“ über die Ereignisse und Verfolgungen der jüdischen Bevölkerung (vgl. Nowojski 1995, S. 865). Weiter zitiere ich aus Briefen von Verfolgten, die in den Bänden Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten Wien (Hecht et al. 2017) und Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 1992) publiziert vorliegen.

NS-Wohnungspolitik in Wien ab 1938 Wien verzeichnete in den 1930er Jahren ein veritables Wohnungsproblem, zumal der im Roten Wien vorangetriebene kommunale Wohnbau mit Beginn des austrofaschistischen Herrschaftssystems ab 1933/34 quasi zum Erliegen kam. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland im März 1938 stieg der Bedarf an Wohnungen durch den Zuzug von Parteimitgliedern aus dem „Altreich“, aus Militär und Verwaltungspersonal sowie durch die Rückkehr von sogenannten „alten Kämpfern“ stark an (vgl. Exenberger et al. 1996, S. 28). Der NS-Gauleiter von Wien, Josef Bürckel, konstatierte im Juli 1938 das Fehlen von rund 70.000 Wohnungen (vgl. Botz 1978, S. 453). Im März 1938 wohnten der Österreichischen Historikerkommission zufolge 190.000 Jüdinnen und Juden in rund 63.000 Wohnungen, darunter auch 2.000 Gemeindebauwohnungen. Durch Vertreibung und Deportation wurden während der NS-Zeit die meisten dieser Wohnungen, nämlich rund 59.000, „arisiert“, wodurch ein Großteil jenes von Bürckel vermeldeten nicht gedeckten Wohnbedarfs „geschaffen“ wurde (vgl. Jabloner et al. 2003, S. 118 f.). Die aus ihren Wohnungen Vertriebenen wurden, sofern sie nicht flüchten konnten, gezwungen, in andere Wohnungen zu ziehen, wo sie mit anderen Jüdinnen und Juden zusammenleben mussten. Auf offiziellen Dokumenten, etwa auf den Meldescheinen, gebrauchten die NS-BeamtInnen für diese Wohnungen den Begriff der „Wohngemeinschaften“ – damit verschleierten sie das zwangsweise erfolgte Zusammenziehen. Die „Wohngemeinschaft“ ist also ein nationalsozialistischer Euphemismus für ein unfreiwillig kollektives und, wie in diesem Beitrag gezeigt werden wird, höchst prekäres Wohnen.

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Birgit Johler In der zeithistorischen Forschung wird für diese Zwangskollektivierung seit einigen Jahren der Begriff der „Sammelwohnung“ verwendet.1 In vielen Fällen mussten Menschen zwei- oder dreimal in solche „Sammelwohnungen“ übersiedeln, bevor sie in ein „Sammellager“ eingewiesen wurden, wo sie auf den „Transport“, also auf ihre Deportation in „den Osten“ warten mussten. Der Begriff des „Sammellagers“ ist ein zeitgenössischer, von den NationalsozialistInnen für die ab 1941 eingerichteten Lager verwendeter Begriff. Bereits im März 1938 war es in Wien im Zuge des „Anschlusses“ zu „wilden Arisierungen“ gekommen. ZeitzeugInnen berichteten von willkürlichen Vertreibungen aus ihren Wohnungen, die oftmals von ihren NachbarInnen oder WohnungsgeberInnen eigenmächtig in die Wege geleitet worden waren. Auch Wohnungseinrichtungen wurden geplündert. Diese spontanen Vertreibungen und der Raub geschahen, obwohl auch für jüdische MieterInnen zu diesem Zeitpunkt noch der gesetzliche Mieterschutz galt (vgl. Jabloner et al. 2003, S. 116 f.). „Der Pogrom während und nach dem Anschluss war Demütigung und Beraubung alter Bekannter“, schreibt Ruth Beckermann in ihrem Buch Unzugehörig. Die Österreicher und die Juden (Beckermann 2005, S. 50). In Wien, da habe es sich gelohnt, „das war Grausamkeit gegenüber den jüdischen Nachbarn und Kollegen, Grausamkeit von Angesicht zu Angesicht. Grausamkeit mit Namen, Ort und Gesicht.“ (Ebd.) In Wien war tatsächlich vieles anders: Im Frühsommer 1938 lief eine großangelegte Kündigungswelle gegen rund 2.000 jüdische MieterInnen in den Gemeindebauten. Das NS-Wohnungsamt stellte das Kündigungsschreiben über die Bezirksgerichte zu, als Kündigungsgrund wurde „Jude, Volljude, Nichtarier, Gatte Jude“ usw. angegeben (vgl. Exenberger et al. 1996, S. 30). Wer es wagte, Einwände gegen diese Kündigung vorzubringen, musste einen Tagessatz

1 Arbeiten zur NS-Wohnungspraxis sind vermehrt in den letzten beiden Jahrzehnten erschienen, Detailstudien insbesondere in den letzten Jahren. Mit diesem Beitrag knüpfe ich an eigene empirische Forschungen an, die ich von 2005 bis 2007 durchgeführt habe. Am Beispiel der Servitengasse im neunten Wiener Gemeindebezirk und mittels konsequenter historischer Archivrecherche wurde erstmals die Lebens- und Wohnsituation der jüdischen Bevölkerung in Wien nach dem März 1938 großflächig erhoben und in Beziehung gesetzt zur Situation der nichtjüdischen Bevölkerung. Interviews mit Überlebenden und ZeitzeugInnen ergänzten diese historisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen (Johler 2008). Weiters sind in diesem Kontext insbesondere die Beiträge von Philipp Mettauer über Die „Judenumsiedlung“ in Wiener Sammelwohnungen 1939–1942 (Mettauer 2018) und von Dieter J. Hecht (2017) und Michaela Raggam-Blesch (2017) zu nennen.

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beim Bezirksgericht entrichten und entkam trotzdem nicht der Delogierung. Die Kündigungen betrafen auch HausbesorgerInnen (= HausmeisterInnen) in den Gemeindebauten, die damit nicht nur ihre Wohnung, sondern auch ihren Arbeitsplatz verloren (vgl. ebd., S. 34). In dieser für sie ausweglosen Situation räumten viele Jüdinnen und Juden „freiwillig“ ihre Wohnungen, bevor eine offizielle Kündigung sie erreichte. Viele Paare, die in einer sogenannten „Mischehe“ lebten, ließen sich scheiden, um zumindest für den nichtjüdischen Teil und die Kinder die Wohnung zu erhalten. Diese Vorgehensweise wurde jedoch vom Wohnungsamt als „Tarnungsgefahr“ bezeichnet und schützte auch diese Familienmitglieder zusehends weniger vor Delogierung (vgl. ebd., S. 32). Im Zuge des Novemberpogroms 1938 kam es neuerlich zu unzähligen Geschäftsplünderungen und spontanen Wohnungsvertreibungen. Allein im Haus Nr. 6 in der Wiener Servitengasse im neunten Bezirk, in dem 13 jüdische Wohnparteien gemeldet waren, mussten an diesem Tag drei davon ihre Wohnungen verlassen. Die nichtjüdische Hauseigentümerin unterschrieb jede einzelne dieser Abmeldungen (vgl. Johler 2008, S. 39). Ende 1938 teilte Hermann Göring in einer geheimen Anordnung seine Pläne bezüglich der „Arisierung des Hausbesitzes“ mit, welche die letzte Etappe der „Gesamtarisierung“ darstellen sollte. Jüdinnen und Juden könnten in einem Haus zusammengelegt werden, soweit die Mietverhältnisse dies gestatten würden (vgl. Walk 1981, S. 272). Der bereits vielerorts praktizierte Wohnungsraub wurde schließlich mit dem Reichsgesetz über Mietverhältnisse von Juden vom 30. April 1939 legal möglich. Das Gesetz, das am 10. Mai 1939 auch in der „Ostmark“ verlautbart wurde, ermöglichte die Kündigung jüdischer MieterInnen durch die „arischen“ VermieterInnen. Zugleich wurden jüdische HauseigentümerInnen oder MieterInnen aufgefordert, andere Jüdinnen und Juden als MieterInnen oder UntermieterInnen aufzunehmen, um die befürchtete Massenobdachlosigkeit zu verhindern. Ab diesem Moment begannen die systematischen Delogierungen, organisiert vom Wiener Wohnungsamt (vgl. Mettauer 2018, S. 4). Durch die nun auch gesetzlich erlaubte Zusammenlegung von Jüdinnen und Juden entstanden über die ganze Stadt verstreut „Sammelwohnungen“, insbesondere im ersten, zweiten und neunten Wiener Gemeindebezirk. Auf diese Weise konnten die NS-Behörden die Zusammenziehung besser kontrollieren und leichter die intendierte und propagierte vollständige Trennung von nichtjüdischen und jüdischen Menschen im Wohnen erreichen (vgl. Johler 2008, S. 41f.).

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Umzug und „Wohnen“ in der „Sammelwohnung“ Mit der Vertreibung aus den Wohnungen ging auch der strukturelle Raub des Vermögens und die Exklusion der jüdischen Bevölkerung aus dem öffentlichen und dem Berufsleben einher. Wer aus Österreich flüchtete, musste Hab und Gut in seiner Wohnung zurücklassen. Die Gestapo erklärte die betreffenden Gegenstände für „beschlagnahmt“ bzw. „sichergestellt“ und übergab sie an die „Verwaltungsstelle für Umzugsgüter jüdischer Emigranten bei der Gestapo Wien“, kurz VUGESTA, wo sie entsprechend „verwertet“ wurden. Immer neue antijüdische Gesetze wurden erlassen mit dem Ziel, die jüdische Bevölkerung zu berauben und aus allen gesellschaftlichen Bereichen zu verdrängen. Sukzessive wurde ihnen das alltägliche Leben verunmöglicht und wurden ihnen die Dinge des Alltags per Gesetz geraubt. So mussten etwa Fahrräder, Radiogeräte, Foto- und Telefonapparate und elektrische Geräte abgegeben werden (vgl. Walk 1981, S. 355). Der Umzug in eine „Sammelwohnung“ geschah somit bereits mit reduziertem Hausstand und immer unter den Augen der Gestapo. Die Übersiedelung musste zumeist auch dermaßen kurzfristig organisiert werden, dass den Menschen nur wenig Zeit blieb, ausreichende Vorkehrungen dafür zu treffen. Wer „Glück“ hatte und die neue Unterkunft zumindest vor dem Umzug besichtigen konnte, konnte prüfen, welche Dinge des alltäglichen Lebens vor Ort fehlten, und diese dann mitnehmen. Die restlichen Sachen mussten zurückgelassen oder – wenn dies möglich war – vor dem Umzug noch veräußert werden, um so an etwas Bargeld zu gelangen. Hatten die NS-BeamtInnen die Wohnungsschlüssel einmal in ihrem Besitz, konnte die eigene Wohnung nicht mehr betreten werden. „Mit dem Abgeben der Wohnungsschlüssel fühlten wir, dass wir damit die vergleichsweise Sicherheit, die wir genossen hatten, verloren“, schrieb Fanny Stang, die im Mai 1939 mit ihren Eltern ihre angestammte Wiener Wohnung verlassen und in eine „Sammelwohnung“ ziehen musste (zit. n. Raggam-Blesch 2017, S. 405). In den nun von der NS-Wohnungspolitik organisierten „Sammelwohnungen“ waren die Wohnverhältnisse äußerst beengt, auch weil die Wohnungen vielfach überbelegt wurden. Sechs Personen in einem Zimmer waren keine Seltenheit (vgl. ebd., S. 395). Musste eine Miet- bzw. Untermietpartei ausziehen, weil sie einer anderen „Sammelwohnung“

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zugewiesen oder bereits in eines der „Sammellager“ überstellt worden war, erfolgte rasch die Einweisung von neuen MieterInnen. Durch diese Praxis des Aus- und Einweisens änderte sich das soziale Gefüge in den betreffenden Häusern ab 1938/39 permanent. In den Stiegenhäusern trafen die vom NS-System systematisch Verfolgten und Diskriminierten und von der Gesellschaft sukzessive Ausgeschlossenen auf „arische“ Mietparteien. Vielfach demütigten diese die jüdischen BewohnerInnen, bespitzelten sie und waren ZuträgerInnen von Informationen an die NS-Machthaber. Und viele zogen, sobald möglich, in „frei gewordene“, bessere Wohnungen (vgl. Raggam-Blesch 2017, S. 407; Johler 2008, S. 48f.). Für die Betroffenen stellten die Zwangsumsiedlungen oft hohe physische und psychische Belastungen dar. Wie wurde Wohnen bzw. die Unterkunft unter den neuen Bedingungen organisiert? Wie und mit welchen Mitteln versuchten die Betroffenen in dieser für sie äußerst prekären Situation, ein adäquates Wohnen zu ermöglichen? Wie gestaltete sich das Wohnen zwischen erzwungener „Wohngemeinschaft“ und dem Wunsch nach Privatsphäre? Kann überhaupt von Wohnen im Sinne einer Befriedigung von grundlegenden psychischen und physiologischen Wohnbedürfnissen wie Schlaf, Ruhe, Schutz, Sicherheit, Privatsphäre etc. gesprochen werden? Die Aufzeichnungen und Erinnerungen von ZeitzeugInnen geben diesbezüglich Aufschluss. Die gebürtige Wienerin Dagmar Ostermann, deren Mutter katholisch und deren Vater jüdisch war, erinnerte sich an ihre Zeit in Dresden 1942, als sie als 22-Jährige bei ihrer „arischen“ Großmutter wohnte: „Dann wurden die jüdischen Lebensmittelkarten […] eingeführt und als Endeffekt der Stern an der Wohnungstüre. Ja, nun habe ich mich aber geweigert, den an der Wohnung der Großmutter anzubringen. Juden wurden in Wohnungen umquartiert, wo bereits Juden wohnten. Eine jüdische Bekannte – Eva Angel – wohnte bei ihrer Mutter […]. Die hatten eine große Wohnung und mußten nun Untermieter aufnehmen, und zwar mußte jedes Zimmer zumindest mit zwei Personen belegt werden. Da hat die Eva zu mir gesagt: ‚Geh, Dagmar, wohn’ doch bei uns, zum Schluß krieg’ ich irgendein fremdes Mädel oder eine fremde Frau in mein Zimmer.‘ Ich wollte nicht, daß meine Großmutter den Stern an die Tür bekommt, und so bin ich übersiedelt.“ (Zit. n. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 1992, S. 265) Wer also konnte, versuchte bei Bekannten oder Verwandten unterzukommen bzw. Bekannte oder Verwandte bei sich aufzunehmen – in dieser

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Birgit Johler Zeit der Bedrängnis und Verfolgung, der permanenten Angst vor Hausdurchsuchungen waren gegenseitige Hilfeleistungen und der Austausch von Informationen entscheidend. Familiäre, freundschaftliche oder auch nachbarschaftliche Netzwerke erwiesen sich als überlebensnotwendig, sie wurden aktiviert und waren hilfreich bei der Wohnungssuche, beim täglichen Überlebenskampf oder auch bei der Planung der Flucht (vgl. Johler 2008, S. 50). Auch Therese Lindenberg und ihr Mann profitierten von solchen Verbindungen – eine Bekannte hatte ihnen in ihrem Haus ein Zimmer verschafft. Insgesamt lebten dort zwölf Personen in fünf Zimmern. Am Sonntag, den 3. November 1940 schrieb Therese Lindenberg in ihr Tagebuch: „Das war eine Arbeitswoche! Montag erfuhren wir, daß wir Mittwoch, also in 2 Tagen übersiedeln werden – und heute sind wir schon in Ordnung bis auf ein paar Kleinigkeiten. Es war ganz schrecklich. Erst hatten wir die Möbel so gestellt, daß die Kästen ein Abteil bilden, weil das Zimmer zum Durchgehen ist. Der Boden senkte sich und nun mußte man umstellen. Nun haben wir es wieder halbwegs gemütlich. Ich sitze wieder bei meinem geliebten Sekretär. Die Leute sind so nett, sie tragen mich auf Händen.“ (Lindenberg 2010, S. 153) Ihr Mann Ignaz schrieb über diese Umsiedlung und die neue Wohnsituation: „Ich hatte jetzt sehr unangenehme Tage zu überstehen. Therese mußte binnen 24 Stunden übersiedeln und das war keine Kleinigkeit bei den vielen Sachen, die sie besitzt und von denen sie sich so schwer trennen würde. Sie fand nach vielen Mühen ein großes, schönes Zimmer in der Sandwirtgasse 14/13 im sechsten Bezirk und in dem Zimmer befinden sich nun: Schlaf-, Speise-, Musik-, Schreibund Vorzimmer in einem.“ (Zit. n. ebd., S. 154.) Trotz der schwierigen Situation versuchte Therese Lindenberg ein Zimmer für sich und ihren Mann wohnlich einzurichten und dabei ihre alltäglichen Gepflogenheiten nach Möglichkeit fortzuführen. Nach dem erzwungenen Umzug erhielten die mitgenommenen Dinge für sie eine neue Wertigkeit: Ihr Sekretär wurde zum kostbaren Zufluchtsort in der neuen Unterkunft. Und obwohl sie sich im Gegensatz zu ihrem Mann verhältnismäßig frei bewegen und Ausflüge und Wanderungen machen konnte, litt sie unter den beengten Wohnverhältnissen und der kaum vorhandenen Privatsphäre in dem Durchgangszimmer. Im Jahr 1941 vermerkte sie in ihr Tagebuch: „Ich muß überhaupt danken. Etwas sehr Unliebsames ist weg: die Leute neben uns konnten ausziehen.“ (Ebd., S. 199) Und einige Monate später: „Ich schreibe da so Belangloses und mein Herz ist voll von Dank, Fragen, Bitten, auch Sehnsüchten und

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Wünschen. Wünsche – nur zwei: Kind und ein Zimmer für uns allein.“2 (Ebd., S. 212) Therese Lindenberg sollte mit ihrem Mann noch in weitere „Sammelwohnungen“ ziehen müssen und ab dem November 1941 in das sogenannte „Mischehenghetto“, das sich im zweiten Wiener Gemeindebezirk herausbildete. Die Zustände darin werden in den Erinnerungen der ZeitzeugInnen als katastrophal beschrieben. Durch ihre in die „arische“ Mehrheitsgesellschaft reichenden Netzwerke und durch verschiedene Tätigkeiten konnte sie einen kargen Lebensunterhalt für sich und ihren Mann sichern. Dadurch, dass sie sich nicht scheiden ließ, wie es andere Frauen in ihrer Situation taten, konnte sie ihren Mann zudem vor der Deportation retten. Beide erlebten im Frühjahr 1945 die Befreiung Wiens (vgl. Hämmerle/Gerhalter 2012). Die Situation in den „Sammelwohnungen“ erforderte mitunter das Erlernen von neuen Formen des Zusammenlebens, trafen hier doch Menschen und Gruppen aufeinander, die bislang kaum miteinander in Berührung gekommen waren. Religiöse und liberale, „assimilierte“ Jüdinnen und Juden, Ärmere und einstmals Betuchtere wohnten unter einem Dach und mussten sich tagtäglich arrangieren – im Speise- und Küchenplan, im Ordnung-Halten, im Tolerieren von Ruhe bzw. Lärm. „Bei uns geht es oft zu wie im Tollhaus“, schrieb Malvine Fischer aus Wien an ihre in die USA emigrierte Tochter im Juni 1941. „Montag sind die neuen Mieter eingezogen, ein alter Vater mit 2 alten Töchtern, die sich nebstbei miteinander nicht vertragen – die beiden Schwestern führen ganz separierte Wirtschaft, sind im Zimmer durch Kästen von einander ganz separiert.“ (Zit. n. Raggam-Blesch 2017, S. 407) Schrankmöbel waren, dies zeigen die Zitate von Malvine Fischer und auch Therese Lindenberg, kostbares Mobiliar in den neuen Wohnsituationen. Sie markierten den eigenen Bereich im Zimmer, trennten ab, boten so Schutz vor den anderen und schufen gleichzeitig einen kleinen privaten Raum. In der Art ihrer Verwendung waren sie Ausdruck eines prekären Lebens. Eine Mitarbeiterin der Erzbischöflichen Hilfsstelle für nichtarische Katholiken machte in ihrem Tagebuch Aufzeichnungen über ihren Besuch in einer „Sammelwohnung“: „Das Zimmer ist durch zwei aneinandergeschobene Schränke in zwei Teile geteilt, von denen jeder

2 Therese Lindenbergs Tochter Lisa war im Herbst 1938 die Flucht nach Asien geglückt. Lange Zeit war ein Briefverkehr zwischen Eltern und Tochter möglich, ab 1942 war er jedoch unterbrochen.

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Birgit Johler ein Fenster hat. Hier sieht es nicht mehr aus wie in einer menschlichen Behausung. In dem einen Teil des Zimmers […] wohnen die Spiras. Zwei Betten stehen da, Betten ohne Kissen, ohne Leintücher, nur mit grauen, steifen Decken ausgestattet, die zerknüllt sind, weil man auf diesen Betten nicht nur schläft, sondern tagsüber auch sitzt. Auf dem Fußboden vor den beiden Betten liegen Kleiderbügel, Kartoffeln; ein Nachtgeschirr steht dazwischen, ein halbgeleerter Rucksack. In den Schränken hat das alles nicht mehr Platz gefunden. Und ein anderer Raum ist nicht da. Wegwerfen kann man von der geringen Habe auch nichts mehr […].“ (Gertrud Steinitz-Metzler zit. n. Raggam-Blesch 2017, S. 405f.) Dass die räumliche Beengtheit auch zu Konflikten führen musste, ist naheliegend. Malvine Fischer fuhr mit ihrem Bericht an die Tochter wie folgt fort: „Die Damen im Hofzimmer vertragen sich auch nicht und müssen wir [sic] immer die Friedensrichter sein, also mit einem Wort ein Theater – aber ein sehr trauriges – wir müssen uns halt auch daran gewöhnen, das ist noch nicht das Ärgste.“ (Zit. n. ebd., S. 407f.) Und auch Victor Klemperer schildert in seinen Tagebüchern mehrfach die räumliche und auch schwierige soziale Situation: „14. Dezember Dienstag mittag. Das Schlimmste hier die Promiskuität. An eine Diele stoßen die Türen dreier Ménages: Cohns, Stühlers, wir. Badezimmer und Klo gemeinsam, Küche gemeinsam mit Stühlers, nur halb getrennt – eine Wasserstelle für alle drei – ein kleiner anstoßender Küchenraum für Cohns. Zwischen Cohns und Stühlers starke Spannung, Cohns warnten mich vor Frau Stühler, ich sollte nur gleich und schroff meine Rechte beanspruchen und abgrenzen. Es scheint aber nicht so schlimm zu sein, Stühlers bemühen sich freundlich um uns […]. Es ist schon halb ein Barackenleben, man stolpert übereinander, durcheinander. Und die ganze Judenheit auf einem Haufen. […] Viele der Leute, mit denen wir gern im Frieden lebten, sind untereinander verfeindet, verketzern sich.“ (Klemperer 1995, S. 459f.) Wegen der vielen Streitigkeiten in den „Sammelwohnungen“ errichtete die Israelitische Kultusgemeinde in Wien eine eigene Schlichtungsstelle für „Rechtsfälle des täglichen Lebens“, die auch entsprechend in Anspruch genommen wurde: Ende Dezember 1941 wurde die dreitausendste Verhandlung durchgeführt. Durch die nicht enden wollende Beraubung der Jüdinnen und Juden durch die NationalsozialistInnen und das ständige Durchschleusen von Untermietparteien entwickelten sich viele „Sammelwohnungen“ zu Elendsquartieren, was auch der Amtsdirektor der Kultusgemeinde, Josef Löwenherz, in Berichten an die Zentralstelle für jüdische

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Auswanderung zu Protokoll gab (vgl. Raggam-Blesch 2017, S. 399). Mit Beginn der Deportationen aus Wien in die Konzentrations- und Vernichtungslager ab Februar 1941 wurden in der Diktion des NS-Regimes immer mehr Häuser „judenfrei“. Jene Jüdinnen und Juden, die noch verblieben, lebten in ständiger Angst vor der „Aushebung“. „Wir haben mitangesehen, wie das Haus allmählich seine Menschen, seine Bilder, seine Möbel ausspie. Wie lange wird man uns hier noch in Ruhe lassen?“, schrieb Victor Klemperer im Februar 1943 angesichts der laufenden „Evakuierungen“ in den „Osten“ (Klemperer 1995, S. 336). „Sammelwohnungen“ waren ein elementarer Schritt im Prozess der strukturellen gesellschaftlichen Exklusion und Dehumanisierung von Jüdinnen und Juden im NS-Regime. Sie entstanden nicht unbemerkt am Rande der Stadt, sondern existierten inmitten des bestehenden städtischen Gefüges und in unmittelbarer Nachbarschaft zur nichtjüdischen Bevölkerung.3 Die soziale „Entfernung“ von Menschen aus der Gesellschaft hat also nicht zwingend etwas mit der Herstellung von räumlicher Distanz zu tun. Für die Jüdinnen und Juden wurde das unsichere und prekäre „Wohnen“ auf Zeit zur ausweglosen Normalität. Der öffentliche Raum war für sie mit immer mehr Verboten belegt und dadurch immer weniger nutzbar. Das ständige Leben in Bedrängnis und Angst wirkte sich auf ihre Lebenssituation und auch auf die Art und Weise ihres Wohnens aus (vgl. Hasse 2009, S. 21). Die Situation in den „Sammelwohnungen“ war Ergebnis dieser Bedrängtheit und zugleich aufgrund der ständig wechselnden MieterInnen permanent in Veränderung. Trotzdem versuchten die BewohnerInnen der „Sammelwohnungen“ sich diese nach Möglichkeit anzueignen, sich zu „beheimaten“,4 und auch noch diese Wohnungen boten den Verfolgten „Schutz im Ungeschützten“5. Die Aufzeichnungen Victor Klemperers geben diese paradoxe Situation eindrücklich wieder: „30. Mai (1942), Sonnabend vormittag. […] 3 „Sammelwohnungen“ entstanden in Wien überwiegend im zweiten Bezirk und in den an den Donaukanal angrenzenden Teilen des ersten, neunten und zwanzigsten Bezirks (Botz 1975, S. 77; Johler 2008, S. 45). 4 Der Begriff der „Beheimatung“ wird in der Europäischen Ethnologie/Kulturwissenschaft v. a. im Kontext von Migration verwendet. Menschen versuchen Praktiken der „Beheimatung“ zu entwickeln, sie versuchen sich einzurichten, um menschwürdige Lebensverhältnisse herzustellen. Siehe dazu v.  a. Binder 2010. 5 Ich übernehme hier ein Zitat von Kathrin Heinz aus ihrem Einführungsstatement zur Tagung „Unbehaust Wohnen“. Heinz hat diese Formulierung in Bezug auf die verdeckte Obdachlosigkeit von Frauen verwendet.

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Birgit Johler Wir sprachen heute beim Frühstück über die unglaubliche Fähigkeit des menschlichen Aushaltens und Sichgewöhnens. Diese märchenhafte Gräßlichkeit unserer Existenz: Angst vor jedem Klingeln, Mißhandlungen, Schmach, Lebensgefahr, Hunger (wirklicher Hunger), immer neue Verbote, immer grausigere Versklavung, tägliches Näherrücken der Todesgefahr, täglich neue Opfer rings um uns, absolute Hilflosigkeit – und doch immer noch Stunden des Behagens, beim Vorlesen, bei der Arbeit, beim mehr als kümmerlichen Essen, und immer wieder weitervegetiert, und immer wieder gehofft.“ (Klemperer 1995, S. 104) Wie die Tagebuchaufzeichnungen und Briefzitate zeigen, versuchten die Betroffenen unterschiedliche Formen der Bewältigung des Alltags in dieser sich von Tag zu Tag verschärfenden Situation zu entwickeln. Mit der Einweisung in ein „Sammellager“ erreichte ihre Un-Behaustheit eine neue Dimension.

Letzter Aufenthalt vor der Deportation: Die „Sammellager“ Per 1. April 1942 verordnete das NS-Regime eine weitere entscheidende Kennzeichnungspflicht: Wohnungen, in denen Jüdinnen und Juden wohnten, mussten mittels „Judenstern“ markiert werden. Dieser Stern „in schwarzem Druck auf weißem Papier“ (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, S. 168) diente den NS-Behörden dazu, die „Aushebungen“ leichter durchführen zu können. Die von der jüdischen Bevölkerung Wiens gefürchtete Zentralstelle für jüdische Auswanderung organisierte die Einweisungen in „Sammellager“ und auch die Deportationen, wobei die Israelitische Kultusgemeinde zur Mitarbeit bei der Organisation der Deportation gezwungen wurde. Wer für einen „Transport nach Polen“ vorgesehen war, erhielt von der Zentralstelle eine Postkarte mit der Aufforderung, sich zu einem bestimmten Termin im „Sammellager“ einzufinden. Wer dieser Aufforderung nicht Folge leistete, wurde von den „Ordnern“ der Kultusgemeinde oder ab November 1941 von „Aushebern“ im Auftrag der SS abgeholt – vielfach mitten in der Nacht, weil dann die Chance am höchsten war, die Menschen in den Woh-

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nungen anzutreffen.6 Die Angst vor den oftmals brutalen Aushebungen und vor der Deportation veranlasste viele Verfolgte, sich als sogenannte „U-Boote“ zu verstecken. Dies bedeutete ein Verharren an einem Ort auf unbestimmte Zeit. Die ständige Gefahr, verraten zu werden, oder die Sorge um die, die sie versteckten, war für die Einzelnen mitunter jedoch kaum zu ertragen. Hermine Schwarz war der physischen und psychischen Belastung des Untertauchens nicht mehr gewachsen, sie tauchte auf und stellte sich der Deportation, auch weil sie – wie so viele – auf ein besseres Leben „in Polen“ hoffte (Hecht 2017, S. 417f.). Mit Beginn der Deportationen wurden in Wien vier „Sammellager“ im zweiten Bezirk eingerichtet. Dafür adaptierten die NationalsozialistInnen eine öffentliche Schule, zwei Schulen der jüdischen Gemeinde und ein jüdisches Mädchenheim. Um die Räume als Massenlager verwenden zu können, entfernten sie Tische und Bänke aus den Klassenzimmern und belegten sie dicht mit Matratzen. Die in diese „Sammellager“ zwangsweise eingewiesenen Menschen mussten hier bis zur Einreihung in den „Transport“ ausharren, an ein persönliches „Sich-Einrichten“ war an diesem Ort nicht mehr zu denken: Die Koffer mit den verbliebenen Habseligkeiten7 durften nicht in die Schlafräume mitgenommen werden, sie wurden im Hof oder in anderen Räumen des Gebäudes zwischengelagert. Nur Handgepäck war im Lager erlaubt. Eine Überlebende, die damals 14-jährige Eva Hirsch, erinnerte sich später an die Situation im „Sammellager“, das zuvor ihre Schule gewesen war: „Leute mit kleinen Kindern saßen auf den Matratzen oder standen neben ihnen. Andere versuchten, dazwischen durchzugehen, ohne auf jemanden zu treten. Hier entdeckte ich eine andere Welt der Erwachsenen. Viele hatten scheinbar nicht nur Möbel und 6 Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung war am 20. August 1938 von Gauleiter Josef Bürckel gegründet worden und stand unter der Leitung von Adolf Eichmann. Diese Stelle plante die konsequente Beraubung und Vertreibung der Wiener Jüdinnen und Juden – und zwar dermaßen „erfolgreich“, dass Eichmann im Herbst 1939 nach Berlin geholt wurde und dort mit der Führung der Reichszentrale für jüdische Auswanderung betraut wurde. Im Verlauf des Krieges trat an die Stelle der erzwungenen „Auswanderung“ die Deportation (vgl. Botz 2008, S. 337ff.; Zuchet 2018). In Wien führte Alois Brunner ab November 1941 als nunmehriger Leiter der Zentralstelle das System der „Aushebungen“ ein (Hecht 2017, S. 413). 7 Nurmehr das Notwendigste durften die Menschen in die „Sammellager“ mitnehmen: Gepäck mit maximal 50 Kilogramm Gewicht sowie 100 Reichsmark. Das verbliebene geringe Vermögen musste in einem letzten „Vermögensverzeichnis“ an die Gestapo angegeben werden (vgl. Walk 1981, S. 354).

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Birgit Johler Geschirr in ihren Wohnungen gelassen, sondern auch einen Teil ihrer Manieren.“ (Zit. n. Hecht 2017, S. 426) Waren es in den „Sammelwohnungen“ Schränke oder Regale gewesen, die elementare Funktionen für die Einzelnen oder die temporären Wohngemeinschaften erhielten, war es im „Sammellager“ die Matratze8, die für die Menschen zum individuellen und auch kollektiven Bezugspunkt wurde. Bei ihrem Eintreffen lag sie schon da – von Unzähligen zuvor benutzt – und war nun für die Neuankömmlinge für kurze Zeit Sitz- und Liegestatt. An Schlaf oder Ausruhen war in dieser Situation allerdings wohl kaum zu denken, durch die dichte Belegung und die unmittelbare Nähe der anderen war zudem der Bewegungsraum jeder und jedes Einzelnen massiv eingeschränkt. Momente des Privaten oder Intimen mussten im Lager unter verschärften Bedingungen – eine mittels Kästen errichtete Trennwand und ein daraus sich eröffnender privater Raum existierte nicht – und unter ständiger Aufsicht und Kontrolle der SS gesucht werden. Ob Privatheit und Intimität in dieser Bedrängtheit möglich waren, wissen wir nicht. Für die NationalsozialistInnen war die Matratze im „Sammellager“ Instrument zur Regulierung und Zuweisung (vgl. Riedel 2016, S. 265). Sie ist somit als ein weiterer Schritt, eine weitere Maßnahme, ein weiterer Ort im Kontext der zunehmenden Dehumanisierung und Verfolgung von Juden und Jüdinnen anzusehen, nun schon auf dem Weg zur Deportation und zur geplanten „Endlösung“. Für viele war sie trotzdem der letzte Ruheort. Die Situation in den „Viehwaggons“ war verheerend und ließ ein Hinsetzen oder Ausstrecken auf dem Boden aufgrund der vielen Menschen, die in die Güterwagen gepfercht wurden, kaum zu. In den Vernichtungslagern wurden die meisten von ihnen sofort nach ihrer Ankunft ermordet. Über die Situation der Menschen in den „Sammellagern“ ist nur wenig bekannt. Diese waren hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt, Formen des Austauschs waren lediglich über Vertraute beim jüdischen Ordnungsdienst möglich. Nur wenige konnten aus diesen Lagern wieder befreit werden, etwa wenn sie in „aufrechter Mischehe“ lebten. Rita Rockenbauer verblieb sieben Monate im „Sammellager“ in der Kleinen Sperlgasse, da sie als Zeugin in einem Gestapoverfahren aussagen musste. Sie

8 Zur Matratze und ihrer Verwendung bzw. Funktion im Kontext von Protesthandlungen Geflüchteter siehe den Beitrag von Anna-Katharina Riedel (2016) im inspirierenden Sammelband Matratze/Matrize.

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arbeitete zudem in der Küche des „Sammellagers“ und hatte auch die Eisenbahnwaggons am Deportationsbahnhof zu reinigen. Briefeschreiben war strengstens verboten, dennoch konnte sie ein paar im April 1942 geschriebene Zeilen an ihren geschiedenen Mann übermitteln: „Lieber Emil […]. Du hast ja keine Ahnung wie man hier lebt. Ich bin in der Küche beschäftigt aber nicht, weil ich es sonst besser habe, nur um Ablenkung zu haben, nur um zu vergessen, wie unsagbar traurig mein Leben geworden ist. Ich arbeite sehr sehr viel. […] Wenn Du etwas sonst für mich hättest, besonders Süßigkeiten […]. Emil, ich habe Hunger, immer, immer Hunger bei schwerster Arbeit! Du weißt, ich habe oft entbehrt, und Du weißt, ich kann was ertragen, aber mein lieber Piu, dieser Hunger ist oft zu groß und zu krass und tut weh.“ (Zit. n. Hecht 2017, S. 430) In den „Sammellagern“ warteten jeweils etwas mehr als tausend Menschen auf die „Übersiedlung in den Osten“. Die wenigen Stunden oder Tage in diesen Lagern bedeuteten für sie ein Warten auf eine unklare, jedoch vermeintlich bessere Zukunft – hier hofften sie auf das Morgen. Tatsächlich war ihr Schicksal längst besiegelt. Den ab dem Februar 1941 vom Wiener Aspangbahnhof abgehenden insgesamt 45 Transporten wurden jeweils rund tausend Menschen zugeteilt. Sie wurden untertags – und damit unter den Augen der Wiener Bevölkerung – mittels Lastwagen zum Deportationsbahnhof gebracht und von dort „nach Polen“ transportiert. Die geräumten „Sammellager“ mussten anschließend von der Israelitischen Kultusgemeinde gereinigt werden, bevor die nächsten zur Deportation bestimmten Menschen hier eintrafen. Dies beinhaltete auch das Reinigen von Matratzen und die Desinfektion von Räumen. Im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien haben sich Auftragsbestätigungen der „Allgemeinen Assanierungsgesellschaft“, datiert vom 20., 21. und 22. Juli 1942, erhalten. Die behördlich konzessionierte „Desinfektions- und Schädlingsbekämpfungsanstalt“ mit Sitz im vierten Wiener Gemeindebezirk führte im Auftrag der Kultusgemeinde und gegen Rechnung diese Arbeiten durch. Am 13. und am 14. Juli hatte die Firma laut diesen Auftragsbestätigungen im kurz zuvor eingerichteten „Sammellager“ in der Malzgasse 16 im zweiten Bezirk9 „600 Matratzen 9 Das „Sammellager“ in der Malzgasse 16 im zweiten Wiener Gemeindebezirk – bis 1938 waren an dieser Adresse eine Talmud-Thora-Schule, eine Synagoge und das erste Jüdische Museum in Wien – wurde am 6. Juni 1942 von der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ eingerichtet. Es bestand bis Ende Oktober 1942. Aktuell bereitet die Autorin eine Ausstellung zur Geschichte des Hauses Malzgasse 16 im Haus der Geschichte Österreich vor.

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Birgit Johler abgespritzt“10. Wenige Tage zuvor, am 10. Juli, waren ein Transport mit 993 Menschen und am 14. Juli ein Transport mit 988 Menschen aus Wien nach Theresienstadt abgewickelt worden. Weitere Transporte folgten am 17. Juli und am 22. Juli (Bundesarchiv o. J.). Die Firma hatte auch nach diesen Deportationen „Matratzen gespritzt“ und in allen Etagen Räume „vergast mittels Assanoldämpfen“11. Wie die „Sammelwohnungen“ entstanden und existierten auch die „Sammellager“ mitten in der Stadt, die massenhaften Einweisungen und Abtransporte waren für die anderen sichtbar und von den vielen Deportationen profitierten auch Wiener Unternehmen. Im Herbst 1942, die große Welle der Deportationen war vorüber, wurden die Lager aufgelassen bzw. umgewidmet (Hecht 2017, S. 432). Die über Jahre geschürte antijüdische Stimmung wurde von einem Großteil der Wiener Bevölkerung bereitwillig angenommen, übernommen und in antijüdische Handlungen transformiert. Die sukzessive Verelendung der Menschen und auch der Wohnquartiere ließ wohl in den Augen vieler eine soziale Un-Ordnung entstehen, die durch die Deportationen wiederhergestellt werden konnte. Vielleicht erschienen die Deportationen deshalb vielen WienerInnen als gerechtfertigt. Dass diese „Un-Ordnung“ durch die Verfolgung und unter Beteiligung der Bevölkerung entstanden war, das hatten viele nach 1945 „vergessen“.

10 Archiv IKG Wien, Bestand Wien, A / VIE / IKG / I-III / LG / Wien 2, Malzgasse 16 / 1 / 2. Auftrag, Allgemeine Assanierungsgesellschaft, 20.7.1942. 11 Assanieren bedeutet laut Duden verbessern, vor allem im hygienischen Sinn.

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Prekäres

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Burcu Dogramaci Shelter/Disaster : Flucht, Schutz und Architektur in der Moderne 1. Flucht und Architektur im Horizont der Katastrophe Der Flucht ist das Moment der (oft eiligen) Bewegung zu eigen, um einer Gefahr zu entkommen.1 Antrieb für das Flüchten als langfristigen Ortswechsel kann die Angst um Leib und Leben sein. Die Fluchtursachen sind aber divers wie umfassend und reichen von der Naturkatastrophe über politische Repressionen und Kriege bis hin zu ökonomischen und ökologischen Krisen. Einher geht das Flüchten mit einem Bedürfnis nach Schutz, das sich in Gestalt von Zufluchtsorten im Verlauf oder am Ziel der Fluchtpassage manifestieren kann. Schutz hat nach Definition des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz eine doppelte Bedeutung, er meint das Grundrecht einer Person auf Schutz und die Verpflichtung der Hilfeleistenden, dieses Recht zu respektieren (vgl. Zetter 2014, S. 25). Schutzbauten sind laut lexikalischer Definition „baul.[iche] Vorkehrung[en] zum Schutz der Zivilbevölkerung (auch Zivilschutz) sowie lebens- und verteidigungswichtige[ ] Anlagen und Einrichtungen zum Schutz vor der Wirkung von Angriffswaffen“.2 Schutz- und Fluchtbauten, die etwa im Katastrophenfall für Geflüchtete und deren Schutz entworfen wurden, haftet etwas Provisorisches

1 Lexikalisch wird Flucht definiert als „das Ausweichen vor einer drohenden Gefahr durch schnellen Ortswechsel“, Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 9: Fj–Gel, Mannheim u.a. 1973, S. 78. 2 Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 21: Sche–Sm, Mannheim u. a. 1977, S. 332.

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Shelter/Disaster an (vgl. Doßmann/Wenzel 2006, S. 60), auch wenn diese Architekturen oft über Jahre und Jahrzehnte in Gebrauch sind. Sie eint das Bewusstsein, dass die Schutzsuchenden und Wartenden sich eben nicht häuslich einrichten sollen. Somit ist der Komfort auf die für eine begrenzte Zeit Weilenden ausgerichtet; die Bauten folgen einer Logik der Mobilität und der Ökonomie, des unkomplizierten Auf- und Abbaus und der Aufnahme von möglichst vielen Schutzsuchenden. Die für Wohnungs- und Heimatlose konzipierten emergency shelter sollen ein Dach über dem Kopf bieten und oft so lange ein Zuhause sein, bis z. B. geklärt ist, ob die Heimatlosen bleiben können (etwa wenn Asyl gewährt wurde) und/oder ein Ort für eine längerfristige oder dauerhafte Aufnahme gefunden ist, zu dem die Schutzbedürftigen dann weiterziehen, oder bis eine Rückkehr in das Herkunftsland möglich ist. Schutz- und Fluchtarchitekturen im Kontext der Katastrophe sind somit zunächst einmal Warteräume für unbestimmte Zeit. Das Leben im Provisorium kann wenige Tage, Wochen, Monate oder auch viele Jahre andauern. Aus dem temporären Hausen in Schutz- und Fluchtbauten kann damit ein häusliches Einrichten oder Wohnen werden.3 Flüchten, Schutz finden, warten und wohnen sind also auf das Engste miteinander verbunden. Vor diesem Horizont diskutiert dieser Beitrag zwei verschiedene Konzepte von emergency shelter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: neue Flucht- und Schutzarchitekturen und die (oft provisorische) Umnutzung von Bestandsbauten.

2. Katastrophenarchitekturen: mobil, ephemer und modern Flexible Architekturen gehören zu den Bauaufgaben, die bereits die architektonische Moderne beschäftigten und ihrer Ausrichtung nach Effizienz, Funktionalität und Flexibilität entgegenkamen. 1931 wurde der Wettbewerb „Das wachsende Haus“ ausgeschrieben, bei dem es jedoch nicht um Wohnungen für Heimatlose oder Unbehauste, sondern vielmehr um

3 Dass das Warten sich über Jahre und Jahrzehnte ausdehnen kann, zeigt die Existenz von Flüchtlingslagern wie etwa den Sahrawi Refugee Camps in Tondouf, Algerien, die seit 1975/76 existieren und für viele unweigerlich zu einer dauerhaften Heimat geworden sind.

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1 Titelseite des Katalogs zur Ausstellung „Das wachsende Haus“, Berlin 1932, mit Martin Wagners Entwurf, Reprint 2015

vorfabrizierte Bauten ging, die an die wechselnden Ansprüche der Bewohnerschaft angepasst sein sollten. Auslöser für die Idee des „wachsenden Hauses“ war unter anderem die Weltwirtschaftskrise (vgl. Scarpa 1986, S. 142). Der Stadtbaurat von Berlin, Martin Wagner, der den Wettbewerb initiiert hatte und die aus ihm hervorgehende Ausstellung 1932 organisierte (Akademie der Künste 1985, S. 31), entwarf ein eigenes „wachsendes Haus“ (Abb. 1), das in Einzelteilen fabriziert und auf Erweiterung konzipiert war. Wagners Entwurf zeigt einen flachen kubischen Bau, bei dem die vorgesetzte Glasfassade durch die sonnenerwärmte Luftschicht für zusätzliche Wärmedämmung der leichten Holzwände sorgte. Um einen großen Raum in der Mitte sollten alle Nutz- und Wohnräume gruppiert sein (vgl. Wagner, M. 1931, S. 431f.; siehe auch Akademie der Künste 1985, S. 175). Die dem Bau innewohnende Leitidee war geprägt von Vorstellungen unvorhersehbarer Ereignisse und damit von dem Bewusstsein einer grundsätzlichen Instabilität des Daseins und der Zeitläufte: Einer Rezession konnte wirtschaftlicher Wohlstand folgen, aus einem Paar binnen weniger Jahre eine vielköpfige Familie werden. Damit lässt sich das „wachsende Haus“ durchaus in die Grundidee von Schutz- und Fluchtarchitekturen einbeziehen; und auch Wagner selbst übertrug seine Ideen später auf tatsächliche ephemere Krisenarchitekturen – seine Igloo Houses (Abb. 2).

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Shelter/Disaster Erste Ideen dazu datieren auf seine Zeit im türkischen Exil in den 1930er Jahren; ab 1939 entwickelte Wagner, im Jahr zuvor in die USA übergesiedelt, dann seine Pläne unter dem Eindruck der Großstadtslums, der wirtschaftlichen Rezession und der außenpolitischen Krise, indem er an einem erweiterbaren „Haus armer Leute“ arbeitete (Wagner, M. 1955, S. 14). 1939 erfuhr Wagner zudem durch Medienberichte von verheerenden Erdbeben in der Türkei. In der türkischen Architekturzeitschrift Arkitekt veröffentlichte er erste Ideen zu standardisierten, erdbebensicheren Wohntypen aus Stahl und Sperrholz. Diese waren durch „Connectors“ verbunden und damit beliebig erweiterbar.4 Zeitgleich mit den Bemühungen um Akzeptanz in der Türkei versuchte Wagner seine Igloo Houses in den USA in die Massenfertigung zu bringen und meldete sie 1942 als US-Patent an. Doch er fand keinen Wirtschaftspartner zur Umsetzung seiner ehrgeizigen Pläne.5 Zu den ArchitektInnen, die im 20. Jahrhundert über das Bauen in der Katastrophe, über Schutz- und Fluchtarchitekturen nachdachten, gehörte auch der US-Amerikaner Richard Buckminster Fuller, der seit 1927 industriell gefertigte Unterkünfte zu entwickeln versuchte, die global einsetzbar waren und über den Luftweg verteilt werden konnten. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs entstand 1940/41 die Dymaxion-Modell-Einheit, die als Radarstation, Lazarett oder temporäre Unterkunft gedacht war (vgl. Gorman 2005, S. 49–85, v. a. S. 65). Diese aus Stahl, Kunststoffplatten und Glasfaserunterlagen bestehenden Unterkünfte zeigen deutliche Parallelen zu Wagners zeitgleich entstandenen Igloo Houses.6 Doch im Gegensatz zu Wagners Projekt ging Fullers Dymaxion in Produktion und wurde vom US-Militär für Stützpunkte am Pazifik und Persischen Golf genutzt (vgl. Baldwin 1997, S. 37; McHale 1964, S. 17). Die mobilen Wohneinheiten verweisen zugleich auf ein verändertes Verständnis von Wohnen als Anti-Sesshaftigkeit, das nicht mehr an

4 Vgl. Martin Wagner: Brief an den Türkischen Botschafter in Washington, 11.1.1940, Landesarchiv Berlin, Nachlass Ernst Reuter, E Rep 200-21, Nr. 165. 5 Vgl. Alfred P. Sloan (Chairman der General Motors Corporation): Brief an Martin Wagner, 9.2.1940, Frances Loeb Library, Harvard Design School, MW Papers, 7/20. 6 Fullers Dymaxion und Wagners Igloo Houses wurden 1947 gemeinsam in der Zeitschrift Neue Bauwelt als neue Wohnformen aus den Vereinigten Staaten vorgestellt – längst galt der „ehemalige[] Berliner Stadtbaurat“ als Ausländer (Lange 1947, S. 246).

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2  Martin Wagner, Igloo Houses, um 1940, Modell

Grund und Grundbesitz gebunden sein sollte: Fullers Leichtbau Dymaxion war eine selbsttragende Struktur, die unabhängig von ihrem Fundament existieren konnte und nur punktförmig auf dem Boden aufsaß; der Grund sollte nicht in Besitz genommen werden. Dies entsprach „Fullers Grundsatz, dass ein Haus wie ein Mensch vollkommen unabhängig und selbständig sein solle. […] Mit ‚Dymaxion‘ entwickelte Fuller somit ein Wohnhaus für eine mobile moderne Gesellschaft, die sich vom statischen Besitzdenken verabschiedete.“ (Meissner 2012, S. 296) Nach diesem Verständnis ist die Flexibilität von Flucht- und Schutzarchitekturen nunmehr grundsätzlich für das Wohnen adaptiert. Selbstverständlich ließe sich am Beispiel Fullers eine ethische Debatte führen: Der selbst gewählten Freiheit des Wohnens auf der einen Seite, wie sie Fuller als Ideal formulierte, steht die erzwungene Flexibilität der Geflüchteten und Schutzsuchenden als Heimatlosen gegenüber. Während diese Diskussion an dieser Stelle nicht vertieft werden soll, vermag die Doppelfigur der mobilen Architektur für EmigrantInnen und des Bauens für ImmigrantInnen dem Thema der Schutz- und Fluchtar-

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Shelter/Disaster chitekturen eine weitere Facette hinzuzufügen. Zur selben Zeit, in der Martin Wagner seine Idee des „wachsenden Hauses“ ausarbeitete, war der Architekt Walter Gropius in den frühen 1930er Jahren an der Produktion eines präfabrizierten Kupferhauses beteiligt (vgl. Junghanns 1994, S. 239f.). Tatsächlich gebaut wurden allerdings nicht mehr als zwei Dutzend der Fertighäuser, und zwar im Kontext der zionistischen Siedlungsbewegung nach Palästina bzw. dem Projekt der jüdischen Alija, der Rückkehr ins gelobte Land. Die Deutsche Kupferhausgesellschaft konnte beim deutschen Reichswirtschaftsministerium zumindest vorübergehend erwirken, „daß der Kauf eines Kupferhauses gemäß den Modalitäten des Haavara-Abkommens geregelt wird. Am 24. Juli 1933 verfügt der Wirtschaftsminister, ‚Auswanderern‘ nach Palästina die Mitnahme eines deutschen Kupferhauses als ‚Umzugsgut‘ zu gestatten. Dies bedeutet, daß die deutschen Behörden den Wert eines als ‚Umzugsgut‘ deklarierten Kupferhauses nicht auf die limitierte Menge ausführbaren Geldes anrechnen.“ (Borries/Fischer 2009, S. 120) Gropius hatte Entwürfe für ein Kupferfertighaus im Übrigen bereits auf der von Wagner ausgerichteten Schau „Das wachsende Haus“ von 1932 vorgestellt; es lässt sich also behaupten, dass sich auf dieser Ausstellung wichtige Überlegungen der Avantgarde zu mobilen Bauten verdichteten. Bemerkenswert ist, dass die 1932 vorgestellten Häuser später im Kontext von Flucht und Exil eine neue Bedeutung und Verwendung erhalten sollten. Zugleich wurden auch ihre Urheber in die Emigration gedrängt: Wagner floh, wie bereits erwähnt, in die Türkei und später in die USA. Gropius ging zunächst nach England und dann ebenfalls in die USA, wo er an der Harvard University Architektur lehrte. In den USA führte Gropius gemeinsam mit dem ebenfalls emigrierten Architekten Konrad Wachsmann die Versuche zur Fabrikation von Wohneinheiten als Packaged House System weiter – auch hier ohne langfristigen Erfolg (vgl. Herbert 1984, S. 299–325; Cohen 2011, S. 263–266). Einen späten Nachhall fanden die mobilen Bauten für ImmigrantInnen in Palästina im Œuvre des Architekten Yona Friedman (Abb. 3 und 4), der in den 1940er Jahren am Technion in Haifa studierte – wo später auch Konrad Wachsmann Visiting Professor sein sollte. Friedmans Überlegungen zur Revision des Wohnens und des Städtebaus aus den 1950er und 1960er Jahren, die er dem Paradigma der Mobilität unterstellte (vgl. Friedman 1963, S. 55), formulierte er bereits in frühen Entwürfen, etwa in seinen Movable Boxes (1949) oder in den Cylindrical Shelters (1953–1958). Für Letztere – zylindri-

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3  Yona Friedman, Cylindrical Shelters, 1953–58, Fotomontage

sche, stapelbare Unterkünfte aus Beton – sollten Teile von Wasserpipelines recycelt werden (vgl. Friedman 2010, S. 12–17; Orazi 2015, S. 335, 344f.). Die Cylindrical Shelters waren für die klimatischen Bedingungen Israels entworfen, mit einem besonderen Augenmerk auf Belüftung und Sonnenschutz, und die Fertigteile sollten zusammengelegt einfach zu transportieren sein. Gleichzeitig boten die verschiedenen Typen in unterschiedlichen Größen ein Mindestmaß an Komfort, Raum zum Schlafen, Sitzen und Stehen sowie Stauraum (vgl. Orazi 2015, S. 334f.). Die kreisrunde Form der Unterkünfte erinnert dabei an die Nissen-Hütten aus Wellblech, die der kanadische Ingenieur Peter Norman Nissen bereits 1916 entwickelt hatte und die im Ersten Weltkrieg erstmals eingesetzt worden waren. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Nissen-Hütten im britischen Besatzungsgebiet als Notwohnungen aufgestellt, etwa in Schleswig-Holstein und Hamburg (vgl. Carstens 2009, S. 46–52; Paulsen 2009, S. 53–68; Spröer 2011, S. 90f.). Das Grundmodell mit den Maßen 5 × 11 Meter konnte zwei Familien aufnehmen und binnen vier Stun-

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4  Yona Friedman, Cylindrical Shelters, 1953–58, Manual

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Burcu Dogramaci den aufgebaut werden; die Hütten wurden zerlegt und verpackt verkauft und oft in größeren Komplexen mit Gemeinschaftseinrichtungen errichtet (Schoszberger 1946, S. 6f.; Hafner 1993, S. 57–61). Bislang konnte ich nicht herausfinden, ob die Hütten auch in Palästina zum Einsatz kamen; da Palästina jedoch bis 1948 britisches Mandatsgebiet war, ist es nicht unwahrscheinlich, dass dort Nissen-Hütten aufgestellt wurden und Yona Friedman sie dort gesehen hat.7 Im Rückblick auf die Schutz-, Flucht- und Immigrationsbauten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich konstatieren, dass sich genuin modernistische Überlegungen zur Funktionalisierung des Wohnens mit den historischen Umbrüchen und den durch sie verursachten displacements überkreuzten. Präfabrikation, Erweiterungsoptionen und potenzielle Mobilität waren Themen, die Architekten wie Martin Wagner, Walter Gropius, Konrad Wachsmann, Richard Buckminster Fuller und Yona Friedman umtrieben und für die sie auf archaische Formen wie das Iglu oder den Zylinder zurückgriffen. Dass sie damit auch dem Schutzbedürfnis einer durch Kriege, Diktaturen und Wirtschaftskrisen betroffenen Bevölkerung Dienste leisten konnten, war vermutlich eine Koinzidenz. Andererseits intensivierten die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts die Bemühungen, Schutz- und Fluchtbauten zu entwerfen.

3. Umnutzungen: displacements und Wohnen im Bestand Ein besonderer Motor für die Planungen temporärer Schutzbehausungen waren die Erfahrungen und Folgen des Zweiten Weltkrieges, zu denen massive Fluchtbewegungen und nach 1945 zahllose displacements gehörten. Im „Vierzonen-Deutschland“ lebten um 1950 wohl etwa 12 Millionen Geflüchtete, was ca. einem Viertel der Bevölkerung entsprach (vgl. Soupault 2016, S. 9; Ziegler 2011). Dabei handelte es sich um eine – auch in politischer Hinsicht – heterogene Gruppe, die Befreite aus den Konzentrationslagern, ZwangsarbeiterInnen ebenso wie Vertriebene

7 Erwähnt wird in einem Schreiben der britischen Militärregierung von 1945, dass Nissen-Hütten u.a. in Ägypten eingesetzt wurden, was ihre Verwendung in Palästina ebenfalls wahrscheinlich macht (vgl. Hönes 1984, S. 30).

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Shelter/Disaster aus Zentral- und Osteuropa umfasste. Die durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Fluchtbewegungen zeigen dabei, dass häufig keine neuen Schutz- und Fluchtbauten errichtet wurden, sondern vielmehr ein flexibler Umgang mit vorhandenen Bauten vorherrschte. Auch in Österreich nahm der Zustrom von Geflüchteten, Vertriebenen, Befreiten derart zu, dass sie beispielsweise im oberösterreichischen Linz kurz nach Kriegsende etwa ein Viertel der Stadtbevölkerung ausmachten (vgl. John 2015, S. 159). Die Heterogenität dieser neu in der Stadt Lebenden bildete sich in unterschiedlichen Wohnstätten ab, die von verschiedenen Institutionen und Behörden verwaltet wurden: So wurden jüdische Geflüchtete beispielsweise in zu Lagern umfunktionierten ehemaligen SS-Kasernen untergebracht, wie dies etwa beim Lager „Davidstern“ in Ebelsberg der Fall war, und im Lager Bindermichl wurden unter den Nationalsozialisten errichtete Wohnblocks, in Linz „Hitlerbauten“ genannt, als Unterkünfte für jüdische Displaced Persons genutzt (vgl. ebd., S. 161). Diese ethisch schwierige Umschreibung politisch kontaminierter Bauten war eine gängige Praxis. Die jüdischen Lager in der US-amerikanischen Zone in Linz hatten einen exterritorialen Status, unterstanden UN-Organisationen, wurden von der US-Armee bewacht und von den BewohnerInnen selbst verwaltet. Die größte Gruppe der Geflüchteten waren indes in Oberösterreich die „Volksdeutschen“. Zahlreiche Notunterkünfte in Form von Barackenbauten sprechen von der Hilflosigkeit, mit der den Displaced Persons begegnet wurde. Noch 1958 wurden in Linz 11.300 Personen gezählt, die in diesen Baracken lebten (vgl. ebd., S. 167). Das Leben in den Flüchtlingslagern wurde in den 1940er und 1950er Jahren von Fotografinnen wie Ré Soupault und Madame d’Ora (vgl. Schreiner/Vuković 2017) mit der Kamera festgehalten. Dass beide eigene Flucht- und Exilerfahrungen hatten, mag ihren Blick auf die Lager und die dortigen Behausungen in besonderer Weise geprägt haben. In lange Zeit unpubliziert gebliebenen Reportagen betont Soupault, dass es in Deutschland im Jahr 1950 immer noch 580 Massenlager für Geflüchtete und Vertriebene gebe, darunter auch das „berüchtigte Konzentrationslager Dachau“, das 2.100 Flüchtlinge beherberge. Ganz konkret führt sie aus: „Als Betten dienen immer noch die alten Bretter und Strohsäcke des früheren KZs. 18 Milliarden Mark (etwa 4 ½ Milliarden Dollar) wären notwendig, um den Vertriebenen menschenwürdige Wohnungen zu beschaffen.“ (Soupault 2016, S. 12) Im Flüchtlingslager Friedland am Rande des Thüringer Waldes fand Soupault „unzählige Reihen von Baracken“ vor, „die mit ihren

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5  Ré Soupault, Friedland, 1950

halbrunden Wellblächdächern und einer an Verwahrlosung grenzenden Ärmlichkeit den Frieden der Landschaft stören“ (ebd., S. 17). Ihre dort aufgenommenen Fotografien zeigen die provisorischen, nicht befestigten Straßen, die Reihung der Unterkünfte, die den unzähligen Kindern zumindest ein Dach über dem Kopf boten (Abb. 5). Andernorts, wie im oberbayerischen Geretsried, posierten geflüchtete Familien in den engen Innenräumen. Das Gelände des Lagers Geretsried unweit von München war vormals ein Rüstungsstandort, an dem in Bunkern das Werk Deutsche Sprengchemie (DSC) und die Fabrik zur Verwertung chemischer Stoffe durch den Konzern Dynamit A.G. (DAG) eingerichtet wurden. Nachdem Teile der Rüstungswerke von der US-amerikanischen Militärregierung gesprengt worden waren, entstand hier eine neue Flüchtlingsgemeinde (vgl. ebd., S. 28; siehe auch Zwicknagl 2008, S. 20–45). Krieg und Vernichtung wurden damit von einer neuen Siedlung überschrieben – und bisweilen wurde beim Überschreiben auch die Erinnerung gelöscht.

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6  Luftaufnahme Föhrenwald, 1956

Die mehrfache Umnutzung existierender Wohnbauten lässt sich auch am Lager Föhrenwald nachvollziehen, das sich 30 Kilometer südlich von München bei Wolfratshausen befand und auf Jiddisch „Bemidber“ („in der Wüste“) genannt wurde. Dort war zunächst eine Arbeitersiedlung errichtet worden, die zu einer Waffenfabrik gehörte. Es handelte sich dabei um eine von dem Ingenieur Hermann Grünenwald realisierte Mustersiedlung aus den späten 1930er Jahren, die für bis zu 4.500 ZwangsarbeiterInnen in der Rüstungsindustrie genutzt wurde (Abb. 6). Föhrenwald bestand aus 302 Wohneinheiten, die als Reihen- und Doppelhäuser angelegt waren (vgl. Ander/Mélian 2005, S. 11). Aufnahmen zeigen eine unspektakuläre Architektur mit Satteldächern, die sich wohl dem Heimatschutzstil zuordnen lässt und insgesamt einen nach außen abgeschlossenen Eindruck hinterlässt (vgl. Ander 2005, S. 19). Im September 1945 wurde Föhrenwald als Lager für heimatlose Jüdinnen und Juden eingerichtet. Bereits zuvor war es ein Transitlager für Personen gewesen, die sich von den nationalsozialistischen

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Burcu Dogramaci Todestransporten aus Dachau retten konnten, oder Befreite, die – russischer, polnischer oder niederländischer Herkunft – auf die Rückreise in ihre Heimat warteten. Föhrenwald wurde zur Heimat auf Zeit für jüdische KZ-Überlebende und PartisanInnen, deren Zahl im Januar 1946 mit etwa 5.000 Personen ihren Höchststand erreichte (Fleckenstein/Lewinsky 2011, S. 37). Zeitgenössischen Berichten zufolge war das nach außen durch einen Drahtzaun begrenzte Lager konzentrisch um einen zentral gelegenen Platz gebaut, an dem sich wichtige Lagerinstitutionen, darunter auch der Theatersaal, die Bibliothek und die zentrale Turnhalle, befanden. Die standardisierten gemauerten Häuser hatten jeweils drei Zimmer mit Raum für bis zu zehn oder auch mehr Personen (vgl. ebd., S. 38). Bezeichnend für die Umkodierung des Bestehenden im Lager Föhrenwald war die Praxis der Umbenennung der Straßen: Vor 1945 waren diese nach annektierten, im nationalsozialistischen Jargon „wiedergewonnenen Gebieten“8 benannt und hießen etwa Memeler Straße oder Lothringer Straße. Die US-amerikanischen Alliierten benannten sie z. B. um in NewYork-Straße oder Indiana-Straße (vgl. Ander/Mélian 2005, S. 11). Das jüdische Lagerkomitee wiederum versah die Straßen mit Bezeichnungen wie Bialik-Straße oder Medina-Iwrit-Straße (vgl. Fleckenstein/Lewinsky 2011, S. 38). Und später, als nach der offiziellen Auflösung des Lagers 1956 die Erzdiözese München-Freising das Gelände erwarb und vor allem heimatvertriebene, kinderreiche deutsche Familien sesshaft wurden, erlebten die Straßen erneut eine Umbenennung in Rupertstraße, Korbinianstraße oder Faulhaberstraße. Innerhalb nur einer Generation (hier 16 Jahre) wurden die Straßennamen mehrmals geändert, und drei verschiedene BewohnerInnengruppen – die ZwangsarbeiterInnen, die Displaced Persons und die Heimatvertriebenen – zogen in die Häuser ein. Mit dem Wechsel der Straßennamen wurde nach und nach auch die vorangegangene Geschichte der Siedlung unsichtbarer bzw. wurde sie einer spezifischen Lesart unterzogen: So schrieb der Isar-Loisachbote in seiner Ausgabe vom 31. Juli/1. August 1976 zum 20-jährigen Jubiläum von Wolfratshausen-Waldram, dass „aus dem berüchtigten und verwahrlosten Nachkriegslager Föhrenwald die saubere Wohnsiedlung Altwaldram“ geworden sei (zit. n. Königsreder 2016, S. 55). Diese Verdrängung von Geschichte – und deren Sichtbarmachung – vermittelt sich in der Multimedia-Dia-Installation und dem Hörspiel 8 Hermann Grünenwald, ausführender Architekt von Föhrenwald, 1941, zit. n. Ander/Mélian 2005, S. 11.

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7  Michaela Melián, Föhrenwald, 2005, Dia-Installation mit Soundtrack, 60 Min., Installationsansicht

8  Michaela Melián, Föhrenwald, 2005, Dia-Installation mit Soundtrack, 60 Min.

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Burcu Dogramaci Föhrenwald (zugleich der Soundtrack der Diaprojektion) von Michaela Melián. Für den öffentlichen Raum schuf die Künstlerin einen begehbaren Zylinder, eine mobile Architektur, die 2005 in unmittelbarer Nähe zum Schauplatz der nationalsozialistischen Propagandaausstellungen „Entartete Kunst“ und „Große Deutsche Kunstausstellung“, dem Münchner Hofgarten, aufgestellt wurde. Die rotierende Panorama-Diaprojektion zeigte die Siedlung, ihre Häuser und Straßen in 160 schematisierten Zeichnungen (Abb. 7 und 8), die der Uniformität der Siedlungshäuser eine künstlerische Zeichentechnik entgegensetzt. Die Bilder sind ins Negativ invertiert, sodass weiße Striche auf schwarzem Grund die Eintretenden umkreisen. Ein Soundtrack, der Interviews, O-Töne der ehemaligen BewohnerInnen und Musik9 miteinander verbindet, ergänzte die Installation und bezog sich auf die verschiedenen historischen Phasen der Siedlung. Meliáns Installation bringt die Geschichten Föhrenwalds und seiner diversen BewohnerInnen in Beziehung zueinander, verwebt sie in einem eigenen künstlerischen Imaginationsraum. Meliáns Föhrenwald ist nicht nur eine „Geschichts(de)konstruktionsmaschine“ (Ander 2005, S. 17), sondern eine Reflexion über Kontinuitäten. Diese manifestieren sich in der Lage und Form der Siedlung. Zugleich zeigt die Installation auch Diskontinuitäten der in Föhrenwald lebenden Menschen und politischen Kontexte auf. So erfuhr die Siedlung durch Anbauten oder auch neue Gartenzäune eine Modifikation. Aus der nationalsozialistischen Arbeitersiedlung wurde eine unspektakuläre Reihenhaussiedlung, wie sie vielerorts in Deutschland steht (vgl. Hirsch/Hirsch 2005, S. 136; Hirte 2005, S. 71). Das Beispiel Föhrenwald zeigt, dass Zuflucht- und Schutzarchitekturen in der Zeit nach Ende des Zweiten Weltkrieges oft aus bestehenden Bauten generiert wurden. Dabei waren das im Nationalsozialismus errichtete Konzentrationslager oder die Zwangsarbeitersiedlung allzu gern genutzte Bautypen abseits der Städte, die der Ansammlung größerer Menschengruppen wie eben der Displaced Persons oder der Vertriebenen dienlich sein konnten.10 Somit lässt sich von der Kontinuität von Lagerarchitekturen über Zeit und (auch moralische) Grenzen hinweg sprechen. 9 Melián verwendete historische, auf Schellackplatten jüdischer Firmen wie der Lukraphon konservierte Aufnahmen von Kompositionen von Bach, Beethoven oder Mendelssohn-Bartholdy und verfremdete diese (vgl. Ander 2005, S. 20). 10 Bis in die Gegenwart werden Unterkünfte für Geflüchtete bevorzugt außerhalb der Innenstädte angesiedelt; beispielhaft ist ein 2000 eingerichtetes Containerlager für AsylbewerberInnen in Leipzig-Thekla (vgl. Doßmann 2006, S. 109).

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4. Emergency shelter : eine alternative Architekturgeschichte der Moderne Schutzarchitekturen der Moderne sind bislang kaum systematisch untersucht worden. Zwar liegen Einzelstudien zu den hier behandelten Architekten vor, doch eine dezidiert theoriegeleitete und umfassende Untersuchung steht noch aus.11 Emergency shelters als Bauaufgabe der Moderne bilden einen Beitrag zu einer alternativen Architekturgeschichte der Moderne. Dabei bietet es sich an, das Blickfeld über die Architekturentwürfe hinaus zu erweitern. So ließe sich nicht nur Buckminster Fullers Architekturmagazin Shelter (1932–1934, vgl. Gorman 2005, S. 48–53; Krausse 2009) untersuchen. Zu einer alternativen Architektur- und Kunstgeschichte der emergency shelters gehören auch die Lager-Fotografien von Ré Soupault und Madame d’Ora aus den 1940er und 1950er Jahren oder die Shelter Drawings (vgl. Andrews 2002) des Bildhauers Henry Moore aus dem London der frühen 1940er Jahre, die den undergrounds als Schutzbauten im Bombenkrieg gewidmet sind. Überdies sind gerade die Flüchtlingslager der Nachkriegszeit bislang nur selten in den Blick der Forschung geraten (vgl. Carstens 2009, S. 43) – und aus architekturhistorischer Perspektive wurde Flüchten und Wohnen nach 1945 schon gar nicht untersucht. So wird zukünftig noch zu diskutieren sein, ob ephemere und/oder mobile Bauten im Kontext von Krieg, Vertreibung und Flucht tatsächlich für die „Schattenseite der Moderne“ (Borries/Fischer 2009, S. 36) stehen. Ist nicht eher zu vermuten, dass sich in den Schutz- und Fluchtbauten ein humanistisches Denken artikuliert, das der technikverliebten Moderne eine Facette hinzufügt? Oder tragen die standardisierten und präfabrizierten Architekturen dazu bei, Distanz12 zu schaffen: zwischen den Sesshaften in ihren Wohnhäusern und den Geflüchteten oder Schutzsuchenden in den temporären Behausungen?

11 Einen Überblick zu portablen Architekturen in Geschichte und Gegenwart bietet Kronenburg 2014. 12 So heißt es über das zeitgenössische Containerlager: „Der Container vermittelt als temporäre Architektur noch einmal emblematisch das strategische Kalkül dieses Regierens [der Gerichte und Verwaltungen] aus Distanz. Das Lager ist nur ein Transitraum für eine Flucht mit ungewissem Ausgang“ (Doßmann 2006, S. 109).

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Burcu Dogramaci

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Abb. 3 und 4: Nader Seraj (Hg.): Yona Friedman. The Dilution of Architecture, Zürich: Park Books 2015, S. 182f. Abb. 5: Soupault 2016, S. 49. Abb. 6: Ander/Melián 2005, S. 66. Abb. 7: Foto: Christoph Seeberger/Kunstraum München, © Michaela Melián. Abb. 8: © Michaela Melián.

Abbildungsnachweise Abb. 1: Martin Wagner: Das wachsende Haus, Berlin 1932, Reprint, hg.v. Jesko Fezer et al., Berlin: Spector Books 2015, Cover. Abb 2: Wagner, B. 1985, S. 54.

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Anna Steigemann und Amer Darweesh Zu Hause im Un- behausten: Syrische Geflüchtete in Flüchtlingsunterkünften in Berlin und Zaatari

Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die im 21. Jahrhundert „on the move“ sind, migriert nicht freiwillig, sondern ist durch Krieg, Hunger und Verfolgung gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen. Auch wenn die meisten von ihnen in den nächstgelegenen Regionen und Ländern, zumeist im globalen Süden, Schutz suchen, ziehen viele Flüchtende in der Hoffnung auf Asyl und ein neues Zuhause zunehmend in den globalen Norden, und dort insbesondere in die (Groß-)Städte. Auf die technokratischen Notfall- und Versorgungsmaßnahmen der Ankunftsstaaten können oder wollen sie sich dabei oft nicht verlassen, denn die jeweiligen Migrationsregime planen meist, die Neuankommenden statt in den Städten oder Stadtzentren in ländlichen oder peripher gelegenen Orten unterzubringen – „aus den Augen, aus dem Sinn“. Kaum angekommen, fangen Geflüchtete jedoch an, sich in den Camps, Lagern und Unterkünften, sei es in Stadtzentren, der Peripherie oder auf dem Land, einzurichten und Normalität sowie eine Zukunftsperspektive aufzubauen. Dies bedeutet, dass im Jahrhundert der großen Migrationsbewegungen auch die mobilsten Menschen schlussendlich an sehr konkreten lokalen Orten leben und wohnen, egal ob ihre hohe Mobilität freiwillig gewählt oder aufgezwungen wurde. Im Falle des 2011 ausgebrochenen syrischen Bürger-

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Zu Hause im Unbehausten krieges und der dadurch in Gang gesetzten Fluchtmigration innerhalb und außerhalb des Landes hat neben dem Irak und Libanon sowie der Türkei Jordanien die meisten geflüchteten Menschen aufgenommen. Dort lebt nun ein Großteil der Geflüchteten in großen stadtähnlichen Lagern/Camps, die von internationalen Organisationen wie dem UNHCR verwaltet werden. In Deutschland führte die seit 2012 zunehmende Flüchtlingsmigration aufgrund der inkonsistenten und auf Exklusion ausgerichteten Asylpolitik in Berlin sowie aufgrund des Fehlens einer konsequenten Unterbringungsund Versorgungsstrategie zu einer von den zuständigen politischen Akteur_innen verursachten humanitären Krise, die die geflüchteten Menschen zwingt, in bis heute eher improvisierten und temporären Notunterkünften in einem Zustand „permanenter Zeitlichkeit“ („permanent temporariness“, Yiftachel 2009) zu leben. Bis heute, sieben Jahre nach Beginn der Fluchtmigration, haben die Unterkünfte in Jordanien und Deutschland nur sehr niedrige Wohn- und Versorgungsstandards, kaum Qualitäts- oder Mindeststandards, und die Mehrheit der um- oder neugebauten Unterkünfte schottet nach wie vor ihre Bewohner_innen von anderen Stadtbewohner_innen und dem sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Leben in der Umgebung ab. In Berlin und den urbanisierten Flüchtlingslagern in Jordanien versucht die Verwaltung zwar, ihnen eine nachhaltigere Lebenssituation und unter Umständen auch eine Zukunftsperspektive und „soziale Integration“ zu ermöglichen, aber das Design, die Planung, Organisation und Verwaltung der Unterkünfte und Lager sind dennoch vor allem auf ein hohes Maß an Kontrolle über die geflüchteten Menschen und ihren Alltag in den Unterkünften ausgerichtet (LAF 2017; Dalal et al. 2018). Dieser Beitrag untersucht die räumlichen Praktiken und Aneignungsstrategien der geflüchteten Menschen in Jordanien und Deutschland und wie sie sich emotional und materiell ein Zuhause im „Unbehausten“ einrichten. Ausgangspunkt ist, dass die geflüchteten Menschen zunehmend darum kämpfen, ihre Wohnsituation – sei es in Lagern oder Notunterkünften – zu verbessern, um einen „normalen“ Alltag führen zu können, mehr Autonomie und Selbstbestimmung sowie Zukunftsperspektiven zu erlangen. Dabei stellen die Geflüchteten eigentlich nur ein Extrembeispiel für die zahlreichen hoch mobilen Menschen dar, die sich heutzutage an dauernd wechselnden Orten oder auch an mehreren Orten zugleich ein Zuhause einrichten müssen oder wollen. Wir gehen von der Annahme aus, dass Geflüchtete, aber auch andere multi-lokale soziale Gruppen sich an den neuen – wenn auch nur temporären – Wohnorten immer wieder einen Normalzustand mit rou-

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Anna Steigemann und Amer Darweesh tinisierten Alltagspraktiken schaffen. Unsere ethnografische Forschung in Flüchtlingsunterkünften in Jordanien und Berlin, die im Folgenden näher vorgestellt wird, zeigt, wie und warum die Integration und die Praxis des häuslichen und städtischen home-making (Zuhause-Machens) nicht nur von den jeweiligen globalen, nationalen und lokalen Politiken und Governanceund Kontrollpraktiken stark beeinflusst wird, sondern vor allem auch in hohem Maße von der Akzeptanz anderer Stadtbewohner_innen sowie der lokalen städtischen Akteur_innen abhängt. Letztere entscheiden mit darüber, ob und inwiefern geflüchtete Menschen ein streng abgegrenztes und kontrolliertes Leben führen müssen oder ob sie Zugang zum allgemeinen Stadtleben bekommen. Dabei zeichnen die untersuchten verwaltungstechnischen und architektonischen Lösungen für die Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten eine große Vielfalt aus. Auch weisen die zugrunde liegenden Agenden und Motivationen der jeweiligen Versorgungs- und Migrationsregimes, die Unterbringungskrise mit zum Teil katastrophalen Bedingungen in den Unterkünften zu lösen, nicht nur große Unterschiede und Widersprüche auf, sondern lassen auch erkennen, dass die eigentliche Herausforderung in den sozialen und den Machtbeziehungen zwischen den geflüchteten Menschen und den jeweiligen staatlich-administrativen und zivilgesellschaftlichen Akteur_innen liegt. Dies wirkt sich nicht nur auf die unmittelbare tägliche Praxis des Wohnens und Lebens in den Unterkünften aus, sondern auch auf die langfristige Inklusion und Integration in die lokalen Gemeinschaften des Ankunftsorts.

Über das Wohnen im mobilen Jahrhundert und methodologische Überlegungen zum home-making als sozialer Praxis Im Jahrhundert der Mobilität verlassen Menschen ihre Wohnorte, um zur Arbeit zu gehen, Familie, Freund_innen oder Kolleg_innen zu besuchen, um die Welt zu bereisen oder um ein neues Zuhause zu finden, weil sie ihr bisheriges aufgeben wollen oder aber auch müssen. Menschen wohnen nicht nur in Wohnungen, Häusern und anderen Haus- und Wohnformen, sondern sie teilen sie mit anderen Mitbewohner_innen, sie empfangen

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Zu Hause im Unbehausten dort Gäste und interagieren mit anderen Menschen und auch den Behausungen selbst: Sie richten sich nach ihren Wünschen und Möglichkeiten in ihnen ein, entwickeln emotionale Beziehungen zu ihnen (Zuhause oder Daheim-Sein), sie ruhen sich dort aus und erholen sich, sie schlafen, essen, arbeiten, reproduzieren sich in ihnen, sie vereinsamen dort und genießen das Alleinsein in ihnen und schließlich sterben sie oft auch in ihren Wohnungen oder Häusern. Im heutigen Zeitalter der Migration werden dadurch nicht nur für Geflüchtete, sondern für die meisten Menschen Wohnpraktiken und Wissen über Wohnen und Zuhause immer mehr in Bewegung gesetzt. Durch die Migration der Träger_innen der Praktiken werden folglich die Praktiken selbst mobil, ebenso wie das Wissen darüber, was ein Zuhause ausmacht und wie man dieses kreiert. Somit verändern Praktiken und Wissen dann auch die Orte, an welche migriert wird (vgl. Meier/Frank 2016). Sybille Frank und Lars Meier erläutern dazu: „Unlike commuting, migrating or travelling, dwelling usually evokes, at least in modern Western thought, the idea of an immobile place to rest. Dwelling is often considered to be solely local. This perspective is accompanied by an understanding of place as being rooted. We follow a critique on such a conception of place and understand place as being porous and ‚open to the externally relational‘ mobility and dwelling as integrated. To dwell means also to dwell in a place that is open to an outer world and that is under influence by mobility practices of mobile persons, for example, who are not only crossing a place but are also leaving an impact.“ (Meier/ Frank 2016, S. 363f., Zitat im Zitat Doreen Massey) Für den vorliegenden Beitrag stellen wir daher die Frage, wie geflüchtete Menschen, die wahrscheinlich nicht nur die derzeit mobilste soziale Gruppe, sondern auch ein Extrembeispiel für unfreiwillige oder erzwungene Migration darstellen, in temporären Flüchtlingsunterkünften und Lagern leben und sich trotz aller temporären Strukturen und Widrigkeiten ein Zuhause dort einrichten. Der Fokus liegt dabei auf einer ethnografischen Untersuchung dieser extremen Wohn- und Lebenssituation unter den Bedingungen totaler Kontrolle, teils sehr starker Handlungseinschränkungen und mangelnder Autonomie, während die Betroffenen gleichzeitig um Sicherheit, Geborgenheit und Zukunftsperspektiven in den neuen, wenn auch nur temporären Unterkünften kämpfen. Unsere zugrunde liegende theoretische Annahme ist dabei, dass für das Zuhause-Machen im Unbehausten die physisch-materielle, aber auch die politische, soziale, kulturelle und affektive Dimension des home-making immer

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Anna Steigemann und Amer Darweesh mit bestimmten konkreten Raum- und Zeitformen einhergeht und diese sich wiederum gegenseitig beeinflussen. Die vorliegende Diskussion basiert auf unseren ersten explorativen ethnografischen Beobachtungen, Gesprächen und Interviews und den daraus generierten empirischen Erkenntnissen, die wir durch sozialwissenschaftliche und architekturtheoretische Beobachtungen in Flüchtlingslagern und Unterkünften in Jordanien und Deutschland gewonnen haben. Unsere empirische Feldforschung und Literaturanalyse (2016–2019) in und zu Unterkünften in Berlin und Zaatari umfasste zum einen qualitative Interviews mit Bewohner_innen, Planer_innen, Architekt_innen und Manager_innen von Lagern und Unterkünften sowie Gespräche mit Sozialarbeiter_innen und Verwaltungsangestellten. Zum anderen wurden wiederholte teilnehmende und nicht teilnehmende Beobachtungen und kollaborative Kartierungen, Zeichnungen und Fotografien in den Unterkünften mit den Bewohner_innen entlang ihrer Alltagsroutinen bzw. an ihren Alltagsorten durchgeführt. Auch mittels walk-along-Interviews und Artefakt-bezogenen Interviews konnten wir das Leben und die soziale Praxis des home-making in den Unterkünften gemeinsam und auf Augenhöhe mit den Geflüchteten untersuchen. Die Bewohner_innen der Unterkünfte wurden so zu Forschungspartner_innen. Dazu wurden alltägliche Gebrauchsgegenstände und Alltagspraktiken miteinbezogen, wie etwa Haushaltswaren, Dekorationsobjekte und Möbel; Kartierungen, Zeichnungen und Fotografien von „homes“, „Heimen“ oder einem „Zuhause“,1 von ehemaligen und momentan bewohnten Zimmern, alten und neuen Gärten und aber auch von den Flüchtlingsunterkünften – diese wurden von den Bewohner_innen (an ihren aktuellen und früheren Wohnorten) und zum Teil auch mit uns erstellt. Beobachtungen, Interviews und Zeichnungen wurden aber auch im Rahmen von Workshops (in welchen wir mit den in den jeweiligen Unterkünften und Lagern vorhandenen Materialien Bänke und Outdoor-Möbel für die dortigen Räumlichkeiten bauten), Veranstaltungen und gemeinsam gefeierten Festen (z. B. während des Ramadan) durchgeführt. Dabei luden uns viele der Forschungspartner_innen auch in ihre (nur zum Teil) „privaten“ Zimmer, Container oder Zelte ein und führten uns in diesen und anderen „intimen“ Räumen und Orten der Unterkünfte herum.

1

Die Definition wurde den Interviewten überlassen.

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Zu Hause im Unbehausten Wir versuchten in den Gesprächen und Besuchen re-traumatisierende Interviewformen (wie z. B. klassische Frage-Antwort-Situationen oder Fragen nach der Flucht und dem Krieg) zu vermeiden und stellten nur dann (Nach-)Fragen und betraten Räume, wenn dies explizit akzeptiert bzw. wir explizit eingeladen wurden. Gespräche und Interviews wurden ausschließlich von unseren Interviewpartner_innen eröffnet und geleitet und beendet, der Großteil der Forschung wurde von gleichgeschlechtlichen Forschungstandems durchgeführt, da Räume und Orte sowohl in ihrer Aneignung und Nutzung als auch im Reden über sie zum Teil stark gegendert waren. Der Großteil der Feldarbeit fand in verschiedenen Berliner tempohome-Siedlungen statt, also in temporären Containerdörfern. Die Berliner Untersuchungsorte wurden so gesampelt, dass Flüchtlingsunterkünfte in sozioökonomisch und demografisch sowie sozialräumlich und baulich möglichst unterschiedlichen Quartieren sowohl in der Innenstadt als auch am Stadtrand ausgewählt wurden. Dort wurden dann die verschiedenen sozialen und räumlichen sowie darauf aufbauend Aneignungs- und andere räumliche Praktiken innerhalb, aber auch außerhalb der Unterkünfte untersucht, also auch in den umliegenden Vierteln und Nachbarschaften sowie in der gesamten Stadt. Die Berliner Untersuchungsorte reichten von tempohomes und sogenannten Modularen Unterkünften für Flüchtlinge (MUFs) in Gründerzeitvierteln mit vielfältigen und gemischten Nutzungsangeboten und einer ethnisch und sozial heterogenen Bewohner_innenschaft mit Migrationserfahrung über Unterkünfte in sozial und ethnisch eher homogenen Plattenbau- und Großwohnsiedlungen mit wenig Nahversorgung bis hin zu ehemaligen Industriestandorten und Gewerbegebieten.2

2 Während die empirische Forschung in Berlin von den Autor_innen zusammen mit den anderen zum Teil arabischsprechenden Teammitgliedern des DFG-geförderten Teilprojekts „Architekturen des Asyls“ im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Re-figurationen von Raum“ (SFB 1265) sowie Studierenden der TU Berlin durchgeführt wurde, wurden die explorativen Ergebnisse zum urbanisierten Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien seit 2016 hauptsächlich von unseren Kollegen Ayham Dalal und Philipp Misselwitz generiert. Die Informationen und Daten des vorliegenden Artikels stammen somit aus der SFB-Teamarbeit, Anna Steigemanns Lehrforschung und Amer Darweeshs Feldforschung für seine Masterarbeit.

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Anna Steigemann und Amer Darweesh

Temporäre Wohnformen in Berlin und Zaatari – die Flüchtlingsunterkünfte Im Jahr 2015 kamen fast eine Million Geflüchtete nach Deutschland, etwa 80.000 davon nach Berlin. Dagegen konnten 2017 aufgrund der Schließung der Grenzen und der zunehmenden Verschärfung der (Anti-)Asylgesetze in Deutschland und der Europäischen Union nur noch ca. 164.000 Geflüchtete ins Land einreisen, von denen 825 nach Berlin kamen (LAF 2017). Wenn Geflüchtete nach der oftmals sehr langen, extrem anstrengenden und traumatischen Flucht in Deutschland ankommen, müssen sie sich zuerst bei den nationalen Behörden registrieren lassen, wo auch ihre ersten offiziellen Einreisepapiere ausgestellt werden. Nach der Durchführung von Gesundheitstests, der Einreichung des Asylantrags einschließlich des sogenannten Dublin-III-Tests, einer persönlichen Anhörung bezüglich des Antrags und einer Prüfung aller Dokumente werden die geflüchteten Menschen im Falle eines positiven Behördenentscheids nach einem nationalen Verteilungsschema, dem Königssteiner Schlüssel, in das jeweils „aufnehmende“ Bundesland überführt.3 In den Ländern werden die Geflüchteten dann nach dem gleichen Verteilungsschema auf verschiedene Unterkünfte und Unterkunftsformen verteilt (Steigemann 2019). Auf kommunaler und regionaler Ebene entscheiden die „Kapazitäten der Landkreise und Städte“ sowie die „Verantwortlichkeiten der lokalen Institutionen für die Herkunftsländer“ und die Verfügbarkeit von Unterkünften über die Lage und Wohnform der geflüchteten Menschen. In Berlin werden die Geflüchteten zunächst in „Erstaufnahmezentren“ (Notunterkunft) untergebracht – eines davon liegt neben der Flüchtlingsunterkunft auf dem ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof, in der im Januar 2019 rund 4.000 Menschen lebten (Ende April 2019 wurde sie geschlossen) und wo wir eine unserer tempohomes-Fallstudien durchführten. Andere Unterkünfte befinden sich in (temporär umgenutzten/umgebauten) öffentlichen Gebäuden wie Schulen, Sporthallen und Verwaltungsgebäuden. Aufgrund der mangelnden bezirklichen Kapazitäten, der hohen Kosten und

3 Der Königssteiner Schlüssel berechnet den aufzunehmenden Anteil der Geflüchteten anhand der Bevölkerungszahl und des Bruttoinlandsprodukts des jeweiligen Bundeslands.

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Zu Hause im Unbehausten

1  Unterschiedliche Unterbringungsarten von Flüchtlingen

des angespannten Wohnungsmarktes wurden die meisten Geflüchteten nach den Erstaufnahmeunterkünften (vorübergehend) in neu errichteten Container- oder Modularen Unterkünften untergebracht. Organisator und Verwaltungsorgan ist im Falle Berlins das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF), das die Neuankömmlinge über die Bezirke und in bestimmte Wohnformen verteilt (LAF 2017). So lebten Ende 2018 noch immer die meisten Menschen in Notunterkünften und teilten sich dort meistens die Räume mit größtenteils unbekannten Menschen und ohne jegliche Schutz- oder Privatsphäre. Anfang 2017 wurden 18 tempohomes als bis Ende 2019 genehmigte temporäre Übergangs-„Wohnungen“ geplant und gebaut, die dann durch neu eingerichtete Dauerunterkünfte, die MUFs, ersetzt werden sollen. Während einige Bezirke die soziale und infrastrukturelle Unterstützung für die Integration der Neuankommenden verbessert haben, protestierten andere Stadtgegenden und insbesondere diejenigen, in denen konservative, rechte und rechtsextreme Parteien hohe Wahlergebnisse erzielen, teils vehement gegen diese neuen Siedlungen und die neuen Nachbar_innen. Die neu errichteten Berliner Unterkünfte sind grundsätzlich nicht als langfristige Dauerwohnungen bzw.

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2  Containerdorf, aufgestellt vom Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales

Wohnformen konzipiert und baurechtlich geregelt, die meisten von ihnen werden jedoch aufgrund des angespannten Mietmarktes und Diskriminierung auf dem Marktmarkt, der zunehmenden Wohnungsnot und des zu erwartenden längeren Aufenthaltes von geflüchteten Menschen in Berlin zu einem längerfristigen „Zuhause“. Auch wenn der Bau neuer Unterkünfte statt der bisherigen Nutzung kommunaler Gebäude eine Verschiebung und einen Perspektivwechsel in der Wohnungs- und Flüchtlingspolitik bedeutet, nimmt der Berliner Senat die Geflüchteten nach wie vor (noch) nicht als neue langfristige Bewohner_innen der Stadt sondern eher als temporäre Besucher_innen wahr, weshalb die neuen Unterkünfte auch immer nur befristet genehmigt bzw. nur für eine befristete Nutzungsdauer gebaut werden. Das bedeutet, dass die geflüchteten Menschen auch mit ihrer Ankunft in Berlin oft weiter zu hoher Mobilität und Migration durch die Berliner Bezirke und Nachbarschaften gezwungen sind. Sie wissen dadurch häufig noch nicht bzw. wieder nicht, wo sie in den nächsten Monaten wohnen werden. Trotz der ständigen Umverteilung von einem Ort zum anderen über das Stadtgebiet zeigen unsere empirischen Ergebnisse, dass die Geflüchteten mit der Ankunft in einer Unterkunft sofort anfangen, sich in diesen

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Zu Hause im Unbehausten temporären Migrationsräumen ein Zuhause einzurichten, und sich zunehmend auch dort zu Hause fühlen – in einem Zustand „permanenter Temporalität“ (Yiftachel 2009): Dabei mobilisieren sie räumliches, städtisches und Wohn-Wissen aus früheren Wohnorten und wenden es in vielfältigen home-making-Praktiken an, um die temporären Unterkünfte in Wohnungen und ein Zuhause zu verwandeln (Abb. 1 und Abb. 2). Um ein „Zuhause“ zu haben, ist es aus Sicht der Mitarbeitenden des LAF aber vor allem wichtig, auch „ein erfolgreiches soziales Umfeld zu pflegen und aufzubauen“. Ein „Zuhause“ wird in diesem Verständnis mit Integration gleichgesetzt bzw. diese wird als Bedingung für ein Zuhause vorausgesetzt. Die Unterbringungsformen und -designs sind daher auch in einer „Integrationsleiter“ des LAF festgeschrieben (Abb. 3), die eine Verlagerung von den Erstaufnahmezentren und Gemeinschaftsunterkünften (GUs) hin zu einer Form von „privatem“ Wohnen darstellt, wobei allerdings von „Privatheit“ kaum die Rede sein kann, da sich unbekannte Personen in den GUs Zimmer und Container teilen müssen. Es gibt verschiedene Formen von GUs, derzeit (2019) wird die dritte, aktualisierte Version geplant und gebaut (GU3). Viele Akteur_innen und Entscheidungsträger_innen, die nach zusätzlichen Lösungen suchen, verbessern die Unterkünfte nur oberflächlich oder optisch. Auch stellen viele der Planer_innen, Betreiber_innen und Sozialarbeiter_innen die Fähigkeit von Geflüchteten, ein eigenständiges Leben zu führen, in Frage: „Sind denn die Flüchtlinge, die als ‚gut in die Gesellschaft integriert‘ gelten, überhaupt in der Lage, ihren Alltag ohne Rat und Unterstützung durch Sozialarbeiter zu leben?“ (LAF-Mitarbeiter). Bezüglich der beabsichtigten Reduzierung der Sozialarbeit in den Lagern erzählte ein anderer LAF-Mitarbeiter die Geschichte einer geflüchteten Frau aus Afghanistan, der die Möglichkeit gegeben wurde, mit ihren Kindern in einer privaten Wohnung in Berlin zu leben. Sie wurde dort hingebracht, ohne dass sie Informationen über die Nachbarschaft, die Wohnung, ihre damit verbundenen Rechte und Pflichten erhalten hätte, also auch nicht darüber, welche weiteren Schritte unternommen werden müssten, um ein autarkes und integriertes Leben an diesem neuen Ort zu führen. Im Interview schilderte sie uns diese Situation aus ihrer Perspektive: „Ich wusste nicht, dass ich meine Tochter in die Kindertagesstätte schicken musste. Ich wusste auch nicht, dass es Kindergärten in der Nähe gibt, bis mich ein Nachbar fragte, ob meine Tochter mit seinen Kindern in den Kindergarten gehen kann, also versuchte ich, meine Tochter

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3  Die Integrationsleiter des LAF

dort anzumelden, aber ich konnte nicht mal alle erforderlichen Papiere ausfüllen, ohne Hilfe von meinen deutschen Nachbarn zu bekommen.“ Während sie sich also über eine private Wohnung freute, die mehr Rückzug, Sicherheit, Privatsphäre und eine Betreuung ihrer Kinder ermöglichte, ohne von anderen in der GU lebenden Geflüchteten, aber auch den örtlichen Sicherheitskräften, Sozialarbeiter_innen oder dem Verwaltungspersonal gestört zu werden, hatte sie Schwierigkeiten, sich dort zurechtzufinden, da ihr wichtige Informationen über ihren neuen Wohnort und die lokalen Bildungseinrichtungen sowie der Zugang zu ihnen fehlten bzw. vorenthalten wurden. Anfang 2019 machen die tempohomes ein Drittel der Wohn- und Unterbringungsformen für Geflüchtete aus. Während die bisherigen Dorfcontainer, aufgestellt vom zuständigen Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo), aus drei Stockwerken bestanden, haben die neu errichteten tempohomes des jetzigen Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) nur ein Stockwerk, was den kleinteiligen, weniger dichten und gewollt dörflichen Charakter unterstreichen soll. Diese bautypologischen Veränderungen sollen sich positiv auf den Integrationsprozess, aber auch auf die Kontrolle des Lebens in den Containerdörfern auswirken. Die neueste Bautypologie sind dagegen modulare Containerunter-

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Zu Hause im Unbehausten künfte. Als wir den Betreiber des Containerdorfes Ostpreußendamm im Interview fragten, wie sich aus seiner Sicht diese Veränderungen auf das Leben der Geflüchteten in den Unterkünften auswirken, beschwerte sich dieser allerdings eher über die Veränderungen bezogen auf seine Arbeit: „Das Leben im neuen Containerdorf hier ist besser als das Leben in Tempohäusern, hier haben die Menschen ihre eigene Privatsphäre, aber wir [Sicherheitskräfte, Betreiber_innen] leiden unter dem Brandschutz, denn wir müssen rund um die Uhr hier bleiben und die drei Stockwerke kontrollieren.“ Der Grund für das neue Design scheint daher weniger eine würdevollere und menschlichere Wohnform für die Bewohner_innen als vielmehr der Brandschutz und eine komfortablere und „effektivere“ Verwaltung der Unterkünfte. Unsere Feldforschung zeigt, dass sich viele Geflüchtete in konstanter Aushandlung mit den anderen Bewohner_innen und Angestellten in den Unterkünften, den ihnen gegenüber oft feindselig eingestellten Nachbar_innen sowie den lokalen Kontrollbehörden befinden. Dies beeinflusst in hohem Maße, ob bzw. wie sich die Geflüchteten in ihren Unterkünften ein Zuhause einrichten und dort zu Hause fühlen können, unabhängig von ihren vorherigen individuellen Wohnbiografien. Vor diesem Hintergrund gehen wir davon aus, dass sie dennoch und genau wegen dieser konstanten Aushandlungs- und Aneignungsprozesse das physische Erscheinungsbild und die Nutzung der Unterkünfte verändern und durch das home-making zum Teil auch hybridisieren. Bevor wir uns mit den konkreten home-making-Praktiken beschäftigen, möchten wir jedoch auf die komplexe Konstruktion, Verwaltung und Finanzierungsstruktur von Flüchtlingsunterkünften eingehen, die den schwierigen, aber beabsichtigten Übergangscharakter von tempohomes – wie der Name schon andeutet – weiter verstärken. Die Flüchtlingsunterkünfte in Berlin (aber auch in Jordanien) sind alle bewusst als temporär konzipiert und gebaut. Wir haben festgestellt, dass viele der (recht offensichtlichen) sozialen Probleme auf genau diesen temporären Charakter der Häuser zurückgeführt werden können, vor allem aber be- oder verhindert er die Inklusion und Integration der Geflüchteten sowie ihr home-making, was sich wiederum auch negativ auf das mentale und physische Wohlbefinden auswirken kann. Im Gegensatz zu den kleinräumlicheren Lagern und Unterkünften in Deutschland sind die Notunterkünfte in Jordanien meist als große Flücht-

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Anna Steigemann und Amer Darweesh lingslager geplant, die von UN-Organisationen verwaltet werden. So ist Zaatari ein im Juli 2012 eröffnetes UNHCR-Camp für syrische Geflüchtete im Norden Jordaniens, nahe der jordanischen Hauptstadt Amman, etwa sechs Kilometer südlich der syrischen Grenze (Abb. 4). In dem Camp leben derzeit rund 90.000 Geflüchtete, es ist damit eines der größten Flüchtlingslager der Welt. Zaatari ist von Urbanisierungsprozessen geprägt, die für Flüchtlingslager im globalen Süden typisch sind (Agier 2010, 2011; Misselwitz 2009). Diese Verstädterungsprozesse infolge der räumlichen Aneignung und sozialen Praktiken der Geflüchteten haben die ehemalige Container- und Zeltstadt zu einer dauerhaften Siedlung mit einer eigenen städtischen Infrastruktur und ethnisch und sozial segregierten Stadtteilen transformiert. Sie sind damit in hohem Maße das Ergebnis der Selbstorganisation der Geflüchteten, die im Zusammenspiel mit der UNHCR-Verwaltung die humanitäre, soziale und räumliche Ordnung des Lagers radikal verändert haben. Die Aneignungsprozesse und räumlichen Praktiken der Geflüchteten in Aushandlung mit dem Migrations- und Organisationsregime haben so z. B. innerhalb weniger Monate im Jahr 2012 die ursprünglich in klaren Rastern angeordneten Flüchtlingscontainer zu kleinen, halbgeschlossenen Clustern umgeordnet, die der sozialräumlichen Struktur einer „traditionellen“ syrischen Stadt entsprechen. Dadurch sind klar getrennte Quartiere mit eigenen Subidentitäten und eine Hauptstraße mit Marktständen und Geschäften sowie öffentlichen Einrichtungen und Institutionen entstanden. Auf der Ebene der Wohnunterkünfte selbst führten Taktiken des Verschiebens und Zerlegens, des Handels und Tauschens sowie des Wiederzusammenbaus und Neuarrangements von Containern und Zelten zur Bildung eines komplizierten Musters von halbgeschlossenen Wohnanlagen und Wohnblocks. Dafür wurde von den geflüchteten Menschen räumliches Wissen mobilisiert bzw. in räumlichen Praktiken angewandt, das sie an den vorherigen Wohnorten und homes gesammelt hatten. Sie stellten dadurch auch räumliche Strukturen wieder her, die denen der Dörfer und Stadtviertel ihrer früheren Wohnorte in Syrien entsprechen.4 4 Unser Forschungsteam beschäftigt sich in Jordanien mehr mit der Rolle der Geflüchteten bei urbanen Transformations- und Urbanisierungsprozessen, während sich die Forschung in Berlin vor allem auf die räumlichen Praktiken innerhalb der Unterkünfte, insbesondere einzelner „Häuser/homes“, und bisher weniger auf die urbanisierenden räumlichen Praktiken konzentriert. Die bisherige jordanische Feldforschung wurde von unseren Kollegen durchgeführt.

