Bündnisse: Politische, soziale und intellektuelle Allianzen im Jahrhundert der Aufklärung [1 ed.] 9783205233039, 9783205202493


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Bündnisse: Politische, soziale und intellektuelle Allianzen im Jahrhundert der Aufklärung [1 ed.]
 9783205233039, 9783205202493

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FRANZ M. EYBL, DANIEL FULDA, JOHANNES SÜSSMANN (HG.)

BÜNDNISSE POLITISCHE, SOZIALE UND INTELLEKTUELLE ALLIANZEN IM JAHRHUNDERT DER AUFKLÄRUNG

Franz M. Eybl, Daniel Fulda, Johannes Süßmann (Hg.)

Bündnisse Politische, soziale und intellektuelle Allianzen im Jahrhundert der Aufklärung

BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN · WEIMAR

Die Herausgeber danken für die Unterstützung bei Entstehung dieses Buchs durch die Österreichische Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhundert Kulturdirektion des Landes Oberösterreich, Linz Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Professur für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Paderborn.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Jacques-Louis David: Der Schwur der Horatier (1784). Paris, Musée du Louvre, INV. 3692 Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-23303-9

Inhalt

Franz M. Eybl, Daniel Fulda, Johannes Süßmann Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I.

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Theorien des Bündnisses

Axel Rüdiger „Mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung“. Union und Konsens als politische und ökonomische Bündnismodelle im Zeitalter der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Daniela Ringkamp Moralische und politische Verbindungen. Kants Theorie des Bündnisses zwischen den Rechtsgrundsätzen der Vernunft und politischer Willkürfreiheit

..

55

..................

69

Andreas Franzmann Fürstenstaat und „Kapitalmächte“. Max Webers Deutung innen- und außenpolitischer Bündnisse in seiner Soziologie des frühneuzeitlichen Staates . . . . . . . . . . . . .

85

Sigrid G. Köhler „Sinn für Bund“. Novalis’ romantische Theorie des Vertrags

II. Politische Bündnisse und ihre künstlerischen Reflexionen Christopher Meid Bündnisse im politischen Roman. Fénelon, Loen, Justi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Martin Eybl Hohe Politik und kommerzieller Nutzen. Musikalischer Transfer zwischen Wien und Paris nach dem „Renversement des alliances“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Wolfram Malte Fues Were They „Anonymous“? Aufklärung und Clandestinität einst und jetzt . . . . . . . . . . . . . . . . 141

6

Inhalt

Christian M. König Patriotismus und Nationalismus als Bündniskonzepte . . . . . . . . . . 151

III. Zwischen Gottesbezug, Sozialität und Individualität Astrid von Schlachta „gib Dich nur ganz und lediglich verloren an seine Gnade über“. Mennonitisch-pietistische Bündnisse zum Heil der Seele . . . . . . . . 167 Claudia Resch Die kaiserlich-königliche Totenbruderschaft in Wien. „Bündnuß und höchst Lob-würdige Alliantz zum Heil der Seelen“ . 183 Fred E. Schrader Aufklärungssoziabilität und Repräsentation der modernen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Robert Vellusig Eine Gemeinschaft „sympathisierender Geister“. Lessing – Mendelssohn – Nicolai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Guglielmo Gabbiadini „Schließe, Lina, schließ den Bund, der an Seele Seele kettet“. Zum poetischen Beginn der Korrespondenz zwischen Karoline von Dacheröden und Wilhelm von Humboldt im Sommer 1788 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

IV. Schriftsteller-Bündnisse und ihre Medien Daniel Ehrmann Bündnisse, die es nie gegeben hat. Lessing, Klotz und die Dynamik latenter Allianzen

. . . . . . . . . . . . 249

Kristin Eichhorn Leise Polemik und funktionalisierte Freundschaft. Zur Bündnispolitik der Bremer Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Sylke Kaufmann Vom Vor- und Nachteil familiärer Allianzen im Literaturbetrieb. Lessing und sein Bruder Karl Gotthelf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Wynfrid Kriegleder Nicht nur literarische Zweckbündnisse. Die Netzwerke der Wiener Aufklärungsliteraten

. . . . . . . . . . . . . . 305

Inhalt

7

Norbert Christian Wolf Eine Verbindung zweier „Geistesantipoden“. Das Goethe-Schiller-Bündnis aus kultursoziologischer und diskurshistorischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Register der Personen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

Franz M. Eybl, Daniel Fulda, Johannes Süßmann

Einführung

Für die Politik waren sie bestimmend, die Gesellschaft sah man auf ihnen beruhen, im Geistesleben spielten sie eine bedeutende Rolle – Bündnisse bilden ein Charakteristikum des 18. Jahrhunderts. Denn Bündnisse beruhen auf einer Wahl: Grundsätzlich sind sie freiwillig eingegangene Beziehungen. Das unterscheidet sie von den Haushalten, Korporationen und Konfessionen als den Sozialformen, in die man sich aufgrund des eigenen Herkommens, Geschlechts, Lebensalters und Bekenntnisses, der Tätigkeit und Bildung ohne eigenes Zutun gestellt sah. So dynamisch viele Lebensläufe im 18. Jahrhundert verliefen, auf jeder Etappe fand man sich in einem Stand wieder, der als gegeben vorgestellt wurde und Eingliederung verlangte. Das standesgemäße Verhalten war eine Pflicht, der man sich nur um einen hohen Preis entzog. Bündnispartner wählen zu können, eröffnete hingegen einen Freiraum. Statt vorfindlicher Gemeinschaften rückte es den einzelnen Akteur ins Zentrum, statt auf Normerfüllung wies es auf die kluge Nutzung eigener Möglichkeiten. Die Logik der Bündniswahl erzwang ein Nachdenken über die eigenen Präferenzen. Im Zusammenhang mit Bündnissen musste und durfte von Partikularinteressen die Rede sein; sie zu verfolgen konnte unversehens als Triebfeder des eigenen wie des allgemeinen Fortkommens erscheinen. Und nicht nur für das Handeln waren Bündnisse relevant, auch in der Reflexion gewannen sie konstitutive Bedeutung. Wie ein roter Faden durchzieht die Figur des Bündnisses, der Allianz, der freiwilligen Assoziation das politische und völkerrechtliche Denken des 18. Jahrhunderts, seine Klugheitslehren, die Reflexionen der Schriftsteller über ihre Position. In den Gesellschaftsvertragstheorien erklärte man Bündnisse sogar zur Grundlage von Sozialität überhaupt. Sämtliche Sozialbeziehungen hat man von Bündnissen abgeleitet oder an ihnen gemessen. Daher lässt sich die Beobachtung formulieren, dass Bündnisse im 18. Jahrhundert eine besondere Konjunktur erlebten. Nie zuvor hat man freiwillig eingegangene Geselligkeit so offensiv praktiziert. Nie zuvor hat man sie auf alle Bereiche menschlichen Zusammenlebens ausgedehnt, nie zuvor so positiv reflektiert. Diese Konjunktur bedarf der Erklärung. Die hier vorgelegten Beiträge setzen sich mit der Annahme auseinander, dass Bündnisse im 18. Jahrhundert eine wichtige Transmissionsfunktion übernahmen. Was bis dahin als unchristlich-amoralische Interessen-‚Politik‘

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gebrandmarkt worden war, als partikulares Vorteilsstreben auf Kosten des Gemeinwohls, scheint nun zum Modell menschlichen Miteinanders überhaupt geworden zu sein, weil es eine unaggressive Emanzipation von familiär-ständisch-konfessioneller Verhaltenssteuerung erlaubte. Das Denken in freiwilligen Assoziationen rechtfertigte das persönliche Streben nach Glück, die Dynamisierung, Veränderung, Verbesserung des eigenen Stands. Dadurch konnten Bündnisse zu Wegbereitern der Bürgerlichen Gesellschaft werden. Entsprechend fehlte es im 18. Jahrhundert nicht an Überhöhungen des Bündnisses. Der Schwur der Horatier, Jacques-Louis Davids großformatiges Historiengemälde von 1784, aus dem ein Ausschnitt für den Umschlag des vorliegenden Bandes benutzt wurde, demonstriert die Selbstermächtigung, die ein Bündnis erlaubte, ebenso wie das Pathos, das dabei im Spiel war. Mitunter wurden dem Bündnis geradezu utopische Qualitäten zugemessen. „Ich sei, gewährt mir die Bitte, / In eurem Bunde der dritte“, so die bekannten letzten Worte in Schillers Ballade Die Bürgschaft (1799). 1 Es spricht der Tyrann Dionys, der getötet werden sollte, zu seinem Attentäter und dessen Freund. Von der Bereitschaft des Freundes, als Bürge für den zum Tode verurteilten Tyrannenmörder zu sterben, ist er so beeindruckt, dass er an beider Verbindung teilhaben möchte. Seine ungerechte Herrschaft scheint damit am Ende doch überwunden. Explizit als Fundament eines neuen Gemeinwesens entwirft Schillers Schauspiel Wilhelm Tell (1804) den Bund von Schweizer Bürgern, Bauern und Adligen, die den „Bürgereid“ zu schwören bereit sind: „Drum haltet fest zusammen – fest und ewig – / Kein Ort der Freiheit sei dem andern fremd – / Hochwachten stellet aus auf euren Bergen, / Daß sich der Bund zum Bunde rasch versammle – / Seid einig – einig – einig – “. 2 Der „neue Bund“ von Schillers Eidgenossen ist weit mehr als ein Machtmittel; in diesem Bund greift der Mensch vielmehr Hinauf getrosten Mutes in den Himmel, Und holt herunter seine ewgen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst – Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht – 3

1 Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 1. Hg. von Georg Kurscheidt, Frankfurt am Main 1992, S. 30 (Vv. 139 f.). 2 Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 5. Hg. von Matthias Luserke-Jaqui, Frankfurt am Main 1996, S. 473 (V. 2431), 474 (IV, 2, Vv. 2447 – 51). 3 Ebd., S. 432 (II,2, Vv. 78 – 83).

Einführung

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So sakralisiert und auf Ewiges bezogen, traten die von Menschen geschlossenen Bündnisse in Parallele oder sogar Konkurrenz zu den Bünden, die Gott zunächst mit dem Volk Israel und dann Christus mit allen Gläubigen geschlossen hat. Die dynamisierende Funktion von Bündnissen im 18. Jahrhundert soll in der folgenden Skizze erläutert werden. Nach einer Vorüberlegung zur Terminologie (in Abschnitt 1) wird die Bedeutung von Bündnissen in der Mächtepolitik (2), in kooperativen bis freundschaftlichen Sozialbeziehungen (3) sowie im gelehrten und literarischen Leben (4) des 18. Jahrhunderts umrissen. Anschließend geht es noch einmal um die Fragen, die sich daraus ergeben (5). Zuletzt wird gezeigt, wie die Beiträge sich dazu verhalten (6).

1 Wandel der Begriffe im 18. Jahrhundert Dass der avisierte Zusammenhang sich überhaupt ansprechen lässt, ist dem heutigen Sprachgebrauch zu verdanken. Erst in jüngerer Zeit veränderte sich die Bedeutung des alten, seit dem 14. Jahrhundert belegten Worts „Bündnis“ so, dass es einen interessegeleiteten und veränderlichen, also zeitlich befristeten Zusammenschluss von „natürlichen, juristischen Personen oder Staaten“ bezeichnet. 4 Im 18. Jahrhundert hingegen wurde „Bündnis“ entweder synonym mit „Bund“ gebraucht, 5 was in Komposita wie „Ehebund“, „Freundschaftsbund“ oder „Lebensbund“ meist eine umfassende und dauerhafte, möglicherweise heilige, jedenfalls aber moralisch verpflichtende Verbindung meinte, beruhte die Idee des Bundes doch auf dem Modell der göttlichen Selbstbindung im Alten und Neuen Bund der Bibel. 6 Oder man unterschied begriff lich zwischen einer „Allianz“ als dem Bündnis, das politische Mächte zur Erreichung eines spezifischen Zwecks

4 [Art.] Bündnis, in: Wikipedia. URL: https://de . wikipedia . org / wiki / B % C3 % BCndnis, letzter Zugriff: 26. 03. 2018. Vgl. [Art.] Bündnis, in: Gerhard Wahrig / Hildegard Krämer / Harald Zimmermann (Hg.): Brockhaus Wahrig. Deutsches Wörterbuch in sechs Bänden, Wiesbaden / Stuttgart 1981, Bd. 2, S. 52: „1) feste Verbindung zw. gleichgesinnten Personen oder Gruppen [. . . ] 2) (meist vertraglich abgesicherte) Verbindung zw. Staaten zur Verfolgung gemeinsamer Interessen, ohne dass gemeinsame Organe mit selbständigen Handlungsvollmachten vorhanden sind“. 5 So noch im [Art.] Bündnis, in: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, Leipzig 1860, Sp. 522. 6 Dazu Reinhart Koselleck: [Art.] Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 582 – 671.

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interessegeleitet auf Zeit miteinander schlossen, 7 und einer „Union“, die ebenfalls politischen Akteuren vorbehalten, aber umfassender angelegt war und daher zeitlich unbefristet sein konnte; als Beispiele nannte man Staaten- und Städtebünde wie die Schweizer Eidgenossenschaft, die Vereinigten niederländischen Provinzen, die Vereinigten Königreiche England und Schottland, die Hanse oder den Oberdeutschen Städtebund, aber auch Konfessionsbündnisse im Reich wie die Union von 1608/09. 8 Um Zusammenschlüsse von natürlichen Personen zur Erreichung gemeinsamer Zwecke zu bezeichnen, benutzte man im 18. Jahrhundert Begriffe wie „Association“, „Societät“ oder „Gesellschaft“. 9 Auch diese Verbindungen stellte man sich meist als auf Dauer angelegt vor und betonte mehr die vertragliche Verpflichtung, die daraus für die Beteiligten erwuchs, als die Freiheit und Beweglichkeit, die sie dem Einzelnen verschafften. Zusammenschlüsse in der Politik und im sozialen Leben als Parallelerscheinungen zu begreifen und sie zu dynamisieren, setzte wahrscheinlich die Bevollmächtigung des Einzelnen durch die Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts voraus. Nach diesem Umbruch jedenfalls bestimmte Adelung das Wort „Bund“ als: „Figürlich, der Vertrag, die Verabredung, wodurch sich mehrere Personen oder freye Staaten zu gewissen gegenseitigen Pflichten verbinden. Einen Bund mit jemanden machen. Den Bund brechen.“ 10 Das eröffnet exakt die Perspektive, von der hier – unter Verwendung des Begriffs ‚Bündnisse‘ – ausgegangen wird. Unser Interesse gilt dem Vorlauf dieser Engführung von politischen und personalen Bündnissen. Bezogen auf die Geschehensebene heißt das, wir fragen danach, in welchen Bereichen es im 18. Jahrhundert strategische und zeitlich befristete Zusammenschlüsse realiter gab, unabhängig davon, ob man sie auch als Bündnisse bezeichnete oder für gerechtfertigt hielt. Lassen sich in Lebensbereichen wie der Politik, dem Alltag und der Gelehrtenrepublik

7 „Alliance, Allianz, oder Bündniß, ist ein gewisser Vergleich, welchen zwey, oder mehr Puissancen unter einander schliessen, daß sie nach dem Inhalt desselben einander etwas auf beyden Seiten leisten wollen“. [Art.] Alliance, Allianz, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 1, Leipzig / Halle 1731, Sp. 1255 – 58, hier: Sp. 1255. 8 [Art.] Union, ebd., Bd. 49, 1746, Sp. 1640 f. 9 Belege bei Manfred Riedel: [Art.] Gesellschaft, bürgerliche, in: Brunner / Conze / Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 6), Bd. 7, 1975, S. 719 – 800. 10 [Art.] Bund, in: Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Mit D.W. Soltau’s Beyträgen revidirt und berichtiget von Franz Xaver Schönberger, Wien 1811, S. 1253 f. Ähnlich [Art.] Bündniß, in: Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 1 – 5, Braunschweig 1807 – 11. ND mit einer Einführung und Bibliographie v. Helmut Henne, Hildesheim / New York 1969, Bd. 1, S. 649: „der Vertrag, durch welchen sich mehrere Personen oder Staaten zu einem gewissen Zweck vereinigen.“

Einführung

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Entwicklungen ausmachen, die solche temporären Zusammenschlüsse begünstigten, gar erforderten, sie in immer größerer Zahl hervorbrachten und ihnen Konjunktur verschafften? Bezogen auf die intellektuelle Reflexion ergibt sich aus dem Ansatz die Frage, mit welchen Begriffen und Denkfiguren man die soziale Figur des Bündnisses im 18. Jahrhundert umschrieb; in welchen Zusammenhängen man sie verhandelte; wie man sie bewertete und was diese Bewertung veränderte. Letztlich geht es um den Diskurswandel, durch den das Vorteilsstreben gerechtfertigt wurde.

2 Bündnisse / Allianzen in der Mächtepolitik Ob als Faszinosum oder Abschreckung, das Modell für befristete Zusammenschlüsse aus strategischen Gründen lieferte im 18. Jahrhundert die europäische Mächtepolitik. Das lag zum einen an der Institutionalisierung der Mächtekonkurrenz im Gefolge des Westfälischen Friedens. Wenn die Mitglieder des europäischen Mächtesystems schon nicht dazu gebracht werden konnten, auf den kriegerischen Austrag ihrer Konflikte zu verzichten, sollten diese Konflikte zumindest dadurch eingehegt werden, dass man sie versachlichte und formalisierte; dies geschah mit Hilfe von Diplomatie und Völkerrecht. 11 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam es zu einer Formalisierung der europäischen Mächtekonkurrenz, durch die strategische Bündnisse auf Zeit grundsätzlich zur Option wurden. 12 Dass Mächte Allianzen schließen mussten, um ihre Interessen zu wahren – die großen, um eine Klientel von abhängigen kleineren um sich zu scharen und das eigene Übergewicht zur Geltung zu bringen; die schwächeren, um sich zu schützen und ein Gleichgewicht gegen drohende Hegemonieansprüche zu suchen –, dies galt spätestens nach den Auseinandersetzungen um die Machtpolitik Ludwigs XIV. als unausweichlich und normal. Dass diese Bündnisse befristet waren und man nach einer Veränderung der politischen Lage die Partner auch wechseln konnte, blieb zwar bis weit ins 18. Jahrhundert hinein ein Skandalon, stand als Erfahrungstatsache aber aller Welt vor Augen. 13 Spätestens durch ihren spektakulären renversement des alliances führten Frankreich und Österreich in der Mitte des 11 Vgl. z. B. Otto Kimminich: Die Entstehung des neuzeitlichen Völkerrechts, in: Iring Fetscher / Herfried Münkler (Hg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3, München 1985, S. 73 – 100. 12 Vgl. Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700 – 1785, Paderborn u. a. 1997; Jean-Pierre Bois: De la Paix des rois à l’ordre des empereurs 1714 – 1815, Paris 2003; Timothy C.W. Blanning: The Pursuit of Glory. Europe 1648 – 1815, London 2007. 13 Systematisch aufgearbeitet hat die Verarbeitung dieser Erfahrung unter den beteiligten Mächten Katja Frehland-Wildeboer: Treue Freunde? Das Bündnis in Euro-

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18. Jahrhunderts vor, wie auch Großmächte vermeintlich unauf lösliche Präferenzen preisgeben und sich mit alten Feinden gegen bisherige Freunde zusammenschließen konnten. Von den Zeitgenossen als „diplomatische Revolution“ gekennzeichnet, legte dies offen, was die Bündnispolitik der europäischen Mächte schon lange bestimmte, nämlich dass sie interessegeleitet-situativ war und keine festen Bindungen akzeptierte. 14 Zum andern rührte der Bedeutungsgewinn von Bündnissen von dem symbolischen Wert her, der ihnen ebenso wie dem Bündniswechsel zuwuchs: Durch sie ließ sich Souveränität demonstrieren. Dieses Recht nun, Bündnisse zu schliessen, fliesset aus der Landesherrlichen Hoheit her und ist mithin nur denjenigen erlaubt, die Krieg zu führen befugt sind, ausser dem ist niemand mit einer andern Puissance ein Bündnis und Alliance zu schliessen fähig; doch dürffen in dem Heil. Römischen Reiche die Stände des Reichs bey erfordernden Nothfall entweder unter sich selbst, oder mit auswärtigen Potentzen Bündnisse schliessen, daferne sie nur denen Reichs=Grund=Gesetzen nicht zuwider sind, noch auf die Stöhrung der allgemeinen Ruhe abzielen. 15