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Zu Hause im Unbehausten So begannen die Bewohner_innen unmittelbar nach der Ankunft von Containern, die die ursprünglichen Zeltstrukturen ersetzten, die rasterartige Struktur der Container neu auszurichten und in Mehrraum- bzw. Mehrcontainerwohnungen umzuwandeln. Die Container selbst können leicht von Hand verschoben, geschwenkt oder sogar über kurze Strecken transportiert werden, wobei mindestens sechs Personen benötigt werden. Oftmals geschieht dies im Schutz der Dunkelheit und nicht unbedingt mit Wissen der Lagerverwaltung. Da die Bewohner_innen geschlossene oder zumindest teilweise gegenüber der Umgebung abgeschirmte Wohnformen bevorzugen, wird so auch eine offene Hofsituation geschaffen, die vor neugierigen Blicken schützen kann. Diese Architektur ist den Bewohner_innen aus ihren vorherigen Wohnorten bekannt und wird im Camp aktualisiert – wenn auch mit den vorhandenen Mitteln, Materialien und sich zunehmend professionalisierenden Bautaktiken und -techniken. Durch Anbauten und Änderungen werden diese neuen räumlichen Konfigurationen anschließend zu oft komplexen und blockartig geschlossenen Strukturen zusammengeführt, in denen Großfamilien zusammenleben; dabei teilen sie halböffentliche Gassen und Höfe miteinander, die auch ein Mehr an Privatsphäre bedeuten und sozialen Austausch miteinander ermöglichen. Neben dieser Differenzierung innerhalb der Wohnbereiche entstanden so in Zaatari auch spezialisierte Einzelhandelszonen. Diese helfen den Bewohner_innen nicht nur, sich mit Gütern des täglichen Bedarfs und Dienstleistungen in Laufnähe zu versorgen, sie spiegeln auch die bekannte Struktur der gemischt genutzten innerstädtischen Viertel mit spezialisierten Geschäftszonen und Gewerbeclustern wider. Die Bewohner_innen entlang der Hauptstraßen haben ihre Container und Zelte zu halböffentlichen Ständen, Geschäften und Kiosken umgebaut, was zur Entstehung marktähnlicher Bereiche entlang der Nord-Süd-Hauptstraße (die „Champs-Élysées“ genannt wird) und entlang der zentralen West-Ost-Achse (des sogenannten „Saudi-Markts“) geführt hat, die von allen Bewohner_innen des Lagers genutzt werden. Auch in den belebten Gebieten um die vom UNHCR aufgebauten öffentlichen Einrichtungen wie etwa Schulen oder Krankenhäuser sind Geschäfte und Cafés entstanden. Obwohl das UNHCR und seine Regelwerke für das Lager keine gewerbliche Nutzung erlauben, sind die Geflüchteten, wo immer sich die Gelegenheit dazu bietet, zu Geschäftsleuten und „Hausbesitzer_innen“ geworden. „Zaatari is becoming an informal city: a sudden, do-it-yourself metropolis of roughly 85,000 with the emergence of neighborhoods, gentrification, a growing economy and, under the circumstances, something

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4  Luftbild des UNHCR-Camps Zaatari

approaching normalcy, though every refugee longs to return home. There is even a travel agency that will provide a pickup service at the airport, and pizza delivery, with an address system for the refugees that camp officials are scrambling to copy“ (Kimmelmann 2014).

Zu Hause im

Temporären

Sowohl in Jordanien als auch in Deutschland wird die Wahrnehmung des Zufluchtsortes stark von den subjektiven Hoffnungen, Ängsten und Erfahrungen der Geflüchteten beeinflusst. Ihre Wahrnehmungs- und Vermittlungspraktiken haben sich im Verlauf ihres Aufenthalts im Lager – und im Falle Berlins auch der umliegenden Großstadt – stark verändert. Gleichzeitig werden der jeweilige Ort und seine Räume und Regeln graduell angeeignet und dadurch sozial und materiell verändert. Gleichwohl beeinträchtigen laut den Interviewten verschiedene Faktoren das Entstehen eines Zuhausegefühls mit den damit einhergehenden Verantwortlichkeiten, Zuständigkeiten und Sicherheiten. Als Faktoren werden vor allem der Mangel an Privatsphäre und Autonomie genannt, aber auch die temporäre Struktur der Unterkünfte und der dadurch entstehende Mangel an Stabilität und Planungssicherheit.

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Zu Hause im Unbehausten Eine Unterkunft in Berlin, in welcher wir geforscht haben, sind die tempohomes in der Wollenberger Straße in Berlin-Lichtenberg, die 2016 von einer der (halb-)öffentlichen Wohnungsgesellschaften in Berlin fertiggestellt wurden. Auf dem Gelände gab es vor 1989 eine ebenfalls temporäre, von der restlichen Stadt (damals Ost-Berlin) isolierte Unterkunft für vietnamesische Arbeiter_innen, und die gebaute und soziale Umgebung hat sich seit dem Fall der Mauer nicht signifikant verändert. Somit wird der Neubau heute nur von wenigen Wohngebäuden, einem wenig frequentierten Gewerbegebiet und meist leeren Plattenbauten, die auf den Abriss warten, umrahmt. Für die meisten Geflüchteten wird der Umzug in die tempohomes an der Wollenberger Straße jedoch aufgrund der als schrecklich geschilderten Situation in der benachbarten früheren Notund Erstaufnahmeunterkunft, wo sie sich eine Sporthalle mit Hunderten von anderen Menschen ohne schützende Raumtrennung teilen mussten, als Verbesserung angesehen. Die beiden Fotos (Abb. 5), die von einem der befragten Bewohner aufgenommen wurden, zeigen diese Wohnsituation: Ebenso wie in Zaatari versuchten auch in Berlin die Geflüchteten mit den verfügbaren Materialien (Bettwäsche, Handtücher, Etagenbetten) einen Sichtschutz zu errichten und damit Privatsphäre zu gewinnen, soweit die Regeln des Betreibers dies erlaubten. In den Interviews äußern sich die von uns befragten Geflüchteten „sehr froh“ darüber, dass sie nun ihre tempohomes-Container nur noch mit sehr wenigen (jedoch auch weiterhin oft unbekannten und nicht-verwandten) Mitbewohner_innen teilen müssen. Sie profitieren auch vom längerfristigen Aufenthalt im gleichen Viertel (trotz der Unterversorgung und der vielen Leerstände infolge der De-Industrialisierung des Viertels), da sie ihre Wege in der Nachbarschaft bereits von der ja nahe gelegenen vorherigen Unterkunft kennen und so bereits wichtiges Wissen über das Viertel gesammelt haben. Ein tempohomes-Bewohner beschreibt die vorherige Wohnsituation in der angrenzenden Sporthalle als vollständig den spontanen Kontrollen und Störungen durch die Security-Angestellten und Wachen ausgesetzt, die ihn unter anderem daran hinderten, sich dort sicher und zu Hause zu fühlen. „In der Sporthalle, in der die Mitarbeiter Arabisch sprachen, servierten sie dreimal täglich Essen. Ich hatte nicht genug Geld, um genug Essen zu kaufen, und musste das akzeptieren, was sie servierten [die meisten Interviewpartner_innen beschrieben das Essen

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5  Tempohomes: Handyfotografien eines syrischen Geflüchteten von der Notunterkunft in der Sporthalle, Wollenberger Straße, Berlin-Lichtenberg

als nicht sättigend]. Während des Monats Ramadan bat ich einen der Mitarbeiter, das Iftar-Menü auf den Abend zu verschieben, aber er weigerte sich. Das ärgerte mich und trieb mich dazu, mit ihm zu diskutieren, bevor ich dann wegging und ins Bett zurückkehrte, um auf das Iftar-Mahl zu warten. Mitten in der Nacht kam er auf einmal in Begleitung der Polizei zu mir und sie warfen mich aus dem Saal, ohne dass ich das Recht hatte, mich zu verteidigen. Da ich damals noch kein Deutsch konnte, konnte ich nicht mit der Polizei reden und weiß immer noch nicht, was der Mitarbeiter in dieser Nacht zu ihnen gesagt hat. Das Lagerpersonal behält sich das Recht vor, dich aus dem Bett zu werfen, auch mitten in der Nacht. Ich war gezwungen, diese Nacht auf der Straße zu verbringen und bis zum Morgen zu warten, damit ich zum Bezirksamt gehen konnte, um eine neue Unterkunft zu beantragen.“ Da die Bewohner_innen in ihrem Wohnen ständig exponiert und der Gnade des Sicherheits- und Leitungspersonals ausgeliefert sind, bietet der Aufenthalt in diesen Unterkünften keine Sicherheit und kein Wohlbefinden, was für die Bewohner_innen grundlegende Voraussetzungen für die

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Zu Hause im Unbehausten Entwicklung eines Zuhausegefühls wären. Die Interviewpartner_innen beschreiben das Zuhause/home als einen Ort der Zugehörigkeit, Intimität, Sicherheit, Beziehung zu ihnen wichtigen Menschen, an dem man sich gemäß eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen verhalten kann. Die Forschungsliteratur zu sense of home und home-making im Zeitalter der Migration (z. B. Boccagni 2014; Boccagni/Brighenti 2017; Gielis 2009) beschreibt Zuhause und homes als die materiellen Strukturen, in denen „emotional investments“ (Dowling/Mee 2007), also emotionale Investitionen, aber auch soziale Beziehungen und Bedeutungen des täglichen Lebens entwickelt werden. Die Entwicklung eines Zuhausegefühls und des konkreten Zuhauses (sozial und materiell) kann dann wiederum zu einem Zugehörigkeitsgefühl beitragen. Auch wenn den Bewohner_innen der Flüchtlingslager und -unterkünfte grundsätzlich ein sicheres und Sicherheit versprechendes Zuhause meist fehlt, kreieren sie dennoch meist ab der Ankunft in einer neuen Unterkunft kleinräumliche „micro-settings“, „small niches of community that sometimes flourish within subsections of urban street blocks“ (Kusenbach 2008, S. 323), also Netzwerke, in denen zumindest partiell und meist entlang ethnischer, religiöser, demografischer und sozioökonomischer Grenzen Zugehörigkeiten entstehen können. In diesen Nischen nutzen die Geflüchteten nebeneinander, wenn nicht gemeinsam, die gebaute Umgebung und die konkreten Räume, und durch die so gelebten Alltagsroutinen können sich dann auch Vertrauen, Unterstützung und sozialer Austausch entwickeln. Während ein Zuhause unter anderem für Sicherheit steht, erleben Menschen – insbesondere Kinder und Frauen – es oft auch als Ort der Entfremdung, Ablehnung, Feindseligkeit, Gefahr, Gewalt und als Angstraum (vgl. Dowling/Mee 2007; Savage et al. 2005; Duyvendak 2011; Watt 2009). So beschreiben viele der interviewten Frauen die Flüchtlingsunterkünfte auch als sehr unsicher, z. B. weil sie in den „öffentlichen“ Räumen Sexismus und Übergriffen von Männern ausgesetzt sind. Da ihre mühsam erkämpften „privaten“ Räume zugleich nicht abschließbar sind, sind sie auch dort nicht sicher geschützt und müssen stets befürchten, selbst in intimsten Momenten gestört zu werden. Dies betrifft auch andere Alltagsroutinen. Alle Interviewpartner_innen beklagten sich über den Mangel an Sicherheit und Privatsphäre in den Unterkünften. So wurde auch der Mitautor, der selbst als Geflüchteter nach Deutschland kam, aus einer Notunterkunft in Berlin geworfen, nachdem er einen Freund besucht hatte, weil er vergessen hatte, seine dreitägige Ab-

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Anna Steigemann und Amer Darweesh wesenheit dem Betreiber mitzuteilen. Als er zurückkam, fand er jemand anderen in dem, was er sich als Rückzugsort und Zuhause kreiert und dekoriert, als „sein“ Zimmer angeeignet hatte und in welchem er seine wenigen privaten Gegenstände aufbewahrte. Was er sich also zumindest temporär als Zuhause erobert und angeeignet hatte, war innerhalb von drei Tagen verschwunden bzw. zerstört worden. Aber auch die Regel selbst, jede Abwesenheit zu melden, steht im Gegensatz zur sozialen Praxis des home-making, da die Ankündigung jeder Bewegung, jedes Schrittes außerhalb der Unterkunft eine drastische Einschränkung der Autonomie bedeutet und die Bewohner_innen infantilisiert. So verschwieg der Autor seine Abwesenheit auch deshalb, weil es ihm unangemessen erschien, so etwas Triviales wie einen Besuch bei einem Freund zu melden – mit der Konsequenz des abermaligen Verlusts eines Zuhauses. Das Recht des Betreibers, ihn und andere Geflüchteten aus seiner Unterkunft auszuweisen, stellt daher für uns eine Form der totalen Kontrolle dar (im Gegensatz zur Ausweisung aus Sicherheitsgründen, also bei Fällen, in denen die Sicherheit anderer Bewohner_innen gefährdet sein könnte). Dadurch wird nicht nur die Handlungsmacht der Bewohner_innen beschränkt, sondern schlussendlich verhindern die totale Kontrolle, die fehlende Verfügungsmacht über die Räume und die Meldepflicht, dass sich die Geflüchteten dort wohl fühlen und privaten, häuslichen Praktiken nachgehen können. Das macht das Lager zu einem Ort, an dem „people are condemned to the status of strangers, outsiders, and aliens and stripped of their existence“ (Isin/Rygiel 2007, S. 181) – ebendies macht die Lager zu „abject spaces“ (Isin/Rygiel 2007). Auf die Frage, wie die syrischen Geflüchteten Zuhause/home definieren und was ein Zuhause für sie zu einem Zuhause macht, fragten unsere Interviewpartner_innen immer wieder zurück: „Wie kann ich mich denn mit den Sicherheitskräften am Eingang wohl fühlen?“ Ein Mann fügte wütend hinzu, auf den die Unterkunft umgebenden hohen Zaun zeigend, „dieser Zaun umgibt uns an jeder Seite. Es macht, dass die Außenwelt uns wie Tiere im Käfig sieht.“ Die Anwesenheit von Sicherheitskräften und Verwaltungspersonal, der hohe Zaun und die fehlende Möglichkeit, die Türen abzuschließen, hinderten ihn und seine Frau daran, sich sicher und zu Hause zu fühlen. Andere Interviewpartner_innen erklärten wiederum: „Wie kann ich das sagen, dass ich zu Hause bin, wenn der Betreiber den Schlüssel zu meinem Container hat, mit dem Recht jederzeit hin-

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Zu Hause im Unbehausten einzugehen? Meine Frau trägt den Hijab, und sie muss ihn die ganze Zeit im Container tragen, in dem Wissen, dass jemand plötzlich hereinkommen könnte. Es stimmt, dass er zwar an die Tür klopft, bevor er hereinkommt, aber was ist, wenn wir das Klopfen nicht hören? Sie werden eintreten. Das ist nicht unsere Kultur. Ich glaube, dass auch das deutsche Gesetz das Betreten eines Hauses ohne Erlaubnis verbietet.“ Als wir den Betreiber nach dem Zaun fragten und ihm erzählten, wie einschränkend und bedrohlich der Zaun von den Bewohner_innen der Unterkunft wahrgenommen wird, gestand er, dass er den Zaun ebenfalls nicht mag, weil er die Geflüchteten exponiere und zugleich isoliere und weil er kontraproduktiv in Bezug auf die Integration in die Nachbarschaft sei. „Wir haben mit dem LAF über die Entfernung des Zauns gesprochen, weil wir uns nicht in einem isolierten Dorf befinden, aber sie haben sich geweigert. Wir baten sie dann, keinen Zaun um den Kinderspielplatz zu bauen, damit sowohl Kinder aus der Nachbarschaft als auch Flüchtlinge zusammen spielen können. Sie weigerten sich und argumentierten, dass es notwendig sei, ihn zum Schutz der Kinder zu bauen. Am Ende baten wir sie, zumindest keinen hohen Zaun zu bauen, und unsere Anfrage wurde beantwortet, und der Zaun ist jetzt so.“ Der Zaun wird folglich als Schutz vor der „Außenwelt“ gerechtfertigt, doch die Geflüchteten fühlen sich durch ihn umso mehr benachteiligt und vom Alltag in den umliegenden Stadtteilen ausgeschlossen. Er dient hauptsächlich zur Kontrolle, vor allem des Ein- und Ausgangs, und laut Betreiber auch zum Schutz. Die Betreiber_innen sehen es als ihre Aufgabe an, die Bewegungen in und aus den Unterkünften zu kontrollieren, auch und gerade vor dem Hintergrund, dass die lokale Bevölkerung die Anwesenheit von Geflüchteten möglicherweise ablehnt. So begründete z.B. das Landeskriminalamt (LKA) den Zaun in einer Unterkunft in Berlin-Marzahn, einem von der dortigen Großwohnsiedlung geprägten Viertel im Osten Berlins, mit dem Erfolg rechtsextremer und populistischer Parteien sowie massiven Protesten gegen die neuen Nachbar_innen. Ein Mitarbeiter in der genannten Unterkunft kommentierte dies im Interview so: „Das LKA hält den Schutz von Flüchtlingen für wichtiger als ihre Integration in die Gesellschaft.“ Aber auch in den anderen untersuchten Flüchtlingsunterkünften in Berlin und Zaatari gibt es rigide Sicherheitsmaßnahmen, vor allem am

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Anna Steigemann und Amer Darweesh Eingang. Amer, mein Mitautor, erzählte mir, Anna (ohne Fluchthintergrund), als er einen seiner in der Unterkunft in Marzahn lebenden Freunde besuchen wollte, überprüften die wie Gefängniswärter ausgestatteten Sicherheitskräfte bei der Ankunft nicht nur seinen Personalausweis und seine weiteren Papiere, sondern er musste auch seine persönlichen Gegenstände vorzeigen und eine Leibesvisitation erdulden. Nachdem er seine Identität bestätigt und die Inspektion überstanden hatte, fragten sie ihn, ob er schon einmal in der Unterkunft gewesen sei, und überprüften im Computer seine Daten, fanden aber keine Hinweise auf seine früheren (Vor-Ort-)Besuche (auch im Zuge unserer Forschung). Als dagegen ich, Anna, verschiedene Unterkünfte besuchen wollte, aber meinen Ausweis nicht dabeihatte und einmal auch meinen Besuch nicht rechtzeitig angekündigt hatte, ließen die Sicherheitskräfte mich dennoch hinein. In der hinter mir entstehenden Einlass-Schlange, in der Bewohner_innen der jeweiligen Unterkunft geduldig darauf warteten, dass sie hinein- oder hinausdurften, schilderten mir die anderen Wartenden, dass sie jeden Tag mehr als eine Stunde mit Warten verbringen, wenn sie Freund_innen oder Familienmitglieder besuchen wollen, die in anderen Unterkünften untergebracht sind, oder wenn sie diese bei sich empfangen wollen. „Meistens warten wir aber auch, wenn wir einfach nur vom Amt oder vom Einkaufen zurückkommen.“ Als wir die Bewohner_innen fragten, wie sie über die umfangreichen Kontrollen denken, antwortete ein Mann in ironischem Tonfall: „[D]iese Unterkunft ist wie ein Hotel und sie sind die Investoren. Es geht ihnen nur darum, die Zahl der Gäste zu erhöhen. Es ist ein Hotel, aber mit einer starken Kontrolle. Sie versuchen, unsere Taschen zu überprüfen, sie wollen überprüfen, ob wir einen Fernseher oder einen Kühlschrank haben.“ Geflüchtete aus den tempohomes in Berlin-Lichtenberg beklagten, dass sie infolge der Isolation und der von außen sichtbaren strengen Sicherheitskontrollen keine Beziehungen zu den Bewohner_innen der Nachbarschaft hätten; ein junger Mann meinte, als er gefragt wurde, wie er sich im Hinblick auf das Wohnen im Lager fühlt: „[A]ls wir hier im Lager ankamen, waren wir einer Menge Schikanen durch Einheimische ausgesetzt, jeder sah dich seltsam an. Es gab überhaupt keine Begrüßung. Wir waren wenige, aber heute sind wir

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Zu Hause im Unbehausten viele geworden und unsere Anwesenheit hier ist eine Realität. Jetzt ist es schwieriger, uns zu belästigen.“ Die fehlende Integration führt dazu, dass sich die Bewohner_innen nicht nur im Lager, sondern auch in der weiteren Nachbarschaft nicht (wirklich) zu Hause fühlen. Aber aufgrund der zunehmenden Präsenz von Syrer_innen in der Gegend, so der junge Mann weiter, fühle er sich sicherer, wenn er sich im Umfeld der Unterkunft bewegt. Ein afghanischer Mann fügte hinzu: „Wir wurden mit Steinen beworfen, als wir vorher in der Sporthalle wohnten“; ein syrischer Interviewpartner beschreibt die frühere Zeit in der Turnhalle ebenfalls als „schlimmer“ und weist darauf hin, dass mehrfach Fenster mit Steinen eingeschlagen wurden. Wie die Interviews zeigen, sind nicht nur die Behausung und die Wohnform, sondern auch Möglichkeiten zur Nutzung des näheren und weiteren städtischen Umfelds mit seiner Infrastruktur und dem Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln essentiell für das Wohlbefinden und das home-making der Geflüchteten wie auch für ihre Integration in die Stadtgesellschaft. Die meisten interviewten Geflüchteten in Berlin nannten als einen zentralen Ort für sie die Sonnenallee in Berlin-Neukölln mit ihren zahlreichen arabischen Supermärkten, Restaurants, Cafés und Bars, in denen sie sich mit vertrauten Waren versorgen können und Freund_innen, Familienmitglieder oder Bekannte treffen können – sie wird unter Syrer_innen und Libanes_innen und anderen arabischsprachigen Berliner_innen daher oft auch „arabische Straße“ genannt. Weitere wichtige Orte des Zugehörigkeits- und Zuhausegefühls sind die Räumlichkeiten der lokalen Initiativen und Zentren zur Unterstützung von Einwanderung und von Geflüchteten. In Bezug auf Orte, die zum Zuhausefühlen in Zaatari beitragen, verwiesen unsere Forschungspartner_innen eher auf die – im Vergleich auch stärker entwickelte – Versorgungs- und Freizeitinfrastruktur im Camp und nur zum Teil auf das Angebot im benachbarten Amman. Aufgrund der größeren Präsenz von Syrer_innen und der gemeinsamen Sprache in Jordanien bezogen die Interviewten sich beim home-making eher auf die Container und Zeltarrangements im Lager. Aber auch in Berlin führten die gestiegene Präsenz von Syrer_innen und ihre räumlichen home-making-Praktiken sowie die Nutzung der Umgebung zur Entstehung neuer Räume und räumlicher Qualitäten in der unmittelbaren Umgebung der Unterkünfte. Der Besitzer des neu eröffneten Lebensmittelgeschäfts in der Nähe der tempohomes in der

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6  Neuer arabischer Shop, Versorgung der lokalen Geflüchteten in Berlin-Lichtenberg

Wollenberger Straße (Abb. 6) namens Al-Shahba (ein anderer Name für Aleppo) meinte auf die Frage, warum er ausgerechnet in einem wenig belebten Industriegebiet Produkte aus arabischsprachigen Ländern verkauft: „Sie sind vielleicht neu hier! Es gibt hier ein Lager [zeigt in Richtung der tempohomes] und alle unsere Lebensmittel sind am Ende des Tages komplett ausverkauft.“ Sein Geschäft machte er gerade wegen der neuen tempohomes dort auf und schuf damit eine Verbindung zwischen

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Zu Hause im Unbehausten deren Bewohner_innen und der Umgebung. Dadurch wurde das ehemals recht menschenleere Industriegebiet und auch der öffentliche Stadtraum wiederbelebt und überhaupt erst ein Nahversorgungsangebot auch für die wenigen Bewohner_innen außerhalb und die Geflüchteten in der Unterkunft geschaffen. Viele Familien im Lager verlassen dennoch die Gegend, vor allem um in der Sonnenallee arabische Lebensmittel einzukaufen. Allerdings fahren sie viel seltener dorthin, seitdem der Laden in der „unmittelbaren Umgebung des Zuhauses“ (tempohome-Bewohnerin) eröffnet hat, der die gleichen Waren zu ähnlichen Preisen anbietet. So tragen auch der neue Laden und die neu entstandene Möglichkeit der Nahversorgung dazu bei, dass sich die Bewohner_innen der Unterkunft dort zu Hause fühlen. In einer anderen tempohome-Siedlung im sozial und ethnisch bekanntermaßen sehr vielfältigen Berlin-Kreuzberg, aber noch mehr im Containerdorf am Ostpreußendamm in Berlin-Steglitz fühlen sich die Interviewpartner_innen und ich (Amer) angesichts des durch die Fluchtmigration neu entstehenden lokalen Lebens oft an ein „typisch arabisches Viertel“ erinnert, etwa wenn die Bewohner_innen sich gegenseitig zum gemeinsamen Essen oder zum Kaffeetrinken einladen oder im öffentlichen Raum für Diskussionen und Unterhaltungen treffen. Dabei spielt wiederum die architektonische Gestaltung der Container eine große Rolle für die Entwicklung eines Zuhausegefühls und das home-doing: Die Anordnung der Räume und Türen ermöglicht teils, dass sich die Räume wie in einer Wohnung zueinander öffnen. Ein Bewohner war auch der Ansicht, dass allein schon die Tatsache, dass es in jedem Container Toiletten und Badezimmer gibt, den Bewohner_innen, selbst wenn sie mit einigen unbekannten Personen geteilt werden müssen, ein Gefühl von Privatsphäre vermitteln, „als ob wir wirklich in einer eigenen unabhängigen Wohnung leben würden“. Eine Frau aus dem Irak betonte, dass sie diesen Ort nicht verlassen will, obwohl sie weiß, dass ihr Aufenthalt dort nur vorübergehend ist: „Wir sind seit drei Jahren hier und fühlen uns, als ob wir in unserer Familie leben. Warum sollten wir jetzt wieder eine Wohnung finden und umziehen?“ Die Bewohner_innen dieser tempohomes und MUFs haben immer wieder erwähnt, dass sie sich viel besser fühlen als zuvor, in den Unterkünften in Steglitz, Kreuzberg und Tempelhof auch wegen der vielfältigen Nachbarschaften, der zentralen Lage und der Nähe diverser Versorgungs- und Verwaltungseinrichtungen. Durch die Regeln und die Kontrolle ihrer Wohnpraktiken in den Unterkünften werden die Bewohner_innen jedoch ständig daran erinnert,

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Anna Steigemann und Amer Darweesh dass sie diese nur temporär bewohnen dürfen, dass es sich für sie um ein „Nicht-Zuhause“ handelt. So ist z. B. die persönliche Nutzung von bestimmten Elektrogeräten wie Fernsehern oder textilen Einrichtungsgegenständen wie Teppichen stark eingeschränkt. Darüber hinaus berichten die Bewohner_innen der tempohomes in der Wollenberger Straße von einer unzuverlässigen Stromversorgung aufgrund des überlasteten Stromnetzes. So komme es teilweise zu kompletten Stromausfällen, die zu Problemen mit den Sicherheitskräften und dem Betreiber führten, die sich wiederum weigern würden, die Stromversorgung vor allem in den späten Abendstunden zu gewährleisten. Die Versorgung mit Strom wird von den Bewohner_innen als Grundrecht und elementar für ein Zuhause empfunden sowie als unabdingbar für die Selbstversorgung und die Kommunikation nach außen. Strom und eine gute Internetverbindung sind überdies sehr wichtig, um mit den oft weit entfernten und oft nach wie vor in Kriegsgebieten oder prekären, unsicheren Verhältnissen lebenden Familienangehörigen und Freund_innen in Kontakt zu bleiben. Diese Kontakte und Kommunikation sind wiederum auch für die in Berlin und Zaatari lebenden Geflüchteten wichtig, um vor Ort zur Ruhe zu kommen, sich wohl und zu Hause zu fühlen, wie unsere Interviewpartner_innen beschrieben. Die Betreiber_innen müssen die Container nach der Laufzeit so zurückgeben, wie sie sie erhalten haben, also ohne jeglichen Schaden, da sie sonst die in ihrem Betriebsvertrag mit der LAF und UNHCR festgelegte Versicherungssummen verlieren. Deshalb dürfen Geflüchtete die Container in Berlin nicht nach ihren Bedürfnissen und ihrem Geschmack umgestalten – die Betreiber_innen sind dementsprechend bestrebt, alle von der LAF übergebenen Einrichtungsgegenstände und Containermodule in ihrem ursprünglichen Zustand – also ohne Wandbefestigungen, Löcher, Nägel, Farbe etc., zu erhalten, zum Teil setzen sie dies auch ohne Rücksicht auf die räumlichen Hindernisse, die die Geflüchteten in ihrem Alltag einschränken, durch. In Zaatari wurden dagegen ähnliche Verbote und Einschränkungen sehr schnell aufgehoben, nachdem die Geflüchteten sogleich anfingen, die sehr viel mobileren Container und Zelte zu Häusern umzubauen. In Berlin besteht jede tempohome-Einheit aus zwei Containern mit einem Gemeinschaftsbereich, in dem sich der Eingangsbereich mit einer Küche und dahinter einem Badezimmerbereich befindet. Links und rechts vom Eingangsbereich befindet sich jeweils ein Schlafzimmer für bis zu vier Personen. Jede Einheit ist vom LAF mit zwei Einzelbetten, zwei Schränken, zwei Regalen, zwei Kühlschränken, einem Tisch mit zwei Stühlen sowie mit

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Zu Hause im Unbehausten vier Steckdosen ausgestattet. Anders als in Zaatari dürfen in Berlin die Bewohner_innen keine Möbel aus dem Container bewegen oder entfernen, weil die Möbel durch das Verstellen beschädigt und/oder der Notausgang beeinträchtigt werden könnten. Diese Regeln sind zwar verständlich, berücksichtigen aber nicht, wie viel Platz die Möbel den Bewohner_innen wegnehmen. Möbel und Geräte nehmen viel Platz ein, sodass pro Person nur noch ca. drei Quadratmeter Fläche zur freien Bewegung zur Verfügung stehen. Sie haben folglich wenig Möglichkeiten, ihre Wohnflächen umzugestalten, um den Raum optimal auszunutzen. Eine Möglichkeit, sich dennoch mehr Bewegungsfreiheit und ein stärkeres Zuhausegefühl zu verschaffen, ist die Errichtung visueller Barrieren zwischen Innen und Außen bzw. zwischen den Innenräumen. Die von uns interviewten Geflüchteten klagten jedoch darüber, dass sie aufgrund fehlender Vorhänge nicht verhindern können, dass Fremde direkt in ihren Container schauen. Die meisten Bewohner_innen haben daher andere Lösungen gefunden, indem sie die Sichtwege durch Möbel oder andere Dinge verstellt haben und/oder behelfsmäßige Vorhänge aus verschiedenen Materialien gefertigt und aufgehängt haben. Vorhänge oder die Möglichkeit, den Blick von Passant_innen und vor allem auch von (nicht verwandten) Männern auszuschließen, sind insbesondere für die praktizierenden Musliminnen in den Lagern wichtig, die in der Öffentlichkeit den Hijab tragen. „Sonst muss ich ihn auch innen tragen“, wie eine Interviewpartnerin beklagte. Manchmal gibt es aber auch ein Einsehen auf Seiten der Betreiber_innen: So erlaubte der Betreiber der Tempelhofer tempohomes den Bewohner_innen die Installation von Vorhängen und Rollläden (auch um zu verhindern, dass die Bewohner_innen alte Zeitungen vor die Fenster hängen) und half ihnen auch bei der Beschaffung von Werkzeug. Zwar stellen die tempohomes und Containerdörfer einen besseren Schutz dar als die Häuser in Zaatari, allerdings bieten auch sie mit nur 10 cm dicken Wänden nicht den gleichen Komfort und Schutz vor der Witterung wie ein gut isoliertes Haus. Ein Mann aus dem Irak beschrieb seinen Container in der Unterkunft in der Wollenberger Straße als „eine Mikrowelle im Sommer und einen Gefrierschrank im Winter“ und er betrachtete ihn daher auch nicht als echtes „home-material“. Mauern sind wichtig in Lagern und Unterkünften, denn „architecturally speaking, the walls of a house offer protection, managing the interference between the inside and the outside, the private and the public“ (Jacobs 2004, S. 173). So versuchte ein Bewohner der Unterkunft in der Wollenberger

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Anna Steigemann und Amer Darweesh

7  Home-making in der Wollenberger Straße, Berlin-Lichtenberg: Funktionale Aufteilung des Raumes

Straße, den Innenraum in zwei Zonen aufzuteilen, eine für Wohn- und Tagesaktivitäten und eine für Schlaf- und Nachtaktivitäten (Abb. 7). Dafür mussten er und viele andere Bewohner_innen jedoch die bereitgestellten Kleiderschränke verschieben, die wiederum die Notausgänge blockierten und nur etwa einen halben Meter Abstand zur Wand und damit zum Durchgehen ließen. Daher gestaltete der Mann den Raum später erneut um, vergrößerte die Wohnzone und den Ausgangskorridor aus dem Schlafraum. Auf die Frage nach diesen räumlichen Praktiken antwortete er, dass er zumeist den ganzen Tag in der Wohnzone verbracht habe:

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Zu Hause im Unbehausten

8  Offizielles Küchendesign vs. räumlich angepasste und neu gestaltete Küche

Bewohner: „[Ich benutze] diesen Raum mehr […] als den Schlafraum, und zwar für verschiedene Bedürfnisse und Zwecke. Ich möchte diese Regale herausnehmen oder zumindest in die Küche stellen, um etwas mehr Platz zu bekommen. Ich habe es versucht, aber sie haben mich daran gehindert. Die Sicherheitskräfte hier bitten uns immer, die Möbel hineinzubringen, aber wohin? Sie tun nur das, was ihnen aufgetragen wird. Es gibt keinen Platz für diesen Tisch im Inneren. Wenn wir wissen, dass jemand vom LAF das Lager besuchen wird, nehmen wir unsere Möbel mit nach innen und stellen sie nach der Visite wieder raus. Auch der Teppich darf trotz Kälte unter dem Vorwand des Brandschutzes nicht auf den Boden gelegt werden. Es ist unsere Gewohnheit, mit der Familie zum Beispiel zum Essen auf dem Boden zu sitzen. Wir können nicht alles tun, was sie sagen, das Leben vor Ort ist anders als das, was sie denken und planen.“ Amer: „Woher wissen sie, dass Sie Teppiche auf dem Boden ausgelegt haben?“ Bewohner: „Der Schlüssel. Sie haben Schlüssel. Die Sicherheitskräfte kommen ohne Erlaubnis herein, und ohne die Schuhe auszuziehen.“ Weiter sagte er wütend, dass dies gemäß arabischen Wertvorstellungen als Mangel an Respekt angesehen wird, insbesondere bei Teppichen:

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Anna Steigemann und Amer Darweesh „Ich stritt mit ihnen wegen ihres sporadischen und willkürlichen Eindringens in meinen Container. Jetzt gehen sie nicht rein, wenn ich hier bin, aber einige Nachbarn sagten mir, dass sie reinkommen, wenn ich weg bin. Einmal, ich weiß nicht, ob dies Absicht oder ein Versäumnis war, haben sie vergessen, die Außentür zu schließen, als sie meinen Container verließen, was beweist, dass sie hereingekommen sind, als ich nicht hier war. Wenn sie auf der Suche nach beweglichen Möbeln und Teppichen sind, das ist, als ob sie nach Beweisen für verdächtige Geschäfte suchen würden! Das ist wirklich lächerlich!“ So haben sowohl die Einrichtungsgegenstände als auch die Gesamtgestaltung der Container, aber vor allem die Möglichkeit für das Personal, die „Häuser“ der Geflüchteten zu jeder Tages- und Nachtzeit zu betreten, einen entscheidenden Einfluss auf das Leben der Bewohner_innen und ihre Wohnpraktiken. Aber nur ein intimes Wohnen, das ungestört und geschützt stattfinden kann, gibt den Geflüchteten das Gefühl eines Zuhauses bzw. die Möglichkeit, sich ein Zuhause einrichten zu können. Unsere Forschung ergab, dass die Containerräume (als non-homes) nicht mit den ihnen zugeordneten Funktionen (Massenwohnungen, aber auch Integration, also Zuhause/homes) übereinstimmen. Diese Diskrepanz veranlasste einige der Bewohner_innen, mit dem LAF zu sprechen, um die architektonischen Entwürfe zu ändern und sie stärker an die vorgesehenen Funktionen anzupassen. So wurde z. B. in den offiziellen Bauzeichnungen einigen Containern die Funktion der Küche zugeordnet. Bei der Umsetzung nach dem Bau stellten die Bewohner_innen fest, dass die für die Küchen vorgesehene Fläche bei Weitem nicht ausreichte, um die zur Verfügung gestellte Küchenausstattung (z. B. Gasöfen) unterzubringen, weshalb sie die Wand zwischen dem eigentlichen Küchencontainer und einem danebenstehenden Container herausnahmen und die Küche so erweiterten (Abb. 8). Aber die Umwidmung eines ganzen zusätzlichen Containers, der ursprünglich für eine Wohnfunktion vorgesehen war, reduzierte natürlich wiederum die Zahl der Schlafplätze. In Zaatari haben die Bewohner_innen dagegen die ursprünglich in klaren Rastern angeordneten Container – wie oben ausgeführt – im Jahr 2012 innerhalb weniger Monate zu kleinen, halb geschlossenen Clustern umgestellt, die der sozialräumlichen Struktur syrischer Städte ähneln. Eine weitere home-making-Praxis in Zaatari besteht darin, einzelnen Quartieren und Orten des Camps Namen zu geben: Geflüchtete benannten Bereiche

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Zu Hause im Unbehausten des Lagers nach den Ländern, in denen die Container hergestellt bzw. von denen sie gesponsert worden waren, z. B. Saudi-Arabien, Iran oder Katar. Orten einen Namen zu geben, verstehen wir als konkrete home-making-Praxis und als erstes Arrangement hin zu einer dauerhaften Wohnform. Die Namensgebung bedeutet auch, dass emotional-affektive Beziehungen zu diesen Orten herausgebildet werden, was wir als konstitutiv für das soziale und emotionale Bilden eines Zuhauses ansehen. Schlussendlich sind es die ort- und raumbildenden, aber auch symbolischen Praktiken der Geflüchteten in steter Verhandlung mit den Kontroll- und Organisationspraktiken der lokalen Verwaltungseinrichtungen, die zu einer etablierten und anerkannten Stadtstruktur in Zaatari geführt haben, die es den Bewohner_innen ermöglicht, konkrete Orte als ihr Zuhause zu bezeichnen: „I live in Saudi Arabia, the house with the red graffiti.“ Dies interpretieren wir als einen weiteren Schritt zum home-making und home-feeling, wenn auch in einer als temporär angelegten Siedlungsstruktur. Neben der Neupositionierung der Container wurden Containerteile zur wichtigsten Materialquelle, um neue Container zu „bauen“ oder bewohnte Container weiter „umzugestalten“, um sie zu einem Zuhause zu machen. Nachdem durch die erzwungene Reduzierung der Anzahl von Menschen im Lager viele Container leer standen, wurden einzelne Containerteile und sogar ganze Wohneinheiten zu Waren auf einem florierenden informellen Markt. Die in den Containern verwendeten Standardmetallplatten wurden dabei als neue vielseitige Grundkomponenten für den Innenausbau, den Möbelbau (z. B. für Tische, Fernsehständer, Regale) und architektonische Erweiterungen (Dächer, Vordächer, Außentrennwände, Raumerweiterungen, Außentoiletten) verwendet. Mit dem Kauf von Containerteilen konnten die Bewohner_innen zusätzliche private oder halböffentliche Räume für sich gewinnen, wie z. B. kleine Innenhöfe, Vorräume oder ganze ummauerte Gärten. Die Demontage, der informelle Handel mit Containerteilen und der Umbau der bestehenden Einheiten ermöglichten es auch, völlig neue Gebäudetypen zu errichten, etwa Geschäfte oder Moscheen, und dadurch eine städtische Infrastruktur zu schaffen. Da das UNHCR diese Eigeninitiativen der Bewohner_innen nicht unterbinden konnte, toleriert es die Existenz der neuen Gebäude(-Cluster) und Strukturen weitestgehend. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass wir in den verschiedenen Berliner Unterkünften und im UNHCR-Camp Zaatari in Jordanien eine Architektur des „Zuhauses im Unbehausten“ vorgefunden haben,

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Anna Steigemann und Amer Darweesh welche die Bedürfnisse und Alltagspraktiken der Bewohner_innen nicht wirklich berücksichtigt. Auch verhindert das hohe Maß an Kontrolle und Regulierung, dass sich die Geflüchteten in den Unterkünften verstärkt zu Hause fühlen können. Auf der anderen Seite gestalten die Geflüchteten ihre Räume physisch um, um sie ihren Bedürfnissen anzupassen. An den Zufluchtsorten wurde Zuhause von den Interviewpartner_innen als privater, abschließbarer Raum definiert, der Entspannung, Erholung und Sicherheit sowie ein autonomes Leben ermöglicht, aber auch als Gestaltungsmacht im unmittelbaren Außenbereich der Container: In der Unterkunft in der Wollenberger Straße in Berlin wünschte sich z. B. ein Bewohner einen kleinen Garten, da dieser für ihn das Zentrum eines Zuhauses ausmacht. Er hatte vor seiner Flucht aus Syrien in Rief Dimashq, einem Vorort von Damaskus, bereits lange einen Garten bewirtschaftet und wollte diesen in Berlin nachbilden. Sein früherer Lebensort, wie er uns schilderte, liegt in der West-Ghuta, einer großen, intensiv bewirtschafteten Bewässerungsoase, die unter anderem für ihre ausgedehnten Obstgärten bekannt ist und in der die Mehrheit der Einwohner_innen in der Land- und Holzwirtschaft arbeitet. Die Entstehungsgeschichte seines Gartens in Berlin beschrieb er so, dass er nun in der Unterkunft und ihrer Umgebung „wie zu Hause“ Holz sammelte, es dann recycelte und sich damit den kleinen „privaten“ Garten baute, samt einer schattenspendenden Plane und einem Regenschirm als Abdeckung. Ursprünglich lag der Garten in der Nähe seines „eigenen“ Containers, direkt unter dem Außenfenster. Kurz nach dem Bau wurde er allerdings vom Betreiber gebeten, ihn zu verlegen, da er den Notausgang (Fenster) blockiere. Daher musste er die Pflanzen in seinen Container stellen, wo ihnen aber direktes Sonnenlicht fehlte, sodass sie abstarben. Nur dank seiner Überredungskünste erlaubte der Betreiber ihm schließlich, den Garten an anderer Stelle im Lager neu anzulegen (Abb. 9). Es ist nicht überraschend, dass dieser Gärtner, aber auch die Mehrheit der anderen befragten Bewohner_innen in der Wollenberger Straße, den Grad der Kontrolle durch den Betreiber als viel zu hoch empfindet, um sich „auch nur im Geringsten zu Hause zu fühlen“ (Bewohnerin). Dennoch werden die Container ebenso wie der Garten gleichzeitig mit den Aussagen „dort wohne ich“ und „da bin ich zu Hause“ beschrieben. Nach Ansicht des Gärtners, und im Einklang mit dem kollektiven Wunsch nach einer Umgebung, die alle „an zu Hause erinnert“, entwickelte sich der Garten zu einem wichtigen Treffpunkt im Lager. Diese Bedeutung ist dem Gärtner bewusst und darum kämpft er auch weiterhin um seinen Gartenplatz (Abb. 10).

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Zu Hause im Unbehausten

9  Vom Vorgarten zum Gemeinschaftsgarten, Wollenberger Straße, Berlin-Lichtenberg

„Der letzte Betreiber war mit meiner Arbeit hier sehr zufrieden, aber als der jetzige Betreiber kam, warfen sie das gesamte Holz weg, das ich gesammelt hatte, um ein kleines Plateau im Lager zu errichten […] Ich bin hier wirklich deprimiert.“ Der Gärtner half auch vielen der anderen Bewohner_innen, die vom Betreiber und den Sozialarbeiter_innen fest angebrachten Pflanzenboxen, die vor einigen der Container stehen, zu bepflanzen. Viele der Geflüchteten in den Camps kümmern sich nun regelmäßig um die Pflanzenboxen. Diese Aneignungsprozesse der Außenräume der Container sind auch Versuche, diese zu „privaten“ Räumen des neuen Zuhauses zu machen. Ein Bewohner bedauerte allerdings in diesem Zusammenhang, dass alle Aneignungsprozesse immer unter der Aufsicht der Betreiber_innen und ihrer Angestellten ablaufen und die Geflüchteten diesen „ausgeliefert sind“, betonte aber eben auch, dass diese Prozesse nicht kontrollierbar sind und sein sollten: „Wir können nicht alles tun, was sie [Betreiber und

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Anna Steigemann und Amer Darweesh

10  Umgesetzter Garten, der als Gemeinschaftsgarten genutzt wird

Sicherheitskräfte] sagen, unser Leben […] unterscheidet sich von dem, was sie denken und planen.“ Diese Verhaltens- und Organisationsregeln variieren allerdings von tempohome zu tempohome. So dürfen Geflüchtete in der Alten Jakobstraße in Berlin-Kreuzberg z. B. Teppiche auslegen oder einen Fernseher aufstellen, wobei elektrische Geräte allerdings nicht zu lange ans Stromnetz angeschlossen bleiben sollen. Und die Geflüchteten im Containerdorf am Ostpreußendamm können sich auch mit zusätzlichen Möbeln einrichten.

Zusammenfassung: Home-making in non-homes oder zu Hause im Unbehausten Zuhause ist mehr als ein Zufluchtsort, mehr als ein schützendes Dach und ein Bett. Nicht nur für Menschen, die ihr vorheriges Zuhause verlieren, ist Zuhausesein vor allem die affektiv-emotionale, symbolische sowie sozial und räumlich praktizierte Zugehörigkeit und Verbundenheit mit einem bestimmten Ort und den Menschen dort. Zuhause ist damit ein sehr subjektives und hoch dynamisches soziales Feld, eine abstrakte Vorstellung, zugleich aber auch ein konkreter materiell-physischer Raum. Darüber hinaus ist Zuhause auch immer ein Prozess des Schaffens, Machens und

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Zu Hause im Unbehausten Verstehens dieser stabilen und manchmal eben auch instabilen, temporären Formen des Wohnens und Dazugehörens, die sich wiederum immer auch auf verschiedene Räume und Orte gleichzeitig beziehen können (Blunt/Dowling 2006). Deshalb spielen neben den konkreten Unterkünften als unmittelbarem Zuhause auch immer andere Orte der Umgebung eine große Rolle für das Entstehen eines Zugehörigkeits- und Zuhausegefühls, wie etwa andere Orte in den Lagern. Dazu zählen in Berlin vor allem die Sonnenallee (Lebensmittelversorgung und Treffpunkt) und die lokalen Flüchtlingsinitiativen; in Zaatari vor allem die Einkaufsstraße Champs-Élysées. Unsere Untersuchung zeigt also, dass Zuhausesein mehr als reine emotionale Zugehörigkeit, dass es insbesondere eine soziale und räumliche Praxis ist. Home-making-Praktiken werden zudem innerhalb, aber auch außerhalb der Container, Zelte, Cluster und Lager ausgebildet und umgesetzt. Zuhause kann zudem „ein phantasmagorischer Ort“ sein, denn z. B. die digitalen Kommunikationstechnologien „allow the radical intrusion of distant events into the space of domesticity“ (Morley 2000, S. 9), und viele Geflüchtete zeigten daher, wenn sie nach ihrem Zuhause gefragt wurden, auf ihren Handys Bilder ihrer früheren Wohnungen und Wohnorte und nicht der Container, Zelte oder Räume in den Lagern. Fragen nach dem Wohnen und dem Zuhause und danach, was Zuhause oder Nicht-Zuhause ist oder inwieweit Menschen sich überhaupt an einem Ort ganz zu Hause fühlen können, sind eng miteinander verbunden. In unseren Fallstudien hinderten meistens die Behörden und die von ihnen in Auftrag gegebenen Architekturen die Geflüchteten daran, sich (wie) zu Hause zu fühlen. Das sei, wie ein befragter Verwaltungsmitarbeiter sagte, zum Teil auch das Ziel – daher auch die Bezeichnung „tempohomes“. Wie eingangs erwähnt, ist das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Mobilität und der Migration, in dem mehr Menschen denn je unterwegs sind, wobei viele der oftmals hoch dynamischen Migrationsbewegungen dabei auch einen sehr viel prekäreren Charakter als je zuvor haben. Gleichermaßen prekär, mobil und dynamisch sind aber auch das Wohnen und das daraus resultierende Sich-Einrichten und Zuhausesein und -fühlen vieler dieser Migrant_innen, oft bezieht sich das Zugehörigkeitsgefühl dann auch gleichzeitig oder hintereinander auf mehrere Orte und Räume. Diesen ist gemein, dass sie alle nur für eine sehr begrenzte Zeit den jeweiligen Wohnort darstellen, oft mit ungewisser Dauer, ungewisser Zukunft. Aber wie unsere Fallstudien in Jordanien und Berlin zeigen, erlangen selbst nur auf

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Anna Steigemann und Amer Darweesh kurze Dauer ausgerichtete Wohnformen durch die räumliche und soziale Aneignung der Geflüchteten eine gewisse Permanenz (vgl. Yiftachel 2009). In Reaktion auf die home-making-Praktiken werden bestimmte soziale Räume und Dienstleistungen bei der Planung neuer Unterkünfte mittlerweile verstärkt einbezogen, um den Bedürfnissen der Bewohner_innen entgegenzukommen. Obwohl dies auf den ersten Blick wie eine positive Entwicklung wirkt, die den Bewohner_innen zunehmend mehr Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung ermöglicht, birgt sie zugleich die Gefahr einer immer stärker werdenden paternalistischen Planung und Ästhetisierung einer Notsituation, in der sich die Menschen ja weiterhin befinden. Die räumliche Aneignung der Lager durch die Geflüchteten (und die Verfestigung dieser Aneignung) kann aber auch über die weiterhin bestehenden oder sogar immer strikter werdenden Kontrollen und Regulierungen seitens der Betreiber_innen und ihrer Angestellten hinwegtäuschen, welche langfristig einer Inklusion der Geflüchteten und ihrem home-making in den temporären Wohnformen entgegensteht. Darüber hinaus führt die räumliche und soziale Ordnung in den erforschten Lagern und Unterkünften tendenziell auch eher dazu, dass die wenigen Spielräume der Selbstbestimmung und Selbstversorgung der Geflüchteten angesichts der sich professionalisierenden Betreiber_innen, ihrer Managementpraktiken und damit wiederum der verstärkten Kontrolle eher schrumpfen (z. B. behält das Personal trotz der zunehmend als „privat“ deklarierten Räume in den tempohomes die Schlüssel zu allen Räumen). Letztendlich bleiben die Lager- und Unterkunftsbedingungen also trotz der wenigen Spielräume, die den geflüchteten Menschen selbstbestimmte räumliche Praktiken ermöglichen, stark kontrolliert, und die Geflüchteten müssen immer wieder neu aushandeln, inwiefern sie dort zu Hause sein und sich zu Hause fühlen können und wollen (Dalal et al. 2018). Wie gezeigt, variieren also nicht nur die individuellen Aushandlungen und Neuordnungen von Unterkunft zu Unterkunft, sondern auch die Management- und Kontrollpraktiken, die mal mehr, mal weniger räumliche, politische und soziale Möglichkeiten für ein Ankommen, Niederlassen und für home-making, verbunden mit dem Gefühl, zu Hause und behaust zu sein, schaffen.

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Abbildungsnachweise Abb. 1–3: Archiv der Autorin und des Autors. Abb.4: picture alliance/ZUMA Press. Abb. 5–10: Archiv der Autorin und des Autors.

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Mehmet Emir Da und dort zu Hause

Mein Vater ging 1964 als sogenannter Gastarbeiter nach Wien. In seinen Briefen, die er uns nach Hause in die Türkei schickte, erzählte er nur von den schönen Seiten der Stadt. Mit seinen Fotografien schickte er uns über 30 Jahre ausschließlich schöne Bilder von seinen Wochenenden. Erst als ich 1981 selbst zu ihm nach Wien kam, lernte ich einen ganz anderen Alltag kennen, seinen – und dann auch meinen – Arbeitsalltag. Dieser Beitrag versammelt drei Briefe. Sie sind Teil einer Sammlung von Texten – adressiert an meine Eltern, vornehmlich aber an meinen Vater –, die ich über den Verlauf von sieben Jahren in der Wiener Stadtzeitung Augustin veröffentlicht habe. 2012 sind die Texte außerdem auch in dem Buch Ich bin immer noch in Wien (Sonderzahl) erschienen. Meine Texte sollen meinen kritischen Blick auf die sozialpolitischen, aber auch auf die wirtschaftspolitischen Zusammenhänge darstellen. Die Form der Briefe ist eine Korrespondenz zwischen Wien und der Türkei. Sie sind eine Auseinandersetzung mit mir, dieser Stadt, Österreich, aber auch meinem Vater. Manche Texte sind auch an die Mutter adressiert. In diesen Briefen stelle ich mich für die Mutter als Held dar, um ihr zu gefallen. Sie hatte es verdient, einen Helden in Europa zu haben, weil sie alleine, ohne ihren Mann, acht Kinder großgezogen hatte. Zwischen die Briefe sind Fotografien gesetzt. Zwei sind Aufnahmen meines Vaters, die er zu uns nach Hause geschickt hat (Abb. 6 und 7). Die anderen Fotografien habe ich selbst aufgenommen, sie dokumentieren das Leben der Arbeitsmigranten im Wien der 1980er Jahre und das Leben in unserem Dorf in der Türkei.

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Da und dort zu Hause

Im letzten Zimmer der Baracke

Jänner 2007

Hallo Vater! Wie geht es dir? Wenn du nach meinem Befinden fragst: Mir geht es gut. Es ist wieder ein Jahr vom Leben abgezogen. Immer noch die Fragen Überleben, Arbeit usw. Als ich noch in der Türkei war, bevor ich nach Wien kam, habe ich mir solche Fragen überhaupt nicht gestellt. Je älter man wird, desto mehr beschäftigt man sich wahrscheinlich damit. Bis zu meinem 16. Lebensjahr habe ich dich nicht gefragt, wo du wohnst. Jetzt möchte ich dir erzählen, wie ich deine Welt in Wien am Anfang empfunden habe. Wenn jemand in der Türkei Almancı ist, hat er einen Ruf, und ich war der Sohn eines Almancı, eines „Deutschen“. Ich durfte also nicht an dir zweifeln. Du würdest zwar in Wien kein zweistöckiges Haus mit Rosengarten haben, aber mit einer eigenen Wohnung rechnete ich schon. Dann kamen die Baracken der Asphaltfabrik in Sichtweite, ein zweistöckiger Komplex, hoffentlich wohnen wir wenigstens in einem neueren Gebäude. Du machtest eine quietschende Tür auf. Ein Schock: 20 einander gegenüberliegende Zimmer, Neonleuchten, kein Tageslicht. An jeder dritten Tür ein Plastikkübel, neben jeder Tür asphaltverschmierte Arbeitskleidung, Asphaltkrusten an den Schuhen am Boden. An der letzten Zimmertür klopfst du. Ein Mann in deinem Alter macht die Tür auf. Wir begrüßen uns. Ich betrachte das Zimmer. Für jeden Bewohner des 15 Quadratmeter großen Zimmers gibt es einen Hocker, außerdem einen Tisch in der Mitte, einen Kühlschrank, der gemeinschaftlich benützt wird, drei Betten. Ein alter Spiegel, den einer irgendwo gefunden hat. Willkommen, Mehmet, in deinem neuen Haus. Es ist mir jetzt klar, ich bin nun der Mitbewohner dieser beiden alten Herren. Der eine bist du, den ich nicht gut kenne, der andere ist ein komplett Fremder. Es wird türkischer Tee gemacht, wir frühstücken. Mir schmeckt es nicht. Wir gehen ins Büro, du musst mich zur Unterkunft anmelden. Du sprichst sehr viel, ich verstehe gar nichts. Aber ich bewundere dich, wie toll du dich mit den Chefs und Angestellten unterhalten kannst. Erst nach einiger Zeit kann ich feststellen, dass du nur Gastarbeiterdeutsch sprichst. Ich lerne die anderen türkischen Gastarbeiter kennen. Zwei der Türken hatten auch

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Mehmet Emir ihre Söhne zum Arbeiten mit nach Österreich gebracht. Ich wollte ja eigentlich in Österreich Fußballer werden. Nachdem ich die Wohnsituation gesehen hatte, war mir klar: Ich bin zum Arbeiten hier. Auf dich warten die Straßen, die Baustellen von Wien, nicht die Fußballvereine. Wach auf, dein Vater ist hier kein angesehener Mann, er ist nur Gastarbeiter. Er muss sich wie die anderen Gastarbeiter verhalten, die gleichen Muster an den Tag legen. Am Anfang haben sie Transistorradios gekauft und Anzüge mit weißen Nylonhemden und Krawatten getragen, als Zeichen des Wohlstands. Sie haben sich im Sommer, wenn sie in die Türkei zurückgekommen sind, sehr gut präsentiert. Später waren es Fernseher, Videorecorder und Videokameras, die sie mitgebracht haben. All diese Sachen eigneten sich sehr gut für die Politur des in Europa verletzten Stolzes. Einen Monat lang waren sie die Könige der Dörfer. Keiner fragte: Wo wohnst du, was für eine Arbeit verrichtest du? Auch ich stellte dir bezüglich der Arbeitsstätte nie Fragen. Fußballer wollte ich werden, ein türkischer Krankl, das hat mich bewegt. Und über die mitgebrachte Schokolade freute ich mich, wenn du nach Hause kamst. Jetzt war ich auch in Wien, und wo lebtest du? Im letzten Zimmer einer zweistöckigen Baracke. Nach zwei Monaten bekam ich die Arbeitsbewilligung. Mein erster Arbeitstag: ein neuer Arbeitsanzug, Handschuhe, Arbeitsschuhe, die dem warmen Asphalt standhalten sollten. Wir fuhren mit dem Lkw unter die Asphaltmaschine. Das schwarze Gold floss vor unseren Augen auf die Ladefläche. Rauch und Gestank verbreiteten sich. Wir mussten den warmen Asphalt gleich zudecken, damit er bis zur Baustelle nicht kalt wird. Mir kam es so vor, als würde ich mich vom normalen Leben entfernen und Richtung Hölle fahren. Es ist gegen sechs Uhr in der Früh. Wir halten an. Ich frage dich, ob wir schon an der Baustelle angekommen sind. Nein, sagst du. Das ist eine kleine Trinkpause für Bier, Wein und Tee mit Rum. Es ist sehr frisch. Lieber den Gestank aushalten als erfrieren. Du hast in deiner Freizeit gegen Bezahlung fotografiert. Du kanntest alle Parks in Wien, in denen sich die Gastarbeiter aufhielten. Sehr oft warst du am Südbahnhof, das war der Treffpunkt, besonders an den Wochenenden. An diese Zeiten erinnerst du dich sicherlich nicht! Dein Sohn Memo

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Da und dort zu Hause

1  Die Baracke der Baufirma von außen, 1983

2  Innenraum der Baracke, 1983

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Mehmet Emir

3  Asphaltverschmierte Arbeitskleider hängen an den Nägeln am Gang

4  Einblick in ein Barackenzimmer

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Da und dort zu Hause

Südbahnhof, Ankunft in Wien Hallo Vater! Es war gegen fünf Uhr in der Früh. Wir trugen einen Koffer und diverse Nylonsackerl. In Strebersdorf stiegen wir aus, der Zug fuhr Richtung Hollabrunn weiter. Um den Weg abzukürzen, gingen wir ein Stück die Gleise entlang. Ich war in diesem neuen Lebensabschnitt stumm und versuchte, im richtigen Tempo hinter dir Schritt zu halten. Drei Tage hatte die Fahrt vom Dorf über Istanbul nach Wien gedauert. Ich war in Gedanken noch nicht da, träumte noch, viele Fragen beschäftigten mich. Ich war 16 Jahre alt. In der Türkei hatte ich jeden Sommer arbeiten müssen: auf den Feldern, Holz hacken, die Tiere des Dorfes zur Weide führen. Jetzt war ich in Wien, nach einer langen Reise mit dir, einem mir eigentlich fremden Menschen. Als ich auf die Welt kam, warst du schon weg. Bevor du 1964 nach Wien gingst, arbeitetest du in Istanbul. Ursprünglich wolltest du nach Deutschland, hattest aber eine Meldefrist versäumt. Bei der Anwerbestelle haben sie dir dann Österreich vorgeschlagen. Du bist von Istanbul nach 24 Stunden Busfahrt noch einmal ins Dorf gekommen, um dich zu verabschieden. Gemeinsam sind wir am 18. März 1981 um vier Uhr morgens am Wiener Südbahnhof angekommen. Die riesige Halle aus Marmor und Stein hinterließ einen nachhaltigen Eindruck. Die Vitrinen der Geschäfte leuchteten noch und ich fragte mich, wieso niemand die Lichter längst abgedreht hatte. Den Anzug, den ich trug, hattest du auf dem Flohmarkt gekauft. Neugierig und schüchtern saß ich jetzt in der S-Bahn. Ich dachte, alle Menschen im Abteil würden nur mich angaffen, den Neuankömmling in seinem seltsamen Anzug. Ich traute mich nicht, dich nach deiner Wohnung zu fragen. Du warst ein Almancı. Almancı bedeutet im Türkischen: der Deutsche. Man bezeichnet alle, die im Ausland arbeiten, als Almancı, egal ob sie in der Schweiz, in Österreich oder in Frankreich arbeiten. Bevor ich nach Wien gekommen bin, warst auch du für mich ein Almancı. Durch Filme hatte ich immer die Vorstellung von Europa, dass hier die Menschen alle in zweistöckigen Einfamilienhäusern wohnen. Die ideale Familienplanung sieht vor, dass jedes Paar zwei Kinder hat, einen Buben und ein Mäd-

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Mehmet Emir chen. Der Vater hat ein Auto, es wird gefrühstückt, der Vater bringt die Kinder mit seinem Auto in die Schule. Die Haare der Frau schauen toll aus. Durch einen Rosengarten führt die Mutter alle zum Wagen. Im Dorf hatten wir Tiere und Landwirtschaft. Wenn jemand in die nächstgelegene größere Gemeinde fuhr, nahm er alle Briefe für das Dorf von dort mit. Bis uns die Post erreichte, verstrich ziemlich viel Zeit. Wir warteten, bis gegen Abend die Leute zurück ins Dorf kamen. Jeden haben wir gefragt, ob es vom Vater aus Wien einen Brief gäbe. Wenn einer da war, waren wir glücklich, obwohl die Schrift sehr schwer zu entziffern war. Du hattest Lesen und Schreiben beim Militär gelernt, dementsprechend war auch dein Satzbau. Am Anfang des Satzes stand immer der Name meiner Mutter. Fecra, hast du das gemacht, Fecra, hast du jenes gemacht …? In jedem Brief war ein Foto von dir. Für uns hast du in einem Rosengarten gelebt, neben Statuen, halb Löwe, halb nackte Frau, alte Gebäude hinter dir. Manchmal hast du dich vor einem großen Auto fotografieren lassen, obwohl du bis heute keinen Führerschein hast. Du warst immer sehr schick angezogen. Man hatte nicht das Gefühl, dass Hıdır Emir ein Bauarbeiter war. In meinen Augen hast du in solchen Posen wie ein Manager einer großen Holding gewirkt, damals. Bis bald! Dein Sohn Mehmet

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Da und dort zu Hause

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Mehmet Emir

5  Das Leben in den Baracken

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Da und dort zu Hause

Dorfuntauglich Liebe Mama! Nach einem kurzen Aufenthalt bei dir bin ich wieder in meiner neuen-alten Heimat. Wie geht es dir? Inschallah gut. Wie du weißt, in den letzten Jahren bin ich immer, wenn es mir möglich war, zu dir gefahren. Mit der Angst, dass deine Beine dich nicht mehr lange durchs Leben führen werden, besuche ich dich, sooft ich kann. Jeden Urlaub verbringe ich bei dir! Ich bin in Wien angekommen. Interessanterweise freue ich mich auf Wien. Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber ich kann in der Türkei nicht mehr leben. Dort fühle ich mich wie ein Tourist! Zwar nicht wie ein europäischer Tourist, aber dem komme ich nahe. Lange Zeit habe ich dem Verlorenen nachgetrauert. In meiner Kindheit habe ich nach der heilen Welt gesucht. Obwohl sie so entfernt von mir ist wie ein schwarzes Loch im Weltall! Trotzdem entwickle ich immer wieder eine Sehnsucht nach diesem nicht greifbaren Paradies. Meistens vergesse ich bald die heile Welt meiner Kindheit, wenn ich von euch nach Wien zurückkomme. Obwohl es alles andere als eine heile Welt war. Du kannst dich sicherlich an das Gespräch erinnern, an dem sich meine ältere Schwester und mein älterer Bruder beteiligt haben. Der Tenor des Gesprächs war: Mit der Zeit der Kindheit kann niemand zufrieden sein. Es war die Zeit, in der Vater weg war! Er war nie bei den Kindern. Er musste sehr früh, bevor er nach Österreich kam, auch im eigenen Land nach anderen Arbeitsmöglichkeiten suchen. Praktisch war er nie für uns Kinder da. Nur mit dem im Dorf Erzeugten konnte er die Familie nicht ernähren. Obwohl wir Tiere hatten und Landwirtschaft betrieben, reichte es nur, um uns über Wasser zu halten. Mit dem Idealisieren des unbeschwerten Lebens bei euch im Dorf höre ich spätestens nach der zweiten Woche, die ich dort verbringe, auf. Was mich bei euch im Dorf nervt: Selbst wenn ein Mann nicht einmal 20 Meter entfernt vom Dorfbrunnen mit dem dauernd fließenden Quellwasser sitzt, steht er – wenn er Durst hat – nicht etwa auf, um 20 Schritte zu gehen und das Wasser mit seinen eigenen Händen zu schöpfen. Sondern er schreit nach einer Frau, die eine Wasserkaraffe aus dem Haus holt, dazu ein Glas. Wenn keine Frau da ist, schreit er nach einem Kind. Mich nerven die Männer, die das ganze Jahr über unter dem Baum sitzen und sich bedienen lassen, die aber sonst sehr wenig für ihre Umwelt und die Menschen tun.

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Mehmet Emir Ein typisches Beispiel: Walnüsse und Maulbeeren! Die meisten Walnussbäume und Maulbeerbäume sind noch aus der Epoche der Armenier, die vor 100 Jahren hier siedelten. Mama, das sind ein paar Gründe, warum ich nicht mehr bei euch sein kann. Die Leute in deinem Dorf sind liebe Menschen! Angenehm, gemütlich, sogar hilfsbereit. Ich habe Angst, genau wie sie unter einem Nussbaum in meinem Dorf zu landen. Ich bin überhaupt nicht ausländerfeindlich. Aber ich gehöre nicht mehr dorthin. Außerdem, wenn ich unter einem dieser Bäume sitzen würde, nach wem sollte ich eigentlich rufen, der oder die mir Wasser von dem Brunnen bringt. Keine Kinder und nicht mehr verheiratet. Also bin ich nicht mehr dorftauglich! Mich würde man, wie es früher im Dorf üblich war, wie einen alten Gaul auf den Bergen den Wölfen oder den Bären zum Fraß vorwerfen. Mama, ich übertreibe ein bisschen. Ich möchte dir nur verständlich machen, dass ich mich euch entfremdet habe. Natürlich könnt ihr nichts dafür. Ich bin lange Zeit in Wien Ausländer gewesen. Bei euch bin ich eher, wenn ich auch dein Sohn bin, Urlauber. Ich habe inzwischen eine Lebensform entwickelt, mit der ich zufrieden leben kann! Weder vom Schnitzel noch von eurem Kebab, dessen Fleisch ihr schon aus Österreich importiert, bin ich abhängig. Bevor ich mit meinen Sätzen aufhöre, küsse ich deine Hände. Schöne Grüße an Vater, Geschwister, Onkel, Tante und meine Cousins! Euch werde ich wieder besuchen kommen! Dein Sohn Mag. art. Memo

Abbildungsnachweise Abb. 1–5, 8–10: Mehmet Emir. Abb. 6 und 7: Hıdır Emir.

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Da und dort zu Hause

6  Mein Vater vor dem Belvedere, 1965

8   In unserem Haus im Dorf, Sommer 1983

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7  Schweizergarten, 1970

Mehmet Emir

9  Im Dorf vor einem Haus, 1984

10  Im Dorf, Digitalaufnahme aus dem Jahr 2000

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Annette Tietenberg Wohnräume im Wartezustand Zu den Interieurfotografien von Robert Haas* „Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen.“ Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche (1940/41) Auf den ersten Blick scheint es sich um eine Interieurfotografie zu handeln, wie sie sich vielfach in Zeitschriften der 1920er und 1930er Jahre finden lässt. Zu sehen ist ein Wohnzimmer, das im Stil der gemäßigten Moderne eingerichtet ist und davon zeugt, dass Gediegenheit und Fortschrittlichkeit keine unvereinbaren Gegensätze sein müssen (Abb. 1). Um einen niedrigen ovalen Tisch, der ein Bekenntnis zur explizit modernen Materialkombination aus Stahlrohr und Glas darstellt, reihen sich Polstermöbel – ein sanft geschwungenes Sofa, zwei Sessel, ein Hocker –, die Behaglichkeit versprechen. Sorgsam arrangiert steht in der Mitte des Tisches eine kleine Blumenvase. Radial angeordnet wurden sieben Gegenstände auf dem Tisch verteilt, darunter Döschen, Schalen und Untersetzer. Die Wände sind geweißt und kahl, als seien sie sich selbst genug; der Gemälde bedarf es hier nicht. Der Teppichboden wirkt makellos und frisch gesaugt. Im Vordergrund wird im Anschnitt ein weiterer Tisch mit beigeordnetem Sessel sicht-

*D  em Wien Museum, insbesondere Frauke Kreutler, danke ich für kollegiale Gespräche und die Bereitstellung der Digitalisate. Grundlage dieses Beitrags ist ein Vortrag, den ich anlässlich des 37. Bielefelder Fotosymposiums „Modelle und Modellierungen von Räumen und Lebenswelten in Fotografie und Film“ im Mai 2019 an der FH Bielefeld gehalten habe. Ich danke den dortigen Organisatorinnen Anna Zika und Kirsten Wagner dafür, dass ich hier bereits Teile meiner Ergebnisse publizieren durfte, bevor der Tagungsband zum 37. Bielefelder Fotosymposium vorliegt.

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Wohnräume im Wartezustand

1  Robert Haas, Wohnung der Familie Groag, 1937, Kunststoffnegativ, 6 × 6 cm

bar. Vermutlich ist es ein Rauchertisch, denn es liegen Streichhölzer bereit und bei der Silberschale könnte es sich um einen Aschenbecher handeln. Die Atmosphäre des Raumes wird maßgeblich von zwei elektrischen Wandlüstern bestimmt, die in ihrer Reminiszenz an höfische Kristallleuchter und ihrem Spiel mit transluzent schimmernden Stoffschirmen die Ambivalenz unterstreichen, in der sich dieses Interieur sowohl zur Tradition als auch zur Moderne bekennt. Als Scharniere zwischen Alt und Neu fungieren eine mit floral bemustertem Stoff bespannte Zimmertür und ein Glasobjekt auf dem Heizungssims, wobei beide eine Vorliebe für punktuell eingesetztes Dekor erkennen lassen. Der Raum ist penibel ordentlich und menschenleer; er weist keinerlei Spuren von Gebrauch auf. Geht es hier, wie so oft, um die Propagierung vorbildlichen Wohnens? Wurde der Schauraum eines Einrichtungshauses abgelichtet? Oder dürfen sich die Betrachter*innen der voyeuristischen Schaulust hingeben? Erhalten sie Einblicke in die szenische Dekoration des repräsentativen Zuhauses einer prominenten Persönlichkeit, wie dies Interieur-Fotografien zuweilen

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Annette Tietenberg

2  Robert Haas, Gartensalon der Familie Louisa und Gustav Stern, Liechtensteinstraße 53–55 (Palais Kranz), Wien, 9. Bezirk (Alsergrund), 1938, Silbergelatinepapier, 8,5 × 11,5 cm

erlauben, seitdem es Eugène Atget um 1910 gelungen war, ohne Verwendung eines Blitzlichts mehr oder minder verschattete Pariser Innenräume bildlich festzuhalten, die von Künstlern, Schriftstellern, Modistinnen und Bankiers bewohnt wurden (Nesbit/Reynaud 1992)? Werfen wir nun einen Blick in ein gänzlich anders eingerichtetes Interieur. Ist diese Aufnahme eines beinahe fürstlich anmutenden, mit Seidentapeten ausgestatteten Salons, in dem ein Kronleuchter über einer Sitzgruppe im Empire-Stil schwebt, ein Kinderporträt das Sofa hinterfängt und eine in die Wand eingelassene Vitrine, angefüllt mit gerahmten Fotografien, Porzellanfiguren, Vasen und Uhren, die Blicke auf sich zieht (Abb. 2), etwa angefertigt worden, um eine Home-Story zu bebildern? Oder handelt es sich in diesem Fall gar um ein didaktisch motiviertes Negativbeispiel, um ein herbeizitiertes Gegenbild des modernen Wohnens, wie es in den bebilderten Ratgebern zur Schulung von Auge und Geschmack in den 1920er und 1930er Jahren oftmals eingesetzt wurde?

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Wohnräume im Wartezustand

Robert Haas Weit gefehlt. Beide Interieurfotografien, so unterschiedlich sie in ästhetischer Hinsicht auch sein mögen, zeigen Wiener Lebensräume (Platz 1933), in denen sich Menschen heimisch fühlten, denen von ihren Wohnungen bald nichts mehr bleiben sollte als ihre Erinnerungen – und eben jene Fotografien. Und auch dem Fotografen selbst erging es nicht besser. Die Auftraggeber*innen und der Produzent der Bilder wurden, ob Architekt, Innenausstatterin, Grafiker, Publizist oder Grande Dame, aus ihrem Leben herauskatapultiert, mussten flüchten, emigrieren oder gar ihr Leben lassen. Sie wurden, kategorisiert als Juden und Jüdinnen, ihrer Bürgerrechte beraubt und um ihre Lebensleistung, ihren Besitz, ihr soziales Kapital, ihre gesellschaftliche Stellung und ihre Bleibe gebracht. Die Interieurfotografien wurden 2018 erstmals im Kontext der Ausstellung „Die Stadt ohne“ öffentlich präsentiert, die vom Filmarchiv Austria als Begleitprogramm zur Restaurierung und Wiederaufführung des Films Die Stadt ohne Juden von Hans Karl Breslauer aus dem Jahr 1924 eingerichtet worden war. Feierte der Film den prophetischen Weitblick des Schriftstellers Hugo Bettauer, der 1922 seinen Mitbürger*innen mit aufklärerischem Impetus in seinem gleichnamigen Buch den Gedanken hatte nahebringen wollen, dass Antisemitismus keine Antwort auf ökonomische Krisen sein könne, sondern eine Gesellschaft in den Ruin treibe, so standen die Fotografien für die Vergeblichkeit eines solchen Mahnens. Was im Buch und im Film als Vorzeichen nahenden Unheils vor Augen gestellt und drastisch geschildert worden war, hatte in den 1930er Jahren, so zeigen es die menschenleeren Fotografien, tatsächlich stattgefunden: antisemitisch motivierte Plünderungen, Vertreibungen, Verhaftungen. Die beiden erwähnten Fotografien waren – zum einen als Negativ, zum anderen als Abzug auf Silbergelatinepapier – im Nachlass des Fotografen Robert Haas aufgetaucht. Robert Haas, Ende der 1920er Jahre bereits ein anerkannter Typograf, hatte das Handwerk der Fotografie bei Trude Fleischmann gelernt. Ab Anfang der 1930er Jahre schlug er einen anderen Weg ein als seine Lehrmeisterin. Geübt im Umgang mit Rolleiflex und Leica löste er sich vom Sujet der Porträts und begann sich mehr und mehr den Alltagsszenen in seiner Geburtsstadt Wien und in der Umgebung zuzuwenden. 1934 wurden erste Fotografien von Haas in der Halbmonatszeitschrift Die Zeit. Blätter für Erkenntnis und Tat, in der

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Annette Tietenberg Wiener Tageszeitung Telegraf und in der niederländischen Filmzeitschrift Filmliga abgedruckt. Später kamen Abnehmer wie Profil oder Pause und Das interessante Blatt hinzu. Eine Wendung nahm seine Auffassung der Fotografie, als Haas sich Mitte der 1930er Jahre vom Einzelbild löste und dem narrativen Prinzip der Serie zuwandte. Seine mehrteiligen Bildererzählungen korrespondierten der üblichen Rezeptionshaltung gegenüber Illustrierten; sie erschlossen sich sukzessive beim Durchblättern der Seiten. So veröffentlichte Haas Fotoreportagen über das Wiener Schnitzel und über den Masken- und Kostümverleih. Er schilderte den Schultag der Kinder, widmete sich einem Kindergarten im Bezirk Simmering, sammelte Eindrücke von einem Besuch im Krankenhaus und begleitete einen Hausmeister bei seiner Arbeit. Sein engagiertes Eintreten für Arme, Ausgegrenzte und Obdachlose sowie für die Familien- und Armenfürsorge stellte Haas durch Sozial- und Alltagsreportagen unter Beweis, die in Die Bühne und Der Sonntag sowie Der Wiener Tag erschienen (Holzer 2015). Im Januar 1938 untersagte die Gewerbebehörde der Stadt Wien Robert Haas, sich weiterhin als Pressefotograf zu betätigen. Er sei nicht im Besitz einer gültigen Gewerbeberechtigung. Vieles spricht dafür, dass Anton Holzers Vermutung, hier seien antisemitische Ressentiments gezielt eingesetzt worden, um einen unliebsamen Konkurrenten aus dem Weg zu räumen, zutreffend ist (ebd., S. 40). Offenbar war Haas von Denunzianten angezeigt worden. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Nach dem sogenannten „Anschluss Österreichs“ an das nationalsozialistische Deutsche Reich verlor Robert Haas, als Jude markiert, seine Bürgerrechte und seine Existenzgrundlage. Am 30. September 1938 konnte er, nachdem er bereits ins Fadenkreuz der Gestapo geraten war, nach England flüchten. Von dort aus wanderte er am 23. März 1939 in die USA aus und ließ sich in New York nieder, wo er vor allem als Grafiker tätig war, die Handpressen-Druckanstalt RamPress gründete und Typografie an der Cooper Union lehrte, aber auch weiterhin fotografierte. Die in den USA lebenden Töchter Miriam Haas und Cathy Haas Riley sicherten nach dem Tod von Robert Haas im Jahr 1997 die Hinterlassenschaft ihres Vaters, die 3.500 Fotografien und Tausende von Negativen umfasst, und vertrauten diese im Jahr 2015 dem Wien Museum an. Seither werden Robert Haas’ Fotografien dort archiviert, digitalisiert und wissenschaftlich aufgearbeitet. Währenddessen kamen mehrere Fotoserien zum Vorschein, die Wiener Innenräume zeigen, darunter auch die beiden zuvor erwähnten Fotografien; sie sind auf die Jahre 1937 und 1938 datiert.

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Wohnräume im Wartezustand

Hilde Blumberger und Jacques Groag Die anfangs beschriebene Interieurfotografie hat Robert Haas laut Beschriftung am 3. Mai 1937 in der Wohnung Groag aufgenommen. Eine weitere Fotografie aus dieser Serie gibt das Esszimmer wieder (Abb. 3). Sorgfältig sind acht Stühle, exakt umrahmt von der Bordüre des Teppichs, um einen Esstisch herum gruppiert. Eine weitere Reihe von Stühlen, die an der Wand entlang arrangiert wurde, steht bereit für den Fall, dass eine größere Anzahl von Gästen zu bewirten ist. Dann lässt sich der Tisch ausziehen und die Tafel entsprechend erweitern. Auffallend ist, dass die Tür zum Nebenzimmer mit durchscheinendem, sorgfältig arrangiertem Stoff bespannt ist, ebenso – wie eine andere Fotografie desselben Raumes dokumentiert – das zentrale Blumenfenster. Auch die Innenansicht des Büros, das mit einem schlanken, eleganten Schreibtisch und einer Stehleuchte aus Holz und mattiertem Stahl ausgestattet ist, vermittelt den Eindruck, dass hier nicht nur die Möbel, sondern auch die Stores, gerahmt von geblümten Vorhängen, eine wichtige Rolle spielen. Frauke Kreutler, Iris Meder und Gerhard Milchram, die im Katalog Die Stadt ohne erste Versuche unternommen haben, Robert Haas’ Interieurfotografien historisch einzuordnen, merken an, dass sich nicht eindeutig verifizieren lasse, ob „es sich dabei um die Wohnung seines Freundes, des bekannten Architekten Jacques Groag, handelt [...]“ (Kreutler et al. 2018, S. 28). Sicher sei lediglich, dass „Groag im Juli 1938 aus seinem tschechischen Exil“ (ebd.) Robert Haas damit beauftragt habe, das „von ihm entworfene Geschäftshaus der Firma Semperit an der Ecke Taubstummengasse und Argentinierstraße zu fotografieren“ (ebd.). Charakteristische Details wie die mit floral gemustertem Stoff bespannten Türen sind allerdings sowohl auf den Fotografien eines Ankleidezimmers der 1935 von Jacques Groag entworfenen und gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und späteren Ehefrau Hilde Blumberger eingerichteten Villa Paula Wessely, deren Umgestaltung vom beliebten, wohlhabenden und sich den wechselnden politischen Systemen geschmeidig anpassenden Schauspielerehepaar Paula Wessely und Attila Hörbinger in Auftrag gegeben worden war, als auch in dem von Robert Haas dokumentierten Salon der Wohnung Groag zu sehen (Prokop 2005, Abb. 29, S. 84). Sie stimmen in ihrer Machart, dem Textildekor und der ästhetischen Wirkung derart exakt überein, dass sie

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Annette Tietenberg

3  Robert Haas, Wohnung der Familie Groag, aufgenommen am 3. Mai 1937, Esszimmer, Kunststoffnegativ, 6 × 6 cm

durchaus als verlässliche Indizien dafür gewertet werden können, dass der Auftraggeber dieser Interieurfotografien eben jener Jacques Groag gewesen sein muss, der an der Technischen Hochschule Wien und wohl auch an der privaten Bauschule von Adolf Loos studiert hatte. Im Jahr 1927 war Groag als Bauleiter des Wittgenstein-Hauses tätig gewesen; 1932 hatte er mit seinem Doppelhaus in der Wiener Werkbundsiedlung Furore gemacht. Auch als Möbeldesigner war er äußerst erfolgreich. Die Fachzeitschriften priesen ihn als „kultivierten österreichischen Raumgestalter von besonderer Noblesse und Originalität“ (Prokop 2005, S. 70). Vermutlich

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Wohnräume im Wartezustand kam der Kontakt zum Fotografen Robert Haas über Groags Lebensgefährtin Hilde Blumberger zustande, die sich nach ihrer Emigration nach England im Jahr 1940 Jacqueline Groag nannte. Hilde Blumberger hatte an der Wiener Kunstgewerbeschule unter anderem bei Josef Hoffmann studiert; ein Großteil ihrer Textilentwürfe war von der Wiener Werkstätte angekauft worden. Später wurden internationale Modehäuser wie Chanel, Lanvin und Schiaparelli auf sie aufmerksam. Blumberger hatte mehrfach für Trude Fleischmann Modell gestanden, bei der Robert Haas von 1930 bis 1932 an der Akademie der bildenden Künste Wien Fotografie-Kurse belegt hatte. Zudem repräsentierte Hilde Blumberger, ebenso wie Robert Haas, Österreichs Kultur auf der „Exposition Internationale des Arts et Techniques dans la Vie Moderne“ in Paris im Jahre 1937 (ebd., S. 111). Es ist mithin äußerst wahrscheinlich, dass Robert Haas damit beauftragt wurde, die Wohnung Groag als ein Schaustück moderner „Wiener Wohnraumkultur“ (Nierhaus 2014) abzulichten, wobei es besonders darauf ankam, das harmonische Zusammenwirken von Jacques Groags oftmals multifunktionalen Möbeln aus Holz und Stahlrohr mit seinen raffinierten Einbauten, die technische Notwendigkeiten wie Heizkörper hinter einer schönen Fassade verschwinden ließen, und nicht zuletzt mit den von Hilde Blumberger entworfenen Textilien vorteilhaft ins Bild zu setzen. Auch lässt sich schlüssig erklären, warum das Domizil auf den Fotografien so karg, ja regelrecht unbewohnt aussieht. Blumberger und Groag hatten sich entschieden, ihre langjährige Beziehung im August 1937 durch eine Eheschließung amtlich zu besiegeln (Prokop 2005, S. 91). Meine Durchsicht des Wiener Adressbuchs, des sogenannten „Lehmann“, hat ergeben, dass die beiden auch nach ihrer Hochzeit weiterhin in einer Wohnung in der Sieveringerstraße 23 im Wiener Bezirk Döbling lebten, die Jacques Groag bereits 1925 bezogen hatte (Lehmann 1937, S. 364). Diese Wohnung befand sich in einer im selben Jahr fertiggestellten mehrgeschossigen Mietshausanlage mit Mittelrisalit, gebaut nach Entwürfen von Fritz Keller, in dessen Büro wiederum Groag damals tätig war (Prokop 2005, S. 20; Prokop 2016, S. 225f.). Wiewohl Fritz Keller eine in ihrer Kubatur großstädtische Wohnanlage geschaffen hatte, wirken die Innenräume für diese Bauaufgabe außergewöhnlich großzügig geschnitten, ja regelrecht großbürgerlich. Groag und Blumberger hatten schon im Haus Stern in Perchtoldsdorf gemeinsam Räume realisiert, deren Einrichtung die Architekturkritik bescheinigte, dass sie in ihrer „leichten Heiterkeit auf ein ruhiges Behagen“ abgestimmt sei (Prokop 2005, S. 76), wobei allerdings stets nur von

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Annette Tietenberg Jacques Groags Leistung gesprochen wurde, während Hilde Blumbergers Beitrag unerwähnt blieb. Die Fähigkeit, großbürgerlichen Wohnkomfort, Eleganz und ambitionierte Repräsentationsansprüche mit einem Bekenntnis zu gesellschafts- und kulturpolitischem Fortschrittsdenken der Moderne zu vereinen, stellten die beiden Gestalter*innen nun in ihrer eigenen Wohnung unter Beweis. Die Wohnung der Groags verwandelte sich also, bevor sie faktisch von den Eheleuten gemeinschaftlich in Anspruch genommen wurde, in das Schaustück einer exemplarischen Innenausstattung, die in der Mieterstadt Wien Nachahmer*innen finden sollte. Galt doch Groag als Spezialist für die Herausforderung, „der unproletarischen Kleinwohnung den sehr gemäßen Einrichtungsstil zu sichern“ (Vockerath 1935, S. 159), und als Experte für die „Auflösung der Enge“, wie es 1935 in der Zeitschrift Innendekoration hieß (Fr. L. 1935, S. 152). Robert Haas’ Fotografien hätten sich ebenso gut zur Selbstdokumentation der Groags – und somit zur Generierung eines gemeinsamen ‚Werks‘ – wie zur Publikation in Katalogen und Fachzeitschriften geeignet. Gezielt wurde das gehobene, progressiv gestimmte Wiener Bürgertum, vor allem das kinderlose Paar, das in einer Mietwohnung lebt, adressiert. Um Bewohner*innen einer Großstadt ansprechen zu können, die auf Anonymität bedacht waren, hatten die Groags peinlich genau darauf geachtet, dass auf den Interieurfotografien nichts Persönliches ins Bild gerückt wurde. Der Schreibtisch ist ebenso leer wiedergegeben wie der Esstisch, das Schlafzimmer bleibt im Verborgenen, und selbst die isoliert abgebildete Bar verrät nichts über die Trinkgewohnheiten ihrer Besitzer*innen. Die Alkoholika sind allesamt ungeöffnet. Berauschend wirkt allenfalls die Kostbarkeit des zur Anfertigung des Barschrankes verwendeten Holzes.