Gerade die Beschränkung des Bündnisrechts machte es zu einem eifersüchtig gehüteten Vorrecht, von dem alle, die es besaßen oder besitzen wollten, nicht oft genug Gebrauch machen konnten. 16 Noch vor den konkreten Bündniszielen bestand ihr Interesse bereits im Bündnisschluss als solchem, weil darüber performativ der eigene Rang ausgedrückt werden konnte. Folglich musste man den Bündnisschluss formalisieren, um ihn als Staatsakt über bloß informelle Absprachen hinauszuheben und öffentlichkeitswirksam zu begehen – die Vertragsformeln, diplomatischen Rituale und Ikonographien in den Bildmedien zeigen die Entwicklung im 18. Jahrhundert an. Komplementär dazu wuchs die Bedeutung von geheimen Bündnisklauseln und überraschenden Bündniswechseln. Insofern stoßen wir hier auf eine jener Entwicklungen, die Bündnissen im 18. Jahrhundert Konjunktur verschafften. Reflektiert wurde dies einerseits in der politischen Tagespublizistik sowie in der zweiten Jahrhunderthälfte in der Debatte der Aufklärer über pa, 1714 – 1914, München 2010. Sehr knapp auch Holger Aff lerbach: Europäische Allianzen und Bündnisse zwischen Vertragstreue und Staatsräson, in: Historicum. Zeitschrift für Geschichte (1996/97), S. 27 – 31. 14 Lothar Schilling: Wie revolutionär war die diplomatische Revolution? Überlegungen zum Zäsurcharakter des Bündniswechsels von 1756, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N.F. 6 (1996), S. 163 – 202; Arno Strohmeyer: Eine ‚Revolution‘ zwischen Bündnislabilität und Systemstabilität. Das Renversement des alliances von 1756, in: Historicum 19, H. 2 (1999/2000), S. 12 – 19. 15 [Art.] Alliance, Allianz, in: Zedler: Universal-Lexicon (wie Anm. 7), hier: Sp. 1255. 16 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der Westfälische Friede und das Bündnisrecht der Reichsstände, in: Der Staat 8 (1969), S. 449 – 478.

Einführung

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die Bedingungen der Möglichkeit eines Ewigen Friedens, andererseits in akademischen Diskursen wie den Völkerrechtslehren und der entstehenden Staatenkunde. 17 Gemeinsam war diesen Diskursen, dass sie die Präsenzmedien der Staatsakte und Rituale ergänzten und Bündnisse zum Gegenstand schriftgestützter Öffentlichkeiten machten. Erstmals rückten damit auch Bündnisverträge – zumindest teilweise – aus dem Arkanum der Kabinette in das Licht breiterer Diskussionen. Es entwickelte sich ein Interesse an ihnen; sie wurden gedruckt, gesammelt, kommentiert, 18 sie erzeugten eine Resonanz, auf die man in den Kabinetten reagieren musste. Gemeinsam war diesen Diskursen auch, dass die Urteile auseinandergingen – nicht nur über einzelne Bündnisse und Bündniswechsel, sondern über deren grundsätzliche Berechtigung. Dass sich unter den bezahlten Publizisten stets scharfe Kritiker ebenso wie findige Verteidiger fanden, kann nicht überraschen. Doch auch die Völkerrechtler teilten sich in verschiedene Schulen. „Idealisten“ wie Emer de Vattel, Christian Wolff und Johann Heinrich Gottlob von Justi beharrten darauf, die wertneutrale Logik einer Bündnispolitik aus Vorteilsstreben und Gleichgewichtsnotwendigkeit mit dem Wertgesichtspunkt der Gerechtigkeit zu verbinden, was auf die Verurteilung „ungerechter“ Bündniswechsel hinauslief, während die „Realisten“ im Anschluss an Thomas Hobbes das Mächteverhältnis als Naturzustand deuteten, als Kampf aller gegen alle, in dem allein das Prinzip der Selbsterhaltung regiere, was interessegeleitete und befristete Bündnisse gerechtfertigt erscheinen ließ. 19 Das realistische Lager war mächtig, weil es die Staatsmänner auf seiner Seite hatte. Offen plädierte beispielsweise Friedrich II. für eine grundsätzliche Unterscheidung von Privatmoral und Staatsmoral: Was dem einzelnen Menschen, beschützt durch den Staat inmitten der bürgerlichen Gesellschaft, keinesfalls erlaubt sei, müsse den Staaten (und Königen!) in ihrem 17 Die Literatur dazu ist uferlos. Zum Einstieg jeweils mit weiterführenden Bibliographien Bruno Arcidiacono: Cinq Types de paix. Une histoire des plans de pacification perpétuelle, XVIIe – XXe siècles, Paris 2011; Anita und Walter Dietze (Bearb.): Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800, München 1989; Johan van der Zande: Statistics and History in the German Enlightenment, in: Journal of the History of Ideas 71 (2010), S. 411 – 432. 18 Dank dieser Vorläufer konnten am Ende des Jahrhunderts umfangreiche Quellensammlungen erscheinen wie die von Christian Daniel Voß: Geist der merkwürdigsten Bündnisse und Friedenschlüsse des achtzehnten Jahrhunderts. Mit besonderer Rücksicht auf die Theilnahme des Deutschen Reichs und der Preußischen Monarchie an denselben, 5 Theile, Gera 1802. In einer groß angelegten historischen Rückschau weist Voß nach, dass der Bündniswechsel im 18. Jahrhundert von allen europäischen Mächten praktiziert worden war, auch von Österreich, um so den preußischen Austritt aus der antifranzösischen Koalition im Baseler Frieden von 1795 zu rechtfertigen. 19 Zu dieser Debatte Christoph Good: Emer de Vattel (1714 – 1767). Naturrechtliche Ansätze einer Menschheitsidee und des humanitären Völkerrechts im Zeitalter der Aufklärung, Baden-Baden 2011.

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Überlebenskampf zugestanden werden. 20 Das war die Position, mit der die Aufklärer sich in der Debatte um die Möglichkeit eines ewigen Friedens auseinanderzusetzen hatten.

3 Bündnisse im Alltag: Patenschaft, Patronage, Sozietäten, Gebetsbruderschaften, Geheimgesellschaften, Freundschaft Wenn interessegeleitete befristete Bündnisse schon dem Jupiter nur ungern zugestanden wurden, wieviel schwerer fiel ihre Rechtfertigung dann für die Vielen! Gleichwohl gab es auch im Alltagsleben des 18. Jahrhunderts Entwicklungen, die freiwillige Assoziationen in immer größerer Zahl hervorbrachten und eine Neubewertung in unterschiedlichen Diskursen veranlassten. Ein Indikator dafür ist die Vermehrung der Vornamen. Ausgehend vom Adel verbreitete sich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in allen Ständen die Gewohnheit, die Kinder nicht mehr nur auf einen oder zwei Vornamen taufen zu lassen, sondern auf drei oder mehr. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts konnten Adelssprösslinge acht oder mehr Namen erhalten; danach ging die Zahl wieder zurück. 21 Namen zeigen Sozialbeziehungen an: bestehende oder erwünschte; zu Namenspatronen im Himmel oder Taufpaten auf der Erde; aus der Blutsverwandtschaft oder zu außerfamilialen Namensvorbildern – daher darf man vermuten, dass die Vornamenvermehrung des 18. Jahrhunderts dem Bestreben entsprang, den eigenen Kindern vielfältigere Sozialbezüge zu verschaffen. 22 Für einige Stände ist belegt, dass man dort nicht nur immer mehr Taufpaten aufbot, sondern gezielt auch solche außerhalb der Herkunftsfamilien – unter einflussreichen Patronen nämlich, von denen man sich Unterstützung versprach. Das verweist auf den Typus von Sozialbeziehung, der im 18. Jahrhundert eine besondere Konjunktur erlebte: die Patronage. 23 Sie bildete eine Gelenkstelle zwischen Sozialem und Ökonomischem, da sie

20 „[. . . ] lorsque nos intérêts changent, il faut changer avec eux. Notre emploi est de veiller au bonheur de nos peuples : dès que nous trouvons donc du danger ou du hasard pour eux dans une alliance, c’est à nous de la rompre plutôt que de les exposer; en cela le souverain se sacrifie pour le bien de ses sujets.“ Friedrich II. von Preußen: Avant-Propos (1746), in: Œuvres de Frédéric le Grand, Bd. 2: Histoire de mon temps. Bearb. von Johann David Erdmann Preuß, Bd. 1, Berlin 1846, S. XIII – XX, hier S. VIII. 21 Adolf Bach: Die deutschen Personennamen, Bd. 2: Zur Geschichte, Geographie, Soziologie und Psychologie der deutschen Personennamen, 3., unveränd. Aufl. Heidelberg 1978, S. 193 und 36 – 40; Michael Mitterauer: Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte, München 1993, S. 396 – 401. 22 Mitterauer, ebd., S. 16 f. und S. 397. 23 Volker Press: Patronat und Klientel im Heiligen Römischen Reich, in: Antoni Maczak (Hg.): Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit, München 1988, S. 19 – 46.

Einführung

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ein Macht- und Schutzverhältnis darstellte, dessen Basis der Feudalgesellschaft entwuchs, aber auch Geld- und Gabenflüsse ermöglichte, die eine neu auszuhandelnde Position zwischen den alten Ökonomien des Tausches und den neuen des Kapitals markierten. Ein „häusliches Familien-Bündnis“ 24 schloss die Mehrzahl der Menschen im Laufe ihres Lebens. Eine weit kleinere Gruppe war in der Lage, sich den Sozietäten anzuschließen, deren Ausbreitung ein Charakteristikum des Aufklärungsjahrhunderts bildet, 25 denn dies setzte freie Zeit, Bildung und ein gewisses materielles Niveau der Lebensführung voraus. Sozietäten wurden, anders als die gelehrten Akademien (vgl. den nachfolgenden Abschnitt 4), nach deren Vorbild sie entstanden, in aller Regel nicht obrigkeitlich gestiftet, sondern entstanden auf Initiative ihrer Mitglieder. In ihnen wollte man sowohl die eigenen Kenntnisse als auch, durch Zusammenschluss, den persönlichen Wirkungskreis erweitern. In die zumal in Deutschland weit verbreiteten Lesegesellschaften trat ein, wer erleichterten Zugang zu aktuellem Lesestoff erhalten und darüber debattieren wollte. In den „Patriotischen“ oder „Ökonomischen Gesellschaften“ kamen die Verbreitung nützlichen Wissen und die moralische wie wirtschaftliche „Besserung“ breiterer Bevölkerungsschichten hinzu. In solchen Sozietäten hing die Sozialform des Bündnisses unmittelbar mit aufklärerischen Zwecken zusammen. Deutlich traditioneller auf das Seelenheil ausgerichtet waren die Totenbruderschaften, das sind Gebetsbündnisse, die überdies als Bündnisse zwischen Lebenden und Verstorbenen verstanden wurden. Eine schillernde Sonderform waren die Geheimbünde. Wie andere Sozietätsformen von England und Frankreich kommend, breitete die Freimaurerei sich in Deutschland aus, nachdem 1737 die erste deutsche Loge in Hamburg gegründet worden war. Trotz ihres Traditionsbezuges auf die mittelalterlichen Dombauhütten handelte es sich um eine Erfindung des Aufklärungsjahrhunderts. Die Gesamtzahl der Logenmitglieder schätzt man für Deutschland auf immerhin 27.000. Die stark formalisierten Rituale der Aufnahme in eine Freimaurerloge sowie ihrer Sitzungen akzentuierten die Bewusstheit und den Bindungsanspruch dieser Bündnisform besonders deutlich. Der Anspruch auf „Brüderlichkeit“ unter den teils bürgerlichen, teils sehr hochgestellten Mitgliedern (darunter Friedrich II. 24 [Adolf von Knigge:] Manifest einer nicht geheimen, sondern sehr öffentlichen Verbindung ächter Freunde der Wahrheit, Rechtschaffenheit und bürgerlichen Ordnung, an ihre Zeitgenossen, Wien 1795, S. 7. 25 Vgl. Ulrich Im Hof: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982; Holger Zaunstöck / Markus Meumann (Hg.): Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung. Tübingen 2003.