Gustav, Louisa und Joseph Peter Maria Stern Werfen wir nun einen Blick auf die Serie, zu denen die zweite erwähnte Interieurfotografie gehört (Abb. 2). Robert Haas hatte diesen Auftrag ein Jahr später, Ende Mai oder Anfang Juni 1938, ausgeführt. Es ist unschwer zu erkennen, dass hier nicht für die moderne Wiener Wohnraumkultur geworben wird. In diesem großbürgerlichen Haushalt gibt es ein Esszimmer mit Stuckdecke und Stühlen in Neorenaissance-Manier (Abb. 4), Kronleuchter, eine reiche Kunstsammlung, bestehend aus Gemälden, Re-

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Wohnräume im Wartezustand

4  Robert Haas, Speisezimmer der Familie Louisa und Gustav Stern, Liechtensteinstraße 53–55 (Palais Kranz), Wien, 9. Bezirk (Alsergrund), 1938, Silbergelatinepapier, 8,5 × 11,5 cm

liefs, Porzellan und Heiligenfiguren, einen imposanten Empfangsbereich, kostbare Teppiche, reich verzierte Kamine und einen Adler-bekrönten Kachelofen. Nachweislich hat Haas diese Interieurfotografien im Palais Kranz in der Liechtensteinstraße 53–55 im 9. Wiener Bezirk aufgenommen (Kreutler et al. 2018, S. 24). Hier war nach einer konkursbedingten Zwangsversteigerung des Palais Kranz im Jahr 1934 das Ehepaar Gustav und Louisa Stern eingezogen. Die Familie Stern bewohnte eine zweigeschossige Wohnung mit ebenerdigem Zugang zum Gartenhof. Angesichts des von Haas dokumentierten Einrichtungsstils kommen Kreutler, Meder und Milchram zu dem Schluss: „Statt Kranz’ Chinoiserien zieren Wand und Kaminsims Barockengel und eine geschnitzte Ölberg-Szene. Der Geschmack der Sterns scheint, mit Neorenaissance-Möbeln und Barockgemälden, ein mindestens ebenso konservativer wie der von Kranz gewesen zu sein“ (ebd., S. 25). Die Autor*innen gehen davon aus, dass es sich bei den Bewohner*innen dieser hochherrschaftlich eingerichteten Räume um

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Annette Tietenberg die vom Judentum zum Katholizismus konvertierten Eltern des 1920 in Prag geborenen Germanisten Joseph Peter Maria Stern gehandelt haben muss (vgl. Boyle 1995, S. 13). Diese Identifizierung der Bewohner*innen war möglich, weil es Haas geglückt war, bei seiner Emigration nach London und später nach New York nicht nur sein gesamtes Fotoarchiv, sondern auch die Geschäftskorrespondenz außer Landes zu bringen. So trat im Wien Museum bei der Sichtung von Haas’ Nachlass ein vierseitiger, handschriftlich verfasster Brief zutage, der mit den Initialen L. St. unterzeichnet ist. Es dürfte sich bei der Verfasserin um Louisa Stern handeln, die damals Mitte vierzig war. Datiert ist der Brief auf den 28. Mai 1938. Er wurde demnach acht Tage, nachdem in Österreich die sogenannten „Nürnberger Rassegesetze“ in Kraft getreten waren, zu Papier gebracht. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Familie Stern, die aus Böhmen stammte, bereits nach Prag geflüchtet. „Sehr geehrter Herr Haas“, heißt es da, „ich habe Ihnen hier, ganz laienhaft, eine Aufzeichnung jener Dinge geschrieben, die ich gern zum Andenken verewigt hätte. […] Die Hauptsache, wie gesagt, ist die Erledigung bis zum 10. Juni. Meine Stütze wird Ihnen, besonders wenn Sie die Sache in den allernächsten Tagen ausführen würden, ganz zur Verfügung stehen. Bitte sie absolut als vertrauenswürdig anzusehen, und ihr alles, was mir in Frage kommt, zu sagen. […] Hals- und Beinbruch und viele schöne Grüße! Schreiben Sie mir ein paar Zeilen, wie es Ihnen bei uns gefällt und wie Ihnen die Sache zusagt. Herzlichst Ihre L. St.“ Eine Randnotiz wurde nachträglich hinzugefügt: „Zum Schluß muß ich Sie noch sehr bitten, alles sehr unauffällig zu machen, möglichst wenig hin und her zu gehen, Blitzlicht etc. Es ist in der nächsten Nachbarschaft ein neues Heim eröffnet worden.“ (Zit. n. Kreutler et al. 2018, S. 20, Herv. i. Orig.). In dieser Wohnung zu fotografieren, war mithin kein ungefährliches Unterfangen. Es wurden damals Unbedenklichkeitsbescheinigungen notwendig, um Umzüge ins Ausland zu organisieren; Ausfuhrbewilligungen für Kunst und Schmuck mussten beantragt und Spezialgenehmigungen der Devisenstelle vorgelegt werden. Hinzu kam, dass verfolgte Juden und Jüdinnen dazu verpflichtet wurden, ihr Erspartes als sogenannte „Reichsfluchtsteuer“ in den „Auswanderungsfonds“ einzuzahlen. Gustav und Louisa Stern waren „als tschechoslowakische Staatsbürger nicht zu einer Vermögensanmeldung verpflichtet“ (Kreutler et al. S. 24) gewesen und hatten ihre Wiener Wohnung wohl in der Annahme verlas-

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Wohnräume im Wartezustand sen, zurückkehren zu können, sobald sich die politische Lage beruhigt hatte. Alles stand und lag daher weiterhin an seinem vertrauten Platz; die Wohnung war sauber und aufgeräumt; kein Möbelstück hatte das Haus verlassen. In der Nähe, im „Heim“, wie Louisa Stern es nennt – ich vermute, es handelte sich um das Priesterseminar Boltzmanngasse, Ecke Strudelhofgasse, in dem Ende März 1938 die Feldgendarmerie aus München und 300 „Hilfspolizisten“ untergebracht wurden (Die Presse 1938) –, waren allerdings NS-Schergen einquartiert, die beim leisesten Verdacht, es würde etwas außer Hauses geschafft, hätten einschreiten können. Robert Haas’ Situation war also mit jener vergleichbar, in der sich zeitgleich und räumlich gar nicht weit entfernt der Fotograf Edmund Engelman befand, als er im Mai 1938 auf Bitten des Sozialpädagogen August Aichhorn Sigmund Freuds Wohnung und Praxis in der Berggasse 19 fotografisch dokumentierte. Da das Domizil der Freuds von der Gestapo überwacht wurde, musste auch Engelman jegliches Aufsehen vermeiden; ebenso wie Robert Haas arbeitete er ohne Blitzlicht oder Scheinwerfer. Freud selbst soll in das Vorhaben nicht eingeweiht gewesen sein und sich entsprechend überrascht gezeigt haben, als er in seinem Arbeitszimmer unverhofft auf einen Fotografen traf (Engelman/Scholz-Strasser 1993; Engelman/Pessler 2015). Der Zeitpunkt, bis zu dem die Sterns ihre Wohnung zu räumen hatten, wird im Brief genannt: Es ist der 10. Juni 1938. Ob und wann mit einer Rückkehr zu rechnen war, wussten Louisa und Gustav Stern hingegen nicht. Bei den in Auftrag gegebenen Fotografien handelt es sich mithin eindeutig um Aufnahmen von persönlichem Erinnerungswert, die, obwohl bei einem professionellen Fotografen bestellt, nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren. Die Fotografien lassen sich sogar in zweifacher Hinsicht als private Sehnsuchts- und Erinnerungsbilder beschreiben. Zum einen dirigiert Louisa Stern den Fotografen, gewissermaßen Ciceros Mnemotechnik anwendend, von Prag aus durch ihre Wiener Wohnung, die sie soeben unfreiwillig verlassen hatte (Abb. 5). Sie bittet ihn darum, im Kinderzimmer ihres Sohnes Joseph Peter Maria mit dem Fotografieren zu beginnen, wobei sie betont, dass es ihr wichtig sei, dass die Vorhänge aufgezogen werden, damit draußen der Park sichtbar werde. Der Waschraum wird erwähnt, dann das Damenzimmer. „Schrankwand nur so weit, daß Bett mit Spiegel und Fenster (Vorhang nur halb zugezogen, Peter im Sessel sitzend, Blumen am Tisch in kleiner Vase od. Topf) darauf sind […].“ (Abb. 6) Die nächste

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5  Brief von Louisa Stern an Robert Haas, 28. Mai 1938, S. 3

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Wohnräume im Wartezustand

6  Robert Haas, Damenzimmer der Familie Louisa und Gustav Stern, Liechtensteinstraße 53–55 (Palais Kranz), Wien, 9. Bezirk (Alsergrund), 1938, Silbergelatinepapier, 8,5 × 11,5 cm

Station ist der Gartensalon: „Pölster bitte nett machen, Decke genau legen. Vitrinen und Ofenlämpchen alles angezündet.“ (Abb. 2) Dann geht es auf die große Terrasse: „Blick aus Salon auf Terrasse. […] Aussicht auf die Putten. Kastanien. (Mit Liebe!)“ Im Großen Salon, fährt Louisa Stern fort, solle Haas die Perspektive vom Straßenfenster in die Tiefe des Raumes bis zur Gartentür fotografisch festhalten: „Blick durch offene Gartentüre, Rasen mit Brunnen (Mit Liebe aufnehmen!)“. Diesen Wunsch hat Robert Haas der Briefschreiberin wohl aus Furcht vor Entdeckung nicht erfüllen können. Ihren Erinnerungen folgend lotst sie ihn sodann in die Kleine Halle: „Rote Sitzgarnitur […] mit Tellerwand und Treppengeländer. (Lieblingsblick) Blick von der Treppe nach oben auf großen Luster (Lieblingsblick)“. Anschließend begleitet Louisa Stern den Fotografen in Gedanken ins Wohnzimmer. Sie schreibt: „Bibliothekwand mit Sitzgarnitur (Wand mit 4 Aposteln)“ (Zit. n. Kreutler et al. 2018, S. 21–23).

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Annette Tietenberg Es spricht der Stolz der Besitzerin aus diesen Zeilen, die Gewissheit, dass die repräsentative Einrichtung, die auf den gesellschaftlichen Stand und die Vermögensverhältnisse der Bewohner*innen schließen lässt, Robert Haas beeindrucken wird, aber auch die Sehnsucht nach dem heimischen Gehäuse, nach Berührungen der geliebten Gegenstände. Louisa Stern gibt dem Fotografen Robert Haas aus der Erinnerung eine regelrechte Choreografie an die Hand, indem sie ihn in ihrem Brief gemäß der Art, wie sie selbst gewohnt war, sich durch ihr Domizil zu bewegen, von Raum zu Raum geleitet. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf kleinste Details, auf die Puppe im Damenzimmer, auf die Anordnung der Tierfiguren aus Porzellan im Herrenzimmer, auf die Verteilung der Polster im Gartensalon und auf die elektrische Leitung des Lüsters im Großen Salon, die unter einem Tintenfass zu verbergen sei, um die Illusion, es handle sich um Wachskerzen, nicht zu beeinträchtigen. Der Fotograf folgte, so weit er dazu in der Lage war, der Regie seiner in Prag weilenden Auftraggeberin, nahm die Gegenstände stellvertretend für sie in den Blick und hakte ihre Liste Punkt für Punkt ab. Er bemühte sich darum, eine möglichst große Übereinstimmung zwischen den Nachbildern, die ihm Louisa Stern aus der Ferne von den ihr vertrauten Möbeln und Gegenständen übermittelt hatte, und seiner Sicht der Dinge herzustellen. Zudem erhoffte Louisa Stern sich wohl, dass die Betrachtung der Papierabzüge – es ist nicht bekannt, ob die Aufnahmen sie je erreicht haben – ihr die Möglichkeit eröffnen würde, im Sinne Roland Barthes’ durch die Machart der Fotografien, durch das Medium hindurchzusehen (Barthes 1980, S. 14), um sich die Dinge, die sie schweren Herzens in Wien hatte zurücklassen müssen, in Prag zu vergegenwärtigen. In der Funktion einer Gedächtnisstütze sollten ihr die Fotografien dazu dienen, ihre Rückschau auf die Einrichtungsgegenstände mitsamt den daran haftenden Emotionen einzufrieren, damit ihre liquiden Erinnerungsbilder nicht im Laufe der Zeit überblendet, überschrieben und überzeichnet würden. Robert Haas’ Interieurfotografien der Stern’schen Wohnräume zeugen also zunächst einmal von dem Versuch, das Absente in Präsenz zu überführen. Sie verwandelten die von der Familie Stern bewohnten Innenräume des Palais Kranz in „etwas Wirkliches, das man nicht mehr berühren kann“, wie Roland Barthes es in seiner Schrift Die helle Kammer formuliert hat (ebd., S. 97). Die materielle Innenausstattung des Palais selbst – und damit das Anzeichen des sozialen Aufstiegs – existierte allerdings noch, als Louisa Stern aus der räumlichen Distanz ihre Erinnerungsbilder aufleben ließ.

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Wohnräume im Wartezustand Dass es sich bei den von Robert Haas eingefangenen Schattenwesen der Fotografie um die gespenstische Wiederauferstehung von etwas endgültig Verlorenem handelte, konnte sich Louisa Stern nicht vorstellen, als sie den Fotoauftrag erteilte. Sie schreibt: „Halle. […] Ansicht der offenen Bar, (wohl bekomms, trinken Sie auf die Zukunft, lieber Herr Haas, es kann uns allen noch geholfen werden!)“ (Zit. n. Kreutler et al. 2018, S. 22). Im März 1939 marschierten deutsche Truppen in der Tschechoslowakei ein. Gustav Stern gelang die Flucht nach London. Er wollte seine Familie nachholen, doch Louisa Stern zog, ebenso wie ihr Bruder und dessen Frau, den Suizid dem Exil vor (Boyle 1995, S. 13). Sie starb am 21. Juni 1939 in Prag. Das Mobiliar, das sie in ihrer Wiener Wohnung zurücklassen musste, wurde am 19. Juli 1939 im Dorotheum versteigert.

Leben, Freiheit und Eigentum Nach John Locke basiert der „Dreiklang des Bürgerrechts“ auf Leben, Freiheit und Eigentum (Locke 1977). In den eigenen vier Wänden imaginiert das bürgerliche Subjekt, ebendieses Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum nahezu unbeschränkt ausleben zu können. Søren Kierkegaard, Theodor W. Adorno und Walter Benjamin setzen das Interieur, das Refugium des Subjekts, in dem es sich frei von Staat und Gesellschaft fühlt, daher in ihren Schriften mit einer bürgerlichen Wohnung gleich, in der sich alles zu einer szenischen Dekoration verwandelt. Lässt sich aber im Umkehrschluss am Zustand einer solchen szenischen Dekoration auch ablesen, dass den einstigen Bewohner*innen der Interieurs die Bürgerrechte entzogen worden waren? Mit Blick auf Robert Haas’ Serien von Interieurfotografien aus dem Jahr 1937, die für das Neue Wohnen werben sollten, und jenen aus dem Jahr 1938, die Haas im Auftrag von mehreren jüdischen Flüchtenden in Wien aufnahm und die ich hier nur anhand eines einzigen Beispiels näher untersuchen konnte, würde ich dies verneinen wollen. Letztere Interieurfotografien, die Robert Haas mit großer Wahrscheinlichkeit anfertigte, nachdem er die Flüchtenden mit Passfotos für die von ihnen dringend benötigten Papiere versorgt hatte (Kreutler et al. 2018, S. 19), erscheinen heute, nicht zuletzt durch unser historisches Wissen und „die Aura des Schwarz-Weiß“ (Geimer 2015, S. 247) gesättigt, von Melancholie durchdrungen. Sie rücken ein in den

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Annette Tietenberg Status eines Menetekels, eines Vorzeichens der brachialen Vernichtungswelle, die das bürgerliche Leben in seiner Gesamtheit – das soziale Gefüge, das Wissen, die kulturellen Praktiken, das spezifische Ambiente, das Mobiliar, die Kunstsammlungen, die Bibliotheken, die Kleidung, die Tischdecken und Vorhänge – unwiederbringlich hinwegfegte. Aber die Fotografien machen die Lücke nicht sichtbar, die die Vertriebenen hinterlassen haben. Sie selbst zeigen, ebenso wie die Ansichten der exemplarischen Innenausstattung der Groags, schlicht nichts anderes als Wohnräume im Wartezustand. Wohnräume, die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich dazu bekennen, szenische Dekoration zu sein, gerade weil sie so penibel aufgeräumt sind wie Schauräume. Bevor die ihrer Freiheit beraubten Bewohner*innen gezwungenermaßen ihre Behausungen – ob sie nun der Programmatik der Wiener Wohnkultur oder einem konservativen Geschmack gemäß eingerichtet waren – verließen und den Fotografen Robert Haas mit der Anfertigung von Erinnerungsbildern beauftragten, um aus der Ferne einen Blick auf die Schattenbilder ihres beschlagnahmten Eigentums werfen zu können, verwendeten sie viel Zeit und Mühe darauf, jedes Detail so zu arrangieren, dass die Bühne auf ideale Weise für den nächsten Auftritt bereitet war: für ihre ersehnte Wiederkehr. Beim Verlassen ihrer Wohnungen sind sie gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass ihr Unbehaustsein auf Dauer gestellt sein könnte, dass „die Massengesellschaft nicht nur den öffentlichen Raum, sondern auch den privaten Raum zerstört, daß sie also die Menschen nicht nur ihres Platzes in der Welt beraubt, sondern ihnen auch die Sicherheit ihrer eigenen vier Wände nimmt, in denen sie sich einst vor der Welt geborgen fühlten“ (Arendt 1981, S. 58), wie es Hannah Arendt angesichts dieses unrevidierbaren Zivilisationsbruchs so treffend formuliert hat.

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Wohnräume im Wartezustand Literatur Arendt 1981 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper 1981. Barthes 1980 Barthes, Roland: Die helle Kammer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980. Boyle 1995 Boyle, Nicolas: Foreword, in: Joseph Peter Stern: The Dear Purchase. A Theme in German Modernism, Cambridge: Cambridge University Press 1995, S. 11–19. Engelman/Pessler 2015 Engelman, Edmund; Monika Pessler: Sigmund Freud. Berggasse 19. Die einzigartigen Bilder von Edmund Engelmann, Wien: Brandstätter 2015. Engelman/Scholz-Strasser 1993 Engelman, Edmund; Inge Scholz-Strasser: Sigmund Freud … Wien IX. Berggasse 19, Wien: Brandstätter 1993. Geimer 2015 Geimer, Peter: Die Farben der Geschichte und die ‚Wahrheit des Schwarz-Weiß‘, in: Monika Wagner; Helmut Lethen (Hg.): SchwarzWeiß als Evidenz, Frankfurt a. M./New York: Campus 2015, S. 246–258. Haas 1983 Haas, Robert: Schrift, Druck, Photographie, Ausst.-Kat., Österreichisches Museum für angewandte Kunst, hg. v. Hanna Egger, Wien: Österreichisches Museum für angewandte Kunst 1983. Haas 2016 Haas, Robert: Der Blick auf zwei Welten, Ausst.-Kat., Wien Museum, hg. v. Anton Holzer; Frauke Kreutler, Berlin: Hatje Cantz 2016. Holzer 2015 Holzer, Anton: Künstler und Reporter. Die Wiener Jahre des Fotografen Robert Haas, in: Fotogeschichte, H. 135, Jg. 35, 2015, S. 31–42. Kreutler et al. 2018 Kreutler, Frauke; Iris Meder; Gerhard Milchram: Fotos der Erinnerung. Robert Haas Dokumentation jüdischer Wohnungen, in: Andreas Brunner; Barbara Staudinger;

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Hannes Sulzenbacher (Hg.): Die Stadt ohne. Ausst.-Kat. Filmarchiv Austria, Wien 2018, S. 16–31. Fr. L. 1935 Fr. L.: Über die Romantik des Sachlichen, in: Innendekoration. Mein Heim, mein Stolz. Die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort, H. 5, Jg. 46, 1935, S. 150–154. Lehmann 1937 Lehmann = Adolph Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger; nebst Handels- u. Gewerbe-Adressbuch für die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien und Umgebung, Wien: Förster 1937, Bd. 1, online abrufbar unter https://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/periodical/titleinfo/5311 (13.4.2019). Locke 1977 John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung (1690), Bd. 1, hg. v. Walter Euchner, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977. Nesbit/Reynaud 1992 Nesbit, Molly; Françoise Reynaud: Eugène Atget. Interieurs parisiens. Un album du musée Carnavalet, Paris: Editions Carré 1992. Nierhaus/Nierhaus 2014 Nierhaus, Irene; Andreas Nierhaus: Wohnen Zeigen, in: dies. (Hg.): Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bielefeld: transcript 2014, S. 9–35. Nierhaus 2014 Nierhaus, Andreas: Stahlrohrmöbel, Selbstmordziffer und die ‚wirkliche Wohnung‘. Zur Didaktik von Bau- und Wohnausstellungen um 1930 am Beginn der ‚Neuen Zeit‘ in Köln und der Wiener Werkbundsiedlung, in: Nierhaus/Nierhaus 2014, S. 119–141. Platz 1933 Platz, Gustav Adolf: Wohnräume der Gegenwart, Berlin: Propyläen 1933. Die Presse 1938 Wiens Priesterseminar: Die Schule Gottes am Alsergrund. Eine turbulente Geschichte über 250 Jahre hinweg, in: Die Presse, Online-Ausgabe v. 19.12.2008, https://diepresse.com/home/zeitgeschichte/439241/Wiens-Priestersemi-

Annette Tietenberg nar_Die-Schule-Gottes-am-Alsergrund (23.4.2019). Prokop 2005 Prokop, Ursula: Das Architekten- und Designer-Ehepaar Jacques und Jacqueline Groag. Zwei vergessene Künstler der Wiener Moderne, Wien u. a.: Böhlau 2005. Prokop 2016 Prokop, Ursula: Zum jüdischen Erbe in der Wiener Architektur. Der Beitrag jüdischer ArchitektInnen am Wiener Baugeschehen 1868–1938, Wien u. a.: Böhlau 2016. Vockerath 1935 Vockerath, Philipp: Die ‚geteilte Wohnung‘, in: Innendekoration. Mein Heim, mein Stolz. Die gesamte Wohnungskunst in Wort und Bild, H. 5, Jg. 46, 1935, S. 156–159.

Abbildungsnachweise Abb. 1: Nachlass Robert Haas, Wien Museum, Inv.-Nr. 302979/7/10. Abb. 2: Nachlass Robert Haas, Wien Museum, Inv.-Nr. 302997/3. Abb. 3: Nachlass Robert Haas, Wien Museum, Inv.-Nr. 302979/7/11. Abb. 4: Nachlass Robert Haas, Wien Museum, Inv.-Nr. 302997/1. Abb. 5: Wien Museum. Abb. 6: Nachlass Robert Haas, Wien Museum, Inv.-Nr. 302997/4.

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Henning Bleyl Möbeltransporte im Kontext des Massenmordes Die totale ,Verwertung‘ jüdischen Eigentums als materielle Dimension des Holocaust und die Rolle der Spedition Kühne + Nagel

Als Otto Frank im Juni 1945 in die Prinsengracht 263 zurückkehrt, ist das Gebäude am Rand der Amsterdamer Altstadt komplett ausgeräumt. Zwei Jahre lang hatte er sich im Hinterhaus, zusammen mit seiner Familie und vier weiteren als jüdisch verfolgten Menschen, vor den NS-Behörden versteckt. Otto Frank überlebte als Einziger seiner Familie den Verrat, der zur Verhaftung und Deportation der Versteckten führte. Franks Tochter Anne starb im Februar oder März 1945 in Bergen-Belsen. Fünf Monate nach seiner Befreiung aus Auschwitz steht er nun also in den leeren Räumen – und entscheidet, das Haus in diesem Zustand zu belassen. Lediglich für Foto- und Filmaufnahmen wird es noch einmal möbliert. „Die Leere“, schreibt die Kunsthistorikerin Aukje Vergeest, „symbolisierte für ihn den Verlust seiner Angehörigen und Freunde, die nicht aus den Lagern zurückgekehrt waren.“ (Vergeest 2015, S. 7)

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Möbeltransporte im Kontext des Massenmordes

1  Das Ehepaar Kühne im ,Info-Truck‘ auf dem Bremer Marktplatz, Januar 2015

70 Jahre später, im Januar 2015, feiert Kühne + Nagel ein großes Jubiläum auf dem Bremer Marktplatz. Der weltweit drittgrößte Logistik-Konzern hat seine Wurzeln in Bremen: 1890 wurde die Firma an der Weser gegründet, als Spedition vornehmlich für Getreide, Zucker – und Möbel, inklusive Hausrat aller Art. Manche Bremer*innen mokieren sich über den Umfang der Feierlichkeiten, der halbe Marktplatz ist abgesperrt. Neben dem Festzelt für die VIPs parkt ein gewaltiger ‚Info-Truck‘: ein Sattelschlepper mit jeder Menge Geschichte im Gepäck (Abb. 1). Der Schlepper hat einen begehbaren Container voller Bilder und Videos aus der 125-jährigen Firmengeschichte auf den Platz gezogen, direkt neben die Statue des Ritters Roland. Das History Marketing der Firma setzt auf historische LKW-Modelle mit schön geschwungenen Karossen, auf nostalgisch anmutende Frachtkähne, auf Fotografien sind auch Sackkarren und die ersten Frachtflugzeuge der Firma zu sehen. Eine sonore Sprecherstimme informiert über die Entwicklung der Firma. Sie habe „schwere Kriegszeiten“ durchgemacht,

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Henning Bleyl diese aber durch außerordentlichen Einsatz gemeistert. Im Festzelt spricht Mehrheitsaktionär Klaus-Michael Kühne derweil ebenfalls über den Aufstieg der Firma „aus kleinen Anfängen“. Er betont die bis heute bestehende Verbundenheit des Weltkonzerns mit Bremen, die Verdienste seines Vaters Alfred und seines Großvaters August – des Mitbegründers von Kühne + Nagel – für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt. Der damalige Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) applaudiert ebenso wie der Verkehrssenator, der zugleich Bausenator ist. Kühne hatte kurz zuvor angekündigt, die Stadt mit der Neuerrichtung des Stammsitzes zu beglücken. Ein Bekenntnis zum Standort, das nicht selbstverständlich ist. Schließlich hatten die Kühnes nicht gezögert, 1969 mit ihrem Hauptverwaltungssitz, später mit der gesamten Holding in die Schweiz zu gehen. Wegen der günstigeren Steuersätze, wie Kühne freimütig bekennt, vor allem aber, um der Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung durch die sozialliberale Regierung unter Willy Brandt zu entgehen. Otto Frank 1945 in der Prinsengracht, Klaus-Michael Kühne 2015 auf dem Bremer Marktplatz. Es gibt keine konkret nachweisbare Verbindung zwischen den beiden Männern und den beiden Orten. Aber eine strukturelle. Beide betrifft, freilich in diametral entgegengesetzter Weise, die Totalität der ‚Verwertung‘ jüdischen Eigentums. Diese strukturelle Verbindung beginnt unmittelbar nach der Entdeckung, vermutlich infolge von Verrat, der Franks und der anderen Versteckten durch die Gestapo. Wie überall, wo die Wehrmacht der Gestapo den Boden bereitet hat, wie überall, wo jüdische Menschen fliehen müssen oder deportiert werden, wird deren Besitz restlos eingesammelt und der ‚Verwertung‘, wie es im NS-Jargon hieß, zugeführt. In Amsterdam ist dabei insbesondere die Spedition Abraham Puls aktiv – derart aktiv, dass sich das Verb ‚pulsen‘ für das Ausräumen jüdischer Wohnungen einbürgert.1 Abraham Puls verschafft sich auch selbst entsprechende Aufträge, indem er versteckte Jüdinnen und Juden an die deutschen Besatzer verrät. Nach dem Krieg wird Puls als Kollaborateur zum Tode verurteilt, was dann in lebenslänglich und schließlich in eine 24-jährige Haftstrafe um-

1 Für die Enteignung jüdischen Vermögens war in den Niederlanden die Vermögensverwaltungs- und Rentenanstalt (V. V. R. A.) zuständig. Die V. V. R. A. beauftragte ihrerseits Puls mit dem Ausräumen der Wohnungen. Die Akten der V. V. R. A. sind im Niederländischen Nationalarchiv in Amsterdam unter der Nummer collectie 249-0849A zugänglich.

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Möbeltransporte im Kontext des Massenmordes gewandelt wird. Ganz anders ist der Umgang in Deutschland: Puls’ Geschäftspartner, die Brüder und Unternehmensführer Alfred und Werner Kühne, die wie Puls Parteimitglieder waren, erfahren in der Nachkriegszeit zahlreiche Ehrungen inklusive des Bundesverdienstkreuzes. Die ersten Zugriffe auf die gesammelten jüdischen Besitztümer haben Puls und seine Mitarbeiter*innen, dann die Sicherheitsdienste, auch die übrigen Besatzungsbehörden und Wehrmachtsoffiziere. Wer mit Menschen spricht, die in den 1930er Jahren geboren wurden, wird von einigen hören können, dass sie sich an besondere ,Mitbringsel‘ des Vaters aus dem Ausland erinnern, etwa zum Weihnachtsurlaub: besonderes Geschirr, Tischleuchter, Bilder, Uhren. Vereinzelte Angehörige dieser Generation nutzen mittlerweile die Möglichkeit, Erbstücke mit derartiger Provenienz zurückzugeben; sei es an eine jüdische Gemeinde, sei es an die von Hilde Schramm, der Tochter von Albert Speer, gegründeten ‚Stiftung zurückgeben‘ oder an das Oldenburger Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte, das Erbstücke mit zweifelhafter Herkunft treuhänderisch aufbewahrt und bei der Suche nach den rechtmäßigen Erb*innen hilft (Kenzler 2017, S. 72). Zurück ins besetzte Amsterdam: Die große Masse des jüdischen Besitzes wird am Hafen gelagert und im Lager ‚Argentinien‘ an der Oostelijke Handelskade (Östlicher Handelskai) auf Binnenschiffe verladen. Eine Ladeliste der nach Oldenburg fahrenden Damco 48 des Schiffers v. d. Kroon, der für die Firma Kühne + Nagel arbeitet, umfasst die nachstehenden Dinge, die zwischen dem 9. und dem 13. März 1943 an Bord gebracht werden: 53 Badewannen, 61 Bänke, 27 Besen, 71 Bettgestelle, 71 Stück Bettzeug, 65 Rollen Bodenbelag, 56 Buffets, 15 Bügelbretter, 14 Eimer, 69 Gartentische, 1 Gasherd, 11 Gaskocher, 9 Gasöfen, 20 Herde, 1 Kinderwagen, 101 Kissen, 73 Klub(-sessel), 6 Kohlenküppen, 80 Lampen, 45 Nachtschränkchen, 6 Nähkörbchen, 12 Nähmaschinen, 3 Petroleumkocher, 5 Pnthen (?), 148 Schränke, 16 Spiegel, 103 Spiralen (?), 53 Ständer, 1 Staubsauger, 600 Stühle, 46 Teemöbel, 170 Teppiche, 195 Tische, 53 Trittleitern, 1 Uhr, 4 Mahane (?), 10 Waschkessel, 148 Wandbilder, ferner 1 „Möbelkoffer“ mit Töpfen und Bratpfannen.2 Insgesamt fasste die Damco 48, ein Binnenschiff von 57 Metern Länge, eine Traglast von 614 Tonnen (vgl. Rosenbohm-Plate 2003, S. 176). 2 Niedersächsisches Landesarchiv, Standort Oldenburg, Rep 400, Best. 136, Nr. 23809.

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2–15  Möbel aus jüdischem Besitz, gelagert 1943 im Rahmen der ‚Aktion M‘ in der Wagenwerkstatt der Reichsbahn an der Brücktorstraße, Ecke Mülheimer Straße, in Oberhausen

Während an der Oostelijke Handelskade die sorgsam alphabetisch aufgezählten Dinge verladen werden, werden – seit dem 2. März 1943 – die jüdischen Amsterdamer*innen vom KZ Westerbork ins Vernichtungslager Sobibor deportiert. Auch der Besitz der Familie Frank kann auf der Damco 48 oder einem der zahlreichen anderen Lastschiffe gewesen sein: nicht die Einrichtungsgegenstände aus der Prinsengracht 263, in dessen

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Möbeltransporte im Kontext des Massenmordes Vorderhaus Otto Frank ab 1933 die niederländische Niederlassung des Geliermittel-Herstellers Opekta ausgebaut hatte – die werden erst im August 1944 von der Firma Abraham Puls abtransportiert; aber die Habe der Franks aus ihrer Wohnung am Merwedeplein 37 II, die sie im Juli 1942 verließen, um unterzutauchen. Die Gütertransporte von Amsterdam ins Deutsche Reich sind Teil der ‚Aktion M‘. ‚M‘ steht für Möbel, weil Möbel und Hausrat jeder Art im Zentrum der Beschlagnahmung jüdischen Besitzes in ganz Westeuropa standen. Die ‚Aktion M‘ begann, nach Rücksprache mit Hitler, am 14. Januar 1942 auf Anweisung von Reichsleiter Alfred Rosenberg, auch das Oberste Heereskommando war involviert.3 Den Verantwortlichen war bewusst, dass es sich de facto und de jure um Raub handelte. So gab der deutsche Botschafter in Paris zu Protokoll: „Formal-juristisch ist keine Rechtsgrundlage für die Maßnahme vorhanden.“ Man müsse sich also auf deren „geschichtliche Berechtigung“ berufen (zit. n. Aly 2015, S. 146). Bis 1944 kommen im Rahmen der ‚Aktion M‘ 735 Züge zum Einsatz, die 29.463 Waggon-Ladungen nach Deutschland bringen (Dreßen 1998, S. 50f.), sowie mindestens 580 Frachtschiffe (Blank 1999, S. 99). Ein Prüfbericht des zuständigen Rosenberg-Ministeriums über die Arbeit der für die Abwicklung der ‚Aktion M‘ gegründeten ‚Dienststelle Westen‘ vom September 1943 bemängelt den erheblichen Personalmangel, der die Arbeit der Dienststelle insbesondere „im Bereich Abtransport“ behindere. Gemeint ist hier kein Personal etwa der Spedition Kühne + Nagel, sondern Dienststellen-Mitarbeiter*innen, deren Arbeit der der Spedition vorgeschaltet war (Dreßen 1998, S. 54f.). Der Prüfbericht beklagt „erhebliche Rückstände“ bei der Räumung bereits „erfasster“ Wohnungen. Es sei „unbedingt erforderlich, weiteres deutsches Personal für den Abtransport baldigst zu beschaffen“. Dieses müsse so verstärkt werden, „dass jede Wohnung vier bis sechs Wochen nach ihrer Erfassung vollkommen geräumt ist“. Denn: In „Groß Paris“ seien bisher nur 9.000, also knapp die Hälfte der 18.500 erfassten jüdischen Wohnungen ausgeräumt worden. Der Personalmangel sei aus verschiedenen Gründen schwierig zu 3 Das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal führte Rosenbergs Verantwortung für das „System organisierter Plünderung öffentlichen und privaten Eigentums in allen überfallenen Ländern Europas“ als einen von vier Gründen für Rosenbergs Todesurteil auf (Steiniger 1957, S. 247 f.). Die substanzielle Beteiligung der Firma Kühne + Nagel am systematischen Möbelraub der Nazis wurde hingegen erst Jahrzehnte nach Kriegsende öffentlich thematisiert.

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Henning Bleyl beheben. Unter anderem führt der Prüfbericht aus: Bei den Erfassungsbeamten sei eine „vollkommene charakterliche Sauberkeit unbedingt erforderlich“. Zudem sei zu vermeiden, dass die Dolmetscher „unrasiert“ zu den Erfassungsterminen erschienen. Das mache „einen schlechten Eindruck“ (ebd.). Bei der Verteilung der geraubten Güter werden Ausgebombte (zum Teil nach politischer Vorauswahl) besonders bedacht – ebenso Ritterkreuz-Träger, kinderreiche Familien und Neuvermählte. Die extrem vergünstigte, teilweise auch unentgeltlich weitergegebene Ware gilt mit Blick auf die Aufrechterhaltung der ‚Kriegsmoral‘ als ‚siegwichtig‘. In Städten wie etwa Liège/Lüttich wird der Sicherheitsdienst (SD) angewiesen, die Massenverhaftung jüdischer Einwohner*innen „baldmöglichst“ zu beschleunigen, damit deren Möbel beschlagnahmt werden konnten (Aly 2015, S. 148, 155). Frank Bajohr, Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Münchner Institut für Zeitgeschichte, bescheinigt den Beteiligten an der ‚Aktion M‘ daher eine „relative Nähe zum Massenmord“, Kühne + Nagel habe „eine Form von Leichenfledderei“ betrieben (zit. n. Bleyl 2015b, S. 53). Insbesondere in Norddeutschland werden die so transportieren Einrichtungsgegenstände als ‚Hollandmöbel‘ bekannt und finden Einzug in zahlreiche Haushalte. Der damalige ‚Gau Weser-Ems‘ profitiert in besonderer Weise: Er erhält fast ein Drittel der unter den ‚Gauen‘ des Reichs verteilten jüdischen Habe aus Westeuropa (Dreßen 1998, S. 52f.). 1942 trifft der erste von der Firma Kühne + Nagel gecharterte Frachter in Bremen ein. Auch diese in Amsterdam aufgenommene Ladung soll hier in Gänze dargestellt werden, da jeder einzelne Gegenstand ein individuelles Zeugnis ablegt. Die Ladeliste nennt 220 Armsessel, 105 Betten, 363 Tische, 598 Stühle, 126 Schränke, 35 Sofas, 307 Kisten mit Glasgeschirr, 110 Spiegel, 158 Lampen, 22 Nachttische, 32 Uhren, elf Schirmständer, sechs Papierkörbe, ein Grammophon sowie zwei Kinderwagen (Beermann 2014). Für die Weitergabe solcher Güter an die Bremer Bevölkerung gibt es zahlreiche Orte: Darunter das Hemelinger Tivoli, die Schießhalle der Bremer Schützengilde und die Ankleidehalle des Weser-Stadions, das in ‚Bremer Kampfbahn‘ umbenannt worden war (Beermann 2014, S. 202f.). Kühne + Nagel hatte schon direkt nach dem Einmarsch der Wehrmacht eigene Niederlassungen in den besetzten bzw. von Deutschland machtpolitisch abhängigen Ländern eingerichtet. So in Rotterdam, Amsterdam, Den Haag, Antwerpen, Paris, Bordeaux, Marseille, Roubaix, Tourcoing, Lissa-

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Möbeltransporte im Kontext des Massenmordes bon, Triest, Mailand, Genua, nach dem Überfall auf die Sowjetunion und der Besetzung des Baltikums auch in Riga, Libau, Windau. Zwischen 1942 und 1944 wird allein aus Westeuropa der komplette Inhalt von etwa 70.000 Wohnungen und Häusern nach Deutschland transportiert. Kühne + Nagel war für den Streckentransport zuständig, die Zuarbeit vor Ort wurde von einer Vielzahl lokaler Akteure erledigt. Historiker*innen wie Wolfgang Dreßen sprechen von einem Monopol, das sich Kühne + Nagel dabei gegenüber der Konkurrenz erkämpft habe (Dreßen 1998, S. 46). Zusammenfassend ist zu sagen: Kühne + Nagel bemühte sich erfolgreich um eine zentrale Rolle beim Abtransport jüdischen Eigentums zur weiteren ‚Verwertung‘. Die Internationalisierung der Firma erfolgte in den Fußstapfen der Wehrmacht. Das Netz von Niederlassungen in den eroberten Ländern diente als logistische Grundlage der Beraubung, parallel entwickelte Kühne + Nagel das Geschäftsfeld der Militärlogistik – in dem das Unternehmen bis heute eine führende Rolle spielt. Mit anderen Worten: Das Unternehmen verdankt seinem Engagement in der NS-Zeit wesentliche, bis heute relevante Entwicklungsimpulse. Dass von all diesen Dingen 2015 auf dem Bremer Marktplatz keine Rede war, mag wenig überraschen. Bemerkenswert ist allerdings, mit welcher Kaltschnäuzigkeit das Unternehmen jedwede Beteiligung an NS-Profiten zunächst in Abrede stellte. Als die tageszeitung (taz) anlässlich des Jubiläumsmarketings bei Kühne + Nagel nachfragte, ob es während der 1930er und 40er Jahre nicht doch etwas mehr als nur Mühsal gegeben habe, war die Antwort: „Diesen Zeitperioden mangelt es an Relevanz für die Firmengeschichte.“ Zudem seien alle entsprechenden Geschäftsakten verbrannt.4 Unter dem Druck der fortgesetzten Recherchen räumte Kühne + Nagel später ein, für den NS-Staat „Güter jüdischer Eigentümer transportiert“ zu haben, was man auch bedauere. Allerdings sei „unklar“, ob das Unternehmen „wissentlich und willentlich“ gehandelt habe oder ob es einen „kulturpolitischen Zusammenhang“ gegeben habe.5 Letzteres ist ein wohl eher unfreiwillig gegebener Hinweis auf die Verwicklung der Firma in den Abtransport von Kulturgütern. Unter anderem hatte Kühne + Nagel den Auftrag, wertvolle Bibliotheksbestände von

4 Auskunft der Unternehmenskommunikation von Kühne + Nagel gegenüber dem Autor vom Januar 2015, vgl. Bleyl 2015c, S. 4. 5 Auskunft der Unternehmenskommunikation von Kühne + Nagel gegenüber dem Autor vom März 2015, vgl. ebd.

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Henning Bleyl Frankreich nach Frankfurt am Main zu bringen, mit denen die geplante ‚Hohe Schule‘ der NSDAP ausgestattet werden sollte. Die Akquise-Anstrengungen der Firma in Zusammenhang mit dem Eigentum Deportierter und Geflüchteter sind in verschiedenen geografischen Kontexten dokumentiert. So unter anderem in Bezug auf den Pauschalauftrag zur ‚Rückführung‘ von Liftvans aus italienischen Hafenstädten: Die Konfiszierung des Eigentums von Verfolgten, die die Flucht über die Häfen versucht hatten, war ein lohnendes Geschäft, um das Kühne + Nagel sich intensiv und erfolgreich beim Reichsfinanzminister bemühte.6 Zum 1. Januar 1942 baute die Firma ihre Berliner Niederlassung zum Zentralkontor aus – um dauerhaft dort präsent zu sein, wo über die Vergabe von Staatsaufträgen entschieden wurde (Immer in Bewegung 2015, S. 59). Die Akten, die über derartige Geschäfte Auskunft geben, werden von öffentlichen Archiven aufbewahrt und sind dort einsehbar. Doch mit hoher Wahrscheinlichkeit enthält auch das Firmenarchiv einschlägiges Material – obwohl der Mehrheitsaktionär Kühne den geläufigen Topos, alles sei im Krieg verbrannt, noch immer bemüht. Der Bremer Firmensitz wurde in der Tat am 6. Oktober 1944 zerbombt, aber bereits 1943 hatte Kühne + Nagel sein Zentralkontor zunächst nach Regensburg, dann nach Konstanz verlagert. Zu Recht hatte man angenommen, dass Konstanz aufgrund der Nähe zur Schweizer Nachbarstadt Kreuzlingen nicht bombardiert werden würde (ebd., S. 67). Das Verzeichnis Deutsche Wirtschaftsarchive weist folgerichtig ein „Firmenarchiv Kühne & Nagel“ aus: mit Beständen ab 1902 und der Inhaltsangabe „Urkunden, Akten, Protokolle, Geschäftsberichte, Druckschriften, Fotos etc. Benutzung nur mit Genehmigung der Geschäftsleitung“ (Schwärzel 1994, S. 164). Der Hintergrund der von Kühne an den Tag gelegten Blockadehaltung ist persönlicher Natur: Kühne ist Erbe einer Unternehmer-Dynastie, in der der Erfolg von Firma und Familie als eins betrachtet wird – das macht es offenbar schwierig, kritische Distanz zur Vorgängergeneration zu entwickeln. Für einen modernen, von Familiendynastien unabhängigen Aufsichtsratsvorsitzenden wäre es vermutlich viel leichter, das Geschäftsgebaren seiner Vorvorvorgänger in der NS-Zeit erforschen zu lassen. Das Handeln des eigenen Vaters (und Onkels) durch externe Ex6 Landesarchiv Berlin, B Rep. 039-01/321, Rückführung des Besitzes Geflüchteter aus italienischen Hafenstädten.

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Möbeltransporte im Kontext des Massenmordes pert*innen bewerten zu lassen, wie Klaus-Michael Kühne dies tun müsste, ist demgegenüber eine weitaus größere Herausforderung. Dennoch ist es inakzeptabel, dass Kühne die historische Rolle seiner Firma weiterhin relativiert und sich als Opfer einer „verzerrten Darstellung“ geriert (Ertel 2018). Diese Linie verfolgt die Familie Kühne seit 1945. Mit umfangreichen Eingaben und anwaltlicher Unterstützung setzten Alfred und Werner Kühne alles daran, als „nur nominelle Parteimitglieder“ durchzugehen – womit sie letztlich Erfolg hatten. Dass sie bereits am 1. Mai 1933 Aufnahmeanträge stellten, dass sie eine Werkbibliothek voller Nazi-Literatur einrichteten, dass ihre Firma 1937 mit dem kurz zuvor eingeführten ‚Gau-Diplom‘ als ‚nationalsozialistischer Musterbetrieb‘ ausgezeichnet wurde (eine Auszeichnung, die Kühne + Nagel seit dem Kriegsbeginn 1939 jährlich erhielt7) – all diese Umstände hatten den zuständigen Prüfungsausschuss dazu bewogen, Werner Kühne, der selbst auf „unbelastet“ plädiert hatte, zunächst als „Aktivisten und Nutznießer“ zu klassifizieren.8 Als „Aktivist“ galt, „wer durch seine Stellung oder Tätigkeit die nationalsozialistische Gewaltherrschaft wesentlich gefördert hat“ – die zweithöchste Belastungskategorie.9 Warum durften die Kühnes zum 1. Juli 1948 dennoch wieder die Geschäftsführung ihrer Firma übernehmen? Im Bremer Staatsarchiv liegt ein als „TOP SECRET“ gekennzeichnetes Dokument vom 17. Februar 1948, ein Schreiben der in Herford stationierten HQ Intelligence Division an das Bremer Entnazifizierungskomitee. Darin heißt es: „It is considered vital for operations which are already on hand, that Mr. Alfred KUHNE be denazified in such a category so that he is able to retain his business.“10 Diese als von vitaler Wichtigkeit bezeichneten „operations“, wegen derer es Kühne ermöglicht werden müsse, in seine Firma zurückzukehren, waren geheimdienstlicher Natur. Es ging um die Arbeit der von den US-Behör7 Staatsarchiv Bremen (StAB), 4,66-I-6174, Entnazifizierungsakte Alfred Kühne; StAB, 4,66-I-6179, Entnazifizierungsakte Werner Kühne. 8 StAB, 4,66-I-6174, Entnazifizierungsakte Alfred Kühne; StAB, 4,66-I-6179, Entnazifizierungsakte Werner Kühne. 9 So hieß es in der vom Alliierten Kontrollrat erlassenen Kontrollratsdirektive Nr. 38. Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen und Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen vom 12. Oktober 1946, http://archiv. jura.uni-saarland.de/Gesetze/saar-gesetze/3402.htm (06.03.2019). 10 StAB, 4,66-I-6174, Entnazifizierungsakte Alfred Kühne.

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Henning Bleyl den gegründeten Organisation Gehlen. Diese mit im NS-Staat erprobten Spionage-Spezialisten gespickte Vorgängerinstitution des Bundesnachrichtendienstes wollte die Niederlassungen des Logistikkonzerns in Bonn, Bremen und München zur Tarnung wichtiger Mitarbeiter nutzen. Offenbar zugunsten dieses Deals wurden beide Firmenchefs vom Entnazifizierungskomitee letztlich zu bloßen ‚Mitläufern‘ herabgestuft.11 In der Firmenchronik von 2015 wird Alfred Kühne in Bezug auf die Unternehmensentwicklung von Kühne + Nagel während der NS-Zeit wie folgt zitiert: „Unsere Verluste waren beträchtlich, denn die Unkosten liefen weiter, während die Einnahmen zum größten Teil wegfielen“ (Immer in Bewegung 2015, S. 60). Dass dies keineswegs für die persönlichen Einnahmen der Firmenchefs galt, ist den Entnazifizierungsakten der Gebrüder Kühne zu entnehmen. Dort finden sich neben Dokumenten über erhebliche Gehaltssprünge auch mehrere Auflistungen von Immobilien, die die Kühnes bis kurz vor dem Zusammenbruch des ‚Dritten Reichs‘ unter anderem in Lübeck, Leipzig und Hamburg erwarben. Zuletzt, im März 1945, in bester Lage in Hamburg-Blankenese.12 Privat residierte ein Teil der Familie ab 1938 in einem feudalen ‚arisierten‘ Anwesen, der Villa Lichtensee in Hoisdorf bei Hamburg. Zuvor hatte es den Erb*innen des bekannten jüdischen Industriellen Hugo Hartig gehört. Bis 1952 prozessierten die Kühnes mit unnachgiebiger Härte um den Besitz, den sie damals zu kaum einem Viertel des Verkehrswertes erhalten hatten.13 Die Geschichte der Kühnes ist ein regionaler Anlass, um ein elementares, aber erst in jüngerer Zeit mehr Beachtung findendes Thema in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken: Der Holocaust war der größte Massenraubmord der Geschichte. „Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ende der Nazi-Diktatur“, konstatierte Wolfgang Mönninghoff 2001, „konzentriert sich die Diskussion um die Schuld der Deutschen beinahe ausschließlich auf den Holocaust. Die systematische wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden wurde dagegen selbst in der Geschichtswissenschaft bisher nur am Rande beobachtet“ (Mönninghoff 2001,

11 StAB, 4,66-I-6174, Entnazifizierungsakte Alfred Kühne; StAB, 4,66-I-6179, Entnazifizierungsakte Werner Kühne; Staatsarchiv Hamburg 371-8 II_SXXI A15 a 133, Entnazifizierungsakte Alfred Kühne. 12 StAB, 4,66-I-6174, Entnazifizierungsakte Alfred Kühne; StAB, 4,66-I-6179, Entnazifizierungsakte Werner Kühne; Staatsarchiv Hamburg 371-8 II_SXXI A15 a 133, Entnazifizierungsakte Alfred Kühne. 13 Vgl. Akte P411/II, Kirchenkreis Stormarn. Zit. n. Wergin 2004.

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Möbeltransporte im Kontext des Massenmordes S. 10). Dies hat sich seither sukzessive geändert. Für diesen langsamen Bewusstseinswandel stehen viel beachtete Publikationen wie Götz Alys 2005 veröffentlichte Studie Hitlers Volksstaat, aber auch diverse regionale Forschungsprojekte und Initiativen. Dennoch gibt es bislang nirgends ein Mahnmal, das explizit die materielle Seite der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung thematisiert, die Verdrängung aus allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Positionen, die sukzessive und letztlich totale Ausplünderung – all das also, was die Nationalsozialist*innen selbst ‚Arisierung‘ nannten. Der gewaltige Umfang der vielen großen und kleinen Profitgelegenheiten aufgrund von ‚Arisierungs‘-Vorgängen für den nicht-jüdischen Teil der Bevölkerung wird in seiner Bedeutung für die Herrschaftsstabilisierung des Nationalsozialismus erst allmählich in den Blick genommen. Das ‚Dritte Reich‘ funktionierte nicht ‚nur‘ auf ideologisch-rassistischer Grundlage, nicht ‚nur‘ durch brutale Unterdrückung und Gewaltausübung, nicht ‚nur‘ auf Basis des Verführungspotenzials faschistischer Herrschaftsinszenierung – sondern ganz profan auch als ‚Beute-Gemeinschaft‘, die Komplizenschaft der Vielen mit der Machtelite bedeutete. „Der Holocaust“, schreibt Aly, „bleibt unverstanden, sofern er nicht als der konsequenteste Raubmord der modernen Geschichte analysiert wird.“ (Aly 2015, S. 318) Neben der Analyse bleibt das Problem der Vermittlung. Jede Stadt, jedes Dorf in Deutschland hätte Grund, ein ‚Arisierungs‘-Mahnmal zu errichten – die so adressierten Vorgänge fanden im wörtlichen Sinn flächendeckend statt. In der Hafen- und Logistikhochburg Bremen hatte die ‚Arisierung‘ beweglicher Besitztümer – trotz eines nicht sehr hohen jüdischen Bevölkerungsanteils – besondere Dimensionen. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen flüchteten zahlreiche jüdische Familien aus ganz Deutschland über Bremerhaven, mussten dort aber immer öfter ihren in ‚Lifts‘ verpackten Besitz zurücklassen. Dieser wurde dann auf ‚Juden-Auktionen‘ zugunsten der Finanzbehörde versteigert. Zum anderen ist Bremen Stammsitz der Firma Kühne + Nagel. Die Firma war, ebenso wie andere Bremer Speditionen, am Auswanderer-Geschäft beteiligt. Ihre zentrale Bedeutung erwächst jedoch aus der maßgeblichen Rolle, die Kühne + Nagel im Rahmen der ‚Aktion M‘ spielte. Aus Anlass der oben beschriebenen Jubiläumsfeierlichkeiten der Firma stieg die taz tiefer in das Thema ein. Sie konsultierte Historiker*innen und Archive. Die Aktenkonvolute, die über diese Geschäfte Auskunft geben, sind weit verstreut. Im ukrainischen Nationalarchiv liegt eine Liste

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  Der Kühne + Nagel-Teilhaber Adolf Maass am Schreibtisch, Aufnahme vom 29. April 1929

über Besprechungen von Kühne + Nagel mit dem ‚Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg‘ in Paris – Letzterer war für Beschlagnahmungen zuständig, Kühne + Nagel für den Transport nach Deutschland –, wobei die Firma möglicherweise nach Gelegenheiten zur Profitsteigerung suchte. Am 2. Juni 1944 wird vom Einsatzstab beispielsweise bemängelt, dass sich Kühne + Nagel „bei der letzten Rechnung durch Anwendung eines falschen Tarifs (RM 2.55 statt RM 2.05 pro cbm) geirrt“ habe.14 Trotzdem blieb Kühne + Nagel der bevorzugte Auftragnehmer. Im Holocaust Memorial Centre in Montreal fand die taz schließlich auch die Verträge, mit denen Kühne + Nagel 1933 seinen jüdischen Teilhaber Adolf Maass (Abb. ) ausbootete. Denn: Das Unternehmen profitierte nicht nur von den ‚Arisierungs‘-Maßnahmen im gesamten deutschen Machtbereich, sondern ‚arisierte‘ sich auch selbst. Die Firmenchronik erweckt den Eindruck, als sei Maass im April 1933 „in freundschaftlicher Abstimmung“ mit den Brüdern Kühne aus der Firma ausgeschieden (Im14 Ukrainisches Nationalarchiv, Signatur 3676c-1-171, Berichte über die Tätigkeit der ‚Dienststelle Westen‘ in Paris.

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Möbeltransporte im Kontext des Massenmordes mer in Bewegung 2015, S. 59). Noch heute betont Klaus-Michael Kühne, wenn er auf Adolf Maass angesprochen wird, dieser habe die Firma von sich aus verlassen. Maass’ Familie habe nach dem Krieg auch keinerlei Ansprüche geltend gemacht.15 Maass’ Schwiegertochter, zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme (2015) bereits 90 Jahre alt, bestätigt, dass ihr verstorbener Mann keine Forderungen gegen Kühne + Nagel erhoben habe.16 Unter welchen Umständen verließ dessen Vater die Firma? Die alte Dame weiß es nicht. Einen Hinweis hat sie jedoch: Da ihr Schwager nach Kanada ausgewandert sei, könne dort etwas zu finden sein. Und so ist es auch. Aus den im Montreal Holocaust Memorial Centre lagernden Verträgen geht hervor, dass Alfred und Werner Kühne schon 1932 versuchten, die Beteiligungsverhältnisse in der Firma zu ihren Gunsten zu ändern. Maass, mit 45 Prozent der größte Anteilseigner, wurde auf ein Drittel gedrückt. Die Firmenbeteiligungen in Leipzig und Stettin sollten künftig „für alleinige Rechnung der Herren Alfred und Werner Kühne“ laufen. Begründung: Maass habe Verpflichtungen des Gesellschaftsvertrags nicht erfüllt, zudem wurde „Herr Maass seit Jahren in der Zinsenfrage erheblich bevorzugt“.17 In der Firma herrschte Streit. Im April 1933 gab Maass auf, auch auf Druck von außen: Die Reichsgetreidestelle entzog dem Unternehmen seinetwegen wichtige Aufträge. Maass unterschrieb einen Knebelvertrag, in dem er auf sämtliche Rechte an Kühne + Nagel und weiteren Firmen verzichtete und Konkurrenzschutz garantierte: Er werde sich künftig „weder direkt noch indirekt in irgendeiner Form an einem Speditions- und/ oder Schiffahrtsunternehmen beteiligen“.18 Der Gesellschaftsvertrag von 1928 legte fest, dass Maas bei unfreiwilligem Ausscheiden ein 50-prozentiger Zuschlag auf die Abfindung zustehe. Das war nun obsolet: Maass wurden firmeninterne Schulden angelastet. Er verließ seine Firma statt mit einer Abfindung mit ihm ‚wohlwollend‘ gestundeten Zahlungsverpflichtungen. Neun Tage nach Maass’ Ausscheiden wurden Alfred und Werner Kühne in die NSDAP aufgenommen. Maass kam 1938 zum ersten

15 Diese Sichtweise vertritt Kühne beispielsweise im Interview mit dem Hamburger Abendblatt v. 8.7.2015. 16 Telefonate des Autors mit Eva-Maria Küchling-Marsden am 3., 5. und 12. Februar 2015. 17 Holocaust Memorial Centre Montreal, ohne Signatur, Gesellschaftsverträge der Firma Kühne + Nagel. 18 Ebd.

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Henning Bleyl Mal ins KZ, 1941 musste er mit seiner Frau Käthe endgültig das Haus in Hamburg-Winterhude verlassen. Ob es seine ehemalige Firma war, die anschließend das Mobiliar ausräumte, ist nicht bekannt. Klaus-Michael Kühnes Blockadehaltung steht in auffälligem Gegensatz zu seinem öffentlichen Engagement als Wohltäter und Mäzen, für das er unter anderem 2007 vom Hamburger Senat mit dem Titel eines Ehrenprofessors ausgezeichnet wurde. Zahlreiche Medien stiegen zwar auf die Berichterstattung der taz ein, doch umso verbissener beharrt Kühne auf seiner Geschichtsdarstellung. Nach zahlreichen Berichten und Diskussionsveranstaltungen, an denen keine Firmenvertreter*innen teilnehmen wollten, startete die taz daher die Kampagne „4 qm Wahrheit“, die – zunächst symbolisch gemeint – Geld für den Erwerb von vier Quadratmetern Fläche für die Errichtung eines ‚Arisierungs‘-Mahnmals sammelte. Das Crowdfunding war erfolgreich, in wenigen Wochen kamen 27.003 Euro zusammen. Die taz stellte einen offiziellen Kaufantrag an den Bremer Senat zum Erwerb eines vier Quadratmeter großen Teilstücks eines öffentlichen Platzes, der unmittelbar an das Firmengrundstück von Kühne + Nagel angrenzt. Damit begab sich die taz in Konkurrenz zu dem Unternehmen, das den gesamten Platz selbst kaufen wollte – und schließlich auch kaufen konnte –, um am angestammten Ort ein neues und wesentlich größeres Gebäude für den Firmenstammsitz zu errichten. Der Vorzugspreis, zu dem Bremen das direkt an der Weser gelegene Neubau-Gelände an Kühne + Nagel verkaufen wollte, hatte auch sein Gutes: Die taz konnte mitbieten. Mit lediglich 4.400 Euro für vier Quadratmeter lag sie schon locker über dem Preis, den Kühne + Nagel zahlen sollte. Musste die taz nach Maßgabe der Bremer Haushaltsnotlage da nicht zum Zuge kommen? Sie kam nicht zum Zuge, das Grundstück könne nicht ‚gestückelt‘ verkauft werden, erklärte der Senat. Doch zumindest wirkte das Kaufgebot als klares politisches Signal: Es wird zivilgesellschaftlich nicht hingenommen, wenn Unternehmen, die damals wie heute eine herausgehobene Rolle einnehmen, die Aufarbeitung ihrer Firmengeschichte verweigern. Schließlich, so betonte die taz, ging es bei Kühne + Nagel nicht darum, „wie sich irgendein Mittelständler durch die NS-Zeit wurschtelte – sondern um ein Unternehmen, das den Inhalt von zigtausenden jüdischen Wohnungen und Häusern der ‚Verwertung‘ zuführte“ (Bleyl 2015a, S. 23). Noch während des Vergabeverfahrens für das Weser-Grundstück startete die taz einen bundesweiten Ideenwettbewerb für die Gestaltung

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Möbeltransporte im Kontext des Massenmordes eines ‚Arisierungs‘‚-Mahnmals. Die Leitfragen lauteten: Wie kann die Totalität der ‚Verwertung‘ jüdischen Eigentums bildlich gefasst werden? Wie kann man die Diffusion von Verantwortung angesichts der Vielzahl der Profiteur*innen darstellen? Studierende beteiligten sich ebenso wie bekannte Künstler*innen, Privatleute und Schüler*innen. Für viele war der Wettbewerb ein Anlass zu sehr persönlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema, auch mit der eigenen Familiengeschichte. Unter dem Titel „Spuren der Beraubung – Ideen für ein Bremer ‚Arisierungs‘-Mahnmal“ wurde ein Teil der Entwürfe im Haus der Bürgerschaft, dem Sitz des Landesparlaments, ausgestellt. Eine Fachjury, der auch die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Bremens angehörte, schlug das Konzept „Leerstellen und Geschichtslücken“ von Angie* Oettingshausen zur Realisierung vor. Nach einem von der taz im November 2016 wiederum im Haus der Bürgerschaft durchgeführten Symposium mit dem Titel „‚Arisierung‘ – über den Umgang mit dem Unrechts-Erbe“ fasste die Bremische Bürgerschaft den von allen Fraktionen mitgetragenen Beschluss, ein ‚Arisierungs‘-Mahnmal zu errichten. Die Regierungsfraktionen aus SPD und Grünen legten sich mit Unterstützung der Linkspartei zudem darauf fest, Oettingshausens Entwurf umzusetzen „und bei diesen Entscheidungsprozessen insbesondere auch einen Standort im Umfeld des Neubaus der Firma Kühne + Nagel einzubeziehen“.19 Nach derzeitigem Stand (Januar 2020) – und längeren Auseinandersetzungen – soll das Mahnmal entweder 300 Meter flussabwärts des Firmengeländes von Kühne + Nagel, unmittelbar an der Uferflaniermeile errichtet werden, oder aber 50 Meter flussaufwärts des Firmensitzes. Die Finanzierung soll, entsprechend der historischen Profit-Trias aus Fiskus, Unternehmen und Privatleuten, gedrittelt werden. Nach Jahrzehnten vermiedenen oder an staatliche Institutionen delegierten (Opfer-)Gedenkens wird damit nicht nur der Notwendigkeit einer Täter*innen-Adressierung Rechnung getragen (vgl. Schilde 2002, S. 222), sondern auch die private Beteiligung an der profitablen Beraubung der jüdischen Mitbürger*innen in den Mittelpunkt des Erinnerns gerückt. Mit Blick auf die lokalen Gegebenheiten wird dabei die Logistik der ‚Verwertung‘ des Besitzes jüdischer Menschen in den Fokus gestellt. 19 Beschluss der Bremer Stadtbürgerschaft vom 8. November 2016, Drucksache 19/401 S.

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Henning Bleyl Die aktuelle Weiterentwicklung der Gedenkarbeit, mit dem diese nicht zuletzt auf das nahende Lebensende der letzten unmittelbaren Zeitzeug*innen reagiert, weist materiellen Hinterlassenschaften ebenfalls eine neue Rolle zu: 73 Jahre nach dem Ende des Holocaust übernehmen Dinge wie geraubter Hausrat die Funktion von Präsenz, von unmittelbarer und emotionaler Zugänglichkeit; sie fungieren in gewisser Weise als ,Platzhalter‘ ihrer legitimen toten Besitzer*innen. Schon das Symposium der taz fokussierte sich nicht auf die Enteignung wertvoller Kunstwerke oder den Zwangsverkauf von Immobilien. Es fragte vielmehr vornehmlich nach Verbleib und Bedeutung der im Allgemeinen weit weniger beachteten ‚arisierten‘ Möbel und Alltagsgegenstände. Deren oft vergessene Existenz in vielen deutschen Haushalten und Antikgeschäften verweist sowohl auf die Totalität der ‚Verwertung‘ jüdischen Eigentums als auch die Schwierigkeit, einen angemessenen Umgang mit diesem Erbe zu finden. Umgekehrt bedeutet das Fehlen solcher Erinnerungsstücke in zahlreichen jüdischen Familien eine oft schmerzlich empfundene Leerstelle: die Abwesenheit von Erinnerungsankern, eine ‚Spurenlosigkeit‘ der Ermordeten. Bislang erwies sich die Auseinandersetzung mit dem speziellen Geschäftsfeld der Firma Kühne + Nagel als taugliches Vehikel, um diese Dialektik, aber auch die Relevanz und sogar Brisanz der dinggestützten Erinnerung an den Nationalsozialismus breiteren Bevölkerungskreisen bewusst zu machen. Dass die Formensprache des geplanten Bremer Mahnmals eine Kongruenz zu Otto Franks Entscheidung, die Prinsengracht 263 in der vorgefundenen kompletten Leere zu belassen, aufweist, ist auf konkreter Ebene ein Zufall. In gewisser Weise bestätigt er jedoch die Angemessenheit der von Angie* Oettingshausen gefundenen Chiffre für die Totalität von ‚Verwertung‘ und Existenzvernichtung.

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Immer in Bewegung 2015 Immer in Bewegung. 125 Jahre Kühne + Nagel, Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung 2015. Kenzler 2017 Kenzler, Marcus (Hg.): Herkunft verpflichtet! Die Geschichte hinter den Werken. Katalog der gleichnamigen Ausstellung des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Oldenburg: Isensee 2017. Mönninghoff 2001 Mönninghoff, Wolfgang: Enteignung der Juden. Wunder der Wirtschaft. Erbe der Deutschen, Hamburg/Wien: Europa 2001. Rosenbohm-Plate 2003 Rosenbohm-Plate, Margarete: Hollandmöbel – Auslandsmöbel – Judenmöbel, in: Oldenburger Jahrbuch, Bd. 103, Oldenburg: Isensee 2003, S. 169–176. Schilde 2002 Schilde, Kurt: Bürokratie des Todes. Lebensgeschichten jüdischer Opfer des NS-Regimes im Spiegel von Finanzamtsakten, Berlin: Metropol 2002. Schwärzel 1994 Schwärzel, Renate: Deutsche Wirtschaftsarchive, Bd. 1, Stuttgart: Franz Steiner, 1994. Steiniger 1957 Steiniger, Peter Alfons: Der Nürnberger Prozess. Aus den Protokollen, Dokumenten und Materialien des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Berlin: Rütten & Loening 1957. Vergeest 2015 Vergeest, Aukje: Anne Frank im Hinterhaus. Wer war wer?, Amsterdam: Anne Frank Stichting 2015. Wergin 2004 Wergin, Joachim: Von „Waldfrieden“ zu „Lichtensee“, in: Heimatverein GrosshansdorfSchmalenbeck (Hg.): Der Waldreiter, H. 4, Jg. 55, 2004, S. 28–31.

Henning Bleyl Archivbestände

Abbildungsnachweise

Staatsarchiv Bremen Signatur StAB 4,42/1-32 (Zentralbilanzen Kühne + Nagel). Signatur StAB 4,66-I-6174 (Entnazifizierungsakte Alfred Kühne). Signatur StAB 4,66-I-6179 (Entnazifizierungsakte Werner Kühne).

Abb. 1: Foto © Henning Bleyl. Abb. –15: Stadtarchiv Oberhausen. Abb. : Gedenkstätte Zellentrakt Herford, Sammlung Elsbach-Maass.

Staatsarchiv Hamburg Signatur 371-8 II_SXXI A15 a 133 (Entnazifizierungsakte Alfred Kühne). Niedersächsisches Landesarchiv, Standort Oldenburg Signatur NLA OL, Rep 400, Best. 136, Nr. 23809. Landesarchiv Berlin Signatur LArch Berlin B Rep. 039-01/321 (Rückführung des Besitzes Geflüchteter aus italienischen Hafenstädten). Niederländisches Nationalarchiv (Amsterdam) collectie 249-0849A. Montreal Holocaust Memorial Centre Ohne Signatur, Gesellschaftsverträge und interne Vereinbarungen der Firma Kühne + Nagel: „Gesellschafts-Vertrag zwischen den Kaufleuten Herrn August Kühne, Herrn Adolf Maass, Herrn Alfred Kühne, Herrn Werner Kühne“, August 1928. „Feststellungen über das Beteiligungsverhältnis bei der Fa. Kühen & Nagel zwischen Herrn Adolf Maass, Alfred & Werner Kühne, ohne Datum. „Vereinbarung“_ Über das Ausscheiden von Adolf Maass aus der Firma Kühne & Nagel vom 22. April 1933 „Vertrag zwischen Herrn Adolf Maas, Herrn Werner Kühne, Herrn Alfred Kühne, sämtlich Hamburg“ vom 22. April 1933. Ukrainisches Nationalarchiv Signatur 3676c-1-171 (Berichte über die Tätigkeit der „Dienststelle Westen“ in Paris).

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II. Subjektk und in

krisen

nstabile Räume

Ann Varley „An einem Ort wie diesem?“ Geschichten über Demenz, Zuhause und Selbst

Häusliche Pflegekräfte fanden meinen Vater Maurice auf dem Fußboden, eines Morgens im Herbst 2004, als sie kamen, um ihm Frühstück zu machen.1 Wir vermuteten, dass Dad einen Schlaganfall gehabt hatte, da er bereits an Angina Pectoris litt, sowie an Demenz, die drei Jahre zuvor diagnostiziert worden war. Was auch immer hier genau die Ursache gewesen sein mag, alle medizinischen Tests zeigten schlechte Ergebnisse und die Konsequenz war absehbar: Es war zu gefährlich für ihn, weiter alleine zu leben. Als wir seinen Umzug ins Pflegeheim organisierten, bat mich das Personal dort, eine „Erinnerungskiste“ für ihn anzulegen, mit Fotos der Familie und Dingen, die seinen Geist wach halten könnten. Mein Mann half mir, die Kisten vom Dachboden des Bungalows herunterzuholen, den meine Eltern in den 1950ern gekauft hatten, und ich begann nach Fotos zu suchen, die von Bedeutung für meinen Vater und auch für mich sein könnten. Es gab einige Bilder, die ich besonders gern gefunden hätte, unter anderem eines meiner Mutter, wie sie am Fenster steht. Es war schräg von hinten aufgenommen und zeigte sie mit dem Blick in die

1 Ich widme diesen Aufsatz Maurice Varley (1928–2011). Über meinen Vater zu schreiben, über sein Leben, sein Zuhause und über ein so sensibles Thema wie seine Krankheit, wirft ethische Fragen auf. In der ersten Version dieses Artikels (in Environment and Planning D: Society and Space, H. 1, Jg. 26, 2008, S. 47–67) habe ich dazu ein Postskriptum verfasst.

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„An einem Ort wie diesem?“

Welt. „Wehmütig“ fiel mir dazu ein, hatte sie doch mit dem Umzug in den Bungalow ihren Job als Telefonistin in Leeds aufgegeben und war Hausfrau geworden, ihr Leben drehte sich um meinen Vater und mich. Zwei weitere Bilder, nach denen ich suchte, waren Nachtaufnahmen, die mein Vater gemacht hatte. Auf einer sah man Bäume und dahinter eine Straßenlaterne, deren Licht auf das Haus fiel, in dem er aufgewachsen war; auf der anderen die Docks am Kanal in Leeds, eine industrielle Vergangenheit, die heute unter den „Appartements am Wasser“ verschwunden ist. Keines dieser Bilder war zu finden. Irgendwann hatte mein Vater entrümpelt, vermutlich als er, zwölf Jahre nach dem Tod meiner Mutter, wieder geheiratet hatte und einige schöne, wenn auch kurze Jahre mit meiner Stiefmutter verbrachte. Die Schwarzweißbilder waren fast alle verschwunden, aber er hatte tausende Farbdias von seinen allein unternommenen Reisen aufbewahrt: Blumen, Landschaften, Alpendörfer, Bustour-Gruppen, noch mehr Blumen. Ich wurde wütend auf meinen Vater, hier in seinem leeren Haus, wütend über den Verlust dieser Fotografien und mit ihnen eines Teils meiner Kindheit. Wie hatte er diese Bilder wegwerfen können, wo er doch so viele andere behalten hatte? Ich hatte das Gefühl, dass er nicht nur seine eigenen Erinnerungen, sondern auch meine zerstört hatte. Ich wusste, dass das ungerecht war, aber das machte es nicht besser. Schließlich hatte ich genug Familienbilder für die Erinnerungskiste beisammen. Ein paar fanden sich in der Garage zwischen Stapeln diverser an-

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Ann Varley

derer Besitztümer: ein ungezwungenes Porträt seiner Eltern, das ich nie zuvor gesehen hatte; mein Großvater bei der britischen Armee in Ostafrika; meine Eltern in Norwegen, bei einer Motorradtour, auf die mein Vater meine Mutter nach ihrer Verlobung mitgenommen hatte. Ich hängte Abzüge der Bilder in sein Zimmer, aber er schien sie nicht groß zu beachten. Das Zuhause2 ist ein zwiespältiges Konzept (vgl. Young 1997; Duncan/ Lambert 2004). Es ist ein Raum der Zugehörigkeit und der Entfremdung, des Begehrens und der Angst (vgl. Blunt/Varley 2004, S. 3). Iris Young

2 A. d. Ü: Das englische „home“ verfügt über ein vielfältiges Bedeutungsspektrum. Neben dem hier gewählten „Zuhause“ kann es auch „Heimat“, „Heim“, „Wohnung“ oder „Haus“ bedeuten. Das „Zuhause“ ist hier sowohl materiell als auch konzeptuell zu verstehen.

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„An einem Ort wie diesem?“ (1997, S. 135) hat innerhalb des feministischen Denkens Positionen ausgemacht, die die Idee des Zuhauses als „totalisierend und imperialistisch“ zurückweisen. Auch Autor_innen wie Bonnie Honig (1994, S. 570) fordern uns auf, den Verführungen des Zuhauses („seductions of home“) zu widerstehen, das als Metapher für eine einheitliche Identität verstanden wird. Da die Einheit des Selbst auf dem Ausschluss von Differenz beruht, muss eine feministische Politik, die Differenz annimmt, das Begehren nach einem Zuhause als unhinterfragtes Privileg zurückweisen. Teresa de Lauretis (1990, S. 138) ruft den Feminismus dazu auf, sich am Ort des konzeptuell und emotional „Anderen“ zu positionieren und den sicheren Ort, der das Zuhause ist, zu verlassen oder aufzugeben. Die feministische Kritik ist nicht die einzige, die das Zuhause ablehnt. Es wird auch als Symbol regressiver Nostalgie und reaktionärer Nationalismen gesehen, als unangenehmes Hinterland unemanzipierter Gefühle zurückgewiesen und als Nährboden für gewaltvolle und unterdrückerische Politik attackiert (vgl. Bammer 1992, S. x). Die meisten Geograf_innen, die sich mit dem Zuhause beschäftigen, erkennen seine Zwiespältigkeit an.3 Weniger differenzierende Zugänge wiederholen die oben erwähnten Vorwürfe. Maria Kaika (2004) hinterfragt die reaktionären politischen Folgen der Konstruktion eines Zuhauses als autonome individuelle Utopie, die unerwünschte soziale und natürliche Elemente ausschließt. Sie stellt dabei die Dysfunktionalität des privaten Raums, in dem blinder Individualismus in Isolation gepflegt werden kann, heraus (ebd., S. 283). Kaika verurteilt die Ideale häuslicher Sicherheit und Vertrautheit, die dazu gemacht seien, „das Andere“ auszuschließen, und fordert ein Ende der Selbstsucht und der Entfremdung, die das Zuhause nähre. In einer jüngeren Studie stellt David Sibley (2005) das Private – sowohl das Zuhause als auch jene Räume, die für die Mächtigen mittels Regulierung des öffentlichen Raums dem Zuhause angeglichen werden – als unerbittlich ausschließend dar. Seine Beispiele umfassen Panikräume, Gated Communities und Bürgerwehren; die ausgeschlossenen Anderen sind Obdachlose, Drogenmissbrauchende, psychisch Kranke und Straßenkinder. Diese Beispiele zeigen das Zuhause als Raum des begrenzten, ausschließenden Selbst. Ein solches Verständnis des Privaten gründet auf das 3 Überblicke geben Domosh 1998; Duncan/Lambert 2004; Blunt 2005; Blunt/ Dowling 2006.

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Ann Varley Lateinische privatus, das „Rückzug aus dem öffentlichen Leben“ bedeutet (Raymond Williams, zit. n. Sibley 2005, S. 157). Aber privatus hat noch andere semantische Verbindungen, zum Beispiel zu privation, Beraubung (vgl. Williams 1983, S. 242). In dieser Hinsicht ist das Private der Bereich desjenigen, der „nicht eigentlich ein Mensch ist“ (Arendt 1960, S. 39). Das häusliche Private wird mit dem Alltäglichen, der körperlichen Reproduktion, der Abhängigkeit und dem weiblichen Anderen assoziiert. Als solches erscheint es als essenzielle naturhafte Grundlage des bürgerlichen Lebens und von geringem theoretischem oder politischem Interesse (vgl. Pateman 1988). Das Zuhause kann also auch ein Raum des Einschlusses sein: Das ausgeschlossene Andere ist nicht notwendigerweise „draußen“. Das Zuhause ist daher der Raum sowohl des Selbst als auch des Anderen; diese Ambivalenz wird von einer zu starken Fokussierung auf das ausschließende Zuhause übergangen. Auch läuft eine solche Fokussierung Gefahr, das othering des Zuhauses fortzuschreiben. Doch schon vor über 30 Jahren haben feministische Wissenschaftler_innen begonnen, die Auslassung des domestischen Raums in der Agenda der Geografie zu hinterfragen, um dieses Andere sichtbar zu machen. Dabei haben sie die Erzählungen vom Zuhause verkompliziert: Der privilegierte Raum für wenige ist für andere ein Arbeitsplatz, ein Angstraum oder ein Unterdrückungsraum.4 Das Öffentliche und das Private, so argumentieren feministische Wissenschaftler_innen, sind verbunden: Das Private kann ins Öffentliche „eindringen“, aber das Öffentliche kann ebenso ins Private „eindringen“.5 Schwarze Feminist_innen haben gezeigt, dass Kritik am Zuhause häufig aus der Position der Privilegierten kam und dass das Zuhause für Minderheiten in einer rassistischen Gesellschaft ein Raum

4 Sibley (1995, S. 94) reagiert auf die „zu gemütlichen“ Darstellungen des Zuhauses in der Literatur. Aber die Kritik feministischer Denker_innen am Zuhause in den 1980ern war so deutlich, dass sie mit heftiger Denunziation beantwortet wurde, weil die Feminist_innen angeblich „Millionen von normalen Frauen“, die das Zuhause schätzten, als „dumm“ klassifizierten (Saunders 1990, S. 308). 5 Kaika (2004) zitiert ein Beispiel der Kolonisierung des öffentlichen Raums durch private Hausbesitzer_innen, das Anderson und Jacobs (1999) diskutiert haben. Sie erwähnt aber nicht, dass dieses Beispiel dort mit einem anderen verbunden wird, in dem eine öffentliche Stadtentwicklungsbehörde versuchte, Häuser zu räumen, ohne den Bewohner_innen eine andere Unterbringung anzubieten.

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„An einem Ort wie diesem?“ der Sicherheit und des Widerstandes war (vgl. hooks 1996; Smith 1983). Kritiken des Zuhauses als ausschließender Raum können also selbst auf Ausschlüssen gründen und diese fortführen. Kurz nach der Alzheimer-Diagnose meines Vaters war ich mit ihm für einen Tagesausflug an die Küste gefahren. Eine Demenz-Diagnose bedeutet auch, den Führerschein zu verlieren, also hatte er mir sein Auto gegeben und den Verlust des Führerscheins auf sein schlechter werdendes Sehvermögen geschoben. Dort am Ufer, in der Sonne, sah er glücklich aus. Er zeigte sein Geschick im Steinchen-Flitschen. Ich dachte: „Dieses Bild von ihm muss ich ganz fest in meinem Kopf verankern.“ Ich nahm ihn auf solche Ausflüge mit, sooft es ging. Beim Steinchen-Flitschen konnte Dad im Moment leben und dabei dennoch ein Echo vergangener Freuden genießen. Mit der Zeit aber wurde er schneller nervös und wollte zurück zum Auto, die Strecken, die er lief, bevor er umdrehen wollte, wurden immer kürzer. Er hatte auch begonnen, sich Sorgen zu machen, dass er kein Geld hätte. Seine Pension wurde auf sein Konto überwiesen, aber er konnte sich nur mehr an die Zeit erinnern, in der man Pensionen beim Postschalter abholen musste. Ich schrieb ihm Zettel, um ihn daran zu erinnern, wie er sein Geld von der Bank holen konnte, aber er übersah sie schon bald. Er drehte Runden von der Bank zur Post, zum Arbeitsamt und zu seiner Versicherung und bat um Hilfe, da er kein Geld hätte. Die Angestellten fragten nach der Telefonnummer seiner Angehörigen und riefen mich an, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung sei. Die meisten dieser Unternehmungen beinhalteten einen zwei Meilen langen Fußweg zum nächstgelegenen Städtchen und zurück. Er begann, täglich oder auch zweimal täglich am Kanal entlangzugehen, oder über das Gelände eines alten Anwesens, auf dem nun ein Golfplatz war. Das Gehen schien ihn zu beruhigen, aber er gewöhnte sich leider an, dabei Golfbälle aufzusammeln, die außerhalb der Bahnen lagen. Er sammelte Tausende – so viele, dass die Verwaltung des Golfplatzes begann, ihre Angestellten des Diebstahls zu bezichtigen. Wir brachten ganze Autoladungen zurück zum Club, aber Dad fühlte sich zusehends stärker von uns angegriffen und versteckte die Bälle in der Garage. Als ich eines Tages kam, um Golfbälle auszuräumen, bemerkte er, was ich tat. Wütend schrie er mich an und schob mich hinaus. Ich schrie zurück. Wenig später rief mich der Leiter der Bankfiliale an und sagte, dass Dad ihm gegenüber aggressiv geworden sei, die Angestellten angeschrien habe und sie beschuldigt habe, ihn zu bestehlen. Ich spürte die Erniedrigung meines Vaters, als sein Psychiater und der Filialleiter ihm daraufhin eine Standpauke über inakzeptables Benehmen hielten.

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Ann Varley Die Ärzt_innen verschrieben ihm Medikamente, die seine Aggressionen mildern sollten, und diese schienen ihm auch gegen seine Ängste zu helfen. Die Anrufe von besorgten Fremden hörten auf. Aber in dem Maß, in dem die Ängste und die Aggressivität meines Vaters abnahmen, veränderten sich auch seine Bewegungsmuster. Er gewöhnte sich an, in einem kleinen Supermarkt bei ihm gegenüber einkaufen zu gehen, oft mehrmals täglich. Die Angestellten oder auch Nachbar_innen versuchten ihm zu helfen, wenn er nach dem Bezahlen wieder von vorne begann. Nach wie vor sprach er darüber, dass er spazieren ging, aber wir wussten nicht mehr, ob wir ihm das glauben sollten. Die Welt meines Vaters wurde immer kleiner, Stück für Stück. Eines Tages hörte ich, wie er losging, um einzukaufen. Ich wartete darauf, ihn den Weg hinuntergehen zu sehen, aber er tauchte nicht auf. Er hatte wohl vergessen, was er vorgehabt hatte. Nach etwa einer Minute kam er zurück und sah etwas verwirrt aus. In ihrem bekannten Aufsatz über die „Politik des Ortes“ (Politics of Location) beschreibt Adrienne Rich (1987, S. 211), wie sie und ein_e Freund_in sich als Kinder Briefe schrieben und dabei die Adressen immer weiter ausdehnten, auf den Kontinent Nordamerika, die westliche Hemisphäre, die Erde, das Sonnensystem, das Universum. Im Rückblick fragt sie sich, wie sie dazu kam, ihr Haus als Zentrum von konzentrischen Kreisen zu betrachten, und was es für sie bedeutet haben mag, im Zentrum zu sein. Erzählungen wie diese haben dazu geführt, dass das Zuhause in feministischen Narrativen und Theoretisierungen von Identität abgelehnt wird. Diese Narrative zielen darauf ab, dass ein Verständnis der Komplexität von sozialer Verortung nur erreicht werden kann, wenn wir das Zuhause verlassen (vgl. Pratt 1998, S. 19). Dabei finden sich solche Narrative überwiegend bei jungen Menschen. Weniger Beachtung erfährt dagegen die Frage, wie die Bedeutung von Zuhause sich mit zunehmendem Alter verändert. Alter und Gebrechlichkeit können dazu führen, dass Menschen ein Schrumpfen des erfahrbaren Raumes erleben, das ihnen Lebensräume verschließt und ihre Identitätsnarrative neu ausrichtet (vgl. Massey 2001, S. 459). Das muss nicht zwangsläufig einen Rückzug in die häuslichen Räume von Vertrautheit und Behaglichkeit nach sich ziehen. In einer von Maribel Blasco und mir durchgeführten Studie mit älteren Männern in Mexiko konnten wir erfahren, dass ihre Entfremdung von der Rolle als Brotverdiener für sie auch bedeutete, sich zu Hause nicht am richtigen

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„An einem Ort wie diesem?“ Ort zu fühlen. Sie beklagten, keinen Ort mehr zu finden, um für sich zu sein. Jene Männer, die ein Auto besaßen, fuhren damit herum, ohne Ziel, einfach nur, um etwas Privatsphäre zu genießen (vgl. Varley/Blasco 2000; vergleichend für Großbritannien vgl. Mowl et al. 2000). Das aktuelle Interesse an mobilen Subjektivitäten versteht Identität als Suche. Aber die Bewegung ist manchmal gar nicht eine Suche nach Identität, sondern ein Entkommen aus ihr, oder auch ein Entkommen aus der Unstimmigkeit zwischen dem Ort, an dem man ist, und dem Ort, an dem man gern wäre. Die Bewegung kann ganz ohne vorgegebene Route verlaufen oder eine so vertraute Route nehmen, dass man ihr ohne Nachdenken folgen kann. Wenn man über Identität im Sinne von Exil und Migration nachdenkt, riskiert man aber, manche Menschen als „Träger_innen einer besonderen Art von existenzieller Wahrheit“ zu privilegieren und die Bewertungen bekannter binärer Zuschreibungen einfach nur umzudrehen (vgl. Dawson/ Johnson 2001, S. 320). Eine Strategie gegen diese umgekehrte Bewertung ist es, den Fokus eher auf ein mentales als auf ein tatsächliches Bewegen und Verweilen zu legen (vgl. Dawson/Johnson 2001). Wenn Zuhause dort ist, wo wir uns selbst am besten kennen, dann können wir auch zu Hause in Bewegung sein und in der Imagination reisen; und wir können das Zuhause schätzen, ohne damit reaktionäre Politik zu unterstützen (Rapport/Dawson 1998). Für manche Menschen ist das Zuhause jedoch auch eine materielle Realität mit spezifischen historischen und geografischen Koordinaten (vgl. Basu 2001, S. 346). Wenn Identität eine Suche ist, bedeutet diese Suche nicht auch, zum Teil jedenfalls, die Suche nach etwas, das man verloren glaubt (vgl. ebd., S. 335)? Gedächtnisverlust schützt in gewisser Weise vor seinen eigenen Auswirkungen, aber andere müssen dann die Lücken füllen, die sich in den eigenen Handlungsmöglichkeiten auftun. Man vergisst, dass und wie man tägliche Routinen erledigt, etwa das Essen zuzubereiten oder die Wäsche zu waschen. Als ich eines Tages ein schimmeliges Laken in der Waschmaschine fand, wurde mir klar, dass ich es nicht länger vermeiden konnte, mich mit diesem Problem zu befassen. Ich hatte schon früher meine Hilfe angeboten, aber Dad sagte jedes Mal, dass er kürzlich erst gewaschen und gebügelt hätte oder dass er es nach meiner Abreise erledigen würde. Widerspruch forderte ihn nur heraus. So passte ich eines Morgens einen Moment ab, in dem Dad etwas las, um leise in sein Schlafzimmer zu gehen und sein Bett abzuziehen. Falls er sich

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Ann Varley dann ärgern würde, wäre es immerhin schon getan. Der nächste Schritt war schwieriger. Die saubere Bettwäsche war in genau dem Zimmer, in dem er beim Lesen saß. Ich hielt den Atem an, während ich die Schubladen öffnete, die etwas klemmten. Zu meiner Erleichterung sagte Dad gar nichts. Ich bemerkte erst da – mit Überraschung –, dass er mich gar nicht sah. Ich tat einfach nur, was die Frauen in seinem Leben schon immer getan hatten. Nach Dads erstem Krankenhausaufenthalt organisierten wir, dass die häusliche Pflege sich darum kümmerte, dass er seine Medikamente einnahm. Aus den morgendlichen Besuchen der Pflegekräfte wurden zwei am Tag, und schließlich, nachdem er sich auch die Sandwiches, von denen er sich fast ausschließlich ernährte, nicht mehr selbst zubereiten konnte, begannen sie auch, für ihn einzukaufen und sein Essen zu machen. Zu meinem Erstaunen nahm Dad diese Besuche an, aber ich fand sie schwierig. Ich fühlte mich ausgeliefert und bewertet: Der Zustand des Hauses, mein Leben in London, mein verrückter Job. Und das war nicht paranoid. Die Nachbar_innen hatten ihren Ärger schon eines Abends am Telefon an mir ausgelassen. Ob ich nicht merkte, wie krank mein Vater sei? Was mir einfiele, ihn allein auf der Straße herumwandern zu lassen. Ich sei doch für ihn verantwortlich. Ich fühlte mich gedemütigt und dachte weinend darüber nach, dass sie all das nicht gesagt hätten, wenn ich ein Mann wäre. Die Berufstätigkeit von Frauen zählte offensichtlich noch immer nichts. In den Pflegeheimen, die ich besuchte, um einen Platz für meinen Vater zu finden, waren die meisten Pflegekräfte asiatische oder weiße Frauen aus der Arbeiterklasse, aber es gab auch ein paar Männer und einige Frauen aus Westafrika. Praktisch alle Bewohner_innen waren weiß; manche davon, wie mein Vater, waren Kinder derjenigen, die in den britischen Kolonien gearbeitet hatten. Ich habe mich gefragt, was die migrantischen Arbeiter_innen wohl über ihre Arbeit dachten. Eine Frau, die mir das Heim zeigen sollte, sprach so gut wie nicht mit mir und drehte sich weg, sobald wir fertig waren. Danach taute sie jedoch plötzlich auf und umarmte eine_n der Bewohner_innen herzlich. Als ich später meinen Vater dort besuchte, bekam ich mit, wie eine Bewohnerin in schrillem Ton verlangte, zur Toilette gebracht zu werden. Eine Pflegerin bat sie, kurz zu warten, da sie gerade Tee kochte. Als die Bewohnerin nicht aufhörte zu rufen, sah ich einen plötzlichen Ausdruck der Abscheu auf dem Gesicht der Pflegerin, bevor sie seufzte und tat, was von ihr verlangt wurde. Ein oder zwei der Bewohnerinnen des Pflegeheims gingen manchmal mit einem Staubwedel herum und „putzten“. Eines Tages, als ich Dad auf die Toilette begleitete, öffnete eine dieser Frauen die Tür und stand dann einfach da,

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„An einem Ort wie diesem?“ unsicher darüber, was sie als Nächstes tun sollte. Sie lächelte verlegen, dann nahm sie ihren Staubwedel und polierte den Türgriff. Optimistische Erzählungen vom Verschwimmen der Grenzen zwischen Zuhause und Arbeit gibt es viele. In Europa und Nordamerika, und vor allem für Frauen der Mittelschicht, wird die Ideologie der getrennten Sphären weitgehend als überholt angesehen (vgl. Bondi/Domosh 1998, S. 285). Trotz dieses tiefgreifenden Wandels bleiben vergeschlechtlichte Räume weiterhin bestehen. Ein Beispiel dafür ist die Übernahme der Reproduktionsarbeit berufstätiger Frauen aus der Mittelschicht durch Frauen aus der Arbeiterklasse und Migrantinnen. Pratt (1999, S. 164) betrachtet das Bemühen einer philippinischen Hausangestellten, sich im Haus ihrer kanadischen Arbeitgeber_innen ein eigenes Territorium abzustecken, und zeigt dabei, dass das Markieren von Grenzen politisch genauso konstruktiv sein kann wie das Verwischen. Hausangestellte unter den Chicanas in den USA ziehen es vor, für mehrere Arbeitgeber_innen zu arbeiten und möglichst wenig Kontakt mit den einzelnen zu haben (vgl. Romero 1992). In Großbritannien ziehen Pflegekräfte die Arbeit im Haus mit unterschiedlichen Klient_innen der Arbeit in einer Institution vor, zum Teil weil die Belegschaft in Pflegeheimen immer mit denselben Menschen arbeitet (vgl. Twigg 2000). Andererseits haben sie dort die Möglichkeit, nach ihrer Schicht nach Hause zu gehen, was Pflegekräfte, die an ihrem Arbeitsort auch wohnen, nicht können. Könnte dieser Mangel an Trennung zwischen dem Raum des Zuhauses und dem Raum der Pflege-Arbeit eine Erklärung dafür sein, dass Pflegekräfte, die im selben Haushalt wie die Gepflegten wohnen, häufiger an Ängsten leiden als andere informelle Pflegekräfte, wie Mahoney et al. (2005) feststellen? Bezahlte Hausarbeit verwäscht die Trennung zwischen öffentlich und privat durch eine „Institutionalisierung des Zuhauses“ (vgl. Milligan 2009, S. 4; Twigg 2000). Die Trennung wird durch diverse Regeln in der Anstellung der Pflegekräfte aufrechterhalten, gleichwohl können diese Regeln mit den Bedürfnissen der Klient_innen kollidieren und die Möglichkeit von guter Pflege einschränken. Die staatlichen Angebote, private Pflege finanziell zu unterstützen,6 kann die Trennung 6 A. d. Ü.: In Großbritannien unter dem Namen „cash for care“, Pflegegeld für Angehörige oder Freund_innen.

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Ann Varley zwischen öffentlich und privat weiter verwaschen, wenn es denen, die Pflege nutzen, mehr Macht verschafft als denjenigen, die Pflege erbringen. Freund_innen oder Nachbar_innen einzustellen, kann dazu führen, dass auf die private Zeit und den Raum der in der Pflege Arbeitenden zugegriffen wird, wenn Pflege-Nutzer_innen zusätzlich kostenlose Unterstützung erwarten, z. B. nachts anrufen und um Hilfe bitten (Ungerson 2004). Pflegende werden feststellen, dass sie die Grenze zwischen sich und ihren Arbeitgeber_innen bzw. den Pflege-Nutzer_innen verstärken müssen, um Missbrauch vorzubeugen.7 Mein eigenes Verhältnis zu der häuslichen Pflegekraft war nicht einfach. Es gab ein wenig hilfreiches Regelwerk und kleine Lücken zwischen und in den Systemen von Gesundheitsfürsorge und sozialer Fürsorge, die drohten, den ganzen Pflegeplan zu sabotieren. Entweder mussten die Regeln gebrochen werden, die diese Lücken erzeugten, oder Verwandte mussten einspringen, um sie zu füllen. Die häuslichen Pflegekräfte durften z. B. Medikamente noch nicht einmal anfassen, und die Sozialfürsorge hatte noch keinen Bedarf für Hilfe beim Einkaufen registriert. Wie also sollten die wöchentlich ausgegebenen Medikamente von der Apotheke zu Dad kommen? Er selbst war nicht in der Lage, an das Abholen der Medikamente zu denken. Dies waren zum Glück nur kleinere Probleme, bei denen immer jemand helfen konnte. Aber andere waren schwerwiegender. Die Angina-Pectoris-Medikamente wirkten nicht gut, und Dad waren die täglichen Beschwerden immer wieder neu. Er war morgens manchmal sehr irritiert, weil er die Symptome nicht mit den vorhergehenden vergleichen konnte. Er begann auch, um den Mund herum etwas blau anzulaufen. Die häuslichen Pflegekräfte waren verpflichtet, medizinische Hilfe anzufordern, wenn sie dies beobachteten. Da die normalen Ärzt_innen die häufigen ungeplanten Besuche meines Vaters schon leid waren, bestanden sie darauf, dass der Notarzt gerufen wurde. So wurde mein Vater mehr als ein dutzend Mal mit Verdacht auf Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert, wo das EKG doch jedes Mal nur zeigte, dass es sich um einen falschen Alarm gehandelt hatte. Diese Situationen bereiteten ihm große Schwierigkeiten. Dad wurde immer verwirrter durch das Warten: auf eine_n Ärzt_in, auf ein Testergebnis, auf wei-

7 Massey (1995) beschäftigt sich mit der Verstärkung von Grenzen als Strategie gegen die Übernahme von Zeit und Raum im Zuhause durch die Arbeit. Die Möglichkeit des Missbrauchs besteht in beide Richtungen (vgl. Wiles 2003).