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von Preußen und Kaiser Franz I.) sowie das erklärte Heraustreten aus dem eigenen Stand innerhalb der Loge unterstreichen die Tendenz der Sozialform Bündnis, die gegebenen Standesgrenzen zu überschreiten. 26 Die Freimaurerei und die eben angesprochenen Sozietäten „bildeten in einer ständig an Dynamik zunehmenden Gesellschaft die neuen Netzwerke, die es dem Individuum erlaubten, weitläufige Beziehungen anzuknüpfen.“ 27 Tatsächlich aufgehoben wurden die Standesunterschiede allerdings nicht: „Mit wem man im Alltag nicht verkehrte, mit dem setzte man sich auch in der Loge nicht an einen Tisch.“ 28 Von der Kirche wurden die Freimaurer bekämpft, doch blieben zwei päpstliche Verbote 1738 und 1751 wirkungslos. Schärfer war die – nun auch staatliche – Reaktion auf den Illuminatenorden, den Adam Weishaupt 1776 in Ingolstadt gründete. 29 Die Illuminaten zielten auf das Ende der „unvernünftigen“ Fürstenherrschaft, wenn auch ohne konkrete Umsturzpläne, vielmehr über die Platzierung von Ordensmitgliedern an Entscheidungspositionen. Die bayerische Regierung ging seit 1784 gegen die Illuminaten vor und erzeugte damit starke öffentliche Resonanz; dieselbe Wirkung hatte die unter den (ehemaligen) Ordensmitgliedern geführte Diskussion, wie effektiv und / oder legitim „geheime Bündnisse“ 30 sein können, die das Arkanprinzip der traditionellen fürstlichen Politik reproduzierten. Der Widerspruch – oder jedenfalls die Spannung – zwischen Aufklärungszielen und geheimer Organisation beschäftigte die Illuminaten ebenso wie ihre Gegner. Erheblichen Einfluss hatte diese Debatte auf die Wahrnehmung der wenig später folgenden Französischen Revolution. Denn die Kontroverse leistete der antirevolutionären Deutung Vorschub, der Umsturz in Frankreich sei das Ergebnis einer Verschwörung von Freimaurern und anderer Geheimbünde. Seine politische Unschuld hatte das Prinzip des „freien Bündnisses patriotischer Männer“ damit verloren. Viele Bündnisse wurden um des Fortkommens und der Statusverbesserung willen geschlossen. Das heißt zugleich: Bündnisse sind grundsätzlich prospektiv angelegt. Ihre Zwecke liegen in der Zukunft. Nicht selten wurde in der entstehenden Öffentlichkeit mit Manifesten dafür geworben. Im 26 Vgl. Monika Neugebauer-Wölk: Esoterische Bünde und bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungslinien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1995. 27 Martin Pappenheim: Freunde oder Brüder? Die Semantik sozialer Netze im 18. Jahrhundert, in: Natalie Binczek / Georg Stanitzek (Hg.): Strong ties / Weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie, Heidelberg 2010, S. 39 – 53, hier S. 49. 28 Barbara Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000, S. 127. 29 Vgl. Stephan Gregory: Wissen und Geheimnis. Das Experiment des Illuminatenordens, Frankfurt am Main 2009. 30 [Knigge:] Manifest (wie Anm. 24), S. 41.

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Gegensatz zu den Ständen, die sich von der Schöpfung, Natur und Tradition herleiteten, ihre Verhaltensnormen also am Gegebenen orientierten, leben Bündnisse von Erwartungen und lenken den Blick auf das Kommende. Vorteilsstreben für sich und die eigene Gruppe verbindet sich mit dem Versuch, die Ungewissheit der Zukunft vorausschauend-planerisch zu gestalten. Daher folgen Bündnisse einer Rationalität der partikularen Interessenverfolgung und des Kalküls, die sich grundsätzlich von der gemeinwohlorientierten Wertrationalität der Ständeordnung unterscheidet. Obwohl mit den Gesellschaftsvertragstheoretikern, den Verfechtern ethisch für neutral erklärter Klugheitslehren, Anthropologen und Rechtsphilosophen ganze Disziplinen daran arbeiteten, den Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag über seine Wirkung zu rechtfertigen: nämlich einen Schutzraum für das Streben nach Glückseligkeit zu schaffen, erschien ein individuelles, allein auf persönliche Nutzenmaximierung gerichtetes Handeln zumindest den deutschsprachigen Aufklärern lange Zeit unvorstellbar. Auf vielfältige Weise suchte man das Eingehen und Wechseln von Allianzen sozial einzuhegen, in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen oder aus der freiwilligen Verbindung das Ethos einer neuen Verbindlichkeit herzuleiten – so z. B. in der Freundschaft. Mit dem Stichwort ‚Freundschaft‘ ist ein Konzept für Sozialbeziehungen angesprochen, das für das 18. Jahrhundert anerkanntermaßen besonders charakteristisch ist („Jahrhundert der Freundschaft“). Nun wird männliche Zweierfreundschaft zum Zentrum eines neuen bürgerlichen Selbstverständnisses. Dies stellt den Einzelnen nicht in die Antinomie von privatem Wollen und öffentlichem Sein, sondern integriert ethische und emotionale Ichartikulation in das Miteinander von subjektiver und gemeinschaftlicher „Glückseligkeit“. [. . . ] Die barocke Antinomie zwischen normativer Sittlichkeit und normverletzender Sinnlichkeit wird aufgehoben, indem die Einheit positiver, sozialintegrativer Regungen von Herz und Vernunft propagiert wird. 31

Der Sozialform Bündnis kann das neue Freundschaftskonzept allerdings nicht ohne Einschränkungen zugeordnet werden. Denn es verträgt sich schlecht mit dem Interesse am eigenen Vorteil, gar mit einem strategischen Interesse, wie es zum Bündnis gehört, insbesondere dann nicht, wenn Freundschaft primär als individualisierte emotionale Anteilnahme an (einem) anderen verstanden wird. Das war freilich erst seit der Jahrhundertmitte der Fall und vornehmlich in der – deutschen – Literatur, beginnend mit Thyrsis und Damons freundschaftlichen Liedern (1745) von

31 Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur, München 1984, S. 194.

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Immanuel Pyra und Samuel Gotthold Lange, sowie unter Literaten und anderen jugendlichen Schöngeistern. Die frühe und mittlere Aufklärung entwarf Freundschaft hingegen als ein geselliges Verhältnis von sowohl ethischer als auch emotionaler Qualität, das den kleinen Kreis als Modell für eine vernünftige Gesellschaft verstand; in der englischen Literatur setzte sich dieses gesellschaftsbezogene Freundschaftsverständnis sogar bis zum Jahrhundertende und darüber hinaus fort. 32 Jene nicht nur typologische, sondern auch diskursgeschichtliche Unterscheidung voraussetzend, sollte man indes nicht versäumen, an den emotional emphatisierten Freundschaftskult der zweiten Jahrhunderthälfte die Frage zu stellen, ob ältere Zwecksetzungen nicht weiterhin eine Rolle spielten, etwa im Fall der (in Abschnitt 4 näher besprochenen) „Dichter-Freundschaften und -Bünde, die durchaus auch Zweckbündnisse im literarischen Kampf“ waren. 33 Auch mit Patronage, also einer Beziehung unter Ungleichen, konnte die Egalität behauptende Freundschaftssemantik sich verbinden. Kontrapunktisch zur mitunter überschwänglichen Freundschaftsemphase vor allem in der Literatur hat der Historiker Martin Papenheim neuerdings zu bedenken gegeben, dass starke Bindungen wie persönliche Freundschaften für die Netzwerkbildung in der Gesellschaft weniger wichtig waren als die nicht gleichermaßen gefeierte „brüderliche“ Verbindung der Freimaurer oder die vertragliche Verbindung zu Sozietäten, denn Freundschaften lassen sich nur in geringerer Zahl pflegen und sind labiler, entgegen ihrer angeblichen Unverbrüchlichkeit. 34 Prinzipiell nur begrenzt offen war das Sozialmuster Freundschaft für Frauen – verbildlicht mag man dies in Davids Schwur der Horatier beobachten, wenn man die in unserem Ausschnitt nicht gezeigte Frauengruppe am rechten Bildrand in den Blick nimmt: Frauen haben schlichtweg keine Möglichkeit zur Gruppenbildung, ihre Beziehungen bleiben wenn überhaupt stets privat, auf den häuslichen Umkreis beschränkt. [. . . ] Selbst zu zweit können sie ein wesentliches Postulat von Freundschaft nicht erfüllen: Nämlich, bei aller Privatheit der Beziehung, das der öffentlichen Repräsentanz, das Vorleben eines Gesellschaftsmodells,

32 Vgl. Katrin Berndt: Narrating friendship and the British novel, 1760 – 1830, London / New York 2017. 33 Vgl. Eckhardt Meyer-Krentler: Freundschaft im 18. Jahrhundert. Zur Einführung in die Forschungsdiskussion, in: Wolfram Mauser / Barbara Becker-Cantarino (Hg.): Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert, Tübingen 1991, S. 1 – 22, hier S. 7. 34 Vgl. Papenheim: Freunde oder Brüder (wie Anm. 27), S. 51 f.

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wie es in Schillers Don Karlos (1787) der Titelheld und der Marquis Posa versuchen. 35 Selbstverständlich sind persönliche freundschaftliche Beziehungen zwischen Frauen damit nicht in Abrede gestellt. Doch war das Sozialmuster Freundschaft für in der Öffentlichkeit Agierende gedacht (entgegen dem privaten Beiklang, den es heute hat), mithin für Männer. Aus der Freimaurerei waren Frauen sogar ausdrücklich ausgeschlossen. An Sozietäten waren sie vereinzelt beteiligt, an Lesegesellschaften etwas häufiger. 36

4 Gelehrte und literarische Bündnisse Im Bereich der gelehrten und literarischen Zirkulation stand in europaweiter Ausdehnung das Modell der Gelehrtenrepublik (respublica literaria) bereit. Gewachsen mit der Entfaltung des Buchdrucks und seiner Zirkulationsgeschwindigkeit, begleitete die Vernetzung seiner Akteure in Briefverkehr und akademischen Besuchsbräuchen die Entwicklung. 37 Die Mitgliedschaft in diesem Bündnis erwarb automatisch, wer lateinische Sprachund Schreibkompetenz besaß und sich im weitesten Sinne schriftstellerisch betätigte, das heißt im Netz des Druckes auftrat und Öffentlichkeit ansprach. Hier ergaben sich vielfältige Differenzierungen, v. a. mit der Entwicklung solcher öffentlichen oder teilöffentlichen Diskursforen gegenüber der Theologie. Innerhalb der Nationalsprachen und deren Kultursystemen bildeten sich eigene Zusammenschlüsse, die sich als gelehrte Gesellschaften territorial definierten wie die Académie Française (Paris 1629/1634), aber auch als literarische Vereinigungen am Aufbau einer sprachkulturell verstandenen Nationalliteratur arbeiteten wie etwa die deutschen Sprachgesellschaften des Barockjahrhunderts, die „Deutschen Gesellschaften“ der Aufklärung sowie die Dichterbünde der Empfindsamkeit. Aus der Gelehrtenrepublik konnten manche dieser Bündnisse die Egalität der Mitglieder als gleichrangiges Nebeneinander von Adel und Bürgertum übernehmen, wenngleich die Patronage der Fürsten für die Etablierung und Pflege der

35 Meyer-Krentler: Freundschaft im 18. Jahrhundert (wie Anm. 33), S. 21. Zum illuminatischen Hintergrund, dessen Geheimniskrämerei in Schillers Drama eine Kritik erfährt, vgl. Hans-Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten, Tübingen 1996. 36 Vgl. Holger Zaunstöck: Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 188 – 200. 37 Vgl. Ernst Rohmer: Frühneuzeitliche Gelehrtenkultur und kulturwissenschaftlicher Netzwerkdiskurs, in: Morgen-Glantz 23 (2013), S. 17 – 41.

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standesbewussten Gelehrtengesellschaften zentral blieb. 38 Als Gründer der Fruchtbringenden Gesellschaft (Weimar 1617) wollte Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen die Verfahren der Academia della Crusca (Florenz 1583) transferieren, und die Academia Naturae Curiosorum (Schweinfurt 1652) arbeitete ab 1677 unter kaiserlicher Patronanz als Leopoldina; sie besteht in veränderter Form bis heute. Charakteristisch für die aufklärerische Funktionalisierung dieses Bündnistyps ist die Geschichte der Deutschen Gesellschaft. 39 1697 in Görlitz als lokale Dichtervereinigung Collegium poeticum von Alumni des Gymnasiums gegründet, gewann sie 1717 unter dem Vorsitz von Johann Burckhardt Mencke als Teutschübende Poetische Gesellschaft in Leipzig wachsende Bedeutung. Dort richtete Johann Christoph Gottsched die nun als Deutsche Gesellschaft arbeitende Vereinigung 1727 im protestantischen deutschen Kulturraum durch zahlreiche Filialgründungen überregional und sprachnormierend aus. Sie bot seiner weit verstreuten Anhängerschaft organisatorische Zentren und seinen Sprach-, Literatur- und Theaterreformen institutionelle Sichtbarkeit. Auch Gottscheds Reformen basierten auf Druckzirkulation und Briefverkehr, denn als Kommunikationsmedien dienten den teilnehmenden Schriftstellern und Gelehrten ein dichtes Netz von Briefkorrespondenzen 40 sowie die von der Gesellschaft herausgegebenen Zeitschriften. Inwiefern Freundschaft als Gegenpol des zweckorientierten Bündnisses aufgewertet wurde, bleibt im Einzelfall zu untersuchen. Als Endpunkt in der Entwicklung dieser Dichotomie ist mit Sicherheit die Verbindung zwischen Schiller und Goethe auszumachen, die gegenüber dem literarischen Betrieb als kritisches wie auch normsetzendes Bündnis 41 in der wechselseitigen Beziehung der beiden gegensätzlichen Dichter jedoch trotz aller Distanz als Freundschaftsbund beschrieben werden muss. Als Anfangsfor-

38 Vgl. Gabriele Jancke: Patronage, Freundschaft, Verwandtschaft. Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit, in: Johannes F. K. Schmidt u. a. (Hg.): Freundschaft und Verwandtschaft. Zur Unterscheidung und Verflechtung zweier Beziehungssysteme, Konstanz 2007, S. 181 – 200. 39 Vgl. Detlef Döring: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds, Tübingen 2002. 40 Vgl. Johann Christoph Gottsched: Briefwechsel. Unter Einschluß des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Im Auftrage der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Detlef Döring und Manfred Rudersdorf, [bisher:] Bd. 1 – 12, Berlin / Boston 2007 – 2018. 41 Vgl. Katharina Mommsen: Kein Rettungsmittel als die Liebe. Schillers und Goethes Bündnis im Spiegel ihrer Dichtungen. Mit einem Nachw. von Ute Maack, Göttingen 2010; Gerrit Brüning: Ungleiche Gleichgesinnte. Die Beziehung zwischen Goethe und Schiller 1794 – 1798, Göttingen 2015.

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mation des Dichterbundes 42 gilt jedenfalls die Zeit der Empfindsamkeit, die mit der Epoche Christian Fürchtegott Gellerts den Brief als Medium authentischen Austausches neu zu verstehen begann und gegenüber der gelehrten Korrespondenz, aber auch den Briefnormen des Barockjahrhunderts einen kommunikativen Informalisierungsschub umsetzte, der neue Formen der Emotionalität begünstigte. Dies wirkte ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in die Dichterbünde hinein, deren Koppelung von poetologischer Programmatik und emotionaler Verbundenheit bis hin zur kollektiven Verfasserschaft führen konnte, wie Gottfried August Bürgers Briefwechsel mit seinen Freunden vom Göttinger Hainbund beim Verfassen der „Lenore“ oder in anderem Dichterwettstreit zeigt. 43 Die Organisationsformen waren breit und reichten von ebenso freundschaftlichen wie literaturprogrammatischen Bündnissen unter Studenten (wenngleich mit Dauer über die Studentenzeit hinaus) wie in den beiden „Halleschen Dichterkreisen“ (zunächst mit den bereits erwähnten Lange und Pyra, wenig später mit Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Johann Nikolaus Götz, Johann Peter Uz u. a. 44) oder dem „Hainbund“ über die Verbindung eines befreundeten Publizistenzirkels, wie ihn Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn repräsentieren, bis zu den Freimaurerlogen, in denen sich etwa die Wiener Literaten des Josephinismus zum Bündnis zusammenfanden. Wie wichtig dabei Medienpraktiken waren, die den Bund nach innen und / oder außen sichtbar machten und in dadurch in gewissem Sinne sogar erst konstituierten, hat für den Hainbund neuerdings Erika Thomalla herausgearbeitet: „Um eine Vielheit individueller Personen zu einer Einheit zu verbinden, sind [. . . ] geteilte Narrative und gemeinschaftsstiftende Praktiken nötig, die dem kollektiven Selbst eine konkrete Gestalt verleihen.“ 45 Auch die literarischen Anhängerschaften und ihre Geschmacksdebatten trugen Bündnischarakter, wenn sich die Gottschedianer mit den

42 Als Überblick vgl. Angelika Beck: „Der Bund ist ewig“. Zur Physiognomie einer Lebensform im 18. Jahrhundert, Erlangen 1982. Bestritten wird eine für das 18. Jahrhundert typische allgemeine Verbreitung des Phänomens dagegen von Erika Thomalla: Die Erfindung des Dichterbundes. Die Medienpraktiken des Göttinger Hains, Göttingen 2018. Mit Bezug auf bestimmte Medienpraktiken, die sich so erst bei den Göttinger Hainbündlern der frühen 1770er Jahre finden, formuliert sie die These (S. 7): „Die Sozialform des Dichterbundes wurde von den Autoren des Göttinger Hains nicht nur geprägt, sondern zuallererst erfunden.“ 43 Gerhard Sauder: Bund auf ewig! Der „Göttinger Hain“ 1772 – 1774, in: Lenz-Jahrbuch 19 (2013), S. 1 – 25; vgl. auch Ulrich Joost: Jünglinge im (unedlen) Wettstreit, oder: Der Mythos von den Phantasien in drei priapischen Oden. Eine Ermittlung, in: Bodo Plachta (Hg.): Literarische Zusammenarbeit, Tübingen 2001, S. 49 – 86. 44 Vgl. Klaus Manger / Ute Pott (Hg.): Rituale der Freundschaft, Heidelberg 2006. 45 Thomalla: Die Erfindung des Dichterbundes (wie Anm. 42), S. 12.