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„An einem Ort wie diesem?“ tere Tests. Er hatte immer den Eindruck, dass sich niemand um ihn kümmerte, und er wusste auch gar nicht, warum er überhaupt dort war. Er wurde immer aufgebrachter und entließ sich zum Schluss selbst oder verließ einfach das Krankenhaus. Er wartete nicht auf den Krankentransport, sondern ging zu Fuß nach Hause, einen Weg, den er schon seit vielen Jahren kannte und daher noch erinnern konnte. Es waren fünf Meilen und er lief sie im kalten Winter wie an den heißesten Tagen des Sommers immer in seiner schweren Wolljacke. Viele Krankenhausbesuche dauerten keinen ganzen Tag. Nur einmal konnten sie ihn überreden, länger zu bleiben, aber man musste ihn fortwährend daran erinnern, wo er war und warum er dort war. In einer Nacht verschwand er. Das Sicherheitspersonal wurde losgeschickt, um ihn zu suchen. Als sie ihn fanden, widersetzte er sich und schlug um sich; er traf eine Krankenschwester, während sie versuchten, ihm ein Beruhigungsmittel zu verabreichen. Meine Tante und mein Onkel besuchten ihn eines Nachmittags und berichteten, dass Dad in einem sehr schlechten Zustand war. Er hatte seine Geldbörse nicht finden können und sich Sorgen gemacht, „seinen Anteil nicht bezahlen“ zu können: Er wähnte sich auf Urlaub mit ihnen in Wales und befürchtete, kein Geld für die Hotelrechnung dabeizuhaben. Manchmal, wenn ich ihn besuchte, meinte er auch, wir wären in einem Pub. Im Krankenhaus brach Dad geistig immer zusammen. Zu Hause war er nie derart verwirrt. Er kam dort mit der nötigen Hilfe noch zwei Jahre zurecht. Wenn man ihn auf einem seiner täglichen Spaziergänge traf, fiel nicht gleich auf, dass etwas nicht stimmte. Nur wenn man längere Zeit bei ihm war, merkte man, dass er sich wiederholte oder dass er sich nicht erinnern konnte, dass man sich gestern schon getroffen hatte. Die Zurückweisung des Zuhauses beruht auch auf einer Identitätskritik, die auf poststrukturalistische Subjekttheorien und die lacanianische Psychoanalyse zurückgeht. Lois McNay (2000) befürchtet, dass konstruktivistische und lacanianische Verständnisse von Identitätsbildung in der feministischen und in der sozialwissenschaftlichen Theorie zu sehr generalisiert werden. Die Betonung der diskursiven Konstruktion des Selbst führe zu allzu optimistischen Vorstellungen davon, wie leicht Identitäten umgestaltet werden könnten (vgl. ebd., S. 74, 162). Diese identitätskritischen Zugänge vermitteln eine irreführende und vereinfachende Sicht auf die Psyche und ihre Veränderbarkeit durch diskursive Interventionen. Sie transportieren auch eine Abneigung gegen die Vorstellung, dass Individuen primär vor dem Hintergrund ihrer Unfähigkeiten, des Verlusts ihrer

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Ann Varley Handlungsfähigkeit oder eines Mangels an progressiver Veränderung zu denken und theoretisch einzuordnen sind (vgl. Callard 2003, S. 304–307). Das Zelebrieren von Unbestimmtheit in den poststrukturalistischen Darstellungen des Selbst widerspricht im Grunde der einstimmigen Zurückweisung der einheitlichen Identität (vgl. McNay 2000, S. 28). McNay versucht, das Selbst eher als generative Form zu betrachten, als etwas, das nicht im Widerspruch zwischen Identität und Nicht-Identität gefangen bleibt, sondern das zwischen beiden vermittelt. Die Handlungsfähigkeit eines Individuums bedarf einer gewissen Einheitlichkeit in der Vorstellung des Selbst, was bedeutet, dass es Grenzen der Wandlungsfähigkeit von Identität gibt (siehe auch Conradson 2005; Lipman 2006). Eine Möglichkeit, hier Vermittlung statt Widerspruch zu denken, liegt in einem Fokus auf Zeitlichkeit. Soweit das Selbst eine Einheitlichkeit besitzt, ist es eine dynamische Einheitlichkeit, ein Bestand durch die und in der Veränderung (vgl. McNay 2000, S. 87). McNay bezieht sich auf Ricœurs Idee der narrativen Identität: Vor dem Hintergrund der Geschichten, die uns kulturell zugänglich sind, stellen wir aus Ereignissen ein Narrativ zusammen und interpretieren die Ereignisse immer wieder neu. Dabei werden wir zu Erzähler_innen unserer eigenen Geschichte, ohne jemals vollständig zur_m Autor_in unseres Lebens zu werden (vgl. Ricœur 1991, S. 437). Die Geschichte ist nie ganz kohärent. Wie Seyla Benhabib (1999, S. 353) es formuliert, bedeutet Identität nicht, dass etwas durch die Zeit hindurch immer gleich bleibt, sondern eher die Fähigkeit, durch die Zeit hindurch Bedeutung zu generieren, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenhält. Das narrative Modell von Identität betrachtet das Verhältnis zum Anderen als fortdauernden Prozess und nimmt keine endgültige Versöhnung an (vgl. McNay 2000). Es bietet daher eine Darstellung eines kohärenten Selbst, das nicht darauf beruht, Differenz auszuschließen. Jessica Benjamin (1996; 1995; 2002) widmet sich der Frage, wie das Selbst sich zum Anderen ins Verhältnis setzen kann, ohne es entweder zu assimilieren oder auszuschließen. Sie weist die Kritik der Identität nicht zurück, aber weist darauf hin, dass das Subjekt als politische oder epistemologische Kategorie nicht ganz dem Selbst als „Ort der subjektiven Erfahrung“ entspricht (Benjamin 1995, S. 12). Sie widerspricht Butlers (1991) Ablehnung eines „Täters hinter der Tat“ und plädiert dafür, dass das Selbst zwar nicht-identisch sein kann, aber trotzdem einen Zustand haben kann, ein Gefühl ausdrücken kann, sich identifizieren und eine

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„An einem Ort wie diesem?“ Position einnehmen kann, dass es also ein „Identifizierendes hinter der Identifizierung“ gibt (Benjamin 2002, S. 112). Den hauptsächlichen Unterschied, den Benjamin zwischen ihrer Position und den Lacanianer_innen erkennt, ist ihre Betonung der „konkreten Anderen“ (ebd., S. 106). Wenn das Selbst mit den Anderen konfrontiert wird, kann es entweder mit Idealisierung reagieren oder, wenn der oder die Andere mit einem gefürchteten Anteil des Eigenen in Verbindung gebracht wird, mit Zurückweisung und Ausschluss. Aber die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende, weil diese projizierten Anderen nicht die äußeren, konkreten Anderen sind. Der Schlüssel zum Verständnis der konkreten Anderen findet sich in Winnicotts Konzept der „Destruktion“ (Winnicott 1973). Die Negation der Anderen durch Ausschluss, Gewalt oder Zum-Schweigen-Bringen beinhaltet als Botschaft ein: „Du existierst für mich nicht“ (Benjamin 2002, S. 116). Diesen Prozess, den Winnicott Destruktion (1973, S. 105) nennt, „überlebt“ der_die Andere vielleicht nicht, sondern zieht sich zurück, kapituliert oder schlägt zurück. Das Ergebnis hängt aber nicht vom Selbst ab, was die „Unbestimmtheit und Irreduzibilität der Anderen für das Subjekt“ hervorhebt (Benjamin 2002, S. 115). Wenn die_der Andere überlebt, also von uns zwar bewegt, aber nicht gezwungen werden kann, dann kann er_sie als äußere_r Andere_r anerkannt werden (vgl. ebd., S. 116). Benjamin nennt diesen Prozess der Subjektbildung durch Anerkennung der Äußerlichkeit der Anderen „Einschließung“ (Inklusion). Sie stellt fest, dass dieses ausgleichende Konzept in Butlers Verständnis der Subjektbildung durch Ausschluss nicht vorkommt, und fragt, auf welcher Grundlage die Forderung nach Respektierung von Differenz ohne ein Ideal der Einschließung geäußert werden kann. Diese Einschließung erfordert ein Bewusstsein der Gemeinsamkeiten; es ist Bedingung der Anerkennung der Anderen, dass die_der Andere auch ein Subjekt ist, ein Ich, das in der Lage ist zu negieren (vgl. ebd., S. 128). Wir haben genauso eine ethische Verantwortung, für die anderen Subjekte als ihr Anderes einzustehen und die Negation durch sie zu überleben. Es ist behauptet worden, dass diese Argumentation unter der ihr inhärenten Hoffnung leide, dass Anerkennung eine idealisierte Schlussfolgerung bilden könne und nicht Teil eines fortwährenden Kampfes sei (vgl. Butler 2000, S. 283–285). Benjamin deutet an, dass ihre frühere Schrift Die Fesseln der Liebe (1996), in der der Zusammenbruch der Anerkennung durchaus als unvermeidlich gesehen wurde, dieses Argument

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Ann Varley vielleicht nicht stark genug gemacht hat. Sie betont, dass sich im besten Falle Anerkennung und Ausschluss/Assimilation abwechseln und dass Anerkennung nicht ohne Destruktion gedacht werden kann, da sie nur entstehen kann, wenn der_die Andere die Negation überlebt (vgl. Benjamin 2002, S. 123; 1995, S. 22; 2000, S. 298). Die Verzweiflung meines Vaters während der Krankenhausaufenthalte und die Vorstellung, dass er irgendwo an der Straße auf dem Rückweg einen Herzinfarkt haben könnte, brachten mich schließlich dazu, gegen die Anrufe beim Rettungsdienst zu protestieren. Ich wollte zwar auch nicht, dass er den Herzinfarkt zu Hause hätte; aber unter den gegebenen Umständen schien der Rettungsdienst die Wahrscheinlichkeit eines Infarkts eher zu erhöhen. Und wenn mein Vater nun unbedingt zu Hause sein wollte, dann sollte er dort auch sein. Er war aber dort auch nicht zwangsläufig glücklich. Er verweigerte sich allen Einladungen zu organisierten gesellschaftlichen Veranstaltungen und Besuchen in London, aber wenn wir zum Essen ausgingen, fing er sofort ein Gespräch mit Leuten am Nachbartisch an. Seine Einsamkeit zu Hause wurde vielleicht durch die Erinnerung an meine Mutter und meine Stiefmutter, die beide in eben diesem Zuhause gestorben waren, verstärkt, aber sie verlor gegenüber dem Bedürfnis, sich sicher zu fühlen, doch an Bedeutung. Trotz der Gefahren beschloss ich also, alles mir Mögliche zu tun, damit er so lange wie möglich zu Hause bleiben konnte. Meine Sorgen wurden größer, als Dad einmal zwei Krankenschwestern angriff und das Krankenhaus eine_n Amts-Psychiater_in bestellte. Die Vorstellung, dass er „weggeschlossen“ oder zwangseingewiesen werden könnte, war ein Alptraum. Er würde nicht verstehen, warum er nicht gehen durfte. Je weniger Kontakt mit dem Krankenhaus, desto besser, schien mir. Diese Haltung wurde nicht geschätzt. Wie konnte ich wollen, dass mein Vater nicht von den Expert_innen versorgt würde? Das Krankenhauspersonal weigerte sich auch, sich vorzustellen, dass der verwirrte alte Mann, den sie zu Gesicht bekamen, tatsächlich noch in der Lage sein sollte, zu Hause zu leben. (Zum Glück waren seine psychiatrischen Spezialist_innen bereit, hier mehr Risiken einzugehen. Sie hatten auch schon einen anderen Mann darin unterstützt, in seinem Haus zu bleiben, obwohl dieses in besorgniserregend baufälligem Zustand war.) Pflegende Angehörige hatten die professionelle Weisheit nicht zu hinterfragen. Als wir ihn schließlich doch ins Pflegeheim brachten, benahm Dad sich über Wochen völlig verstört, so dass wir uns schon nach einem anderen Ort umsahen. Er blieb die halbe Nacht draußen, und kaum hatte das Personal ihn durch eine

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„An einem Ort wie diesem?“ Tür zurückgebracht, verschwand er durch eine andere. Er versuchte die anderen Bewohner_innen zu überreden, sich ihm anzuschließen. Er sprach immer davon, Dinge einzupacken und umzuräumen. Im Krankenhaus hatte er mal Schnee, mal Züge auf der Station gesehen, aber jetzt sah er Kisten und Regale, die ein‑ oder ausgeräumt werden mussten; Papier, das aufgesammelt werden sollte, und „Dinge“, die in andere Dinge geräumt werden sollten. Er begann, Möbel und Fernseher im Aufenthaltsraum umzuräumen, einmal schlug ihn ein anderer Bewohner deswegen. Ich fragte mich, ob dies mit dem Gedanken zu tun hatte, seine Sachen zu packen und wieder nach Hause zu gehen. Wenn ich das Zimmer kurz verließ und dann zurückkam, hatte er meinen Mantel schon angezogen, um zu gehen. Dad hat nie aufgehört, nach Hause zu wollen. Meine Pläne, ihn bei meinen Besuchen mit nach draußen zu nehmen, waren Wunschträume: Ich hätte ihn zu sehr gequält mit der Vorstellung, ich brächte ihn nach Hause. Das hoffte er jedes Mal. Unter Tränen sagte er mir, wie sehr er mich liebte und wie dankbar er mir sei. Das Gespräch kam immer wieder darauf, und ich konnte ihn nicht immer ablenken oder beruhigen. „Lass uns nach Hause gehen.“ – „Das geht nicht, Dad.“ – „Warum nicht?“ – „Es geht dir nicht gut genug dafür.“ – „Lass uns nach Hause gehen.“ Manchmal fluchte er und schrie mich an, dass es ihm egal sei, was ich täte: Er würde jetzt sofort gehen; er verließ das Zimmer, kam zurück, nahm meine Hand und weinte: „Ich flehe dich an.“ Und dann wurde er wieder wütend, schrie, ging, kam zurück, und alles begann wieder von vorne. Er war damit nicht allein. Wie einer der Pfleger sagte: „Alle wollen nach Hause.“ Zu Beginn, als Dad am dringendsten nach Hause wollte, lief er mit einer Frau namens Mary herum und sie suchten nach einem Ausgang. Ich fand sie an der Tür herumstehend und sah Mary unter wildem Protest zusammenbrechen, wenn das Personal sie aufhielt. Am Ende eines meiner Besuche dachte ich im Hinausgehen, dass die Tür sich vielleicht nicht ganz geschlossen haben könnte. Ich ging also nur ein kleines Stück, für den Fall, dass Mary mir folgen würde. Das tat sie, und ich legte meine Arme um sie und rief nach dem Personal. Sie schlug mich und schrie: „Du mieses Schwein!“ Dads Bündnis mit Mary war rein taktisch. Sobald ich kam, ignorierte er sie. Eines Nachmittags begann er wie üblich zu weinen, als ich mich zu ihm setzte, und sagte, er fühle sich beklommen. Mary schob sich an ihm vorbei und ich hörte, wie sie verächtlich zu einem anderen Bewohner sagte: „Dieser Typ da, der heult immer.“ Ich starrte sie an und schämte mich dann. Je mehr Zeit ich im Heim verbrachte, desto stärker spürte ich den Mangel an Empathie zwischen den Bewohner_innen. Ich fand das verstörend; aber – wer möchte schon das eigene Leid in der „Verrücktheit“ der Anderen erkennen?

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Ann Varley Wenn die Ablehnung des Zuhauses auf die Kritik des ausschließenden Subjekts zurückgeht, dann können andere Theoretisierungen des Selbst uns vielleicht ermöglichen, auch über das Zuhause in einer Art und Weise nachzudenken, die nicht in der Binarität von Exklusion und Idealisierung gefangen bleibt. Benjamin (2002, S. 131) erinnert uns daran, dass Angst, Schmerz und Verlust zu Ausschlüssen führen, dass aber dieser Ausschluss auf eine Art immer eine Illusion ist, da das Ausgeschlossene ein internes Objekt ist. Diese paradoxe innere Alterität geht zusammen mit einem anderen Paradox: Nur Inklusion kann die Äußerlichkeit der Anderen bestehen lassen. Inklusion geschieht in dem Moment, in dem die Anderen ihre Negation überleben, aber was eingeschlossen wird, sind nicht die Anderen, sondern verworfene Teile des Selbst (vgl. Benjamin 2000, S. 301). Benjamin beschreibt daher die Beziehung des Selbst zum konkreten Anderen als dauerhaftes Spannungsverhältnis, als Fähigkeit, Ambivalenz auszuhalten, als Disidentifikation mit der Idee, dass eine Geschichte immer die ganze Geschichte sein könnte, als zerbrechlichen, unabgeschlossenen intersubjektiven Raum, der sich ausdehnt oder schrumpft, wenn Anerkennung und Assimilation oder Projektion sich abwechseln (vgl. Benjamin 2002, S. 105; 2000, S. 300). So kommen wir zu einer vielfältigeren Darstellung der Räume der Subjektivität, als es jene starre Geometrie des eingeschlossenen Selbst und des ausgeschlossenen Anderen ist, die die Kritik am Zuhause beeinflusst hat. Benjamins Verständnis von Subjektivität gelingt es, Ambiguitäten im Denken des Zuhauses einzuschließen und dieses sowohl als ausschließenden Raum wie als Raum der gegenseitigen Anerkennung zu begreifen (vgl. Benjamin 2002, S. 126f.). Anerkennung ist immer partiell und asymmetrisch (vgl. ebd., S. 127; Benjamin 2000, S. 301; Young 1997, S. 46). Die Anerkennung der Anderen erfordert die Akzeptanz ihrer Unabhängigkeit und Unberechenbarkeit, so dass wechselseitige Anerkennung immer ein verändertes Verständnis von Autonomie bedingt (vgl. Benjamin 1995, S. 22). Das Selbst zu behausen bedeutet also nicht zwangsläufig, das Andere zu vertreiben. Young (1997, S. 161) argumentiert, dass eine konstruktivere Antwort auf die entpolitisierenden und ausschließenden Aspekte des Zuhauses sein könnte, nicht die Werte des Häuslichen zurückzuweisen, sondern diese Werte für alle einzufordern.

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„An einem Ort wie diesem?“ An einem sonnigen Morgen im Januar, ich war vielleicht das vierte oder fünfte Mal zu Besuch im neuen „Zuhause“ meines Vater, hatte ich etwas Hoffnung geschöpft, dass es vielleicht doch alles nicht so schlimm wäre. Er freute sich, mich zu sehen. Aber dann überkamen ihn doch die Tränen: „Ich kann das nicht glauben, ich kann es einfach nicht glauben“ – „Was denn, mein Lieber?“ – „Ich hätte nie gedacht, dass ich an einem Ort wie diesem lande.“ In dem Essay „House and Home“ betont Young (1997, S. 159), dass das Zuhause im Sinne eines materiellen Ankers für das Gefühl der Handlungsfähigkeit durchaus eine im Wesentlichen positive Bedeutung besitzt. Diese Feststellung trifft auch die Forderung nach weniger ausgedünnten Darstellungen von Subjektivität. Unser Selbst ändert sich täglich, durch Interaktion mit anderen, also schreibt das Zuhause als Materialisierung von Identität diese Identität nicht fest, sondern verankert sie so im Physischen, dass eine Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart entsteht (ebd.). Das Zuhause materialisiert Identität auf zwei Weisen. Zum Ersten als Erweiterung des Körpers: Das Zuhause, die in ihm enthaltenen Objekte und deren Anordnung im Raum dienen als Speicher, in dem die Pfade der Gewohnheiten abgelegt werden (vgl. ebd., S. 150). Young bezieht sich auf Edward Caseys (1993, S. 117) Konzept der Gewohnheits-Erinnerungen („habit memories“), die durch langsame Sedimentierung geformt werden, die in der Wiederholung körperlicher Bewegungen aufgeführt werden und uns Orientierung geben. Sie ermöglichen es uns, unsere täglichen Aktivitäten auszuführen, ohne andauernd darüber nachzudenken. Zum Zweiten: Das Zuhause und die häuslichen Objekte tragen sedimentierte persönliche Bedeutung als Halterungen des eigenen Narrativs (vgl. Young 1997, S. 150). Sie können zu Museumsstücken oder Statussymbolen werden (vgl. ebd., S. 154), aber sie können auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Individuen und Gruppen verknüpfen. So ermöglichen sie uns, die Vergangenheit im Licht neuer Verbindungen und Verpflichtungen zu betrachten und unsere Geschichten mit dem Blick in die Zukunft neu zu schreiben. Wenn wir uns nicht in Dingen verankern, dann verlieren wir uns, schlussfolgert Young (vgl. ebd., S. 151). Bei einem meiner letzten Besuche vor seinem Zusammenbruch im Sommer 2004 fragte ich meinen Vater am späten Nachmittag, ob er etwas essen gehen wollte. Wir machten uns auf zu einem Lokal, das wir beide mochten, aber es wurde

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Ann Varley schwierig. Er war nie besonders geduldig gewesen, er ärgerte sich über den Stau im Berufsverkehr. Ständig fragte er, ob wir wohl genug Benzin hätten. Und immer wieder sah er auf die Uhr. Wir verließen die Autobahn und irgendwie verpasste ich die Abzweigung auf die Straße, die ich eigentlich nehmen wollte. Ich traute mich nicht, auf die Karte zu schauen, weil das die Angespanntheit meines Vaters nur verschlimmert hätte, aber dennoch begann er nun zu sagen, dass er wieder nach Hause wollte. Ich protestierte, dass wir ja noch gar nichts gegessen hätten. Aber er ließ nicht locker. Ich sah ihn kurz von der Seite an, mit einer Mischung aus Wut und Scham, er starrte nach vorn, Schiebermütze und Kinn nach vorn gereckt, aschfahles Gesicht, sein Mund ein umgedrehtes U. Darin fand ich die Zusammenfassung dessen, was ich an dieser Situation hasste. Dads Worte waren mir Gesetz gewesen, als ich ein Kind war. Mir fiel natürlich die Veränderung der Machtverhältnisse auf, jetzt wo ich das Auto fuhr und mir erlauben konnte, das zu genießen, indem ich zum Beispiel eine etwas andere Route fuhr. Aber jetzt steckten wir in einem Interessenskonflikt fest. Das Ausgehen zum Essen war eigentlich mein Weg, mit der Situation zurechtzukommen: Wir hatten etwas zu tun, statt nur zu Hause zu sitzen, wo ich seinem Verfall zusehen konnte. Im Auto war es viel besser, jedenfalls wenn er nicht so angespannt war. Dann kommentierte er einfach, was er im Vorüberfahren sah, und ich musste darauf gar nicht unbedingt antworten, wenn mir nicht danach war. Ich konnte ihn nicht davon abbringen, unbedingt zurückzuwollen. Ich war aufgebracht. Es ging nicht darum, dass er mir sagte, was zu tun war. Ich musste meine eigenen Bedürfnisse und Wünsche zurückstellen, um seine zu erfüllen. Seine Angst war nicht rational, aber seine Bedürfnisse waren viel dringlicher als meine. Dennoch nahm ich sie ihm übel. Die Zerstörung, die die Demenz anrichtet, wird auch als „Verlust des Selbst“ beschrieben.8 Als Reaktion auf solche Stereotype haben medizinische Expert_innen, Psycholog_innen und Philosoph_innen in den letzten Jahrzehnten begonnen, zu der Frage von Demenz und Selbst zu arbeiten. Demenz kann nicht nur als neurologische Krankheit, sondern auch als sozialpsychologischer Effekt erklärt werden. Die Aspekte des Selbst, die am leichtesten verloren gehen, sind die personae, die wir gesellschaftlich darstellen, wie

8 Wie ein Mann mit Demenz es selbst beschrieben hat: Alle paar Monate spüre ich, dass ein weiterer Teil von mir verloren geht. Mein Leben und mein Selbst zerfallen (vgl. Cohen/Eisdorfer 1986, S. 22).

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„An einem Ort wie diesem?“ eine berufliche Identität. Diese gehen vor allem deswegen verloren, weil andere sie nicht mehr sehen (vgl. Sabat/Harré 1992). Ein Verhalten, das den Wunsch ausdrückt, an diesen öffentlichen personae festzuhalten, kann fehlinterpretiert werden – als Konsequenz der neurologischen Krankheit.9 Jemanden als Demenzpatient_in zu klassifizieren, wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung für den Verlust des Selbst (vgl. Sabat 2001). Ein (wenn auch unbeabsichtigt) unheilvoller sozialpsychologischer Effekt entsteht aus der Wahrnehmung, die strikt trennt zwischen „denen“, den Beschädigten, den entgleisten, defizitären Demenzpatient_innen, und „uns“ (vgl. Kitwood/ Bredin 1992, S. 271). Kitwood (1990) zeigt auch, dass die Angst der Sorgenden vor ihrer eigenen Zukunft dieses othering noch fördert. Manche Aspekte der Person bleiben auch in späteren Stadien der Demenz gut erhalten: Das Bemühen um Selbstachtung und um Kontakt mit Anderen zum Beispiel. Auch persönliche Eigenschaften können bestehen bleiben (ich habe meinen Vater gleichzeitig als den Alten und doch nicht den Alten erlebt). Dennoch sehen die meisten Autor_innen es als erwiesen an, dass die neurologische Erkrankung früher oder später die Existenz des Selbst an wesentlichen Punkten bedroht. Dazu gehört auch der Verlust der Möglichkeit, die Geschichten des Selbst zu erzählen, aufgrund der Unfähigkeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch zusammenzuhalten, den Überblick zu behalten (vgl. Luntley 2006, S. 105; Radden/Fordyce 2006). Außenstehende können die Identität einer Person, die an Demenz leidet, weitertragen, wenn sie eine kollektive Autorschaft für die Erzählungen des Selbst übernehmen (vgl. Radden/Fordyce 2006, S. 80). So beispielsweise in dem Fall, in dem zwei Schwestern ihrem Vater bei der Entscheidung halfen, was beim Umzug ins Pflegeheim mit dem alten Sofa passieren sollte: Das Sofa war mindestens 30 Jahre alt und ein Erinnerungsstück an glückliche Zeiten mit der Familie. Sogar der kaputte Bezug, den sein Hund zerkratzt hatte, erinnerte den alten Mann an die Nickerchen, die er vor Kurzem noch mit dem Tier auf dem Sofa gehalten hatte (vgl. ebd., S. 83). Jetzt war es so zerstört, dass es Besucher_innen eher abgeschreckt hätte. Während ihr Vater nicht mehr in der Lage war, die Vor‑ und Nachteile zu bedenken, die der Umzug des alten oder der Kauf eines neuen Sofas haben

9 Ein_e pensionierte_r_ Akademiker_in ging beispielsweise lieber spazieren, als an den Aktivitäten in der Tagespflege teilzunehmen, riskierte dadurch aber, als ziellos herumwandernd gesehen zu werden, wie es Demenzpatient_innen häufig unterstellt wird (vgl. Sabat/Harré 1992).

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Ann Varley würde, konnten seine beiden Töchter dies für ihn tun und alle Bedeutungsstränge für ihn zusammenhalten und sie ihm immer wieder anbieten, wenn sie danach gefragt wurden. So konnten sie ihm helfen, eine Lösung für sein Dilemma zu erarbeiten (vgl. ebd.). Es gibt in dieser Art der Hilfe immer eine Möglichkeit des ungewollten Missbrauchs, weil es keine festen Standards geben kann, um die Interpretation der Bedürfnisse durch die pflegenden Personen zu beurteilen (vgl. Thornton 2006, S. 140). Die Verhandlungsfähigkeit wird durch Demenz drastisch eingeschränkt (vgl. Radden/Fordyce 2006, S. 80). Daher wird es schwierig, sich die Beziehung zwischen pflegender Person und gepflegter Person als eine der Anerkennung im Sinne Benjamins (2002) vorzustellen. Die Anforderungen an die Pflegenden, wie sie von Kitwood (1997, S. 119) beschrieben werden, ähneln eher dem, was Benjamin als Eingestimmtheit („attunement“) bezeichnet (1995, S. 23). Nichtsdestotrotz findet sich in der personenzentrierten Demenzpflege auch die Erkenntnis wieder, dass das Selbstsein intersubjektiv und relational bestimmt ist (vgl. Kitwood/ Bredin 1992; Kitwood 1993). So erfordert die kollektive Autorschaft der Geschichten des Selbst eine Form der Anerkennung (vgl. Radden/Fordyce 2006). Auch hängt die Möglichkeit, sich auf den geistigen Zustand der Partner_innen einzustimmen, ohne sich davon überwältigen zu lassen (vgl. Sayers 1994, S. 133), davon ab, wie sehr die Beziehung vor dem Einsetzen der Demenz auf gegenseitiger Anerkennung beruhte. Das erklärt vielleicht, warum dies manchen Partner_innen leichter gelingt als anderen. Menschen mit höherer Resilienz, die ihre Partner_innen pflegen, können mehr Empathie zeigen und gleichzeitig mehr Distanz zwischen sich und ihrem Gegenüber aufrechterhalten. Das ist möglicherweise ein Moment des paradoxen Verhältnisses von Nähe und Trennung, das nach Benjamin den intersubjektiven Raum der Anerkennung kennzeichnet. Trotz des Selbstverlustes (durch Demenz) ist es dann möglich, ein Subjekt zu bleiben, das Schmerz, Behagen und Unbehagen etc. erfährt und dadurch auch ein Objekt der moralischen Verantwortung bleibt (vgl. Luntley 2006, S. 120). Eine Art, dies auszudrücken und die Identität einer an Demenz erkrankten Person aufrechtzuerhalten, ist das Aufbewahren von materiellen Verbindungen in ihre Vergangenheit. Dazu zählt z. B. dafür zu sorgen, dass sie so lange wie möglich, und trotz gewisser Risiken, in ihrem eigenen Zuhause wohnen bleiben kann (vgl. Matthews 2006). Der Versuch zu verstehen, was Menschen mit Demenz ihr Zuhause bedeuten kann, unterstreicht, wie wichtig es ist, sowohl ausschließende Ide-

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„An einem Ort wie diesem?“ ale des Zuhauses in Frage zu stellen als auch, wie Iris Young (1997, S. 161) bemerkt, sich den konkreten lokalisierbaren Erfahrungen des Zuhauses und der existenziellen Bedrohung, die ein Verlust dieser Erfahrungen bedeutet, zu widmen. Mehrere Autor_innen haben angemerkt, dass es leichter ist, das Zuhause zu kritisieren, wenn man sich in der Position befindet, ein gesichertes Zuhause zu haben (Pratt 1999, S. 157; Ahmed 1999; Benhabib 1999). Nachdem ich gesehen habe, wie sein Zuhause meinem Vater geholfen hatte, das Narrativ seines Selbst aufrechtzuerhalten, und dass die Unmöglichkeit, wieder nach Hause zu kommen, ihm und anderen Bewohner_innen des Pflegeheims solches Elend bereitete, kann ich die Angriffe auf das dysfunktionale Zuhause nicht mehr ohne Unbehagen lesen. Wir sind mitnichten autonom in unserem Zuhause, aber es könnte eine Zeit im Leben kommen, in der wir uns verzweifelt danach sehnen, dass wir es wären. An diesem Abend gab ich schließlich auf. Ich fand eine Straße zurück nach Leeds, mit einem kleinen Umweg über die Hügel der Yorkshire Pennines. Dad schien sich zu entspannen, nachdem wir abgebogen waren, und als wir den Hügelkamm erreichten, schien die Abendsonne. Auf dem Weg ins nächste Tal sahen wir ein Schild zu einem Pub, in dem man essen konnte; wir bogen in eine enge Straße mit Steinmauern ab und fanden ein paar Häuser, eine Kirche und einen Fluss. Wir aßen und redeten, die Stimmung hatte sich komplett geändert. Die Nachbar_innen meines Vaters hatten mich gedrängt, ihn wegzugeben („put away“), und Freund_innen und Verwandte hatten das – in freundlicheren Worten – auch im Jahr davor schon vorgeschlagen. Sie sorgten sich, dass die andauernden Krisen Folgen für meine eigene Gesundheit und meine Ehe haben könnten. Also warum weigerte ich mich, Dad in ein Heim zu geben? Ich hatte oft überlegt, was in seinem Interesse wäre, aber wie sah es mit meinem aus? War alles nur eine Ausrede, um ihn nicht zu uns nach London zu holen? Letztlich habe ich entschieden, dass es egal ist, warum ich die Dinge so mache, wie ich sie mache. Und am Ende nahmen die Dinge ihren eigenen Lauf. Ich habe davon geträumt, im Lotto zu gewinnen, um die Dinge einfach ein bisschen besser für meinen Vater machen zu können, mir ein Haus mit ausreichend Platz auch für ihn zu kaufen und Pflege rund um die Uhr zu finanzieren. Ich wusste, dass das nicht passieren würde und dass es auch gar nicht viel helfen würde. Er wäre vielleicht froh gewesen, bei mir zu sein, jedenfalls so lange er mich noch erkannte. Aber das Einzige, was er wirklich wollte, war zurück nach Hause zu kommen, und das wäre so oder so nie passiert. Ich habe sein Haus verkauft. Ich hatte noch gehofft, es so weit in Schuss zu bringen, dass ich es

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Ann Varley

hätte vermieten können, aber das stellte sich als unmöglich heraus. Es einfach verfallen zu lassen, war auch sinnlos. Also nahm ich mir immer wieder einen Tag von der Arbeit frei, um es auszuräumen. Das Gefühl von Verlust und Verrat war überwältigend. Ich ließ seine zwei Gewächshäuser abreißen, die schon verfielen; trotzdem sagte er immer wieder, dass er dort den Morgen verbracht hätte – ich erinnerte mich auch an den klaren, feuchten Geruch der wachsenden Pflanzen. Seinen alten fotografischen Vergrößerer brachte ich zur Mülldeponie, ebenso all seine Bigband-Schallplatten. Wir nahmen Kisten voller Hausrat mit nach London, andere gingen in Wohltätigkeitsbasare. Ich fühlte mich schlecht dabei, die Dinge wegzugeben, die meinen Eltern viel bedeutet hatten (vielleicht ihre Hochzeitsgeschenke?). Ich fischte vertraute Dinge aus dem Schrott in der Garage und die Erinnerungen schmerzten mich: Zwei Vasen, die ich nie gemocht hatte und an die ich Jahre nicht gedacht hatte, aber die mir plötzlich einen Moment in Erinnerung riefen, an dem sie mit frischen Wicken aus dem Garten gefüllt gewesen waren. Meine Tante sagte, wie schrecklich es sei, auf diese Art „ein Zuhause zerstören“ zu müssen. Und Dad träumte immer noch davon zurückzukehren. Übersetzung: Marie Lottmann

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Abbildungsnachweise Die Abbildungen stammen aus dem Archiv der Autorin und erscheinen auf ihre Bitte hin ohne Bildunterschriften.

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Klaas Dierks und Michaela Schäuble Die letzten Tage des Sommers Ein E-Mail-Dialog

Das Video Die letzten Tage des Sommers verdankt seine Entstehung einer familiären Krisensituation, in der es zum Konflikt zwischen Mutter und Sohn kommt. Auslöser des Konflikts ist der anstehende Verkauf des Hauses, das im gemeinsamen Familienbesitz ist, in dem aber nur noch die Mutter wohnt, was aus Altersgründen nun unmöglich wird. Während die Mutter mit dem anstehenden Hausverkauf überfordert ist und diesen wider besseres Wissen teils bewusst, teils unbewusst herauszögert, verzweifelt der Sohn zunehmend an der Situation, die er, weil er nicht extra anreisen kann, in mehreren Telefongesprächen mit seiner Mutter zu klären versucht. Da noch andere Familienmitglieder als Miteigentümer*innen des Hauses betroffen sind, zeichnet der Sohn die Gespräche mit der Mutter zur Rückversicherung auf. Schnitt. Ein Jahr später, das Haus ist verkauft, die Wogen zwischen Mutter und Sohn längst geglättet, hört der Sohn zufällig wieder in die Kassette aus dem Anrufbeantworter hinein, auf der er die Gespräche mitgeschnitten hat, und ist erschrocken. Darf man so mit seiner geliebten Mutter umgehen? Es kommt zu einem erneuten, diesmal undokumentierten Telefonat zwischen beiden, in dem der Sohn seine Mutter um Verzeihung bittet, die die Mutter ihm schon längst gewährt hatte – und auch erneut gewährt. Trotzdem ist der Sohn noch immer mit der Situation beschäftigt.

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Die letzten Tage des Sommers Die Mutter schlägt ihrem Sohn – Filmstudent an einer Kunsthochschule – vor, darüber einen Film zu machen. Der Sohn greift die Idee auf und verwendet dafür vorhandenes Material: ein altes Foto von ihm und seiner Mutter und eins vom Haus, Videoaufnahmen, die kurz vor dem Umzug im Haus entstanden, und die Gesprächsaufzeichnungen auf der Kassette. Er montiert Fragmente zu einem Erinnerungsprotokoll eines schicksalhaften Moments. Über diesen Film haben der Regisseur Klaas Dierks und Michaela Schäuble, Professorin für Sozialanthropologie an der Universität Bern, ein Gespräch per E-Mail geführt.

Der Film Hallo Michaela, habe die noch offenen Fragen zu unserem Gespräch mit den Herausgeberinnen klären können. Ich freue mich sehr, dass Du zugestimmt hast, mit mir auf diesem Wege über mein Video Die letzten Tage des Sommers (DLTDS) (Klaas Dierks, D 2006) zu sprechen, auch wenn die gewählte Form etwas von einer Fernschach-Partie hat, mit mir in Hamburg und Dir in Bern. Ich bin deswegen so froh, dass ich Dich 2007 in Neubrandenburg kennenlernte, als Du mit drei Kolleginnen auf dem Filmfestival „Dokumentart“ in Neubrandenburg einen Film präsentiert hattest, in dem es um die Beziehungen zwischen euch und euren Müttern ging, während es in meinem Video um mich und meine Mutter geht. Das für mich Außergewöhnliche an unserer Begegnung war, dass Du Dich nicht nur als Filmemacherin für dieses Thema interessiertest, sondern das Phänomen des Familienfilms auch aus wissenschaftlicher Sicht untersuchtest. Das fand ich damals so interessant wie heute und daher freut es mich, dass Du Dir die Zeit nimmst, Dich nochmal mit meinem Video zu beschäftigen. Da das Video aus verschiedenen Gründen der Publikation nicht beigelegt werden kann, habe ich gedacht, dass es hilfreich wäre, zumindest ein paar Anhaltspunkte zur Entstehungsgeschichte und zur Struktur des Videos zu liefern, damit unser Dialog nachvollziehbar wird. Zudem werden einige Stills abgedruckt, die einige Momente des Videos wiedergeben.

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Klaas Dierks und Michaela Schäuble

Prolog

Entstanden ist das Video, wie Du weißt, 2006 als praktischer Teil der Diplomarbeit an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, betreut von Gerd Roscher. Allerdings war das auch mit ein Grund, warum ich mich lange schwergetan habe, überhaupt mal einen Film/ein Video an der HfbK anzugehen. Denn damals, mehr noch als heute, waren dort die ‚offene Form‘ und der Essayfilm Trumpf. So sehr ich diese filmische Form schätze, ich werde wohl nie einen Essayfilm zustande bringen, der diesen Namen auch verdient. Deswegen habe ich sehr lange an der HfbK nur fotografiert und mich nicht getraut, eine Bewegtbildkamera in die Hand zu nehmen. Erst eine gute Freundin in Berlin, der ich mich anvertraute, hat mir den Kopf zurechtgerückt, indem sie mich aufforderte, nicht anzufangen einen Essayfilm zu machen, sondern eben nur anzufangen einen Film zu machen, ohne mir (erstmal) Gedanken über die Form zu machen. So entstand ein erster Super-8-Film, unter drei Minuten kurz, in der Kamera geschnitten. Eine Beobachtung an den Hamburger Landungsbrücken, die überraschend erfolgreich auf Festivals lief. Immerhin haben die Fertigstellung und der moderate Erfolg mein Selbstbewusst-

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Die letzten Tage des Sommers sein so weit gestärkt, dass ich nun begann, mich von dem Gedanken zu emanzipieren, man wäre nur dann ein vollwertiger Filmemacher, wenn man sich der offenen Form bedient. Wie gesagt: Ich schätze gute Essayfilme und die offene Form sehr, ich kriege es nur nicht hin. Aber ab und zu habe ich trotzdem den Wunsch, etwas filmisch zu erzählen, und dann wähle ich die Form, die sich für das Projekt jeweils anbietet. Bisher waren dies eher klassische geschlossene Formen, orientiert am griechischen oder römischen Drama. So auch mein Diplomfilm, der mit etwa 13:30 Minuten mein bis dahin längstes Video war. Der Katalogtext zu meinem Video lautete damals: „Mit dem Verkauf des gemeinsamen Hauses droht der Verlust der liebgewonnenen Heimat. Ablösungsängste führen zum Streit zwischen Mutter und Sohn.“ Wie habe ich diese reale Situation dokumentarfilmisch aufbereitet? Das ganze Geschehen habe ich in einen Prolog und fünf Akte gegliedert. Was sieht und hört man: zuerst mal Schwarz. Darauf wird nach ein paar Sekunden der Filmtitel in Orange ein- und ausgeblendet. Man hört das „Kyrie Eleison – Herr, erbarme Dich!“ aus der h-Moll-Messe von Bach im Ausschnitt. Eine Litanei als Mischung aus Zwischenspiel und Chor, die sich in der Rückschau vielleicht als etwas zu pathetisch in ihrer ständigen Wiederholung zwischen den Akten erweist. Damals war es mir aber aus inhaltlichen Gründen wichtig. Heute würde mir das als Titel- und Abspann-Sequenz reichen. Es folgt ein Foto von mir und meiner Mutter in einer Umarmung auf einer Düne im Nordseeurlaub, über das ich die kurze Geschichte des Hauserwerbs als Lebenstraum meiner Eltern erzähle. Dabei adressiere ich das Publikum direkt. Auch davon, wie meine Mutter meine Schwester und mich im ersten eigenen Heim nach ihrer Arbeit mit klassischer Musik abends in den Schlaf spielte. Und vom Tod meines Vaters erzähle ich. In diesem Moment wird das Bild erneut schwarz. Mit dem Satz „So wurde ich Miteigentümer des Hauses“ wird eine Fotografie von dem Haus eingeblendet. Jetzt spreche ich darüber, wie viel mir meine Mutter und das Haus bedeuten. Danach wird das Bild wieder schwarz, der erste Akt wird durch ein Telefonklingeln eingeläutet. Im Folgenden entspinnt sich eine am Telefon geführte, manchmal hitzige, manchmal verzweifelt geführte Diskussion über den geplanten Hausverkauf zwischen mir und meiner Mutter. Während dieser Gespräche, Diskussionen, Auseinandersetzungen über vier Akte ist jedes Mal das Foto des Hauses zu sehen. Dann, nach einer kurzen Abblende, sieht man jeweils im 1., 2., 4. Akt in Form eines Anhangs an das Telefonat in

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Klaas Dierks und Michaela Schäuble

1. Akt   Die Nachbarschaft (00:04:38)

2. Akt   Umzugsgut (00:07:20)

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Die letzten Tage des Sommers Schwenks oder frontalen, starren Einstellungen Teile des halb ausgeräumten, menschenleeren Hauses, das man im Stile einer Führung von unten nach oben erkundet. Dabei erklingt jeweils die immer gleiche Stelle aus dem „Kyrie Eleison“ von Bach. Dann kurze Abblende ins Schwarz, die Einblendung der Nummer des jeweils folgenden Aktes und mit einer Aufblende die Rückkehr zum Foto des Hauses. Ausnahmen bilden nach etwa 8 Minuten der 3. Akt und nach ca. 12:15 Minuten der letzte, der 5. Akt. Im 3. Akt sieht man statt des Fotos des Hauses bewegte Videoaufnahmen meiner Mutter, wie sie an einem Regentag im Garten nach dem Rechten schaut. Unterlegt ist diese Einstellung mit einer Passage aus dem Impromptu von Schubert, op. 90, Nr. 3, auf die zuvor beim Dünenbild im Prolog Bezug genommen wurde. Die Szene ist von oben gefilmt, meine Mutter fühlt sich unbeobachtet. In einem Zwischenschnitt in Augenhöhe die Aufnahme der Lieblingsrose meiner Mutter, die sich im einsetzenden Donnergrollen leicht bewegt, während im Anschluss meine Mutter den Garten verlässt. Dann die gewohnte Litanei, mit weiteren Schwenks durch die Räumlichkeiten. Es folgt nach gewohntem Muster die Fortsetzung der telefonischen Auseinandersetzung im 4. Akt. Wieder ist das Standfoto des Hauses zu sehen, danach das ausgebaute Dachgeschoss in bekannter Manier. Der finale Akt beginnt mit einer Aufblende; man sieht das Haus von außen in nächtlichem Dunkel. Zwischen dem 4. und 5. Akt scheint in der vorfilmischen Realität deutlich Zeit verstrichen zu sein. Während die Telefonate bisher eher kontrovers geführt wurden, schlagen nun beide, Mutter und Sohn, versöhnliche Töne an. Das Haus ist nach wie vor nicht verkauft, die beiden Sprechenden aber mit sich im Reinen. Abblende in Ton und Bild, mit Beginn der Minute 13 setzt der Abspann ein, darunter die bereits bekannte Stelle aus dem Impromptu. So viel vielleicht erstmal zu Inhalt und Form des Videos. Auf beides können und werden wir, denke ich, im weiteren Verlauf eingehen. Dabei wäre es mir und den Herausgeberinnen recht, jenen Aspekt nur zu streifen, der, wenn ich ehrlich bin, am meisten bei seinen Vorführungen über die Jahre für Furore gesorgt hat. Nämlich die Art und Weise, wie meine Mutter und ich miteinander umgegangen sind. Vor allem: wie ich mit meiner Mutter umgegangen bin. Das Video ist auf eine Art ungeschminkt; ich benehme mich nach der Meinung vieler Zuschauer*innen unbedingt daneben. Andere sehen die Form der Auseinandersetzung als „in familiären Kreisen nicht unüblich“ an. Mir war es vor allem wichtig, meine damals 80-jährige Mutter nicht unangemessen darzustellen. Ich glaube, mir ist das gelungen.

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Klaas Dierks und Michaela Schäuble

3. Akt   Mein Zimmer (00:08:45)

3. Akt   Mutter (00:08:00)

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Die letzten Tage des Sommers Im Übrigen war es die Idee meiner Mutter, dieses Video überhaupt zu machen. Ich hatte damals unsere Gespräche mit dem Anrufbeantworter mitgeschnitten, um gegenüber einer anderen Eigentümerin nachweisen zu können, was wir in puncto Hausverkauf beredet hatten. Dass diese Gespräche dann eine gewisse Dynamik entwickeln würden, die eine solche Intensität hervorbrachten, war für mich nicht absehbar. Als ich ca. ein Jahr später durch Zufall die Bänder abhörte, war ich selbst erschrocken, wie ich mit meiner Mutter geredet hatte. Ich rief sie an (zwischen uns war ja schon lange alles wieder gut, siehe 5. Akt), aber ich brauchte doch nochmal mütterliche Absolution, die ich auch erhielt. Trotzdem beschäftigte mich der Vorgang so, dass meine Mutter endlich meinte, ich solle doch einen Film darüber machen. So entstand dieses Video, das von meiner Mutter (das war mir wichtig) in der vorliegenden Fassung das ‚OK‘ bekam. Worüber wir eventuell unter anderem reden könnten, wäre, wie ich versucht habe, dieser Betroffenheit, dieser Dynamik, diesem Thema eine Form zu geben. Ich bin aber für alle weiteren Anregungen deinerseits natürlich offen. Was denkst Du?

Betroffenheit als Form Lieber Klaas, obwohl ich mich mit Schach oder gar Fernschach überhaupt nicht auskenne, finde ich dieses Format des Dialogs spannend: So erfahre ich mehr über die Entstehungsgeschichte von Die letzten Tage des Sommers und kann mich mit Dir noch einmal ausführlicher über die Komposition und Machart des Films unterhalten. Gerne würde ich mich mit Dir auch noch eingehender über autobiografische Familienfilme allgemein austauschen, soweit dies das Format und der Umfang zulassen. Was mir an Die letzten Tage schon beim ersten Sehen gleich so gut gefallen hat, ist, dass durch die (vermeintlich) schlichte Machart des Filmes der Fokus der Zuschauer*innen in subtiler Weise auf den liebevollen Unterton der Gespräche und das Nichtgesagte gelenkt wird. Dieser Eindruck hat sich nach mehrmaligem Sehen nun noch verstärkt. Die Komposition – z. B. dass auf der Bildebene die aufgeheizten Gespräche mit Aufnahmen der leeren Zimmer des großen Hauses und statischen

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Klaas Dierks und Michaela Schäuble

4. Akt   Dachgeschoss (00:11:46)

4. Akt   Dachgeschoss (00:11:48)

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Die letzten Tage des Sommers fotografischen Außenaufnahmen kontrastiert werden – ist raffiniert einfach und im Effekt sehr überzeugend! Mich hat auch die Ehrlichkeit Deines Films beeindruckt, und dabei v. a., dass Du Dich selbst nicht schonst und die Passagen, in denen Du Deine Mutter anschnauzt, im Film belässt. Aber trotz der harten Worte, die hier gewechselt werden, ist die enge Bindung zwischen Dir und Deiner Mutter auch in den Passagen zu spüren, in denen Ihr Euch streitet oder ungeduldig miteinander seid. Es sind ja streckenweise sehr persönliche Gespräche zwischen Mutter und Sohn, die wir zu hören bekommen, und trotzdem ist der Wiedererkennungswert sehr hoch, da wohl fast jede*r jenseits der vierzig ähnlich verlaufende Gespräche ebenso wie die Erfahrung, angesichts ungeschickter, langsamer oder umständlicher werdender Eltern oder Elternteile die Geduld zu verlieren, kennt. Wir werden Zeug*innen eines Umkehrungsprozesses, bei dem sich die Kinder plötzlich in der Pflicht fühlen, die Verantwortung für die eigenen Eltern übernehmen zu müssen. Zu dem Frust und der Überforderung kommt auch noch der Schreck dazu, dass die Eltern alt werden, der bei vielen eher in Aggression als in Empathie umschlägt. Das Faszinierende an Deinem kurzen Film ist für mich daher zum einen, mit wie wenigen Mitteln er auskommt, um seine Geschichte zu erzählen: Zwei Fotos, zwei Musikstücke und Mitschnitte aus drei Telefonaten reichen Dir aus, um eine aussagekräftige, anrührende Darstellung einer Mutter-Sohn-Beziehung zu liefern – und das, obwohl im Film selbst nicht klar wird, ob die Mutter ursprünglich überhaupt von dem Projekt wusste, und sie nicht direkt vor der Kamera zu Wort kommt und dies zur Selbstdarstellung nutzen kann. Zum anderen finde ich so bemerkenswert, dass Dein Film keine, wie auch immer geartete, Abrechnung mit der Elterngeneration anstrebt. Die letzten Tage des Sommers hat mit unserem Omnibusfilm Mutterstücke (Sandra Kulbach, Michaela Schäuble, Nan Mellinger & Johanna Straub, D 2008) gemeinsam, dass es auch in unseren vier Episoden (in denen wir Mutter-Tochter-Beziehungen aus der jeweiligen Sicht der Töchter filmisch erzählen) nicht darum geht, eine bereits verstorbene Person oder eine (Lebens-)Geschichte zu rekonstruieren, sondern anhand einzelner, verdichtet erzählter Situationen Zustände beschrieben werden, die über den Moment hinaus gültig sind und eine Aussagekraft haben. Was mich interessieren würde, ist, warum Du glaubst, dass es nach wie vor so ein Interesse an Filmen (und auch Erzählungen) gibt, die Einblicke

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Klaas Dierks und Michaela Schäuble

4. Akt   Dachgeschoss (00:11:50)

in emotional aufgeladene und intime soziale Beziehungen gewähren – und das, obwohl es doch derzeit eigentlich eine mediale Überflutung mit persönlichen Aufzeichnungen und öffentlich einsehbaren privaten Bildern – zum Beispiel über Blogs, Facebook, Twitter, Instagram, Snapchat und andere Formate – gibt?

Der Blick ins Private Liebe Michaela! Zu Anfang muss ich gestehen, dass ich mich weder aktiv noch passiv an Blogs beteilige, noch auf irgendeiner der genannten Plattformen tätig bin. Ausnahmen bilden rein fachliche Foren zu Spezialthemen. Kann da also nicht wirklich mitreden. Warum Filme und Videos wie z. B. Die letzten Tage des Sommers immer noch ein Publikum haben, könnte verschiedene Gründe haben. Im Zentrum steht für mich wie bei jedem geglückten Versuch der Kommunikation die Verbindung zwischen Form und Inhalt. Die Kunst des Geschichtenerzählens ist nicht umsonst uralt und es wird sie immer geben. Die Art und Weise der Erzählung, die Inhalte, sie mögen sich bisweilen

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Die letzten Tage des Sommers verändern, aber grundsätzlich wird es einen Kanon an Formen und Inhalten geben, der die Zeiten überdauert. Dazu gehören Geschichten über zwischenmenschliche Beziehungen. Dieser Kern gemeinsamer Erfahrung, wie unterschiedlich sie auch je individuell ausgeprägt sein mag, ist die Grundlage eines Interesses an einer Geschichte, die erzählt/gehört bzw. gezeigt/gesehen werden will. Der Grund, warum sich einige der tausenden Geschichten zu diesen Themen unterscheiden, ist die persönliche Herangehensweise der Geschichtenerzähler*innen, wenn sie den Mut haben, die Geschichten nicht schablonenhaft, sondern persönlich zu erzählen. Hier eben meine Geschichte aus meiner Sicht in meinem Erfahrungshorizont mit meinen Mitteln, eine Geschichte, die sich nicht in allem, aber doch in diesen Aspekten von anderen Geschichten und ihren Erzählungen unterscheidet. Das Interessante ist eben das vermittelte Erleben einer Geschichte als Differenzerfahrung auf der Grundlage eines gemeinsamen Erlebniskerns, den das Publikum mit dem*r Geschichtenerzähler*in teilt. Das, was dem Publikum den Einstieg in die Geschichte ermöglicht, ist oft diese geteilte Erfahrung eines Erlebnisses, eines seelischen oder emotionalen Zustandes. Es ist eventuell auch das, was es immer wieder zum Film, zur Geschichte zurückbringt. Was die Zuschauer*innen aber aktiviert, ist die Differenz. Hier beginnt der für beide Seiten spannende Weg der Teilhabe. Wie weit lässt sich diese treiben, ohne dass das Interesse abbricht, bis wann ist diese Teilhabe produktiv? Ein Film, ein Video zu machen ist für mich so anstrengend, dass ich das Unterfangen nur beginne, wenn ich ein existentielles Mitteilungsbedürfnis empfinde. Deswegen gibt es von mir auch nur wenige, recht kurze Filme. Aber ich denke, man spürt das Existentielle daran. Die Inhalte drängen sich mir in der Regel auf. Ich arbeite immer sehr stark an der Form. Sie muss nicht nur dem Inhalt entsprechen, sondern vor allem mir. Denn der Erste, der für sich festlegt, ob der Inhalt der Form entspricht, bin ja erstmal ich. Ob diese Meinung dann mehr oder minder von anderen geteilt wird, erweist sich während der Vorführung. Kunst ist für mich nicht nur in Sachen Inhalt, sondern auch in Sachen Form persönlich. Außerdem lässt sich über die Form aus meiner Sicht eben nicht nur der Inhalt formen. Über die Wahl der Form kann man zudem dem Publikum in gewisser Weise, und sicher nicht für alle gleich, Vorschläge für das Maß und die Art der Teilhabe machen. Ich versuche den Begriff ‚steuern‘ zu vermeiden. Aber Kunst hat ja auch etwas mit Setzungen zu tun. Also warum nicht? Über die Wahl der Form kann man auch das Maß

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Klaas Dierks und Michaela Schäuble und die Art der Teilhabe versuchen zu steuern. Letztlich greift aber alles ineinander und man hat es schließlich nicht mehr in der Hand, wie das Video/die Geschichte aufgenommen wird. Paradebeispiel sind ja gerade die sehr kontrovers geführten Diskussionen um dieses kleine Video. Vorerst abschließend: Warum ich glaube, dass es trotz der neuen, stark genutzten Kommunikationskanäle nach wie vor so ein Interesse an Filmen (und auch Erzählungen) gibt, die Einblicke in emotional aufgeladene und intime soziale Beziehungen gewähren, liegt zum einen am nach wie vor vorhandenen Interesse an persönlich erzählten Geschichten über persönlich Erlebtes, als vermittelte Differenzerfahrung, um daraus zu lernen, um sich unterhalten zu fühlen, vielleicht aus Gründen der Katharsis. Zum anderen gibt es Interesse an der Teilhabe an anderer Leute Privatsphäre, ob aus den gleichen oder aus anderen Gründen. Private Dinge sollten meiner Meinung nach privat bleiben, solange es kein allgemeines Interesse, oder besser: verallgemeinerbares Interesse an bestimmten privaten Aspekten innerhalb eines Kreises von Protagonist*innen gibt. Aber wo da die Grenze ziehen, und mit welchen Mitteln soll dann das Private verallgemeinert werden? Ein Blick ins Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache (Kluge 1989) verrät uns, dass ‚privat‘ entlehnt ist von lat. privatus für [vom Staat] abgesondert, dem Partizip Perfekt Passiv von privare – berauben, von privus – eigentümlich, für sich bestehend. Dagegen leitet sich das Wort ‚Person‘ ab von lat. persona – Maske [des Schauspielers], Charakter, Rolle. Das persönlich Gesagte ist und bleibt also etwas hinter einer Maske Gesagtes, ist Text eines Charakters in einer Rolle. Der Sprecher in meinem Film begreift sich dementsprechend als in einer Rolle befindlich, die er innerhalb eines Gemeinwesens einnimmt, die aber individuell ausgefüllt wird. Das Private entzieht sich dem Gemeinwesen oft aus gutem Grund. Leider wird diese Trennung von vielen Zuschauer*innen auch von Die letzten Tage des Sommers so nicht nachvollzogen. Aus diesem Grund liefen die Diskussionen über das Video auch mitunter aneinander vorbei, zwischen denen, die gerne die persönlichen Aspekte besprochen hätten, und denen, die sich auf das vermeintlich Private versteiften. Gerne würde ich Deinen Wunsch aufgreifen, mich mit Dir „eingehender über autobiografische Familienfilme allgemein aus[zu]tauschen, soweit dies das Format und der Umfang zulassen“. Vielleicht können wir dabei Die letzten Tage des Sommers als Ausgangs- oder Bezugspunkt wählen und von dort aus versuchen, die Fragen und Antworten zu entwickeln.

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Die letzten Tage des Sommers

Der autobiografische Familienfilm Lieber Klaas, danke für Deine ausführliche Antwort und die Bereitschaft, Dich auf meine Frage nach dem öffentlich gemachten Privaten einzulassen. Du schneidest zwei Themen an, die für mich – sowohl als Sozialanthropologin, aber auch als Filmemacherin – von zentraler Bedeutung sind. Das ist zum einen das Geschichtenerzählen und zum anderen der Aspekt der Rolle, d. h. der Umstand, dass Du zwischen persönlich und privat unterscheidest und berücksichtigst, dass auch persönliche Stücke (seien sie geschrieben, gefilmt, getanzt etc.) immer einen Aufführungscharakter haben und damit performativ und meist eben sehr genau konzipiert sind (wie in Die letzten Tage des Sommers). Das Geschichtenerzählen ist das, was meine beiden Professionen vereint. Denn als Sozialanthropologin bin ich natürlich auch eine Geschichtenerzählerin – zuerst eine Sammlerin, manchmal vielleicht auch Übersetzerin, aber immer auch Autorin von Geschichten. Denn auch Wissenschaft sollte meiner Meinung nach auf Einfühlungsvermögen basieren und dadurch anregen oder unterhalten – immer gerne kritisch! –, dass Neues und im Idealfall Überraschendes und/oder Unerwartetes hervorgebracht wird. Ganz so, wie ein guter Film und generell gute Kunst. Vielleicht würden mir da viele meiner Kolleg*innen an der Uni auch widersprechen, aber ich halte nichts von einer Wissenschaft, die mich nicht auch bewegt und mich dazu auffordert, mich zu positionieren und mich selbst in einen öffentlich geführten Diskurs einzubringen. In den letzten Jahren ist in meinem Fach sehr viel dazu publiziert worden und eines meiner absoluten Lieblingsbücher ist The Politics of Storytelling: Violence, Transgression and Intersubjectivity von dem Sozialanthropologen Michael Jackson aus Harvard. Jackson bezieht sich in erster Linie auf Hannah Arendts Definition des Politischen als Machtverhältnis zwischen privaten und öffentlichen Bereichen, wobei Arendt das Geschichtenerzählen als Brücke zwischen diesen beiden Bereichen versteht; das Geschichtenerzählen wird also als ein Raum konstituiert, in dem individualisierte Empfindungen und geteilte Ansichten ausgehandelt und neu kombiniert werden können. Ich glaube, dass damit v. a. gemeint ist, dass Menschen überall auf der Welt und zu allen Zeiten anhand von Geschichten und Narrativen die Grenze zwischen

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Klaas Dierks und Michaela Schäuble ihrer privaten und der öffentlichen Welt kreativ verhandeln und z. T. auch umdeuten – und das in Form des Einander-Zuhörens, Einander-Zusehens und des wechselseitigen Austausches. Das ist gerade heute wieder aktueller denn je, wo an vielen Orten der Welt die Meinungs- und Pressefreiheit empfindlich eingeschränkt wird. Aber ich schweife ab … Wenn ich das Gesagte also auf autobiografische Familienfilme übertrage, dann interessiert mich daran ebenfalls diese Brückenfunktion, also der Moment, wo das Persönliche erzählt und öffentlich gemacht und damit in gewisser Weise auch politisch wird. Bei Familienfilmen im deutschsprachigen Raum sind das ja dann sehr oft Erzählungen, anhand derer die Verstrickungen eines Familienmitgliedes im Nationalsozialismus oder bei der Stasi aufgedeckt werden. Ich denke zum Beispiel an den Film 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß von Malte Ludin (D 2005), in dem der Filmemacher schonungslos mit seinem verstorbenen Vater, einem Nazifunktionär, ins Gericht geht. Aus der Position des moralisch Überlegenen heraus klagt der Filmemacher Familienmitglieder an, die die Schuld des Vaters nicht uneingeschränkt eingestehen wollen, und konfrontiert sie mit einem Phantom, das er selbst, anders als seine Geschwister, nie kennen gelernt hat. Der Film gestaltet sich als eine schmerzliche filmische Suche nach dem Vater und ein familiäres Aufklärungsprojekt, anhand dessen die Rolle der Kamera als Recherche-Instrument illustriert werden kann, das keine Distanz und keine Gnade kennt. Ein anderes Thema in vielen autobiografischen Familienfilmen ist z. B. der Selbstmord eines Elternteils oder Familienmitglieds. In solchen Filmen – Beispiele sind Dempsey Rices Film Daughter of Suicide (USA 2000), Aftermath: The Legacy of Suicide (Lisa Fitzgibbons, CAN 2001) oder der Film 32 Pills: My Sister’s Suicide (USA 2017) von Hope Litoff, in dem die Filmemacherin den Selbstmord ihrer älteren Schwester thematisiert – geht es häufig um Rekonstruktionen, die zum sukzessiven Verstehen-Wollen und auch dem Verarbeiten eines solch traumatischen Schicksalsschlags durch die Betroffenen beitragen sollen. Ein weiteres Beispiel dafür wäre der Film Danach hätte es schön sein müssen (D 2000) von Karin Jurschick, ein filmisches Porträt des 91-jährigen Vaters der Filmemacherin, in dessen Mittelpunkt der Selbstmord der Mutter vor über 20 Jahren steht. In Form einer Montage aus Videoaufnahmen, Gesprächen mit dem Vater sowie Archivmaterialien aus dem nationalsozialistischen Deutschland und den westdeutschen 1950er und 60er Jahren entwickelt Jurschick eine ganz ei-

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Die letzten Tage des Sommers gene Ästhetik und setzt sich subtil mit der eigenen Familiengeschichte als einem Teil der Nachkriegsgeschichte der BRD auseinander. Generell bleibt festzuhalten, dass autobiografische Familienfilme meist als Spurensuche inszeniert sind; also es gibt eine Art Geheimnis, eine Tragödie oder eine verschwiegene/verdrängte Begebenheit, die es zu lüften oder zumindest zu ergründen gilt. Die Machart ist sehr häufig so, dass Archivmaterialien nach und nach eingefügt werden wie Puzzleteile, die dann ein Gesamtbild komplettieren. Diese ‚Puzzleteile‘ sind bei persönlichen Familienfilmen dann auch oft Tagebücher, Briefe, Familienfotos oder alte Super-8-Filmaufnahmen, Artefakte, Zeitungsausschnitte etc. etc. Auf die Spitze treibt dieses Muster dann der Film Stories We Tell (CAN 2012) von Sarah Polley, in dem so viele Stimmen zu Wort kommen und Geheimnisse gelüftet werden, dass Fakt und Fiktion komplett verschwimmen. Auch Du arbeitest ja ein bisschen mit diesen Mitteln, Archivbilder mit aktuellen Tonmitschnitten zu kombinieren und nach und nach mehr Informationen frei zu geben – aber eben extrem reduziert. Dass es bei Die letzten Tage des Sommers eben nicht darum geht, ein Geheimnis zu lüften oder eine dramatische Situation zu verarbeiten, ist, wie ich finde, ein Alleinstellungsmerkmal im ‚Genre‘ der autobiografischen Familienfilme, wenn man das überhaupt als Genre bezeichnen will. Du nimmst zwar ein einschneidendes, aber letztlich dann doch eher ‚alltägliches‘ Ereignis wie den Hausverkauf zum Erzählanlass, und ich glaube, dass sich wirklich viele Zuschauer*innen mit dieser Lebenssituation identifizieren können. Mit Deiner Rolle hadern sie dann aber – oft vielleicht auch aus falsch verstandenen moralischen Beweggründen. Oder weil es einfacher ist, andere zu beurteilen, als sich radikal selbst zu befragen, wie sie in einer vergleichbaren Situation gehandelt hätten. Ich persönlich jedenfalls bin froh, dass ich diese anderen o.g. Filme erst gesehen und mich systematischer damit beschäftigt habe, nachdem wir unseren Film Mutterstücke beendet hatten. Manchmal ist es doch schwieriger, die eigene Stimme zu hören und auch ernst zu nehmen, wenn man sehr viele andere gute Filme zu einem Thema kennt. Das kann einschüchternd wirken. Gleichzeitig finde ich aber auch eine Haltung naiv, die Augen davor zu verschließen, was es bereits gibt und was gut funktioniert … Was meinst Du dazu? Wie abstrahierst Du in Deinem künstlerischen Vorgehen von anderen Arbeiten und machst Dich frei davon? Oder lässt Du Dich einfach inspirieren und hast nicht das Bedürfnis, Dich dann davon wieder zu lösen? Das würde mich sehr interessieren.

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Klaas Dierks und Michaela Schäuble

Film und Verstehen Liebe Michaela! Zuallererst lass mich Dir vollumfänglich zustimmen in Bezug auf das, was Du zu Deinem Wissenschaftsverständnis geschrieben hast. Da bin ich ganz bei Dir. So wie Filme immer (auch) politisch sind, ist Wissenschaft immer (auch) interessengeleitet. Das sollte man als wissenschaftlich tätige Person nicht versuchen zu negieren oder zu verschleiern, sondern die eigenen Interessen am Thema im Rahmen der eigenen Herangehensweise transparent machen. Ich habe diejenigen immer bewundert, die Wissenschaft (oder Kunst) aus einer inneren Notwendigkeit heraus mit Engagement und von einem eigenen deutlich gekennzeichneten Standpunkt heraus betrieben haben oder betreiben. Da ich ja vor meinem Kunststudium ein wissenschaftliches Studium absolviert habe (Blindenpädagogik, Körperbehindertenpädagogik, Anglistik), fühlte ich mich erst etwas fremd in der Welt der Kunststudierenden. Denn obwohl etwa auch Waltraut Rath, Professorin für Blindenund Sehbehindertenpädagogik an der Universität Hamburg, genau so ein Typus von engagierter Hochschullehrerin mit eigenem Standpunkt und auch ungeheurer Empathiefähigkeit gewesen ist, unterschieden sich die Methoden der Erkenntnisgewinnung doch erheblich, und auch die Studierenden an der HfbK in Hamburg waren anders als die am Institut für Behindertenpädagogik. Anfangs war ich von all dem so beeindruckt und entmutigt, dass ich lange nicht praktisch arbeiten konnte. Dann kam ich auf den (unbewussten) Trick, mir meine Fotokamera zu schnappen und den Alltag an der Kunsthochschule zu dokumentieren. So war ich überall dabei, wurde sogar später offizieller Hochschulfotograf und hatte doch die Kamera nicht nur als ‚Rekorder‘, sondern auch als Distanzmittel zwischen mir und der Welt der HfbK. Teil, aber eben auch nicht Teil des Ganzen. Ein Verfahren der vorsichtigen Annäherung. Wie oben erwähnt war die HfbK damals im Bereich dokumentarischer Film stark orientiert an offenen, essayistischen Formen und teilweise der visuellen Anthropologie. Wir sahen und sprachen über Filme z. B. von Dsiga Wertow, Ella Bergmann-Michel, Hans Richter, Maya Deren. Natürlich Chris Marker, Harun Farocki, aber auch Peter Nestler, Agnès Varda, Hito Steyerl. Alles vorbildliche Filme(macher*innen) und sehr beeindruckend. Ich halte Essayfilme und andere (Experimental)Filme, die

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Die letzten Tage des Sommers sich formal offen präsentieren, aus guten Gründen für einen sehr interessanten Weg sich und anderen die Welt zu erklären, sich Welt anzueignen. In der eigenen Lehre zeige ich beispielhafte Essayfilme und freue mich, wenn meine Studierenden sich davon inspirieren lassen. Aber ich weise immer darauf hin, dass das nicht der allein seligmachende Weg ist, sich auszudrücken. Aber für mich sind weder der Film/das Video noch die Gattung des Essayistischen alleinige Ausdrucksformen. Manche Sachverhalte lassen sich eher in einem wissenschaftlichen Aufsatz formulieren, andere in oder durch Fotos, wieder andere performativ. Bei Die letzten Tage des Sommers ging es mir zum einen darum, das Verhältnis zwischen mir und meiner Mutter anlässlich dieser spezifischen Krisensituation zu reflektieren, andererseits darum, zu zeigen, was es bedeutet ‚heimatlos‘ zu werden. Einen Ort aufzugeben, der zur Inkarnation eines Lebensziels erklärt wurde (die eigene Immobilie). Wie geht man damit filmisch um? Ich wollte das Thema nicht in Form einer mehr oder minder abstrakten Problematisierung eines zu verallgemeinernden Sachverhaltes (familiäre Beziehungen, Lebensträume), also in Form eines Videoessays angehen, sondern eine konkrete, mich sehr berührende familiäre Situation in seiner chronologischen Abfolge so darstellen, dass es das Publikum zur Teilhabe und zum Nachdenken anregt. Dabei ging es mir nicht darum Komplexität herzustellen, sondern zu reduzieren, nach Möglichkeit durch die Wahl adäquater ästhetischer Mittel. Da ich als Grundlage des Videos den Tonmitschnitt unserer telefonisch geführten Diskussion gewählt hatte, die emotional aufgeladen geführt wird und aus technischen Gründen akustisch nicht optimal zu verstehen ist, war es mir wichtig, die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen nicht noch zusätzlich durch eine komplexe Bildgestaltung in Anspruch zu nehmen und so eventuell eine Überforderung (und damit den mentalen Ausstieg aus dem Video) herbeizuführen. Auch deswegen gibt es die stehenden Bilder (Fotos) und die Pausen zwischen den Akten. Das Foto vom Haus in seiner ganzen objektiven Durchschnittlichkeit sollte fast penetrant aufdringlich den Zuschauer*innen vor Augen geführt werden. Ist dieses Haus das wirklich alles wert? Ist das tatsächlich ein Traumhaus? Ja, für meine Eltern schon. Die Szenen, in denen den Zuschauer*innen das Haus vom Erd- bis zum Dachgeschoss sukzessive vorgestellt wird, zeigen die Aufnahmen, die ich in Anlehnung an Immobilienanzeigen im Internet in einer Kombination aus Schwenks und Standbildern realisierte. Ein durchschnittliches, etwas in

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Klaas Dierks und Michaela Schäuble die Jahre gekommenes Haus im Zustand des Übergangs. Nicht mehr völlig eingerichtet, aber auch noch nicht völlig leer. Es verweist auf die Situation der Protagonist*innen, die sich ebenfalls in einer ‚Zwischenzeit‘ befinden, das Haus noch nicht verkauft, der Verkauf aber beschlossen und die Rituale des Abschieds fast alle vollzogen (daher der Teil mit der Aufnahme meiner Mutter im Garten, der sie bei der routinemäßigen ‚Inspektion‘ ihres Betätigungsfeldes zeigt. Der Garten, zu dem sie eine besondere Beziehung hatte, die Lieblingsrose). Relativ am Anfang und zwischendurch sieht man das Haus von außen und im Tageslicht. Im letzten Akt präsentiert sich die Immobilie in dunkler Nacht, auf dem Weg in den nächsten Tag, während am Telefon Versöhnungsgespräche zu hören sind. Das Haus ist zur Zeit des Videodrehs noch nicht verkauft …, wird es aber bald sein.

Lieber Klaas, was ist denn die Situation heute, wenn ich fragen darf? Das ändert zwar nichts an dem Film und seiner Daseinsberechtigung, aber ich finde schon, dass Filme Fragen aufwerfen dürfen, die über die reine Filmhandlung hinausweisen. Meiner Meinung nach ist es sogar genau das Charakteristische von (auto‑)biografischen Familienfilmen, dass die Erinnerungs-, Erkenntnis- und Verstehensprozesse, die durch sie in Gang gesetzt werden, niemals abgeschlossen sind, sondern über die filmische Realität hinaus weiterwirken. Was Du über Deinen Filmhochschul-Alltag schreibst, ist für mich sehr spannend. Interessanterweise habe ich ebenfalls bei Fritz Kramer studiert, als er in Tübingen meinen ‚Doktorvater‘ Prof. Dr. Thomas Hauschild vertreten hat. Ich fand das sehr inspirierend damals und schätze die Arbeiten von Ethnolog*innen aus dieser Generation sehr, die die Nähe zur Kunst nicht gescheut haben, sondern im Gegenteil gesucht und die Schnittstelle zwischen Ethnologie und Kunst sehr erfolgreich neu ausgelotet haben. Dazu zähle ich v. a. auch Michael Oppitz (im Kolumba Museum in Köln gibt es dazu gerade eine sehr gelungene Ausstellung mit dem Titel „Bewegliche Mythen“, die neben den Filmarbeiten von Oppitz eben gerade auch seine Zusammenarbeit mit Künstler*innen und Schriftsteller*innen, z. B. mit Lothar Baumgarten, Joseph Beuys, Marcel Broodthaers, Candida Höfer und Sigmar Polke, beleuchtet). Und ich zähle natürlich auch Heike Behrend und Barbara Keifenheim dazu, die, wenn auch vielleicht eine

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Die letzten Tage des Sommers andere, jüngere Generation, die Grundlagen der Medienanthropologie, wie sie jetzt im deutschsprachigen Raum etabliert ist, geschaffen haben. Wenn ich hier zu einer Art Fazit kommen soll, würde ich behaupten, dass der Komplex oder das Genre der (auto‑)biografischen Familienfilme – definiert als Filme, die private Lebens- und Gefühlswelten in dichten sozialen und kulturellen Kontexten anhand medialer Praktiken untersuchen – auch viele Anknüpfungspunkte für medienethnografisch relevante Forschungsfragen bietet. Wie kaum ein anderer Untersuchungsgegenstand geben Interaktionen, Kommunikationsstrukturen und die diversen Problemkonstellationen innerhalb von Familien nicht nur Aufschluss über persönliche Weltanschauungen und Befindlichkeiten Einzelner, sondern lassen auch Rückschlüsse auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen zu. Dabei finde ich es ganz wichtig, zu betonen, dass es nicht um das Aufdecken von ‚Wahrheiten‘ geht, sondern in erster Linie um ein Verstehen oder ein sich im Prozess befindliches persönliches Erleben. Diese spezifische Form des Verstehens anhand des Erzählens über (die eigene) Familie bleibt nicht nur auf das Individuell-Biografische beschränkt, sondern verbindet private Geschichte mit öffentlichen Ereignissen. Das Schöne und Wertvolle daran ist, dass so auch die Realitäten, Erinnerungen und Weltanschauungen von Menschen sicht- und hörbar gemacht werden, denen gewöhnlich bei der Geschichtsschreibung keine zentrale Rolle zukommt.

Liebe Michaela, ich danke Dir, dass Du Dir neben Deinen anderen Verpflichtungen für diese Korrespondenz so viel Zeit genommen hast! Das freut mich sehr. Ich habe noch weiteres Material aus der Familie, von meiner Mutter auf Super-8 und von mir viel später auf Mini-DV gedreht, und überlege, fünf Jahre nach dem Tod meiner Mutter, eventuell ein kleines Video daraus zu machen. Wenn man so will ein Video aus Found-Footage-Material. Mal sehen …

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Klaas Dierks und Michaela Schäuble Abbildungsnachweise Alle Abbildungen: Stills in chronologischer Reihenfolge aus dem Film: Die letzten Tage des Sommers (Klaas Dierks, D 2006) © Klaas Dierks

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Michalis Valaouris Überwachen und Sticken, um 1670

Vier barocke Stickbücher.1  In einem kleinen Stickbuch aus dem 17. Jahrhundert, das von einer Frau namens Rosina Helena Fürst (1642–1709) verfasst wurde und im Verlag ihres Vaters, Paul Fürst (1608–1666) (vgl. Fischer 2010, S. 25f.), in Nürnberg erschien, sind die meisten Blätter mit Stickvorlagen radiert, die dekorativen Stickarbeiten dienten – für Frauen höheren Ranges sicherlich, die sich ein solches Buch sowie die Tätigkeit des Stickens im häuslichen Milieu leisten konnten. Die Vorlagen im Model-Buch (wie der Titel dieses und gleichartiger Bücher lautete) zeigen Blumen-, Tier- und Wappenmotive in geometrisch reduzierten Formen. Wegen der Rasterung, die die Stickarbeit fordert, sind die meisten Motive streng und eine naturalistische Komposition zeichnet nur wenige Fälle aus. Auf einem Blatt etwa sind frei platzierte Vögel, eine Schnecke und ein Insekt zu sehen, die vermutlich beim Sticken beliebig kombiniert werden konnten. Einige wenige Vorlagen sind anspruchsvoll und stellen religiöse Szenen wie die Kreuzigung Christi dar (Abb. 1, 2).2 Dieses Stickbuch steht nicht allein, sondern bildet den dritten von insgesamt vier Bänden. Exemplare aller vier Bände werden in der Kunst-

1 Dieser Aufsatz beruht auf der Fortsetzung der Forschungsarbeit, die mit der von mir für die Kunstbibliothek Berlin kuratierten Ausstellung begonnen hat, vgl. Valaouris 2017. Eine erste Teilstudie der hier untersuchten Stickbücher lieferte mein Vortrag Die Frau, die nie allein war. Überwachen und Sticken im 17. Jahrhundert im Symposium „Überwachende Blicke – zwischen Politik, Religion und Technik“, Museum für Fotografie, Berlin, 23.2.2017. Die Stickvorlagen, Wappen etc. werden ausführlich bei Fischer 2010 be2 sprochen, vgl. auch Lotz 1933, S. 110f.

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Überwachen und Sticken, um 1670

1  Rosina Helena Fürst (Stecherin), Modell für Stickerei mit ruhendem Hirsch und Blumenmotiven, Kupferstich, in: Rosina Helena Fürst: Model-Buchs/Dritter Theil […], Platte: 13 × 17 cm, Nürnberg 1676

2  Rosina Helena Fürst (Stecherin), Modell für Stickerei mit frei platzierten Tieren, Kupferstich, in: Rosina Helena Fürst: Model-Buchs/Dritter Theil […], Platte: 13 × 17 cm, Nürnberg 1676

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Michalis Valaouris bibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin aufbewahrt (Fürst, P. 1689; Fürst, R. 1666; Fürst, R. 1676; Fürst, R. o. J.).3 Der erste Band wurde von Paul Fürst selbst verfasst und radiert und wird auf ca. 1660 datiert. Nach seinem Tod führte die Tochter Rosina Helena den Verlag weiter, die auch die Vorlagen der anderen drei Bände radierte und publizierte. Der zweite Band erschien 1666, der dritte 1676, der vierte bleibt undatiert. Alle vier Stickbücher enthalten Vorreden und Kupfertitel mit Genre- und allegorischen Darstellungen. In den moralisierenden Vorreden werden die Vorteile der Arbeit gelobt und vor dem Unglück gewarnt, das durch Faulheit verursacht werden könne. Während also junge aristokratische und bürgerliche Leserinnen diese Bücher durchblätterten und die Kunst des Stickens lernten, wurden sie zudem über die moralisierenden Texte und Bilder in eine Arbeitsmoral eingeführt. Kupfertitel und Vorreden werden im Folgenden analysiert, um zu verstehen, wie religiöse, moralische und Geschlechtsvorstellungen, die mit dem Sticken einhergingen, die Erziehung junger Frauen um 1670 prägten.4 Das Frauenzimmer.  Im ersten Kupfertitel entnimmt man der Kartusche, die zwei Putti tragen, den Titel, den Verfasser (Paul Fürst) und den Ort der Erscheinung (Nürnberg) (Abb. 3). Zu sehen ist nicht bloß ein Interieur, in dem mehrere Frauen arbeiten, sondern das „tugendbildende Frauen-Zimmer“, das die Vorrede vier Mal anspricht. Das Bild vermittelt die idealen Bedingungen für die Erziehung junger Frauen, die, dem Bild zufolge, fleißig sein sollten, während die Männer Familie und Geschäfte leiteten. Der Vater oder Ehemann im Vordergrund arbeitet nicht, sondern beschaut nur die Tätigkeiten im Frauenzimmer.5 „Frauenzimmer“ übrigens bezeichnete sowohl den Wohnraum als auch Frauen selbst. Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm heißt es dazu: „1) frauenzimmer ist also frauengemach, frauenkammer, frauenstube, wo sich frauen oder weiber aufhalten, wo sie unterhalten werden, auch wo sie arbeiten“; „2) frauenzimmer bezeichnete nun collectiv die in ihm wohnenden frauen“; „3) nahe

3 Ich danke den Mitarbeiter*innen der Kunstbibliothek für ihre Unterstützung. 4 Diese Themen hat Roszika Parker in ihrer wichtigen Studie The Subversive Stitch untersucht (Parker 1989), die die Zeitspanne vom europäischen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert abdeckt. 5 Ob in diesem und dem nächsten Kupfertitel Personen der Familie Fürst dargestellt sind, wie Lotz vorgeschlagen hat (Lotz 1933, S. 111), bleibt unklar. M. E. dürften die Bilder eher als Genre-Darstellungen zu verstehen sein.

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Überwachen und Sticken, um 1670

3  Unbekannter Stecher, Kupfertitel zu Paulus Fürst, Neues Modelbuch […] (1660), Kupferstich, Platte: 12,7 × 15,7 cm, Nürnberg 1689

lag, dass dieser collectivbegrif auf frauen übertragen wurde, die nicht in besonderem gemach zusammen wohnten, man belegte damit frauen insgemein, in der regel vornehme, wohlgesittete: das löbliche frauenzimmer“ (Grimm 1984a, Sp. 84f.; vgl. auch „Frauenzimmerarbeit“, ebd., Sp. 87.). Im dargestellten Frauenzimmer wird gestickt (Bildmitte), gesponnen (links) und Stoffe werden mit der Nürnberger Elle gemessen (Hintergrund mittig) (vgl. Fischer 2010, S. 49). Eine Katze, ein Hund und der Korb mit Nähwerkzeugen im Vordergrund deuten ein geordnetes Hausleben an, das gemütlich zu verlaufen scheint. Nur ein Detail ist etwas überraschend: der Mann links im Bild, der wie verborgen hinter einer Gardine ins Frauenzimmer hineinblickt. Es ist unklar, ob er ein Diener ist, jedenfalls scheint ihm der Eintritt in diesen feminin konnotierten Wohnbereich nicht gestattet zu sein. Auf diese Figur wird später zurückzukommen sein.

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Michalis Valaouris

4  J. A. Boener (Stecher), Kupfertitel zu Rosina Helena Fürst: Daß Neüe/Modelbüch […]/Ander Theil, Kupferstich, Platte 12,7 × 16,2 cm, Nürnberg 1666

Eine etwas andere Situation gibt der Kupfertitel des zweiten Bandes von 1666 zu sehen – Rosina Helena Fürst, Mitautorin und Stecherin der Stickvorlagen, war 24 Jahre alt (Abb. 4). Ob es sich auch hier um ein Frauenzimmer handelt, bleibt offen. Die Atmosphäre ist jedenfalls intimer, denn Frauen und Männer sitzen an einem Tisch nah beieinander, während die Frauen arbeiten und die Männer merkwürdigerweise auch hier nichts tun, sondern lediglich die Frauen beobachten. Die Frau links stickt an einem „Schrägfiletnetz“, die Frau in der Bildmitte arbeitet an einem sogenannten „Nehe-Pult“, die Frau rechts an einem „Tischwebkasten“. Eine „Schrägfiletnetzstickerei“ im Hintergrund schmückt die Wand mit einem Papagei.6 „Zu finden in / Nürnberg / bey Paülüs Fürsten, Künsth.[andlung]“, infor-

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Für diese technischen Angaben vgl. Fischer 2010, S. 55.

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Überwachen und Sticken, um 1670 miert unten rechts die kleine Werbung, während links die schwer lesbare Signatur eines Stechers steht: „J. A. Boener f.[ecit]“.7 Die Wände der Räume sind auf diesen ersten zwei Bildern mit Stickereien ausgeschmückt, was den praktischen Zweck der Stickbücher illustriert. So wird das Sticken auf das Wohnen bezogen, als private Tätigkeit für den privaten Wohnraum. Dies macht eine bürgerliche oder aristokratische Klasse evident, die, salopp gesagt, ihre Socken nicht selbst stricken muss, sondern Zeit hat, sich dem Sticken zu widmen. Tatsächlich ist das Sticken hier als nicht überlebenswichtig dargestellt; eigentlich ist es eine Tätigkeit ohne funktionalen Mehrwert, allenfalls eine mit einem dekorativen und symbolischen Mehrwert. Die künstlerische Qualität der Grafiken ist eher gering. Der unproportional niedrige Tisch etwa im zweiten Bild lässt erkennen, dass die Arbeit bescheiden konzipiert und teilweise schlecht ausgeführt wurde. Es ist jedoch nicht so sehr die künstlerische Qualität, die hier interessiert. Die Bilder sind Zeugnisse einer Geschichte der Moral, da Sticken hier mit moralischen Vorstellungen und pädagogischen Werten aufgeladen wurde. Behalten wir für den Moment die unauffälligen Präsenzen der Männer im Sinne, die in dieser ‚Frauenwelt‘ nur beobachten. Bevor ich zu den zwei nächsten Kupfertiteln komme, sei vorausgeschickt, dass die Geschlechter in diesen Bildern Bedeutungen tragen, die nur durch die Vorreden der Stickbücher verständlich werden. Im ersten Band steht etwa: „Arbeit und Künste sind nicht alle einander gleich.“ Tätigkeiten, die „viel Nachsinnens […] erfordern“, oder andere, die „Leibesbewegung“ bedürfen, „gehören“ „starke[n] Mannes-Personen“, „so darzu die Kräfte haben“. Autor ist hier der Verleger Paul Fürst und als Beispiele führt er die „Baukunst“, die „Mahlerei“ und die Arbeit in „Bergwerken“ an. Das „Weib.[liche] Geschlecht“ hingegen, das die „Natur“ „mit geschmeidigern / artlicheren / und also auch Adelichern Leibes-Gliedern versehen [hat] / als das Mannes-Geschlecht“, findet seine Aufgaben, zu welchen „das künstliche Nehen / Seidensticken / Goldweben / und anderes mehr“ gehören, im „Ehrlöbliche[n] Frauen-Zimmer“. Die Vorrede im dritten Stickbuch betont sogar, dass ausschließlich Frauen solchen Beschäftigungen nachgehen dürften. Männer sollten sie lieber lassen, sonst riskierten sie ihren Ruf: „Wie es denn dem letzten Koenige in Assyrien Sarandapalo noch heutiges Tages nach so viel hundert und mehr als 2000. Jahren zur unaußleschlichen Schmach 7 Ob Johan Alexander Boener auch die anderen Kupfertitel radiert hat, bleibt unklar; für biografische Daten zu Boener siehe ebd., S. 54–60.

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Michalis Valaouris / unvergessen bleibet / daß er unter dem Frauenzimmer gesessen / bey ihnen genehet / gesticket / und andere Weibliche Arbeit gemacht hat.“ Diese Zeilen naturalisieren das Sticken als eine ausschließlich weibliche Arbeit.8 Dies konstruierte moralische und soziale Normen von Weiblichkeit, die die Erziehung der Mädchen prägten. So zeigten die besprochenen Bilder das Frauenzimmer als einen moralisch aufgeladenen Wohnraum, in dem junge Frauen ihre Weiblichkeit unter männlichen Augen an tradierte Normen anpassten. Was für Verhaltensnormen dies waren, wird nun näher untersucht. Der Blick Gottes.  Im Kupfertitel des dritten Bandes aus dem Jahr 1676 (die Autorin ist jetzt 33 Jahre alt) ändert sich die Räumlichkeit (Abb. 5). Diesmal sitzt eine Frau im Freien, in einem Garten vor einem Tisch und „strickt“ (Fischer 2010, S. 114). Das elegante barocke Kleid und die Möbel deuten ein bürgerliches Milieu an. Auf dem Tisch präsentiert der (diesmal unbekannte) Stecher Nadeln, Fäden, Schere, Fingerhut und ein „Filetnetz“ (vgl. ebd.) mit Rosenmuster. Der Garten ist zentralperspektivisch angelegt, wie es im Barock üblich war; die Reihen von Zypressenbäumchen und Skulpturen leiten den Blick zum Fluchtpunkt; dort befindet sich ein Pavillon, davor ein Wasserbrunnen, links im Vordergrund ein Baum, rechts eine Säule. Die Frau, so bestätigt das Bild, ist völlig allein. Doch während sie durch ihre Handarbeit absorbiert ist, wird sie von einem Auge im Himmel beobachtet. Dieses Auge, das die Frau nicht sieht (und eigentlich nicht sehen kann), ist das Auge Gottes. Ist also die Frau allein? Während der übernatürliche Blick auf sie gerichtet ist, wird über ihrem Kopf ein symbolischer Lichtstrahl ausgesendet (symbolisch ist er, weil dieses Licht als metaphysisch zu fassen wäre und optisch unsichtbar ist), begleitet von einer mystischen Botschaft, die der Stecher als Satz ins Bild eingefügt hat: „Der Arbeit nütz ist Gottes Schütz“. Mit Präzision auf den Kopf der Frau ausgerichtet, gelangt diese Botschaft in ihr Bewusstsein. (Oder ist es vielleicht umgekehrt? Richtet sich diese Stimme Gottes vom Kopf der Frau zum Auge Gottes? Sind es etwa Wörter, die die Frau Gott in den Mund legt?) Die Beugung ihres Kopfes drückt Demut aus (wie etwa Marias Kopf in der Ikonografie der Verkün-

8 Sticken wurde im europäischen Mittelalter vorwiegend von Männern und nur manchmal von Frauen betrieben, erst ab dem 16. Jahrhundert wurde es immer mehr von Frauen übernommen (vgl. Parker 1989, S. 46, 60).

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Überwachen und Sticken, um 1670

5  Unbekannter Stecher, Kupfertitel zu Rosina Helena Fürst: Model-Buchs/Dritter Theil […], Kupferstich, Platte: 13 × 17 cm, Nürnberg 1676

digung), aber auch die Kenntnis, dass Gott auf sie schaut, dass sie nach seinem Willen lebt. Ihr inneres Glück kann als Glück eines ‚Lebens in Gott‘ verstanden werden, eines Lebens, das nach dem Willen Gottes geführt wird. Was ist aber, dem Bild zufolge, der Wille Gottes? Die himmlische Botschaft ist unmissverständlich: ‚arbeiten‘. Doch nicht nur das. Arbeiten bedeutet hier ‚nicht faulenzen‘. Diesen moralischen Gegensatz deuten auch die sechs Embleme an, die links und rechts von der Frau platziert sind. Links werden die Vorteile des Fleißes symbolisiert: „Die Künst und Lehr / [Das κηρύκειον (Hermesstab) als Attribut von Hermes, Schutzgott der Wissenschaften: Sticken wird in den Modellbüchern oft als „Kunst“ und „Wissenschaft“ bezeichnet9]

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So z. B. auf der Titelseite und in der Vorrede, S. 3 (o. S.), in: Fürst, P. 1689.

Michalis Valaouris Beschwehrt nicht sehr / [Der geflügelte Helm spielt auf die Leichtigkeit des Hermes an] Bringt Lob u: Ehr.“ [Die Posaune weist auf Gloria hin, die Fackel10 vermutlich auf Vesta oder Εστία, Göttinnen der Familie und des Haushalts] Die Schilder dieser Embleme sind mit Lorbeerkränzen verziert, sie sind ‚schön‘. Dies hebt ihren konstruktiven Inhalt hervor. Rechts hingegen sind die Schilder ‚hässlich‘ und destruktiv, rissig und in einem verwahrlosten Zustand. Hier geht es um die schlimmen Folgen der Faulheit. Und es ist nicht unbedeutend, dass die Frau ihnen den Rücken zugewendet hat: „Die faule Hand / [Zu sehen sind zwei verschränkte Arme, die ‚nichts tun‘ und Müßiggang symbolisieren11] Bringt Spott ū Schand / [Klappern und ein leerer Teller stehen für Spott und Hunger] In Satansband.“ [Die dunklen Hände Satans mit raubtierartigen Fingernägeln halten eine Zange fest; dorthin gelangt der faule Mensch] Durch diese Symbole dekliniert das Bild die Dialektik von Gut und Böse, vom Erfolg und Desaster im menschlichen Leben – und wollte somit didaktisch sein. Ziel dieser Erziehung war es, Mädchen vor den Folgen der Faulheit zu warnen. Sie sollten lernen, dass Fleiß der gesegnete Lebensweg sei, der „Lob und Ehre“ bringt. Damit kommt jedoch eine Arbeitsmoral zum Ausdruck, die auf eine mystische Gottesfurcht gegründet wird. Die Frau ist nur visuell allein. In ihrem christlichen Bewusstsein weiß sie: Gott schaut aufmerksam auf jede Tat, jeden Gedanken, jedes Gefühl. Das Auge Gottes ist in ihrer Psyche verankert, als mystischer Überwacher, der „nicht schlaefet noch schlummert“, wie Rosina Helena Fürst betont, um ihre Leserinnen nicht nur bildlich, sondern auch schrift-

10 Vesta trägt als Attribut eine brennende Fackel. Hier aber (das Detail ist mikroskopisch klein) scheint die Fackel gelöscht zu sein, was ein Symbol für das Ende des Lebens, den Tod ist. Zum inhaltlichen Programm dieser Embleme bzw. zu dem Spruch „Bringt Lob u. Ehr“ passt das jedoch nicht ganz. Möglicherweise ist es ein Hinweis auf die Kürze des Lebens – unabhängig vom Spruch. 11 Rosina Helena Fürst schreibt in der Vorrede des dritten Stickbuches, Gott habe dem „Weiblichen Geschlechte […] Haende zur Arbeit mitgetheilet / daß sie dieselbige nicht in den Schos legen / sondern zu ehrlichen Verrichtungen gewehen / und etwas gutes darmit schaffen sollen.“ (Fürst, R. o. J., Vorrede, o. S.)

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Überwachen und Sticken, um 1670 lich zu mahnen.12 Die Stickerin glaubt von Gott beobachtet zu werden, sie projiziert diese religiöse Idee auf den Himmel, in ihre Umgebung und in sich selbst. Doch diese Idee ist sinnlich und logisch unüberprüfbar – nur der christliche Glaube kann das Auge Gottes begründen, nicht die Logik. So wirkte die Angst, die die religiöse Idee vom göttlichen Blick christlichen Psychen einflößte, als pädagogisches Mittel für Mädchen und Knaben im 17. Jahrhundert. In diesem Geist stickte ein britisches Mädchen namens Martha Salter im 17. Jahrhundert auf ihr Mustertuch den Satz: „The Fear of God is an excel / Lent Gift“ („Die Gottesfurcht ist eine exzellente Gabe“, vgl. Parker 1989, S. 89). Die Stickbücher adressierten aristokratische Frauen, die, wie die homerische Penelope, ihr Leben im Frauenzimmer verbrachten. Darin wurden sie für das eheliche Leben vorbereitet. Sie mussten viel sticken, vor allem um die Aussteuer für die Hochzeit vorzubereiten. Das Sticken, gewissermaßen eine monotone und mechanische Tätigkeit, die aus unzähligen zirkulären Bewegungen besteht und höchste Konzentration beansprucht, gewöhnte die Psyche der Frauen an eine Wiederholung, deren Perpetuierung durch die Angst vor dem himmlischen Vater gewährleistet wurde; wobei die Konzentration auf den zirkulären Stich verhinderte, dass Gedanken in Bereiche der Fantasie, der Bildung oder der Sexualität abwichen: „Bej meiner Naeherej / in meinem Zimmer / seyn. / Die Jungfern sollen sich / den Muschel-Schnecken / gleichen / Und / gleich wie diese nicht / von ihren Häusern / weichen. So auch am liebsten seyn / in ihres Vatters Haus / Und nicht / an fremden Ort / bald lauffen ein / bald aus / […].“13 Die Metapher der Muschel-Schnecke verbindet hier den Körper der Frau organisch mit dem väterlichen Haus: Die Frau ist im Haus eingekapselt. Dies sollte junge Frauen auch und gerade vom vorehelichen Geschlechtsverkehr abhalten. Die verinnerlichte Instanz des göttlichen Blicks, der den Blick des Vaters ersetzte, raubte Frauen

12 „Gewiß / das Aug des Hoechsten / welches nicht schlaeffet noch schlummert / ist mit sondern Gnaden gerichtet auf diejenigen / welche munter sind ihrer Beruffs-Geschaefte abzuwarten. Die Strahlen seiner Guete ueberschueten sie mit solchen Vergnuegungen / so nur denen bekandt / die bey der Arbeit ihr Herz auf GOtt richten / und wie die Tugend im Streit und Arbeit erhalten wird / so folgen auch den Arbeitsamen die Siegs-Kränze des keuschen Kampfs nach.“ (Fürst, R. o .J., Vorrede, o. S.) 13 Paulus Fürst (?): „Gespraech / zwischen zweyen Jungfrauen / Die Nehekunst betreffend“, in: Fürst, P. 1689, o. S.

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Michalis Valaouris somit jede Möglichkeit, völlig allein zu sein – schließlich konnte das Völlig-allein-Sein ein erster Schritt zu innerer Unabhängigkeit werden. Fragt man nun, welches Geschlecht das Auge hat, das auf die Frau schaut, so ist die Antwort unzweideutig: Der Blick Gottes ist männlich. Das Bild mag eine ‚weibliche Welt‘ darstellen, doch das abwesende Geschlecht muss (so scheint es) in irgendeiner Form ersetzt werden. Dies macht nun auch die Präsenzen der Männer in den ersten zwei Bildern etwas deutlicher. Die Blicke dieser Männer, die nichts tun und nur die Frauen beobachten, werden im dritten Bild durch den göttlichen Blick ersetzt.14 So ist die männliche bzw. patriarchalische Instanz, auch wenn sie abwesend ist, dennoch in der psychischen Konstitution der Frau verinnerlicht und stets präsent. Der transzendente göttliche Blick in diesem Bild impliziert nicht bloß eine patriarchalische, theokratische Weltsicht, sondern eine Theophallokratie (vgl. Kofman 1986, S. 14f.). Diese Herrschaft übte eine subtile psychische Überwachung aus, indem sie Frauen in einer paranoiden Angst erzog, die unüberprüfbar blieb.15 Interessant ist aber im Fall dieser Stickbücher, dass nicht ein Mann, sondern eine Frau diese Erziehung vorgibt: Rosina Helena Fürst, die, nachdem ihr Vater Paul Fürst gestorben war, seine Arbeit mit gesteigertem moralischem Eifer weiterführte. Der göttliche Blick ist hier anthropomorph. Er richtet sich nach unten auf die Frau, als ob er dorthin nicht sehen könnte, ohne sich zu wenden. Offenbar ist das kein panoptisches, kein allsehendes Auge, sondern ein begrenzter, perspektivischer Blick, der sich bewegen muss, um ein Blickfeld erfassen zu können. Diese Bilderfindung kann voreilig auf künstlerische Naivität zurückgeführt werden, ja auf die Naivität einer uralten Tradition, die Transzendentes als anthropomorph darstellte. Aufgeklärte Autoren der Encyclopédie spotteten ca. hundert Jahre später über solche anthropomorphen religiösen Darstellungen.16 Interessanter 14 Verschwinden und symbolischen Ersatz männlicher Gestalten im Bild hat Daniela Hammer-Tugendhat an Werken der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts untersucht (Hammer-Tugendhat 2015, S. 15–98, 136–145). 15 Paranoia ist ein psychologischer Aspekt jeder Form von Überwachung, denn ohne das Erzeugen des Gefühls, dass man beobachtet wird, kann keine Form von Überwachung ihren präventiven Zweck erzielen (vgl. Valaouris 2017). 16 „Ebenso kann man die Kinder daran gewöhnen, mit der Idee von Gott die Idee von einer Gestalt und einem Gesicht zu verbinden, und dadurch ruft man in ihnen alle jene Absurditäten hervor, die sie dann mit der Idee vom göttlichen Wesen vermischen.“ (Yvon 1972, S. 105)

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Überwachen und Sticken, um 1670 ist aber zu beobachten, wie die Linearperspektive, deren Erfindung in Florenz um 1420 eine der tiefsten Zäsuren in der europäischen Bildgeschichte nach sich ziehen sollte, im 17. Jahrhundert so dominant geworden war, dass sie selbst die Transzendenz des Auges Gottes bezwang.17 Die Spinne zwischen den Zweigen des Baumes links im Vordergrund darf nicht übersehen werden. Die erste Assoziation dazu führt zum Mythos der Arachne, der jungen Frau, die glaubte, kunstvoller weben zu können als die Göttin der Webkunst Pallas Athene. Für ihre Hybris wurde Arachne bestraft und in eine Spinne transformiert (vgl. Ovidius 2010, S. 320–329). Um 1666 sollte ein Mädchen durch diese Spinne an das tragische Schicksal Arachnes erinnert und so vor Überheblichkeit gewarnt werden. Diese Interpretation ist aber voreilig ohne die Beachtung des Satzes „Nie ohne Müh“, der unter der Spinne zu lesen ist. Denn dieser verkehrt die Bedeutung der Spinne ins Positive, indem er sie als Symbol des Fleißes ausweist und sie zum Vorbild erklärt.18 Auf der rechten Seite des Bildes kann das Detail der an der Säule hochrankenden Weinrebe angesichts des Satzes „Unbewegt ranken trägt“ als Mahnung gelesen werden, die vor der verderblichen Wirkung des Müßiggangs warnt. Und auch die Sonnenuhr, die vom Balken hängt, mahnt mit dem Sinnspruch „Tempus fugit“, keine Zeit zu verlieren. Zentrale Referenz – nicht nur hier, sondern generell für alle vier Stickbücher – ist das Sprichwort „Müßiggang ist aller Laster Anfang“, das auch Rosina Helena Fürst in der Vorrede des dritten Stickbuches erwähnt.19 Für die Bedeutung des Bildes ist schließlich noch eine textuelle Referenz wesentlich. Das Bild visualisiert meines Erachtens ein moralisches Gedicht aus dem ersten Stickbuch mit dem Titel „Gespraech / zwischen zweyen Jungfrauen / Die Nehekunst betreffend“. Die Erzählperson, ein geschlechtsneutrales ‚Ich‘, dürfte männlichen Geschlechts sein.20 Diese

17 Zur Bedeutung der Perspektive für den überwachenden Blick siehe meine Ausführungen in: Valaouris 2017. 18 Für diese Interpretation spricht auch ein Satz von Rosina Helena Fürst aus der Vorrede des vierten Stickbuchs: „[…] die Spinne ist offt eine geschaefftigere Kuenstlerin in ihren feyrenden Ramen / als sie / die solche / den Mueßiggang zu verjagen / mit Kunst-Faeden fuellen solten.“ (Fürst, R. o.  J.) 19 Dort ist die Rede vom „leidigen Muesiggang / […] der zu allem Boesen Ursach und Anlas gibt“, (Fürst, R. 1676). 20 Dafür spricht folgende Stelle im Gedicht: „Das junge Weibesbild / das ich sah erstlich kommen / Und eine Jungfer war / als ich hernach vernommen / War also schoen gestalt / daß / wann ich / als ein Christ / Nicht nur / von einem

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Michalis Valaouris Person erzählt, wie sie an einem blühenden Frühlingstag durch einen Wald läuft. Während sie völlig allein ist, die Gedanken auf Gott und die Herrlichkeit der Natur gerichtet, entdeckt sie eine Tür, die zu einem Garten führt. Sie tritt durch die Tür und ist von der Schönheit des Gartens entzückt. Plötzlich aber, „O Schrecken!“, sieht sie eine Frau im Garten und versteckt sich schnell hinter einem Busch. Dann passiert Folgendes: Die Frau beginnt zu sticken. Doch ihre Schwester taucht auf „wie ein Hirsch / frech / stolz / den Hals erhoehet“ und unterbricht die Stickende. Die Schwester findet das Sticken an einem so schönen Tag „nichts / als Langweil“ und lädt sie zu einer Gesellschaft mit „guten Freunden“ und „andere[n] Buerschigen“ ein, die sie gleich zum Kartenspielen treffen wird. Die Stickerin aber verweigert diese Einladung, denn: „Was Ehr hat man darvon / wann man beysammen sizt / Von geiler Liebes-Brunst entzuendet und erhizt.“ Das Spazierengehen in der Sonne mit „junge[n] Burschen“, so meint die Stickerin interessanterweise, könne den Verlust weiblicher Freiheit nach sich ziehen: „Wie bald ist man verfuehrt?“ „Junggesellen […] lauffen den Jungfern nach / und reden Liebes-Wort / Biß sie uns / dergestalt / um unsre Freiheit / bringen / Und / unter ihrem Joch / nach ihrem Willen / zwingen […].“ Daher „[sollen] die Jungfern sich / den Muschel-Schnecken / gleichen / Und / gleich wie diese nicht / von ihren Häusern / weichen“. Die Stickerin preist das Sticken als Kunst mit uralter Geschichte, die bis zu den Frauen Israels zurückreiche. Das Gedicht endet damit, dass die dritte Person, die das Gespräch der Schwestern hinter dem Busch mithört, den Charakter der Stickerin lobt: „Und wunscht in meinem Sinn / es moechten ihrer viel / Sich richten / dieser nach / zu gleichem Tugendziel.“ (Fürst, P. 1689, o. S.) Der Kupfertitel des dritten Bandes stellt eine Szene dieser Erzählung dar: den Augenblick, in dem die erzählende Person aus ihrem Versteck hinter dem Busch die stickende Frau sieht. Dafür spricht die Belaubung im Vordergrund des Bildes, die jede potenzielle Bildbetrachterin ‚hinter den Busch‘ versetzt. Dies färbt die Adressierung der Betrachterin moralisch: Die visuelle Perspektive im Bild ist hier nicht bloß zentriert oder wertneutral, sie ist als moralischer Anblick aufgeladen und angeboten,

Gott / und keiner Goettin / wuest / Ich selber mich beredt / daß / aus der Goetter Orden / Ihr Ankunft mueste seyn; daher sie faehig worden Des hohen Goetter-Rechts; und daß / vom Himmel her / der schoenen Venus gleich / sie eine Göttin wer.“ In: „Gespraech / zwischen zweyen Jungfrauen / Die Nehekunst betreffend“, in: Fürst, P. 1689, o. S.

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Überwachen und Sticken, um 1670

6  Unbekannter Stecher, Kupfertitel zu Rosina Helena Fürst: Des Nuernbergischen Model- / Oder Naehe-Buchs / Vierdter Theil, Kupferstich, Platte: 12,6 × 15 cm, Nürnberg o. J. (nach 1676)

der zu einem Perspektivwechsel einlädt: zu einer Konversion des „Blicks der Psyche“ gen Tugend (Platon, Politeia, 518 d und 533 d). So offenbart dieses Bild der Leserin ein „Tugendziel“. Der Umstand, dass die versteckte Person ein Mann ist, erinnert an den Mann, der im ersten Bild hinter einer Gardine ins Frauenzimmer schaut (Abb. 1). Diese Gestalt wird nun deutlicher: Sie steht für den Mann auf Brautsuche und seine Erwartungen. So gibt es einen zusätzlichen Grund, warum die stickende Frau nicht allein ist. Nicht nur der göttliche Blick beobachtet sie, die Szene wird zudem durch die Augen eines Mannes gesehen und bietet sich nun den Augen der Leserinnen dar, damit diese sehen, wie Frauen in den Augen der Männer sein sollten: gehorsam, fleißig, keusch. Das Unglück des Lasters.  Im Kupfertitel des vierten Bandes werden diese moralischen Vorstellungen zugespitzt (Abb. 6). Die Komposition ist dem

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Michalis Valaouris zuvor besprochenen Bild ähnlich: Die Perspektive ist zentriert, im Fluchtpunkt befindet sich ein Palais, links und rechts stehen zwei Zypressenreihen. Diesmal aber sehen wir nicht eine, sondern drei fleißige Frauen an einem Tisch sitzen und sticken. Der Himmel öffnet sich, helles Licht erstrahlt, Blumen und Lorbeerkränze fallen als Segnung Gottes auf die Stickerinnen herab. Dieses Szenario kennen wir; das Bild aber enthält eine zusätzliche Szene im Vordergrund, die die andere Seite der Medaille veranschaulicht: die Faulheit und ihre Folgen. Da sitzt die faule Frau und ‚tut nichts‘. Sie stützt ihren Kopf in die Hand und ähnelt durch diese Geste der melancholischen Gestalt der ἀκηδία (Acedia, Trägheit). Die Göttin der Weisheit, Pallas Athene, erscheint ihr, um „Tempus fugit“ zu rufen und sie damit anzuspornen (angezeigt durch eine Sanduhr und einen Sporn in ihrer Hand).21 Doch der trägen Frau ist alles egal, selbst wenn ein Schwein ihre Umgebung zunichtegemacht hat und die Werkzeuge des Stickens zerstört; selbst wenn alles versaut worden ist (wie dieses Verb noch auszudrücken pflegt).22 Diese Ergänzung des Bildprogramms der Stickbücher ist nicht bloß didaktisch, sie ist ab- und erschreckend. Als hässliches Vorbild, das es zu meiden gilt, wird die faule Frau hier spöttisch mit einem Tier gleichgesetzt. Der Raum, in dem sie sitzt, ist weder Frauenzimmer noch Barockgarten, sondern eine dunkle Höhle, deren Bedeutung die Vorrede des vierten Bandes erhellt: „Es ist zwar eine angenehme Zuflucht-Hoele der Arbeit-Scheuenden / in dessen Schatten sie sich verstecken / aber eben durch den Mueßiggang gehet der Weg zu schlamigten Lastern / und niemand kann die Faulheit lieben / der nicht zugleich mit selbiger die Verderbung des Gemuets ergreifft. Schweine haben keinen Gefallen an Blumen; und die / so zu der Heerde mueßiger oder grober Koepfe gehoeren / finden keinen Wolgefallen an dem / was Tugend- und Kunst-Liebende sich zur Ermunterung des Geistes und zu einem Mittel / nicht auf die Irrwege der Faulenzenden zu gerathen / dienen lassen; aber durch solche Verachtung verwilden sie desto mehr.“ (Fürst, R. o. J., o. S.) Hier genügt es nicht, die

21 Auf diese Bildzeichen nimmt Rosina Helena Fürst Bezug in der Vorrede des vierten Stickbuches: „Gebt acht auf die Zeit / und wann ihre Flucht euch nicht ein genugsamer Sporn ist / dem Guten / das so bald versaumet wird / nachzujagen; so sehet an die Krempel der Fleißigen / und den gesegneten Nutzen / den sie ruehmlichen Bemuehungen haben.“ (Fürst, R. o. J., o. S.) 22 „Versauen, verb. intrans., einer sau ähnlich werden, unreinlich, schmutzig werden […].“ (Grimm 1984b, Sp. 1042)

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Überwachen und Sticken, um 1670 Tugend darzustellen; das Unglück des Lasters soll sichtbar werden. Der wilde, zerstörte Vordergrund mit dem gebrochenen Baum in der Mitte stellt die unkontrollierte Natur dar und symbolisiert den Bereich des Lasters. Hinter diesem Bereich eröffnet sich in der Tiefe des Bildes das Feld der Tugend, der Kultur, wo alles geordnet verläuft. Die räumliche Disposition des Guten und des Bösen versetzt auch die Bildbetrachterin in die Position einer Sünderin. Doch der Zugang zum Feld der Tugend, als Eingang in der Mitte des Bildes, ist offen, und die Weisheit (Athene) drängt mit zeigender Geste dorthin. In diesem Sinne wendet sich das Bild an die junge Leserin und sagt: Wage den Schritt vom Laster zur Tugend. Weitere Quellen.  Erweitert man den historischen Rückblick auf weitere Stickbücher vor und nach der Zeit von Rosina Helena Fürst, so fällt dabei auf, dass die oben beschriebenen moralischen Motive sich wiederholen. 1597 etwa spricht Johann Sibmacher in seinem Modellbuch vom „Muessiggang / Als eine[m] Zunder und anfang / Aller Laster“ und erwähnt auch die Geschichte der „Arachna“ in ihrer üblichen Bedeutung (Sibmacher 1597, o. S.). Ähnlich erwähnt ein Stickbuch von 1601 aus „Franckfurt am Mayn“ den „Muessiggang / als ein Zunder und Ursprung aller Laster […]“ (Beatus/Bitsch 1601, o. S.). Das Büchlein Winter und Sommer Gärtlein […] von 1697 aus Linz enthält wiederum eine Radierung, der dem zweiten besprochenen Kupfertitel (Abb. 4) sehr ähnelt (H. N. D. C. 1691, o. S.). Vermutlich lieferte das Stickbuch von Rosina Helena Fürst die Vorlage dafür. Margaretha Helm beginnt die Vorrede des ersten der drei Stickbücher, die sie um 1700 in Nürnberg publizierte, so: „Muessiggang ist ein Saame / woraus alles Laster-Unkraut wächst“. „Der Fleiß [ist] das kräfftige Mittel“, das „das Boese nicht zum Wachstum komen läßt“. Helm erwähnt die Geschichte der Penelope, um zu betonen, wie „Nähen und Stricken“ die weibliche „Keuschheit“ bewahren. „Durch die Nadel“ soll man, so die Autorin, „den Mueßiggang verjagen“ und dabei „manches Geld [erspahren] / das sonst fuer dieses / was man sich selbst machen kann / ausgegeben werden mueste“. Fleiß wird also hier mit dem ökonomischen Nutzen des Sparens verkoppelt. Im dritten Band fragt Margaretha Helm ihre Leserinnen, ob das Nähen „nicht mehr Nutzen schaffe / als ein eitler Roman in ihren Haenden“, und erklärt sich bereit, junge Frauen „zu lehren / wie man mit der Nadel wider den Muessiggang streiten muesse“. Kritiker*innen der Stickerei soll die Leserin

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Michalis Valaouris ignorieren, diese glichen „unvernünfftige[n] Schweine[n] / [die] ihre Rüssel an die schönsten Blumen wischen“ (alle Zitate: Helm 1700, o. S.). Hatte Margaretha Helm das vierte Stickbuch von Rosina Helena Fürst in der Hand gehalten? Diese Zeile spricht dafür. Noch ein Beispiel: Um 1720 erschien ebenfalls in Nürnberg das Stickbuch von Amalia Beer (1688–1723), „Tochter des Kunst-beruehmten und noch nach dem Tode hochgeschaetzten Herrn Bachelbels [Johann Pachelbel (1653–1706), M. V.] / gewesenen Organisten in der Haupt-Kirche St. Sebaldi“. Die selbstbewusste Autorin – nicht nur Stickerin, sondern auch Kupferstecherin wie Rosina Helena Fürst – greift diejenigen an, die „meinen […] ein freyes Gemueth […] / koenne [das Sticken] wol entbehren“. Wurde Sticken also mit einem unfreien Geist assoziiert? Für Amalia Beer ist Sticken keine langweilige Beschäftigung, sondern „Kunst und Wissenschafft“, die von den Hebräern, Griechen und Römern hoch geschätzt wurde. Die Nadel wird mit dem Pinsel verglichen und beide als Mittel der Tugend gepriesen, deren „größte[s] Kennzeichen […] sey / wenn man / den Muessiggang zu verjagen / alles / was loeblich ist / ergereifft / und keine Zeit verliert“ (alle Zitate: Beer 1720, o. S.). Anonyme Stickarbeit, um 1930.  Die Reise des Historikers in die Vergangenheit besteht aus zwei Bewegungen: einer rückblickenden hin zur Vergangenheit und einer prospektiven, die in die Gegenwart zurückkehrt (vgl. Kracauer 1971, S. 99–124). Diese zweite Bewegung ist substanziell, wenn es darum geht, nicht bloß die Vergangenheit aus heutiger Perspektive neu zu verstehen, sondern die eigene Gegenwart mithilfe der Geschichte zu beleuchten. Fragen wir also: Was gehen uns solche Stickbücher heute an? Circa 350 Jahre trennen uns von der Zeit von Rosina Helena Fürst und man könnte behaupten, dass die Frage der Relevanz sich kaum stellt, da unsere Welt und die ihre nichts mehr miteinander zu tun hätten. Uns trennt nicht nur die Aufklärung, die „den Menschen die Furcht […] nehmen“ wollte,23 sondern auch die Französische Revolution, die industrielle Revolution, Kapitalismus, Kolonialismus, Erster Weltkrieg, Russische Revolution, Zweiter Weltkrieg, sexuelle Revolution, Feminismus, digi-

23 „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ (Horkheimer/Adorno 1986, S. 9)

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Überwachen und Sticken, um 1670 tale Revolution, die allumfassenden Überwachungstechnologien und Unzähliges mehr. Die indifferente Haltung aber, nach der uns diese Stickbücher nichts mehr angehen, will sagen, dass die beunruhigende Welt von Rosina Helena Fürst längst tot ist, dass seitdem große Fortschritte passiert sind, welche die Welt verbessert haben, dass wir die moralischen Vorstellungen unserer Vorfahr*innen hinter uns gelassen haben. Diese Stimme wäre (man ahnt es) ein Echo der Aufklärung und sie hätte in einigen Punkten recht. Doch wie erklärt sich dann der Satz „Auch in dunkler Nacht / Gottes Auge wacht“, der um 1930 von einer unbekannten Frau auf einen Bettwandschoner gestickt wurde?24 Wenn wir diesen gestickten Satz betrachten, erinnern wir uns an eine längst vergessene Frau namens Rosina Helena Fürst. Parallel erkennt man hier das Indiz einer latenten historischen Kontinuität: Die anonyme Stickarbeit zeigt, dass einige der religiösen, moralischen und Geschlechtsvorstellungen der Stickbücher von Rosina Helena Fürst zwei Generationen vor uns noch gültig waren. Darum bleiben diese Stickbücher auch für uns relevant. Nicht nur die Ungleichheit der Geschlechter, sondern auch die Moralisierung der Arbeit, die Kritik der ‚Arbeitsscheuen‘, die psychosomatische Überwachung von Menschen sowie die anerzogenen Ängste, die die Aufklärung beseitigen wollte, beschäftigen uns weiterhin.

24 Dieses Objekt wird im Museum für Europäische Kulturen in Berlin aufbewahrt (vgl. Valaouris 2017, Kat.-Nr. 17).

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Michalis Valaouris Quellen Beatus/Bitsch 1601 Beatus, M. Gregorius; Bitsch, Joh. Lud.: Schön neues Modelbuch […], Frankfurt a. M. 1601. Kunstbibliothek, Berlin, Signatur: OS 1498 kl. Beer 1720 Beer, Amalia: Wol-anständige Frauen Zimmer-Ergötzung […], Nürnberg [um 1720]. Kunstbibliothek, Berlin, Signatur: OS 1513 mtl. Fürst, P. 1689 Fürst, Paulus: Neues Modelbuch / Von unterschiedlicher Art der Blumen […], Nürnberg 1689 (Erstausgabe 1660). quer-4°, Kupfertitel, Platte: 12,7 × 15,7 cm. Kunstbibliothek, Berlin, Signatur: OS 1509 Kl. Bd I. Fürst, R. 1666 Fürst, Rosina Helena: Daß Neüe / Modelbüch / Von Schönen Nädereyen, Ladengewürck / und Paterleinsarbeit: / Ander Theil, Nürnberg 1666. quer-4°, Kupfertitel, Platte: 12,7 × 16,2 cm. Kunstbibliothek, Berlin, Signatur: OS 1509 Kl. Bd. II. Fürst, R. 1676 Fürst, Rosina Helena: Model-Buchs / Dritter Theil. / Von unterschiedlichen Vögeln / Blumen / und Früchten […] Gezeichnet und […] ins Kupffer versetzt / Von und in Verlegung Rosina Helena Fürstin, Nürnberg 1676. quer-4°, Kupfertitel, Platte: 13 × 17 cm. Kunstbibliothek, Berlin, Signatur: OS 1509 Kl. Bd. III. Fürst, R. o. J. Fürst, Rosina Helena: Des Nuernbergischen Model- Oder Naehe-Buchs Vierdter Theil […], Nürnberg, ohne Datierung [nach 1676]. quer-4°, Kupfertitel, Platte: 12,6 × 15 cm. Kunstbibliothek, Berlin, Signatur: OS 1509 Kl. Bd. IV. Helm 1700 Helm, Margaretha: Kunst- und Fleißübende Nadel-Ergötzungen […], Nürnberg [um 1700], Bände I, II, III. Kunstbibliothek, Berlin, Signatur: OS 1512 mtl. H. N. D. C. 1691 H. N. D. C.: Winter- Und Sommer-Gärtlein […]. Neues Danßerlein Büchel, Linz 1691,

Kunstbibliothek, Berlin, Signatur: OS 1511 kl. Sibmacher 1597 Sibmacher, Jo.: Schön Neues Modelbuch […], Nürmberg 1597. Kunstbibliothek, Berlin, Signatur: OS 1494 kl.

Literatur Fischer 2010 Fischer, Editha: Von heidnischen Blumen in Sommer-Gittern. Rosina Helena Fürst (1642–1709). Leben und Wirken der Strickerin, Zeichnerin und Kupferstecherin im Barock in Nürnberg und ihre Zeit. Eine Biografie zu den 193 nachgezeichneten Mustern ihrer vier Modelbücher, Münster 2010. Grimm 1984a Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 4, Nachdruck, München 1984. Grimm 1984b Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 25, Nachdruck, München 1984. Horkheimer/Adorno 1986 Horkheimer, Max; Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, mit einem Nachwort von Jürgen Habermas, München 1986. Hammer-Tugendhat 2015 Hammer-Tugendhat, Daniela: The Visible and the Invisible. On Seventeenth-Century Dutch Painting, Berlin u. a. 2015. Kofman 1986 Kofman, Sarah: Rousseau und die Frauen, übers. von Ruthard Stäblein, Tübingen 1986. Kracauer 1973 Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen, übers. von Karsten Witte, Frankfurt a. M. 1973. Lotz 1933 Lotz, Arthur: Bibliographie der Modellbücher. Beschreibendes Verzeichnis der Stick- und Spitzmusterbücher des 16. und 17. Jahrhunderts, Leipzig 1933.

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Überwachen und Sticken, um 1670 Parker 1989 Parker, Roszika: The Subversive Stitch. Embroidery and the Making of the Feminine, 3. Aufl., London 1989. Ovidius 2010 Ovidius Naso, Publius: Metamorphosen, Latein/Deutsch, übers. und hg. von Michael von Albrecht, Stuttgart 2010. Valaouris 2017 Valaouris, Michalis, „Das Feld hat Augen …“ Bilder des überwachenden Blicks, Ausst.-Kat. Kunstbibliothek Berlin, Berlin 2017. Yvon 1972 Yvon, Abbé Claude: Ideenassoziation – Association d’idées, in: Manfred Naumann (Hg.): Artikel aus der von Diderot und D’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, übers. von Theodor Lücke, Leipzig 1972, S. 104–106.

Abbildungsnachweise Alle Abbildungen: © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek.

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Astrid Silvia Schönhagen Habitate der Mobilität – Mary Mattinglys Wearable (Portable) Homes für eine postapokalyptische Ära

„Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.“ Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän (1979) Naturgewalten wie sintflutartige Überschwemmungen, vernichtende Unwetter, Vulkanausbrüche oder Meteoriteneinschläge zeigen uns Erdbewohner*innen immer wieder die Grenzen menschlicher Naturbeherrschung auf. Entsprechend haben Katastrophen-Narrative einen „festen Platz im Imaginären unserer Kultur“ (Hahn 2015, S. 23); sie sind, wie Benjamin Bühler treffend formuliert, „ästhetische[ ] und rhetorische[ ] Strategien der Evidenz-Herstellung“, Formen der ästhetischen Selbstvergewisserung angesichts existenzieller Krisen (Bühler 2016, S. 170). Die existenzielle Krise, die uns zweifelsohne am unmittelbarsten betrifft, ist der Verlust der Wohnung, des Heims. Im Nachrichtenalltag allgegenwärtig sind Berichte über schwere Natur- oder Umweltkatastrophen, die die unwiederbringliche Zerstörung der eigenen vier Wände oder des mühsam zusammengesparten Eigenheims zum Thema haben. Besonders in Erinnerung geblieben ist in den vergangenen Jahren die mediale Berichterstattung im Zusammenhang mit dem verheerenden Hurrikan Katrina, der im August 2005 über den Golf von Mexiko hinwegfegte und allein in New Orleans schätzungsweise achtzig Prozent des Stadtgebiets überflutete, wodurch annähernd 400.000

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Habitate der Mobilität Einwohner*innen vorübergehend obdachlos wurden (vgl. Anderson 2007, S. 1). Selbst in der Kunst fanden die katastrophalen Auswirkungen dieses gewaltigen Tropensturms ihren Widerhall, so in Chris Jordans Fotoserie In Katrina’s Wake: Portraits of Loss from an Unnatural Disaster (2005), die zerstörte Straßenzüge und Wohnblöcke zeigt. Deutlich abstrakter nähert sich der New Yorker Künstler Thomas Doyle dem durch negative Umwelteinflüsse oder Naturkatastrophen drohenden Verlust der Wohnung. Seine zwischen 2004 und 2013 entstandene Serie Distillation zeigt im Maßstab 1:43 dioramatische, kurz vor dem Kollaps stehende Miniatur-Welten, eingefangen unter Glaskuppeln. Zu sehen sind Häuser, die in Erdlöchern zu verschwinden oder – wie in Acceptable Losses (2008) – an steilen, von Erosion bedrohten Hängen ins Nichts zu stürzen drohen (Abb. 1); die einstigen Bewohner*innen wirken wie bloße Statist*innen eines längst verloren gegebenen Spiels, die hilflos einer übermächtigen Natur gegenüberstehen und vergeblich ihr bewegliches Hab und Gut, vor allem aber ihre Liebsten in Sicherheit zu bringen suchen. Als miniaturisierte, in sich geschlossene Ökosysteme versinnbildlichen diese Dioramen die Ohnmacht des Menschen angesichts drohender, nicht näher definierter Umweltkatastrophen. „Die fragilen Momente am Kipppunkt von idyllischer Familien-Szenerie und ökologischer Katastrophe, die Doyle inszeniert, deuten [dabei]“, so Daniela Hahn, „auf einen postapokalyptischen Zustand der Relation zwischen Menschen und ihrer Umwelt, zwischen dem Haus, als Rückzugsort des Menschen, und seiner Umgebung […]“ (Hahn 2015, S. 15). Unverkennbar ist die Serie Distillation Ausdruck eines neuen, seit dem Millennium wiedererstarkten gesellschaftlichen Interesses an Umweltfragen, das man nach den großen Ökologiebewegungen der 1980er Jahre in den 90ern schon fast verloren geglaubt hatte und das in der zeitgenössischen Kunst momentan unter Lemmata wie ‚Art in the Anthropocene‘, ‚Environmental Art‘ oder ‚Art and Ecology Now‘ aufgegriffen wird. Nicht selten dient dabei der Begriff des Anthropozäns, des vom Menschen bestimmten Erdzeitalters, im Kontext des prognostizierten, scheinbar unvermeidlichen, selbstverschuldeten Untergangs der Menschheit als Metapher für das Nahen einer „Ökokalypse“, einer „säkulare[n] Version des ,Jüngsten Tages‘“ (Gumbrecht 2018).1

1 Besonderen Auftrieb haben aktuelle Klimadebatten seit 2018 zweifellos durch die von der schwedischen Schülerin Greta Thunberg initiierte globale Protestbewegung Fridays for Future erhalten.

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Astrid Silvia Schönhagen

1  Thomas Doyle: Acceptable Losses, 2008

In diesem Kielwasser bewegt sich auch die US-amerikanische Künstlerin und Umweltaktivistin Mary Mattingly (*1979), die in ihrem Œuvre dem Verlust von Heim und Heimat vor dem Hintergrund ökologischer Krisen sowie dem damit verbundenen Wandel des Verhältnisses von Mensch und Umwelt nachgeht. Im Gegensatz zu Doyle und anderen ecocritical artists, die sich darauf fokussieren, die Folgen künftiger Umweltzerstörung durch die Visualisierung eingängiger Bedrohungsszenarien zu antizipieren, gehen Mattinglys Arbeiten jedoch weit über das bloße Aufzeigen ebensolcher hinaus: Mit ihren Wearable Homes (2004–09) und ihrer Wearable Portable Architecture (2011) setzt sie – wie im Folgenden gezeigt werden soll – genau dort an, wo Doyles nicht mehr bewohnbare Ecosphären unter Glas, die den Menschen hilflos auf sich selbst

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Habitate der Mobilität zurückwerfen, ein Vakuum hinterlassen. Mattingly entwickelt konkrete, wenn auch utopische Zukunftsvisionen, wie Wohnen angesichts prekärer, menschenfeindlicher Lebens- und Umweltbedingungen in einer postapokalyptischen Welt neu gedacht werden könnte. Hierzu verabschiedet sie sich vom Modell eines architekturbasierten, statischen Wohnens und setzt an seine Stelle die konzeptuelle Vorstellung eines mobilisierten, temporären Wohnens. Ganz im Sinne des vorliegenden Tagungsbandes stellt Mattingly damit die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten eines unbehausten Wohnens.

Von lebenden Skulpturen und schwimmenden environments Mary Mattingly, die an der Parsons School of Design in New York sowie am Pacific Northwest College of Art in Portland (Oregon) Fotografie und Bildhauerei studiert hat, setzt sich seit dem Beginn ihrer Karriere mit dem Verhältnis von Mensch und Natur/Umwelt auseinander. Wiederkehrende Themen ihrer Fotografien und partizipativen Projekte, die sie ausführlich auf ihrer Homepage dokumentiert und mit denen sie bereits auf internationalen Ausstellungen (etwa im Brooklyn Museum, Seoul Art Center, Palais de Tokyo oder International Center of Photography in New York) vertreten war, sind Fragen ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit, aber auch die Folgen menschlichen Raubbaus an der Natur. Dabei sind insbesondere der von ihr prognostizierte Verlust lebensnotwendiger Ressourcen sowie des Wohn- und Lebensraums des Menschen wichtige Triebfedern, um über alternative Lebensmodelle („alternative living models“) nachzudenken und diese zu erproben (Lynch 2011). Kunst besitzt für Mattingly also das Potenzial, wichtige gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen – oder wie sie in ihrem Manifest von 2015 formuliert: „Art and utopian thought can cultivate systemic social change“ (Mattingly 2015). Einem größeren Publikum bekannt wurde die Künstlerin durch ihre imposanten Hausboote und schwimmenden Gärten, mit denen sie seit zehn Jahren die Wasserstraßen US-amerikanischer Metropolen befährt. 2009 lebte sie im Rahmen ihres Waterpod Project z. B. für einige Monate auf einem ausrangierten Lastkahn, den sie gemeinsam mit Ingenieur*innen, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und anderen Künstler*innen

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Astrid Silvia Schönhagen in eine „Insel der Selbstversorgung“ umbaute (Bodin 2016, S. 92) – mit aus Recyclingmaterial errichteten Wohneinheiten, eigener Wasserversorgung, einem Hühnerstall sowie Gemüsebeeten unter einer Gewächshaus-Kuppel, die an Richard Buckminster Fullers charakteristische geodesic domes erinnerte. Weiterentwicklungen dieses ersten mobilen wie autarken „Ökosystems“ (ebd., S. 93), das Mattingly selbst als „floating, sculptural eco-habitat“ bezeichnet hat (zit. n. Lynch 2011, S. 243), waren die Projekte Flock House (2012/13), Triple Island (2013) und WetLand (2014–16). Seit 2016 hat die Künstlerin zudem mehrere skulpturale Gartenareale oder living sculptures entwickelt, darunter The Swale, ein sukzessive in einen schwimmenden Garten verwandelter Lastkahn, der Assoziationen an Robert Smithsons Floating Island (1970/2005) weckt.2 Anders als bei Smithson und den Land-Art-Künstler*innen der 1960er und 70er Jahre, bei denen die Ästhetisierung der Landschaft und der Natur im Mittelpunkt stand, kultiviert Mattingly in ihrem schwimmenden Garten – ebenso wie auf ihren Selbstversorgungshausbooten – allerdings Nutzpflanzen. Das Ergebnis ist ein „edible space“, ein zum Verzehr einladender urbaner Gemüsegarten, der im Sinne gemeinschaftlichen und nachhaltigen Wirtschaftens von jedermann oder jederfrau unentgeltlich als „floating food forest“ genutzt werden kann (Mattingly 2016/17). Mattingly kreiert mit ihren schwimmenden environments3 also bewohnbare mobile Miniaturökosysteme oder Habitate, die es ihren Bewohner*innen ermöglichen, sich mittels gemeinschaftlich nutzbarer Ressourcen (wie Wasser, Strom oder nachwachsenden Lebensmitteln) selbst zu versorgen. Die Notwendigkeit hierzu hatte die Künstlerin erstmals im Jahr 2000 erkannt, als sie in einem Artikel über die umstrittene Priva-

2 Ein weiteres Gartenprojekt Mattinglys ist ihr Arctic Food Forest, ein skulpturaler Container-Garten, den sie 2016 vor dem Anchorage Museum in Alaska errichtete. Jeder Container dieses experimentellen Ökosystems beherbergte Pflanzen (darunter Kartoffeln, Kohl und Äpfel), die in subarktischen Klimazonen wie der Metropolregion Anchorage bisher nicht endemisch sind. Das Projekt verstand sich folglich als eindringlichen Kommentar zu den durchaus sehr unterschiedlichen lokalen Konsequenzen der globalen Erderwärmung. 3 In Anlehnung an seine eigentliche Bedeutung steht der englische Begriff ‚environment‘ hier wie im Folgenden für eine (künstlerisch geformte) ‚Umgebung‘ oder ‚Umwelt‘. Er ist nicht identisch mit dem kunsthistorischen Environment-Begriff, der v. a. in den 1950er und 60er Jahren im Zusammenhang mit Happenings oder den begehbaren, häufig mit Alltagsobjekten angereicherten Rauminstallationen von Edward Kienholz und George Sand Verwendung fand.

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Habitate der Mobilität tisierung bolivianischer Wasserbetriebe durch den US-amerikanischen Großkonzern Bechtel las (vgl. Jones/Mattingly 2013). Im Bewusstsein der gesellschaftlichen Konsequenzen ökonomisch motivierter Wasserversorgung oder -verknappung, insbesondere in politischen oder ökologischen Krisensituationen, entwickelte Mattingly daraufhin Wasseraufbereitungsapparaturen, die sie in der Wüste Oregons als experimentelle Versuchsanordnungen autarker Selbstversorgung erprobte. In dieselbe Zeit fallen auch die ersten Überlegungen zu ihren sogenannten Wearable Homes (Tragbaren Architekturen), die ihren Bewohner*innen Schutz und Obdach vor extremen Umwelt- und Witterungsbedingungen gewähren sollen und damit Habitate ganz anderer Art aufspannen.

Architektur und/oder (Be-)Kleidung? Mattinglys Tragbare Architekturen und ihre environmental bubbles Bei Mattinglys Wearable Homes handelt es sich um Cape-artige, textile Kleidungsstücke, die aus bis zu drei übereinander tragbaren, an unterschiedliche klimatische Verhältnisse adaptierbaren Stoff- oder Materialschichten (subtropical layer, watertight shell und subartic layer) bestehen. Ähnlich wie ‚intelligente‘ High-Tech-Mode, sogenannte smart clothes oder smart textiles4, ist jede dieser Schichten mit temperaturregulierenden Sensoren ausgestattet, sodass sich die Träger*innen auch unter den unwirtlichsten Bedingungen noch wohl in ihrer Haut bzw. in ihrer Kleidung fühlen (vgl. Mattingly 2004). Einzelne Capes sind zudem mit transportablen Solarzellen zur Strom- und Energieerzeugung oder GPS-Geräten zur Navigation ausgestattet; andere gewähren aufgrund ihrer spezifischen Materialeigenschaften Schutz vor gefährlicher UV-Strahlung oder Radioaktivität (ebd.).

4 Ein zeitgenössisches Label, das solche smart textiles herstellt, ist Data Paulette. Das in Paris ansässige Unternehmen kreiert Stoffe gegen Elektrosmog sowie Textilien, die mittels unsichtbarer integrierter Elektronik in Interaktion mit dem menschlichen Körper zu Licht-, Klang- oder Textquellen werden.

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Astrid Silvia Schönhagen

2  Mary Mattingly: Inflatable Home aus der Serie Nomadographies, 2007–09

Was diese Kleidungsstücke im Sinne Mattinglys zu Wearable Homes (am Körper tragbaren Heimen) macht, ist allerdings die Tatsache, dass sie in temporäre Behausungen verwandelt werden können. Die mit CamouflagePrints bedruckte äußere Schicht ihrer Wearable Portable Architecture von 2011 kann beispielsweise durch den Einsatz zusätzlicher Metallverstrebungen in einen zeltartig überkuppelten Unterstand transformiert werden, der sich durch das Verknüpfen mit weiteren typengleichen Capes beliebig erweitern lässt. Andere Formen von Schutz- oder Wohnräumen lassen sich mit den Kleider-Objekten der Wearable-Homes-Serie aus den Jahren 2004 bis 2009 schaffen; bei ihnen ist es die mittlere Schicht, the watertight shell, die speziell für humide Klimazonen konzipiert ist und sich bei Kontakt mit übermäßig großen Wassermengen in einen kokonartigen pneumatischen Schutzraum verwandelt (Abb. 2). Den integrierten aufblasbaren Matratzen oder auseinanderfaltbaren Hängematten kommt hierbei die Funktion zu, zumindest ansatzweise ein Gefühl von Behaglichkeit oder Wohnlichkeit zu

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Habitate der Mobilität

3  Michael Webb: Cushicle im aufgeblasenen Zustand (Phase 6), 1966

vermitteln. Im Zusammenspiel mit diesen affektiv aufgeladenen Möblierungen des Häuslichen entsteht, so die Wunschvorstellung der Künstlerin, ein minimalisierter Wohnraum, „a space we [love to] move in and out of daily“ (Mattingly 2004). Sowohl in den Titeln als auch in der Konzeption und der Ausführung ihrer Wearable Homes nimmt Mattingly damit Bezug auf das Prinzip der Tragbaren Architektur (siehe Schönhagen 2020). Dieses Konzept hielt in den 1990er Jahren Einzug in den Mode- und Kunstdiskurs, als Conceptual-Fashion-Designer wie Martin Margiella, Junya Watanabe oder Issey Miyake mit ihren dekonstruktivistischen Kleiderentwürfen nicht nur die Grenzen der Mode im Allgemeinen, sondern auch die zwischen Architektur und Mode verschoben (vgl. Quinn 2003, S. 4–9, 65–76). In diesem Kontext entwickelte die britische Künstlerin Lucy Orta 1992/93 ihr Habitent, ihr erstes wandelbares Kleidungsstück, das zum Prototyp

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Astrid Silvia Schönhagen ihrer in den Folgejahren entstehenden Körper-Architekturen aus der Serie Body Architecture (1992–98) werden sollte. Im Laufe der Zeit traten dabei an die Stelle des Regencapes, das in ein Igluzelt verwandelt werden kann, immer umfangreichere architekturale textile Gebilde für vier oder mehr Personen (siehe Johung 2013, bes. S. 26–35). Auch von anderen Künstler*innen wurde Ortas Konzept der kleidsamen Körper-Architekturen aufgegriffen – in jüngerer Vergangenheit z. B. von der kolumbianischen, in Bremen lebenden Künstlerin Daniela Reina Téllez, die sich auf der Suche nach der eigenen kulturellen Identität im Jahr 2015 in einem Zeltkleid auf eine Reise quer durch Mittel- und Südosteuropa begab. Gemeinsam ist all diesen temporären Behausungen, dass das Textile in Anlehnung an Marshall McLuhans Vorstellung von Kleidung als einer medialen Erweiterung des menschlichen Körpers zum Aushandlungsort von Körperlichkeit und Räumlichkeit in der Architektur wird (vgl. McLuhan 2005, S. 128–132). Mattinglys Camouflage-Capes aus der Serie Wearable Portable Architecture, die zu zeltartigen Strukturen zusammengefügt werden können, sind deutliche Reminiszenzen an derartige textile Architekturen. Andere wandelbare Kleider-Behausungen, wie ihr Inflatable Home (2008) aus der Serie Nomadographies (2007–09), erinnern hingegen stärker an Architekturutopien der 1960er und frühen 1970er Jahre. Verwiesen sei auf die experimentellen pneumatischen Wohnblasen von Archizoom, Superstudio, Haus-Rucker-Co, Coop Himmelblau oder Ant Farm, die sich gewissermaßen parasitär an bestehende Gebäude oder die Infrastruktur einer Stadt andocken lassen sollten. Am deutlichsten ist die konzeptuelle Nähe jedoch zu den inflatables der britischen Architektengruppe Archigram. Deren Mitglied Michael Webb entwickelte mit dem Cushicle (1964) und dem Suitaloon (1966) zwei für ,moderne‘ Freizeit- oder Teilzeit-Nomad*innen gedachte Raum-Anzüge („space suits“), bei denen die eigenen vier Wände in Form einer transparenten, aufblasbaren, mit diversem technischem Equipment ausgestatteten Kleiderhülle stets mit sich getragen werden können (Cook 1999, S. 80; siehe auch Kousidi 2018) (Abb. 3). Mit diesen oder anderen membranartigen Gehäusen bzw. minimalisierten Wohneinheiten suchten Webb und seine Zeitgenoss*innen, das klassische Konzept gebauter monumentaler Architektur sowie die damit verbundene steingewordene Trennung von Innen- und Außenraum zu überwinden. An ihre Stelle setzten sie – zweifellos beeinflusst von den Schriften des Architekturtheoretikers Reyner Banham sowie

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Habitate der Mobilität Marshall McLuhans Konzept von der Kleidung „as an extension of the skin“5 – die Vorstellung flexibler semi-permeabler Kuppeln oder bubbles, in deren Innern ein künstliches, von technischen Apparaturen aufrechterhaltenes environment, eine Art räumlich begrenztes Mikro- oder ,Umgebungsklima‘, geschaffen wird (vgl. Sprenger 2017, S. 190–193). Florian Sprenger hat dies wie folgt auf den Punkt gebracht: „Environmental bubbles6 fügen durch eine Abtrennung von Innen und Außen in eine Umgebung etwas anderes als die Umgebung ein. Es handelt sich um Umgebungen, welche die Abhängigkeit ihres Inneren vom Äußeren exemplifizieren […]“ (ebd., S. 190). Und weiter führt er aus: „Jedes environment hat ein anderes environment zur Hülle. Es handelt sich also um einen radikal relationalen Raum, in dem jeder Ort einer Umgebung abhängig ist von anderen Umgebungen.“ (Ebd.) Die Radikalität eines Architekturbegriffs, wie ihn etwa Banham in seiner Schrift The Architecture of the Well-tempered Environment (1969) entwickelt, besteht folglich darin, dass „Architektur […] nicht mit einem konstruierenden Akt oder dem Ziehen einer Mauer beginnt, die das Innen vom Außen trennt, sondern mit der Modifizierung eines environment“ sowie dessen Relation zu den darin lebenden Organismen respektive Bewohner*innen (vgl. Sprenger 2015, S. 60–63, Zitat S. 62). Ähnlich spannen auch Mattinglys in temporäre Behausungen transformierbare Wearable Homes, insbesondere ihre inflatables, relationale Räume auf, indem sie mit ihren textilen Wänden ein geschütztes Innen von einem bedrohlichen Außen, sprich einer als explizit menschenfeindlich erachteten Umwelt (hohe UV-Strahlung, Radioaktivität, überflutete oder aride Landstriche …), trennen.7 Das Volumen dieser Räume wird – ebenso

5 McLuhan schreibt 1964 in Understanding Media. The Extensions of Man: „Clothing, as an extension of the skin, can be seen as a heat-control mechanism and as a means of defining the self socially. In these respects, clothing and housing are near twins, though clothing is both nearer and elder; for housing extends the inner heat-control mechanisms of our organs, while clothing is a more direct extension of our surface of the body” (McLuhan 2005, S. 130f.). 6 Reyner Banham spricht von „environment-bubbles“ (Banham 1965, S. 77). 7 Die hier aufgerufene Vorstellung der textilen Wand wird erstmals von Gottfried Semper in seiner Schrift Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten (1860) formuliert. In dieser entwicklungsgeschichtlich orientierten Stil- und Materialgeschichte der Architektur bezeichnet der Autor „künstlich gewirkte[ ] und zusammengenähte[ ] textile[ ] Wände“ als die einzig „wahren und legitimen Repräsentanten der räumlichen Idee“ (Semper 2008, S. 229). Des Weiteren führt er aus: „[…] so bleibt gewiss[,] dass die Benützung grober Gewebe […] als ein Mittel das ‚home‘, das Innenleben, von dem Aussenleben zu trennen und als formale Ge-

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Astrid Silvia Schönhagen wie bei Webbs miniaturisierten Wohnblasen, die dieser nicht von ungefähr als „minimal house[s]“ oder „clothing for living in“ bezeichnet (Cook 1999, S. 80) – vom Träger*innen-Subjekt bestimmt, ist also abhängig von der Konfektionsgröße der potenziellen Bewohner*innen sowie der Anzahl der miteinander verknüpften Gewänder. Die ‚Architekturen‘ von Mattinglys tragbaren Heimen sind somit, wie die Künstlerin selbst ausführt, das Ergebnis eines „interplay between physical space, network space, and the mental space“ (Mattingly 2004).

The New Mobility of Home8 – Unbehaustes Wohnen oder: Mobilität als Paradigma Webbs pneumatische Ein-Personen-Wohnblasen und Mattinglys Wearable Homes unterscheiden sich jedoch in einem wesentlichen Punkt: Webbs „space suits“ für ,moderne‘ Stadtnomad*innen sind Ausdruck einer allgemeinen Technik- und Mobilitätsbegeisterung, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts fast den gesamten Globus erfasste. Mattinglys Tragbare Architekturen hingegen sollen ihren Bewohner*innen Schutz und Obdach in einer menschenfeindlichen Umgebung gewähren, die sie zu Klimaflüchtlingen nicht nur in der eigenen Heimat gemacht hat. Sie spiegeln die pessimistisch-dystopische Zukunftsvision einer Gegenwartskünstlerin, die mit Fug und Recht als Repräsentantin einer Generation umweltbewusster, in den 1970er und frühen 80er Jahren geborener US-Amerikaner*innen gelten kann. Mobilität ist bei Mattingly folglich nicht mehr Ausdruck eines positiv konnotierten Lebensgefühls wie noch in den Jahrzehnten vor ihrer Geburt. Ganz im Gegenteil: Sie ist die einzig logische, unabwendbare Konsequenz der äußeren Lebensbedingungen in einer nicht allzu fernen Zukunft, die alle heute noch sesshaften Erdbewohner*innen ungeachtet ihrer kulturellen, ethnischen,

staltung der Raumesidee, sicher der noch so einfach konstruirten Wand aus Stein oder irgend einem anderen Stoffe voranging“ (ebd., S. 228). 8 Dies ist der Titel einer gleichnamigen Fotografie aus Mattinglys Serie Second Nature (2005/06), die eine ihrer Tragbaren Architekturen zeigt.

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Habitate der Mobilität nationalen oder religiösen Herkunft zu globalen Nomad*innen machen und in ein präneolithisches Zeitalter zurückwerfen wird.9 Angesichts dessen stellt Mattingly fest: „My work proposes a world returned to nomadic roots following a peripatetic population constantly on the move. It expects that in the near future, much more of the world’s population will be forced to be nomadic“ (zit. n. ArtWorksForChange o. J.). Als konkrete Ursachen für dieses Unbehaustsein in der Welt führt die Künstlerin den gegenwärtigen Raubbau an der Natur an, der ihrer Meinung nach nicht nur unweigerlich zur Vernichtung der Lebensgrundlagen der Menschen, sondern langfristig auch zu politischen und gesellschaftlichen Verteilungskämpfen führen wird (vgl. Jones/Mattingly 2013). Betrachtet man die Beweggründe für die Entwicklung ihrer Tragbaren Architekturen, haben Mattinglys Wearable Homes also mehr gemeinsam mit Ortas Body Architectures als mit Webbs Cushicle oder Suitaloon, denn beide Künstlerinnen konzipierten ihre Körper-Architekturen, um Migrant*innen und Flüchtenden ein Obdach zu geben. Während Orta ihre wandelbaren Textilien allerdings in erster Linie als Reaktion auf gewaltsame politische Konflikte und Kriege der 1990er Jahre entwickelte (vgl. Johung 2013, S. 28), offenbart sich in Mattinglys Wearable Homes die Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlichen Diskurs, der vornehmlich durch dystopische, postapokalyptische Umwelt- oder Schreckensszenarien bestimmt ist. Solche Narrative hatten im neuen Millennium nach der Verabschiedung des Kyoto-Protokolls (1997) sowie dem Scheitern der Kopenhagener UN-Klimakonferenz (2009) allerorts wieder vermehrt Verbreitung gefunden – nicht nur unter Umweltschützer*innen, sondern auch in der Populärkultur. Erinnert sei z. B. an Roland Emmerichs Kassenschlager The Day After Tomorrow (2004), der etwa zeitgleich mit Mattinglys ersten Wearable Homes entstanden ist, oder an Nick Copus’ Zweiteiler Ice – Der Tag, an dem die Welt erfriert (2011). In beiden Filmen wird in reißerischer Hollywood-Manier geschildert, wie mit New York und London zwei westliche Metropolen binnen weniger Stunden oder Tage infolge eines plötzlichen, von Menschenhand verursachten Temperatursturzes bzw. Klimawandels zu Eiswüsten erstarren und die völlig überraschten Bewohner*innen zu Klimaflüchtlingen im eigenen Land werden. Auch in Sachbüchern 9 Das Neolithikum, auch Jungsteinzeit genannt, gilt als die Epoche der Menschheitsgeschichte, in der die Europäer*innen sesshaft wurden.

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Astrid Silvia Schönhagen oder Dokumentarfilmen haben, so Alexa Weik von Mossner, fiktionale Katastrophen-Narrative seit der Jahrtausendwende Hochkonjunktur; hier werden sie allerdings zur „Science-Fiktionalisierung“, d. h. zur plakativen Untermauerung wissenschaftlich fundierter Klimaszenarien herangezogen (vgl. Weik von Mossner 2015, S. 246–249, Zitat S. 247). An dieser ‚Kultur dystopischer Schreckensszenarien‘ partizipiert Mattingly. Als Umweltaktivistin würde sie daher sicher mit Friedrich von Borries übereinstimmen, der in seiner Schrift Klimakapseln. Überlebensbedingungen in der Katastrophe (2010) prognostiziert: „Vertraut man den Aussagen der Wissenschaft, steuern wir auf eine Klimakatastrophe zu. Erderwärmung. Polkappenschmelze. Dürre und Überschwemmung. Unfruchtbarkeit. Eine Welt mit verstärkter globaler Ungleichheit, Klimaflüchtlingen, Ressourcenkriegen. Wenn wir den Klimawandel nicht abwenden, müssen wir uns anpassen. Unsere Wohlstandsinseln werden technologisch perfekte Klimakapseln, militärisch und atmosphärisch geschützt.“ (Borries 2010, S. 7f.) Mattinglys Antwort auf derart düstere Zukunftsaussichten sind ihre transformierbaren Wohn-Capes, die sie selbst als „metaphors for a future based on the most rudimentary and distored survival“ (Jones/ Mattingly 2013) bezeichnet, „[textile metaphors that] tell the story of a future when place-specificity is no longer necessary“ (ebd.). Mit ihnen führt sie anschaulich vor Augen, dass angesichts kollabierender Ökosysteme, selbstverschuldeter Umweltkatastrophen sowie damit einhergehender politischer Konflikte und Verteilungskämpfe das Überleben der Menschheit ihrer Ansicht nach nur durch eine nomadische Lebensweise gesichert werden kann. Die Behausungs- oder Daseinsform, die diesen Realitäten am ehesten entspricht, ist die eines temporalisierten, ortsungebundenen, nicht-gebäudezentrierten, eben unbehausten Wohnens. Diese sieht Mattingly sowohl konzeptuell als auch materiell in den „post-apocalyptic survival suits“ ihrer Wearable Homes repräsentiert (Hodgens 2016).

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Wider die menschliche Fragilität im Angesicht der Natur – Von dystopischen Landschaftsszenarien zu Tragbaren CamouflageArchitekturen fürs Anthropozän Wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben, modifiziert Mattingly das Konzept der Tragbaren Architekturen dahingehend, dass sie das postmoderne Theorem des nomadischen Subjekts mit der für sie besonders virulenten Thematik des Klima- und Umweltschutzes verknüpft. Ein Aspekt, der in diesem Kontext spezielle Aufmerksamkeit verdient, ist die visuelle Inszenierung ihrer Wearable Homes, auf die bisher noch nicht näher eingegangen wurde. Betrachtet man die beiden Serien Second Nature (2004–08) und Nomadographies (2007–09), fällt auf, dass die Künstlerin gezielt ästhetisierte dystopische Umweltsettings kreiert, um ihre Tragbaren Architekturen ins Bild zu setzen. Hierzu fotografiert sie die meist von ihr selbst getragenen Wohn-Capes entweder in unwirtlichen Gegenden, etwa wüstenartigen Landstrichen oder Feuchtgebieten, oder sie fügt sie mithilfe digitaler Bildbearbeitung nachträglich in entsprechende Szenerien ein (vgl. Bodin 2016, S. 92). Gregory Jones hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese präzise durchkomponierten Fotografien und Fotomontagen, die deutliche Anklänge an die surreal anmutenden Landschaftsdarstellungen des Künstlerduos Robert & Shana ParkeHarrison aufweisen, fast ausnahmslos vereinzelte menschliche Gestalten zeigen (vgl. Jones/Mattingly 2013). Mit derartigen Bildformeln nimmt Mattingly, so ist ergänzend anzumerken, bewusst Bezug auf das Narrativ vom letzten Menschen: Die in den postapokalyptisch anmutenden Landschaftsszenerien gespiegelte Krise der Natur wird zur Krise des*der Einzelnen, was sich in seiner*ihrer visuell eingefangenen Isolation und dem Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Sein in einer als menschenfeindlich imaginierten Umgebung widerspiegelt. Die Fotografien sind demnach Anti-Chiffren unberührter Natur, in denen sich Mattinglys ganz persönliche Kritik am derzeitigen Raubbau an der Natur offenbart, der ihrer Meinung nach unweigerlich in die ökologische Katastrophe führt.

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4  Mary Mattingly: Desert Deployment aus der Serie Wearable Portable Architecture, 2011

Bemerkenswert ist, wie die Künstlerin und Umweltaktivistin angesichts dessen gezielt Wohn-, Mode-/Textil- und Umweltdiskurse miteinander verschaltet. Sehr eindrücklich tritt dies in einzelnen ihrer Arbeiten aus der Serie Wearable Portable Architecture (2011) zutage (Abb. 4). Die Fotomontage Desert Deployment beispielsweise zeigt in einer felsigen Karstlandschaft, in der selbst die schüttere Vegetation den Kampf ums Überleben verloren zu haben scheint, eine quasiskulpturale textile Wabenstruktur, die sich bei näherer Betrachtung als aus mehreren typengleichen, camouflierten Wohn-Capes zusammengefügt erweist. So entsteht ein aus insgesamt fünf Hexaedern zusammengesetzter, mehrere Meter umspannender Unterstand, der wie eine Mischung aus Luca Ortas miteinander verknüpfbaren Körper-Architekturen und einer textilen Versi-

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Habitate der Mobilität on von Richard Buckminster Fullers geodätischen Kuppeln wirkt und das darunter befindliche Areal schützend umgibt. Bereits in den 1960er und frühen 1970er Jahren hatten einzelne Architekt*innen im Zuge der aufkommenden Umweltbewegung damit begonnen, schützende Hüllen über (Landschafts‑)Arealen zu errichten. Eines der wohl prominentesten Beispiele ist das Projekt Cover – Überleben in verschmutzter Umwelt von Haus-Rucker-Co (Abb. 5). Angesichts ihrer düsteren Prognose, wonach sich in naher Zukunft Straßen in „Gaskammern“ und „Flüsse in zähe Giftbrühen“ verwandeln könnten, spannte das Architektenkollektiv im Jahr 1971 eine riesige pneumatische Schutzkuppel über Haus Lange in Krefeld, die sich im Innern wiederum in verschiedene, räumlich voneinander getrennte Klimazonen (zum Schlafen, Miteinander-Kommunizieren oder ‚Sauerstoff-Tanken‘) gliederte (vgl. Haus-Rucker-Co 1971, Zitat im Vorwort, o. S.). Vergleichbar ist auch der – allerdings Utopie gebliebene – gewaltige gläserne Dome over Manhattan, den Buckminster Fuller und Shoji Sadao 1960 angesichts einer drohenden atomaren Katastrophe über das New Yorker Stadtzentrum legen wollten.10 Mattinglys in der Fotografie Desert Deployment abgebildete Wearable Portable Architecture ist eine miniaturisierte, textilisierte Variante solcher über ein größeres Areal oder eine (Stadt‑)Landschaft gespannten Raumkapseln. Allerdings ist sie nicht durchsichtig wie die erwähnten Beispiele, sondern sie fügt sich – ähnlich wie Camouflage-Architektur – aufgrund ihrer Musterung sowie der strukturellen Ähnlichkeit des Gesamtgebildes mit den Bergen im Hintergrund nahtlos in die Umgebung ein.11 Das aus der Tierwelt entlehnte Prinzip der disruptive patterns, das hier zur Anwendung respektive Anschauung kommt und das heute fast ausschließlich mit militärischer Tarnkleidung assoziiert wird, wurde erstmals 1890 von dem Zoologen Edward Poulton in seinem Buch The Colours of Animals beschrieben und 1909 von Abbott Thayer, einem Maler und Naturalisten, 10 In Form des Dome over Springfield fand diese Kuppel im Zeichentrickfilm The Simpsons Movie (2007) sogar Eingang in die Populärkultur. Hier ist es ein gewaltiger dome, der über der Stadt Springfield errichtet werden muss, nachdem die lokale Wasserversorgung durch eigentlich zur Biogasgewinnung gedachten Schweinedung verseucht worden ist – verantwortlich ist selbstredend einmal mehr Homer Simpson. 11 Beispiele für Camouflage-Architekturen sind die Tours Aillaud (auch Tours Nuages) im Pariser Vorort Nanterre, entworfen 1977 nach Plänen des französischen Architekten Émile Aillaud, oder das Virtual House (1997) des Londoner Designstudios Foreign Office Architects (FAO).

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5  Haus-Rucker-Co: Traglufthalle – Verhüllungsprojekt des Hauses Lange, 1971

als solches benannt (vgl. Newark 2007, S. 12–34). Charakterisiert werden damit abstrakte, schwer unterscheidbare Muster, die die Gestalt von Lebewesen ‚verfälschen‘ und ihnen durch Mimese oder Mimikry einen evolutionären Vorteil gegenüber anderen Spezies verschaffen. D. h., disruptive patterns erleichtern es von Räubern besonders bedrohten Tierarten, sich an einen spezifischen Lebensraum, ein sogenanntes Habitat, anzupassen und dort zu überleben. In diesem ursprünglichen Sinne findet das Prinzip der Camouflage auch bei Mattingly Anwendung. In Weiterentwicklung ihrer nur wenige Jahre zuvor entstandenen Wearable Homes aus den Serien Second Nature (2004–08) und Nomadographies (2007–09), deren Augenmerk darauf gerichtet war, durch die Schaffung eines künstlichen environment Schutz vor einem feindlichen Außen zu bieten, kommt ihren verknüpfbaren, potenziell ins Unendliche erweiterbaren Camouflage-Architekturen die Aufgabe zu, das Überleben ihrer Bewohner*innen durch Tarnung, also durch Adaptation an ein spezifisches Habitat zu sichern. Damit nimmt Mattingly eine nicht unwesentliche Fokusverschiebung gegenüber ihren früheren Ein-Personen-Wearable-Homes vor: Ihr Interesse verlagert sich von der

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Habitate der Mobilität Schaffung eines schützenden Wohnraums innerhalb eines Habitats hin zur gezielten Adaptation an ein ebensolches. Dies impliziert, dass die in ein Spiel von Sichtbar- und Unsichtbarkeit eingebundene wandelbare Kleidung (frz. habit) – ebenso wie die sie bewohnenden Menschen – selbst Teil des sie aufnehmenden Ökosystems, des Habitats, wird. Gleichzeitig wird das mobilisierte temporäre Wohnen der Zukunft als ein Wohnen in Gemeinschaft gedacht, denn erst im Schutz der Gruppe, d. h. durch den Zusammenschluss mehrerer Menschen zu einer ‚Haus- oder Wohngemeinschaft‘, steht eine ausreichende Anzahl von Camouflage-Capes zur Verfügung, die zu einer schützenden Behausung verknüpft werden können. Architektur offenbart sich folglich als ein sozial determiniertes Gefüge oder Konstrukt von Räumlichkeit. Vor diesem Hintergrund sei daran erinnert, dass der Begriff der Hausgemeinschaft und der der Ökologie terminologisch eng miteinander verknüpft sind: In der Antike bezeichnete das altgriechische Wort oikos (dt. Haus) nämlich eine Wirtschafts- oder Hausgemeinschaft, die durch das Verhältnis ihrer Mitglieder (Familienangehörige, Sklav*innen und Bedienstete) zum Hausherrn gekennzeichnet war. Auch der Begriff der Ökologie, der sich direkt vom griechischen oikos ableitet, wurde von Ernst Haeckel 1866 erstmals in den Wissenschaftsdiskurs eingebracht, um Wechselbeziehungen von ‚Bewohner*innen‘ innerhalb eines Lebensraums zu beschreiben; als Teil der Physiologie setzt sich die Ökologie daher bis heute mit den Beziehungen der Organismen untereinander sowie deren Verhältnis zu der sie umgebenden Umwelt, sprich ihrem ‚Zuhause‘ auseinander (vgl. Bühler 2016, S. 8f.). Mattingly treibt dieses wechselseitige Beziehungsgeflecht zwischen Bewohner*innen und Umwelt respektive Wohn- oder Lebensraum auf die Spitze, indem sie im Falle ihrer Tragbaren Camouflage-Architekturen Kleidung (frz. habit), Wohnung/ Behausung (engl./frz. habitation) und Lebensraum/Habitat in einem schützenden environment, einer Art textilen Ökosphäre, zusammenfallen lässt. Ihre Wearable Homes sind entsprechend Habitate der Mobilität, in denen das in einer postapokalyptischen Ära grundlegend gewandelte Mensch-Umwelt-Verhältnis in der Notwendigkeit zur gemeinschaftlichen Adaptation des Menschen an die Natur (und nicht mehr umgekehrt der Natur an den Menschen) zum Ausdruck kommt. Anders als Thomas Doyle, der mit seinen zu Beginn des Artikels erwähnten ‚stillgestellten‘, in Glas konservierten Miniaturökosystemen die Menschheit angesichts einer bedrohlichen Umwelt ratlos zurücklässt,

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Astrid Silvia Schönhagen eröffnet Mattingly den Erdbewohner*innen mit ihren Wearable Homes also einen Ausweg aus der Ökokalypse. Hierzu zeigt sie nicht nur die Dringlichkeit, sondern auch die Möglichkeiten der Anpassung an die geänderten Umweltbedingungen auf. Konsequenterweise wendet sich die Künstlerin in der Folge vermehrt der Frage zu, wie wir nachhaltig leben und wirtschaften können, um die Auswirkungen des gegenwärtigen Klimawandels abzuschwächen oder zu stoppen. Ausdruck dieser Wendung in ihrem Œuvre sind ihre weiter vorne vorgestellten schwimmenden environments, mit denen Mattingly ganz gezielt auf Mitigation statt auf Adaptation setzt. Die wichtigsten strukturellen Merkmale ihrer mobilisierten Ökosphären oder Öko-Habitate sind allerdings bereits in ihren Wearable Homes angelegt, etwa in Formen gemeinschaftlichen Wohnens und Wirtschaftens oder im Einsatz geometrisierender, an die Natur angelehnter Formen, die später in geodätischen domes à la Buckminster Fuller ihren Widerhall finden. Mattinglys schwimmende Habitate und bepflanzte Kuppeln, mit denen sie gegenwärtig an den Ufern des Hudson River in New York vor Anker liegt, sind demnach die logische Konsequenz und Weiterentwicklung ihrer Tragbaren Architekturen, insbesondere ihrer textilen Camouflage-Habitate.

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Habitate der Mobilität Literatur Anderson 2007 Andersen, Christine F. et al.: The New Orleans Hurricane Protection System: What Went Wrong and Why. A Report by the American Society of Civil Engineers Hurricane Katrina External Review Panel, 2007, Online-Version abrufbar unter: https://as celibrary.org/doi/pdf/10.1061/97807844 08933 (8.1.2019). ArtWorksForChange o.  J. ArtWorksForChange: Mary Mattingly, Kurzporträt der Künstlerin auf der Online-Plattform der Non-Profit Corporation ArtWorksForChange, o. J., http://www.artworksfor change.org/portfolio/mary-mattingly (21.1.2019). Banham 1965 Banham, Reyner: A Home Is Not a House, in: Art in America, H. 2, 1965, S. 70–79. Bodin 2016 Bodin, Claudia: Was vom Konsum übrig blieb, in: art. Das Kunstmagazin, März 2016, S. 86–93. Borries 2010 Borries, Friedrich von: Klimakapseln. Überlebensbedingungen in der Katastrophe, Berlin: Suhrkamp 2010. Bühler 2016 Bühler, Benjamin: Ecocriticism. Grundlagen – Theorien – Interpretationen, Stuttgart: Metzler 2016. Cook 1999 Cook, Peter (Hg.): Archigram, New York: Princeton Architectural Press 1999. Gumbrecht 2018 Gumbrecht, Hans Ulrich: Die Ökokalypse, in: Welt am Sonntag, Nr. 18, 6.5.2018. Hahn 2015 Hahn, Daniela: Einleitung, in: dies.; Erika Fischer-Lichte (Hg.): Ökologie und die Künste, Paderborn: Wilhelm Fink 2015, S. 9–27. Hodgens 2016 Hodgens, Mary Lee: Mary Mattingly. Mass and Obstruction, in: Mass and Obstruction, Ausst.-Kat. Light Work, Syracuse

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Abbildungsnachweise Abb. 1: © Thomas Doyle. Abb. 2: © Mary Mattingly. Abb. 3: Guiheux, Alain et al. (Hg.): Archigram, Ausst.-Kat. Centre Georges Pompidou, Paris: Éd. du Centre Pompidou 1994, S. 116. Abb. 4: © Mary Mattingly. Abb. 5: Foto: © Kunstmuseen Krefeld – Manfred Vollmer – ARTOTHEK.

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Franziska Rauh When Car Culture Meets Rape Culture Das Auto als Verhandlungsraum sexualisierter Gewalt in Three Weeks in May (1977) von Suzanne Lacy und in Hollywood-Filmen Mit der Absicht, die breite Öffentlichkeit auf die Alltäglichkeit von Vergewaltigungen in Los Angeles aufmerksam zu machen und einen Raum für den ermächtigenden Austausch von Betroffenen zu schaffen, realisierte die kalifornische Künstlerin Suzanne Lacy im Jahr 1977 ihre vielschichtige Performance Three Weeks in May. Die räumliche Verortung von Übergriffen spielte in diesem künstlerischen Projekt eine zentrale Rolle. In Abgrenzung zu verschiedenen statischen Innen- und Außenräumen, auf die Lacy in diesem Kontext verwies, fällt besonders das Auto als mobiles Gehäuse auf. Im Folgenden werde ich, ausgehend von Three Weeks in May, die Bedeutung des Automobils in der öffentlichen Verhandlung sexualisierter Gewalt genauer betrachten. Mich interessiert dabei vor allem, wie sich das in der künstlerischen Arbeit produzierte automobile Wissen sowie die damit verknüpften geschlechtsspezifischen Zuschreibungen zu gesellschaftlich dominanten Aussageproduktionen in diesem Themenbereich verhalten. Dafür stelle ich zunächst die Rolle des Autos in Three Weeks in May vor, um danach an drei Filmbeispielen relevante Aspekte seiner popkulturellen Verhandlung mit besonderem Fokus auf der Rolle von Geschlecht, Sexualität und Gewalt zu beleuchten. Vor dieser Folie

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When Car Culture Meets Rape Culture reflektiere ich abschließend die Aussagen von Three Weeks in May erneut im Hinblick auf die Frage, inwiefern sie als kritische Positionierungen zu den filmischen Erzählungen gelesen werden können.

Three Weeks in May im Radio und das vehicle im Tatverlauf sexualisierter Übergriffe In Kollaboration mit der Künstlerin Leslie Labowitz organisierte Suzanne Lacy für Three Weeks in May eine Vielzahl künstlerischer Performances und aktivistischer Veranstaltungen, die in der Zeit vom 8. bis zum 28. Mai 1977 über den Stadtraum von Los Angeles verteilt stattfanden. Unterstützt wurde das Projekt von zahlreichen Künstler*innen, Aktivist*innen, kulturellen Einrichtungen sowie von Vertreter*innen aus Politik und Medien. Zentraler künstlerischer Ausgangspunkt von Three Weeks in May war die Installation Rape Maps, für die zwei große Straßenkarten von Los Angeles an der Außenwand einer Galerie im Stadtzentrum angebracht wurden. Die eine Karte zeigte Orte und Institutionen, die Unterstützung für Betroffene anboten. Auf der anderen markierte Lacy jeden Tag die gemeldeten Vergewaltigungen. Die entsprechenden Informationen über die Übergriffe stellte ihr das Los Angeles Police Department zur Verfügung (Lacy 1977). Auf der Basis dieser Polizeiberichte gestaltete Lacy auch einen Beitrag für die Radiokunst-Sendereihe Close Radio beim lokalen Sender KPFK. Der Mitschnitt der Sendung des ansonsten eher schlecht dokumentierten Gesamtprojekts liefert uns Angaben zu den Fällen sexualisierter Gewalt, die in Three Weeks in May zentral verhandelt wurden.1 Am 16. Mai 1977 verlas Lacy über mehr als zehn Minuten die redigierten Polizeiberichte der vorangegangenen Tage live im Radio. Immer der gleichen Struktur folgend – Datum, Uhrzeit, Ort, kurze Beschreibung

1 Auf der Website des J. Paul Getty Museum ist ein Auszug als digitalisierter Live-Mitschnitt von Close Radio (vom 16.5.1977, 10:59 Minuten), als Teil der Ausstellung Evidence of Movement am Getty Research Institute (2007), zu finden unter Listen online: http://www.getty.edu/art/exhibitions/evidence_movement/ close_radio.html (21.01.19).

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Franziska Rauh des Geschehens und schließlich das Alter des Opfers2 ­– schilderte sie 32 Vergewaltigungen und Vergewaltigungsversuche. Auffällig häufig – und deswegen auch im Fokus meiner weiteren Ausführungen stehend – spielt das vehicle eine prominente Rolle in den Übergriffen, sowohl als Beförderungsmittel zum bzw. vom Tatort weg als auch als Tatort selbst. Als Hörer*innen erfahren wir weiterhin meist kurz, wie es dazu kam, dass sich die Opfer mit ihren Angreifern im Fahrzeug befanden. Diese Szenarien lassen sich grundsätzlich in freiwillige und unfreiwillige Mitfahrten unterteilen. In den meisten Fällen wurde die Mitfahrt bereits zu Beginn erzwungen. Durch die nachträgliche Androhung oder Ausübung von (Waffen-)Gewalt wurde vereinzelt aus einer zunächst freiwilligen Fahrt im weiteren Verlauf eine unfreiwillige. Bei den Opfern handelte es sich selten um die Fahrerin des Fahrzeugs, sondern überwiegend um die Beifahrerin, die als Anhalterin oder Passantin kurz vorher zugestiegen bzw. zum Zustieg gezwungen worden war. Die Täter werden sowohl als ‚unbekannte Fremde‘ als auch als Arbeitskollegen, Freunde oder sonstige Bekannte ausgewiesen. In Three Weeks in May erscheint das Auto als Objekt, in dem sich eine bestimmte Räumlichkeit mit spezifischen Handlungen und Subjekten kreuzt. Es wird deutlich, wie das Auto in vergeschlechtlichte Machtverhältnisse eingebunden ist und auch als Aushandlungsort von automobiler Geschlechtlichkeit fungiert. Lacys zentrales Anliegen mit Three Weeks in May war es, die problematischen gesellschaftlichen Geschlechtervorstellungen und geschlechtlichen Hierarchisierungen, die zur gesellschaftlichen Akzeptanz sexualisierter Gewalt beitragen, aufzuzeigen und zu dekonstruieren, „to break down the myths that support the rape culture“ (Lacy 1977, S. 67). In dieser Äußerung bezieht sich Lacy auf sogenannte Vergewaltigungsmythen, die als Set von Annahmen über Vergewaltigun-

2 Lacy verwendet in Three Weeks in May den Begriff victim, also Opfer. Ich werde diesen im Folgenden verwenden, wenn ich mich direkt auf die künstlerische Arbeit beziehe, ansonsten die Bezeichnung Betroffene, die von vielen Betroffenen und Unterstützer*innengruppen bevorzugt wird, die Opfer als Fremdzuschreibung und Form der nachträglichen Viktimisierung ablehnen. Lacy beschränkt sich in Three Weeks in May (1977) bewusst auf weibliche Personen als Opfer. Wenn auch nicht stringent eindeutig markiert, weist sie die Täter dagegen als männliche Personen aus. Dieser Einschränkung entsprechend beziehe ich mich im Weiteren auf weibliche Opfer und männliche Täter. In einer Re-Performance der künstlerischen Arbeit im Jahr 2012 erweiterte Lacy den Betroffenenkreis, wobei ihr Fokus weiterhin auf der Gewalt gegen Frauen lag.

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When Car Culture Meets Rape Culture gen (inklusive ihrer Ursachen, ihres Ablaufs, ihrer Folgen sowie der Täter und Betroffenen) darauf abzielen, sexualisierte Gewalt zu legitimieren, zu verharmlosen und den Betroffenen eine (Mit-)Schuld zuzusprechen. Letztlich wirken diese Vergewaltigungsmythen auf der Basis patriarchal geprägter Vorstellungen von geschlechtsspezifischem Verhalten und Sexualität. Beispiele für solche gesellschaftlich weit verbreiteten Annahmen waren und sind: Vergewaltigung ist Sex; Frauen tragen durch bestimmte Kleidung oder ‚aufreizendes‘ Verhalten eine Mitschuld an den Übergriffen; Frauen wollen vergewaltigt werden etc. (vgl. Sanyal 2017, S. 39f.). Die Vertreterinnen der zweiten Frauenbewegung in den USA sahen dieses vermeintliche Vergewaltigungs-Wissen und die daraus resultierende höchst problematische Haltung gegenüber den Betroffenen tief in der US-Kultur verankert (vgl. Griffin 1971). Gerade feministische Künstlerinnen machten zu dieser Zeit durch künstlerische Untersuchungen auf den Zusammenhang von massenmedial vermittelten Geschlechterbildern und der gesellschaftlichen Akzeptanz von sexistischem und gewalttätigem Verhalten gegenüber Frauen aufmerksam.3 Im Folgenden werde ich nun beispielhaft auf eben solche Formen der massenmedialen Bildproduktion eingehen, in denen das Auto eine zentrale Rolle spielt, und beleuchten, wie an ihm Geschlechterverhältnisse, Sexualität und Gewalt verhandelt werden. Ich beschränke mich dabei bewusst auf drei erfolgreiche Filme des US-amerikanischen Mainstream-Kinos. Aufgrund der breiten Rezeption stellen sie eine nicht zu unterschätzende Größe in der (inter-)diskursiven Vermittlung von Geschlechterwissen dar.

3 Siehe dazu beispielsweise Record Companie Drag Their Feet (1977) von Leslie Labowitz in Kollaboration mit der Organisation Women Against Violence Against Women (WAVAW), https://www.againstviolence.art/record-companies (18.3.19).

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Franziska Rauh

Zur Herstellung von prekärer weiblicher Automobilität im Spielfilm Thelma & Louise (1991) Allgemein ist das Auto im US-amerikanischen Mainstream-Kino ein weit verbreitetes Motiv und spiegelt damit dessen gesellschaftliche Omnipräsenz wider. Die Massenmotorisierung vollzog sich in den USA um einiges früher und umfassender als in anderen Ländern. Spätestens durch die Produktion des preiswerten Modell T von Ford in den 1920er Jahren wurde das Automobil zum unverzichtbaren Bestandteil und Symbol des modernen US-amerikanischen way of life (vgl. Löwe 2005, S. 255). Die (fast) uneingeschränkte Freude am automobilisierten Fahren wird in den sogenannten Roadmovies zelebriert. Vor allem die Bilder von US-amerikanischer Weite, die immer wieder durchfahren wird, bleiben den Zuschauer*innen im Kopf und werden dort nachhaltig mit einem positiven Gefühl motorisierter Freiheit verknüpft.4 Allerdings handelt es sich in den Filmen fast immer nur um männliche Vorstellungen von Freiheit bzw. die Freiheit wird beinahe ausschließlich von männlichen Fahrern verkörpert. Das Roadmovie Thelma & Louise (Ridley Scott, USA 1991) stellt wohl die bekannteste Ausnahme des Genres mit einer weiblichen Besetzung dar und schildert die Geschichte der beiden Titelheldinnen, die ihren von patriarchalen Strukturen geprägten Alltag verlassen. Hatten die beiden zunächst nur einen temporären Ausbruch geplant, sehen sie sich infolge eines Vergewaltigungsversuchs und der Tötung des Angreifers bereits kurz nach Beginn ihres Roadtrips zur Flucht nach Mexiko gezwungen. Dabei entfernen sich die beiden zunehmend von gesellschaftlichen Konventionen und begehen verschiedene Straftaten, die den ursprünglichen Wochenendtrip immer deutlicher zur Fahrt ohne Rückkehr werden lassen. Am Ende des Films fahren die beiden Protagonistinnen, nachdem sie von der Polizei umstellt worden sind, mit ihrem Auto über einen Klippenrand und damit augenscheinlich in den Tod.

4 Wobei es im Film Easy Rider (Dennis Hopper, USA), mit dem das Genre im Jahr 1969 erst richtig Fahrt aufnimmt, die seitdem legendären Motorräder der Firma Harley-Davidson sind, auf denen die Protagonisten die USA durchqueren.

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When Car Culture Meets Rape Culture Auch für die männlichen Pendants enden die Fahrten in Roadmovies häufig nicht gut oder sogar tödlich, beschreiben sie in diesem Genre doch überwiegend Prozesse temporärer oder „irreversibler Denormalisierung“ (Risholm 2003, S. 116). Allerdings werden in den Filmen mit Männern als fahrenden Protagonisten nicht die patriarchalen Verhältnisse als für die desolaten Ausgänge verantwortlich gezeigt – zumindest nicht vordergründig. In der Handlung von Thelma & Louise dagegen sind es von Beginn an gewalttätige Männer und frauenfeindliche Strukturen, angesichts derer sich die beiden Frauen erst zum Aufbruch und später zur Flucht gezwungen sehen. Ausgehend von dem Vergewaltigungsversuch werden im Film mehrere relevante Aspekte eines allgemeinen Vergewaltigungsdiskurses thematisiert, vor allem die Angst von Betroffenen vor einer Täter-Opfer-Umkehr in einem männerdominierten Justizsystem. Immer wieder werden Männer gezeigt, die sich Thelma und Louise gegenüber sexistisch verhalten, sie ausnutzen oder patriarchale Strukturen repräsentieren, von denen sich die zwei Protagonistinnen keine Unterstützung erhoffen (können). Der Film erweckt vielmehr den Eindruck, als würden sie für das Verlassen ihrer gesellschaftlich zugewiesenen Rollen zugunsten der automobilisierten Freiheit von Anfang an bestraft werden. Das Fahrvergnügen – für Männer durchaus legitim – scheint Frauen unabhängig von an den Haushalt gebundenen Tätigkeiten, wie dem Einkauf oder dem Transport der Kinder, auch filmisch nicht zugestanden zu werden. Der Film rekurriert damit auf die Ressentiments aus der Anfangsphase der weiblichen Motorisierung. Die Gegner sahen in der erweiterten Mobilität von Frauen eine gesellschaftliche Bedrohung für die traditionellen Rollenmuster allgemein und das Familienleben im Besonderen (vgl. Löwe 2005, S. 264). Das Auto selbst fungiert in Thelma & Louise insofern als treuer Komplize, als es den Ausbruch aus der ‚Normalität‘ erst ermöglicht und sein Innenraum zumindest einen temporären Schutzraum darstellt. Der Umstand, dass es sich um ein Cabriolet handelt, also um kein vollständig geschlossenes Gehäuse, kann als früher Hinweis auf die Brüchigkeit seiner schützenden Funktion gedeutet werden. Nicht zuletzt wird diese von der im weiteren Filmverlauf auftretenden Figur des Anhalters J. D. mühelos aufgehoben. Der Zustieg des attraktiven jungen Mannes markiert den Anfang einer verheerenden Begegnung für die beiden Frauen. Thelma wird auf der Plot-Ebene für den One-Night-Stand, für sie als verheiratete Frau ein nicht-normgemäßes Verhalten, unverzüglich sowie nachhaltig bestraft:

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Franziska Rauh J. D. stiehlt ihre Ersparnisse, woraufhin Thelma in einem Laden einen Raubüberfall verübt, der für die beiden Frauen den Punkt darstellt, an dem es endgültig kein Zurück mehr gibt. Besonders interessant ist an der Inszenierung des Anhalter-Motivs die ungewöhnliche Rollenverteilung. Weibliche Anhalterinnen im Film haben üblicherweise nach dem Zustieg in ein männlich besetztes Fahrzeug mit sexistischen Anzüglichkeiten und übergriffigem Verhalten zu rechnen, während in reinen Männersettings die Bedrohung eher durch die Ausübung körperlicher Gewalt besteht. Und auch in alltäglichen Diskursen über Vergewaltigung gilt das Per-Anhalter-Fahren für Frauen nahezu als Garantie für einen sexualisierten Übergriff. Die Konstellation von männlichen Anhaltern und weiblichen Fahrerinnen kommt in filmischen Erzählungen dagegen selten vor. Und wenn doch, wie in Thelma & Louise, stellt der männliche Anhalter augenscheinlich auch dann noch eine Bedrohung im bzw. für den weiblich besetzten Autoraum dar.

American Graffiti (1973): Geschlechterdifferenz und sexualisierte Gewalt als Teil automobilisierter Jugendkultur Eine weitere wichtige Rolle in der filmischen Verhandlung der automobilisierten US-amerikanischen Gesellschaft und ihrer Vorstellungen von geschlechtsspezifischem Verhalten spielen die zahlreichen Coming-ofAge-Filme, zu denen auch das nächste Beispiel zählt, auf das ich nun näher eingehen werde. Die Handlung von American Graffiti (George Lucas, USA 1973) findet beinahe ausschließlich im und am Auto statt. Über den Verlauf einer Nacht zeigt der Film vier junge Männer und deren (automobilisierte) Bewegungen im Kleinstadtraum, jenes kollektive und doch vereinzelte Cruisen als zentrale abendliche Beschäftigung der US-amerikanischen Jugend in den frühen 1960er Jahren. Das Setting besteht aus Orten der damaligen Freizeit- und Konsumindustrie, die sich seit der Verbreitung des Automobils entwickelt hatte und insbesondere die motorisierten jungen Erwachsenen als Zielgruppe adressierte (vgl. Löwe 2005, S. 259): Das Drive-in-Restaurant als Treffpunkt und Ort des temporären Verweilens gehören ebenso zum Bildrepertoire des Films wie Pärchen,

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When Car Culture Meets Rape Culture die an Aussichtspunkten parken, oder Autorennen, in denen waghalsige Fahrer ihren Mut unter Beweis stellen. Das Auto wird in diesem Kontext insbesondere als unverzichtbares Vehikel für die permanente Suche nach romantischen und/oder sexuellen Begegnungen in Szene gesetzt. Sein Innenraum stellt den zentralen Austragungsort von Beziehungsarbeit und (ersten) sexuellen Erfahrungen dar, mit der Rückbank als dem „classic erotic site of adolescence“ (Frankel 2001, S. 40). Es ist die umfassende Automobilität, die den jungen Erwachsenen einen Rückzugsraum bietet, fern von der unmittelbaren familiären und gesellschaftlichen Kontrolle (vgl. Löwe 2005, S. 259). Dabei zeigt American Graffiti das eigene Auto vor allem für die männlichen Protagonisten als notwendige Voraussetzung, um als potenzieller Partner in Betracht gezogen zu werden. Die weiblichen Figuren steigen lediglich zu und markieren damit gewissermaßen den Anfang einer (sexuellen) Beziehung oder zumindest die positive Kenntnisnahme des männlichen Werbens. Dessen Erfolgschancen scheinen in direktem Verhältnis zum jeweiligen Fahrzeug zu stehen: je leistungsstärker und schnittiger, desto begehrter sein Besitzer. Die souveräne Kontrolle über die Geschwindigkeit und maschinelle Kraft des Autos verleiht den männlichen Hauptfiguren eine zusätzliche sexuelle Anziehungskraft, während ihre Beifahrerinnen ihnen als verfügbare Counterparts gegenübergestellt werden (vgl. Hertling 2013, S. 113–117). Auch wenn sexualisierte Gewalt im Vergleich zu Thelma & Louise in American Graffiti kein zentrales Thema darstellt, wird übergriffiges Verhalten im automobilen Kontext doch mehrmals verhandelt. Beispielsweise wenn der Schulabgänger Steve wütend wird, weil sich seine Freundin Carol auf der Rückbank nicht gefügig zeigt. Das Auto wird hier nicht als Ort der Zurschaustellung einvernehmlicher heteronormativer Sexualität gezeigt, sondern als Raum, in dem von Männerseite sexualisierter Zwang ausgeübt wird. Den Eindruck, dass diese Möglichkeit grundsätzlich eng mit dem Auto verknüpft ist, vermitteln Äußerungen der Protagonistin Carol. Die junge Schülerin befindet sich eher zufällig im Auto des um einige Jahre älteren Milner, für den sie schwärmt, der auf ihre Flirtversuche jedoch nicht eingeht. Im Laufe der gemeinsamen Fahrt thematisiert sie mehrmals beiläufig die Vergewaltigung als eine Handlungsoption für Milner, der sie im Grunde zustimmen würde. Als sie sich einer Polizeikontrolle nähern, droht sie jedoch mit einem falschen Vergewaltigungsvorwurf, um ein Kompliment von ihm zu bekommen. Gegen Ende des Films geht Milner scheinbar auf

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Franziska Rauh Carols ‚Spiel‘ ein, bringt sein Auto an einer dunklen, unbefahrenen Straße zum Stehen und verkündet, dass er nun doch Sex mit ihr haben möchte. Es stellt sich allerdings heraus, dass er ihr damit ‚nur‘ Angst machen wollte, damit sie ihm endlich ihre Adresse verrät und er sie nach Hause bringen kann. Eine Vergewaltigung findet zwar nie statt, als Thema ist sie jedoch durchgängig zwischen den beiden Figuren präsent. Gerade weil Milner anscheinend zu keiner Zeit ebendiese Absicht verfolgt und letztlich als sehr verantwortungsvoll porträtiert wird, irritiert das dramaturgische Vorgehen. Es suggeriert, dass die Situation Mann und (junge) Frau im Auto eine Vergewaltigung als mögliche Konsequenz in sich birgt und korrespondiert mit einer Gleichsetzung von „automobiler und ‚weiblicher‘ Verfügbarkeit“ (Hertling 2013, S. 113). Höchst problematisch an American Graffiti ist außerdem der dramaturgische Einsatz einer Falschbeschuldigung als Reaktion auf verweigerte Aufmerksamkeit. Dadurch bestätigt der Film das gängige, die Glaubwürdigkeit von Betroffenen in Frage stellende Vorurteil, dass Frauen bei Zurückweisung häufig zu diesem ‚Mittel‘ greifen würden.

Nerd-Faktor und Victim-Blaming: Modi der Verharmlosung übergriffigen Verhaltens in der Teenager-Kömodie License to Drive (1988) Als drittes filmisches Beispiel möchte ich die Teenager-Komödie License to Drive (Greg Beeman, USA 1988), eine der erfolgreichen Produktionen mit ‚den zwei Coreys‘, den Teenie-Idolen Corey Haim und Corey Feldman, anführen. An ihr lässt sich besonders gut die Problematik der verharmlosenden Darstellung sexualisierter Gewalt im Film beleuchten. Im Mittelpunkt der Handlung stehen die drei männlichen Teenager Les, Dean und Charles und ihre Fahrt im von Les entwendeten Oldtimer seines Großvaters durch das nächtliche Los Angeles. Während dieser Fahrt wird in einer Szene der als nerdig-ungehobelt porträtierte Dean gezeigt, wie er den stark betrunkenen Zustand seiner Mitschülerin Mercedes,

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When Car Culture Meets Rape Culture die sich zu diesem Zeitpunkt mit ihm auf der Rückbank des Autos befindet, ausnutzt, um Fotos von ihren entblößten Brüsten zu machen. Sein Freund Les unterbindet das Geschehen energisch vom Fahrersitz aus und verliert dadurch kurzzeitig die Kontrolle über das Auto. An dieser Stelle suggeriert uns Zuschauer*innen der Film zwar, dass Deans Verhalten nicht akzeptabel ist und die vormals entspannte Fahrt der drei Freunde wortwörtlich aus der Spur bringt. Allerdings bleiben nachhaltige Konsequenzen für ihn aus. Er verweilt weiterhin auf dem Rücksitz, während Les die nahezu bewusstlose junge Frau für den Rest der Nacht ‚vorsichtshalber‘ in den Kofferraum legt. Das Zusammenspiel gängiger Hollywood-Motive – Teenager, Autos, Sexualität und Alkohol – bildet in License to Drive die Bühne für die legitimierende und bagatellisierende Darstellung von sexuell übergriffigem Verhalten, der Freiheitsberaubung einer widerstandsunfähigen Person sowie der Duldung dieser Taten durch die Figur Charles, der das Geschehen, ohne einzugreifen, vom Beifahrersitz aus beobachtet. Die Verharmlosung sexualisierter Gewalt funktioniert in der Komödie vor allem auf der Basis, dass die männlichen Teenager durch ihr sozial unbeholfenes und teilweise zögerliches Auftreten nicht solchen verbreiteten Täter-Vorstellungen entsprechen, die auf einer bedrohlich wirkenden Männlichkeit beruhen. Vielmehr macht der Film immer wieder deutlich, dass Mercedes als ‚beliebtestes Mädchen der Schule‘ in der sozialen Hierarchie über ihnen steht und ihr damit eigentlich eine machtvollere Position zukommt. Diese vermeintlich verdrehten Machtverhältnisse sind aber gerade seit den Teenager-Komödien der 1980er Jahre eine gängige filmische Trope, um sexistische Äußerungen und Handlungen von sogenannten Nerds als besonders harmlos darzustellen.5 Hinzu kommt, dass Mercedes durch die Filmlogik eine gewisse Mitschuld an dem übergriffigen Verhalten ihr gegenüber zugewiesen wird. Ihr übermäßiger Alkoholkonsum bringt sie erst in die bedrohliche Situation bzw. versetzt sie in einen wehrlosen Zustand. Ihr eng geschnittenes, tief dekolletiertes Kleid kann im Sinne gängiger Vergewaltigungs-Vorurteile als provozierend gelesen werden. Und schließlich suggeriert das Ende des Films, an dem Mercedes und Les ein Paar geworden sind, dass sie ihm die Geschehnisse der vorherigen Nacht nicht verübelt. Solche Re5 Diese Nerd-Trope wird beispielsweise in der Serie Big Bang Theory (Idee: Chuck Lorre/Bill Prady, USA 2007–2019) eingesetzt.

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Franziska Rauh präsentationen legitimieren und verharmlosen sexistisches Verhalten sowie sexualisierte Übergriffe, indem sie nahelegen, dass Frauen durch ihre Handlungen oder ihr Aussehen die Übergriffe selbst provozieren und eigentlich auch wollen. Sie (re-)produzieren damit auch Vorstellungen einer Sexualität, die auf dem dichotom konstruierten Zusammenspiel von aggressiver männlicher Sexualität und weiblicher Passivität, dem Wunsch nach Überwältigung bzw. vorgetäuschtem Widerstand beruhen (vgl. Sanyal 2017, S. 19). Zusammenfassend lässt sich für die drei angeführten filmischen Beispiele Thelma & Louise, American Graffiti und License to Drive feststellen, wie stark die an das Fahrzeug geknüpften Diskurse, Praktiken und Räume von Geschlechterdifferenzen durchzogen sind (vgl. Krasny 2006, S. 92). In sehr begrenzten Geschlechterrollen werden die Protagonist*innen im und um das Auto herum zueinander ins Verhältnis gesetzt: Männer sind die rasanten Autofahrer und Bezwinger der motorisierten Kraft bzw. der Frauen auf dem Beifahrersitz; männliche Sexualität wird als aktiv, durch das automobile Umfeld potenziert und als Bedrohung für eine passive, verletzbare und verfügbare weibliche Sexualität inszeniert. Figuren, die diesen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen nicht entsprechen, werden von vornherein als Außenseiter*innen eingeführt und/ oder im Verlauf des Geschehens sanktioniert. Zwar können die teilweise übertrieben dargestellten automobilisierten Männlichkeiten in American Graffiti durchaus auch als Symptome einer Männlichkeitskrise gelesen werden, aber ungeachtet dessen stehen sie ungebrochen im Mittelpunkt des Geschehens. Den weiblichen Figuren kommt lediglich die dramaturgische Rolle der Sidekicks zu. Dagegen ist Thelma & Louise als kritische Positionierung gegenüber der patriarchalen Geschlechterordnung zu verstehen, mit den beiden Frauen als tragischen Heldinnen im Kampf gegen ebendiese. Ob die verharmlosende Darstellung sexualisierter Gewalt, wie sie in License to Drive eingesetzt wird, als solche wahrgenommen wird, hängt davon ab, ob die Zuschauer*innen die gezeigten Handlungen als gesellschaftlich akzeptabel bewerten oder nicht. Die diesem Wahrnehmungs- bzw. Bewertungsprozess zugrunde liegenden Auffassungen befinden sich in permanenter Aushandlung. Wobei sich dominante Annahmen durchaus als äußerst resistent gegenüber Veränderungen erweisen, wie an der aktuellen Debatte um #MeToo zu verfolgen ist. In diesem Kontext zeigt sich deutlich das gesellschaftliche Unvermögen bzw. der Unwille,

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When Car Culture Meets Rape Culture sexualisierte Gewalt öffentlich zu verhandeln, ohne problematische Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität zu reproduzieren und auf diese Weise den Betroffenen nachträglich Schuld zuzuweisen.

Don’t Blame the Vehicle, Blame the System Gerade darin, sexualisierte Gewalt auf die öffentliche Agenda zu bringen, ohne stereotypisches Geschlechterwissen oder Victim-Blaming zu reproduzieren, zeigt sich, um abschließend auf die eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis der künstlerischen und filmischen Aussageproduktionen zurückzukommen, eines der Potenziale des radiokünstlerischen Teils von Three Weeks in May gegenüber den vorgestellten Hollywood-Filmen. Ohne eine visuelle Ebene und aufgrund der reduziert gehaltenen Berichtssequenzen liefert Lacys Arbeit weder Verweise auf das Aussehen der Betroffenen noch auf ihr Verhalten, die im Sinne vorurteilsbehafteter Annahmen als Belege für ihre (Mit-)Schuld interpretiert werden könnten. Einzig der Bar-Besuch oder das Per-Anhalterin-Fahren könnten als Handlungen, durch die sich Frauen in offensichtlich risikobehaftete Situationen begeben, gelesen werden. Eine solche Lesart beruht auf der Überzeugung, dass Frauen sich vor Übergriffen schützen könnten, würden sie auf solche aushäusigen Tätigkeiten verzichten. Das Heim wird in solchen Kontexten als geschützter Ort konstruiert. Diese Einschätzung wird jedoch in Three Weeks in May entkräftet: Denn keiner der aufgeführten Räume erweist sich als sicher – vor allem die eigene Wohnung nicht. In Bezug auf die Rolle des Autos arbeiten die geringen Informationen, welche die künstlerische Arbeit darüber liefert, gegen sein Bild als sexuell aufgeladenen Raum an. Im Gegensatz zu den Spielfilmen erfahren wir weder die Marke noch Näheres zur Ausstattung oder welche Musik die Stimmung darin produziert. Als Raum ‚ohne Eigenschaften‘ verweigert das Auto in Three Weeks in May den Eindruck, dass es sich bei den (versuchten) Vergewaltigungen lediglich um schlecht verlaufenen Sex handeln könnte. Anstelle einer (positiven) Sexualisierung des Settings rücken die häufige Verwendung des Verbs to force (zwingen) sowie der Verweis auf den Einsatz von Waffen den Fokus auf die Gewaltförmigkeit

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Franziska Rauh der geschilderten Übergriffe. Im Zusammenspiel lässt diese Art der Verhandlung sexualisierter Gewalt keine Lesart zu, die das Verhalten der Täter als legitim oder harmlos deuten könnte, wie es beispielsweise in License to Drive geschieht. Das Auto als männlicher Herrschaftsraum wird in Three Weeks in May nicht wie in American Graffiti über den omnipotenten, die Maschine beherrschenden Fahrer hergestellt, sondern vielmehr über die prekäre weibliche Position im Fahrzeug. Egal ob als Fahrerin oder Beifahrerin, für Frauen scheint das Auto in der Anwesenheit eines oder mehrerer Männer kein guter Ort zu sein. Diese Zuschreibung knüpfen die Aussagen von Three Weeks in May jedoch nicht ausschließlich an das Auto – wobei dessen Mobilität und die begrenzte Einsehbarkeit Akte sexualisierter Gewalt auch befördern dürften. Wie bereits erwähnt situiert Lacy sexualisierte Gewalt vielmehr raumübergreifend als Teil einer patriarchalen Gesellschaftsstruktur, die Übergriffe im häuslichen Kontext ebenso wie in einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit ermöglicht bzw. begünstigt. Im Film Thelma & Louise werden entsprechende Bilder präsentiert: vergeschlechtlichte Machtdifferenzen und verbale sowie physische Angriffe gegen Frauen, die von Partnern oder Fremden in den eigenen Wohnräumen genauso wie in öffentlichen Räumen stattfinden. Auch in License to Drive wird deutlich, wenn auch nicht aus einer kritischen Absicht heraus, dass der Übergriff im Auto nur eine Episode in einer Reihe von frauenfeindlichen Witzen und Handlungen darstellt, die sich durch alle (gesellschaftlichen) Räume ziehen. Im Vergleich der drei vorgestellten Filme und der künstlerischen Arbeit wird insbesondere die weibliche Fahrerin als Ausnahmefigur erkennbar. In Three Weeks in May sind lediglich in zwei Fällen Frauen selbst die Autofahrerinnen. Auf der Bildebene von American Graffiti sind Frauen als Fahrerinnen ebenfalls selten anzutreffen. Dafür übernehmen dort wie in License to Drive ganz selbstverständlich die männlichen Protagonisten die Fahrerrolle, sobald sie zu ihrem weiblichen love interest ins Auto steigen. Falls Frauen das Steuer doch selbst in der Hand behalten (dürfen), handelt es sich entweder um Frauengruppen oder um einzelne Frauen, die sich auf dem Weg zu ihrem Partner befinden. Die einzige Ausnahme einer autonom fahrenden Frau in American Graffiti ist die ‚schöne Unbekannte‘, von der jedoch vermutet wird, dass es sich um eine Sexarbeiterin oder eine sogenannte trophy wife handelt, eine Frau, die begehrenswert scheint, sich aber außerhalb der Norm befindet bzw. die gesellschaftlich häufig abgewertet wird.