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„Schweizern“ Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger und ihren Anhängern über die Geltung des Wunderbaren befehdeten oder wenn sowohl Klopstocks wie auch Bürgers Leser(innen) zur schwärmerischen Gemeindebildung neigten. So zeigen sich Bündnisse zwischen Autoren und Leserschaften, Leitfiguren und Gefolgsleuten als Momente einer vor allem durch Kontroversen 46 vorangetriebenen Ausdifferenzierung des literarischen Feldes. Die Bündnisse der Literatur von den humanistischen Gelehrtengesellschaften bis zum Jenaer Romantikerkreis organisierten Positionen im Meinungsstreit, sie dienten dazu, neue Prinzipien zur Geltung zu bringen und über den eigenen Kreis hinaus durchzusetzen. Damit haben sie zentralen Anteil an der Herausbildung moderner Öffentlichkeit. 47

5 Fragen Praxis und Reflexion der Allianzen bewegten sich im 18. Jahrhundert in einem Spannungsfeld zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite stießen sie auf die Kritik der ständisch-korporativ-konfessionellen Gemeinschaftsverpflichtungen, auf der anderen Seite hatten sie sich vor der Erwartung zu rechtfertigen, über das persönliche Vorteilsstreben hinaus ein neues soziales Ganzes zu begründen. Wie und wozu man unter diesen Bedingungen Bündnisse schloss und begründete, wie man über sie dachte und sie darstellte, das sind die Fragen, die in den Beiträgen anhand verschiedener Fallbeispiele diskutiert werden sollen. Drei große Fragenkomplexe ergeben sich aus diesem Aufriss von selbst: 5.1 Was zeichnet Bündnisse aus? Wovon sollten sie unterschieden werden? Eine erste Schwierigkeit besteht darin, Bündnisse als besondere Art der Sozialbeziehung überhaupt in den Blick zu bekommen, das heißt: sie von anderen abzugrenzen. Wahrscheinlich bedürfen die genannten Kennzeichen der freien Partnerwahl, des Vorteilsstrebens, der Formalisierung und Medialisierung sowie der Zukunftsorientierung noch der Ergänzung. 46 Hans-Dietrich Dahnke / Bernd Leistner: Von der „Gelehrtenrepublik“ zur „Guerre ouverte“. Aspekte eines Dissoziationsprozesses, in: dies. (Hg.): Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 1 – 2, Berlin / Weimar 1989, Bd. 1, S. 13 – 38; Franz Josef Worstbrock / Helmut Koopmann (Hg.): Formen und Formgeschichte des Streitens – Der Literaturstreit, Tübingen 1986. 47 Vgl. zur Differenzierung des klassischen Begriffs von Jürgen Habermas u. a. Heinrich Bosse: Die gelehrte Republik, in: Hans-Wolf Jäger (Hg.), „Öffentlichkeit“ im 18. Jahrhundert, Göttingen 1997, S. 51 – 76.

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Denn sie heben Bündnisse zwar von den als gegeben vorgestellten Sozialbeziehungen der Ständeordnung ab, zu wenig aber von den zahlreichen anderen Formen freier Assoziation in der bürgerlichen Gesellschaft. Wie unterscheidet man Bündnisse beispielsweise von informellen Absprachen, praktischer Zusammenarbeit, Verträgen, Vereinen? Gibt es Kriterien, um Bündnisse von umfassenderen, affektiver getönten Sozialbeziehungen wie Gefolgschaften, Bünden, Freundschaften abzuheben? Oder stehen Bündnisse als pars pro toto für alle Formen freier Vergesellschaftung überhaupt? Am schärfsten stellt dieses Problem sich bei den Autorenbündnissen und persönlichen Freundschaften. Denn in der Politik, den Handelskompanien, gelehrten Gesellschaften oder Geheimbünden sind Bündnisse an formalisierten Bündnisschlüssen, explizit formulierten Bündniszielen und aufwendig protokollierten Bündnishandlungen vergleichsweise leicht zu erkennen. Autorenbündnissen hingegen fehlen diese Merkmale oft. Vor allem für sie ist deshalb zu erörtern, ob und in welcher Hinsicht es sich bei ihnen überhaupt um Bündnisse in einem spezifischen Sinne handelte. Letztlich hängen die Merkmale von Bündnissen von dem sozialen Sinn ab, den man ihnen zuschreibt. Dieser könnte darin bestehen, einen verpflichtenden Zusammenschluss von mindestens zwei Partnern herzustellen, der oft, wenn nicht immer, gegen einen oder mehrere Dritte gerichtet ist. In diesem Fall ginge es um Inklusion und Exklusion. Zugleich soll das Bündnis offenbar den beiden Partnern, die einzeln zu schwach wären, zum Erfolg über den oder die eigentlich überlegenen Gegner verhelfen. Insofern geht es um Durchsetzung und Verhinderung. Nicht zuletzt scheinen Bündnisse den Status der beteiligten Partner zu modifizieren, im Verhältnis zueinander wie gegenüber dritten. Insofern geht es um Statusverbesserung. Neben der heuristischen Reflexion auf unsere eigene Begriff lichkeit braucht es Untersuchungen zu den Zeichensystemen und Bündnisdiskursen des 18. Jahrhunderts. Gefragt werden kann im Sinne der Historischen Semantik nach dem Wortfeld, mit dem man im 18. Jahrhundert Bündnisse bezeichnete: „Bund“, „Verbündigung“, „Union“, „Pakt“, „Allianz“, „Gesellschaft“ sind in diesem Zusammenhang von Interesse. Zu suchen ist nach den jeweiligen Gegenbegriffen. Die Ikonographie visueller Bündnisdarstellungen verspricht ebenso Aufschlüsse über die damaligen Bündnisvorstellungen wie die Metaphorik, in der man über Bündnisse sprach. Aus Bündnismythen wie dem Rütlischwur sprechen populäre Bündnisphantasien, ebenso aus den imaginierten Bündnissen der Jesuitenverschwörungen und Freimaurerumtriebe, an die man im 18. Jahrhundert glaubte. Auch historiographische Erzählungen von Bündnissen stellen wichtige Quellen dar.

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Vor allem die Beiträge zu den Bündnistheorien, den heutigen wie den historischen, sind diesen Fragen gewidmet. Doch auch alle anderen Beiträge liefern durch die Klärung des eigenen Bündnisbegriffs wie auch der jeweils vorgefundenen Bezeichnungen weiteres Material. 5.2 Spätere Kritik am Bündnis-Verständnis des 18. Jahrhunderts und die vorweggenommenen Antworten der Aufklärer Die Begeisterung der Aufklärer für Bündnisse strandete an den ideologischen und machtpolitischen Polarisierungen des Revolutionszeitalters. Die Romantiker machten den aufklärerischen Sozialphilosophen zum Vorwurf, ihre Gesellschaftsvertragstheorien verabsolutierten den Einzelnen bzw. die Einzelne und bekämen die sie bedingende, ihnen vorausliegende Sozialität nicht in den Blick. Spätestens durch Hegel wurde dieser Vorwurf zum allgemein akzeptierten Verdikt. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts trug es zur Diskreditierung aufklärerischer Gesellschaftsmodelle bei. Diese Frontstellung hat lange Zeit verdeckt, dass auch viele Aufklärer schon über die Bedingungen und Grenzen der aus strategischen Interessen eingegangenen Sozialbeziehungen nachgedacht hatten; dass sie auf mannigfache Weise darüber hinausgingen; dass vielleicht gerade in diesen Bestrebungen Ansätze für eine heutige Theorie der Weltgesellschaft liegen; ebenso dass die von den Romantikern verlangte Innerlichkeit persönlicher Beziehungen in der Freundschaftsemphase der empfindsamen Aufklärung und des Sturm und Drang einen wichtigen Vorlauf besaß. Mit später geprägten, soziologischen Begriffen lässt dieses Problem sich so reformulieren, dass die Romantiker den Aufklärern vorwarfen, ihre Vertragstheorien liefen lediglich auf Vergesellschaftung hinaus, nicht auf Vergemeinschaftung. Allerdings blendet diese Kritik aus, dass bereits die Aufklärer darüber nachdachten, was Bündnispartner veranlasst, ihre Bündnisverträge zu halten; was also zu den Verträgen hinzukommen muss, damit sie als verbindliche Selbstverpflichtungen Geltung erlangen. Insofern haben die Aufklärer selbst schon die außervertraglichen Bedingungen der Möglichkeit von Verträgen thematisiert – und damit eben die in den Bündnissen selbst nicht explizierte Kultur der Bündnisse, auf die der soziologische Vergemeinschaftungsbegriff zielt. Für die Erforschung von Bündnissen ergibt sich daraus die Aufgabe, nicht nur ihre explizite Dimension ins Auge zu fassen, also die formell vollzogenen Bündnisschlüsse, explizit formulierten Bündniszwecke und bewusst thematisierten Bündnishandlungen, sondern auch die stumme, aus den Quellen oft nur indirekt erschließbare Rahmung der Bündnisse durch Akte der Vertrauensstiftung, Sicherung, Beschenkung, gegebenen-

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falls auch Drohung oder Einschüchterung, die den Bündnissen vorauslagen und sie erst ermöglichten. 5.3 Bündnisse als ein Totalphänomen des 18. Jahrhunderts? Der Bündnisbegriff zielt auf Phänomene, die der bestehenden Forschung unter Begriffen wie ‚Gleichgewichtspolitik‘, ‚Patronage‘, ‚Netzwerke‘ wohlbekannt sind. Sein Mehrwert gegenüber diesen Begriffen besteht darin, dass er auf sozialstrukturelle Gemeinsamkeiten in unterschiedlichen Lebensbereichen aufmerksam macht, die bislang nicht zusammengedacht worden sind. Zu diskutieren ist, ob man in Bündnissen nicht im Sinne von Marcel Mauss ein „fait social total“ des 18. Jahrhunderts erkennen kann: ein soziales Totalphänomen. Damit ist gemeint, dass Bündnisse in allen Lebensbereichen der Menschen eine entscheidende Rolle spielten. Für die Politik, die Wirtschaft, die Institutionen der Gelehrtenrepublik lässt sich das durch die Fallbeispiele in den hier versammelten Beiträgen leicht beweisen. Aber auch das religiöse Leben vor allem der Freikirchen war durch Bündnisse bestimmt. Mit Bündnisschlüssen reagierten Autoren auf die Konkurrenzkämpfe im literarischen und künstlerischen Feld. Und diese Beobachtung lässt sich verallgemeinern: Überall, wo man um Macht und Posten konkurrierte, bei Hofe ebenso wie in den Städten und Verwaltungen, bildeten sich Koalitionen, die formalisiert und damit zu Bündnissen werden konnten. Nicht zuletzt finden wir solche strategischen Verbindungen im Alltagsleben. Unter dem Stichwort „Politische Klugheit“ wurden sie beispielsweise von Christian Thomasius und vielen weiteren Aufklärern diskutiert. Darüber hinaus schlägt der Bündnisbegriff eine Brücke zwischen den Bündnispraktiken in den verschiedenen Lebensbereichen und den vielfältigen Bündniscodierungen. Für das politische Denken des 18. Jahrhunderts, die Geschichtsschreibung, die schöne Literatur, die Bildmedien waren Bündnisse ein zentrales, vielfältig gestaltetes Thema. Ihre Bedeutung als Motiv scheint mit ihrer Bedeutung als soziale Tatsache korreliert. Erkenntniswert bekommen diese neuen Zusammenschauen allerdings erst, wenn man sich nicht damit begnügt, die ubiquitäre Ausbreitung von Bündnissen im 18. Jahrhundert bloß zu registrieren. Vielmehr wirft sie die Frage auf, welche Ursachen diese Verbreitung hatte. Gab es Einflüsse, Ausstrahlungen, Transferprozesse, Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Lebensbereichen bzw. zwischen der sozialen Praxis und den kulturellen Zeichensystemen? Handelte es sich um gleichzeitige, aber unabhängig voneinander sich ausbreitende Erscheinungen, die beispielsweise als Reaktionen auf gleichartige soziale Problemstellungen zu begreifen sind? Wie hängen die Bündnisse in den verschiedenen Lebensbereichen zusam-

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men – oder anders formuliert: Wie lassen sie sich in eine sozialstrukturelle Gesamtschau des 18. Jahrhunderts integrieren?