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When Car Culture Meets Rape Culture Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl Three Weeks in May als auch die betrachteten filmischen Beispiele das Auto als einen Raum vorstellen, in dem für Frauen alltäglich desaströse Begegnungen stattfinden. Dies stellt eine markante Einschränkung zu dem verbreiteten Bild vom Auto als verlängertem Wohnraum dar, in dem es sich entspannt und selbstbestimmt aufhalten lässt. Seine Beschaffenheit als männlicher Herrschaftsraum scheint die Voraussetzung und Legitimation für übergriffiges Verhalten gegenüber Frauen zu sein. Allerdings möchte ich nicht mit dieser ernüchternden Feststellung enden und die beschriebenen Machtverhältnisse als unveränderbar stehen lassen. In Three Weeks in May können sich einige der Betroffenen erfolgreich gegen ihre (bewaffneten) Angreifer zu Wehr setzen und sich selbst aus der bedrohlichen Situation befreien. Die entsprechenden Schilderungen brechen mit der verbreiteten Vorstellung von körperlich unterlegenen Frauen und entsprechen Lacys Anspruch, die Betroffenen nicht auf den ihnen oft aufoktroyierten Status des bloßen Opfers festzuschreiben. Von dieser Gegenerzählung ausgehend, wäre es sicher aufschlussreich zu untersuchen, inwiefern weitere Bilder wehrhafter Frauen im Autoraum, Bilder einer positiven weiblichen Automobilität allgemein oder eine kritische Auseinandersetzung mit Formen geschlechtsspezifischer Automobilität in Filmen oder anderen künstlerischen Arbeiten zu finden sind.

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Franziska Rauh Literatur

Film

Frankel 2001 Frankel, David: Engine, in: 2wice. Visual and Performing Arts, H. 2, Jg. 5 (Themenheft: Inside Cars) 2001, S. 38–45. Griffin 1971 Griffin, Susan: Rape: The All-American Crime, in: Ramparts Magazine, H. 3, Jg. 10, 1971, S. 26–35. Hertling 2013 Hertling, Anke: Eroberung der Männerdomäne Automobil. Die Selbstfahrerinnen Ruth Landhoff-Yorck, Erika Mann und Annemarie Schwarzenbach, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2013. Krasny 2006 Krasny, Elke: Mann Frau Auto Fahren. Eine Expedition in automobile Geschlechterdifferenzen, in: Spurwechsel. Wien lernt Auto fahren, Ausst.-Kat., Technisches Museum Wien, Wien: Christian Brandstätter Verlag 2006, S. 90–95. Lacy 1977 Lacy, Suzanne: „Three Weeks in May“: Speaking Out on Rape, a Political Art Piece, in: Frontiers: A Journal of Women Studies, H. 1, Jg. 2, 1977, S. 66–70. Löwe 2005 Löwe, Liane: „A Nation Built on Transport“. Das Auto und die US-amerikanische Gesellschaft, in: Anke Köth et al. (Hg.): Building America. Die Erschaffung einer neuen Welt, Dresden: Thelem 2005, S. 247–269. Risholm 2003 Risholm, Ellen: (Nicht) normale Fahrten US-amerikanischer und deutscher Road Movies, in: Ute Gerhard et al. (Hg.): (Nicht) normale Fahrten. Faszinationen eines modernen Narrationstyps, Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2003 (Diskursivitäten. Literatur. Kultur. Medien, Bd. 6), S. 107–130. Sanyal 2017 Sanyal, Mithu M.: Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2017.

American Graffiti (George Lucas, USA 1973). License to Drive (Greg Beeman, USA 1988). Thelma & Louise (Ridley Scott, USA 1991).

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Michael Schödlbauer Verrückte Möbel: Paranoia der Hausgemeinschaft

Wie ist es, in die Wohnung einer völlig unbekannten Person einzuziehen? Was geschieht uns, wenn wir in ihrem Ohrensessel versinken, am Schminktisch sitzen, in ihre Hausschuhe und ihr Bettzeug schlüpfen, auf der durchgesessenen Couch lümmeln, uns inmitten fremder Familienfotos aufhalten – und das auf Dauer? Gesetzt, dass wir Häuser und Wohnungen nicht nur bewohnen, sie vielleicht sogar besitzen, sondern dass auch wir von ihnen und ihrem Interieur selbst bewohnt, wenn nicht besessen werden, wird diese Dialektik nicht ohne Folgen für die BewohnerInnen bleiben. Ungewohnt ist allein schon eine neue Umgebung: NachbarInnen, mit denen wir unter einem Dach leben, mit denen wir neben der Brandmauer auch Geräusche aus dem Leben der Anderen teilen. Ruhestörung ist eine Sache der sogenannten Hausordnung. Geschriebene wie ungeschriebene Gesetze sollen das Zusammenleben regeln, den Hausfrieden schützen, sie eröffnen aber zugleich das Feld feindlich erlebter Auseinandersetzungen innerhalb der sogenannten Hausgemeinschaft. „Heutzutage wird das Verhältnis zu den Nachbarn doch immer komplizierter“ [01:03:00–01:03:06]1, heißt es in einem einschlägigen Film über das mitunter desaströse Geschick des Wohnens und Zusammenwohnens. Roman Polańskis Der Mieter (Le locataire, F 1976) gilt als einer

1 Der Mieter (Roman Polański, F 1976). Die besprochenen Filmpassagen und die Laufzeit [h:min:sec] der gezeigten Filmstills werden nach der 2004 von Paramount Home Entertainment veröffentlichten Edition auf DVD angegeben.

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Verrückte Möbel der „genauesten Filme[ ], die je über Mietwohnungen gedreht worden sind“ (Jacke 2010, S. 125).2 Der Mieter bringt eineN ins Nachdenken über Wohnen und Gewohnheit, die Magie der Dingwelt, Habe(n) und Sein, Interieur und psychische Innerlichkeit,3 aber auch über die Allgegenwart des Blicks, den Terror der Hausordnung, über Grenzen des Raums und der Psyche und deren Brüchigkeit, die bis zur psychotischen Auflösung führen kann. Dabei ist das Psychotische keine rein psychische Disposition einzelner Individuen, vielmehr wohnt das Paranoide jeder Hausgemeinschaft inne. Dieses paranoide Moment lässt sich schon im Vorspann des Films erkennen. Die Kamera bewegt sich im düsteren Innenhof eines Pariser Mietshauses und tastet langsam Stockwerk für Stockwerk ab. Fenster sind gleichsam die Augen eines Hauses, Öffnungen für die Blicke der NachbarInnen und zu den NachbarInnen. Unser Blick gleitet mit der Kamera von Fenster zu Fenster, man sieht Scheiben, die überwiegend von grobmaschigen Gardinen verhängt sind, hinter denen hie und da einE BewohnerIn zu erahnen ist (Abb. 1). Die Gardine ist wahrlich ein schleierhaftes Objekt: Einerseits schützt sie das Privatleben, schirmt nach außen ab und soll die eigenen vier Wände heimeliger machen. Andererseits schüren Gardinen Verdacht und Neugierde: Warum zieht jemand den Vorhang vor, was geht dahinter bloß vor sich? Der Store erlaubt vom Inneren der Wohnung aus zu sehen, was außen vor sich geht, ohne dass man dabei selbst gesehen wird – wobei man sich dessen nie ganz sicher sein kann, hängt es doch vom Blickwinkel und Lichteinfall ab. Mit der Möglichkeit, versteckt zu beobachten oder beobachtet zu werden, lassen Gardinen die Allgegenwart des Blicks spüren. Daher gehören sie zu den Medien der Paranoia der Hausgemeinschaft.

2 Auch in seinen Filmen Ekel (1965) und Rosemaries Baby (1968) setzt Polański traumatische ‚Einbrüche‘ in Wohnungen in Szene. 3 Wenn Christoph Asendorf schreibt, dass das „‚univers intérieur‘ Innerlichkeit, einen Innenraum, also ein wie immer abgegrenztes Subjekt voraussetzt“ (Asendorf 1984, S. 122), so ist zu fragen, ob man nicht eher von einer Art Koevolution von räumlichem Interieur und psychischer Verinnerlichung ausgehen müsste. Unstrittig ist, dass „die Geschichte des Interieurs mit der Geschichte der Innerlichkeit korrespondiert und dass das Entstehen der Innerlichkeit einen Bruch zwischen dem Ich und seiner Umwelt markiere“ (Claudia Becker zit. n. Krämer 2007, S. 16).

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Michael Schödlbauer

1  Filmstill aus Der Mieter (00:00:23)

Schon der Titel Der Mieter bestimmt den Protagonisten allein über sein Wohnverhältnis. Genauer könnte der Film heißen Der Nachmieter, geht es doch um einen Wohnungssuchenden, der von einer Bleibe gehört hat, die frei geworden sein soll. Mit etwas Schmiergeld lässt sich die mürrische Concierge bewegen, dem Interessenten Trelkovsky – gespielt von Polański selbst – die Wohnung und zugleich den Grund (oder Abgrund) zu zeigen, warum das Mietobjekt zu haben ist: „Die Vormieterin ist da rausgesprungen, aus dem Fenster; [lacht] kommen Sie, man kann die Stelle sehen, wo sie gelandet ist, sehen Sie, na – da“ [00:05:06–00:05:22]. Der Blick nach unten zeigt ein Vordach mit dem Loch, das der Körper im Glas hinterlassen hat. In Paris ist die Concierge so etwas wie der personifizierte Blick, sie hat die BewohnerInnen und alle, die im Haus ein- und ausgehen, im Auge. Dem Stereotyp der Concierge zufolge ist sie darüber hinaus Inbegriff des Geredes, ja oft der üblen Nachrede: Aus dem Gerede der NachbarInnen kann man entnehmen, wie andere über Dritte sprechen. Aber was ist über eineN selbst wohl alles in Umlauf? Eine Unsicherheit, aus der sich das paranoide Potenzial des Wohnens mit speist. Dazu kommt die symbolische Funktion der Concierge als Agentin der Hausordnung. Bei der kurzen Vorstellung Trelkovskys beim Hauseigentümer Monsieur Zy fragt dieser: „Sind Sie verheiratet? – Entschuldigen Sie, aber ich muss Sie das fragen wegen der Kinder. Wir legen hier Wert auf Ruhe […]. Und wir

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Verrückte Möbel mögen Krach nicht besonders gern.“ – [Trelkovsky:] „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Monsieur Zy, ich bin ein sehr ruhiger Mensch, ich bin Junggeselle.“ – [Zy:] „So, aber auch so was kann ein Problem sein. Wenn Sie einen Ort suchen, um sich mit Ihren Miezen zu amüsieren […].“ [00:09:33–00:10:01] Soziale Kontrolle ist nötig, um Verstöße gegen diese Ordnung zu registrieren und abzustrafen. Dabei geht es dem Vermieter um Kontrolle und Disziplinierung jedweder Äußerungen von Lebendigkeit, Geselligkeit, Triebhaftigkeit, Generativität (Mahler-Bungers 2007, S. 187f.). Es scheint sogar, als sei schon jede hörbare Bekundung des puren Daseins von Trelkovsky verboten. Trelkovsky scheint in seiner devoten Art perfekt in eine solche Hausgemeinschaft zu passen, überall sucht er sich anzupassen, den Erwartungen aller zu entsprechen, mit denen er zu tun hat. Eigentlich ein idealer Mieter, wäre da nicht sein Einstand mit seinen schon im Treppenhaus lärmenden BürokollegInnen, in denen sich das Ungezügelte, das Triebhafte, Zotige verkörpert [00:28:25–00:30:52]. Beherzt packen sie bei der kleinen Feier in der Wohnung an, räumen das Mobiliar geräuschvoll um, begleitet von Musik jenseits der Zimmerlautstärke. Der Neumieter kann ihnen ebenso wenig Einhalt gebieten, wie er sich den empfindlich in ihrer Ruhe gestörten NachbarInnen gegenüber wirksam abgrenzen kann. Der Vorwurf: „Sie laufen hin und her, Sie verrücken die Möbel, nichts lassen Sie an seinem Platz.“ [00:31:31–00:31:35] Als Trelkovsky seine Gäste hinauskomplimentiert und die Ordnung wiederherstellen will, indem er die Möbel wieder an ihre alte Stelle rückt, geht auch noch Glas zu Bruch: eine weitere Störung der Nachtruhe, die die NachbarInnen mit Klopfen an den Wänden quittieren [00:34:13–00:34:29]. Von da an wird jedes Geräusch beim Umstellen des Kleiderschranks [00:39:37–00:40:23], ja selbst beim Öffnen einer Konserve oder beim Anbraten ihres Inhalts mit Pochen von nebenan beantwortet (Abb. 2). Verrückte Möbel4 sind es, die innerhalb der Hausgemeinschaft nach dem oder der VerursacherIn der Ruhestörung fahnden lassen: Die Siche-

4 Filmtechnisch fungiert der Schrank bzw. der Schrankspiegel wie eine weitere Kamera: Wenn der Schrank verrückt wird [00:39:52–00:40:04] oder der Mieter dessen knarrende Tür öffnet [00:23:14-00:23:18], erlaubt der in einen Jugendstilrahmen eingefasst Spiegel durch die Bewegung entsprechende Blicke und Blickwinkel in das Wohnungsinnere.

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2  Filmstill aus Der Mieter (00:40:02)

rung des sogenannten Hausfriedens setzt eine Kette wechselseitiger Unterstellungen und Verfolgungen in Gang, was eineN als potenziell selbst VerdächtigteR ein Stück weit verrückt machen kann oder Schuldgefühle weckt, wenn Unbeteiligte beschuldigt werden. So steht eines Tages eine Frau mit ihrer gehbehinderten Tochter an Trelkovskys Tür und fragt, ob er sich denn über die beiden beschwert habe; die Mutter klagt, eine Nachbarin bezichtige sie der Ruhestörung; die Beschwerde „stamm[t] von der, die selbst jede Nacht Krach macht“, indem sie herumlaufe; sie „verrückt andauernd ihre Möbel“ [00:43:16–00:43:53]. Die Zimmerwand, die Wahrung der Privatsphäre, Ruhe und Schallschutz verspricht, ist immer schon ‚Akustikbrücke‘ zum Anderen hin. Der Psychiater Zutt schreibt: „Die […] Wände bergen uns nicht nur vor fremden Blicken, sondern vor fremden Ohren, auch akustisch.“ (Zutt 1963, S. 183) „‚Die Wand‘ konstituiert als bergende Grenze, als Abgrenzung gegen die ‚Anderen‘ das Wohnen schlechthin.“ (Kulenkampff 1955, S. 9) In der Psychose wird die sonst als schützend erlebte Wand aber durchlässig, durchsichtig, z. B. für Gase, Strahlen, Blicke; Wände bekommen Ohren, wie man sagt. Mit diesen Phänomenen wird uns die Brüchigkeit unserer Erfahrung des trauten Heims, der durch Wände beschützten Privatheit und unserer Innerlichkeit deutlich – die Kehrseite des Heimischseins ist das Unheimliche. Die Wand, die normalerweise Schutz und Abgrenzung gegen die Unbill des Wetters und unsere Mitmenschen

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Verrückte Möbel versprechen soll, wird im Film Der Mieter zum Kommunikationsmedium, über das NachbarInnen dem Mieter ihre Missbilligung mitzuteilen, ihn abzumahnen scheinen. Dabei ist das Klopfen schon in die Wohnung eingebaut: Den hohen Abstand, den der Vermieter verlangt, rechtfertigt er mit einer nachträglich eingebauten Wasserleitung, die in Trelkovskys Wohnung in einem beständig tropfenden Wasserhahn endet, der beim Aufdrehen lautstark stottert, poltert und selbst Klopfgeräusche macht [00:22:30–00:22:46] Seit unsere Häuser von Rohren für Wasser und Gas oder Heißwasser und Kabeln durchzogen, von Lang-, Kurz- und Ultrakurz-Wellen sowie WLAN-Daten durchströmt sind, nimmt die im Wahn gefürchtete Beeinflussung und Beeinträchtigung durch NachbarInnen und andere FeindInnen primär technische Form an, während es in der vorindustriellen Ära eher magisch-mythische Wahnerklärungen waren, mit denen sich schizophren Erkrankte die rätselhaften Veränderungen an und in ihrem Körper, das Verbreiten ihrer Gedanken nach außen etc. erklärten.5 Ebenso wie im Film Rosemaries Baby rekurriert Polański auch in Der Mieter auf die magisch-okkulte Kraft der Dingwelt. Die Wand ist in Der Mieter Stätte voodooartigen Zaubers und damit versteckter Wirkort des Verderbens.6

5 VertreterInnen der sogenannten Anthropologischen Psychiatrie sehen in den „magisch-mythischen Wahngedanken Schizophrener“ (Feldmann 1966) keine zufälligen Wahninhalte, sondern die typische Form, die schizophrenes Erleben annehme, da zwischen magisch-mythischen Erlebensweisen und psychotischer Erfahrung eine strukturelle Verwandtschaft bestehe. „Die schizophrene Erlebensstruktur zieht also eine bestimmte Wahngestalt herbei.“ (Feldmann 1966, S. 83) In einer vergleichenden Erhebung von Wahninhalten fand H. Kranz archaisch-mythische und magische Themen bei 43–45% der Schizophrenen, und dies konstant in Stichproben aus den Jahren 1886, 1916 und 1946 (nach Feldmann 1966, S. 81). 6 Hanulak schreibt zur Bedeutung von Wänden bei Polański: „Sie versprechen Schutz vor Blicken und Zugriffen der Außenwelt, doch schließen sie ihre isolierten Bewohner immer enger ein und sind von deren Peinigern zumeist mühelos umgehbar. Es ist eine seltsame Beweglichkeit der Wände, welche die trügerische Geborgenheit der häuslichen Heimat in Bedrohung verwandelt. Sie verändern ihre Proportionen, bekommen Risse und bergen Öffnungen, die sie durchlässig machen und die vertraute Welt zum Einsturz bringen. Mauern und Wände sind bei Roman Polański auch Schauplätze von Grenzverletzungen. Sie schaffen aller Vorsichtsmaßnahmen ihrer Bewohner zum Trotz über Türen, Fenster und Löcher Verbindungen zu einer feindlichen Umwelt.“ (Hanulak 2009)

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Michael Schödlbauer Mit der möblierten Wohnung hat der Mieter nicht nur den Schrank7, sondern auch seinen Inhalt übernommen. Als Trelkovsky den Kleiderschrank das erste Mal öffnet, um seinen Anzug zu verstauen, greift er aus dem Schrank das Erstbeste am Bügel heraus, was ihn im Verlauf zunehmend selbst ergreift: ein geblümtes knielanges Kleid, eine Hinterlassenschaft seiner Vormieterin Simone Choule [00:21:51–00:22:28]. Davon kann er sich ebenso wenig trennen wie von den anderen Habseligkeiten der Verstorbenen. Obwohl der vom Hausbesitzer verlangte Abstand für das Mobiliar völlig überzogen ist, findet Trelkovsky gerade keinen inneren Abstand zu diesen fremden Dingen, die ihn als Nachmieter umgeben, sondern wird von ihnen zunehmend bedingt. Die möblierte Wohnung wirkt mit ihrem Interieur eher wie die einer älteren Dame. Der Hausstand besteht aus einem ziemlichen Sammelsurium von Dingen, was an sich schon etwas Verwirrendes haben kann, wie Georg Simmel schreibt: „[…] wenige und einfache Gerätschaften sind der Persönlichkeit leichter assimilierbar, während eine Fülle von Mannigfaltigkeiten dem Ich gegenüber gleichsam Partei bildet […]. Die wenigeren, undifferenzierteren Gegenstände konnte diese [die Persönlichkeit] eher mit sich durchdringen, sie setzen ihr nicht die Selbständigkeit entgegen wie ein Haufe spezialisierter Dinge.“ (Simmel 1989, S. 638)8 7 Ein Schrank mit seinen Wänden ist so etwas wie ein Zimmer im Zimmer. Begehbare Kleiderschränke, aber auch Einbau- und Wandschränke machen beim Schrank eine klare Unterscheidung zwischen Mobiliar und Immobilie schwierig. Der Schrank spielt in verschiedenen Filmen Polańskis eine Rolle, wenn nicht sogar die Hauptrolle. Jacke erklärt den Schrank zum „dritten Hauptdarsteller“ (Jacke 2010, S. 32) im Kurzfilm Zwei Männer und ein Schrank (Dwaj ludzie z szafą, Regie und Drehbuch Polański, P 1958). Darin sieht man knapp 20 Minuten, wie zwei Männer einen Kleiderschrank aus der Ostsee an Land und dann durch die Stadt tragen. Vielleicht nimmt diese filmische Groteske das Wort Mobiliar als Bezeichnung für die bewegliche Habe wörtlich, insofern die Männer sich mit dem Schrank durch die Stadt bewegen und sogar versuchen, ihn in einer Trambahn mitzunehmen. Im Film Ekel (1965) schiebt die psychotisch dekompensierte Protagonistin einen schweren Schrank vor ihre Tür, ein Bollwerk, das aber nicht vor dem Erleben schützt, von Eindringlingen vergewaltigt zu werden. Was sie als Einbruch von außen erlebt, sind ihre eigenen verpönten Triebimpulse, die in ihr aufbrechen. In Rosemaries Baby (1968) entpuppt sich ein Wandschrank als geheimer Durchgang in eine Nachbarwohnung, wo Rosemaries satanistische WidersacherInnen ihr Unwesen treiben. 8 Asendorf sagt mit Bezug auf die genannte Passage, dass bei Simmel „ein leichtes Gefühl von Unheimlichkeit angesichts der ‚Vielheit‘ der Dinge“ spürbar werde. „Unmengen von ohnehin funktionslosen Ziergegenständen“ belagern gleichsam den Bewohner (Asendorf 1984, S. 95).

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Verrückte Möbel Im Film Der Mieter ist es aber weniger die Fülle der Dinge an sich und gerade nicht deren unpersönlicher Charakter als Massenware, sondern ihre Eigenschaft als Nachlass einer Person, der macht, dass die möblierte Wohnung mit den Sachen der Vormieterin wirklich eine Partei gegen das Ich des Mieters bildet, eines Ichs, das an diesen Dingen so partizipiert,9 dass es von ihnen durchdrungen und davon absorbiert wird. Der Mieter kann diese Objekte nicht nur nicht seinem „Ich assimilieren“ (Simmel 1989, S. 638), vielmehr assimilieren die okkult erlebten Objekte das Ich des Mieters. Die Habseligkeiten der Vormieterin werden zum ‚Angewohnten‘ des Nachmieters. Simone Choules Habe wandelt Trelkovskys Sein. Die Partizipation Trelkovskys an den Dingen ist dergestalt, dass er von Dingen wie der Aktskulptur [01:29:29], dem Kleid [00:42:07], dem Nagellack, dem BH, einem ägyptologischen Buch [00:41:46–00:42:23], der Pharaonenbüste [00:23:58] so eingenommen wird, dass er selbst sich dabei den Dingen anverwandelt. Wenn ihnen eine derart metamorphotische Potenz zukommt, wird man annehmen müssen, dass diese Accessoires einer gepflegten Frau etwas in Trelkovsky angesprochen haben, dass sie so etwas wie einen Wunsch geweckt haben, von dem er selbst aber in besonders radikaler Weise nichts wissen will, ein Begehren, zu dem er keinen Zugang hat, weil es verworfen ist (vgl. Jacke 2010, S. 128, 136f.).10 Was nicht verdrängt, sondern verworfen ist, kehrt als Reales wieder, so Jacques Lacan. Im Film kehrt das psychisch Verworfene von außen wieder als erlebtes Komplott der gegen den Mieter verschworenen Hausgemeinschaft, von der er wähnt, dass sie ihn in die Rolle der Vormieterin, in ihr Kleid, in den Suizid treiben will. Zum Inventar der Wohnung gehörte unter anderem ein Buch der Vormieterin über das alte Ägypten, die Reproduktion der Büste eines Pharaos, dann kommt bei Trelkovsky noch eine Postkarte mit dem Motiv eines ägyptischen Sarkophags an [01:11:58], die ein geheimer Verehrer an

9 Levy-Bruhl spricht von der mystischen Partizipation (vgl. Feldmann 1966, S. 24). 10 „Indem er schrittweise und immer mehr mit dem Lackieren der Fingernägel, dem Rouge eines Lippenstifts, Make-up, Perücke, Schuhen, Nylonstrümpfen und schließlich auch mit diesem Kleid sich in sie verwandelt, wird sein Begehren zu dem einer anderen und bleibt in dieser Verkleidung gleichsam vor ihm versteckt, beispielsweise sein narzisstisches Begehren, bewundert zu werden, wie es sich in seinem Wahn vor dem Sprung offenbart, in dem der Innenhof zum Zuschauerraum eines Opernhauses wird und er ein Star, eine umjubelte Diva ist.“ (Schneider 2007, S. 229f.)

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Michael Schödlbauer die Vormieterin adressiert hat (vgl. Jacke 2010, S. 128f.). Der Sarkophag evoziert die Mumie im Inneren; mumienhaft mutet das Bild der verletzten Simone an, deren Körper nach dem Sprung aus dem Fenster von Kopf bis Fuß in Verbandsmull gewickelt ist wie der Leichnam eines Pharaos [00:11:31–00:11:42; 00:11:52], wobei die Kopfbandagen zwei kleine Aussparungen für den Rest an Leben in Simone lassen: eine für den letzten Schrei aus ihrem Mund und eine für das unverletzt gebliebene Auge als letzte Sinnespforte (Abb. 3). Im Fenster der Gemeinschaftstoilette auf der gegenüberliegenden Hofseite ‚sieht‘ Trelkovsky nachts eine entsprechend bandagierte weibliche Gestalt, die ihre Mullbinden vom Kopf wickelt [01:25:02]. Im Inneren dieser Toilette halluziniert Trelkovsky ägyptische Hieroglyphen an der Wand [01:23:22–01:23:43], die an das Innere ägyptischer Grabkammern erinnern, auf denen ja ein Fluch gegen diejenigen gelegen haben soll, die sich Zugang verschafften. Unter dem Fluch der Dinge erlebt sich auch der Mieter in seiner möblierten Wohnung, Dinge der Verblichenen, zwischen denen er sich nur irgendwie einrichtet, bis auch noch seine wenigen persönlichen Sachen aus seiner Wohnung entwendet werden. Dann dauert es nicht lange, bis es um ihn, seine Identität, sein Mannsein, ja sein Sein geschehen ist. Die eigentümlich magische Kraft, die den Dingen in der Umgebung zukommt, erfährt Trelkovsky dann ganz konkret: beim Wegrücken des Kleiderschranks tut sich an der Wand dahinter ein kleines Loch auf (Abb. 4). Trelkovsky fingert dort herum und zieht schließlich das Corpus Delicti heraus [00:40:50–00:41:40]: einen langen, tierisch wirkenden Zahn, von dem er vermutet, dass er der Vormieterin ausgerissen wurde. Schwarze Magie scheint hier im Spiel, womit die Wohnung sich als – im Sinne von Ernst Cassirer – mythischer Raum erweist, über dem ein Fluch liegt.11

11 Um die unheimliche Anmutung von Räumlichkeiten konzeptuell zu fassen, bezieht sich Thomas Fuchs unter anderem auf den mythischen Raum, wie Cassirer ihn entfaltet: „Der mythische Raum ist […] durchdrungen von einer einheitlichen numinosen Atmosphäre (Manitu, Mana), die sich in magischen Kraftlinien und Brennpunkten konzentriert […]. Lebewesen, Dinge und Orte werden nicht in ihrer sachlichen Bedeutung wahrgenommen, sondern als Zentren emotionaler Gerichtetheiten, als Lockendes und Drohendes, zu Fürchtendes oder Hoffendes usw.“ (Fuchs 2000, S. 54) Die magisch-mythische Räumlichkeit beschrieb schon Alfred Storch und sah Parallelen zum psychotischen Erleben vor allem im Verlust der Ich-Grenzen, in der Verschmelzung mit anderen Menschen und Dingen oder in der magischen Besitzergreifung des Körpers durch fremde, dämonische Mächte (vgl. Feldmann 1966, S. 26).

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Verrückte Möbel

3  Filmstill aus Der Mieter (00:11:32)

4  Filmstill aus Der Mieter (00:41:10)

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Michael Schödlbauer So wie die Wand mit Putz und Tapete sind die psychischen Grenzen des Mieters lädiert.12 In seinem Buch Das Haut-Ich hat der Psychoanalytiker Didier Anzieu (1992) die psychische Funktion der Haut, ihre Funktion als Schutz unseres ‚Selbst‘ und unseres Selbstgefühls herausgearbeitet.13 Textile Gewänder und Wände14 sind nach unserer Haut zweite und dritte Hüllen unseres ‚Selbst‘, sie verdoppeln gewissermaßen diese Schutz-Haut, die aber löchrig werden, ja so beeinträchtigt sein kann, dass unsere psychischen Grenzen sich auflösen, so dass Innen und Außen ineinander übergehen, wie das bei schizophrenen Psychosen typischerweise vorkommt. Die von der Vormieterin ausstaffierte Wohnung, die von anderen übernommene Habe führt zur „Veranderung“ (Michael Theunissen, zit. n. Kisker 1970, S. 55) des Nachmieters, als Bewohner verändert er seine früheren Gewohnheiten und nimmt die der Verstorbenen an. Als Trelkovsky erstmals das Café in der Nachbarschaft betritt und erwähnt, dass er gegenüber „gerade eingezogen“ sei in die Wohnung der Frau, die sich suizidiert hat, erwidert der Inhaber: „Sie kam jeden Morgen her und setze sich auf den Platz, auf dem Sie jetzt sitzen, Tasse Schokolade, zwei Brötchen mit Butter, nicht ein einziges Mal Kaffee […]“ [00:24:3600:24:44], und ist schon dabei, dem Nachmieter eine Schokolade zu bereiten; Trelkovsky, der seinen üblichen Kaffee erwartet, lässt es geschehen. Die aufgenötigte orale Einverleibung des Getränks der Verstorbenen stellt

12 Der Psychiater Klaus Peter Kisker hat in seiner an Kurt Lewin anschließenden psychiatrischen Feldtheorie Psychosen im Kern als „Entgrenzung“ (Kisker 1960, S. 86) analysiert und topologisch beschrieben. Psychotische Krisen gehen Kisker zufolge mit einer inneren „Entordnung“ (ebd., S. 98) einher, dem produktiv psychotische Symptome aber auch entgegenwirken können, wobei er beschrieben hat, wie psychotische Symptome zugleich der Grenzrestituierung dienen. So kann man das Klopfen an den Wänden, das Trelkovsky hört, zugleich als Einbruch der NachbarInnen in sein Privatleben, als Phänomen der Entgrenzung verstehen. Die Akoasmen fokussieren aber auch das Abgrenzende, die Wand, dienen also zugleich der Grenzrestituierung. 13 Das Loch in der Wand ist eine Projektion und symptomatisch für „das Löchrig-Sein seiner [des Mieters] psychischen Haut“ (Schneider 2007, S. 230 mit Bezug auf Anzieu) – ebenso wie die Hellhörigkeit des Mietshauses. 14 Zu „Gewand oder Wand“ als Schutz gegenüber dem ‚Draußen‘ vgl. Asendorf 1984, S. 97; Asendorf weist hin auf etymologische Verbindungen zwischen „Gewand – Wand, Saum – Zaun; ‚Decke‘ findet sich sowohl im textilen wie im architektonischen Bereich“ (ebd., S. 98). Schon César Daly (1811–1894) vergleicht „das Haus mit der Kleidung der Bewohner: Beide müssen schützen, wärmen, zugleich aber jede Bewegung ermöglichen und eine harmonische Einheit formen“ (Daly zit. n. Krämer 2007, S. 30).

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Verrückte Möbel sich psychoanalytisch als Introjektion der Vormieterin dar, die im Verlauf des Geschehens eine immer weitergehende Identifizierung mit ihr nach sich zieht. Im Film erleben wir den Prozess einer „langsame[n] Entsubjektivierung“ (Mahler-Bungers 2007, S. 196) des Mieters bis zur völligen Aufgabe der eigenen Identität: Auch seinen Ausweis, seine carte d’identité, wirft Trelkovsky schließlich weg. Wann immer Trelkovsky seine gewohnten Zigaretten verlangt, bekommt er im Café gegenüber die Marke seiner Vormieterin angeboten: alles „nur eine Frage der Gewohnheit“ [00:24:48–00:24:53]. Lehnt Trelkovsky als Gauloises-Raucher die Marlboro-Packung anfangs noch ab, verlangt er schließlich selbst an einem Kiosk Marlboro und atmet mit dem Rauch etwas vom Pneuma, vom Hauch/Geist, von der Persönlichkeit der Verstorbenen ein. Eine „respiratorische Introjektion“ (Otto Fenichel zit. n. Anzieu 1992, S. 152), gleichsam die ‚vergeistigte‘ Form oraler Einverleibung. Der Mieter verschmilzt durch die Übernahme der Gewohnheiten der Vormieterin mit ihr. Wer den Platz der Verblichenen einnimmt in der Wohnung, im Café, später in ihrem Kleid, wer ihre Gewohnheiten angewöhnt bekommt und sie sich zu eigen macht, den ereilt schlussendlich ihr Geschick. Zu den Gewohnheiten kommt ein Prozess der Sozialisierung, den Trelkovsky Gewöhnung nennt, Gewöhnung an die NachbarInnen, an die Regeln der Hausgemeinschaft. Auf die Frage seines Kollegen, wie es mit seinen NachbarInnen so laufe, sagt Trelkovsky: „Ich gewöhne mich langsam an sie, das braucht seine Zeit“ [00:44:46–00:47:50]. Mit zunehmender Gewöhnung an die anderen, an das Diktat der Hausordnung, nimmt das Wähnen des Mieters zu. Er ist so an das Reglement gewöhnt, dass er ständig wähnt, das Klopfen vermittle ihm, dass er einfach dadurch stört, dass er da ist. In Gewöhnung an die Wohnumgebung sieht er sich von den Menschen in der Nachbarschaft gedrängt, Gewohnheiten, Geschmack, Rolle, ja sogar das Geschlecht der Vormieterin zu übernehmen15 – bis zur zweifachen Wiederholung ihres suizidalen Akts. Eines Tages erwacht Trelkovsky mit blutigem Mund und findet seinen vermissten Zahn neben dem seiner Vormieterin [01:30:28–01:31:07]. Das Loch im Mund korrespondiert dem Loch in der Wand, in dem sein Zahn nun seinen neuen Ort gefunden hat und magische Wirkung auf seinen früheren Träger auszuüben scheint.

15 „Sie haben sich vorgenommen, mich in einen anderen Menschen zu verwandeln, in Simone Choule“ [01:42:14–01:42:20].

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Michael Schödlbauer

5  Filmstill aus Der Mieter (01:29:22)

Damit ist es so weit: Trelkovsky trägt den roten Nagellack der Vormieterin auf, kauft sich eine Perücke, beschenkt sich mit hochhackigen Schuhen, für die er sich mit ‚damenhaft‘ hoher Stimme bei sich selbst bedankt:16 „Oh, diese Schuhe sind ja hinreißend, mein Schatz, hinreißend, sag mal, wo hast du die denn bloß gekauft?“ [01:28:28–01:28:41] Mit Perücke, lackierten Nägeln, BH und Kleid der Vormieterin posiert er vor dem Schrankspiegel (Abb. 5). In die Wohnung einer Toten umziehen, heißt für Trelkovsky als Nachmieter sich umziehen, das Gewand der Verstorbenen anlegen, sich schminken und schön machen für den letzten ‚Auftritt‘ vor den feindlich erlebten NachbarInnen. Als Trelkovsky unter dem Fenstersturz stehend in den Innenhof sieht, stellen sich ihm die Fenster im Innenhof dar als Logen eines barocken Theaters, wo seine NachbarInnen als GafferInnen den letzten Akt des Dramas erwarten und ihn in seiner transvestitischen Aufmachung beklatschen [01:54:16– 01:55:22]. Simones Sturz wiederholt sich nach einem Trommelwirbel: Schwer verletzt schleppt sich Trelkovsky erneut in seine Wohnung, um 16 Fragen der sexuellen Identität, der Zuschreibung des Geschlechts, der Zweigeschlechtlichkeit könnten Polański in seiner Kindheit in besonderer Weise umgetrieben haben. Wir erfahren, er sei „aufgrund seiner langen blonden Haare als kleines Kind öfter für ein Mädchen gehalten [worden]“ (Jacke 2010, S. 14). Das elterliche Haus in Krakau soll ein mythisches Zwitterwesen geziert haben (Hanulak 2009).

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Verrückte Möbel sich ein zweites Mal in die Tiefe zu stürzen. Eine Bewegung ins Nichts, die die Kamera schließlich ihrerseits wiederholt, indem sie über dem Krankenbett in den schreienden Schlund des Verletzten zoomt. Dort liegt er mumienartig bandagiert wie seine Vormieterin [01:59:51–02:00:04, vgl. 00:12:53–00:12:59].

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Michael Schödlbauer Literatur Anzieu 1992 Anzieu, Didier: Das Haut-Ich, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992. Asendorf 1984 Asendorf, Christoph: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Gießen: Anabas-Verlag 1984. Feldmann 1966 Feldmann, Harald: Die magisch-mythischen Wahngedanken Schizophrener. Teil I und II, in: Confinia Psychiatrica, Jg. 9, 1966, S. 20–34, S. 78–92. Fuchs 2000 Fuchs, Thomas: Psychopathologie von Leib und Raum: Phänomenologisch-empirische Untersuchungen zu depressiven und paranoiden Erkrankungen, Darmstadt: Steinkopff Verlag 2000. Hanulak 2009 Hanulak, Robert: Mauern, Pforten, Labyrinthe – Häuser & Räume des Roman Polanski, in: Film-Zeit, 4.7.2009, URL: http:// www.film-zeit.de/Themen-und-Listen/ Thema/31/MAUERN-PFORTEN-LABYRINTHE--HäUSER--RäUME-DES-ROMAN-POLANSKI/Details/#page139 (10.03.2018). Jacke 2010 Jacke, Andreas: Roman Polanski. Traumatische Seelenlandschaften, Gießen: Psychosozial-Verlag 2010. Kisker 1960 Kisker, Klaus Peter: Der Erlebniswandel des Schizophrenen. Ein psychopathologischer Beitrag zur Psychonomie schizophrener Grundsituationen, Berlin u. a.: Springer 1960. Kisker 1970 Kisker, Klaus Peter: Dialogik der Verrücktheit. Ein Versuch an den Grenzen der Anthropologie, Den Haag: Nijhoff 1970. Krämer 2007 Krämer, Felix: Das unheimliche Heim. Zur Interieurmalerei um 1900, Köln: Böhlau 2007.

Kulenkampff 1955 Kulenkampff, C.: Über den Vergiftungswahn, in: Der Nervenarzt, Jg. 26, 1955, S. 1–10. Mahler-Bungers 2007 Mahler-Bungers, Annegret: Projektion und Wirklichkeit. Zu Roman Polanskis ‚Der Mieter‘, in: Ralf Zwiebel; Annegret Mahler-Bungers (Hg.): Projektion und Wirklichkeit: Die unbewusste Botschaft des Films, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 182–203. Schneider 2007 Schneider, Gerhard: ‚Der Mieter‘ – Roman Polanskis filmische Analyse eines psychotischen Universums, in: Ralf Zwiebel; Annegret Mahler-Bungers (Hg.): Projektion und Wirklichkeit: Die unbewusste Botschaft des Films, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 220–234. Simmel 1989 Simmel, Georg: Philosophie des Geldes (= Gesamtausgabe, Bd. 6), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989. Zutt 1963 Zutt, Jürg: Über Daseinsordnungen. Ihre Bedeutung für die Psychiatrie, in: Erwin Straus; Jürg Zutt (Hg.): Die Wahnwelten (Endogene Psychosen), Frankfurt a. M.: Akademische Verlagsanstalt 1963, S. 169–192.

Film Der Mieter (Le locataire, Roman Polański, F 1976).

Abbildungsnachweise Alle Abbildungen: © Paramount Pictures.

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Monika Ankele Sehen/Berühren Das Krankenbett als Beziehungsraum1

Als um 1900 die sogenannte Bettbehandlung in die Psychiatrie eingeführt und das Krankenbett zu einem therapeutischen Hilfsmittel erklärt und damit zu einem Co-Akteur der Behandlung erhoben wurde (vgl. Ankele 2018a), veränderte sich auch für die Patient_innen die Bedeutung, die dem Bett bis dahin zugekommen war: Untergebracht in gemeinsamen Krankensälen, in denen sich ein Bett an das andere reihte (vgl. Abb. 1), und dazu angehalten, über Wochen und Monate das Bett zu hüten, bildeten die Patient_innen (zwangsläufig) ein intensives Verhältnis zu diesem Mikroraum aus, den das Bett beschrieb und der die Grenzen und Möglichkeiten ihrer Handlungen markieren sollte. In der Anstalt, wo sie fern von ihrem Zuhause waren, all ihrer persönlichen Gegenstände entledigt, war das Bett der Ort, der den Patient_innen zugewiesen wurde und auf den sie bezogen waren. Zugleich war es jener Ort, den sie im Zustand des Unbehausten temporär bewohnten, indem sie sich ihn (bedingt und unter Vorbehalten) zu eigen machen konnten. In diesem Sinne beschreibt das Krankenbett einen Beziehungsraum. Um eine entsprechende Perspektivierung auf das Krankenbett vorzunehmen, werde ich in meinem Beitrag visuellen und materiellen Mikropraktiken (sehen/berühren) folgen, die dieser Raum zum einen auf je spezifische Art und Weise hervorbrachte und/oder neu gewichtete und über die sich zum anderen das Bett als Bezugs- und Beziehungsraum für den Patienten bzw. die Patientin ausbilden konnte.

1 Dieser Text ist im Rahmen des DFG-Projekts „Bett und Bad. Objekte und Räume therapeutischen Handelns in der Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts“ (SCHM 1311/11-1) entstanden.

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Sehen/ Berühren

1  Wachabteilung für ruhige Frauen in der Heil- und Pflegeanstalt Lindenhaus bei Lemgo um 1910

Das Bett als Weltenmitte und proxemischer Raum In seinem Essayband Dinge und Undinge widmet der Medienphilosoph Vilém Flusser dem Bett als einem Ort existenzieller Erfahrung einen eigenen Abschnitt, zu dem ihn Überlegungen zur Wohnung und zum Wohnen hinführen (Flusser 1993, S. 89–109): „Wir wohnen. Wir könnten nicht leben, wenn wir nicht wohnten. Wir wären unbehaust und schutzlos. Ausgesetzt einer Welt ohne Mitte. Unsere Wohnung ist die Weltenmitte. Aus ihr stoßen wir in die Welt vor, um uns auf sie wieder zurückzuziehen. Von unserer Wohnung aus fordern wir die Welt heraus, und wir fliehen vor der Welt in unsere Wohnung. […] Unsere Wohnung ist das, was die Welt befestigt. Das Bett als Wohnung im engen und strengen Sinne des Wortes ist eine Weltenmitte. Es ist Mitte zahlloser Welten.“ (Ebd., S. 89–91)

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Monika Ankele Flusser beschreibt das Bett als eine Weltenmitte, von der sich das Subjekt in die Welt (ent-)wirft und zu der es sich aus der Welt auch wieder zurückzieht, die alles ist, was diesen Raum der Mitte, der Schutz und Behausung bedeutet, umgibt. Mit der Einführung der Bettbehandlung wurde das Krankenbett den Patient_innen für einen mehr oder weniger langen Zeitraum (Wochen, Monate) als Mikroraum zugewiesen. Als solcher sollte er ihr Handeln begrenzen und ihre Bewegungen auf die mit dem Krankenbett assoziierte Praktik des Liegens beschränken. Dadurch bildete sich das Krankenbett für die Patient_innen zwangsläufig zu jener Weltenmitte aus, von der sie die Welt herausforderten und auf die sie sich vor der Welt zurückzogen. Das Bett war der ihnen zugewiesene Raum, der allerdings – um Schutz und Behausung gewähren zu können, um am Ort des Anderen (vgl. Certeau 1988, S. 23) ein Ort des Eigenen zu werden (vgl. Ankele 2010) – entsprechender taktischer (materieller, visueller) Aneignungen bedurfte. Auch der Philosoph Roland Barthes erörtert in seinen Ausführungen zur Simulation alltäglicher Räume im Roman das Verhältnis zwischen Subjekt und Bett. Dieses beschreibt er als proxemischen Raum, mit dem der „sehr begrenzte[ ] Raum, der das Subjekt unmittelbar umgibt“, gemeint ist: „Raum des vertrauten Blicks, der Objekte, die man mit dem Arm erreichen kann, ohne sich sonst zu bewegen“ (Barthes 2007, S. 187). Auch hier rückt das Bett als Beziehungsraum in den Fokus: als ein Raum, auf den das Subjekt bezogen ist und der sich auf das Subjekt bezieht, ein Raum der Selbstidentifikation, ein subjektiver Raum, den das Subjekt affektiv bewohnt (ebd.). Den Begriff der Proxemie erläutert Barthes mit folgendem Beispiel: „Abend: ich gehe zu Bett, lösche das Licht, vergrabe mich zum Schlafen unter der Decke. Doch ich möchte mir die Nase putzen. Ich strecke im Dunkeln den Arm aus, erreiche zielsicher die oberste Nachttischschublade und finde in der Schublade, nicht minder unfehlbar, auf der rechten Seite ein Taschentuch. Ich lege es wieder hin und schließe die Schublade mit der gleichen Sicherheit.“ (Ebd., S. 184) Dabei stellt das Krankenbett für ihn die „stärkste, am intensivsten erlebte, oftmals bestorganisierte Proxemie“ dar (ebd., S. 187). Kleiner als ein Territorium und auch kleiner als ein Refugium, ähnelt der proxemische Raum mehr einer Nische oder einem Nest. Barthes führt drei Bestimmungsmerkmale als Spezifika dieses Raumes an: „a) so weit der Blick reicht (oder der Geruch oder das Geräusch); b) wo man etwas hinbringt oder versteckt; c) so weit man mit der Hand langen, was man berühren kann“ (ebd., S. 185).

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Sehen/ Berühren In den folgenden Ausführungen werde ich a) und c) als Praktiken der Aneignung, über die sich das Bett im Kontext psychiatrischer Anstalten als Beziehungsraum ausbildet, eingehender analysieren. Auch wenn das Bett oft als Raum der Passivität, der Ruhe und des Rückzugs beschrieben wird, entfaltet ein genauer Blick auf diesen Mikroraum eine unbändige Vielfalt an Praktiken, die dieser begrenzte Raum im Anstaltskontext provozierte, hervorbrachte und (mit-)gestaltete. Einige dieser Praktiken habe ich auf der Basis von Einträgen in Krankenakten aus psychiatrischen Einrichtungen aus der Zeit um 1900 zusammengetragen: (ganz zentral) das Liegen (als eine der Praktiken, die mit dem Bett, aber auch mit dem Kranksein verbunden sind und die ärztlicherseits angeordnet und durch das Bett angeleitet wurden und die Patient_innen als Kranke subjektivieren sollten, vgl. Ankele 2018a), das Lesen (vgl. Ankele 2018b), Schlafen und Träumen (bei Tag und bei Nacht), das Beobachten, Verbergen, Unter-der-Decke-Sein, das (Nach-)Denken, das Hören von (anwesenden und abwesenden) Stimmen, das Sehen (von Sichtbarem und Unsichtbarem), das Lachen (mit und ohne Grund), das Schlagen und Trommeln auf Bett und Bettgestell, das Hin- und Herschaukeln und -wälzen und -werfen, das Schreiben von Briefen und Nachrichten, das Verrichten von Handarbeiten, das Empfangen (oder Abwehren) von Mitpatient_innen, Ärzten2 und Pfleger_innen, das Reden, Erzählen, Schreien und Weinen, das Schweigen. Sollte der Erfolg der Bettbehandlung aus ärztlicher Sicht vor allem darin liegen, die Patient_innen zu beruhigen, so barg die verordnete Bettruhe durch ihren Mangel an Ablenkung auch die Gefahr einer solipsistischen Weltflucht, die ihren Ausdruck darin finden konnte, dass die Patient_innen mit geschlossenen Augen dalagen, „ohne zu schlafen“3: Augen, die den Blick nicht nach außen, sondern nach innen richteten und den verschlungenen Pfaden der eigenen Gedanken- und Traumwelt folgten. Lag für die Anstalts- und Klinikärzte hierin der große Nachteil, gar die 2 Da es um 1900 im Deutschen Reich keine Ärztin gab, die in den von mir ausgewählten psychiatrischen Anstalten und Kliniken tätig war, verwende ich bei dieser Berufsgruppe ausschließlich die männliche Form. Die deutschen Universitäten gewährten Frauen erst in den Jahren zwischen 1900 und 1909 die volle Immatrikulation und damit auch die Zulassung zum Medizinstudium, vgl. Burchardt 1994, S. 23. 3 Vgl. u.a. entsprechende Einträge (z.B. 9. Mai 1904) in der Krankenakte von Bertha Gertrud Fleck, Krankenakte der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein bei Pirna, Sachsen, Fotokopie in der Sammlung Prinzhorn, Heidelberg, Original im Bundesarchiv Berlin, Sig. R179/12087.

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Monika Ankele Gefahr der Bettbehandlung, so erkannte Sigmund Freud zur selben Zeit in der Verlagerung der Patient_innen in die Horizontale eine Art Katalysator für die von ihm entwickelte „kathartische Psychotherapie“ (Freud 1975): So könne durch die liegende Haltung „während einer Psychotherapie [die] sehr störende Einmengung neuer psychischer Eindrücke“ vermieden werden (ebd., S. 61) und in Kombination mit der Psychotherapie das Verfallen in ein schädliches Träumen ausgeschlossen werden. Die Idee der Liegekur übernahm Freud von dem amerikanischen Neurologen Silas Weir Mitchell, der diese im Rahmen der von ihm angewandten rest cure mit „Überernährung […], Massage und allgemeiner Faradisation“ kombinierte (Kraepelin 1916, S. 501).4

So weit der Blick reicht Die Konstitution eines Raumes kann durch die Wahrnehmung beeinflusst werden, schreibt die Soziologin Martina Löw in ihrem Buch über Raumsoziologie (Löw 2001). Demzufolge kann sich ein Raum sowohl durch Sichtbares – also durch das, was gesehen wird, was ins Blickfeld fällt – als auch durch Nicht-Sichtbares – wie Geräusche oder Gerüche – ausbilden. Bezogen auf die nicht-sichtbaren Elemente, die immateriellen Phänomene, die für die Formierung von Räumen eine Rolle spielen, schreibt sie: „Ich betone den Aspekt der Wahrnehmung für die Konstitution von Räumen, da nur darüber zum Ausdruck kommt, daß Menschen die sozialen Güter, die sie verknüpfen oder plazieren, nicht nur sehen, sondern auch riechen, hören oder fühlen. Geräusche sind an der Herausbildung von Räumen, zum Beispiel durch das Erklingen von Musik, das Ausrufen von Waren, das Tönen von Automotoren beteiligt. […] Der Geruch von Pflanzen, frisch gestrichenen Wänden oder Autoabgasen prägt die Wahrnehmung und damit die Konstituierung von Raum, ohne daß die sozialen Güter sichtbar sein müssen.“ (Ebd., S. 195) Löws Ausführungen sensibilisieren für die Macht der Sinne im Kontext der Ausbildung von Räumen. Sie werfen die Frage auf, welche Weise des Sehens das Liegen hervorbringt: Wie wirkte 4 Sigmund Freud rezensierte Mitchells Buch Fat and blood: an essay on the treatment of certain forms of neurasthenia and hysteria (Freud 1887).

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Sehen/ Berühren die horizontale Lage, in die Patient_innen während der Bettbehandlung gebracht wurden, auf ihre Sinne und damit auf die Wahrnehmung des sie umgebenden Raumes? Inwieweit erfuhren durch die lange Dauer, die Patient_innen im Bett verbringen mussten, bestimmte Wahrnehmungspraktiken (im Folgenden das Sehen) eine veränderte Bedeutung, eine neue Gewichtung? Welche Welt entfaltete sich den Patient_innen vom Bett, von der ihnen zugewiesenen Mitte aus? Denn das, was in den Blick der Liegenden geriet, war nicht zu trennen von der Haltung ihrer Körper:5 Durch die horizontale Lage änderten sich die Wege des Sehens und damit das, was ins Blickfeld geriet. In ihrem Essay „Über das Kranksein“ thematisiert Virginia Woolf diese Verlagerung des Körpers und den damit einhergehenden Wechsel der (Selbst-)Wahrnehmung: „Sobald das Bett angezeigt ist oder sobald wir, tief in Kissen versunken auf dem Sessel, die Füße auch nur zollbreit vom Boden auf einen anderen heben, hören wir auf, Soldaten in der Armee der Aufrechten zu sein; wir werden Fahnenflüchtige. Die anderen marschieren in die Schlacht. Wir treiben mit den Stecken im Strom, mit den welken Blättern Hals über Kopf auf dem Rasen, unverantwortlich und unbeteiligt zum ersten Mal seit Jahren imstande, um uns zu schauen, hinaufzuschauen – den Himmel, zum Beispiel, anzuschauen.“ (Woolf 2006, S. 317f.) Wenn sich Räume über Blicke konstituieren, sich Raumbeziehungen entlang von Blickachsen ausbilden, dann ist der Praktik des Sehens auch die Möglichkeit eingeschrieben, den begrenzten Mikroraum, den das Krankenbett beschreibt, durch den Blick zu erweitern. In den Krankenakten finden sich Vermerke, die für die Bedeutung, die dem Blick aus der Perspektive der Liegenden zukam, sensibilisieren: „Liegt noch immer in der alten Stellung mit tief bekümmertem Gesicht (im) Bett, beobachtet alles, was um sie vorgeht“,6 wurde in der Krankenakte von Luise B. in der Irrenklinik Heidelberg notiert. Auch der Blick von Emma S. ist vom Bett aus auf ihre Umgebung gerichtet: „Verlässt selten das Bett, sitzt aufrecht, verfolgt mit Interesse die Umgebung […].“7 Der Blick der Patientin

5 Ebenfalls am Beispiel des Liegens beschreibt Bollnow, wie eine Änderung der äußeren Haltung auf die innere Haltung wirkt (Bollnow 2010, S. 172–175). Guderian überträgt Bollnows Ansatz auf die Praxis der Psychoanalyse (Guderian 2004, S. 112 ff.). 6 Krankenakte Luise B., Eintrag vom 25.10.1901, Universitätsarchiv Heidelberg (UAH) L-III (Frauen), 01/15. 7 Krankenakte Emma S., Eintrag vom 15.3.1903, UAH L-III (Frauen), 03/32.

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Monika Ankele Meta W. schien durch den Raum auf das Fenster gerichtet zu sein: „Am Nachmittag unzugänglich, liegt mit starrem Blick im Bett, blickt auf ein Fenster, giebt keine Antwort.“8 Der Blick in den Raum, aus dem Fenster, durch den Türspalt konnte den Liegenden die Möglichkeit eröffnen, den Mikroraum, auf den sie zurückgeworfen waren, über die visuelle Wahrnehmung temporär zu erweitern und so der Immobilität ihres Körpers mit der Mobilität ihrer Augen zu begegnen. Folgt man dem antiken Konzept der Sehstrahlen, so entspricht das Sehen einer Berührung aus Distanz: Zu sehen bedeutet, mit dem Auge zu berühren. Das Konzept basiert auf der Annahme, dass das Auge – im Gegensatz zum Ohr, das wie ein Trichter oder eine Muschel geformt und daher passiv, als Empfänger gedacht wurde – ein aktives Organ ist, das sogenannte Sehstrahlen aussendet, mit denen es die Gegenstände abtastet. Dabei wird der „Sehstrahl als eine Art Auswuchs der Seele aufgefaßt, der […] die Dinge sozusagen auf Distanz betastet. Die Theorie beruht auf einem unwillkürlichen Vergleich mit der Berührung, so als ob es sich um ein sensitives, aus der Pupille austretendes Psychopodium handelte.“ (Simon 1992, S. 232) In der Bleistiftzeichnung einer anonymen Patientin, die in der Anstalt Waldau bei Bern in Behandlung war, scheinen die raumgreifenden Potenziale des Blicks thematisiert zu sein (Abb. 2). Ihre Zeichnung fand Eingang in die Sammlung des Schweizer Psychiaters Hermann Rorschach, Namensgeber jenes von ihm entwickelten psychologischen Testverfahrens. Eine breite schraffierte Fläche, die quer über das Blatt verläuft und mit dem Wort „Straße“ überschrieben ist, dominiert die Zeichnung und teilt die Darstellung in zwei ungleiche Hälften. Die untere Hälfte zeigt den Körper einer Frau im Profil, deren Hände auf dem neben ihr gerichteten Bett liegen. Das Bett ist in einer Aufsicht dargestellt, die ein Kissen und eine Decke zeigt, und ist markiert mit dem Wort „Bett“. Der Kopf der Figur ist auf gleicher Höhe mit einem großen vergitterten Fenster, das den mit Bett, Figur und Fenster nur lose dargestellten Raum zu begrenzen scheint. In der oberen Bildhälfte, jenseits der schraffierten Straße, ist ein weiteres Fenster zu erkennen. Über die beiden Linien, die aus den Augen der Figur kommen, werden die beiden Bildhälften (die beiden Straßenseiten) miteinander verbunden. Sind in dieser Zeichnung die Möglichkeiten skizziert, die dem Blick innewohnen? Zeichnet sich die Patientin

8

Krankenakte Meta W., Eintrag vom 14.2.1903, UAH L-III (Frauen), 03/25.

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Sehen/ Berühren

2  Bleistiftzeichnung einer anonymen Patientin, Anstalt Waldau bei Bern, undatiert

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Monika Ankele hier selbst, neben ihrem Bett stehend und aus dem vergitterten Fenster schauend, ihren Blick auf das gegenüberliegende Fenster gerichtet? Verdeutlicht sie mit den beiden schwungvollen Linien, die von ihren Augen aus über die Straße führen, ihre (wenn auch begrenzten) Möglichkeiten, den ihr zugewiesenen Raum zu erweitern, das Gegenüber durch ihren Blick gleichsam zu berühren? Ergänzt ist die Darstellung durch den auf der Längsseite des Papiers angebrachten Hinweis: „Das Ganze stellt die Liebe von Herrn Fritschi dar; eine Liebe von da ich seinen Sinn nicht will.“ Wird hier das Bett bzw. der Raum, der das Bett umgibt, durch die Möglichkeit des Sehens zu jenem „Mittelpunkt der phantasmatische[n] Erweiterung des Subjekts“, auf die Barthes in seinen Ausführungen zur Proxemie hinweist (Barthes 2007, S. 188)? Der Blick der Liegenden in den sie umgebenden Raum, vor allem auch der Blick aus dem Fenster des Krankensaales, in dem sie untergebracht waren, findet sich mehrfach in Zeichnungen von Patient_innen thematisiert, die in psychiatrischen Anstalten interniert waren. Auch Barthes merkt an, dass das Bett ein „bequemer Aussichtsposten“ sei (ebd.). Die Einführung der Bettbehandlung erforderte eine Neukonfiguration des psychiatrischen Raumes, denn ein zentrales Element der Behandlung war, dass sie in einem offenen Krankensaal durchgeführt wurde, wo die Patient_innen nicht alleine, sondern gemeinsam mit anderen Kranken untergebracht waren. Idealerweise sollten diese Säle über große Fenster verfügen, über die sich den Liegenden der Blick in den Außenraum entfalten konnte, wenn möglich in einen Garten. Der Psychiater Albrecht Paetz schrieb über die Einflüsse landschaftlicher Reize auf den Gemütszustand der Patient_innen: „Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass, je freundlicher der Ausblick in die Natur, umso freundlicher und heilsamer der Eindruck auf das Gemüth sein wird“ (Paetz 1893, S. 53): „[A]uf wen hätte nicht schon die Anschauung solcher schönen Gottesnatur erhebend und tröstend gewirkt in schwerem Leid […]?“ (Ebd.) Der Natur wurde eine heilende Kraft nachgesagt, die, wie Paetz in seinen Ausführungen deutlich machte, schon durch bloße „Anschauung“ wirksam werden könne – und damit auch durch den Blick aus dem Fenster. Doch nicht immer war der Anstaltsgarten in einem Zustand, der das „Gemüth“ erfreute, und so schrieb Meta W. 1903 aus der Irrenklinik Heidelberg an ihr „[l]iebes Mütterchen“: „[…] der Garten hier ist so triste die Vegetation so kümmerlich; kaum dass man ein paar Blumen vom Fenster aus sehen kann u diese machten die melancholischen Gedanken in mir wach. Ob wohl die Magnolien u. die Akazien noch so süß duften wie

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Sehen/ Berühren ehedem?“9 Bei Meta W. verstärkte der Blick aus dem Fenster das Gefühl des Verlusts einer Welt, die nicht nur mit dem Auge berührt, sondern mit allen Sinnen wieder erfasst werden wollte.

Was man mit der Hand langen, was man berühren kann Folgt man Barthes’ Bestimmungsmerkmalen für den proxemischen Raum, so bildet sich dieser nicht nur über visuelle Praktiken aus, sondern gleichsam über materielle Praktiken, die dieser Mikroraum, der das Subjekt umgibt, evoziert. Dabei sind die Grenzen und Möglichkeiten dieses Raums darüber definiert, was „man mit der Hand langen, was man berühren kann“ (Barthes 2007, S. 185). Claudia Guderian verweist darauf, dass der bzw. die Liegende über einen anderen Raum als der oder die Stehende verfügt (vgl. Guderian 2004, S. 113): „Erreichbarkeit, Greifbarkeit und der dafür erforderliche Kraftaufwand sind für den Liegenden ein ganz anderer als für den Stehenden.“ (Ebd.) Aus der Perspektive der Liegenden sind Bewegungsradius, Zonen der direkten Berührung und Interaktion auf das Bett beschränkt, das mit der Kulturwissenschaftlerin Heidi Helmhold als ein „textilintensive[r] Ort[ ]“ beschrieben werden kann (Helmhold 2012, S. 67). So sind es auch vor allem textile Materialien, welche die Liegenden vom Bett aus mit der Hand langen, welche sie berühren können: das Leintuch, auf dem der Körper liegen, die Decke, die den Körper wärmen, und das Kissen, das den Kopf stützen sollte. Damit werden zugleich die zentralen Eigenschaften dieses Ortes offenkundig: Materialien wie Leintuch, Kissen, Decken, Matratze (oder Strohsack) bilden eine textile Architektur, die weich und formbar ist und die als „(Stoff-)Körper“ (ebd.) dem leiblichen (unbehausten, ungeschützten) Körper Schutz gewähren kann. Diese Materialien fügen sich als „Zwischenmedien“10 zwischen Subjekt und Welt. Weich

9 Abschrift eines Briefes von Meta W. an ihre Mutter vom 17. März 1903, Krankenakte, UAH 03/25. 10 Vgl. zum Begriff des Zwischenmediums Herwig (2017), die sich dabei auf David Katz, Der Aufbau der Tastwelt (1925), bezieht.

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Monika Ankele und formbar, lassen sich die textilen Materialien reißen, falten, aufspannen, verknoten, zusammendrücken, umwickeln, in einzelne Fäden auflösen, neu zusammensetzen. Sie berühren und werden berührt. Sie passen sich dem Körper an, speichern Abdruck und Geruch. Mit dem Einsatz von Händen, Füßen, Zähnen können sie temporär oder dauerhaft in eine andere Form gebracht werden, weder Werkzeuge noch große Kraft sind hierfür vonnöten. Diese spezifischen Eigenschaften ermöglichen es den Liegenden, ephemere textile Architekturen zu gestalten, die mit Helmhold als „vernakulär“ bezeichnet werden können, da diese „von den Akteuren im Alltagshandeln gebaut werden, ausgehend von einem Bedarf an Raumsituationen“ (ebd., S. 19). In den Krankenakten psychiatrischer Anstalten finden sich Einträge, die auf dieses spezifische „Raumhandeln“ (Helmhold 2016, S. 95) der Patient_innen aufmerksam machen: So bot die Decke den Patient_innen die Möglichkeit, sich einen Raum im Raum zu schaffen, in den sie sich zurückziehen konnten und an dem sie vor den Blicken und Zugriffen der anderen geschützt waren (vgl. Ankele 2010). Sobald Ärzte an ihr Bett traten, schlüpfte Emma Hauck „ganz unter die Decke“ oder zog sich diese „über den Kopf“.11 Rosalie D. lag unter der Decke, „weil sie Angst habe vor den anderen“.12 Wilhelm K. verweigerte den Ärzten die Antwort, dabei zog er „die Bettdecke über den Kopf & weint heftig“.13 Wilhelm B. lag „den grössten Teil des Tages in den Bettdecken vergraben“ und schien dabei „verstimmt und abweisend“.14 Marie C. war, sofern sie nicht „auf dem Kopfende des Bettes“ saß, „ins Leere starrend“, „ganz in die Decken gewickelt, sodaß man nichts von ihr sieht“.15 Und Marie E. nahm, wie die Ärzte notierten, „alle weissen Bettstücke ihres Bettes zusammen u. hüllt sich darin ein“.16

11 Krankenakte Emma Hauck, Einträge vom 20.3.1909 und aus dem Juli desselben Jahres, Großherzogliche Universitäts-Irrenklinik Heidelberg, Original in der Sammlung Prinzhorn. Vgl. dazu Ankele 2010. 12 Krankenakte Rosalie D., Eintrag vom 5.1.1900, UAH L-III (Frauen), 99/167. 13 Krankenakte Wilhelm K., Eintrag vom 26.9.1901 (Akte aus der Irrenanstalt Friedrichsberg), Staatsarchiv Hamburg (StAHH), Krankenakten der Staatskrankenanstalt Langenhorn 352-8/7 (Abl. 1995/2), Sig. 3014. 14 Krankenakte Wilhelm B., Eintrag vom 10.5.1920, StAHH 352-8/7 (Abl. 1995/2), Sig. 13017. 15 Krankenakte Marie C., Eintrag vom Juli 1905, UAH L-III (Frauen), 05/75. 16 Krankenakte Marie E., Eintrag vom 10.8.1900, UAH L-III (Frauen), 99/111.

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Sehen/ Berühren Die Bedeutungsoffenheit, die der Medienwissenschaftler Gunnar Schmidt dem Faden zuschreibt (Schmidt 2007, S. 7) und die in seiner Möglichkeit gründet, in unterschiedlichen Nutzungszusammenhängen eingesetzt werden zu können, lässt sich auch auf den Stoff übertragen, der in der Psychiatrie, vielfach bedingt durch den Mangel an anderen Materialien und Ausdrucksmöglichkeiten, zum Ausgangspunkt materieller (Raum-)Praktiken wurde. Als „Zerstörungskünstler“ bezeichnete der Psychiater Emil Kraepelin die Patient_innen angesichts ihrer Interaktionen mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Material (Kraepelin 1883, S. 335; vgl. auch Ankele 2018c): ein Begriff, der sowohl den Akt der gewaltvollen Beschädigung als auch (über den Begriff des Künstlers) den Akt der kreativen Gestaltung und Hervorbringung wie auch der veränderten Signifizierung von Dingen und Materialien impliziert. Durch die im Rahmen der Bettbehandlung vorgenommene Herausnahme der Patient_innen aus den Isolierzellen und ihre Verlegung in den Krankensaal, wo eine rigide Überwachung durch die Pfleger_innen gegeben sein sollte, rechnete Kraepelin damit, dieser von ihm als „Zerstörungssucht“ bezeichneten Zweckentfremdung von Dingen und Materialien entgegenwirken zu können (Kraepelin 1903, S. 438f.). Gleichwohl die Pfleger_innen im Krankensaal schneller intervenieren konnten, zeigte die Maßnahme dennoch nur bedingt den gewünschten Erfolg – denn das Textile als Grundkomponente des „Bettes“17 blieb sowohl in der Isolierzelle als auch im gemeinschaftlichen Krankensaal oft das einzige Material, in dem die Patient_innen ihre Spuren hinterlassen, auf das sie ihre Affekte richten, das sie sich aneignen und durch das sie sich ausdrücken konnten: „Heute morgen zerreißt er seine sämmtlichen Decken“,18 „macht sich aus der Decke ein Costüm“,19 „zerriß die Bettdecke“,20 „zerreißt Matratzen“,21 „[r]eisst, wühlt ihre Betten durcheinander, drapiert sich mit Deckenfetzen“,22 „[w]ird unruhig, wirft alle Bettstücke heraus, bis auf zwei Matratzenteile, auf die sie ein Bett

17 Ich setze den Begriff des Bettes hier in Anführungszeichen, da die Betten in den Isolierzellen direkt auf dem Boden gerichtet sein konnten bzw. den Patien_innen oft nur ein Leintuch in die Zelle gegeben wurde, mit dem sie sich bedecken und wärmen konnten. Wurde das Leintuch zerrissen, konnte der Stoff durch Stroh oder Häcksel ersetzt werden. 18 Krankenakte Max W., Eintrag vom 6.5.1902 (Akte aus der Irrenanstalt Friedrichsberg), StAHH 352-8/7 (Abl. 1995/2), Sig. 2486. 19 Krankenakte Marie Lieb, Eintrag vom 8.9.1896, UAH L-III (Frauen). 20 Krankenakte Rosa G., Eintrag vom 23.7.1889, UAH L-III (Frauen), 0/6. 21 Ebd., Eintrag vom 26.7.1889. 22 Ebd., Eintrag vom April 1903.

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Monika Ankele

3  Patientin mit selbstgestalteten Objekten in einem Bodenbett, Fotoalbum aus der Heil- und Pflegeanstalt Weilmünster (1909–1912)

legt“,23 „[p]ackt das ganze Bett aus u. legt sich auf den Boden. Stellt das Bett vor die Tür, vor das Fenster, befreit die Bettstücke von allen weissen Überzügen. Drapiert sich u. das Bett in den mannigfaltigsten Variationen“.24

23 Krankenakte Emma S., Eintrag vom 6.8.1909, UAH L-III (Frauen), 09/175. 24 Krankenakte Marie E., Eintrag vom Oktober 1900, UAH L-III (Frauen), 99/111.

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Sehen/ Berühren

4, 5  „Montagen von Kunsthaar und Tüchern“, Staatliche Heilanstalt Weinsberg, undatiert

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Monika Ankele Um das Zerreißen von Wäsche, das für die Anstalten einen nicht unerheblichen Kostenfaktor darstellte, zu unterbinden, fanden sogenannte „feste Decken“ Anwendung: Die feste Steppung dieser Decken sollte ein Auflösen oder gar Zerreißen verunmöglichen. Eine unkommentierte Aufnahme aus der Heil- und Pflegeanstalt Weilmünster, die in einem als Fotoalbum bezeichneten Buch der Anstalt aufbewahrt wird, zeigt eine Patientin, der – vermutlich in einer Isolierzelle – ein Bodenbett gerichtet wurde (Abb. 3). Die Patientin sitzt aufrecht auf der Matratze, sie blickt nicht nur direkt in die Kamera, sie zeigt auch mit dem Zeigefinger auf sie. Um ihre Schultern hat sie eine Wolldecke gelegt, über ihren Beinen ist eine fest gesteppte Decke ausgebreitet. Die Verwendung dieser Decke legt die Vermutung nahe, dass die Patientin die Decken, die ihr bisher gegeben worden waren, zerrissen hatte. Umso bemerkenswerter erscheinen an diesem Bild die unzähligen kleinen und fragilen Objekte, die, soweit zu erkennen, aus Fäden, Schnüren, Stoffresten und anderen Materialien gefertigt wurden. Zwischen den kahlen Wänden des Raumes und auf der strengen Symmetrie der Decke, auf der sie drapiert sind, erblühen die Objekte wie eine wilde und ungezähmte Landschaft, die die Patientin hier ihrem Gegenüber präsentiert. Mit Materialien, die sie mit der Hand langen und berühren konnte, schuf sie sich Bezugsobjekte, die auf sie verwiesen und den Ort als den ihren markierten. Des Liegens im Bett überdrüssig geworden, formulierte die in Kennenburg untergebrachte Martha Kalchreuter im Sommer 1921 in einem Brief an ihren Vater: „Wie gerne würde ich aufstehen und mit dir wandern. Könne man nicht statt meiner eine Idee ins Bett legen […].“25 Wie eine Antwort auf dieses Sehnen wirken dabei zwei Fotografien, die in der Heilanstalt Weinsberg aufgenommen wurden (Abb. 4 und 5). Als „Montagen von Kunsthaar und Tüchern“ betitelt, zeigen die beiden Fotos zwei Betten: Die erste Aufnahme lässt ein schwarzes Büschel Haare erkennen, das unter der Decke herausragt; die Decke ist leicht gewölbt und erweckt, verstärkt durch das Haarbüschel, den Eindruck, dass hier jemand unter der Decke liegt und sich nicht zeigen will. Die zweite Aufnahme zeigt ein

25 Krankenakte Marta Kalchreuter, Brief an den Vater, Juli/August 1921, Universitätsklinik für Gemüts- und Nervenkrankheiten Tübingen (darin enthalten: Krankenakte der Heil- und Pflegeanstalt Kennenburg), Fotokopie in der Sammlung Prinzhorn, Heidelberg, Original im Universitätsarchiv Tübingen, No. 669/1537.

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Sehen/ Berühren Bett, bei dem die Decke zurückgeschlagen ist und das, was zuvor noch als ein unter der Decke ruhender Körper vermutet wurde, wird als eine Assemblage unterschiedlicher textiler Materialien sichtbar, die zu einer Art Körper geformt wurden. Statt, wie zu erwarten gewesen wäre, einem Patienten oder einer Patientin, der bzw. die unter der Decke liegt, sehen wir hier das, was mit Marta Kalchreuter „eine Idee“ genannt werden könnte. Hier scheint jemand ein Double kreiert zu haben, das nun stellvertretend dieses Bett bewohnt.

Resümee Vor dem Hintergrund der veränderten Bedeutung, die das Krankenbett im Zuge der Einführung der Bettbehandlung in psychiatrischen Anstalten um 1900 erfuhr, folgte ich in meinem Beitrag der Frage nach der Ausbildung des Krankenbettes als Beziehungsraum und fokussierte dabei sowohl visuelle als auch materielle Mikropraktiken, die dieser Raum hervorbrachte und/oder neu gewichtete. Zwar kann das Bett im Anstaltskontext als „Ort der Disziplinierung“ (Harrasser 2012, S. 234) beschrieben werden, doch entfaltet ein „Blick von unten“ auf diesen Mikroraum eine Vielzahl an ephemeren, flüchtigen Praktiken, die die Patient_innen ausführten, um sich diesen Raum, wenn auch nur für die Dauer eines Augenblicks, zu eigen zu machen und sich damit im Zustand des Unbehausten eine Weltenmitte, einen proxemischen Raum zu schaffen.

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Monika Ankele Literatur Ankele 2018a Ankele, Monika: Horizontale Szenographien. Das Krankenbett als Schauplatz psychiatrischer Subjektivation, in: Lars Friedrich; Karin Harrasser; Céline Kaiser (Hg.): Szenographien des Subjekts, Wiesbaden: Springer Verlag 2018, S. 49–64. Ankele 2018b Ankele, Monika: Im Dialog – Lesende PatientInnen, in: Historische Anthropologie, H. 1, 2018, S.8 –28. Ankele 2018c Ankele, Monika: Sich Aufführen. Rauminterventionen und Wissenspraktiken in der Psychiatrie um 1900, in: dies.; Céline Kaiser; Sophie Ledebur (Hg.): Aufführen, Aufzeichnen, Anordnen. Wissenspraktiken in Psychiatrie und Psychotherapie, Wiesbaden: Springer 2018, S. 71–89. Ankele 2010 Ankele, Monika: Am Ort des Anderen. Formen der Raumaneignung in Psychiatrien um 1900, in: Dagmar Hänel; Alois Unterkircher (Hg.): Medikale Räume. Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit, Bielefeld: transcript 2010, S. 43–63. Barthes 2007 Barthes, Roland: Wie zusammen leben. Simulationen alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976–1977 (2002), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. Bollnow 2010 Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum (1963), 11. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer 2010. Burchardt 1994 Burchardt, Anja: Die Durchsetzung des medizinischen Frauenstudiums in Deutschland, in: Eva Brinkschulte (Hg.): Weibliche Ärzte. Die Durchsetzung des Berufsbildes in Deutschland, Berlin: Hentrich 1994, S. 10–23. Certeau 1988 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns (1980), Berlin: Merve 1988.  

Flusser 1993 Flusser, Vilém: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München/Wien: Carl Hanser 1993. Freud 1975 Freud, Sigmund: Zur Psychotherapie der Hysterie (aus: Studien über Hysterie) (1895), in: ders.: Schriften zur Behandlungstechnik. Ergänzungsband, hg. v. Alexander Mitscherlich; Angela Richards; James Strachey, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1975. Freud 1887 Freud, Sigmund: Die Behandlung gewisser Formen von Neurasthenie und Hysterie. Von S. Weir Mitchell (Rezension), in: Wiener Medicinische Wochenschrift, H. 5, Jg. 37, 1887, S. 138. Guderian 2004 Guderian, Claudia: Die Couch in der Psychoanalyse. Geschichte und Gegenwart von Setting und Raum, Stuttgart: Kohlhammer 2004. Harrasser 2012 Harrasser, Karin: Schlafen und Sprechen am Krankenbett. Patientwerden als teilsouveräne Artikulation, in: Walter Bruchhausen; Céline Kaiser (Hg.): Szenen des Erstkontakts zwischen Arzt und Patient, Göttingen: V&R unipress 2012 (Medizin und Kulturwissenschaft, Bd. 7), S. 233–240. Helmhold 2016 Helmhold, Heidi: „Haftsack, Knochenkoffer, Fickmaschine“. Matratze/Matrize: Körper von Normierung und Einschreibung in Hafträumen, in: Irene Nierhaus; Kathrin Heinz (Hg.): Matratze/Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur, Bielefeld: transcript 2016 (wohnen +/− ausstellen, Bd. 3), S. 75–98. Helmhold 2012 Helmhold, Heidi: Affektpolitik und Raum. Zu einer Architektur des Textilen, Köln: Walther König 2012 (Kunstwissenschaftliche Bibliothek, Bd. 34). Herwig 2017 Herwig, Jana: Bischöfliche und andere Handschuhe. Medium, Objekt, Interface, in: Karin Harrasser (Hg.): Auf Tuchfühlung. Eine Wissensgeschichte des Tastsinns,

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Sehen/ Berühren Frankfurt a. M./New York: Campus 2017, S. 149–170. Kraepelin 1916 Kraepelin, Emil: Einführung in die Psychiatrische Klinik, 3., völlig umgearb. Aufl., Leipzig: J. A. Barth 1916. Kraepelin 1903 Kraepelin, Emil: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Bd. 1, 7., vielf. umgearb. Aufl., Leipzig: Barth 1903. Kraepelin 1883 Kraepelin, Emil: Compendium der Psychiatrie. Zum Gebrauche für Studirende und Aerzte, Leipzig: Abel 1883. Löw 2001 Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. Paetz 1893 Paetz, Albrecht: Die Kolonisirung der Geisteskranken in Verbindung mit dem OffenThür-System, ihre historische Entwicklung und die Art ihrer Ausführung auf Rittergut Alt-Scherbitz, Berlin: Julius Springer 1893. Schmidt 2007 Schmidt, Gunnar: Ästhetik des Fadens. Zur Medialisierung eines Materials in der Avantgardekunst, Bielefeld: transcript 2007. Simon 1992 Simon, Gérard: Der Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik, München: Wilhelm Fink 1992. Woolf 2006 Woolf, Virginia: Über das Kranksein (1926), in: dies.: Das Lesebuch, hg. v. Corinna Fiedler, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2006, S. 313–328.

Abbildungsnachweise Abb. 1: Alter, W.[ilhelm]: Fürstliche Lippische Heil- und Pflegeanstalt Lindenhaus bei Lemgo, in: Johannes Bresler (Hg.): Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und Bild, 1. Bd., Halle a. d. Saale: Carl Marhold 1910, S. 153–162, hier: S. 158.

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Abb. 2: Archiv und Sammlung Hermann Rorschach, Universitätsbibliothek Bern, HR 4:3, Inv. 76v. Abb. 3: Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Kassel, Fotoalbum „Für den Unterricht in Psychiatrie“, F 19 Nr. 1001. Abb. 4 und 5: Staatsarchiv Ludwigsburg, F 234 I_Bü 1522.

III. Strittige

Territ

e

torien

Salvatore Pisani Le Vele di Scampìa Sterbende Moderne filmisch beschleunigt

„Dies ist die Geschichte eines Mannes, der aus der 50. Etage eines Hochhauses fällt. Und während er fällt, wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder: Bis hierher lief es noch ganz gut, bis hierher lief es noch ganz gut. Doch wichtig ist nicht der Fall, sondern der Aufprall. – Dies ist die Geschichte einer Gesellschaft, die fällt.“1 Hass (La haine, Mathieu Kassovitz, F 1995)



Sprunghafte Vorbemerkungen zum ‚Fall der Moderne aus der 50. Etage‘

Großwohnkomplexe sind Sozialutopien der Moderne. Was sie sich vor dem Bauboom Mitte des 20. Jahrhunderts nicht hätten träumen lassen, ist, dass sie eines Tages mit dem Makel der sozialen Unordnung, Konfusion und offenen Gewalt behaftet sein würden. Folgt man den öffentlichen Diskursen, sind die Praktiken und der Umgang mit Großwohnsiedlungen seit geraumer Zeit widersprüchlich, die Unsicherheiten groß und die 1 Das von mir übersetzte Zitat zieht die Worte der Anfangsszene und den ersten Satz der Schlussszene aus Kassovitz’ Film zusammen.

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Le Vele di Scampìa baulichen Zustände prekär. Hierzu nur wenige zentrale Stichworte: In Frankreich war bereits in den 1960er Jahren die Rede von der maladie des Grands Ensembles. Die ‚Krankheit‘ wurde nach der Großwohnsiedlung Sarcelles nördlich von Paris als sarcellites bezeichnet und umschreibt Bindungs- und Bezugsverlust, Sinnverlassenheit und Depression. Ihr widmete Jean-Luc Godard 1967 seinen Film Deux ou trois choses que je sais d’elle.2 1972 erließ dann der zuständige Minister Olivier Guichard ein Bauverbot für Großwohnkomplexe. Im gleichen Jahr erfolgte in Pruitt-Igoe im US-Bundesstaat Missouri die Sprengung von 33 elfstöckigen Siedlungsbauten (Entwurf Minoru Yamasaki, 1955), die in den USA als „iconic image of mass housing“ galten (Urban 2012, S. 17; vgl. ferner Horlitz 2015). Charles Jencks, Chefideologe der Postmoderne, kanonisierte das Ereignis zum Inbild einer gescheiterten Moderne: „the day modern architecture died“ (Urban 2012, S. 17). Florian Urban fasst die Ernüchterung der Öffentlichkeit seither wie folgt zusammen: „Some of the very projects that had come with an unprecedented rhetoric of hope subsequently became the incarnation of social dystopia“ (ebd.). In den USA folgte eine Reihe weiterer Siedlungssprengungen. Ende der 1970er Jahre begann in Frankreichs Banlieues die Kette bis heute anhaltender sozialer Aufstände und Jugendkrawalle. Die sogenannte „violence urbaine“, mit der man das Ende des sozialen Friedens bezeichnet, brachte Mathieu Kassovitz 1995 mit Hass (La haine) auf die Kinoleinwand (vgl. Donzelot 2006). Kurzum: Es scheint, als habe sich die Handschrift der planenden Vernunft zu Ende des 20. Jahrhunderts in eine Ästhetik des Schocks verkehrt. Ruinöse Großwohnsiedlungen erzählen schließlich nicht von einer großartigen Vergangenheit. Anders als Antiken-Ruinen halten sie die „Schrecksekunde des Modernismus“ fest (Böhringer 1982, S. 371). Dies vermögen sie deshalb so eindringlich zu tun, weil sie die Moderne in Widerspruch zu sich selbst bringen. Denn ihrem Selbstverständnis nach ist die Moderne das Intakte selbst. Eine jener modernen Ruinen-Städte sind die Vele di Scampìa, illegal bewohnt von wenigen verbliebenen Familien (vgl. Capasso 2017). Im Folgenden werden einige zentrale Aspekte ihrer Verfallsgeschichte in den Blick gerückt, die den Umschlag von der Utopie in die gesellschaftliche

2 Zur Kritik an den Großwohnsiedlungen in Frankreich vgl. Canteux 2014, S. 197−234. Zur Ernüchterung nach der ‚großen Euphorie‘ in Bezug auf den modernen Großsiedlungsbau allgemein: Philipp 2011 und Althaus 2018, S. 111−116.

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Salvatore Pisani Ruine, ja Katastrophe herbeigeführt haben. Den Ausführungen liegt die These zugrunde, dass die Ordnungsarchitektur selbst das bedingt hat, was sie zu verhindern und beseitigen angetreten war, nämlich Unordnung und Gewalt. Weiter wird behauptet, dass die Medien- und Filmindustrie mit ihrem Ruf nach law and order dazu beigetragen hat, dass die Notlage in der Großwohnsiedlung sich verschlimmerte und der Verfall sich insgesamt beschleunigte. Ihr Aufklärungsimpetus und ihr Engagement sind der Sache selbst zum Verhängnis geworden. Man kann sich deshalb nicht des Eindrucks erwehren, dass sich die moderne Zivilgesellschaft, besonders weil sie sich über jede Selbstaufklärung erhaben fühlt, in den Käfig der eigenen Halluzinationen einschließt. Und vielleicht ist das die eigentliche Katastrophe von Scampìa.

Die Vele di Scampìa. Von der Heilszur Unheilsgeschichte Was sind und wo liegen die Vele? Die Vele sind eine Großwohnsiedlung im Stadtteil Scampìa an der nördlichen Peripherie Neapels, errichtet Mitte der 1970er Jahre nach Entwürfen von Francesco di Salvo (Abb. 1 und 2).3 Ihr Name rührt von der segelförmigen Gestalt einiger Zeilenbauten her (ital. la vela = das Segel). Die sieben parallel stehenden Wohnkolosse, die einer bewährten Terrassenbautypologie folgen, erreichen eine Länge von circa 100 Meter und eine Höhe von bis zu 40 Meter. Die Vele gehören zu jener Ordnungsarchitektur am Stadtrand und auf der grünen Wiese, wie sie der moderne Sozial- und Interventionsstaat in Westeuropa und den USA in den 1960er und 1970er Jahren, den sogenannten Boomjahren, massenhaft errichtete.4 Während die Kommune in Scampìa rund 1.000 Sozialwohnungen hochzog, führte sie gleichzeitig eine soziometrische Studie zu den Armutsverhältnissen in der Altstadt Neapels durch. Die Studie erschien

3 Zur Geschichte der Vele vgl. Ricci 2003; Castagnaro/Lavaggi 2011 und Di Costanzo/Ravel 2013. 4 Eine instruktive Überblicksdarstellung zu dieser Entwicklung bietet Beckmann 2015, S. 114−284.

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Le Vele di Scampìa

1  Le Vele di Scampìa. Bebauungsplan der lotti L und M. Von den geplanten acht Wohneinheiten wurden 1975 sieben ausgeführt.

2  Le Vele di Scampìa. Wohneinheit vom Typus a tenda. Aktueller Zustand

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Salvatore Pisani 1978 unter dem Titel „I ‚bassi‘ a Napoli“ (Mazzacane 1978) und nahm Neapels charakteristische straßenoffene Einraumwohnungen zu ebener Erde in den Blick, die sie als Habitate des sozialen Unterbaus, des sogenannten „popolino“, indizierte (Abb. 3). Die in Statistiken, Diagrammen und Bildaufnahmen dokumentierte hohe Wohndichte, notdürftige Raumausstattung, mangelnde Hygiene und innerfamiliäre Promiskuität mündeten in dem erwartungsgemäßen Resultat, dass der gesellschaftliche Unterbau ‚krank‘ sei, weil er in ‚kranken‘ Wohnungen hause.5 Symptomatisch an der Vorgehensweise ist, dass alles, was sich nicht den Erfassungsschemata der Diagrammatik fügte, aus der Betrachtung herausfiel. So der gewachsene und geschlossene Charakter dieses Sozialmilieus und der unbrüchige Sozialpakt der Unterschichten mit den bürgerlichen und adligen Milieus, um nur zwei Beispiele anzuführen (beschrieben bei Sales 2006, S. 45−53 und Malaparte 1964, S. 334−336). Der Fall bezeugt, was es heißt, in Modellen zu denken bzw. das Soziale statistisch zu ‚verrechnen‘. Ausschlaggebend scheint zu sein, dass Erhebungen Resultate hervorbringen, nicht, dass diese angemessen sind.6 Keinesfalls nebensächlich ist der Umstand, dass die statistische Erfassung der Unterschichten und die modularisierte Großstruktur der Vele ein und demselben Modus gehorchen. 1969 wurde das Projekt der Vele als ein Bausystem (mit Modulen von 1,20 × 1,20 m) vorgestellt, das bis zu acht verschiedene Wohnungstypen in standardisierter Fertigbauweise ermöglichte. Beigegebene Statistiken, Berechnungen und Montagepläne suggerierten, dass die sozialen Zustände hier gleichsam einer höheren Organisationsform überantwortet würden (Ricci 2003). Die soziale Ordnung der Vele wurde mithin zur Frage der optimalen Distribution, Erschließung und Verdichtung der Raumeinheiten, also beschränkt auf (interne) Kriterien von Ordnung und Ökonomie. Das gesamte Projekt folgte letztlich der Zielvorgabe, dass die bis zu sechs Raumeinheiten

5 In den Nachkriegsjahren zählte man vier bis fünf Bewohner pro basso, in dem „ein Vorhang oder eine Notwand oder Mobiliar eine Gliederung in die Nische für Koch- und Waschgelegenheit und WC, in den kombinierten Wohn- und Schlafteil und häufig sogar noch in Werkstatt oder Kramladen“ vornimmt; so Döpp 1968, S. 152. 6 Vgl. Foerster 1993, S. 269–280. Zur Tendenz der Mathematisierung und Quantifizierung der menschlichen Existenz in der Blütezeit der Kybernetik in den 1950er und 1960er Jahren, mit der die Planung und der Bau von Großwohnsiedlungen in einem engen Verhältnis stehen, vgl. Hörl/Hagner 2008.

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Le Vele di Scampìa

3  Interieur eines basso napoletano

zählenden Appartements die beengten innerstädtischen Wohnverhältnisse überwinden sollten. Der Hoffnung, hier eine auf Kalkül begründete Sozialgemeinschaft entstehen zu lassen, gab Francesco Di Salvo in seinen Präsentationsentwürfen Ausdruck. Analog zu Le Corbusiers urbaner Utopie der Ville radieuse künden seine ‚leuchtenden’ Wohnkathedralen von einem neuen Menschheitsmorgen (Abb. 4). Und doch macht es einen Unterschied ums Ganze, dass die Vele-Kolosse nach Pruitt-Igoe zu stehen kamen und damit nicht mehr jene Unschuld besaßen, welche die frühe Moderne noch für sich hatte reklamieren können. Nach bereits einem Jahrzehnt hatte sich in Scampìa die Utopie zerschlagen. Die Bewohner apostrophierten die Vele-Bauten in einem offiziellen Dossier 1988 als „Gefängnisse“, „Lager“, „Monster“ und in Anlehnung an den französischen Ausdruck bidonville (= Slum) als „Bidonvele“ (vgl. Lepore 1993, S. 79). Es wurden besonders Klagen über das System der offenen metallenen Gangways laut, über welche die hohen und dicht besiedelten Wohnhausscheiben erschlossen werden (Abb. 5). Statt sozialer Integration, wie geplant, generierten sie umgekehrt „la negazione di ogni forma di privacy, l’umidità, il buio, l’inaccessibilità visiva del

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Salvatore Pisani

4  Francesco di Salvo, Entwurfsansicht der Vele, 1975

5  Die Gangway-Struktur einer Wohneinheit der Vele-Siedlung. Aktueller Zustand

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Le Vele di Scampìa

6  Sprengung von drei Vele in Scampìa, 2003

cielo“ (ebd.).7 Sie ahmten auch weniger das Gassen- und Häusergeflecht der Altstadt nach, wie von den Planern behauptet, als dass sie dieses Versprechen bloßstellten (ebd.; Ricci 2003, S. 74). Die Bewohner selbst merkten in Fernseh-Interviews an, dass die Disposition von Gangways und Appartements vielmehr an die segregierenden Korridore, Galerien und Zellentrakte von Zuchthäusern erinnerten, im Besonderen die des neapolitanischen Zuchthauses von Poggioreale, wo nicht wenige von ihnen ‚eine zweite Adresse‘ besaßen. Was zynisch klingt, ist indes Signatur des Dystopischen. Die Mittellosen wurden durch die Vele gesellschaftlich nicht integriert, sondern desintegriert. Fatal war die Entwicklung deshalb, weil der Ausschluss aus der Zivilgesellschaft die Aufnahme in die organisierte Kriminalität bedeutete.8 Scampìa gilt heute in Italien als Inbegriff der Anti-Stadt, ja des Anti-Staats. Hier hat sich ein Staat im Staat gebildet, regiert von der Camorra. Nach der Jahrtausendwende spitzte sich die Situation in den Vele zum sozialen Notstand zu. Scampìa entwickelte sich zu einem Drogenumschlagplatz außergewöhnlichen Ausmaßes. Die Clan-Kriege der Jahre 2003 und 2004 kosteten rund 140 Menschen das Leben. Scampìa wurde Anfang des

7 „Der Mangel an Privatheit, die Feuchtigkeit, der Lichtmangel und der nicht sichtbare Himmel“ wurden auch als Konstruktionsfehler der Gangways – vom Architekten „strade pensili“ (= hängende Straßen) genannt – angeführt. Dagegen betonte Di Salvo, dass die Aufständerung der Wohnblöcke und die offenen Gangways eine optimale Ventilation garantieren würden, Di Salvo 1969, S. 23. 8 Zum Zusammenhang von Ghettoisierung, Mangel an Identitätsbildung und hoher Kriminalitätsrate in Scampìa und Secondigliano (einem weiteren Stadtteil im Norden Neapels) vgl. Morlicchio 1999, S. 94−97 und Orientale Caputo 1999, S. 29−33.

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Salvatore Pisani 21. Jahrhunderts gleichsam zu Italiens Pruitt-Igoe, d.h. zum Inbild einer baulichen und gesellschaftlichen Ruine, sodass man beschloss, drei der sieben Zeilenbauten der Vele zu sprengen (Abb. 6). Die außerordentliche Negativität dieser Verfallsgeschichte liegt darin begründet, dass die Ordnungsarchitektur der Vele die sozialen Missstände nicht nur nicht behoben, sondern diese noch verschärft hat. Die Camorra fand in den Vele klandestine Depots, Verstecke, Unterschlupfe und Räumlichkeiten für das Dealen mit Drogen. Sie stülpte die Idee der Ordnung in die Figur des Labyrinths um, in dessen Unbelangbarkeit sie sich in Sicherheit wog. Dieser Formulierung wohnt die Behauptung inne, dass die labyrinthischen Verzweigungen bereits Teil der Ordnungsstruktur sind. So wie sich in den Vele Ordnungen aus Ordnungen erzeugen, überlagern und durchdringen, ergeben sie in der Negativfolie endlose Gangways, die sich mit düsteren Treppenhäusern verschalten, und diese wiederum mit isolierten Parkarealen oder abgelegenen Wohnappartements. Die unüberschaubaren Verzweigungen, Verwinkelungen und Leerstellen bilden architektonische Substrukturen und Subebenen, ja in der Masse eine Sub- bzw. Anti-Stadt, deren Prämisse die Großordnung ist. Die Camorra ist für die staatliche Ordnung deshalb so gefährlich, weil sie sich als parasitäre Subordnung implementiert und den Wirt unter der Hand umorganisiert. Ihren Mitgliedern (affiliati) bietet sie Arbeit, Schutz und Fürsorge, baut also selbst Strukturen auf, aber sie unterhält keine Fabriken, Krankenhäuser und Straßen, die sie wiederum für ihre kriminellen Aktivitäten nutzt. Die Stärke der Camorra besteht darin, wenn man so will, in Kultur- und Verwaltungsapparaturen jeweils jenen Mangel ausfindig zu machen, den der (interventionsschwache) Staat nicht überwinden kann. Von den Vele kann man lernen, dass mit der Ordnung, wie man in Anlehnung an Paul Virilio sagen kann, der „negative Horizont“ des Labyrinths mitwächst (Virilio 1989). Wie auch immer, das Fazit für die Vele ist desaströs: Sie haben gesellschaftlich das befördert, was sie zu bekämpfen angetreten waren: Unordnung, Asozialität und Gewalt.

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Le Vele di Scampìa

Roberto Saviano. Wider die Katastrophe Bald nach den blutigen Bandenkriegen in den Jahren 2003 und 2004, der sogenannten Faida di Scampìa, betrat der damals unbekannte Journalist und Schriftsteller Roberto Saviano die mediale Bühne. Er landete mit seinem 2006 erschienenen Debütroman Gomorra. Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra einen Welterfolg (Saviano 2006a; die deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra). Der junge Autor, der als Ich-Erzähler das Erzählte bezeugt, schildert die Herrschaft der Camorra im Hinterland Neapels und wie sie das Gewaltmonopol des Staates untergräbt, indem sie seine Kernaufgaben übernimmt. Saviano kapriziert sich auf den Begriff des Anti-Staats, womit er den Umstand beschreibt, dass die Camorra durch Drogen- und Waffenhandel, die Fabrikation gefälschter Luxus-Marken sowie die illegale Entsorgung hochtoxischen Industriemülls einen Arbeitsmarkt und Wirtschaftsraum geschaffen hat, der sich nicht nur der Nationalökonomie entzieht, sondern auch eine autonome Gebietskontrolle erlaubt. Die Camorra sorgt dort für Unterstützung, wo der Sozialstaat versagt (vgl. Sales 2006, S. 149; Franzinelli/ Baldieri 2011, S. 192 f.). Die Skepsis gegenüber dem Staat, durch politische Skandale und korrupte Politiker geschürt, sorgt dafür, dass der Camorra die Sympathisanten und affiliati von selbst zulaufen.9 Der Erfolg von Gomorra besonders in Italien beruhte darauf, dass es seinem Autor gelang, in der Ordnungskrise der Jahrtausendwende den Orientierungsverlust zu erzählen und zu erklären. Das ist insofern kaum zu unterschätzen, als politische Katastrophen zugleich semantische Katastrophen sind. Bricht die Welt real zusammen, stürzt auch ihr symbolisches Gefüge ein (vgl. Böhme 2013, S. 81f.). Eine Bewältigungsform stellt das Schreiben darüber dar, weil sich die Katastrophe gewissermaßen wieder ‚in Ordnung schreiben‘ lässt. Dazu gehören Schuldsuche und Schuldbewältigung. Saviano reguliert im Medium des Textes den politischen und emotionalen Ordnungsbruch, den die archaische Gewalt des Drogenkrieges verursacht hatte. Er erzählt, dass der gesellschaftliche Unterbau zwar in Teilen in sich zusammengestürzt ist, wir aber insofern Durchblick und Kontrolle bewahren, als 9 Ein pechschwarzes Bild von Italiens Staatsapparat in den letzten Jahrzehnten zeichnet Anderson 2015.

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Salvatore Pisani wir dies als Rückfall in vormoderne, feudale Verhältnisse entlarven und indizieren können. Indem der Autor das Chaos in die Ordnung einer ‚großen Erzählung‘ überführt, fängt er den endgültigen Kollaps semantisch auf. Savianos weltweiter medialer Aufstieg hing auch mit dem Umstand zusammen, dass er nach seiner öffentlichen Denunziation der Bosse des sogenannten Casalesi-Clans unter Polizeischutz gestellt wurde (vgl. Saviano/di Lorenzo 2017, S. 62–64). Die unmittelbare Bedrohung durch die Camorra verstärkte die Glaubwürdigkeit von Savianos mutigem J’accuse in Italien immens. Während der Staat seine Machtlosigkeit gegenüber der Kriminalität einräumen musste, ist Saviano zum Paladin der bürgerlichen Wertegemeinschaft und in Italien zu einer öffentlichen Figur ersten Ranges geworden (vgl. Pisani 2018). Anders als Camorra-Forscher und -Historiker kann Saviano beanspruchen, „dabei gewesen zu sein“. Die Bedrohung der eigenen Person begründet das Heroische seines Engagements. Darauf gründet der Glaubenspakt der Öffentlichkeit mit dem Autor von Gomorra.

Gomorra – La serie. Scampìa als filmische Dystopie Savianos Gomorra wurde erstmals 2008 von Matteo Garrone verfilmt, danach 2013 als Vorlage für die gleichnamige TV-Serie verwendet.10 Während Saviano die Vele in seinem Tatsachenroman nur am Rande erwähnt und als allgemeines Denkbild ins Spiel bringt, sie als „ein verdorbenes Symbol eines architektonischen Deliriums“ sowie als Beton-Utopie apostrophiert, die „der Drogenmaschinerie der Camorra nichts entgegenzusetzen hatte“,11 avancierten sie filmisch zum ästhetischen Zentrum des neapolitanischen Hinterlandes. Die Vele sind zwar ein Großwohnkomplex der Region, wie es sie viele gibt, doch macht sie ihre monumentale Gestalt – a tenda e a torre (Segel und Turm) – besonders telegen.12

10 Eine Kurzbesprechung von Garrones Gomorra-Film findet sich in Crespi 2016, S. 224−234. 11 Le Vele „il simbolo marcio del delirio architettonico o forse più semplicemente un’utopia di cemento che nulla ha potuto opporre alla costruzione della macchina del narcotraffico che si è innervata sul tessuto sociale“, Saviano 2006a, S. 75. 12 Zu den Neubauvierteln rund um Neapel mit besonderem Bezug auf den Kontrast von sozialem Notstand und rationaler Planungsmentalität vgl. Signorelli 1989.

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Le Vele di Scampìa

7  Szenenfoto der Fernseh-Serie Gomorra, 2015, mit Ciro di Marzio, genannt L’immortale

Gomorra – La serie wird seit 2013 von dem Privatsender Sky Atlantic produziert. Zwischen 2014 und 2019 wurden vier Staffeln zu je zwölf Folgen ausgestrahlt. Saviano zeichnet sich für das Konzept der international erfolgreichen Serie als Drehbuchautor und Promoter mitverantwortlich. In Interviews spricht er von „seiner“ Serie. Die Sache ist deshalb vertrackt, weil Saviano damit eine widersprüchliche Achsendrehung vollzieht, nämlich vom sendungsbewussten Aufklärer zum marketinggewandten Medienintellektuellen. Medial gesehen überträgt Saviano seine Deutungshoheit in Bezug auf Camorra und Anti-Staat auf das Unterhaltungsformat der TV-Serie. Saviano ist selbst eine Marke geworden. Inwiefern der Transfer mit seinem mutigen Engagement der ersten Stunde im Widerspruch steht, hinterfragt Saviano nicht. Wie Garrones Spielfilm ist auch die Fernsehserie an Originalschauplätzen mit Laienschauspielern und im lokalen Dialekt gedreht. Während Garrone die Ausweglosigkeit von Menschen und Milieus schildert, dabei die Architektur als Bühne, Bild und Zeichen so einzusetzen versteht, dass die hinter den Hauswänden verborgene Unbehaustheit der Vele-Bewohner sichtbar wird, erzählt die Serie ausgehend von der Faida di Scampìa den

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Salvatore Pisani blutigen Machtkampf zwischen frei erfundenen Familienclans. Ein Markenzeichen der Serie ist ihr durch und durch düster gezeichnetes Menschenbild. Sie zeigt eine Welt ohne Sympathie- und Hoffnungsträger, ohne Rettung und ohne Morgen. Neapels Hinterland ist eine reine Ruinenlandschaft. In Trümmern liegende Industriehallen, verlassene Lagergebäude und gespenstische Neubauruinen, meist im schmutzigen Blaugrün einer nächtlichen Lichtszenerie gedreht, bilden Schauplätze für konspirative Treffen, Folterund Mord-Szenen (Abb. 7).13 In der Verfallslandschaft der Wohnkathedralen tötet man, um nicht selbst getötet zu werden. Der Plot folgt dem Narrativ des Entweder-oder bzw. des Friss-oder-stirb. Die ruinösen Vele mortifizieren die Lebenden, bevor oder ohne dass überhaupt gemordet wird.14 Von der Fernsehserie Gomorra als Aufklärung zu sprechen, bedeutet, wie dies Saviano und die Produzenten tun, die Serie mit der Rede zu verwechseln, die sie beschreibt (vgl. Saviano/di Lorenzo 2017, S. 69–72). Indes werden die vertrackten Verhältnisse im Hinterland Neapels mit marktgängigen Effekten und medienwirksamen Narrativen untermischt und zugleich verunklart wie verklärt. Die Serie lässt sich kaum von dem Vorwurf freisprechen, dass sie das produziert, was heute zunehmend mit dem Unwort des Postfaktischen belegt wird. Bei der Postfaktizität besteht die beunruhigende Tendenz darin, dass sie den Sinn für Wahrheit als ein einschränkendes Prinzip der Urteilskraft verwirrt. Ohne diesen Sinn wird alles gleich wahr: Die Wahrheit, die Lüge, die Wahrscheinlichkeit, die Unwahrscheinlichkeit usw. Das Postfaktische macht unterschiedslos alles glauben.15 Die Darstellungsweise kennzeichnet nicht zuletzt Savianos literarisches Verständnis: „Ich schreibe

13 In der dritten Staffel von 2017 verschiebt sich der Schauplatz in Richtung Neapel, das die Clans von Scampìa und Secondigliano zu erobern trachten. 14 In Anlehnung an die Filmgenres der Technik-, Atom- und Viren-Apokalypsen könnte man Gomorra – La serie als Barbaren-Apokalypse klassifizieren. Zum Thema der Endzeit im zeitgenössischen US-amerikanischen Spielfilm vgl. Busse 2000, S. 149−179. 15 Bezeichnend für die Vermischung von Realität und Fiktion in der Presse ist der Kommentar zur Ausstrahlung der ersten Staffel von Gomorra – La serie in Zeit-Online, in dem ‚Faktenkenntnisse‘ aus den Realitätsfiktionen über die Camorra gezogen und in den Dienst der Berichterstattung gestellt werden: „Nachdem sich die Lage in Neapel – auch infolge der weltweiten Beachtung des Buches – durch zahllose Verhaftungen alter Clanbosse entspannt hatte, wird die Stadt seit Kurzem von einer beispiellosen Gewaltwelle blutjunger ‚Babygangs‘ erschüttert [Bezug genommen wird auf den Saviano-Roman La paranza dei bambini, 2016], deren Brutalität jenseits aller Ehrencodizes selbst Insider überrascht. […] Die Realität hat ihre Fiktionalisierung längst überholt“, Freitag 2015.

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Le Vele di Scampìa 8  DVD-Cover der ersten Staffel der TV-Serie Gomorra, 2015, mit den Serienhelden vor der Kulisse der Vele

Non-Fiction-Novels. Das bedeutet, Tatsachen und erzählerische Mittel miteinander zu verbinden und trotzdem nichts zu erfinden“ (Saviano/di Lorenzo 2017, S. 211). Womit Saviano jene von ihm selbst mit erzeugte Ambivalenz verkennt, die sich mit Tatsachenbehandlung und Aufklärung schlecht verträgt. Seine Interpretationen zielen nicht auf Rekonstruktion, Nachprüfbarkeit und Festschreiben eines Sachverhalts. Saviano ist nicht ein um Objektivität bemühter Historiker, sondern ein engagierter Schriftsteller. Es geht ihm nicht darum, Geschehnisse festzuschreiben, er schreibt sie indes fort und betreibt wie die TV-Serie kreative Transformation, obwohl oder gerade weil Autor und Serie vorgeben, möglichst getreu die Realität wiederzugeben. Dass das Konzept am Ende auf Marktgängigkeit perspektiviert ist, zeigt sich an dem Umstand, dass Savianos undurchdringliches Ineinander von Realität und Fiktion einem in der Filmbranche seit jeher beliebten ästhetischen Paradox entspricht, das als Ja-aber-Bewegung beschreibbar ist: Ja, ich weiß, dass das, was ich sehe, Schein ist, aber ich verfalle ihm trotzdem bzw. ich schenke dem Schein Glauben, als ob es die Wahrheit wäre. Je verschwommener die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Illusion verlaufen, umso stimulierender ist der Konsum der Bilder und Geschichten (Abb. 8).16 16 Über das hier wirkende Paradox und seine Herkunft aus der Psychologie vgl. Lambert 2013.

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Salvatore Pisani Es ist weniger zynisch, als es klingen mag: Saviano und der TV-Serie gelingt, was Historiker immer bejammern: Ihre Erkenntnisse und Botschaften auf die Realität zurückwirken zu lassen.17 Wie vertrackt die Intention jedoch sein kann, die Welt ‚in Ordnung zu schreiben‘, lässt sich daran bemessen, dass Saviano sich kaum dem Vorwurf entziehen kann, die Katastrophe teils auch verschärft zu haben. Was am Ende geschieht, liegt sicherlich in niemandes Macht. Und doch stellt sich für engagierte Intellektuelle wie für Architekten die Frage, ob sie nicht für die ungewollten ebenso wie die gewollten Folgen ihres Handelns verantwortlich sind.

Scampìas Zukunft. Wir werden gewesen sein Die Rückwirkungen der Medien auf die Situation in Scampìa traten 2013 bei einer Bürgeranhörung offen zutage, als öffentlich über die Dreherlaubnis zur TV-Serie Gomorra diskutiert wurde.18 Bei dem Meeting brachen die Wut, der Hass und die Verzweiflung der Bewohner gegen die anwesenden Fernsehproduzenten und den abwesenden Saviano aus. Die Vorwürfe lauteten, dass die Medienindustrie insgesamt ein negatives Image des Viertels in die Welt geschickt und das ohnehin schlecht laufende Gewerbe völlig zum Erliegen gebracht habe, weil kein Unternehmer mehr in Scampìa investieren und Geschäfte machen wolle. Zugleich hätten die Fernsehkameras die Camorra, die einer bestimmten Schicht ein Grundauskommen sichere, in andere Gegenden vertrieben. Die Anhörung zeigte, dass die Medienwelt, so nah sie die Menschen von Scampìa einer breiten Öffentlichkeit auch gebracht hat, über die eigentlichen Bedürfnisse und Probleme der Betroffenen hinwegsieht. Mehr noch: Die literarischen wie filmischen Realitätsfiktionen von Gomorra haben gegen 17 In diesem Sinne ist Savianos Bekenntnis zu lesen: „Per uno scrittore il momento per innestarsi nel reale è raccontarlo“/„Für einen Schriftsteller heißt, sich in die Wirklichkeit einzufügen, sie zu erzählen“, Saviano 2006b, S. 34. 18 Vgl. den Fernsehbericht des Journalisten Duccio Giordano im Wochenmagazin L’Espresso, auf YouTube veröffentlicht am 12.2.2013, https://www.youtube. com/watch?v=9pAyVn2kfks (15.9.2016).

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Le Vele di Scampìa alle Intention für die Bewohner zusätzliche Marginalisierung und die Verschlimmerung ihrer Lebenssituation gebracht.19 *** Halten wir fest: Die Vele, die der Interventionsstaat als Arbeit am Sozialen verstand, haben ihre Aufgabe nicht erfüllt. Für die Bewohnerschaft führte ihre rationale Architektur nicht zu sozialer Kohäsion, sondern brachte im Gegenteil gesellschaftliche Desintegration, Asozialität und Gewalt. Scampìa wurde zum Einfallstor für die Camorra, den Anti-Staat, der die transparente Ordnungsarchitektur in ein opakes Labyrinth verwandelte. Engagierte Literatur und Medien traten in bester Absicht aufklärerisch auf und brachten doch nur weiteren Ruin. Im Deutschen beinhalten Wortbildungen mit dem Präfix „un‑“ meist ein Gedankenelement der Vernichtung. In Scampìa ist die ratiozentrierte Ethik des Sozialen in ihr Gegenteil gemündet: in Un-Behaustheit, in Vernichtung des Sozialen. Das Beunruhigende und Vertrackte an der Ordnung ist, dass sie, auch wenn alles Kalkül und jeder Gebäudeentwurf korrekt sein kann, gleichwohl die Krise produziert. Dies tritt besonders dann ein, wenn sie – im Wortsinne – radikal ist, ohne Wurzeln, vor allem nicht im Sozialen.

19 Zum sozialen Rückschlag, den Scampìa infolge der TV-Serie erlebte, vgl. Pisani, A. 2016, S. 109–123.

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Salvatore Pisani Literatur Althaus 2018 Althaus, Eveline: Sozialraum Hochhaus. Nachbarschaft und Wohnalltag in Schweizer Wohngroßbauten, Bielefeld: transcript 2018. Anderson 2015 Anderson, Perry: Das italienische Desaster, Berlin: Suhrkamp 2015. Beckmann 2015 Beckmann, Karen: Urbanität durch Dichte? Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe der 1970er Jahre, Bielefeld: transcript 2015. Böhme 2013 Böhme, Hartmut: Postkatastrophische Bewältigungsformen von Flutkatastrophen seit der Antike, in: Karlheinz Sonntag (Hg.): Von Lissabon bis Fukushima. Folgen von Katastrophen, Heidelberg: Winter 2013, S. 77−104. Böhringer 1982 Böhringer, Hannes: Die Ruine in der Posthistoire, in: Merkur, H. 406, Jg. 36, 1982, S. 367−375. Busse 2000 Busse, Tanja: Weltuntergang als Erlebnis. Apokalyptische Erzählungen in den Massenmedien, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2000. Canteux 2014 Canteux, Camille: Filmer les Grands Ensembles. Villes révées, villes introuvables. Une histoire des représentations audiovisuelles des Grands Ensembles, Paris: Crèaphis 2014. Capasso 2017 Capasso, Danilo: Havarierter Segler. Die Vele di Scampia in Neapel von Francesco Di Salvo, in: Werk, Bauen + Wohnen, Jg. 11, 2017, S. 36−44. Castagnaro/Lavaggi 2011 Castagnaro, Alessandro; Antonio Lavaggi (Hg.): Le Vele di Scampia che fare?, Neapel: Giannini Editoremathe 2011. Crespi 2016 Crespi, Alberto: Storia d’Italia in 15 film, Bari: Laterza 2016.

Di Costanzo/Ravel 2013 Di Costanzo, Antonio; Massimo Ravel: Scampia. Storia di un quartiere e di una faida, Villaricca 2013. Di Salvo 1969 Francesco Di Salvo: Ancora a Secondigliano, in: Casabella, H. 337, 1969, S. 20−31. Donzelot 2006 Donzelot, Jacques: Quand la ville se défait. Quelle politique face à la crise des banlieues?, Paris: Seuil 2006. Döpp 1968 Döpp, Wolfram: Die Altstadt Neapels. Entwicklung und Struktur, Marburg: Geographisches Institut der Universität 1968. Foerster 1993 Foerster, Heinz von: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993. Franzinelli/Baldieri 2011 Franzinelli, Mimmo; Nicola Baldieri: Il volto di Gomorra, Mailand: Mondadori 2011. Freitag 2015 Freitag, Jan: Ordnung und Exzess, in: Zeit-Online, 8.10.2015, https://www.zeit.de/kultur/film/2015-10/gomorrha-arte-serie (27.10.2016). Hörl/Hagner 2008 Hörl, Erich; Michael Hagner: Überlegungen zur kybernetischen Transformation des Humanen, in: dies. (Hg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 7−37. Horlitz 2015 Horlitz, Sabine: Der Fall Pruitt-Igoe. Planungsparadigmen, Lenkungsmodelle und Rezeption des US-amerikanischen Sozialwohnungsprojekts, Diss., Freie Universität Berlin, Berlin 2015. Lambert 2013 Lambert, Frédéric: Je sais bien mais quand même. Essai pour une sémiotique des images et de la croyance, Paris: Éditions Non Standard, Coll. 2013. Lepore 1993 Lepore, Daniela: A sgonfie Vele, in: La Città Nouva, Jg. 1/2, 1993, S. 78−91.

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Le Vele di Scampìa Malaparte 1964 Malaparte, Curzio: La pelle, Florenz: Vallecchi 1964. Mazzacane 1978 Mazzacane, Lello: I „bassi“ a Napoli, Neapel: Amministrazione provinciale 1978. Morlicchio 1999 Morlicchio, Enrica: Aspetti sociali e culturali, in: Enrico Pugliese (Hg.): Oltre le Vele. Rapporto su Scampia, Neapel: Fridericiana Editrice Universitaria 1999, S. 79−97. Orientale Caputo 1999 Orientale Caputo, Giustina: Storia e caratteristiche urbanistiche del Quartiere, in: Enrico Pugliese (Hg.): Oltre le Vele. Rapporto su Scampia, Neapel: Fridericiana Editrice Universitaria 1999, S. 23−40. Philipp 2011 Philipp, Klaus Jan: Die große Euphorie. Machbarkeitswahn und Freiheitsversprechungen im Städtebau der 1960er und 1970er Jahre, in: Arch+, H. 203, 2011, S. 42−47. Pisani, A. 2016 Pisani, Angelo: Luci a Scampia, Bologna: Minerva 2016. Pisani, S. 2018 Pisani, Salvatore: Neapel: Imagologie einer spätmodernen Dystopie. Von der cittàcartolina zu Gomorra, in: Elisabeth OyMarra; Dietrich Scholler (Hg.): Parthenope – Neapolis – Neapel. Bilder einer porösen Stadt, Göttingen: V&R unipress 2018, S. 231−254. Ricci 2003 Ricci, Giacomo: Le Vele di Scampìa. Dalle matrici culturali del progetto alla realizzazione, in: Gaetano Fusco (Hg.): Francesco di Salvo. Opere e progetti, Neapel: CLEAN 2003, S. 69−82. Sales 2006 Sales, Isaia: Le strade della violenza. Malviventi e bande di camorra a Napoli, Neapel: Ancora 2006. Saviano 2006a Saviano, Roberto: Gomorra. Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra, Mailand: Mondadori 2006. Saviano 2006b Saviano, Roberto: E voi dove eravate, in: L’Espresso, H. 46, Jg. 52, 2006, S. 32−40.

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Saviano/di Lorenzo 2017 Saviano, Roberto; Giovanni di Lorenzo: Erklär mir Italien! Wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017. Signorelli 1989 Signorelli, Amalia: Spazio concreto e spazio astratto. Divario culturale e squilibrio di potere tra pianificatori ed abitanti dei quartieri di edilizia popolare, in: La Ricerca Folklorica, Jg. 20, 1989, S. 13–21. Urban 2012 Urban, Florian: Tower and Slab. Histories of Global Mass Housing, London: Routledge 2012. Virilio 1989 Virilio, Paul: Der negative Horizont. Bewegung – Geschwindigkeit – Beschleunigung, München/Wien: Hanser 1989.

Film und Serie Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß (Deux ou trois choses que je sais d'elle, Jean-Luc Godard, F 1967). Hass (La Haine, Mathieu Kassovitz, F 1995). Gomorrha - Reise in das Reich der Camorra (Matteo Garrone, I 2008). Gomorra - La serie (Stefano Sollima, Francesca Comencini, Claudio Cuppellini, I 2013–2019).

Abbildungsnachweise Abb. 1 und 4: Francesco di Salvo. Opere e progetti, Neapel 2003, S. 14 und 77. Abb. 3 aus: Mazzacane 1978. Abb.6: Gizzi, Stefano: La questione della conservazione delle Vele, in: Anankē, Jg. 62, 2011, S. 27.

Salvatore Pisani Alle anderen Bilder stammen aus dem Archiv des Verfassers.

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Gabu Heindl Radikale, rebellische Städte1 Vom Roten Wien zu sanctuary cities

Was wird behaust, was bleibt unbehaust? Die Frage stellt sich unter folgender Voraussetzung: Wenn „Haus“ nicht nur Gebäude heißt, sondern wenn damit das Wohnen als ein gesellschaftliches, auch politisches Projekt gemeint ist – was kommt dann mit hinein in dieses Projekt, was bleibt ausgeschlossen? Mein Text geht von Errungenschaften wie auch von problematischen Ausschließungen in der kommunalpolitischen Wohnbaupraxis des sozialdemokratischen Roten Wien der 1920er Jahre aus: von der weltweit bis heute beachteten kommunalen Wohnbaupolitik, aber etwa auch der fehlenden Beziehung zu Basis-Demokratie und Eigeninitiative – was sich im Wiener Modell (sozialer Wohnbau von Gemeinde und Genossenschaften) bis heute hält. Im heutigen Wien finden sich auf Wohnbaufassaden zwei sehr unterschiedliche Arten von Fassadenbeschriftungen, die sich jeweils direkt auf die beschrifteten Gebäude beziehen. Beide „Inschriften“ – bleiben wir bei diesem starken Wort – verkünden politische Siege, die in der Vergangenheit errungen wurden; in der weiteren oder in der jüngeren Vergangenheit. Die beschrifteten Gebäude „stehen“ nicht nur „für“ diese Siege; sie „stehen“ gewissermaßen auch deshalb in der Stadt (in der Rolle,

1 Der vorliegende Text basiert auf Teilen meines laufenden Buchprojekts Stadtkonflikte. Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung (Wien/Berlin: Mandelbaum Verlag 2020).

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Radikale, rebellische Städte

1  „Owning without living in it“, Rotenturmstraße/Hoher Markt im 1. Wiener Bezirk, 2011

die sie im urbanen Gefüge spielen), weil diese Siege errungen wurden. Die eine, jüngere Siegesinschrift wendet sich auf Englisch an Passant*innen im öffentlichen Raum: „You don’t have to live in these apartments to love Vienna, owning them will do.“ Es handelt sich dabei konkret um eine große Werbezeile auf der Gerüstplane einer Baustelle im Wiener Bezirk Innere Stadt (Abb. 1). Sie soll Käufer*innen für die mitten im Zentrum von Wien liegenden Luxuswohnungen anwerben. Die Inschrift bewirbt die dahinter neu entstehenden Wohnungen; als neoliberale Werbebotschaft adressiert sie finanzstarke globale Investor*innen. Sie formuliert das aus, was der Markt schon weiß: dass das urbane (denkmalgeschützte) Zentrum Wiens ein mit den Zentren anderer Städte vergleichbar gutes Terrain für sichere Immobilien-Anlegeformen ist. Was wir hier zu lesen bekommen, ist die Verkündung eines Sieges investitionsfreundlicher, neoliberaler Politik in Sachen Kapitalisierung von öffentlichem Stadtraum; formuliert ist diese Siegesver-

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Gabu Heindl

2  Wohnbausteuer-Inschrift auf Rabenhof, Gemeindebau im 3. Bezirk.

kündung als ein dezidiert postpolitisches Statement: Es geht nur um Kultur und privatwirtschaftliche Ökonomie – um die Geschmackskultur des loving Vienna, um das owning einer Wohnung, die hier vor allem als ein Finanzprodukt erscheint. Was für manche vielleicht wie ein Fall von Ad-Busting oder bitterer Parodie klingen mag, ist durchaus ernst gemeint: Klar und deutlich bewirbt die Fassadeninschrift die neuen Anleger*innenwohnungen, die nicht mehr primär zum Zweck ihrer Benutzung durch Wohnen gebaut werden, und beschreibt damit den Siegeszug des Neoliberalismus auch und gerade in jener Stadt, die bis heute weltweit für ihren sozialen Wohnbau bekannt ist. Damit ist Wien gemeint. Und genau hier liegt nun der Kontext für die zweite der beiden Siegesinschriften: Auf den Fassaden der zahlreichen historischen Wohnhöfe des Roten Wien, der sozialdemokratischen Gemeindebauten der Zwischenkriegsjahre 1922–1933, findet sich in bis heute gut lesbaren großen roten Relief-Buchstaben der strukturell immer gleiche,

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Radikale, rebellische Städte wie folgt oder ähnlich lautende Schriftzug: „Erbaut von der Gemeinde Wien in den Jahren 1924/25 aus den Mitteln der Wohnbausteuer“ (Abb. 2). Bemerkenswert ist vor allem der Hinweis auf die Wohnbausteuer, in dem mit Stolz verkündet wird, woher die Mittel für diese Bauten kamen – nämlich aus einer höchst progressiven Umverteilungssteuer. Um nun zu meiner Montage zweier im heutigen Wien anzutreffender Siegesinschriften auf Wohnhausfassaden eine erste Interpretation zu formulieren: Während der aktuelle Werbeslogan über den Wert und die Verfügbarkeit von großstädtischem Betongold einen erst kurz zurückliegenden (und weiter andauernden) Sieg des Neoliberalismus hinausposaunt, erinnern quasi gleich nebenan, durchaus auch in zentrumsnahen Gegenden, die historischen Fassadeninschriften des Roten Wien – und zwar in einer bislang noch viel größeren Anzahl – an einen Sieg bzw. an eine Reihe von Siegen, die in einem politischen Konflikt erkämpft wurden: in einem Hegemoniekonflikt, der schwerpunktmäßig ein Klassenkampf war, den die Sozialdemokratie als Fast-Alleinvertreterin des Wiener Proletariats führte.

Aus Steuerhoheit wird Umverteilungspolitik Im Sinne von Politik als Hegemoniekonflikt zeigt sich hier die Situation, dass eine eigentlich einfache finanzierungstechnische Maßnahme der Stadtverwaltung so aufgeladen wird – nicht zuletzt durch die leuchtend roten Anschreiben in Form von Fassadeninschriften –, dass sie zum Ausdruck eines umfassenden und kämpferischen politischen Programms wird. Das wird durch einen Vergleich klarer: Seit der Nachkriegszeit werden auf Gemeindebauten nur noch kleine, nüchtern gehaltene Hinweistafeln mit einer kurzen Liste von Informationen angebracht – sinngemäß: erbaut wann, unter Bürgermeister X oder amtsführendem Stadtrat Y. Und diese Tafeln bieten sich der Alltagswahrnehmung als rein technische „Quellenangabe“ an (wie eine leicht überlesbare Fußnote zu einem Haus) – obwohl auch diese Häuser zumindest teilweise mithilfe von Steuermitteln erbaut wurden. Was aber wegfällt, ist das, was im Roten Wien der 1920er und frühen 1930er Jahre stark präsent ist: eine klare politische Ansage, nicht zuletzt die Deklaration eines „Sieges“ im Klassenkampf,

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Gabu Heindl der als Umverteilungskampf geführt wurde. In den Inschriften des Roten Wien steckt nicht nur eine technische Information, es sind in den roten Buchstaben mehrere Komponenten roter (sozialdemokratischer) Politik an die Fassaden geheftet: Da ist nicht nur die technische Komponente des Steuerwesens und die administrative Komponente der Lösung eines sachlichen Problems, dessen sich ein Gemeinwesen annimmt (Wohnungsnot); sondern ins Spiel kommen auch das Versprechen einer zu bauenden Welt – als solche verstand das Rote Wien sich und seine mitunter stadtteilgroßen, Hof-förmigen Wohn-Welten – und nicht zuletzt ein agonistisches Moment, dass nämlich implizit eine klare Gegnerschaft bezeichnet und in die Öffentlichkeit getragen wird. Die Fassadeninschriften lesen sich letztlich als die Aussage: Wir haben dem Kapital erfolgreich einen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum streitig gemacht und mit diesem Anteil dieses Haus errichtet. Kurz zum historischen Kontext: Die Einwohner*innenzahl der Stadt Wien wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ähnlich rasant wie heute. Der Alltag der Lohnabhängigen in der Stadt war geprägt von Wohnungsnot; „Bettgänger“ und die „Wiener Krankheit“ (Tuberkulose) galten als nachgerade lokalspezifische Phänomene. Nach dem Ersten Weltkrieg war Wien ab 1919 eine sozialdemokratisch regierte Stadt, ab 1920 inmitten eines christlich-sozial regierten und klerikal-konservativ geprägten Kleinstaats. 1922 wurde Wien zum eigenen Bundesland und erhielt damit jene verwaltungstechnische Grundvoraussetzung für die Wohnbaupolitik, die das Rote Wien wesentlich charakterisierte: Aus der Steuerhoheit der Stadt – zugleich: des Landes – Wien ergab sich unter anderem die Möglichkeit für kommunalen Wohnbau. Allein: Steuerhoheit macht per se noch kein demokratisches Programm. Damit eine technisch-administrative Maßnahme über die Ebene der Verwaltung hinaus ein Teil von Hegemoniepolitik wird, ist es notwendig, dass sie sich mit anderen Maßnahmen zu einem Bündel von Forderungen, Projekten, Mobilisierungen und Zukunftsversprechungen verknüpft, die ideologisch und emotional stark aufladbar sind (vgl. Laclau/Mouffe 2001). Das Rote Wien verfolgte ein sozialistisches Reformprogramm mit großflächiger Umverteilungspolitik; das kommunale Wohnbauprogramm spielte darin eine hegemoniepolitisch wichtige Rolle. Dabei setzte die Politik des Roten Wien in der Umwälzung oder radikalen Reform weniger bei den Produktionsverhältnissen an als vielmehr im Alltag, in verschiedensten Bereichen dessen, was marxistisch „Reproduktion“

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Radikale, rebellische Städte hieß: von Gesundheit und Bildung über Soziales und Freizeit bis eben zum Wohnen. Das Vorhaben der Sozialdemokratie war gewissermaßen, zunächst das Arbeiter*innenglück auf Erden zu bauen, um damit die zukünftige Revolution zu befördern, oder anders formuliert: ein „langsames Hineinwachsen in den Sozialismus“ (Blau 1999, S. 14, 19) – im Unterschied zum bolschewistisch-kommunistischen Modell der vorauseilenden Partei-Avantgarde, die in einem zugespitzten Moment die Staatsmacht an sich reißt. In diesem Rahmen wurde die Steuerhoheit genutzt: Die zahlreichen kommunalen Investitionen wurden finanziert durch die vom Finanzstadtrat Hugo Breitner eingeführten und im Volksmund als „Breitner-Luxussteuern“ bezeichneten Steuern, ein groß angelegtes Umverteilungspaket. Ohne hier das gesamte Steuerpaket zu erörtern, will ich auf einige der Maßnahmen eingehen, die für heutige stadtplanerische und wohnungspolitische Kontexte relevant sind. Dem Wohnen wurde dabei Stück für Stück der Warencharakter genommen: Zunächst ermöglichte ab 1919 das Wohnungsforderungsgesetz – wohlgemerkt: „-forderung“, nicht „-förderung“ –, nicht belegte Wohnungen von den Eigentümer*innen einzufordern und an Wohnungssuchende zu vermieten.2 (Wer denkt da nicht an die heutige Leerstandsproblematik?) Hinzu kamen Grundsteuer und Bodenwertabgabe (die ab 1930 auch bei unverbauten Grundstücken eingehoben wurden) sowie die Wertzuwachsabgabe, die den Weiterverkauf von Grundstücken deutlich weniger lukrativ machte. Diese Maßnahmen – kombiniert mit vehement betriebenem Mieter*innenschutz – bewirkten ein radikales Sinken der Bodenpreise und (weil sie die Profitmöglichkeiten einschränkten) einen Rückgang der privaten Bautätigkeit. Vor dem Hintergrund dieser Situation wird deutlich, was die Planungspolitik des Roten Wien von heute gängigen städtischen Planungsmodellen (nicht nur in Wien) unterscheidet: Käme bzw. kommt es heute zu einem Rückgang privater Bautätigkeit bei gleichzeitigem Stadtwachstum (sprich: Wohnungsbedarf), dann sieht sich die Politik aufgerufen, private Bautätigkeit zu erleichtern und anzukurbeln, indem sie die Profitmöglichkeiten für

2 Das stellt einen radikaleren Eingriff ins Eigentumsrecht dar als heute angewandte Stadtplanungsinstrumente. Das Wohnen war im Roten Wien aber keine private, sondern eine öffentliche, für die Kommune politische Angelegenheit, was die – für heutige Verhältnisse heftig wirkenden – Eingriffe in das Eigentumsrecht erklärt.

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Gabu Heindl Kapitalinvestitionen ins Bauen verbessert. Das Rote Wien hingegen sah sich in den 1920er und frühen 1930er Jahren als Gemeinde gefordert, selbst tätig zu werden, also ein städtisches Wohnbauprogramm zu starten (per Gemeinderatsbeschluss 1923). Die gesunkenen Bodenpreise machten es zugleich nötig und auch möglich. Als eine ausschließliche Zwecksteuer zur Finanzierung des Wohnungsbaus und zur Förderung des Siedlungswesens wurde schließlich die Wohnbausteuer eingeführt: Sie wurde grundsätzlich für jede Wohnung eingehoben, allerdings sehr progressiv – bis zu 300-mal mehr für eine Luxuswohnung als für eine kleine Arbeiter*innenwohnung (deren Mietzins durch die Politik des Roten Wien zudem sehr niedrig war). Diese Wohnbausteuer finanzierte einen Großteil der um die 64.000 in ganz Wien zwischen 1923 und 1933 entstandenen Wohnungen.3 Hier allerdings tut sich ein erstes Spannungsfeld auf: Die Gemeinde vergab die durch die Wohnbausteuer finanzierten Wohnungen derart günstig, dass sie damit auf eine Rückgewinnung der Baukosten verzichtete. Das ist bis heute ein Kritikpunkt. Aber nicht deshalb, weil das zu großzügig gewesen wäre, sondern vielmehr, weil das Wohnbauprogramm des Roten Wien damit von der Einhebung dieser Steuern abhängig blieb; kritischer formuliert: Es blieb abhängig davon, dass das kapitalistische Ungleichheitssystem beibehalten wurde.4 Die Architektur der Gemeindebauten überbrücke – so sieht es manche*r Kritiker*in – mit „radikalem Pathos, mit Symbolen proletarischer Macht“ den Widerspruch, dass die Sozialdemokratie auf das „kapitalistische Rationalitätsprinzip“ Rücksicht nehme. Ein solcher Einwand läuft darauf hinaus, dass den Sozialdemokrat*innen der Zwischenkriegsjahre an einem gedeihlichen Fortbestand des Kapitalismus gelegen sein musste und dass das mit ein Grund dafür war, dass die revolutionären Ansagen der Partei und der austromarxistischen Theoretiker*innen – auch das eine häufige Kritik – eine Pose oder Fassade waren. Angesprochen ist hier der historische Klassenkompromiss, Sozialismus fördert kapitalistische Interessen. Am prominentesten in der Architekturtheorie stark gemacht wurde diese Problematik von Manfredo Tafuri in seinem Text Vienna Rossa (1980). Ich meine aber, dass der Akzent der radikalen Umgestaltungspolitik, auch der Machtpolitik, beim Roten Wien anderswo liegt; anderswo als bei

3 Zu dieser enormen Bauleistung in kürzester Zeit vgl. Weihsmann 1985, S. 99. 4 Gottfried Pirhofer argumentiert, dass die niedrige Mietenhöhe als indirekte Hilfe für exportorientierte Industrie agiert (Mazanek et al. 1982, S. 13).

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Radikale, rebellische Städte der orthodoxen marxistischen Frage nach der „Letztinstanz“ – oder der Frage, ob das Kapital oder das Kollektiv über die „Produktionsmittel“ des gesellschaftlichen Reichtums verfügt. Es ging dem Roten Wien nicht um ein „Alles-oder-nichts“, sondern um das schon angesprochene „langsame Hineinwachsen“: Hier blitzt schon die Nähe zu Antonio Gramscis Konzept des graduellen „Stellungskriegs“ auf. Zugleich entsteht vielleicht der Eindruck, dass mit den steuerökonomischen Ansätzen des Roten Wien, die ich hier angerissen habe, Politik mit einer Sache der richtigen Verteilung identifiziert wird, die quantitativ, fast mathematisch anzugehen wäre. Als wäre das Um und Auf von Politik die Frage nach der richtigen Höhe der Steuern und danach, wie viel damit für das Gemeinwohl finanziert, wie viele Wohnungen gebaut werden können. Das ist eine ganz und gar nicht unwichtige Frage. Aber ohne diese Arbeit am Gemeinwohl und einer Lösung für die Wohnungsnot geringzuschätzen, ist doch auch klar, dass die reinen Verteilungstechniken eine sehr reduzierte Form von Politik wären oder gar eine „polizeiliche“ Administrationstätigkeit. Würden wir die Steuer-Ökonomie allein in den Blick nehmen, würden wir der Politik – auch der Planungspolitik – des Roten Wien nicht gerecht. Es ging dem Roten Wien aber, schlicht gesagt, nicht nur um Finanz-Zahlen und institutionelle Verwaltungsabläufe, sondern um den Kampf um gesellschaftliche Hegemonie – im Bereich von Alltag und Kultur, mit dem zentralen Ansatzpunkt der Gestaltung (im weiten Sinn) des Wohnraums und Wohnumfelds.

Hegemonie in und Kultur

Alltag

In einiger Hinsicht zeigen sich Parallelen zwischen der austromarxistisch-sozialdemokratischen Theorie und Politik des Roten Wien einerseits und der postmarxistischen politischen Philosophie von Antonio Gramsci, vor allem seinem Hegemoniekonzept. Gramscis zeitgenössische Überlegungen zur Relevanz von Kultur und Alltagsleben in der Herstellung politischer Hegemonie sind ein wesentlicher Bezugspunkt für heutige radikaldemokratische Theorien des Antagonismus und der Hegemonie. Dass es bei Weitem nicht nur auf Eigentumsverhältnisse im ökonomischen Bereich ankommt, sondern vielmehr auf vielfältige Machtbeziehungen im Alltag, im Bereich der Kultur als Lebensweise und

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Gabu Heindl Praktizierung von gelebten Wertsetzungen, das findet sich so in der GramsciLinie wie auch in einer Reihe von sowohl propagandistischen als auch eher theoretisierenden oder debattierenden Schriften der österreichischen Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit (Sozialismus und persönliche Lebensgestaltung 1981). Die Auseinandersetzung mit der „persönlichen Lebensgestaltung“, zwischen Lebensreform und Kulturrevolution angesiedelt, zielt auf die Herausbildung eines „Neuen“, „Sozialistischen Menschen“ (ebd., S. 37, 89, 179) insbesondere in Bereichen wie dem solidarisch-gemeinschaftlichen Alltagsleben, der Kindererziehung, proletarischen Freizeitgestaltung, Gesundheitspflege, der Körper- und Festkultur oder der Bildungspolitik, die teilweise wie eine Vorwegnahme heutiger Schulreformen wirkt (Abgehen vom Frontalunterricht, Fokus auf Gruppenarbeit etc.). Diese Politik der Alltagskultur hängt nun eng mit Architektur und Planung zusammen. Das betrifft das kommunale Bauen, die größte Kulturleistung des Roten Wien: Neben den gezielt platzierten öffentlichen Bauten (wie etwa dem Amalienbad im Arbeiterbezirk Favoriten) sind das die bis heute stark stadtbildprägenden Wohnbauten und Wohnhöfe (teilweise auch Superblocks oder „rote Höfe“ genannt) – quer durch alle Wiener Gemeindebezirke. Mit dem Wohnungsbau ist also unmittelbar eine groß dimensionierte Stadtplanung verbunden, denn manche der betreffenden Wohnhöfe haben die Ausmaße ganzer Stadtteile. In diese großen Wohnhöfe wurden öffentliche Bereiche in Form von Sozialbauten und -räumen integriert. Zum Teil wurden die Wohnbauten als Nachbarschaften geplant, sodass z. B. der sogenannte Gürtel, die ringförmige Straße, die die (damalige) Vorstadt von den inneren Bezirken trennt, in Anlehnung an die großbürgerliche innenstädtische Ringstraße als „Ringstraße des Proletariats“ bezeichnet wurde. Schließlich war da auch ganz gezielte Standortpolitik am Werk, sowohl hinsichtlich der Positionierung von Infrastrukturen in proletarischen Gegenden als auch beim Einpflanzen proletarischer Wohnanlagen in bürgerlichen Bezirken (klassisches Beispiel: der Karl-Marx-Hof in Wien-Döbling).5 Diese Standortpolitik ist eines der vielen Elemente in der machtpolitischen Strategie der Sozialdemokratie, die langfristig angelegt war,

5 Das Amalienbad wurde bewusst „im Herzen des proletarischsten unserer Proletarierbezirke“ (Favoriten) gebaut (Frei 1984, S. 91). Der Karl-Marx Hof auf einer Wiese, die im Eigentum der Stadt Wien war. Dass diese Wiese mit einer großen „Burg“ verbaut wurde, war den Christlich-Sozialen ein Dorn im Auge.

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Radikale, rebellische Städte also Revolutionierung der Gesellschaft nicht durch einen blitzartigen, eruptiven Ausnahme-Akt, sondern als langwieriger Hegemoniekampf, vergleichbar eben dem Stellungskrieg-Konzept bei Gramsci. (Da kommt auch das Eindringen in feindliche Stellungen dazu, in diesem Fall als Eindringen in die Kulturhoheitsbezirke des bürgerlichen Gegners.) Was aber laut Alfred Georg Frei die ganze Zeit über fehlte, war ein geeignetes Enteignungsgesetz, das tatsächliche Standortpolitik möglich machen würde (vgl. ebd., S. 86; Weihsmann 1985, S. 161).6 In der Langzeitperspektive wird die finanzielle Austrocknung Wiens durch die konservativ regierten Bundesländer und den Bund ab 1930 deutlich, unter anderem mittels Kürzung der Finanzierung aus Bundessteueranteilen. Vergleiche mit der gegenwärtigen politischen Beziehung zwischen dem rot-grün regierten Wien und der nationalkonservativen ÖVP-FPÖ-Regierung im Bund liegen auf der Hand. Mit der schrittweisen Übernahme der Staatsmacht durch die austrofaschistischen Organisationen 1933/34 endete die Ära des Roten Wien. Noch vor dem Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs (SDAP) durch die austrofaschistische Regierung fand der soziale Wohnungsbau aus finanziellen Gründen sein frühzeitiges Ende. Ab 1934 wurden in Wien gemäß christlich-sozialem Wohnverständnis vorwiegend Eigenheimbau und Eigenversorgersiedlungen gefördert. Seit 1945 stellte die neugegründete SPÖ (Sozialistische bzw. seit 1991 Sozialdemokratische Partei Österreichs) in Wien wieder durchgängig den Bürgermeister und betrieb bis 2004 weiter kommunalen Wohnungsbau. Um die 50 Prozent der Wohnungen im heutigen Wien sind in Kollektivbesitz, also in kommunalem oder genossenschaftlichem Besitz,7 was mit ein gewisses Maß an „sozialer Durchmischung“ der Stadt, also eine Vermeidung von Ghettobildung, bewirkt und im Unterschied zu anderen europäischen Großstädten den neoliberalen Prozess der Gentrifizierung – Miet- und Preisexplosion beim Wohnen, Verteuerung der Stadt bis zur Unleistbarkeit für viele, Kapitalisierung der Innenstädte – verlangsamt und abmildert. Zudem geht sozialer Wohnbau in Wien nicht mit einer Stigmatisierung der Bewohner*innen einher (wie etwa im Fall des Ausdrucks „living in the projects“ in den USA), sondern ist bislang eine „ganz normale“ Wohnform.

6 Das heißt auch, dass die Standortpolitik durchaus sehr pragmatisch war und sich den verfügbaren Grundstücken anpasste. Für eine gute Übersicht dazu siehe Bauer 2006, S. 21. 7

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Gabu Heindl Kritik an Wiener Wohnverhältnissen ist heute also zum einen „Kritik auf hohem Niveau“ im Vergleich mit anderen Städten. Aber das macht Kritik keineswegs überflüssig, und ich setze mit meiner Kritik, die nicht zuletzt beim Erbe des Roten Wien ansetzt, auch grundsätzlicher an. Dazu noch einige Vorbemerkungen: Heute, angesichts rasant wachsender Wohnungspreise und der spezifischen Situation einer Zerschlagung der Strukturen europäischer Sozialstaaten durch neoliberale Politik, gibt es mancherorts fast so etwas wie „Revivals“ des Roten Wien, speziell in Bezug auf den Wohnbau. Mitunter wird das Rote Wien sowie die Wiener Wohnungspolitik8 bis heute als „Erfolgsstory“ exportiert, als Vorbild, von dem andere Stadtverwaltungen lernen könnten (etwa in Form der Ausstellung „Das Wiener Modell“) (Förster/Menking 2016). Das macht Kritik am Roten Wien noch relevanter – Kritik an seinem Erbe, vielmehr Kritik als eine Art von Erbe. Während es einiges an Lektüre über den Paternalismus des Roten Wien gibt, tritt im aktuellen Kontext von Migration und der Verschärfung von rassistischen Ideologien und Politiken am Problem-Erbe des Roten Wien ein bislang wenig beleuchteter Aspekt in den Vordergrund. Es sind dies die diskriminierenden und rassistischen Ausschlüsse von Nicht-Wiener*innen durch entsprechende Zugangsbedingungen – im Sinne von „Wir ziehen euch den ethnisch Anderen vor“. Parallelen zwischen damals und heute sind frappant: So wie das Punktesystem zur Wohnungsvergabe im Roten Wien Einheimische (und Familien) als „Schutzmaßnahmen gegen (fremdländische) Zuwanderung“ bevorzugte,9 garantieren auch rund hundert Jahre später Zugangshürden, dass viele Menschen, die erst vor Kurzem nach Wien gezogen sind (also nicht nur Menschen, die nach Wien geflüchtet sind), keinen Zugang zu kommunalem oder gefördertem Wohnbau haben. Parallel zur zunehmend migrationsfeindlichen Politik in der EU verstärkte der seit 2018 amtierende Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ), vormals Wiener Wohnbaustadtrat, die „Wiener*innen zuerst“-Politik im

8 In Österreich wird heute auch bedingt durch den 100. Jahrestag der Gründung der Republik 1918 wieder verstärkt auf das Vermächtnis des Roten Wien zurückgegriffen. 9 Weihsmann listet die erreichbaren Punkten tabellarisch auf: Österreichische*r Staatsbürger*in zu sein, war einen Punkt wert, in Wien geboren zu sein, vier Punkte, seit 1914 ansässig zu sein, vier Punkte; für Obdachlose, Kriegsbeschädigte oder Gekündigte gab es jeweils fünf Punkte (Weihsmann 1985, S. 37).

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Radikale, rebellische Städte sozialdemokratischen Vorzeigebereich Wohnbaupolitik.10 Das hat durchaus seine Ironie, findet sich Wien doch heute in einer ähnlichen Situation wie in den 1930er Jahren wieder: als Enklave innerhalb eines rechts regierten Staatengebildes.11 Mit einigen Streiflichtern auf den neuen Munizipalismus und sanctuary cities möchte ich deshalb auch enden: Bei den spanischen Gemeinderatswahlen 2015 zogen in mehrere Stadtparlamente Vertreter*innen feministischer und basisdemokratischer Politik-Bewegungen ein. Aus Selbsthilfe-Organisationen und sozialen Bewegungen (wie etwa dem Movimiento 15-M) in der spanischen Humanitätskrise entstanden, sind sie Teil der Stadtregierungen unter anderem von Madrid, Barcelona und Valencia und bilden eine Plattform sozialer (sozialistischer) und vor allem kommunaler Bewegungen. Diskutiert und theoretisiert werden sie unter dem Begriff „neuer Munizipalismus“.12 Es handelt sich dabei um Bottom-up-Initiativen, die ganz bewusst „in die Institutionen gehen“, also hegemoniepolitisch (und nicht etwa in Form eines kommunitären „Exodus aus dem Staat“) und dabei experimentierfreudig auf lokaler Ebene an konkreten, auch institutionellen Alternativen zum globalen Neoliberalismus arbeiten; prominentestes Beispiel ist Barcelona en Comú (kat. für „Barcelona Gemeinsam“), deren Mitglied Ada Colau seit 2015 Bürgermeisterin von Barcelona ist. Die neuen munizipalistischen Bewegungen und Stadtregierungen formulieren zum einen eine Alternative zu den restriktiven, sozial destruktiven neoliberalen Austeritätspolitiken, die von staatlichen Regierungen vor allem südeuropäischer Länder mit umgesetzt werden. Sie reagieren damit proaktiv auf eine Krise bezüglich der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums, auf ganz konkrete soziale Versorgungskrisen, 10 Erst ab 2006 öffnete die Wiener Stadtpolitik nach einer EU-Rüge die Gemeindebauten für EU-Bürger*innen. Seither wurde mit kommunalem Reglement dafür gesorgt, dass Wiener*innen bevorzugt werden. So war es bis vor Kurzem wichtig, mindestens drei Jahre an einer durchgängigen Adresse in Wien gemeldet zu sein, um für eine Gemeindewohnung in Frage zu kommen. Dies wurde unter Wohnbaurat Ludwig informell auf fünf Jahre erhöht, womit Zugezogene, die lediglich 3-Jahres-Mietverträge erhalten, auf Dauer vom Gemeindebau ferngehalten werden. 11 Ähnlich wie Wien sich Anfang 2019 gegen die Mindestsicherungskürzungen der Bundesregierung wehrt, würde der Stadt in Bezug auf den Zugang zum kommunalen Wohnbau eine klare Pro-Migrationspolitik gut stehen. 12 Im deutschsprachigen Raum etwa vom eipcp-Netzwerk (Brunner et al. 2017) oder auch in Lisa Vollmers Artikel „Keine Angst vor Alternativen. Ein neuer Munizipalismus“ (Vollmer 2017).

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Gabu Heindl insbesondere auch im Hinblick auf die Wohnungssituation, und stellen dem ein allgemeines Recht auf Stadt entgegen. Dies sowie die bereits angesprochenen Enklaven-Situationen (linke Stadt im rechten Land) machen neu-munizipalistisch geprägte Städte dem historischen Roten Wien vergleichbar. Allerdings, und das ist ebenso wichtig, zeigt dieser Vergleich auch gravierende Unterschiede, denn der neue Munizipalismus agiert auch als Alternative zu einer (sozialistisch-)paternalistischen Gouvernementalität, und zwar in verschiedener Hinsicht: einerseits hinsichtlich einer ausgeprägten feministischen Ausrichtung (die sich auch in der starken Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen widerspiegelt), anderseits hinsichtlich einer basisdemokratischen Ausrichtung im Sinne eines möglichst umfangreichen Empowerments der Stadtbewohner*innen selbst. Die Verringerung der Distanz zwischen (meist intellektuellem) politischem bzw. Expert*innen-Personal und der Bevölkerung ist dabei ein ständiges Anliegen. Dem immer wieder (auch schon gegenüber früheren basis- und radikaldemokratischen Politiken) vorgebrachten Einwand, solch umfassende, wenig mittelbare Beteiligungsprozesse seien kaum praktikabel, weil ineffizient im Hinblick auf die Bedürfnisse größerer Gemeinwesen, begegnen neue Munizipalismen mit einer Reihe von Ansätzen: Diese reichen von einem selbstverschriebenen „ethischen Codex“ (festgesetztes Durchschnittsgehalt von Mandatar*innen, Transparenz- und Rechenschaftspflichten, Verbot von Finanzierung durch große Banken etc.) bis zur gezielten Erprobung neuer Beteiligungsverfahren, im Wissen darum, dass die bislang praktizierten nicht perfekt sind. Komplementär zu diesem experimentellen Aspekt ihrer Politik umfassen munizipalistische Kämpfe zugleich – auch: zunächst und „lediglich“ – ein Wieder-Einfordern von vormaligen sozialstaatlichen Errungenschaften, so etwa die Forderung nach kommunalem oder genossenschaftlichem Wohnbau. Daraus resultieren konkrete Schritt-für-Schritt-Maßnahmen zur Re-Kommunalisierung öffentlicher Güter und Neudefinitionen des Konzepts „Gemeingut“. Allerdings mit einem starken Akzent auf Selbstverwaltung. Wichtig an der Konzeption politischer Macht bzw. Hegemonie ist, dass der neue Munizipalismus das Regieren von Städten und Gemeinden nicht als einen Ersatz oder Nebenschauplatz zum politischen Handeln auf der (national-)staatlichen Ebene auffasst. Die Bewegungen verstehen sich nicht als „Gegengewicht“ zu einer „wahren Macht“, sondern als „neue Macht“, die das Potenzial der Größenordnung der Stadt anerkennt.

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Radikale, rebellische Städte Im Maßstab von Städten sei konsequente Sorgearbeit in den Nachbarschaften möglich und spürbar, institutionelle Apparate seien weniger verkrustet und könnten verändert werden. Das Projekt gilt einer Erweiterung (auch Radikalisierung) von Demokratie, mit Mitteln der (kritisch gehandhabten) repräsentativen Demokratie wie auch lokalen Partizipationsformaten wie Nachbarschaftsräten oder partizipativen Budgets (vgl. Brunner et al. 2017, S. 43ff.). Als „rebellische Städte“13 übernehmen im Sinn des neuen Munizipalismus geprägte Gemeinden dabei einige der Aufgaben, die von Nationalstaaten nicht erfüllt werden. Dies wird am sichtbarsten beim Thema Migration. Während viele europäische Nationalstaaten daran arbeiten, ihre jeweiligen Grenzen zu militarisieren und zu schließen, sehen und formulieren die neuen munizipalistischen Bewegungen Migration als Potenzial, nicht als Problem; dies in dem Bewusstsein, dass es eben ohne Migration keine Stadt gibt. Weltweit organisieren sich seit Ende des 20. Jahrhunderts sanctuary cities, die aktiv gegen ausgrenzende staatliche Migrationspolitiken vorgehen. Unter ihnen finden sich heute Barcelona, italienische Städte wie etwa Palermo, mehrere britische Städte wie z. B. Sheffield, viele US-amerikanische Städte. Diese Städte engagieren sich mit kommunalen, lokalen Mitteln gegen staatliche Abschiebungspraktiken und für gleichen Zugang zu öffentlichen Gütern für alle, also auch für Geflüchtete und Sans-Papiers. Sanctuary cities stehen unter Druck von konservativen oder rechtspopulistischen Nationalstaatsregierungen; die Ausfälle von US-Präsident Donald Trump gegen Städte, die seine inhumanen Abschiebungs- und Grenzregimes nicht mittragen, wurden notorisch, und Beispiele für Finanzpolitiken der „Austrocknung“ und Negativ-Kampagnen seitens rechter Regierungen häufen sich. Das ist mit ein Grund dafür, dass viele solcher Städte ihre lokalen, munizipalen Politiken in einem globalen Maßstab zu Allianzen verbinden, indem sie Städtenetzwerke gründen. Darauf zielt das Netzwerk der fearless cities (dabei wieder prominent Barcelona), die sich dem gegenwärtig hegemonialen rechtspopulistischen (Un-)Sicherheitsdiskurs samt Law-&-Order-Politik nicht anschließen. Ob fearless,

13 David Harvey (2013) spannt in seinem Buch Rebel Cities einen historisch weiten Bogen von der Pariser Commune über das Rote Wien und das Rote Bologna hin zu den gegenwärtigen rebellischen Städten Porto Alegre, Curitiba, El Alto etc.

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Gabu Heindl sanctuary, „rebellisch“: Diese Städte verbinden Politik mit einer popular agency und sind selbst radikaldemokratische Akteur*innen. Im Sinne radikaldemokratischer Hegemoniepolitik – von angemaßten Subjektivierungen über die Siegesinschriften des Roten Wien bis zu neu-munizipalistischen Ansagen von Ada Colau (Colau/Alemany 2013) – geht es um das Festhalten, auch Inszenieren, von „kleinen großen Siegen“. Und zugleich geht es auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Formen um Fragen von Behaustheit und Unbehaustheit: um hegemoniepolitische Grundlagen einer Stadtplanungs- und Wohnbau-Politik zur Behebung massenweiser Unbehaustheit von Nicht-Besitzenden (wie im historischen Roten Wien); um die „Einhausung“ dieses Vermächtnisses in einer Geschichtspolitik des kritischen Erbens, die vor allem reflektiert, wer durch eine diskriminierende Zugangspolitik vom sozial geförderten Wohnraum ausgeschlossen wird und insofern unbehaust bleibt; und schließlich geht es um die Stadt als Maßstab einer munizipalistischen Politik, die als sanctuary Zufluchten bietet für durch Flucht unbehaust Gewordene, aber auch um die „rebellische Stadt“ als einen Kontext, in dem heute die Vermächtnisse egalitaristischer, radikaldemokratischer Strategien und sozialer Kämpfe des 20. Jahrhunderts aufgegriffen werden und dadurch gewissermaßen ein „Haus“ in der Gegenwart finden.

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Radikale, rebellische Städte Literatur Bauer 2006 Bauer, Eva: Gemeinnütziger Wohnbau in Österreich. Zu Geschichte, Funktion und künftiger Perspektive, in: Kurswechsel. Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschaftsund umweltpolitische Alternativen, Nr. 3, 2006, S. 20–27. Blau 1999 Blau, Eve: The Architecture of Red Vienna, 1919– 1934, Cambridge (MA)/London: MIT Press 1999. Brunner et al. 2017 Brunner, Cristoph; Niki Kubaczek; Kelly Mulvaney; Gerald Raunig (2017): Die Neuen Munizipalismen. Soziale Bewegungen und die Regierung der Städte, Wien u. a.: transversal texts 2017. Colau/Alemany 2013 Colau, Ada/Adrià Alemany: ¡Sí se puede!: Crónica de una pequeña gran victoria, Barcelona: Destino 2013. Förster/Menking 2016 Förster, Wolfgang/William Menking: Das Wiener Modell: Wohnbau für die Stadt des 21. Jahrhunderts, Berlin: Jovis 2016. Frei 1984 Frei, Alfred Georg: Rotes Wien: Austromarxismus und Arbeiterkultur; Sozialdemokratische Wohnungs- und Kommunalpolitik 1919–1934, Berlin (West): DVK-Verlag 1984. Gramsci 1991ff. Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, 10 Bde., Hamburg: Argument-Verlag 1991ff. Harvey 2013 Harvey, David: Rebel Cities, London: Verso 2013. Kapfinger 2015 Kapfinger, Otto: „You don’t have to live in these apartments …“ Luxuswohnen Rotenturmstraße, in: UmBau, Nr. 28 (Thema: Das Geschäft mit der Stadt. Zum Verhältnis von Ökonomie, Architektur und Stadtplanung), 2015, S. 120–121. Laclau/Mouffe 2001 Laclau, Ernesto; Chantal Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical

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Democratic Politics (1984), London/New York: Verso 2001. Mazanek et al. 1982 Mazanek, Claudia; Gottfried Pirhofer; Wolfgang Pircher; Franz S. Schuh: Stadtbuch „Wien 1982“. Ein Almanach, Wien: Falter 1982. Sozialismus und persönliche Lebensgestaltung 1981 Sozialismus und persönliche Lebensgestaltung. Texte aus der Zwischenkriegszeit, Hamburg: Junius 1981. Tafuri 1980 Tafuri, Manfredo: Vienna rossa. La politica residenziale nella Vienna socialista, Mailand: Electa 1980. Vollmer 2017 Vollmer, Lisa: Keine Angst vor Alternativen. Ein neuer Munizipalismus, in: sub/urban, H. 3, Jg. 5, 2017, S. 147–156. Weihsmann 1985 Weihsmann, Helmut: Das rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919–1934, Wien: Promedia 1985.

Abbildungsnachweise Abb. 1: © Foto: Renate Kordon, in: Kapfinger 2015, S. 120. Abb. 2: © Foto: Gabu Heindl.

Christian Berkes Disrupted Living: Das Wohnen und die Sprache der Sharing Economy Der vorliegende Text unternimmt in Anlehnung an Henri Lefebvre eine wirklichkeitsnahe „Kritik des täglichen Lebens“ mit Airbnb (vgl. Lefebvre 2014). Er widmet sich der Vermittlungsplattform und fragt, warum und mit welchen Effekten bestimmte Sprachverwendungen und ökonomische Konzepte ineinanderfließen. Was steht hinter Begriffen wie disruption, latent assets oder venture capital? Die Hinwendung zum Gewohnten und Naheliegenden gilt dabei sowohl für das Objekt der Kritik – die alles durchdringende Sharing Economy – als auch für das Subjekt der Kritik – die gegen den Alltag Schreibenden. Dass beide Seiten nicht voneinander zu trennen sind, hilft der Untersuchung dabei, die allzu eindimensionale Aufteilung zwischen Theorie und Praxis zu vermeiden. Sie entwickelt eine Kritik der Sharing Economy weiter, die im Sammelband Welcome to AirSpace aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Fokuspunkten angelegt ist (vgl. Berkes 2016a, S. 9ff.). Hauptverhandlungsbeispiel in dem bei botopress erschienenen Sammelband ist die Wohnungs- und Unterkunftsvermittlungsplattform Airbnb. Aber auch der Vermittlungsservice für Putzkräfte Helpling, der Vermittlungsdienst für Personenbeförderung Uber oder die soziale Medienplattform Facebook werden dort in den Blick genommen. Gemein ist all diesen Diensten, dass sie online per Website bzw. mobil per App abrufbar sind. Kritisiert werden sie in der Anthologie aus historischen, sozialen, philosophischen, feministischen, ästhetischen, künstlerischen und ökonomischen Perspektiven. Die Erweiterung dieser disparaten und vielstimmigen Alltagskritik, die hier erfolgt, widmet sich vor allem wirtschaftlichen und sprachlichen Gesichtspunkten.

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Disrupted Living Beginnen wir mit dem Naheliegenden: Was meint das im Jahr 2008 gegründete Unternehmen Airbnb mit dem Slogan „Willkommen zu Hause“? Für die Plattform im Reisegeschäft suggeriert der Slogan ein Weggehen-Können ohne Ankommen-Müssen. Nahtlos, weil wir in einer globalisierten Welt überall freundlich empfangen werden. Mehr noch, der Slogan trifft uns unaufgeregt mitten ins Herz, indem uns dieses ‚Zuhause‘ Gefühle wie Erwünschtheit, Geborgenheit und Sicherheit verspricht. Ganz praktisch hingegen heißt uns die Vermittlungsplattform willkommen in der techno-sozialen Geografie der Sharing Economy. Sie heißt uns willkommen in einer Welt, in der soziale Medien und digitale Dienste unser Verhalten, unsere Entscheidungen und unsere gebaute Umwelt bestimmen. In dieser Welt bewegen wir uns, wenn wir souverän durch vollkommen fremde Städte navigieren, wenn wir Partner*innen suchen oder wenn wir keine Ticketautomaten, keine Bankfilialen und keine Einkaufshäuser mehr finden. Das „Willkommen zu Hause“ lädt uns ein, durch unser Leben zu manövrieren – ohne Reibung, ohne Andersheit, ohne Unsicherheit. Also ohne genau die Qualitäten, die in jüngeren Diskursen – von politiktheoretischen (vgl. Rancière 2008 oder Mouffe 2005) über feministische (vgl. Hester 2018 oder Power 2009) bis hin zu urbanistischen (vgl. Mayer 2010, Swyngedouw 2011 oder Cupers/Miessen 2018) – als besonders bedeutsam hervorgehoben werden. Die Frage dieses Textes ist, wie sich diese gegenläufigen Tendenzen – reibungslose Abwicklung vs. Reibung als Verwicklung – erklären lassen bzw. warum sie sich auszuschließen scheinen? Warum werden auf vermeintlich individueller Ebene Werte angepriesen und verteidigt, die auf gesellschaftlicher Ebene mitunter als fragwürdig bis gefährlich beschrieben werden? Und wie kommt es, dass kritische Diskurse und Theorien im Feld der Sharing Economy so wenig handlungsweisende Wirkkraft entwickeln? Warum fällt es so schwer, im Bereich des Wohnens zwischen subjektiven Erfahrungen und objektiven Feststellungen zu wechseln? Natürlich kann meine Tante wunderbare persönliche Erfahrungen mit Airbnb sammeln. Dieses kleine Glück kann doch aber nicht rechtfertigen, dass sich ein milliardenschweres Unternehmen wie Airbnb im großen Stil seiner gesellschaftlichen Verantwortung entzieht und wir jede Kontrolle darüber aufgeben. Denn für viele Menschen bedeutet die allgegenwärtige Möglichkeit der privaten Vermarktung der eigenen Wohnung eben auch ein permanentes Ausgestellt- und Verfügbarsein (vgl. Berkes 2016b, S. 41ff.). Daraus ergibt sich eine weitere Frage: Warum ist das Wohnen heute immerfort vakant? Oder anders for-

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Christian Berkes muliert: Wie kann ein spezifisch gelebtes Wohnen gleichzeitig für andere verfügbar sein? Mit Blick auf die letzte Frage ist der Text positivistisch. Er versteht das Wohnen in seinen zu begrüßenden sozialen und räumlichen Funktionen als grundlegendes Menschenrecht, um auf ein mehr oder weniger diskretes Desaster hinzuweisen. Die Annahme zu den offenen Fragen lautet, dass den oft ‚weichen‘ kulturwissenschaftlichen Theorien mitunter die ‚harten‘ wirtschaftswissenschaftlichen und technologischen Hintergründe fehlen, um Phänomene wie die Sharing Economy angemessen zu beschreiben. Der Versuch dieses Textes besteht nun darin, anhand von einigen Begriffen aus dem Wirtschaftsjargon das Phänomen Airbnb kulturwissenschaftlich zu beleuchten – neugierig und dilettantisch. Entsprechend gliedert sich der Text in vier Abschnitte, in denen jeweils einer dieser Begriffe näher beleuchtet wird, wobei zugleich ein sich wiederholendes Moment die Überlegungen durchzieht. Die vier Begriffe stammen aus wirtschaftswissenschaftlichen Kontexten, lassen sich in den Selbst- und Fremdbeschreibungen vieler Unternehmen der Sharing Economy finden und sind als solche fester Bestandteil öffentlicher Debatten und pseudo-informierter Erklärungsmuster geworden. Dies kann der Text nicht ändern. Er stellt lediglich einige ausgeblendete oder weniger bekannte Hintergrundinformationen zu diesen Begrifflichkeiten in den Vordergrund. Um zu beschreiben, woher solche Ausblendungen rühren, bedient sich der Text einer analytischen Vereinfachung bzw. Zuspitzung. Er führt diese Ausblendungen auf ein sich wiederholendes Moment zurück: das Moment des neoliberalen Geschichte-Vergessens („neoliberal forgetting of history“), wie es die Feministin Angela McRobbie im Rahmen einer Buchvorstellung 2016 genannt hat.1 Dort hat sie die Tendenz zum Rückzug aus der Geschichte – ein blinder Engel der Geschichte im Sturm des Fortschritts? – im Zusammenhang mit Diskussionen um eine prekarisierende Kreativwirtschaft, neue Arbeitsbedingungen und Selbstoptimierungssaufforderungen als offenes Konzept eingeführt. Dieses Vergessen-Haben oder Vergessen-Wollen ist vielgestaltig und bleibt nicht allein den ‚Handelnden‘ vorbehalten, sondern lässt sich durchaus auch bei den ‚Denkenden‘ finden. Das Vergessen überschreitet die ohnehin fließenden Grenzen zwischen wissenschaft-

1 McRobbie stellte ihr Buch Be Creative. Making a Living in the New Culture Industries (McRobbie 2015) am 23. Februar 2016 in der Berliner Buchhandlung Pro qm vor.

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Disrupted Living licher und alltäglicher Auseinandersetzung hier problemlos. Wie das Vergessen oder die Ignoranz strukturell produziert werden (Vernachlässigung, Kurzsichtigkeit, Vergesslichkeit, Auslöschung, Geheimhaltung, Verdrängung etc.), kann hier nicht ausgeführt werden, lässt sich in Ansätzen aber im Buch The Black Box Society nachlesen (vgl. Pasquale 2015, S. 2ff.). Wichtig scheint jedoch auch hier, das Vergessen nicht ohne seine Begründung, seine Motivation zu betrachten. Dieser Forderung entsprechend ist der vorliegende Text strukturiert: Die gewählten Begriffe werden jeweils kurz eingeführt, für eine alltagsbezogene Kritik der Sharing Economy interpretiert und das Moment des neoliberalen Geschichte-Vergessens darin im Hinblick auf Inhalt und Motivation deutlich gemacht.

dɪsˈrʌpʃn – disruption Disruption scheint das Managementkonzept der Stunde zu sein. Der Begriff wird zum Beispiel verwendet, um zu beschreiben, wie Airbnb den Hotelsektor erschüttert oder wie Uber das Taxigewerbe in Aufruhr versetzt. Das dahinterstehende Konzept wurde vom an der Harvard Business School lehrenden Ökonomen Clayton M. Christensen entworfen. In seinem Buch The Innovator’s Dilemma von 1997 untersucht er, warum selbst etablierte, rational handelnde Unternehmen für Konkurrenzsituationen mit kleineren, technologiegetriebenen Start-ups anfällig sind (vgl. Christensen 1997, S. 10ff.). Eine Erklärung sieht er darin, dass diese Unternehmen ihre Produkte oft schrittweise über einen langen Zeitraum entwickelten, spezifische Bedürfnisse und Anforderungen um diese wüchsen und sich marktspezifische Logiken, Kundensegmente und Handlungszwänge ergäben, die für den Erhalt des Geschäftsmodells existenziell seien. Eine derartige, sukzessive Produktverbesserung orientiere sich stark an aktuellen, nachweisbaren Kundenbedürfnissen. Um diese breit und kontinuierlich bedienen zu können, brauche das entsprechende Unternehmen eine verlässliche betriebswirtschaftliche Absicherung. Im Gegensatz dazu steht Christensens Ansatz zufolge die disruptive Innovation: Hier gehe es nicht darum, ein bestehendes Produkt zu verbessern, es weiterzuentwickeln. Stattdessen ziele die disruptive Innovation darauf ab, ganze Produktspektren zu transformieren. Oft solche mit Angeboten, die teuer in der Anschaffung, exklusiv in der Zielgruppe und vergleichsweise kompliziert in der Nutzung seien. Unternehmen mit einem

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Christian Berkes disruptiven Innovationsmodell seien häufig auf Risikokapital („venture capital“) angewiesen und hätten eine agilere Unternehmensstruktur. Sie versuchten, neue Märkte zu erzeugen, an denen neue Kundengruppen teilhätten. Das zugehörige Produkt solle erschwinglicher und damit für mehr Kund*innen zugänglich werden. Um dies leisten zu können, so Christensen, sei der Fokus auf zukünftige Bedürfnisse und spekulative Geschäftsentwicklungen zu legen. Dabei würden eine geringere Performance (in Teilbereichen), eine höhere Anzahl von Mängeln des Produktes sowie Fehler in der Produktentwicklung („fail early and inexpensively“) aktiv in Kauf genommen, um einen bisher missachteten Nischenmarkt voll entwickeln zu können (vgl. Christensen 1997, S. 87ff.). Wie lässt sich dieses Konzept nun im Sinne einer Kritik des täglichen Lebens mit Airbnb bewerten? Erste Erkenntnis: Alle diejenigen, die disruption heute für ein aktuelles Managementkonzept halten, befinden sich über 20 Jahre hinter dem Lehrkanon der Wirtschafts- und Managementwissenschaften. Demgegenüber hat Christensen bereits 2014 erklärt, dass der Begriff in Mainstream-Diskursen mittlerweile zum Klischee verkommen sei und vollkommen maßlos verwendet würde (vgl. Bennet 2014). Zweite Erkenntnis: Ja, Airbnb hat offenkundig erfolgreich in die Zukunft unserer Wohnwelt hinein spekuliert, milliardenschwere Kundenkreise gewonnen und alte Märkte erschüttert. Namentlich den Hotelmarkt und (wenn auch weniger drastisch) den Wohnungsmarkt. Indem Airbnb aber von Anfang an einen Schritt weitergeht und auch unser gelebtes Wohnen, das Singuläre, unsere ‚Wohnperformance‘ vermarktet, erschließt es gleichzeitig einen weiteren, ganz neuen Markt. Wir könnten ihn den Markt für Wohninnenwelten nennen – solange sich kein besseres Wort findet. Diese Eroberung wird verständlich am mittlerweile aktualisierten Werbeslogan des Unternehmens: „Buche individuelle Unterkünfte und Entdeckungen“. Der Fokus weitet sich hier von der materiellen Hülle (dem Zuhause) zu den immateriellen Erfahrungen (den Entdeckungen). Dem Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz zustimmend, erkennen wir hier außerdem, wie das Allgemeine entwertet und das Singuläre aufgewertet wird: Generische, stumme Hotelzimmer können heute nicht mehr mit den durch Airbnb zugänglich gemachten individuellen, vermeintlich lebendigen Wohnerfahrungen konkurrieren. Dies ließe sich als Merkmal westlicher Aufmerksamkeitsindustrien lesen, die auf emotionelle Affekte setzen, anstatt auf informationelle Effekte zu hoffen (Reckwitz 2018). Offen bleibt dabei, wo die Grenzen dieses entgrenzten psycho-emotionalen

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Disrupted Living Marktes liegen sollten. Unterstellen könnte man ein typisch liberales Moment: Ein Unternehmen schafft eine Konkurrenzsituation, in der die Unzufriedenheit der einen (‚Das Hotel ist zu langweilig‘) gegen die Unfreiheit der anderen (‚Meine Wohnung ist zu teuer‘) ausgespielt wird, ohne die ursächlichen Profitziele des Unternehmens diskutieren zu müssen. Dritte Erkenntnis: Das oben beschriebene betriebswirtschaftliche Inkaufnehmen von Mängeln, Fehlstellen und Unzulänglichkeiten des Produktes kann im Bereich der disruptiven Innovation nicht als notwendiges Übel abgetan, sondern muss als unerlässliche Erfolgsgrundlage beschrieben werden. Konkret heißt das: Die Missachtung des Mietrechts durch Airbnb-Angebote oder die fehlenden sozialen Sicherungssysteme für Helpling-Mitarbeiter*innen sind essenzieller Teil des unternehmerischen Geschäftsmodells. Bewirken solche betriebswirtschaftlichen Missachtungen und Auslassungen auf gesellschaftlicher Ebene Schieflagen, dann nennt der Rechtswissenschaftler Brian Sheppard dies „premature disruption“ („unvollständige Innovation“) und führt damit zumindest im Feld der Wirtschaftswissenschaften einen kritischen Marker ein (vgl. Sheppard 2015, S. 1797ff.). Die nachweislichen Unzulänglichkeiten der Sharing Economy auch öffentlich kritisch zu diskutieren, ist jedoch schwieriger, als die affektive Überzeugungskraft ihrer Möglichkeiten zu wiederholen. Warum das so sein könnte, haben wir von Andreas Reckwitz erfahren. Um die sozial relevanten Unzulänglichkeiten der Services anzugehen, fehlt den Unternehmen schlicht die Motivation. In den Head Offices und Loft-Etagen geht es um schnelle Lösungen, da man die Mittelgeber*innen und Marktanalyst*innen mit Ergebnissen beruhigen muss. Dass sich nicht für alle komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen einfache Business-Lösungen finden lassen, wissen wir nicht erst, seit Horst Rittel in den 1970er Jahren von bösartigen Problemen („wicked problems“) und ihren unüberschaubaren Wechselwirkungen gesprochen hat (vgl. Rittel/Webber 1973, S. 155ff.). Die hinter solchen Problemen tobenden, real existierenden Komplexitäten aber werden von den Vorreiter*innen der Sharing Economy kategorisch eingeebnet oder ignoriert. Hinzu kommt, dass noch immer wenige öffentliche Stimmen eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung dazu fordern, ohne in die freudlosen Tiefen bloßer Technikfeindlichkeit abzurutschen. Wir sollten die Technologien, die wir als Menschen entwickeln, nicht sich selbst überlassen, denn erst dann werden sie zu Ungeheuern (vgl. Latour 1996). Bei den Entwickler*innen und bei den Nutzer*innen finden wir hier also ein erstes Moment neoliberalen Geschichte-Vergessens.

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vɛntʃə ˈkapɪt(ə)l –

venture capital

Airbnb wurde 2008 gegründet und hat bis heute ca. 3 Milliarden US-Dollar Risikokapital („venture capital“) akquiriert. Es sei damit das zweitwertvollste private Unternehmen in den USA – direkt nach Uber, dem anderen Sharing-Economy-Riesen (vgl. Benner 2017). Nick Srnicek, Forscher am Londoner Kings College im Bereich digitale Ökonomie, hat für den Business-Effekt derartig unvorstellbar hoher Kapitalsummen einen Begriff gefunden: „venture capital welfare“ (vgl. Srnicek 2017, S. 22ff.). Der Begriff erzeugt ein Bild, in dem die Logik sozialer Wohlfahrtssysteme, die gesellschaftlich erkämpft und durchgesetzt werden mussten, auf Finanzierungssysteme übertragen wird, die privat im Sinne spekulativer Gewinnmaximierung eingesetzt werden. In freien Wirtschaftssystemen ist das natürlich erlaubt. Es wird aber problematisch, wenn mit derartigen Summen außerhalb von Gewinnzwängen Unternehmen entwickelt werden, die sich systematisch den gesellschaftlich ausgehandelten sozialen und finanziellen Ausgleichssystemen (Umverteilung, Absicherung, Solidarität, Arbeits- und Mieterschutz, gewerkschaftliche Organisation etc.) entziehen. Die Steuervermeidungspraktiken von Unternehmen wie Airbnb sind hinlänglich bekannt (vgl. Der Standard 2017 oder FAZ 2016). Zudem wurde berichtet, dass Hedgefonds innerhalb der Geschäftsstruktur von Airbnb 30 % des Cashflows erzeugen (vgl. Zaleski 2018). Ein Hedgefonds ist ein aktiv verwalteter Investmentfonds, der durch das Eingehen hoher Risiken überdurchschnittliche Renditen oder Verluste erzielt. Das Risiko des Risikokapitals wird hier also kombiniert mit dem Risiko des Investmentfonds. Konkret heißt das: Airbnb verdient viel Geld mit Geld. Auch so konnte Airbnb im Jahr 2017 Luxusresorts im Wert von 200–300 Millionen US-Dollar erwerben, um Services für Premium-Wohnungen und -Ferienunterkünfte zu entwickeln und anzubieten (vgl. Lunden 2017). Ein weiteres Ziel des Unternehmens ist es, fortan Quartiere nicht nur zu vermieten, sondern auch zu eignen, zu planen und zu bauen (vgl. Kuang 2016). Als privates Investment mit geringer öffentlicher Beteiligung oder Berücksichtigung existierender Rahmenplanungen, versteht sich. Das Ergebnis solcher investmentgetriebenen Stadt- und Quartiersentwicklungen können wir bereits in den austauschbaren Innenstädten überall auf der Welt ‚bestaunen‘. Der Ansatz einer integrierten, gesellschaftlich getragenen, gemeinwohlorientierten und milieusensiblen Gebietsent-

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Disrupted Living wicklung wird hier ignoriert. Angesichts allgegenwärtiger Sparzwänge und der Hoffnung auf neue Arbeitsplätze begrüßen viele Kommunen und Verwaltungen die neuen ‚Entwickler‘ steuerlich freizügig. Mit Blick auf die finanz- und immobilienwirtschaftlich induzierte Wirtschaftskrise 2007/08, gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein und demokratische Souveränität zeigt sich hier ein zweites Moment neoliberalen Geschichte-Vergessens. Wie lassen sich derartige Geschäfts- und Entwicklungsmodelle ökonomisch bewerten? Welche Werte werden geschaffen? Welche nicht? Zu welchem Preis? Warum suchen interessante lokale Modelle mit alternativen Ansätzen, wie beispielsweise die Jungen Genossenschaften Berlin, vergleichsweise erfolglos nach privaten Geldern und öffentlichen Förderungen, während ein jede gesellschaftliche Verantwortung ablehnendes Unternehmen wie Airbnb dermaßen überausgestattet ist? Eine klare Position dazu vertritt Mariana Mazzucato, Professorin im Bereich Economics of Innovation & Public Value am University College London. Sie erklärt, dass die weltweit erfolgreichsten Unternehmen praktisch keine Werte schüfen, sondern diese lediglich extrahierten. Ihre Schlussfolgerung: Wir bräuchten eine grundsätzliche Umorientierung des Wirtschaftssystems in Richtung einer funktionierenden Bewertung und neuen Wertschätzung von Gemeingütern und Gemeinnützigkeit (vgl. Mazzucato 2018a; 2018b). Diese Forderung wird auch von Brigitte Theißl unterstützt, die im oben benannten Sammelband Welcome to AirSpace auf Initiativen für einen Pluralismus sowie eine vielseitigere Ausbildung in den Wirtschaftswissenschaften hinweist und feministische Wirtschaftsansätze in Aussicht stellt, die auf eine breitere Wertelogik abzielen (vgl. Theißl 2016, S. 27ff.). Das dritte Moment neoliberalen Geschichte-Vergessens findet sich hier in der Missachtung formalisierter sozialer und finanzieller Ausgleichssysteme sowie in der beständigen Negation informeller Praktiken im Feld von Gemeinwohl und Commoning bei gleichzeitiger sprachlicher Kannibalisierung genau dieses Feldes (vgl. ARCH+ 2018). In der Einverleibung der Sharing Economy verlieren Worte wie ‚sharing‘, ‚social‘ oder ‚co-working‘ ihre emanzipative Bedeutung, behalten aber den Glanz des Angesagten. Soziale Innovationen werden zu wettbewerbswirksamen Aushängeschildern. Und quasi nebenbei werden Konzepte geschwächt, die andere Wertekontexte öffnen, wie zum Beispiel das Couchsurfing oder Initiativen für geteilte private Autos.

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ˈleɪt(ə)nt ˈasɛt – latent asset Ein ausschlaggebender Grund für den Erfolg vieler Start-ups liegt darin, dass sie die Fähigkeit besitzen, sogenannte latent assets, also unerkannte Vermögenswerte, aufzuspüren und zu vermarkten. Was sind solche latent assets? Es können grundsätzlich verwertbare Gegenstände, Personen oder Prozesse sein. Im Falle von Airbnb sind es die Wohnung und das Wohnerlebnis. Im Falle von Helpling die radikal outgesourcte, nackte Arbeitskraft, im Falle von Uber das ungenutzte private Auto, im Falle von Deliveroo die Kombination aus beweglichen Waren und freier Arbeitskraft. Aber wohin führt es uns, wenn unsere ‚Wohnperformance‘ finanziell wirksam als Anlagewert begriffen und vermarktet wird? Der Unterschied, ob ich mir eine Bohrmaschine oder eine Wohnung bzw. ein spezifisches Wohnerlebnis teile, liegt auch darin, dass die Bohrmaschine nicht in der gleichen Weise an die Person gebunden ist, dass sie funktional stark festgelegt ist und dass sie (in der Regel) keine existenzielle Rolle für die Selbsterhaltung und Reproduktionsfähigkeit der teilenden Person spielt. Die Bohrmaschine bringt eben nicht die Qualitäten und Funktionen mit, die adressiert werden, wenn wir über das Recht auf Wohnen sprechen. Trotzdem lassen sich heute beide – Wohnung wie Bohrmaschine – in gleicher Weise vermarkten. Das kann je nach Perspektive als Bedrohung oder als Chance verstanden werden. Denn vor dem Hintergrund unsicherer Arbeitsmärkte und wankender Sicherungssysteme sowie steigender städtischer Mieten sind viele Menschen (mehr oder weniger offenkundig) auf zusätzliches Einkommen angewiesen. Das weiß, wer Freund*innen in mittelgroßen und großen Städten hat, selbst in einer solchen wohnt oder einfach nur die Airbnb-Website besucht, wo genau damit geworben wird. Das monatliche Zuverdienst-Potenzial wird uns ungefragt gleich vorgerechnet. Im September 2018 waren es für Berlin-Neukölln monatlich 1.613 Euro.2 Die schon bei Friedrich Engels ab 1872 intensiv und seither wiederholt kritisierte Warenhaftigkeit der Wohnung (vgl. z. B. Wawrzyn/Kramer 1974 oder die von Christian Hiller et al. herausgegebene Buchreihe Wohnungsfrage) wird hier mal eben positiv umgedeutet und damit zum Argument für ein florierendes Airbnb-Geschäft. Unser viertes Moment neoliberalen Geschichte-Vergessens. 2 Airbnb: Werde Gastgeber, https://www.airbnb.de/host/homes?from_ nav=1 (18.9.2018).

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Disrupted Living Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Wir sollten verstehen, womit genau wir Handel treiben. Wenn wir unser Wohnen, Tun und Denken einer reinen Markt- und Verwertungslogik unterwerfen, dann setzen wir damit andere, alternative Werte und Lebensentwürfe aufs Spiel – räumlich, ideologisch und emotional. Wenn immer mehr menschliches Tun rationalisiert und renditeorientiert organisiert wird, dann ebnen wir einer Homogenisierung den Weg, die Diversität bedroht – soziale, körperliche, sexuelle, ästhetische, geschmackliche etc. (vgl. Berkes 2016c, S. 112). Wie oben beschrieben, kann diese Bedrohung durchaus auch in Form von Einverleibungen stattfinden, welche wiederum machtvolle Ausschlüsse kreieren.

ˈɛvrɪθɪŋ az ə ˈsəːvɪs –

Everything as a Service

Everything as a Service (kurz XaaS) bedeutet so viel wie „Alles wird zur Dienstleistung“ und ist eine ab dem Ende der 2000er Jahre gebrauchte Begrifflichkeit, die im Kontext von Entwicklungen im IT- und Cloud-Computing-Bereich aufgekommen ist (vgl. Köhler-Schute 2009, S. 15ff.). Das ‚everything‘ steht dabei als Platzhalter für unterschiedlichste Inhalte wie: backend, data oder mobility. Eine der frühesten Verwendungen ist „software as a service“. Der übergeordnete Ansatz weist im Rahmen von Digitalisierungsprozessen auf die Umwandlung von einfachen Produkten in komplexe Dienstleistungen hin. Während die umzuwandelnden Produkte oft eine materielle Repräsentanz besitzen, werden die neuen Services digital entwickelt und angeboten. Entsprechend erlangte das Konzept – ähnlich dem der disruptiven Innovation – in den Boom-Zeiten des Web 2.0 große Aufmerksamkeit. Ein noch früheres Beispiel lässt sich in den späten 1990er Jahren finden, wie Nick Srnicek in seinem Buch Platform Capitalism darlegt: Der Flugzeugturbinen-Hersteller Rolls Royce suchte zu dieser Zeit nach neuen Geschäftsideen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Man entschied sich, vom Verkauf der Turbinen auf deren Vermietung umzustellen. Der Effekt war immens: Statt die Maschinen einmal zu verkaufen, konnte man nun langfristige Geschäftsbeziehungen in gegenseitiger Abhängigkeit entwickeln, Geräte- und Nutzungsdaten sammeln, diese auswerten und in die technische Weiterentwicklung zurückfließen lassen. Zudem erschloss man sich neue Servicefelder (Wartung, Instandhaltung, Ersatzteile) mit wesent-

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Christian Berkes lich höheren Gewinnmargen. Damit konnte ein deutlicher Geschäftsvorteil gegenüber konkurrierenden Unternehmen und Produkten aufgebaut werden (vgl. Srnicek 2017, S. 38ff.). Ein ähnlicher Ansatz wird heute vom Software-Anbieter Adobe verfolgt, der seine Creative Suite nicht mehr als CD-ROM-Paket mit theoretisch unbegrenzter Nutzungsdauer anbietet, sondern seine Programme in Einzelabonnements aufteilt, die jährlich gezahlt und digital verifiziert werden müssen. Auch hier lässt sich die Verschiebung vom verräumlichenden Bild der Creative Suite hin zum immaterialisierenden Bild der Creative Cloud nachvollziehen: vom Appartement zur Wolke. In beiden beschriebenen Beispielen werden Nutzer*innen-Daten gesammelt und so Marktpositionen gestärkt. Der Politik- und Rechtswissenschaftler Frank Pasquale spricht in diesen Zusammenhängen auch von der Entwicklung globaler Monopole ohne Wettbewerb. Unternehmen wie Airbnb, Amazon oder Facebook seien aufgrund der von ihnen gesammelten, schier unerschöpflichen Datenmengen nicht mehr als Teilnehmer am Markt zu verstehen, sondern als Türsteher (Pasquale 2017). Den dahinter verborgenen Wandel in der unternehmerischen Einflussnahme auf unser tägliches Leben bringt Pasquale auf die Formel: „From governing territory to governing function“ (vgl. Pasquale 2017; 2015). Welche räumlichen und sozialen Implikationen bringen derartige Services nun mit sich? Für das Unternehmen Airbnb bedeuten sie, dass es nicht wichtig ist, die Wohnungen bzw. Unterkünfte tatsächlich zu besitzen. Entscheidend scheint vielmehr, dass die ‚Funktionen‘ darin kontrolliert werden können. Anders ausgedrückt, dass die ‚Wohnperformance‘ und die zugehörigen Erlebnisse profitorientiert determiniert und kommodifiziert werden können. Dies geschieht gegen die Logik des Alltags zum Beispiel durch die strikten Vorgaben und Hinweise zu den auf Airbnb verwendeten Fotos: Querformat, helle Räume, in Ecken fotografieren mit Drittel-Regel, aufräumen, Einzigartiges hervorheben etc. (vgl. åyr 2016, S. 33ff.).3 Diese bewirken, dass wir nicht im wilden Interim unvorhersehbarer Wohnarrangements leben, sondern uns neben dem klinischen Konstrukt einer Wohnoberfläche platzieren. Eine Wohnoberfläche, die möglichst vergleichbar, möglichst singulär hergerichtet und möglichst gefällig sein soll. Das ‚Wie wollen wir wohnen?‘ wird durch ein ‚Wie sollen wir wohnen?‘ ersetzt und ist damit das fünfte Moment neoliberalen Geschichte-Vergessens. 3 Airbnb: Wie mache ich tolle Fotos von meiner Unterkunft?, https://www. airbnb.de/help/article/746/how-can-i-take-great-photos-of-my-listing (18.9.2018).

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Disrupted Living Literatur ARCH+ 2018 ARCH+ Zeitschrift für Architektur und Urbanismus, H. 232: An Atlas of Commoning. Orte des Gemeinschaffens, 2018. åyr 2016 åyr: Catfish Homes. Airbnb and the Domestic Interior Photograph, in: Christian Berkes (Hg.): Welcome to AirSpace. How new Economies of Living and Sharing Reshape Dwelling, Architecture, Labor, and the Self, Berlin: botopress 2016, S. 33–38. Benner 2017 Benner, Katie: Airbnb Raises $1 Billion More in a Funding Round, in: New York Times, 9.3.2017, www.nytimes.com/2017/03/09/ technology/airbnb-1-billion-funding.html (18.9.2018). Bennet 2014 Bennet, Drake: Clayton Christensen Responds to New Yorker Takedown of ‚Disruptive Innovation‘, in: Bloomberg News, 20.6.2014, https://www.bloomberg.com/news/articles/2014-06-20/clayton-christensen-responds-to-new-yorker-takedown-of-disruptive-innovation (8.1.2019). Berkes 2016a Berkes, Christian (Hg.): Welcome to AirSpace. How new Economies of Living and Sharing Reshape Dwelling, Architecture, Labor, and the Self, Berlin: botopress 2016. Berkes 2016b Berkes, Christian: Airbnb: Faux Vacancy. An Essay in Polemic Theses, in: ders. (Hg.): Welcome to AirSpace. How new Economies of Living and Sharing Reshape Dwelling, Architecture, Labor, and the Self, Berlin: botopress 2016, S. 41–45. Berkes 2016c Berkes, Christian: A Xerox Collection, in: ders. (Hg.): Welcome to AirSpace. How new Economies of Living and Sharing Reshape Dwelling, Architecture, Labor, and the Self, Berlin: botopress 2016, S. 89–121. Christensen 1997 Christensen, Clayton M.: The Innovator’s Dilemma. When New Technologies Cause

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Elke Krasny Vom Diskurs der Obdachlosigkeit Eine Annäherung Obdachlos. Unbehaust. Wohnunglos. Ohne Adresse. Es gibt viele Weisen, zum Ausdruck zu bringen, dass jemand ohne Bleibe ist, keinen festen Wohnsitz hat, über keine Meldeadresse verfügt. Wie werden über Obdachlosigkeit Aussagen getroffen? Das Interesse dieses Beitrags gilt der Hervorbringung von epistemischen und handlungsmächtigen Aussagen, die den Diskurs über die Obdachlosigkeit bestimmen. Statistiken werden erstellt, Zahlen veröffentlicht, Dokumente verfasst, Akten erstellt, Absichten erklärt, Strategien entwickelt, Maßnahmen ergriffen, Regeln eingeführt, Gesetze erlassen. Als Gemengelage aufgefasst, lassen alle diese verschiedenen Arten des Sprechens und der mit ihnen verbundenen Wissensgenerierung Einsichten zu in die Art und Weise, wie Obdachlosigkeit diskursiv hervorgebracht und epistemisch bestimmt wird. In seiner 1970 am Collège de France gehaltenen Antrittsvorlesung sprach Michel Foucault über die Ordnung des Diskurses (Foucault 1991). Der Diskurs resultiert nicht aus den Artikulationen singulärer Subjektivitäten oder persönlicher Meinungen, sondern aus der „Organisation von Disziplinen“ (ebd., S. 21–23). In der Archäologie des Wissens hatte Foucault auch von „diskursiven Formationen“ gesprochen (Foucault 1981, S. 48). Die diskursive Formation bestimmt demnach die epistemische und gesellschaftliche Behandlung des Gegenstands, von dem im Diskurs gesprochen wird. Auch Obdachlosigkeit wird in diesem Sinne also behandelt. Zwei Bedeutungsebenen von „Behandlung“ sind von Relevanz für das Verständnis der epistemischen Gewaltverhältnisse in der Behandlung von Obdachlosigkeit: Zum einen behandeln wissenschaftliche Analysen und

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Vom Diskurs

der Obdachlosigkeit

Diskurse Obdachlosigkeit. Zum anderen können auch soziale Maßnahmen zur Vermeidung oder Verringerung von Obdachlosigkeit sowie Maßnahmen zur Unterstützung von Obdachlosen als Behandlung verstanden werden. Solche Maßnahmen werden umgangssprachlich häufig auch als Bekämpfung von Obdachlosigkeit bezeichnet. Die Behandlung von Obdachlosigkeit ist ihre Bekämpfung. Mit dem Begriff der Bekämpfung sind wiederum jene der Gewalt und des Krieges aufs Engste verknüpft. Auf der Ebene der Sprache zeigt sich, dass die Behandlung von Obdachlosigkeit, ihre Bekämpfung, immer auch die Gewaltlogik des Kampfes mit denjenigen einschließt, die obdachlos sind. Die Sprache artikuliert die Gewaltlogik, die der Behandlung von Obdachlosigkeit innewohnt. Welche Hervorbringung von Wissen, welche Episteme, welches Sprechen ist wirkmächtig in der Formation des Diskurses der Obdachlosigkeit? In allen Bereichen, deren Arbeit mit den Menschen, ihrem Regiert-Werden, ihrem Verwaltet-Werden, ihrer Gesundheit, ihrer Wohlfahrt, ihrem Zusammenleben befasst sind, richtet sich die Aufmerksamkeit auch auf diejenigen, die ohne Obdach sind. Zu diesen Bereichen zählen die Politik, die Verwaltung, die Rechtsprechung, die Polizei, das Gesundheitswesen, die Medizin, die Sozialarbeit, die Stadtplanung, das Wohnungswesen, die Architektur sowie der Aktivismus. Alle Forschungsgebiete und Disziplinen, die sich der Generierung von Wissen über den Menschen widmen, leisten Beiträge zur Wissensproduktion über Obdachlosigkeit. Zu diesen Disziplinen zählen unter anderem die Geschichtswissenschaft, die Wirtschaftswissenschaft, die Anthropologie, die Statistik, die Demografie, die Politikwissenschaft, die Policy Studies, die Critical Race Studies, die Soziologie, die Geografie, die Linguistik, die Übersetzungswissenschaft, die Gender Studies, die Philosophie, die Kunstgeschichte, die Literaturwissenschaft, die Theaterwissenschaft, Performance Studies, Filmwissenschaft, aber auch aktivistische Formen von Militant Research. All diese Sprechweisen tragen zur Formation des Diskurses der Obdachlosigkeit bei. Diese hier einleitend dargelegten Zusammenhänge sind eine erste und als vorläufig zu begreifende Annäherung an ein Forschungsunterfangen, das sich unter dem Titel Der Diskurs der Obdachlosigkeit fassen lässt. Solch ein Vorhaben könnte Aufschlüsse darüber vermitteln, wie die Formation des Diskurses der Obdachlosigkeit sich in spezifischen historischen Momenten, in lokalspezifischen Zusammenhängen sowie in internationalen Politiken konstituierte und veränderte. Es könnte die Konsequenzen der hierarchischen Binarität zwischen

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Elke Krasny dem behausten Menschen und dem unbehausten Menschen in Hinblick auf ontologische, politische, juridische, gesellschaftliche und kulturelle Dimensionen untersuchen. Der folgende Text versteht sich als erster Schritt, als Beitrag zu dem oben skizzierten Forschungsunterfangen. Anhand dreier markanter Diskursereignisse – der Veröffentlichung von Friedrich Engels’ Die Lage der arbeitenden Klasse in England im Jahr 1845, der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die UNO-Vollversammlung im Jahr 1948 und der aktuellen Debatte um das Anthropozän und den Öko-Kollaps – werden entscheidende Wendungen in der Formation des Diskurses der Obdachlosigkeit in der Moderne dargestellt und wird die Bedeutung der Perspektiven der Kapitalismuskritik, der Menschenrechte und der Anthropozän-Kritik für die Formation des Diskurses der Obdachlosigkeit aufgezeigt.