6 Die Beiträge Da die genannten Fragen in allen Beiträgen beleuchtet werden, folgt deren Gliederung der gleichen Systematik wie diese Einleitung. In der ersten Gruppe von Beiträgen stehen verschiedene Theorien des Bündnisses im Mittelpunkt: 6.1 Theorien des Bündnisses In einer begriffsgeschichtlichen tour d’horizon untersucht Axel Rüdiger, welchen Bedeutungswandel die Ausdrücke „Union“ und „Konsens“ in den politischen Vertragsmodellen des 17. und 18. Jahrhunderts durchliefen. Angeregt durch Verfahren der Cambridge School, legt er hinter den wechselnden Semantiken eine überraschende Kontinuität der Bündniskonzeptionen frei. Nicht nur Hobbes und Pufendorf hielten trotz ihrer Absetzbewegungen von der religiösen Bundeskonzeption an einem emphatischen, der Empirie opportunistischer Vertragsschlüsse vorausliegenden Bundesbegriff fest, auch in der Debatte um den englischen und französischen Staatskredit kamen Kritiker am politischen Einfluss der Staatsgläubiger – Denker wie Hume, Rousseau, Sieyès und Burke – auf eine solche vorempirische Bündniskonzeption zurück. Entgegen gängiger Lesarten erscheint hier als Movens hinter den politischen Vertragstheorien nicht der Eigennutz, sondern die Kritik an einem Kapitalismus, der das Gemeinwesen zur Beute macht. Daniela Ringkamp analysiert Kants Theorie der republikanischen Verfassung und des Völkerbundes anhand der Schriften Zum ewigen Frieden und Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Kant unterscheidet zwischen der republikanischen Verfassung als Rechtssystem für einen Gesellschafts- bzw. Friedensbund und deren Äquivalent auf zwischenstaatlicher Ebene, dem Völkerbund, der lediglich eine lose Assoziation von Staaten mit Bündnischarakter sei. Ringkamp sieht darin eine zweiteilige Bündnistheorie, die auf politische Entwicklungen und die revolutionären Umbrüche des späten 18. Jahrhunderts reagiert, aber auch heute anschlussfähig ist. In der breit gespannten Darstellung von Sigrid G. Köhler entwirft Novalis die Vision eines ästhetischen Staats auf der Gefühlsgrundlage der Liebe, was den Vertragsgedanken und die gefühlsbasierte Vergemeinschaftung in einem allumfassend gedachten romantischen Vereinigungsprojekt

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aufhebt, einer „Totalwissenschaft“ (Allgemeines Brouillon). Die Organisationsform des neuen Staates beruht auf Vermittlung und subjektiver Freiheit (im Sinne Fichtes) und erlangt als Bündnis konkrete Gestalt, denn der innere „Sinn für Bund“ gewährleistet – auch theosophisch verstanden – höchste Harmonie. Der Bündnisvertrag ist demnach das Rechtsinstitut zur gesellschaftlichen Formalisierung des Selbstgefühls. Der Publikationsort zeigt an, dass die Fragmente Glauben und Liebe einer „ästhetischen Regierungsprogrammatik“ des preußischen Staates dienen, in dessen Königtum die Souveränität durch ein freies Bündnis ersetzt ist, einen semiotischen Bund von Staatsbürgern und Herrscher. Ausgehend von Max Webers Beobachtung, die frühneuzeitliche Staatsbildung in Europa habe auf einem strukturellen „Bündnis“ zwischen Fürsten, Amtsträgern und Unternehmern beruht, rekonstruiert Andreas Franzmann, welche Annahmen hinter dieser Aussage stehen und wie Weber dieses Bündnis ausbuchstabiert. Zusammengenommen ergeben die Gesichtspunkte Heeresverfassung, Finanzverwaltung, Rechtskodifikationen, Betriebskapitalismus, Unternehmertum, Herrschaft und Kirche, Diplomatie ein umfassendes Erklärungsmodell: einen „Idealtypus“ der frühneuzeitlichen Staatsbildung, in dessen Zentrum der Begriff des Bündnisses steht. 6.2 Politische Bündnisse und ihre künstlerischen Reflexionen In Nuancierung gegenüber der Tradition des Staatsromans thematisiert das Aufklärungsjahrhundert Pazifizierung und Humanisierung staatlicher Macht unter einem neuen Heroismus, wie Christoph M. Meid demonstriert. In Fénelons Telemach-Roman, Loens Redlichem Mann am Hofe und Justis altägyptischem Thesenroman Psammiticus wird dies als politisches Handlungsdispositiv zwecks konkreter Fürstenerziehung erzählt und zugleich problematisiert. Stößt das Projekt im Sozialen an die Grenzen der menschlich schwachen Wesensart, so hat das handelnde Individuum den Konflikt zwischen der Rollenanforderung höfisch-politischer dissimulatio und subjektiver aufgeklärter Wahrheitsliebe auszutragen. Martin Eybl stellt die neuen künstlerischen Möglichkeiten vor, die den renversement des alliances den Wiener Komponisten und Musikern eröffnete. Wie Eybl zeigt, war das Musikleben im Zeitalter der Aufklärung durch vielerlei politische, soziale und ökonomische Gegensätze geprägt, die durch verschiedene Bündnisse überbrückt werden konnten: zwischen dem Habsburger Hof und dem der Bourbonen, zwischen den Metropolen Wien und Paris, zwischen Adel und Bürgertum, zwischen der Logik des Aufwands und jene der Rentabilität. Die politische und militärische Allianz zwischen den alten Gegnern Österreich und Frankreich ermöglichte und unterstützte einen intensiven Austausch von Musikalien und die Mi-

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gration von Musikern. Eybl unterscheidet traditionelle Verbindungsformen wie die Patronage von Bündnissen, die sich die Chancen des Marktes zunutze machen: Widmungen an hochgestellte Personen erhöhten den kommerziellen Erfolg von Verlegern und Komponisten und stellten der Welt den gesellschaftlichen Rang der Widmungsträger vor Augen. Wo kommerzielle Momente und die Interessen der Patrone sich die Waage hielten, kann, so Eybl, von einem Bündnis dieser sozialen Gruppen gesprochen werden. Wolfram Malte Fues untersucht Knigges Manifest einer Verbindung echter Freunde der Wahrheit (1795) unter dem Gesichtspunkt der Umsetzung und Anwendung von Aufklärung in einer Reform zwischen Reaktion und Revolution. Nur Bündnisbildung und Geheimhaltung kann, so Knigge, den Erfolg dieses zukunftsoffenen Prozesses gewährleisten. Damit überschreite er Kants Aufklärungskonzept und biete ein Handlungsmuster, das die Anonymous-Bewegung unter den Brüchigkeitsbedingungen der Postmoderne aufnahm. Die Übergänge vom Patriotismus zum Nationalismus beleuchtet Christian M. König, wobei er beide Gemeinschaftsmodelle als unterschiedliche Ausformungen von Bündnissen begreift. An Friedrich Carl von Moser, Johann Michael von Loen und Thomas Abbt auf der einen Seite, Friedrich Ludwig Jahn und Ernst Moritz Arndt auf der anderen sowie den zeitgenössischen Wörterbüchern und Enzyklopädien zeigt König, dass die teils explizite, teils implizite Bezugnahme auf Bündnisvorstellungen ein tertium comparationis auch über den sattelzeitlichen Strukturwandel hinweg darstellt. 6.3 Zwischen Gottesbezug, Sozialität und Individualität Die dritte Gruppe von Beiträgen rückt Bündnisse aus verschiedenen Bereichen und Typen der individuellen und sozialen Lebensführung in den Mittelpunkt. So nimmt Astrid von Schlachta die Bündnisse mennonitischer Täufer mit Pietisten in den Blick. Getrieben von der Hoffnung, erstarrten Täufergemeinden durch pietistische Frömmigkeitspraktiken neues Leben einzuhauchen, ergaben sich zahlreiche Kooperationen, obwohl diese mancherorts zu heftigen Konflikten in den Gemeinden führten. Charakteristisch war zum einen, dass beide Seiten die weltliche Kooperation von ihrer Verwurzelung in Gott herleiteten – ein Beispiel für die lange Dauer religiös motivierter Bündnisse im 18. Jahrhundert. Zum anderen bewegten sich sowohl die bündnissuchenden Mennoniten als auch die Pietisten häufig am Rande der konfessionellen Devianz. Dadurch drohte ihr Bündnis oft bestehende, aber prekäre Duldungen infragezustellen, und zwang die Beteiligten zu besonderer Rücksichtnahme.