Obdachlosigkeit im Diskurs der Kapitalismuskritik „Aber bei all dem sind diejenigen noch glücklich, die nur noch ein Obdach irgendeiner Art haben – glücklich gegen die ganz Obdachlosen.“ (Engels 2018, S. 32) Diese Feststellung von Friedrich Engels in Die Lage der arbeitenden Klasse in England, einer frühen zentralen Schrift der Kapitalismusanalyse aus dem Jahr 1845, macht deutlich, dass die prekäre Stadterfahrung des Industrieproletariats durch Armut und die Krise des Wohnens, wie sie im Kapitalismus seit der Industrialisierung endemisch ist, bestimmt war. Obdachlosigkeit war eine chronische Bedrohung. Friedrich Engels war von seinem Vater Friedrich Engels senior Anfang der 1840er Jahre nach Manchester entsandt worden, um im Unternehmen Engels & Ermen zu arbeiten. Dabei gewann er nicht nur Einblicke in die Abläufe der Textilindustrie, sondern lernte auch, wie die kapitalistische Wirtschaftsordnung funktioniert. Diese Erfahrung in Sachen Kapitalismus, seine Ausbildung zum Kapitalisten, war die Basis, von der aus Engels seine Schrift verfasste. Diese gilt als Beginn der kritischen Stadtforschung, der empirischen Soziologie und der engagierten Soziologie (vgl. Donald 1999, S. 33) Engels’ Schrift kann auch als zentraler Beitrag zu einer beginnenden kritischen Obdachlosigkeitsfor-

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Vom Diskurs

der Obdachlosigkeit

schung angesehen werden. Die Formation des sozialkritischen Diskurses zur Obdachlosigkeit, die in Die Lage der arbeitenden Klasse in England ausgemacht werden kann, beruht auf der Einsicht, dass die Zusammenhänge zwischen Kapitalismus, Stadtentwicklung, Wohnungskrise, Massenverelendung und Obdachlosigkeit struktureller Natur sind. Diese Einsicht geht zurück auf jene von Engels gewählte Methoden, über die der Untertitel seiner Schrift Auskunft gibt: „Nach eigener Anschauung und authentischen Quellen“ (Engels 2018). Forschung, Beschreibung und Analyse beruhen folglich auf den folgenden beiden methodischen Annäherungsweisen: Sehen und Lesen. Dieses forschende Sehen und dieses erkennende Lesen, beide grundlegend für das Erfassen der Lage der arbeitenden Klasse und der Krise des Wohnens im Kapitalismus mit ihren prekären Wohnverhältnissen des Proletariats, musste eingeübt werden. Es ging darum, zu lernen, die Räume der Armut in der Stadt zu sehen. Obdachlosigkeit ist raumgewordene Armut. Obdachlosigkeit ist verräumlichte Prekarität. Wesentlich für das, was von Friedrich Engels „Anschauung“ und „authentische Quellen“ genannt wird, sind in seinen Forschungen zur Obdachlosigkeit zum einen Stadtspaziergänge und zum anderen die Lektüre von Zeitungsberichten. „Aus unserm gestrigen Polizeibericht geht hervor, dass eine Durchschnittszahl von fünfzig menschlichen Wesen jede Nacht in den Parks schlafen, ohne anderen Schutz gegen das Wetter als die Bäume und einige Höhlungen in den Dämmen. Die meisten derselben sind junge Mädchen […].“ (Engels 2018, S. 32) Dieses Zitat aus einem Zeitungsbericht, erschienen 1843 in der Londoner Times, macht den Weg der Produktion von Wissen über Obdachlosigkeit nachvollziehbar. Am Anfang steht das polizeiliche Interesse. All jene Subjekte, die keine fixe Adresse haben, die nicht wohnen, werden von der polizeilichen Ordnungsmacht erfasst. In den öffentlichen Räumen der Stadt wird die Obdachlosigkeit zum Gegenstand der polizeilichen Observation. Sie wird erfasst, in Zahlen zu Papier gebracht. Die Polizei produziert akute Statistiken im Gegensatz zur verwaltenden Demografie, die langfristige Statistiken führt. Diese Statistiken werden öffentlich gemeldet. Und diese Meldung wird zum Ausgangspunkt für die Berichterstattung in der Presse. Die Epistemologie in der Formation des Diskurses der Obdachlosigkeit geht den Weg von der Erfassung und Meldung durch die polizeiliche Ordnungsmacht über die journalistische Berichterstattung zur engagierten Soziologie und Kapitalismuskritik. Der kritische Diskurs über die Obdachlosigkeit

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Elke Krasny bei Friedrich Engels beruht nicht zuletzt auf dem durch die Polizei produzierten Wissen über die öffentliche Dimension der Wohnungslosigkeit. Der öffentliche Raum der Stadt, Gassen, Straßen, Parks, ist der Raum des obdachlosen Wohnens. In „Passagen, Arkaden, irgendeinem Winkel“ wohnen all jene, sichtbar und schutzlos, die kein Zuhause haben (ebd.). Die Krise des Wohnens, die Prekarität der unbehausten Existenz zeigt sich in den öffentlichen Räumen der Stadt. „In London stehen jeden Morgen fünfzigtausend Menschen auf, ohne zu wissen, wo sie für die nächste Nacht ihr Haupt hinlegen sollen.“ (Ebd.) Die Wohnungsnot war nicht zuletzt ein Effekt der Armengesetzgebung, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde und zum rapiden Anstieg der Bevölkerung von London beitrug. Wie aus einem britischen Parlamentsbericht des Jahres 1834 hervorgeht, wurde ein New Poor Law eingeführt (vgl. Senior 1905). Als Antwort auf die Agrarkrise und die damit einhergehende Verelendung der Landbevölkerung verordnete die Armengesetzgebung die Umsiedlung in die Stadt. Die daraus resultierende Massenumsiedlung führte ihrerseits zu weiterer Verelendung und verheerenden Wohnverhältnissen. Diese Krise des Wohnens kennzeichnete den städtischen Alltag. Obdachlose wurden in der Folge – wie gesehen – zum Gegenstand der polizeilichen wie auch der parlamentarischen Wissensproduktion. Zur Letzteren zählt beispielsweise ein von Nassau William Senior verfasster Bericht: Poor Law Commissioners’ Report of 1834 (ebd.). Die Stoßrichtung des Berichts zielte ab auf Reformen, insbesondere auf wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen. Alle drei Bereiche der Staatsgewalt, die Legislative, die Exekutive und die Judikative, trugen wesentlich zur Formierung des Diskurses der Obdachlosigkeit in jener Epoche bei, die als Kapitalismus-Moderne bezeichnet werden kann. Engels’ Schrift Zur Lage der arbeitenden Klasse aus dem Jahr 1845 sowie seine spätere Artikelserie Zur Wohnungsfrage von 1872/73 sind Schlüsseltexte des sozialkritischen Diskurses der Obdachlosigkeit. Wie Judith Walkowitz unter Verweis auf Peter Stallybrass und Allison White aufgezeigt hat, sind in die Formation dieses kritischen Diskurses, der darauf abzielte, die herrschende Macht der Bourgeoisie als Grund für Armut und Obdachlosigkeit sichtbar zu machen, kolonialisierende Denkweisen der Moderne hineingeschrieben. So schrieb Engels über „an essentialist sub-human nomad: the Irish“ (Walkowitz 1992, S. 19; Stallybrass/White 1986, S. 132). Hier zeigt sich ein wesentliches Untersuchungsgebiet für weitere Forschungen zur Formation dieser Anfänge

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des sozialkritischen Diskurses der Obdachlosigkeit und den Zusammenhängen zu essentialisierender, kolonialisierender, rassifizierender „epistemischer Gewalt“ (vgl. Spivak 1988, S. 24). Friedrich Engels greift in seinen Studien wie gezeigt auf die Wissensproduktionen von Journalismus und Staatsgewalt zurück und verbindet diese mit seinem Wissen über die Lebensbedingungen des Proletariats in Manchester. Durch die beiden aus Irland stammenden, in Manchester lebenden Schwestern Mary und Lizzie Burns, die seine Forschungsspaziergänge leiteten, wurden ihm Einblicke in diese gesellschaftlichen Zustände ermöglicht. Das Spazierengehen als Forschungsmethode verdankt sich daher dem Stadtwissen der beiden Frauen, die ihre Zugänge mit Engels teilten. Dieses Informationssystem am Beginn der urbanen Soziologie und kritischen Stadtforschung erinnert an lokale und indigene InformantInnen, wie sie in den Anfängen der Anthropologie unter dem Regime des imperialen Kolonialismus eingesetzt wurden. Das Wissen der beiden Schwestern fundierte Engels’ sozialkritische Schriften, mit deren Veröffentlichung er beabsichtigte, politische Bewusstseinsbildung voranzutreiben. Eine umfassende kritische Analyse der Engel’schen Wissensproduktion im stadtforschenden Verfahren sowie in seinem Schreiben, die den Rahmen des hier vorliegenden Textes sprengen würde, würde ihr Augenmerk zum einen auf die zentrale Rolle von Lizzie und Mary Burns lenken und zum anderen auf die kolonialen Denkstrukturen verhafteten ethnifizierenden und rassifizierenden Gewaltlogiken des Textes. Wiewohl eine umfassende kritische Relektüre von Zur Lage der arbeitenden Klasse noch erfolgen müsste, kann im Hinblick auf die Anfänge der Obdachlosigkeitsforschung dennoch folgende zentrale Einsicht aus dem Text gewonnen werden. Empirie ist Bewusstseinsarbeit. Empirie ist Ausgangspunkt für Politisierung. Das Wissen über die Lage der Fakten ist die Grundlage für die Einsicht in die Zusammenhänge, die diese Lage hervorbringen. Die Erkenntnis der Zusammenhänge ist die Basis für Veränderung. Die zentrale Einsicht, die aus Engels’ früher Schrift zu gewinnen ist, ist die folgende: Obdachlosigkeit ist gesellschaftlich produziert. Einer der Effekte der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus ist Obdachlosigkeit. Das bedeutet, dass die Lage der Obdachlosigkeit im Kapitalismus endemisch wird.

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Obdachlosigkeit im Diskurs der Menschenrechte „Where, after all, do universal human rights begin? In small places, close to home – so close and so small that they cannot be seen on any map of the world. Yet they are the world of the individual person: The neighborhood he lives in; the school or college he attends; the factory, farm, or office where he works. Such are the places where every man, woman, and child seek equal justice, equal opportunity, equal dignity without discrimination. Unless these rights have meaning there, they have little meaning anywhere. Without concerted citizen action to uphold them close to home, we shall look in vain for progress in the larger world.“ (Roosevelt 2000, S. 190) Wo beginnen die Menschenrechte? Diese Frage wird von Eleanor Roosevelt in ihrer knappen Bemerkung vor den Vereinten Nationen am 27. März 1953 politisch und strategisch gestellt. Diese Bemerkung ist aus mehreren Gründen von Interesse für den Zusammenhang zwischen Obdachlosigkeit und Menschenrechten. Roosevelt lenkt das Augenmerk der Delegierten darauf, dass Menschenrechte nicht nur im Maßstab der Nationen zu denken sind. Sie insistiert, dass Menschenrechte Teil des Alltags sind, bestimmend für die Lebenszusammenhänge von Menschen, entscheidend für ihre persönlichen Erfahrungen. Ihre Behauptung, dass Menschenrechte im Maßstab des alltäglichen Lebens konzipiert und praktiziert werden müssen, verändert die Politiken der Menschenrechte. Die Universalität der Menschenrechte wird in Eleanor Roosevelts Worten zu einer handlungsorientierenden und handlungsermächtigenden Praxis.1 Nicht die abstrakte Idee der Menschenrechte ist für die Argumentation ausschlaggebend, sondern die Gewährleistung der Menschenrechte als gelebte Praxis im Alltag. Roosevelt zählt solche Orte des Alltags auf: die Nachbarschaft, die Schule, die Universität, den Arbeitsplatz. Sie spricht von Kindern, Frauen und Männern. Ausgehend von Eleanor Roosevelt lässt sich argumentieren, dass die Menschenrechte zu Hause beginnen.

1 Aus postkolonialer, dekolonialisierender, feministischer, genderkritischer und queerer Perspektive ist am Universalitätsbegriff der Menschenrechte umfassend Kritik geübt worden. Siehe dazu z.B. die Ausführungen von Nikita Dhawan und Mario do Var Castro Varela (2013).

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Wo beginnen die Menschenrechte? Diese Frage muss wörtlich genommen werden. Roosevelts Argumentation, dass die Menschenrechte zu Hause beginnen, setzt voraus, dass es ein Zuhause gibt. Fehlt dieses, so liegt eine Verletzung der Menschenrechte vor. Eleanor Roosevelt war die treibende Kraft hinter der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 durch die Vereinten Nationen verkündet wurde. Im Jahr 1945, als der Zweite Weltkrieg endete, wurde Eleanor Roosevelt vom US-Präsidenten Harry S. Truman zur US-Delegierten der Vereinten Nationen ernannt. Ab dem Jahr 1947 fungierte sie als Vorsitzende der UN-Menschenrechtskommission. Die Historikerin Allida Black hat darauf hingewiesen, dass Roosevelts Menschenrechtsverständnis auf die folgenden beiden Erfahrungen zurückgeht: zum einen die rassifizierende Gewalt in den USA und zum anderen ihr Besuch des Lagers Zeilheim in Deutschland im Februar 1946, wo sie mit Displaced Persons in Kontakt kam. Black schreibt Folgendes: „A lot of people really say that when Eleanor went to the displaced persons camp, that that really was the turning point. But I disagree with that. I’d say it was a turning point, but it was the experiences that led her to understand that to really make it so important. She had seen what it was like when generations of Americans grew up without hope. She understood how violence exacerbated racial tensions in the United States and saw racial violence explode during the Depression […].“ (Black 2015) Diese Erfahrungen brachten Roosevelt dazu, Menschenrechte nicht als abstraktes Ideal, sondern als Praxis im Alltag zu begreifen. Um zu einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu gelangen, die so alltägliche Fragen wie Ernährung, Wohnung, Bildung und Selbstbestimmung umfasst, nahm Roosevelt strategisch davon Abstand, auf einem rechtsverbindlichen Dokument zu beharren. Sie strebte eine allgemeine, von den Vereinten Nationen getragene und somit internationale Erklärung an, die auf der Annahme von universell geltenden und universell geteilten Rechten beruhte (vgl. ebd.). Der Kampf gegen Obdachlosigkeit war dabei zentral für diese Konzeption der universellen Menschenrechte. „And during this whole struggle, Eleanor comes to believe that food and shelter are the fundamental human right.“ (Ebd.) Im Jahr 1947 wurde mit der Arbeit an einer ersten Version der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte begonnen. Das zuerst dreiköpfige Team der Menschenrechtskommission bestand aus Eleanor Roosevelt, Peng-chun Chang aus China und Charles Malik aus dem Libanon.

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Elke Krasny Zur Überarbeitung wurde der von ihnen erarbeitete Entwurf an John Peters Humphrey weitergegeben, den Direktor der Abteilung für Menschenrechte des UN-Sekretariats. 1948 wurde das Arbeitsteam dann um sechs Mitglieder erweitert, außer dem Kanadier Humphrey waren dies: Alexandre Bogomolov (UdSSR), René Cassin (Frankreich), Charles Dukes (Vereinigtes Königreich), William Hodgson (Australien) sowie Hernan Santa Cruz (Chile).2 Der Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beinhaltet die zentrale Aussage, anhand derer Obdachlosigkeit durch den Diskurs der Menschenrechte verhandelbar wird. „1. Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände. 2. Mütter und Kinder haben Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung. Alle Kinder, eheliche wie außereheliche, genießen den gleichen sozialen Schutz.“ (Vereinte Nationen 1948) Die im hier interessierenden Zusammenhang zentrale Einsicht aus Artikel 25 ist die folgende: Das Recht auf Wohnen ist ein Menschenrecht. Obdachlosigkeit stellt eine Menschenrechtsverletzung dar.3

2 Eine Vorstellung der genannten Kommissionsmitglieder findet sich hier: Drafting of the Universal Declaration of Human Rights, in: Website der Dag Hammerskjöld Library, http://research.un.org/en/undhr/draftingcommittee (10.12.2018). 3 Hier sei ein Beispiel angeführt, wie die Vereinten Nationen das Recht auf Wohnen mit dem Mittel eines sogenannten Sonderverfahrens adressieren: Im Juni 2017 brach im Grenfell Tower in London aufgrund der Missachtung der Sicherheitsstandards ein Feuer aus. Die UN-Sonderberichterstatterin für das Menschenrecht auf angemessenes Wohnen, Leilani Farha, geht davon aus, dass im Falle des Grenfell Towers eine Verletzung der internationalen Menschenrechtsstandards vorliegt (vgl. Butler 2018).

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Obdachlosigkeit im Diskurs der Anthropozän-Kritik In Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän referiert die feministische Wissenschaftsforscherin Donna Haraway die Anregung der Anthropologin Anna Tsing, „die Vernichtung eines Großteils von Refugien als Wendepunkt zwischen dem Holozän und dem Anthropozän zu verstehen, jener Refugien, in denen sich bisher unterschiedliche Gefüge von Arten (mit oder ohne Leute) nach kapitalen Ereignissen (Verwüstung, Rodung, und und und …) neu formieren konnten“ (Haraway 2018, S. 138). Vor diesem Hintergrund schlägt Haraway eine Neukonzeption des Verständnisses von Obdachlosigkeit im 21. Jahrhundert vor, das den Diskurs über Obdachlosigkeit grundlegend ändern würde. Die derzeit drohende planetarische Obdachlosigkeit geht weit über die durch das Menschenrecht auf Wohnen adressierte Problematik hinaus. Denn es nimmt die Lebensbedingungen und Überlebensmöglichkeiten (auf) der Erde überhaupt in den Blick, für menschliche und für nichtmenschliche Wesen gleichermaßen. Die Lage der Gegenwart ist besorgniserregend, bedrohlich. Seit dem Jahr 2000 wird über den von Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer vorgeschlagenen Epochenbegriff des Anthropozäns eine kritische Debatte geführt, die weit über das Fachgebiet der Geologie hinausreicht (vgl. Crutzen/Stoermer 2000; Tsing 2016). In ihrem Artikel „Earth Stalked by Man“ führt Tsing aus, dass das größte Problem des Begriffs, nämlich seine etymologische Herleitung aus dem griechischen Wort anthropos, das den weißen, männlichen Menschen, das seit der Aufklärung als universell gesetzte Subjekt bezeichne, auch den Schlüssel zu seiner Kritisierbarkeit birgt. Sie schlägt vor, die Erde als durch den Menschen verfolgt zu begreifen, nicht durch die Menschen im Allgemeinen, sondern durch jenes Subjekt der Moderne, das die Natur als zu bekämpfendes Gegenüber, als auszubeutende Ressource erachtete. Daraus folgert sie: „Anthropocene asks anthropology to take questions of liveability seriously.“ (Tsing 2016, S. 3) Anknüpfend an Tsing plädiere ich dafür, die „planetarische Bewohnbarkeit“ ernst zu nehmen und aus kritischer und handlungsorientierter Perspektivierung für eine „fortgesetzte Lebensmöglichkeit“ einzutreten (Fitz/Krasny 2019, S. 13). Das bedeutet, dass für die Möglichkeit der Fortsetzung des Lebens und Überlebens des Pla-

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Elke Krasny neten Erde und derer, die mit und auf diesem Planeten leben, gehandelt werden muss. Extraktivismus, Petrokapitalismus, globaler Klimawandel führen zum Bedrohungshorizont durch den Öko-Kollaps, der den Planeten Erde zunehmend zerstört und unbewohnbar macht. Das Konzept der planetarischen Obdachlosigkeit zielt darauf, diese Dynamik sichtbar zu machen. Soziale und politische Kämpfe im Zeitalter des Anthropozäns müssen daher die mit Engels eingeführte Kapitalismuskritik ebenso wie die mit Eleanor Roosevelt vorgestellte handlungsorientierte Sicht auf Menschenrechte umfassen und zugleich über beide hinausgehen, da die planetarische Sicht Aufmerksamkeit auf den Planeten Erde, auf dessen fortgesetzte Lebensmöglichkeit und auf dessen Bewohnbarkeit richtet. Am 25. September 2015 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution Transformation unserer Welt: Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verabschiedet, in der es heißt: „Diese Agenda ist ein Aktionsplan für die Menschen, den Planeten und den Wohlstand. Sie will außerdem den universellen Frieden in größerer Freiheit festigen. Wir sind uns dessen bewusst, dass die Beseitigung der Armut in allen ihren Formen und Dimensionen, einschließlich der extremen Armut, die größte globale Herausforderung und eine unabdingbare Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung ist.“ (Vereinte Nationen 2015, S. 1) Wiewohl der Begriff der Obdachlosigkeit in der Agenda 2030 nicht verwendet wird, handelt es sich um ein zentrales Dokument für das Verständnis von planetarischer Obdachlosigkeit unter den Bedingungen des Klimawandels. Die Agenda hält Folgendes fest: „Das Überleben vieler Gesellschaften und der biologischen Unterstützungssysteme der Erde ist in Gefahr.“ (Ebd., S. 6) Unter den 17 selbst gesetzten Zielen für eine nachhaltige Entwicklung findet sich eines, das direkt auf das Wohnen der Menschen Bezug nimmt: „Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten.“ (11. Ziel in ebd., S. 15) Wiewohl hier nicht die Unterkunft oder Wohnung als solche angesprochen wird, geht es zentral um ein das Überleben ermöglichendes Zusammenleben, um Nachhaltigkeit als Perspektive der Fortsetzung der planetarischen Bewohnbarkeit. Die zentrale Einsicht, die aus der Anthropozän-Kritik gewonnen werden kann, ist folgende: Obdachlosigkeit hat eine planetarische Dimension angenommen. Der Anspruch, den Planeten als bewohnbaren zu erhalten, muss menschliche und nichtmenschliche Wesen einschließen und ihnen gleichermaßen die Möglichkeit von Obdach zugänglich machen.

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Formationen von Obdachlosigkeit Die Formationen des Diskurses der Obdachlosigkeit wirken entscheidend auf die sich verändernden politischen und ethischen Konzeptionen von Obdachlosigkeit. Der hier vorgelegte Beitrag versteht sich als erster Schritt zu einer Erforschung der Formation des Diskurses der Obdachlosigkeit seit Beginn der Moderne, als deren bestimmende Parameter der koloniale Industriekapitalismus und das Anthropozän erachtet werden. Die hier erfolgte Skizzierung des kapitalismuskritischen Diskurses nach Friedrich Engels, des sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte manifestierenden Menschenrechtsdiskurses und des Anthropozän-kritischen Diskurses im Anschluss an Anna Tsing und Donna Haraway sowie die Agenda 2030 hat einen ersten Einblick in die Formation des Diskurses der Obdachlosigkeit gegeben. Zudem wurde gezeigt, wie eine zukünftige umfassende Analyse der Formation des Diskurses der Obdachlosigkeit als disziplinenübergreifendes Forschungsvorhaben aussehen könnte. Im Regime des Kapitalismus ist Obdachlosigkeit systemisch. Von der Krise des Wohnens, wie sie Engels Mitte des 19. Jahrhunderts diagnostizierte, bis zur planetarischen Obdachlosigkeit, wie der Befund von Haraway Anfang des 21. Jahrhunderts lautet, ist der kritische Diskurs Aufforderung zum Handeln, politisch ebenso wie ethisch. „Es ist unsere Aufgabe, das Anthropozän so kurz, so dünn wie möglich zu halten und miteinander auf jede vorstellbare Art und Weise kommende Epochen zu kultivieren, in denen Refugien sich wieder beleben können.“ (Haraway 2018, S. 138f.) Diese Worte von Donna Haraway sind als Arbeitsauftrag zu begreifen: Es gilt, die planetarische Bewohnbarkeit wiederherzustellen und zu erhalten und dabei ein Recht auf Wohnen gleichermaßen für menschliche und nichtmenschliche Wesen zu denken und durch unsere alltäglichen Praktiken zu ermöglichen.

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Elke Krasny Literatur Black 2015 Black, Allida: Fundamental Freedoms: Eleanor Roosevelt, the Holocaust, and the Universal Declaration of Human Rights, Video (9:18 min) und Transkript, 2015, https:// www.facinghistory.org/resource-library/ video/fundamental-freedoms-eleanor-roosevelt-holocaust-and-universaldeclaration (10.12.2018). Butler 2018 Butler, Patrick: UK may have breached human rights over Grenfell Tower, says UN, in: The Guardian, 9.3.2018, https://www.theguardian.com/uk-news/2018/mar/09/ grenfell-tower-uk-may-have-breachedhuman-rights-says-un (10.12.2018). Crutzen/Stoermer 2000 Crutzen, Paul J.; Eugene F. Stoermer: The Anthropocene, in: Global Change Newsletter, Nr. 41, Mai 2000, S. 17–18. Dhawan/Castro Varela 2013 Dhawan, Nikita; Maria do Mar Castro Varela: Human Rights and its Discontents: Postkoloniale Interventionen in Menschenrechtspolitik, in: Julia König; Sabine Seichter (Hg.): Menschenrechte. Demokratie. Geschichte. Transdisziplinäre Herausforderungen an die Pädagogik, Weinheim: Beltz Juventa 2013, S. 144–161. Donald 1999 Donald, James: Imagining the Modern City, Minneapolis: University of Minnesota Press 1999. Engels 2018 Engels, Friedrich: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen (1845), Berlin: Dearbooks 2018. Engels 1989 Engels, Friedrich: Zur Wohnungsfrage, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 18, Berlin: Dietz Verlag 1989, S. 209–287. Fitz/Krasny 2019 Fitz, Angelika; Elke Krasny: Critical Care. Architecture and Urbanism for a Broken Planet. Introduction, in: dies.; Architekturzentrum Wien: Critical Care. Architec-

ture and Urbanism for a Broken Planet, Boston: MIT Press 2019, S. 10–22. Foucault 1991 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1991. Foucault 1981 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981. Haraway 2018 Haraway, Donna: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, übers. v. Karin Harrasser, Frankfurt a. M.: Campus 2018. Roosevelt 2000 Roosevelt, Eleanor: Where do Human Rights Begin? Remarks at the United Nations, March 27, 1953, in: dies.: Courage in a Dangerous World. The Political Writings of Eleanor Roosevelt, hg. v. Allida M. Black, New York: Columbia University Press 2000, S. 190. Senior 1905 Senior, Nassau William: Poor Law Commissioners’ Report of 1834. Copy of the Report made in 1834 by the Commissioners for Inquiring into the Administration and Practical Operation of the Poor Laws, London: Darling and Son 1905, https://oll. libertyfund.org/titles/1461 (10.12.2018). Spivak 1988 Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? in: Gary Nelson; Lawrence Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture, London: Macmillan 1988. Stallybrass/White 1986 Stallybrass, Peter; Allison White: The Politics and Poetics of Transgression, Ithaca: Cornell University Press 1986. Tsing 2016 Tsing, Anna: Earth Stalked by Man, in: The Cambridge Journal of Anthropology, H. 1, Jg. 34, 2016, S. 2–16. Vereinte Nationen 1948 Vereinte Nationen: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Resolution 217 A (III)

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vom 10.12.1948, https://www.ohchr.org/ en/udhr/pages/Language.aspx?LangID=ger (10.12.2018). Vereinte Nationen 2015 Vereinte Nationen: Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 25. September 2015, neu herausgegeben am 12. Oktober 2018, http://www.un.org/Depts/ german/gv-70/band1/ar70001.pdf (10.12.2018). Walkowitz 1992 Walkowitz, Judith R.: The City of Dreadful Delight. Narratives of Sexual Danger in Late-Victorian London, Chicago: The University of Chicago Press 1992.

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Drehli Robnik Unbehaust und exhausted in Zeiten des Faschismus: Mittelschichten, Kino und Demokratie in maintenance (gedacht mit Kracauer) „Transzendentale Obdachlosigkeit“: Das ist ein Ausdruck von Georg Lukács aus seiner (noch vormarxistischen) Theorie des Romans aus dem Jahr 1920. Der Ausdruck kommt womöglich nur an einer Stelle des Buches vor, ist aber durch seine allmähliche Aufladung und eine gewisse Geläufigkeit zu so etwas wie einem Begriff avanciert. Konkret heißt es: „[…] die Form des Romans ist, wie keine andere, ein Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit.“ (Lukács 1920, o. S.) Um Roman-Formen geht es in meinem Beitrag nicht, wohl aber um moderne Bedingungen sozialer Erfahrung, und auf diese zielt auch Lukács: Der bürgerliche Roman ist eine Form, die darauf abzielt, das moderne, post-religiöse Subjekt zur Geltung zu bringen, das obdachlos ist, insofern es die Welt nicht mehr als vollendete Ganzheit des Sinns vorfindet, sondern sich eine bewohnbare Welt – eben im Sinn des Sinns – errichtet. Schöpfung aus Erschöpfung, Behausung nach der exhaustion: Sinn ist hier als etwas Ganzes gedacht, das sich zusammen mit der Religion (mit der Bindung von Leben und Gesellschaft an ein externes Absolutes) verflüchtigt hat; insofern ist Sinn nicht gegeben, sondern aufgegeben – im Doppelsinn von „fallen gelassen“ seitens des modernen Subjekts, zugleich aber diesem als Aufgabe anheimgestellt (ans Heim gestellt, das es nicht hat).

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Unbehaust und exhausted in Zeiten des Faschismus So weit, so subjektphilosophisch. Liegt da aber nicht fast eine Themenverfehlung vor? Ist diese „transzendentale“, also als Kategorie vorausgesetzte, „Obdachlosigkeit“ nicht eine Vorläuferin der existenzialistischen „Geworfenheit“ in die Welt – und insofern so sehr etwas anderes als die Unbehaustheit, die durch Wohnungsnot, Wohnungslosigkeit, WohnElend etc. erfahren wird, dass zwischen den beiden keine Verbindung besteht? Oder nur die Verbindung, die durch eine etwas strapaziöse Metapher hergestellt wird? Nun, tatsächlich denke ich, dass da eine Verbindung besteht, dass sie aber nicht im Modus einer Metapher zu fassen ist, sondern als eine Intimbeziehung, in der beide Aspekte der Obdachlosigkeit – der transzendentale und der, wenn wir so wollen, „erfahrene“ Aspekt – zugleich möglichst buchstäblich (quasi „unmetaphorisch“) und möglichst ineinander verflochten in Erscheinung treten. Und zwar in diesem Verständnis, mit folgender Akzentuierung in Richtung einer Geschichtlichkeit, somit einer Politizität der Intimbeziehung, also in Richtung dessen, was an der Beziehung politisch ist: zwischen einerseits einem transzendentalen, ontologischen Register des Grundes, der unter modernen Bedingungen als unsicherer Grund hervortritt; und anderseits einem ontischen Register des Gelebten, Erfahrenen, in dem Gründungen vorgenommen, Wohnstätten eingerichtet werden, mit dem Ziel, dass die kategorische Unsicherheit nicht ständig akut hervortritt.1 Die beiden Register stecken insofern ineinander, als die kategorische Unsicherheit des Grundes (transzendentale Obdachlosigkeit) letztlich zusammenfällt damit, dass es viele, und das heißt: viele verschiedene, Versuche gibt, gesellschaftliches Leben zu gründen, zwecks Bewohnbarkeit einzurichten – und diese verschiedenen Ansätze sind miteinander in Konflikt; das macht die Geschichte von Gesellschaften aus. Und ebendieses historische Konflikt-Moment, anders gesagt: ihr politisches Moment, bewirkt, dass der Grund von Gesellschaft kategorisch unsicher ist. Und es bewirkt auch, dass das Gründen und Einrichten der einen mit der Erfahrung von Obdachlosigkeit für andere einhergeht. Die Sache wird anschaulicher, wenn ich zu der Beziehung zwischen transzendentaler, also grundsätzlicher, und erfahrener, also historischer, Obdachlosigkeit nicht nur die Politik – das Konflikthafte am Einrichten von Gesellschaften – hinzunehme, sondern auch Film. Film verstanden 1 Im Hintergrund dieser Darstellung steht die politische Philosophie des Antagonismus, siehe hierzu Marchart 2010.

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Drehli Robnik als Wahrnehmungsform des grundsätzlich unsicheren Grundes und des Konflikthaften am gesellschaftlichen Leben. Es gibt einige prominente Formen, in denen sich der hier dargelegte Komplex begrifflich fassen lässt, also Filmtheorien, Filmphilosophien, die nach Kategorien wie auch historischen „Einrichtungsformen“ von Subjektivität fragen, nach deren politischem Moment und nach Film-Wahrnehmungen dieses Moments. Manchen ist heute vielleicht die post-phänomenologische Denk-Linie der Deleuze’schen Filmphilosophie vertraut. Bei Gilles Deleuze (1989, 1991) geht es darum, so könnten wir sagen, dass Film möglichst direkt ein radikal unbehaustes Zur-Welt-Sein vermittelt: einen Bruch mit dem bürgerlichen, mehr noch: dem identitätsbasierten Individuum als dem „Haus“ von Subjektivität, stattdessen eine Einrichtung, Sinnbildung im Fleisch, mehr noch: im Werden, als eine Ganzheit-Werdung der Auflösung selbst und eine Behaustheit im zu sich gekommenen Nomadischen. Ich möchte mich aber in Sachen transzendentaler wie historischer, politisch gefasster, filmisch wahrgenommener Obdachlosigkeit eher an den aus Frankfurt am Main stammenden, 1933 als linker Jude vor den Nazis ins Exil geflüchteten (ab 1941 in New York lebenden) Soziologen, Geschichtstheoretiker und Film-Denker Siegfried Kracauer halten. Warum Kracauer, zumal in diesem Kontext? Weil er erstens immer wieder an transzendentale Obdachlosigkeit andockt, sehr früh schon in seiner wohlwollenden Besprechung der Theorie des Romans: Der Roman ist, wie Kracauer Lukács beipflichtet, „ein ‚Ausdruck transzendentaler Obdachlosigkeit‘ […] eines Zeitalters, ‚für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat‘“ (Kracauer 2011a, S. 283). Zweitens verknüpft Kracauer diese Frage nach der Totalität als in ihrer Gebrochenheit angepeilte, nach einem Sinn-Ganzen, das sich entzieht und das moderne Subjekt obdachlos in der Welt zurücklässt, also die ontologische Grund-Frage, mit ganz konkreten Fragen und Beobachtungen zu urbanen Behausungen, Arten des Wohnens und deren sozialen und politischen Krisen. Und drittens ist bei ihm Film eine Form, eine Einrichtung, dieses Ineinander der transzendentalen und der erfahrenen Unbehaustheit wahrzunehmen. Und zwar wahrzunehmen – das ist ein wichtiger Unterschied zur Deleuze-Tradition – nicht als ein Ineinanderfallen, infolgedessen das Loswerden der menschlich-individuellen Subjektform gefeiert wird, sondern als ein problematisches, prekäres Ineinander, bei dem sich die Entgründung des Individuums als Lebensform nicht feiern lässt, ohne dass die Zwänge und Gewalten

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Unbehaust und exhausted in Zeiten des Faschismus mitbedacht werden, die ins Spiel kommen bei den Neu-Aufteilungen der sich als unteilbar, eben: individuell, (miss)verstehenden Lebensform.2 Daraus resultiert zum einen Kracauers philosophischer Zugang zum Film, den er seinerseits als Zugang zur Welt und zum In-der-Welt-Sein versteht (woraus wiederum resultiert, dass die Philosophie in ihrem Monopol auf Seins-Sorgen vom Film durchkreuzt wird, er ihr ins Gehege kommt).3 Und das heißt, Film lässt uns die Welt erfahren, sofern wir fragmentarisch sind und vor allem obdachlos, shelterless – ideell, ideologisch, mental unbehaust.4 Film lässt uns unser Fragmentiert-Sein und unser Unbehaust-Sein als Bedingungen unserer Welt- und Selbst-Wahrnehmung, pathetisch gesagt: als unsere Wahrheit, wahr-nehmen, im vollen Sinn. Konkret bezieht sich Kracauer an kanonischen Textstellen auf kanonische Filme und Arten von Film, in denen sich dies bewahrheitet: auf den in seine Affektionen durch die Welt zerstückelten, exemplarisch obdachlosen Tramp in Charlie Chaplins Slapstick-Filmen, auf den Neo-Slapstick der unter die Dinge und Geräusche zerstreuten Aktivitäten bei Jacques Tati, auf italienischen Neorealismus, insbesondere bei Roberto Rossellini, mit seinen Unbehaustheiten im Sprechen, in der Erfahrung, in vom Faschismus und Zweiten Weltkrieg wie auch vom Nachkriegskapitalismus verwüsteten Städten … In solchen Formen, so Kracauer, mache Film diese Erde schlechthin – um 1960 postnational, tendenziell auch postkolonial angedacht – wahrnehmbar als unsere „Wohnstätte“, unser „Habitat“.5 2 In einer – das ist wichtig! – solidarischen Kritik am sich verschließenden Kollektivismus der Gewerkschaften schreibt Kracauer 1929: „Das Kollektiv als solches ist genauso leer wie das Unternehmen als solches und nur der Gegenpol zur Privatinitiative des Unternehmers. […] Wenn nun das Kollektiv überbetont und schon beinahe selbst zum Inhalt erhoben wird, muß jede Abweichung von ihm […] mit dem Bann belegt werden. […] [M]an [macht] aus der Not der Uniformierung eine Tugend. Der Mensch, der allein dem Tod gegenübersteht, geht in das Kollektiv nicht ein, das sich zum Endzweck übersteigern möchte.“ (Kracauer 1971, S. 115) „[…] the cinema itself is set in the perspective of something more general 3 – an approach to the world, a mode of human existence.“ (Kracauer 1997, S. xi) 4 „Man in our society is ideologically shelterless.“ – „We literally redeem this world from its dormant state, its state of virtual nonexistence, by endeavoring to experience it through the camera. And we are free to experience it because we are fragmentized.“ (Kracauer 1997, S. 288, 300) 5 Kracauer zitiert den Schriftsteller Gabriel Marcel hinsichtlich der filmischen Vermittlung von „our relation to this Earth which is our habitat“ (Kracauer 1997, S. 304).

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Drehli Robnik In einem Brief an Adorno vom 11. Mai 1965 reagiert der alte Kracauer auf den Vorwurf, entsprechende Äußerungen zu Film als Welt-Verhältnis in seiner Theory of Film bezeugten einen Konformismus gegenüber bestehenden Macht-Einrichtungen: „Und wenn ich Marcel’s Wort von der ‚Erde, unserer Wohnstätte‘ zitiere, will ich gewiß nicht sagen, daß die Erde darum wohnlich sei. Im Gegenteil.“ (Adorno/Kracauer 2008, S. 704) Tatsächlich geht es bei Kracauer nicht um Wohnlichkeit im Gefühligen, sondern um die Kritik – die im Material, in dessen Beobachtung und Lektüre formulierte Kritik – von ungerechten Verhältnissen der rationalisierten Herrschaft und kapitalistischen Verdinglichung. Diese Kritik tritt deutlicher, gebündelter als in seinen New Yorker Großstudien in seinen kleineren Weimarer Schriften hervor: Um 1930 praktiziert Kracauer eine machtdiagnostische Tageszeitungs-Essayistik als Wahrnehmung eines Alltags des Unbehaust-Seins – in unlebbaren Massen-Räumen, zumal Warteräumen des normalisierten Ausnahme-Aufenthalts: Wärmestuben, Arbeitsvermittlungsstellen, Unterführungen, immer wieder Straßen, etwa auch solche, die von selber schreien.6 Diese Bezogenheit der Kritik, auch des Theoretisierens von Gesellschaft und Geschichte, auf alltagsräumliche Einrichtungen scheint mir ein wesentliches Element der Ausrichtung des kracauerschen Denkens auf Demokratie, und zwar sicherlich auf radikale Demokratie in dem Sinn, dass dieses Demokratieverständnis nicht in den (damals) gegebenen Institutionen und (klassenbasierten) politischen „Lager“-Identitäten aufgeht. Aber diese radikaldemokratische Ausrichtung meint – da sollten wir das Wort „radikal“ nicht missverstehen – Demokratie als etwas durchaus unserer Alltagswelt Teilhaftiges (wenn auch nicht in der Alltagswelt Gegebenes): Die radikaldemokratische Ausrichtung geht keinesfalls auf in den Beschwörungen eines „reinen Werdens“, einer unablässigen Auflösung von Identitäten in Intensitäten, wie in manchen Fassungen eines neoromantischen Deleuzianismus, und sie geht auch nicht auf im heroisierenden, puristischen Pathos einer Politik der allumfassenden Wahrheiten und Total-Umbrüche, wie es manche linksradikale Militanz-Theorien in Umlauf bringen. (Zugleich ist dabei aber auch klar: Ganz ohne einerseits das „Werden“ und anderseits die Militanz geht das auch nicht: die Demokratie.) Ich spreche mit Kracauer – auch: mit Blick auf Kracauer – von

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Zu Letzteren siehe Kracauer 1987a.

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Unbehaust und exhausted in Zeiten des Faschismus DemoKRACy, um an seinem Demokratie‑, Politik‑, Film-als-Gesellschaftswahrnehmungs-Konzept das Moment einer Schreibweise als Verdrehung, als Anerkennung von Verformungen in der Formbildung von Einrichtungen starkzumachen; und das heißt mithin auch: das Moment der Lektüre, des Dechiffrierens von „Raum-Bildern“, wie es in seinen Schriften durchgängig prägend ist (ausführlicher: Robnik 2019). Ein Entziffern alltäglicher räumlicher Einrichtungen als Einsichten ins Gesellschaftliche – bis zu deren unsicherem Grund. Und zu Momenten radikaler Demokratie an diesem Grund.7 Eine solche Konfiguration ist Kracauers Essay „Abschied von der Lindenpassage“, erschienen am 21. Dezember 1930 in der Frankfurter Zeitung und später prominent platziert in beiden Aufsatzsammlungen, die Kracauer 1963 noch zusammengestellt hat.8 Die Entzifferung einer vom Fortschritt überholten Einkaufspassage als ein regelrechtes Sozio-Biotop, das deklassierte Waren-Dinge behaust, mündet in Schlusssätze, die Gesellschaft als im Grunde – an ihrem Grund – paradox und kontingent verfasst zu verstehen geben. Paradox im Schlusssatz des Texts: „Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist?“ Und kontingent im Satz davor: Die modernisierte Architektur, welche die Einkaufspassage allmählich überformt, „[verhält] sich einstweilen völlig neutral und [wird] später einmal wer weiß was ausbrüten – vielleicht den Fascismus [sic] oder auch gar nichts“ (Kracauer 1963a, S. 332). Gesellschaft (formuliert mit Blick auf die deutsche Gesellschaft Ende 1930) enthält sich paradox selbst als Passage in einer Passage, ist mithin wesentlich (im) Übergang, und das Geschichtliche an diesem Übergang erweist sich als kontingent. Das heißt, aus dem kapitalistischen Modernisierungsprozess folgt nichts mit Notwendigkeit: Er behaust quasi verschiedene Zukünfte – Fascismus (damals der noch primär italienischen Prägung dieser Herrschaftsform wegen so geschrieben) oder auch gar nichts –, und das nicht wegen einer Metaphysik der Virtualitäten o.  Ä., sondern im Zeichen einer politischen Artikulation und Einrichtung von Gesellschaft, also von Politik in ihrer Eigenart, die irreduzibel ist, nicht rückführbar auf Ökonomie, auf Klassen-Identitäten oder auf eine Rationalität der Mo-

7 „Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.“ (Kracauer 1987b) 8 Es sind dies Das Ornament der Masse und Straßen in Berlin und anderswo.

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Drehli Robnik dernisierung. (Und in dieser Irreduzibilität der Politik kommt dann auch eine allfällige Metaphysik der Virtualitäten zu ihrem Sinn, ihrer Wahrheit.) Wohlgemerkt: Kracauer spitzt seine Gegenüberstellung nicht zu Faschismus oder Demokratie zu, sondern formuliert fast flapsig Faschismus oder auch gar nichts. Das oder auch gar nichts wird dabei zu einem Platzhalter der Möglichkeit, dass die Dinge anders als erwartet kommen, zumal anders als gemäß einem Verlauf, der im heutigen Rückblick auf 1930ff. unvermeidlich als eine Notwendigkeit erscheint. Dem oder auch gar nichts haftet aber um 1930 nicht nur ein Sarkasmus der Verzweiflung an, sondern durchaus auch ein Moment von Chance – in Hinblick nämlich auf das Publikum, für das Kracauer in der Frankfurter Zeitung täglich (und als prominente linke Edelfeder) schreibt. Das sind die Mittelschichten: „Depossediert, ökonomisch proletarisiert und ideell obdachlos“ (Kracauer 1963b, S. 99) verkörpern sie für ihn die transzendentale Obdachlosigkeit, die Sinn-mäßige Unbehaustheit. Während das Proletariat in marxistischer Geschichts-Sichtweise das Nichts als Klasse (bzw. als Nicht-Klasse der Aufhebung aller Klassen) ist, stellt die Mittelschicht in Kracauers Postmarxismus die Nicht-Klasse eines oder auch gar nichts in Hinblick auf die politische Ausformung von Gesellschaft dar. Mittelschichtige Unbehaustheit ist quasi die hochkonzentrierte Form der politischen Kontingenz von Gesellschaft, und um 1930 ist die mittelschichtige Unbehaustheit wiederum hochkonzentriert, zu einem krisenhaften Kippmoment, entlang der dringlichen und noch – noch – offenen Frage: Wie wird sich die Mittelschicht politisch artikulieren? Konkret: Wie sehr wird sie nach rechts gehen – und unter den militanten Rechtsparteien die von Adolf Hitler unterstützen? Kracauer schreibt um 1930 um der Chance willen – und er schreibt nicht nur über, sondern auch an die Mittelschichten, denen er angehört –, dass die deutschen Mittelschichten ihren „Aufruhr“ nicht rechts veranstalten: dass sie sich politisch nicht einhausen in jener durch Rassen-Antisemitismus zusammengehaltenen Mischung aus nationalistischen und rechtspopulistischen Mobilisierungen, die der deutsche Faschismus in seiner nationalsozialistischen Form darstellt. Die deutschen Mittelschichten, darunter die Angestellten, sind Teil der neuen Massen: „[M]entally shelterless“, „[t]hey filled the cities and belonged nowhere“, wie Kracauer (2004a, S. 182) im Rückblick auf die Mittelschichten der Weimarer Republik schreibt. Er fasst sie in Schriften kurz vor und kurz nach der Machtübernahme durch die Nazis unter drei Aspekten: erstens einem demoskopisch-regierungstechnischen As-

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Unbehaust und exhausted in Zeiten des Faschismus pekt; dieser fokussiert Herrschaftspolitik (in Hitlers Deutschland und Mussolinis Italien) in ihrem durchgriffigen Ansatz, Massen in einer staatlich durchgliederten Gesellschaft zu behausen. Angesichts „proletarisierter Massen, die der Gesellschaft auf die übliche Weise nicht mehr einverleibt werden können“, „[besteht d]ie eigentliche Leistung des Fascismus eben darin, mit bisher unbekannten Methoden die der Gesellschaft entsprungenen Massen aufzufangen, zu beherrschen und durchzukneten“ (Kracauer 2011b, S. 525). Zweitens ist da ein ideologisch-habitueller und, in Hinblick auf Selbstwahrnehmung und resultierendes Handeln, moralischer Aspekt. Die Mittelschichten sind soziokulturell unbehaust, zumal im Vergleich zum Eingerichtet-Sein anderer Klassen in lebensweltumfassenden Organisationen und Kulturen: Ein „Leben als klassenbewußter Proletarier wird von vulgärmarxistischen Begriffen überdacht […]. Das Dach ist allerdings heute reichlich durchlöchert. Die Masse der Angestellten unterscheidet sich vom Proletariat darin, daß sie geistig obdachlos ist. […] das Haus der bürgerlichen Begriffe und Gefühle, das sie bewohnt hat, ist eingestürzt, weil ihm durch die wirtschaftliche Entwicklung die Fundamente entzogen worden sind.“ (Kracauer 1971, S. 91) Daher: „Theoretisch wäre es möglich gewesen, daß das Gros der Angestellten etwa die Tatsache seiner ökonomischen Proletarisierung anerkannt und sich auf die Seite der Arbeiter geschlagen hätte.“ (Kracauer 2011c, S. 436) Möglich ja. Aber von den Möglichkeiten Faschismus oder dieses Bündnis (oder auch gar nichts) realisiert sich praktisch die erste. Das liegt zum einen daran: Diese Proletarier*innen wollen Arier*innen sein, sprich Angestellte verkennen sich ideologisch als Organe eines identitären Volkes oder als Bürger*innen, die sie längst nicht mehr sind. Es liegt aber auch – hier der dritte Aspekt: die nicht auf Klasse reduzierbare Eigenlogik der Politik – an Fehlern der proletarischen Parteien in Deutschland, die Kracauer in Schriften 1933–1938 analysiert. Was behaust der Faschismus, das der organisierte Marxismus nicht behaust? Da ist zunächst ein den Mittelschichten kostbarer Individualismus, der sich beim neurotisierten Führer- und Geniekult der Nazis besser aufgehoben fühlt als beim linken Kollektivismus, der „aus der Not der Uniformierung eine Tugend“ macht (siehe Fußnote 2) und in seinen Vertretungsansprüchen an ein gleichförmig diszipliniertes Industrieproletariat fixiert bleibt, statt den Angestellten Bündnisangebote zu machen, die ihre Assimilation-durch-Proletarisierungs-Ängste besänftigen. Schon 1921 schrieb der (seinerseits noch vormarxistische) Kracauer mit Blick auf Lukács’ Dia-

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Drehli Robnik gnose kollektiver Obdachlosigkeit im Entzug des Sinns, auch „die sozialistische Bewegung“ „überläßt uns weiter der Einsamkeit und Heimatlosigkeit“ (Kracauer 2011a, S. 282), und einen triftigen Beleggrund für diese Diagnose – einer, der dann in der Konfrontation mit den Nazis schlagend wird – formuliert er nach 1933 aus: Die proletarischen Parteien geben dem Gefühlsanteil von Politik zu wenig Obdach. Kracauer spricht diesen Gefühlsanteil unter damals dafür gängigeren Namen wie Trieb und Natur an, und er unterscheidet da zwischen deren destruktivem (quasi) Aggregatzustand und einem „bündnisfähigen“ (wie er ihn in anderen Texten immer wieder im Zeichen der Märchenvernunft beschwört): „Die deutschen und italienischen Arbeiterparteien scheiterten zweifellos auch deshalb, weil sie […] die bündnisfähigen Kräfte der Natur unterschätzten […]. Revoltiert im Nationalsozialismus und Faschismus die mißachtete Natur? Indem sich die überantworteten dumpfen Triebe gewalttätig gegen den Geist erheben, bringen sie ihm drastisch bei, daß er die Natur nicht sich selber überlassen darf, sondern mitnehmen muß. Der Geist, der nicht mit der bündnisfähigen Natur wider die meuternde zu paktieren versteht, ist ein denaturierter Geist, aber kein reiner.“ (Kracauer 2013, S. 45) Das ist eine nichtromantische – nicht mit Vulkanischem und Heroischem kokettierende – Variante eines zeitgleich artikulierten Gedankens von Kracauers kommunistischem Freund Ernst Bloch. Bloch (1985) fragt in Erbschaft dieser Zeit sinngemäß, warum denn diese jugendliche Bürgerverachtung, jenes bäuerliche Modernisierungsunbehagen jetzt bei den Nazis eingemeindet sei – wo es doch bei uns, also den marxistischen Organisationen, quasi angestammt sei? Kracauer zielt weniger aufs Streitig-Machen von Sinnbeständen und Glutfeuern (die ein rationalistisch verkürzter Marxismus an den Nazi-Populismus verloren habe) als aufs Detektieren von politisch nicht ausformulierten, noch nicht artikulierten, eben unbehausten Kollektiv-Empfindungen; etwa anhand des „Aufruhrs der Mittelschichten“ als Bündel von „Energien, die sich produktiver anlegen ließen“ als in einer Drift nach rechts (Kracauer 1963b, S. 103). Und: „Wer weiß, welche Sprengkräfte noch in kleinbürgerlichen Phantasien beschlossen liegen! Lebendig wirkende Begriffsprägungen, Impulse, Arten menschlichen Seins […].“ (Kracauer 2013, S. 13) Einmal mehr zeigen sich Mittelschichten und ihr kleinbürgerlicher Habitus als Brennpunkte eines Wer weiß? bzw. oder auch gar nichts, das die Irreduzibilität der Politik gegenüber dem Bereich des Sozialen festhält – anders gesagt: Kracauer betont die Eigenlogik der politischen Artiku-

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Unbehaust und exhausted in Zeiten des Faschismus lation, die nicht einfach der adäquate Ausdruck eines gegebenen Kollektivs ist. Zusätzlich zu diesem politiktheoretischen Punkt,9 den ich hier vorschlage, mit einer bestimmten Aufladung von Unbehaustheit (eben „transzendentaler Obdachlosigkeit“) ein Stück weit engzuführen, seien noch konkrete Alltagseinrichtungen (bzw. eben Nicht-Einrichtungen) der Unbehaustheit der nach rechts tendierenden deutschen Mittelschichten um 1930 genannt. Da sind zum einen Berliner Themen-Großgastronomien (etwa im Haus Vaterland), die, so hebt Kracauer hervor, das Jazz‑, Girl‑ und Maschinen-Styling des Amerikanismus durch ein freizeitliches Zuhause in nachgebauten Alpen- oder Heurigen-Environments ersetzen, als Sinn-Angebot an angestellte Massen: „Hinter der Pseudostrenge der Hallenarchitektur nämlich grinst Grinzing hervor.“ (Kracauer 1971, S. 96) In diesem Kontext prägt er auch das Wort „Pläsierkasernen“, die in rational abgewickelter Freizeit als „Asyle für Obdachlose“ dienen. Mit Blick auf die Herrschaft der Nazis klingt dann Kracauers Unbehaustheits-Diagnostik dergestalt nach, dass er an ihr nicht nur die Zerstörung sozialer und politischer Öffentlichkeit feststellt, sondern auch die Aufhebung bürgerlicher Privatsphären (durch Eingriff ins Familiäre und Häusliche): „[W]er in seinen vier Wänden sitzt, sitzt auf der Straße.“ (Kracauer 2013, S. 146) Und in Kracauers Studien zu Nazi-Propaganda, insbesondere deutschen „Feldzugsfilmen“ von 1940, tritt an der generellen Nihilisierung von Wirklichkeit durch den verabsolutierten Mobilismus der Nazis ein Moment von zur Schau gestellter shelterlessness zutage: „[N]o room is more than an improvised shelter – if there exist shelters at all. Railway cars serve as Hitler’s headquarters […]; fields and highways are the very home of generals and troops alike. The soldiers eat on the march and sleep in airplanes […].“ (Kracauer 2004b, S. 287) Die Sinn-Obdachlosigkeit der Mittelschichten hat bei den Nazis ein Gegenstück in einer Politik – und Kriegsführung – von „eternal restlessness“ um ihrer selbst willen. Haken wir hier ein: An diesem Punkt zeigt sich die Relevanz von Kracauers politischer Soziologie für die heutige Situation am deutlichsten. Denn schon für Kracauer ist der Nationalsozialismus nicht reaktionär und repressiv, sondern in seiner Gewalttätigkeit gekennzeichnet durch ein Mobilisierungsmoment, das sich ablöst von konkreten Ideen und Zielsetzungen (zumal öffentlich konflikthaft zu

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Vgl. die Überlegungen zur Konstruktion eines Volkes in Laclau 2005.

Drehli Robnik vertretenden) – außer totaler Macht als Selbstzweck. Nationalsozialismus ist ungebunden, beweglich: Den „Bedürfnissen“ der Mittelschichten „paßt sich der aus ihnen hervorgegangene Nationalsozialismus mit vollendeter Schmiegsamkeit an […] und verspricht im übrigen jedem das Seine“ (Kracauer 2011c, S. 437). Mit Jedem das Seine, was heute an die zynische Aufschrift auf dem Lagertor des KZ Buchenwald erinnert, meint Kracauer im Frühjahr 1933 Hitlers Bewegungspolitik, die (so seine Beispiele) Handwerkern, Angestellten, Einzelhandelskaufleuten und Beamten das jeweils Ihre verspricht. Faschismus, besonders jener der Nazis, ist flexibel – um eine zentrale Chiffre neoliberalen Regierens aufzugreifen; letztere Machtformation ist bis vor kurzem – in ihrer genuin postdemokratischen Phase – quasi ohne Volk ausgekommen, während sie sich im heutigen Europa immer mehr arrangiert mit Mobilisierungen und institutionellen Machtausübungen populistischer Art. Es geht vorwiegend um Rechtspopulismen. Lässt sich bezüglich dieser – knapp 100 Jahre nach ersten Großereignissen der historischen Faschismen – von Faschismus sprechen, und wenn ja: wie? Vielleicht mit Kracauers Wording aus dem Lindenpassage-Essay: vielleicht Faschismus – so alarmistisch im Gebrauch des F-Worts, wie es der Krise bürgerlich-demokratischer Institutionen und Öffentlichkeiten entspricht, so lapidar gesagt, wie es der abzuwägenden Einschätzung antidemokratischer Politiken, die heute im Raum stehen, entspricht. Unterschiede zeigen sich rasch: Heutiger Faschismus mobilisiert nicht im Sinn einer Militarisierung der Massen, geschweige denn ihrer Einhausung in uniformierten Verbänden;10 aber er geriert sich anti-institutionell im Pathos freigesetzter Bewegung. Er hat keine proletarischen Massenorganisationen mehr zu bekämpfen, aber Sozialstaaten und Arbeiter*innenrechte (die auf jene zurückgehen) zu zerstören, im Brachialvollzug neoliberaler Agenden. Und er betreibt die Auflösung und Diskreditierung von Räumen des solidarischen oder auch nur erfahrenen Mit-Seins von und mit Anderen, Deklassierten, Nicht-Besitzenden, Geflüchteten. Vor diesem Hintergrund lässt sich heutigen Mittelschichten (inkl. besserverdienenden Arbeiter*innen, denen vor migrantischer Billigkonkurrenz Angst gemacht wird) nicht das Maß an Unbehaustheit attestieren, als dass da Formen emphatischer Behaustheit im Vordergrund stünden. In Form 10 Wiewohl privater Waffenbesitz und polizeiliche Militarisierung der Städte zunehmen.

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Unbehaust und exhausted in Zeiten des Faschismus etwa von neo-biedermeierlicher Optimierungen privater Rückzugszonen oder von finanziarisierten Immobilien, die die Kapitalisierung urbaner Räume vorantreiben; oder in einem (wie es kurz nach dem Kalten Krieg hieß) „Haus Europa“, heute als „ein Europa, das schützt“ (das Motto der rechtsnational-neoliberalen Regierung im EU-Ratsvorsitz Österreichs im Herbst 2018) – was als polizeilicher Schutz vor Armen und Geflüchteten gemeint ist. Liegt da der Eindruck nahe, es sei den neuen Mächten der geschützten Reichtümer, Heimaten und Vollwert-Identitäten (für die das F-Wort vielleicht steht) zwar nicht das Feld, aber doch das Haus zu überlassen – als Konzept-Raum, Raum-Bild gesellschaftlichen Lebens? Ich lasse das offen – wie ein Haus, das nicht Festung ist – und spreche zuletzt, in Anschluss an Kracauer und Heide Schlüpmann (2002, 2019), vom Kino als einem Haus, das Leute in öffentlicher Intimität behaust. Damit möchte ich den Behaustheits-Gedanken etwas drehen – und natürlich nicht sagen, Kino sei das einzige Haus mit öffentlichem Versammlungscharakter oder es sei ein genuin demokratischer Raum. Kino ist zunächst ein Haus, das im Verlassen des Hauses erfahren wird. Es gibt kein „Heimkino“: Kino ist ein gesellschaftliches Außen zum einsamen oder freundeskreisigen Film- oder Serienschauen, auch zu all dem Tastatur- und Monitorgebrauch, der die Bürotätigkeit in beliebige Alltage hinaus erweitert hat. Kino lässt allerdings Momente des Hauses, das Heim ist, wiederkehren: nicht die Anmutung von Nest oder Festung,11 sondern die Absetzung von Öffentlichkeiten geschäftiger bürgerlich-maskulinistischer Selbstbehauptung. Auch wenn die Fan und Cultural Studies (sofern sie sich mit Kino befassten) anderes insinuiert haben: Kino ist ein Raum von Untätigkeit.12 Es ist (außer fürs Personal) kein Arbeitsort, steht dem Einsatz mobilisierter Bürotechnik eher im Weg, ist auch kaum geeignet als freizeitkultureller Ort bürgerlicher Repräsentation oder als Ort körperlicher Aktivierung (diese Funktionen erfüllen Theater bzw. Rockkonzerthalle, Diskothek, Club und Sportstätte weit besser). Weder Arbeitshaus mit Rechner-Desk noch Festspielhaus mit Werk-Tempel, ist Kino wohl auch eher im Bild des Multiplex zu 11 Oder worin beide in kuschliger Abschottung übereinkommen: Nestung Europa mit dem Kinder-Antlitz des österreichischen Kanzlers. 12 Es ist dies transzendental, auch wenn die Empirie Abweichungen davon verzeichnet; wobei die Frage ist, wie sehr wir Nachos-Verzehr, Wortwechsel, Schmusen, reduzierten Handygebrauch o.Ä. als Tätigkeiten im emphatischen Sinn sehen.

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Drehli Robnik verstehen, in dem – in anonymer Intimität – verschiedene soziale Milieus in den Nicht-Kontakt geteilter Zeiten und Räume treten, als im Bild vom Arthaus mit homogenisiertem Bildungs- und Gourmetpublikum.13 Im Kino machen wir keine Filme, sondern nehmen wahr. Wahrnehmung im Kino hat phänomenologische, psychophysiologische, alltagspraktische Aspekte; mich interessiert zuletzt ein Aspekt, der nah ans Haus führt: So wie das Haus zuhause dem maintenance work, der Wartung und Bewahrung, am erschöpften Leben und seiner Infrastruktur dient, so ist auch an der Wahrnehmung im Kino-Haus etwas Wahrendes; nicht im musealen Sinn (auch wenn die Unzeitgemäßheit in Streaming- und Bingewatching-Zeiten dies nahelegen mag), eher als Festhalten, „Nehmen“, nämlich Wahr-Nehmen, von Wahrheiten, insofern als Aufrechterhaltung eines Anspruchs, also eine maintenance. Diese kehrt wiederum gerade heute ein genuines Moment des Wartens hervor. Warthaus, nicht Arthaus. Ich meine die noch keine zehn Jahre alte Routinepraxis im postnormalen Kinokonsum, dass viele Leute (meist jüngere, aber auch ich) im Kino sitzen bleiben und warten, wenn der Film vorbei ist, wenn der Sinn (der Story und der Action) abgezogen ist und die Credits auf der Leinwand vorbeiziehen, während im Saal das Licht schon an ist und das Personal seine Aufräumarbeit zwischen den Sitzreihen beginnt. Während die einen den Raum warten, warten die anderen auf jene Post-Credit-Szenen oder stingers, die Superheld*innenfilme (v. a. die aus dem Haus Marvel), Horrorfilme und Komödien heute oft bis obligatorisch bieten. Schon klar: Daraus entsteht jetzt nicht so etwas wie eine Solidarisierung von jenen, die sitzend ihrem Freizeitkonsum nachgehen, mit jenen, die möglichst schnell deren Essensreste und sonstigen Unrat wegmachen (und die als Arbeitskräfte oft prekär, migrantisch, schlecht entlohnt und wenig anerkannt sind, so wie die Frauen, die vorwiegend das Putzen und die maintenance der Wohnhäuser und -räume besorgen). Aber zumindest ist eine ansonsten bestehende räumlich-zeitliche Trennung einen Moment lang porös („aufgehoben“ wäre ein zu starkes Wort), in diesen normalisierten atypischen Kino-Situationen, deren Normalität ihrerseits nicht

13 Es mag sozialkitschig anmuten, scheint mir aber vom Grundverständnis wie auch von der Praxis eines Hauses her wichtig, dass das Österreichische Filmmuseum (an sich ein zum Tempel mutiertes Kino) Obdachlosen, sowohl als Publikum im Vorführsaal als auch für den Aufenthalt in einer Sitznische des Foyers, informell, traditionell offensteht.

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Unbehaust und exhausted in Zeiten des Faschismus mehr als ein Moment der Film- und Kinogeschichte ist. Als Denk-RaumBild gelesen, ist dieses anonyme wie ostentative Gemein-Sein in einem geteilten Raum, in geteilter Zeit, dieses Verharren im Kino als beliebigem gesellschaftlichem Raum in Hausform, ausgerichtet in Erwartung – das ist die anhaltende Wahrnehmung eines nicht gänzlich aufgekündigten Bezugs zu einer Selbsterfahrung als Masse der „Wartenden“ in Intimität mit kontingenten Wirklichkeiten (vgl. Kracauer 1963c). Es ist das Szenario einer maintenance von Ahnungen demokratischer Behaustheit.14

14 Und insofern Behaust-Sein im Kino einhergeht mit nahegelegter Selbstwahrnehmung in Untätigkeit und relativer Umständlichkeit, exponiert in Dinglichkeit, als „object among objects“ (Kracauer 1997, S. 97), kommt dieses Behaust-Sein ein Stück weit einer Erfahrung von Bedingt-Sein nahe.

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Drehli Robnik Literatur Adorno/Kracauer 2008 Adorno, Theodor W.; Siegfried Kracauer: „Der Riß der Welt geht auch durch mich“. Briefwechsel 1923–1966, hg. v. Wolfgang Schopf, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Bloch 1985 Bloch, Ernst: Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik, in: ders.: Erbschaft dieser Zeit (Werkausgabe, Bd. 4), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 104–165. Deleuze 1991 Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2 (1985), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Deleuze 1989 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1 (1983), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Lukács 1920 Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin: Cassirer 1920, https://archive.org/stream/ dietheoriedesrom26972gut/26972-0.txt (2.1.2019). Kracauer 2013 Kracauer, Siegfried: Totalitäre Propaganda (Typoskr. fertiggest. 1938), Berlin: Suhrkamp 2013. Kracauer 2011a Kracauer, Siegfried: Georg von Lukács’ Romantheorie (1921), in: ders.: Werke Bd. 5.1: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1906– 1923, hg. v. Inka Mülder-Bach, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 282–288. Kracauer 2011b Kracauer, Siegfried: Europäische Jugend (1934), in: Werke Bd. 5.4: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1932–1965, hg. v. Inka Mülder-Bach, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 518–526. Kracauer 2011c Kracauer, Siegfried: Die deutschen Bevölkerungsschichten und der Nationalsozialismus (1933), in: Werke Bd. 5.4: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1932–1965, hg. v. Inka Mülder-Bach, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 433–445.

Kracauer 2004a Kracauer, Siegfried: From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film (1947), Princeton: Princeton University Press 2004. Kracauer 2004b Kracauer, Siegfried: Propaganda and the Nazi War Film (1942), in: ders.: From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film, Princeton: Princeton University Press 2004b, S. 275–307. Kracauer 1997 Kracauer, Siegfried: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality (1960), Princeton: Princeton University Press 1997. Kracauer 1987a Kracauer, Siegfried: Schreie auf der Straße (1930), in: ders.: Straßen in Berlin und anderswo, Berlin: Das Arsenal 1987, S. 21–23. Kracauer 1987b Kracauer, Siegfried: Über Arbeitsnachweise. Konstruktion eines Raumes (1930), in: ders.: Straßen in Berlin und anderswo, Berlin: Das Arsenal 1987, S. 52–59. Kracauer 1971 Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland (1929), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971. Kracauer 1963a Kracauer, Siegfried: Abschied von der Lindenpassage (1930), in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963, S. 326–332. Kracauer 1963b Kracauer, Siegfried: Aufruhr der Mittelschichten. Eine Auseinandersetzung mit dem ‚Tat‘-Kreis (1931), in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963, S. 81–105. Kracauer 1963c Kracauer, Siegfried: Die Wartenden (1922), in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963, S. 106–119. Laclau 2005 Laclau, Ernesto: On Populist Reason. London/New York: Verso 2005.

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Unbehaust und exhausted in Zeiten des Faschismus Marchart 2010 Marchart, Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin: Suhrkamp 2010. Robnik 2019 Robnik, Drehli: DemoKRACy: Siegfried Kracauers Film-Theorie als Politik der nonsolution, in: Sabine Biebl; Helmut Lethen; Johannes von Moltke (Hg.): Siegfried Kracauers Grenzgänge. Zur Rettung des Realen, Frankfurt a. M./New York: Campus 2019, S. 203–216. Schlüpmann 2019 Schlüpmann, Heide: Raum geben. Der Film dem Kino (im Erscheinen). Schlüpmann 2002 Schlüpmann, Heide: Öffentliche Intimität. Die Theorie im Kino, Frankfurt a. M./Basel: Stroemfeld 2002.

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Bio gra fien

M o n i k a A n ke l e ( Dr. phil.) ist Historikerin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und Kuratorin am Medizinhistorischen Museum Hamburg. Sie forscht zur Geschichte der Psychiatrie und arbeitet aktuell, am Beispiel des Krankenbettes und des Dauerbades, zu ihren Räumen und Objekten. Publikationen (Auswahl): Horizontale Szenographien. Das Krankenbett als Schauplatz psychiatrischer Subjektivation, in: Lars Friedrich et al. (Hg.): Szenographien des Subjekts, Wiesbaden 2018, S. 49–64; Aufführen – Aufzeichnen – Anordnen. Wissenspraktiken in Psychiatrie und Psychotherapie, hg. mit Céline Kaiser und Sophie Ledebur, Wiesbaden 2018; Material Cultures of Psychiatry, hg. mit Benoît Majerus, Bielefeld 2020 (im Erscheinen). C h ri s t i a n B e r ke s arbeitet an den Schnittstellen zwischen Urbanismus, Kunst und Publizistik. Er lebt in Berlin und ist Gründer des Verlags botopress, in dem er seit 2017 auch die Buchreihe Everyday Urban Design herausgibt. Er hat für die Architekturzeitschrift ARCH+ sowie für die Buchhandlung Pro qm gearbeitet und ist momentan wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für angewandte Forschung Urbane Zukunft der Fachhochschule Potsdam. Zu seinen wiederkehrenden Arbeitsschwerpunkten zählen die Möglichkeiten des kooperativen Gestaltens, die Geschichte und Theorie fachlich vermittelnder Ausstellungen sowie Fragen der Repräsentation in urbanen, häuslichen und politischen Kontexten. Publikationen (Auswahl): Airbnb, Wohntourismus. 20 Thesen zum Plattformkapitalismus am konkreten Fall, in: polar. Zeitschrift für politische Philosophie und Kultur, Nr. 18, 2015; (mit Kenton Card und William Davis) City Political Workshop: Discussing the Political in Space (2012), in: Jamal Aridi; Jessica Glendennan (Hg.): Taking Up Space, London 2015, S. 29–35. H e n n i n g B l e y l ist in Hildesheim ausgebildeter Kulturwissenschaftler und Kulturredakteur. Nach 15 Jahren bei der tageszeitung (taz) leitet er seit 2016 die Heinrich-Böll-Stiftung Bremen. Für seine publizistische Auseinandersetzung mit Kühne + Nagel wurde er mit dem Alternativen Medienpreis sowie dem Udo-Lindenberg-Preis für zivilgesellschaftliches Engagement ausgezeichnet; seine Recherchen wurden auch mit der Aufnahme auf die Shortlist in der Kategorie Investigation des Nannen-Preises gewürdigt. Weitere Arbeiten verfasste er über die politische Funktion der

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Unbehaust Wohnen Auslandsreisen der Berliner Philharmoniker für den NS-Staat und über die Kontinuität nationalsozialistischer Gesetzgebung und ihr Fortwirken. A m e r D a r we e s h ist Architekt und Stadtplaner (BA Architektur, Universität Damaskus 2013, MA Urban Management, TU Berlin 2019). Er arbeitete bisher vor allem in Stadtentwicklungsprojekten in Damaskus in Syrien sowie in Erbil und Sulaimaniyya im Irak. Nach seinem Abschluss war er zudem studentischer Mitarbeiter an der Habitat Unit am Institut für Architektur der TU Berlin und arbeitete mit am Teilprojekt „Architekturen des Asyls“ (SFB 1265) und einem damit verbundenen Lehrprojekt. Derzeit ist er als Junior Baumanager bei der Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM) im Team Flüchtlingsunterbringung tätig, die für die Planung und Gestaltung von Flüchtlingsunterkünften in Berlin zuständig ist. K l a a s D i e r k s ist an den Stränden der Nordsee in Deutschland und England sowie in Kanada aufgewachsen. Studium der Behindertenpädagogik und Anglistik an den Universitäten Hamburg und Durham (GB). Zweites Studium an der Hochschule für bildende Künste, Hamburg, Studiengang Visuelle Kommunikation (Fotografie und Film). Wissenschaftliche Publikationen u. a. zur Blindenpädagogik und zur Foto- und Filmgeschichte. Kurator und Organisator von Filmveranstaltungen und Festivals. DAADund andere Stipendien in den Bereichen Wissenschaft und Kunst. Teilnahme an zahlreichen Ausstellungen und Filmfestivals im In- und Ausland. Neben der eigenen Arbeit als Wissenschaftler und Künstler Auftragsarbeiten für Print- und Internetmedien sowie NGOs, u.a. Vogue, Stern, Eichborn- und Aufbau-Verlag, fussifreunde, Deutsche Muskelschwundhilfe im Bereich Foto, Film und Text. Lehrtätigkeiten an verschiedenen Hochschulen, u.a. HfK Bremen, University of Newcastle und seit 2011 an der Universität Bremen, zurzeit als Akademischer Rat im Bereich Filmwissenschaft und Ästhetische Praxis. Publikationen (Auswahl): Wahrheit und Leben! Hamburgische Männer und Frauen am Anfang des XX. Jahrhundert von Rudolph Dührkoop, in: Portraits in Serie. Fotografien eines Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Gewerbe, Bielefeld 2011; Der Kampf um die Bilder. Einige Anmerkungen zu frühen Formen kommunaler Filmarbeit, in: Winfried Pauleit et al. (Hg.): Filmerfahrung und Zuschauer. Zwischen Kino, Museum und sozialen Netzwerken, Berlin 2014.

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Biografien B u rc u D o g r a m a c i ist Professorin für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie forscht und publiziert zur Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart mit einem Schwerpunkt auf Exil, Migration und Flucht, Fotografie, Mode, Architektur, Stadt, Skulptur der Weimarer Republik und Nachkriegszeit sowie Live Art. Im Jahr 2016 zeichnete der Europäische Forschungsrat sie mit dem ERC Consolidator Grant aus. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt befasst sie sich mit sechs globalen Metropolen als Ankunftsstädten für geflüchtete Künstler_innen der Moderne. Publikationen (Auswahl): Handbook of Art and Global Migration. Theories, Practices, and Challenges, hg. mit Birgit Mersmann, München 2019; Passagen des Exils/Passages of Exile, hg. mit Elizabeth Otto, München 2017; Heimat. Eine künstlerische Spurensuche, Köln 2016. M e h m e t E m i r, geb. 1964, ist Künstler mit Schwerpunkt Fotografie, arbeitet außerdem als Kolumnist, Musiker und Sozialarbeiter. Er studierte kontextuelle Malerei bei Prof. Hans Scheirl an der Akademie der bildenden Künste Wien. Seine Arbeiten waren Teil diverser Ausstellungen, u. a. in London, New York und Istanbul. Er veröffentlichte Tonträger in Zusammenarbeit mit verschiedenen MusikerInnen und Bands, 2012 erschien das Buch Ich bin immer noch in Wien, in dem er seine Briefe an seine in der Türkei lebenden Eltern veröffentlichte. Im selben Jahr nahm er am Ausstellungsprojekt „Beauty Contest“ im Wiener MUSA (Museum Startgalerie Artothek) teil. Dort wurde 2016 auch seine erste Einzelausstellung realisiert. Ebenfalls 2016 erhielt er das silberne Verdienstzeichen der Stadt Wien. Aktuell arbeitet er an der Akademie der Wissenschaften am Institut für Sozialanthropologie und am ACDH – Austrian Center for Digital Humanities in Wien. Jo h a n n a H a r t m a n n war bis Juli 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen in Kooperation mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender und Mitglied des dort angesiedelten Forschungsfelds wohnen +/− ausstellen. Sie hat Gender Studies und Lateinamerikanistik in Berlin und Sussex studiert und promoviert derzeit mit einer Arbeit über Lehrstücke des Wohnens in den 1950er Jahren in der BRD. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Raum-, Subjekt-, Geschlechtund Körperkonzepte, Diskurse des Wohnens und der Stadt, Diskurse des Zeigens und Ausstellens, Verknüpfungen von Design und Politik,

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Unbehaust Wohnen Architektur der Nachkriegsmoderne. Publikationen (Auswahl): „‚Heile Welten‘ nach 1945: Heimat, Wohnkultur, Tourismus“ (zusammen mit Nils Jablonski, Christian Schmitt), in: Jan Gerstner, Jakob C. Heller, Christian Schmitt (Hg.): Handbuch Idylle. Traditionen – Verfahren – Theorien, Stuttgart, erscheint 2020; Modern traditions. The detached single-family home in spatial conceptions of post-war modern living, in: Christiane Cantauw, Anne Caplan, Elisabeth Timm (Hg.): Housing the family. People, things and resources in changing welfare regimes and in new planning structures: locating the single-family home in Germany, Berlin (im Erscheinen); How to Set a Table (and Other Things): On the Aesthetics and Politics of a Postwar West German Film about Domestic Work, in: Interiors. Design, Architecture, Culture, H. 2, Jg. 5, 2014. G a b u H e i n d l arbeitet als Architektin und Stadtplanerin an Praxis-basierter Theorie und Theorie-basierter Praxis. Seit 2018 ist sie Visiting Professor an der Sheffield University, zudem lehrt sie an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Studium der Architektur in Wien, Tokio und Princeton. Seit 2007 Architekturbüro GABU Heindl Architektur mit Schwerpunkt auf öffentlichem Bauen, öffentlichem Raum und kollaborativen Bauvorhaben. Internationale Ausstellungs-, Vortragstätigkeit und Publikationen. Zahlreiche Kuratierungen von interdisziplinären Veranstaltungen und Ausstellungen, u. a. 2013–2017 als Vorsitzende der Österreichischen Gesellschaft für Architektur. Ihr aktueller Forschungsfokus liegt auf radikaldemokratischen Aspekten von Architektur und Stadtplanung. Publikationen (Auswahl): als Hg.: Arbeit Zeit Raum. Bilder und Bauten der Arbeit im Postfordismus, Wien 2008; Building Critique. Architecture and its Discontents, Leipzig 2019. K a t h r i n H e i n z (Dr.) ist Kunstwissenschaftlerin. Sie ist Leiterin und Geschäftsführerin des Mariann Steegmann Instituts. Kunst & Gender und Leiterin des Forschungsfelds wohnen+/– ausstellen und Herausgeberin der gleichnamigen Schriftenreihe (transcript) gemeinsam mit Irene Nierhaus in der Kooperation des Instituts für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik an der Universität Bremen mit dem MSI. Forschungsschwerpunkte: Kunst- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Konzeptionen von Künstler- und Autorschaft in der Moderne, Geschlechterforschung. Seit 2005 ist sie Mitherausgeberin der Fachzeitschrift FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung

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Biografien und visuelle Kultur. Publikationen (Auswahl): Heldische Konstruktionen. Von Wassily Kandinskys Reitern, Rittern und heiligem Georg, Bielefeld 2015; Matratze/Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur, hg. mit Irene Nierhaus, Bielefeld 2016 (wohnen+/– ausstellen, Bd. 3); Seitenweise Wohnen: Mediale Einschreibungen, Themenschwerpunkt in: FKW// Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Nr. 64, 2018, hg. mit Katharina Eck und Irene Nierhaus; Zeichen/Momente. Vergegenwärtigungen in Kunst und Kulturanalyse, hg. mit Sigrid Adorf, Bielefeld 2019. D r.i n B i rg i t Jo h l e r studierte Europäische Ethnologie/Volkskunde und Romanistik in Wien und ist als Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören jüdisch-österreichische Geschichte, Nationalsozialismus, Materielle Kultur, Museumsgeschichte. Sie kuratierte Ausstellungen u.a. im Volkskundemuseum und im Jüdischen Museum in Wien sowie im Auftrag des Nationalfonds der Republik Österreich im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau und war zuletzt Kuratorin im Haus der Geschichte Österreich. Seit 2019 ist sie Kuratorin im Volkskundemuseum Graz und lehrt regelmäßig v. a. an der Universität Wien. 2014 war sie Fellow am Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Universität Münster. Publikationen (Auswahl): 1938. Adresse: Servitengasse. Eine Nachbarschaft auf Spurensuche, hg. mit Maria Fritsche, Wien 2007; Freud’s Dining Room. Möbel bewegen Erinnerung/Furniture moves memory, Wien 2016. E l ke K r a s ny, PhD, ist Professorin an der Akademie der bildenden Künste Wien. Sie forscht und kuratiert zu Fragen von Feminismen, Arbeit, Ökonomie, Ökologie und Erinnerungspolitiken in Architektur, Urbanismus, zeitgenössischer Kunst und Kunstvermittlung. Vorträge und Publikationen (Auswahl): „Gathering Feminist Resisters. Assemblies, Dinners, Salons, and Tribunals“, Vortrag am Museo de Arte de Sao Paulo; „Wandering Wombs and Arching Bodies. The Hysterical Complex in Feminist Political Thought“, Vortrag an der University of California Los Angeles und „Curating for the 99%“, Vortrag an der University of Melbourne; Critical Care. Architecture and Urbanism for a Broken Planet, hg. mit Angelika Fitz, Cambridge 2019.

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Unbehaust Wohnen I re n e N i e r h a u s lebt in Bremen und Wien. Sie ist Professorin für Kunstwissenschaft und Ästhetische Theorie an der Universität Bremen. Sie ist Leiterin des Forschungsfelds wohnen+/– ausstellen und des Mariann Steegmann Instituts. Kunst & Gender in Kooperation mit dem Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik und Mitherausgeberin der Schriftenreihe wohnen+/– ausstellen bei transcript/Bielefeld. Seit 2013 ist sie im Beirat der FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur und seit 2015 Mitglied der Baugruppe Gleis 21 Wien. Forschungsschwerpunkte zur visuellen und räumlichen Kultur, insbesondere zu Beziehungen zwischen Kunst, Architektur und bildnerischen Medien des 19. und 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Publikationen u. a.: GeWANDungen: Mode, Modernisierung und Wohnen, in: Hubertus Busche und Yvonne Förster (Hg.): Moden der Kleidung – Moden des Geistes, Tübingen 2019, S. 57–73; Seitenweise Wohnen: Mediale Einschreibungen, Themenschwerpunkt in: FKW// Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Nr. 64, 2018, hg. mit Katharina Eck und Kathrin Heinz; Matratze/Matrize: Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur, hg. mit Kathrin Heinz, Bielefeld 2016, (wohnen +/– ausstellen, Bd. 3); Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, hg. mit Andreas Nierhaus, Bielefeld 2014 (wohnen +/− ausstellen, Bd. 1); Landschaftlichkeit zwischen Kunst, Architektur und Theorie, hg. mit Josch Hoenes und Annette Urban, Berlin 2010. S a lva t o re P i s a n i , Privatdozent für Kunstgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Architekturund Kunstgeschichte seit der Frühen Neuzeit, Stadt(bau)geschichte von Neapel und Paris, Objekt- und Subjektgeschichte der Moderne. Publikationen (Auswahl): Neapel. Sechs Jahrhunderte Kulturgeschichte, hg. mit Katharina Siebenmorgen, Berlin 2009; Ein Haus wie Ich. Die gebaute Autobiographie in der Moderne, hg. mit Elisabeth Oy-Marra, Bielefeld 2014. Fr a n z i s ka Ra u h , M. A., lebt und arbeitet in Bremen. Sie studierte Kultur-, Kunst- und Musikwissenschaften an der Universität Bremen. Zwischen 2010 und 2015 war sie als Projektkoordinatorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschungsprojekten zur Konkreten und Visuellen Poesie sowie zur Radiokunst im Zentrum für Künstlerpublikationen in der Weserburg Museum für Moderne Kunst in Bremen tätig. Seit 2016

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Biografien forscht sie dort als freie Mitarbeiterin insbesondere zu Künstler_innen im Rundfunksystem der USA, der Türkei, Österreichs und Deutschlands. Seit 2018 ist sie als Lektorin am Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen tätig. In ihrer Dissertation Zum politischen Potential von Radiokunst. Künstlerische Strategien zur Produktion medialer (Gegen-)Öffentlichkeiten untersucht sie das Verhältnis von Kunst und Politik am Beispiel einer Radioarbeit der feministischen Künstlerin Suzanne Lacy. D re h l i Ro b n i k ist Theoretiker in Sachen Film und Politik, Gleitzeitphilosoph, Nebenerwerbsessayist, Gelegenheitskritiker, musikbasierter Edutainer. ‚Lebt‘ in Wien-Erdberg. Er ist (Mit-)Herausgeber von Sammelbänden zu Historienkino, David Cronenberg, Siegfried Kracauer und den X-Men-Filmen. Publikationen (Auswahl): Film ohne Grund. Filmtheorie, Postpolitik und Dissens bei Jacques Rancière, Wien/Berlin 2010; Kontrollhorrorkino. Gegenwartsfilme zum prekären Regieren, Wien/Berlin 2015; DemoKRACy. Siegfried Kracauers Politik*Film*Theorie (in Arbeit). Drehli Robnik ist halbwegs lesbar unter: https://independent.academia. edu/DrehliRobnik. M i c h a e l a S c h ä u b l e studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Ethnologie und Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen und an der Yale University. Sie ist ausgebildete Dokumentarfilmerin und kuratiert regelmäßig Filmprogramme für Ausstellungen und Filmfestivals. Seit 2014 ist sie Professorin für Sozialanthropologie mit Schwerpunkt Medienanthropologie an der Universität Bern. Aktuell forscht sie zu ekstatischen religiösen Kulten und Heiligenverehrung im euro-mediterranen Raum sowie zu Trance und Inszenierung im ethnografischen Dokumentarfilm. Publikationen (Auswahl): Narrating Victimhood. Gender, Religion, and the Making of Place in Post-War Croatia, New York 2014; Ecstasy, Choreography and Re-Enactment. Aesthetic and Political Dimensions of Filming States of Trance and Spirit Possession in Postwar Southern Italy, in: Visual Anthropology, Nr. 1, Bd. 32, 2019, S. 33–55. M i c h a e l S c h ö d l b a u e r ( Dr.), geb. 1967 in Nürnberg, Studium der Philosophie und Psychologie an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Hamburg, 1994–1997 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg, Promotion in Psychologie 1998 (Psyche – Logos – Lesezirkel:

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Unbehaust Wohnen ein Gespräch selbdritt mit Martin Heidegger, Würzburg 2000). 1999/2000 Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen; seit 1998 tätig an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf; Psychologischer Psychotherapeut, Leiter des Adolf-Ernst-Meyer-Instituts für Psychotherapie (tiefenpsychologisches Weiterbildungsinstitut) in Hamburg. Letzte Buchveröffentlichung: Wahnbegegnungen: Zugänge zur Paranoia, Köln 2016. A s t r i d S i l v i a S c h ö n h a g e n , M. A., ist freie Kunstwissenschaftlerin und Lektorin. Sie lehrt und forscht zur materiellen Alltagskultur der Moderne sowie zur Verknüpfung von Architektur-, Mode- und (Be-)Kleidungsdiskursen in der Kunst der Gegenwart. Im Rahmen des Bremer Forschungsfeldes wohnen +/− ausstellen promoviert sie zu exotistischen Bildtapeten des frühen 19. Jahrhunderts. Publikationen (Auswahl): Heim/ Tier. Tier-Mensch-Beziehungen im Wohnen, hg. mit Silke Förschler und Christiane Keim, Bielefeld 2019 (wohnen +/− ausstellen, Bd. 6); Das Interieur als Bühne. Dufours tapeziertes Südsee-Arkadien und die Verinnerlichung naturalisierter ,Geschlechtscharaktere‘ im Wohnen, in: Gerald Schröder; Christina Threuter (Hg.): Wilde Dinge in Kunst und Design. Aspekte der Alterität seit 1800, Bielefeld 2017, S. 30–59; Azra Akšamijas Wearable Mosques. Kleidung als transkulturelle Camouflage, in: kunst und kirche, H. 2, 2016, S. 4–11. Dr. phil. A n n a S t e i g e m a n n ist Stadtforscherin und  Sozialwissenschaftlerin. Sie vertritt momentan den Lehrstuhl International Planning Studies an der Fakultät für Raumplanung der TU Dortmund und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet für Internationale Urbanistik und Design (Habitat Unit) am Institut für Architektur der TU Berlin. Zuvor arbeitete sie als Gastprofessorin für Urban and Migration Studies am CUNY Graduate Center New York und u.a. als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Stadtplanung und Stadtsoziologie an der Bauhaus-Universität Weimar und am Center for Metropolitan Studies der TU Berlin. Während ihre (mehrfach ausgezeichnete) Doktorarbeit die sozialen Interaktionen in Geschäften und gastronomischen Einrichtungen und deren Beitrag zum nachbarschaftlich-sozialen Leben und zur Community-Bildung ethnografisch untersuchte, beschäftigen sich ihre Postdoc-Projekte hauptsächlich mit sozialräumlichen Praktiken von Geflüchteten auf der Nachbarschaftsebene. Ihre Forschungsinteressen gelten insbesondere

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Biografien der Schnittstelle von Migrations- und Stadtforschung, aber auch Governance- und Nachhaltigkeitsthemen sowie Nachbarschafts-, Segregationsund Partizipationsstudien und der urban theory. A n n e t t e T i e t e n b e rg ist Professorin für Kunstwissenschaft mit dem Schwerpunkt 19./20. Jahrhundert an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. 2014 Senior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. 2017 Curator in Residence am Belvedere Museum Wien. 1992 schloss sie das Studium der Kunstwissenschaft und Neueren deutschen Philologie mit einer Magisterarbeit zur Wohnsiedlung Grazer Damm in Berlin (1938–40) an der TU Berlin ab. 2003 wurde sie mit der diskursanalytischen Untersuchung Konstruktionen des Weiblichen. Eva Hesse: ein Künstlerinnenmythos des 20. Jahrhunderts (Berlin 2005) an der TU Berlin promoviert. Forschungsschwerpunkte: Rezeptionsgeschichte und -ästhetik, Geschichte(n) der Kunstausstellung, interkulturelle Transfers von Muster und Ornament, Interieurfotografie. Publikationen (Auswahl): als Hg.: Die Ausstellungskopie. Mediales Konstrukt, materielle Rekonstruktion, historische Dekonstruktion, Köln u. a. 2015; als Hg.: Muster im Transfer. Ein Modell transkultureller Verflechtung?, Köln u.a. 2015. Näheres unter: https://annettetietenberg.weebly.com/. Dr. M i c h a l i s Va l a o u r i s , geb. 1982, ist derzeit Lehrbeauftragter an der Kunstakademie Düsseldorf. Er studierte bildende Künste an der Aristoteles-Universität Thessaloniki, Fotografie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg und promovierte 2015 am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin. Er war wissenschaftlicher Assistent in der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin, im Museum für Fotografie sowie am Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin. 2017 kuratierte er für die Kunstbibliothek die Ausstellung „Das Feld hat Augen. Bilder des überwachenden Blicks“. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Fotografie, Kulturgeschichte der Perspektive, Surveillance Studies. Publikationen (Auswahl): Das Feld hat Augen. Bilder des überwachenden Blicks, Berlin 2017; Perspektive in der Fotografie. Studien zur Naturalisierung des Kamerabildes, Berlin 2018. A n n Va r l e y ist Professorin für Humangeografie am University College London und leitet dort den Bereich Gender & Sexuality Studies. Forschungsinteressen: urbanes Land und Wohnen in Lateinamerika; Gen-

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Unbehaust Wohnen der, Familie und Haushalt, Familienrecht und das Zuhause. Spezifische Forschungsthemen waren u. a. die Lebensorganisation von älteren Menschen und die Zuschreibung von Besitz in ungeregelten und informellen Siedlungen. Ihr jüngstes Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Ehe für Alle und den zivilen Partnerschaften in Lateinamerika, zunächst in Argentinien, Uruguay und Chile. Von der Royal Geographical Society wurde ihr 2010 für ihre Arbeit in Mexiko die Busk Medal verliehen. Publikationen (Auswahl): Landlord and Tenant. Housing the Poor in Urban Mexico (1991); Illegal Cities. Law and Urban Change in Developing Countries, hg. mit Edésio Fernandes, London/New York 1998; Decoding Gender. Law and Practice in Urban Mexico, hg. mit Helga Baitenmann und Victoria Chenaut, New Brunswick (NJ)/London 2007.

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Architektur und Design Daniel Hornuff

Die Neue Rechte und ihr Design Vom ästhetischen Angriff auf die offene Gesellschaft 2019, 142 S., kart., 17 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4978-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4978-3

Katharina Brichetti, Franz Mechsner

Heilsame Architektur Raumqualitäten erleben, verstehen und entwerfen 2019, 288 S., kart., 22 SW-Abbildungen, 57 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4503-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4503-7

Annette Geiger

Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs 2018, 314 S., kart., 175 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4489-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4489-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Architektur und Design Andrea Rostásy, Tobias Sievers

Handbuch Mediatektur Medien, Raum und Interaktion als Einheit gestalten. Methoden und Instrumente 2018, 456 S., kart., 15 SW-Abbildungen, 211 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-2517-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2517-6

Ulrike Kuch (Hg.)

Das Diaphane Architektur und ihre Bildlichkeit Januar 2020, 228 S., französische Broschur, 43 SW-Abbildungen, 15 Farbabbildungen 24,99 € (DE), 978-3-8376-4282-7 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4282-1

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 9, 1/2020) April 2020, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4936-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4936-3

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