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Als Weiterführung traditioneller Formen des Totenkultes präsentiert Claudia Resch die bis tief ins 18. Jahrhundert reichenden Aktivitäten der Wiener Totenbruderschaft. Sie beruhte auf dem tridentinischen Zentraldogma des Nutzens von Gebet und Guten Werken für die Verstorbenen, die als Bündnispartner der (programmatisch egalitär versammelten) lebenden Mitglieder verstanden wurden. Kennzeichnend für Form und Praktiken dieser Verbindung war die religiös begründete Wechselseitigkeit positiver Wirkungen über die Grenze zum Jenseits hinweg. Eine Neudeutung der Assoziationsbewegung im 18. Jahrhundert unternimmt Fred E. Schrader. Gestützt auf reiche sozialhistorische Befunde, zeichnet er die rasche Verbreitung der philanthropischen Sozietäten, Freimaurerlogen und Geheimbünde in Frankreich und im Reich nach. Gegen die landläufige Deutung der Verbindungen als bürgerlich-egalitär zeigt er, dass die angestrebte soziale Homogenität der Mitglieder auf vorgelagerter ständischer Differenzierung beruhte. Anstelle demokratischer Selbstverständigung sieht er ein streng formalisiertes Reglement; die Vorstellung von Zweckbündnissen zur Durchsetzung von sozialen oder politischen Gruppeninteressen hält er für verfehlt. Vielmehr sieht Schrader in den Assoziationen eine Reaktion auf die Erfahrung ökonomischer Funktionalisierung: Der unsichtbar werdende soziale Zusammenhang und der Sinn des eigenen Daseins sollten durch personale Rückversicherung in einem Kreis von Gleichgesinnten wiederhergestellt werden. Im Spannungsfeld von Sozialität und Individualität analysiert Robert Vellusig auch die Verbindung zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai, indem er sie aspektereich in den Kontext von Medienevolution und gesellschaftlicher Differenzierung in der Vergesellschaftungsform des Aufklärungsjahrhunderts stellt. Aus zutiefst individuellen Impulsen finden, so Vellusig, autodidaktisch geschulte Leser und zugleich Autoren, Kenner und Vermittler zu einem Bündnis „sympathisierender Geister“, das sich zuerst im privaten Briefverkehr, dann in den Medien von Zeitschrift (Literaturbriefe) und Freimaurerdialogen (Ernst und Falk) verfestigt. Der Liebesehe als der am stärksten individualisierten Form des Bündnisses ist Guglielmo Gabbiadinis Beitrag gewidmet. Als ein „Bündnis“ begriffen jedenfalls Karoline von Dacheröden und Wilhelm von Humboldt ihre 1788 begonnene Verbindung. Dabei rekurrierten sie, wie Gabbiadini in subtiler Analyse der von ihnen gewechselten Briefe und Gedichte zeigt, auf bis in die Antike zurückreichende Modelle des Liebes- und Freundschaftsbundes zurück. Individualität und – hochselektive – Sozialität, die sich allerdings wenig an die ehetypische Exklusivität hielt, sollten sich in einem so verstandenen Bündnis gegenseitig steigern und das Glück der Intensität vermitteln.

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6.4 Schriftsteller-Bündnisse und ihre Medien Die vierte Gruppe von Beiträgen thematisiert Bündnisse im Bereich der Literatur. Daniel Ehrmann problematisiert die Anwendung des Bündnisbegriffs auf literarische Allianzen mit berechtigter Absetzung vom geschichtswissenschaftlichen Begriffsgebrauch und stellt den informellen Charakter literarischer Bündnisse und die Unterschiedlichkeit der dabei relevanten Beziehungen (zu Verlegern, Rezensenten usw.) heraus. Die Beobachtung, dass Bündnisse auch dann wichtig sein können, wenn sie gar nicht geschlossen wurden, stellt eine ebenso aparte wie weiterführende Zuspitzung seines ebenso begriffsreflexiven wie praxisanalytischen Ansatzes dar. Beispielhaft analysiert Ehrmann die Polemik zwischen Lessing und Klotz und die unterschiedlichen Arten von Bündnissen, auf die sich die beiden Antagonisten stützen konnten. Kristin Eichhorn widmet sich der Verbindung der Bremer Beiträger, die auf der Basis ihres Publikationsprojekts eine spezifische poetologische Position abseits der Streitzentren Leipzig und Zürich beziehen. In den Texten der Beiträger wurde literarische Kritik nicht als Sprengkraft inszeniert, sondern als Bindemittel der Freundschaft, die sich als kollektive Autorschaft präsentierte. Die Mechanismen der zeitgenössischen Auseinandersetzungen führten freilich auch dazu, dass etwa Johann Adolph Schlegel mit dem postulierten Identifikationsmerkmal des Polemikverzichts in Konflikt geriet. Sylke Kaufmann rückt mit Gotthold Ephraim und Karl Gotthelf Lessing eine Beziehung in den Blick, die sich von der familiären Verbindung über ein Förderungsverhältnis bis zu einem Dichterbündnis entfaltet. Bereits Lessings literarischer Start war unter kräftiger Hilfe seines entfernten Verwandten Christlob Mylius erfolgt, von dem er sich später freilich bis zu einer öffentlichen Generalabrechnung entfernte. Zunächst ebenfalls aus familiärer Verpflichtung galt seine eigene Mentorschaft dem elf Jahre jüngeren Bruder. Die literarischen Arbeits- und Lebensumstände schlossen die Brüder enger zusammen, doch ein Interessensgefälle gegenüber dem Jüngeren blieb bestehen, bis dieser sich im literarischen Feld etabliert hatte. Analytische Ausblicke auf Karl Gotthelfs Lustspiele, insbesondere den Lotteriespieler (1769), illustrieren das brüderliche Dichterbündnis in seinen Debatten. Wynfrid Kriegleder macht auf die besonderen Bedingungen aufmerksam, die sich literarischen Autoren – und auch deren Bündnissen – im habsburgischen Deutschland boten. Unter anderem am Beispiel der Verbindung zwischen dem Berliner Friedrich Nicolai und dem Wiener Joseph von Retzer, die eine langjährige Allianz in ästhetischen, literaturpolitischen und weltanschaulichen Fragen schlossen, zeigt Kriegleder einerseits

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die Integration der österreichischen Autoren in die ‚Internationale der Aufklärung‘ auf. Andererseits seien, politisch bedingt, um 1790 die Besonderheiten des österreichischen Literaturbetriebs wieder verstärkt hervorgetreten: Als Folge des gescheiterten Josephinismus und der Revolution in Frankreich vollzog sich ein neuer renversement des alliances. Ehemalige Verbündete wurden zu Gegnern, ehemalige Gegner fanden plötzlich Gemeinsamkeiten. Ist das berühmteste deutsche Dichter-Bündnis – das zwischen Goethe und Schiller – eher als Freundschaft oder als strategische Allianz anzusehen? Norbert Christian Wolf möchte diese Alternative nicht in der einen oder anderen Weise auf lösen, sondern als durchaus spannungsreiche Affinität zweier unterschiedlicher, aber in mehrerer Hinsicht kompatibler und komplementärer Akteure im literarischen Feld explizieren. Das ausschlaggebende Moment und der treibende Motor dieser Verbindung sei ihr künstlerischer Mehrwert gewesen, ein Effekt aber auch die verstärkte Frontenbildung gegenüber Dritten mit einer Welle von kriegerischer Metaphorik. In das in dieser Einleitung entworfene Bildes von der Funktion von Bündnissen im 18. Jahrhundert fügt Wolf seinen Beitrag ein, indem er abschließend festhält, das von Goethe und Schiller geschlossene Bündnis sei als „Wegbereiter der bürgerlichen Gesellschaft“ zu betrachten, wenn man unter ‚bürgerlicher Gesellschaft‘ die Ausdifferenzierung unterschiedlicher und relativ autonomer sozialer Wertsphären versteht: Zum einen war es nicht allein eine Begleiterscheinung der damals einsetzenden gesellschaftlichen Autonomisierung der Künste, sondern auch deren Motor; zum anderen nahm es maßgebliche Strukturinvarianten moderner Literatursysteme vorweg bzw. etablierte relativ dauerhaft bestimmte funktionale Mechanismen des Literaturbetriebs. * Der vorliegende Band ist aus der gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts (DGEJ) und der Österreichischen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts (ÖGE 18) hervorgegangen, die vom 15. bis 17. September 2014 an der Universität Regensburg stattfand. Organisatoren der Tagung waren die drei Herausgeber in Verbindung mit Harriet Rudolph, die wertvolle Unterstützung bei der lokalen Organisation leistete. Ihr und den Geldgebern – insbesondere der Deutschen Forschungsgemeinschaft – sei an dieser Stelle erneut gedankt. Danken möchten die Herausgeber ebenso allen Beiträgern für die Ausarbeitung ihrer Vorträge und die Geduld, mit der sie die durch Gründe außerhalb unserer Verfügungsmacht verzögerte Drucklegung erwartet haben. In Zeiten der Netzwerk-Emphase sind Bündnisse ein naheliegendes Tagungsthema. Für zwei nationale Gelehrtengesellschaften, die auf mehr

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oder weniger demselben Forschungsfeld arbeiten, bietet es sich zudem an, um die eigene Tätigkeit im historischen Gegenstand zu reflektieren. Die alte Reichsstadt Regensburg, die im 18. Jahrhundert der Sitz des Immerwährenden Reichstags war, stellte dafür den passenden Ort dar, an den sich alle Teilnehmer der im besten Einvernehmen verlaufenen Tagung sicherlich gerne erinnern.

I. Theorien des Bündnisses

Axel Rüdiger

„Mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung“ Union und Konsens als politische und ökonomische Bündnismodelle im Zeitalter der Aufklärung

Verbands- und Bündniskonzepte spielen in der politischen Theorie und Ideengeschichte der Frühen Neuzeit eine wesentliche Rolle. In der Folge möchte ich Anregungen aus der Cambridge School der politischen Ideengeschichte nachgehen, die das Verhältnis von ‚Union‘, ‚Concord‘ und ‚Consent‘ als unterschiedliche Bündnismodelle in den politischen und ökonomischen Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts diskutieren. 1 Die Untersuchung beginnt mit der Vertragslehre von Thomas Hobbes, diskutiert anschließend den Zusammenhang der politischen Bündnismodelle mit den ökonomischen Problemen des öffentlichen Kredits im Verlauf des 18. Jahrhunderts und schließt mit der Kritik Edmund Burkes am Menschenrechtsmodell der Französischen Revolution.

1 Vom „Bund“ zur „Union“ Aus begriffsgeschichtlicher Perspektive wird der „Bund“ im Zuge des Aufklärungsdiskurses im Verlauf des 18. Jahrhunderts „proportional zur Auflösung der ständischen Ordnung [. . . ] zum Symbol und Einungsbegriff neuer gesellschaftlicher und geselliger Betätigung“. 2 Dabei wird gleichzeitig ein „Übergang des religiösen Erwartungsbegriffs zu einem gesellschaftlichen Organisationsbegriff “ diagnostiziert; allerdings, wie Reinhart Koselleck bemerkt, „ohne je den ‚religiösen‘ Erlösungs- und Offenbarungsgehalt ganz abzustreifen“. 3 Tatsächlich war der Bundesbegriff während der

1 Ich stütze mich hierbei insbesondere auf Istvan Hont: Jealousy of Trade. International Competition and the Nation-State in Historical Perspective. Cambridge, Mass./London 2005; Quentin Skinner: Die drei Körper des Staates. Göttingen 2012 sowie Michael Sonenscher: Before the Deluge. Public Debt, Inequality, and the Intellectual Origins of the French Revolution. Princeton / Oxford 2007. 2 Reinhart Koselleck: Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache. Stuttgart 1972. Bd. 1, S. 582 – 671, hier S. 635. 3 Ebd., S. 643.

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Reformationszeit stark föderaltheologisch aufgeladen, insofern der religiöse Bund, den Gott zuerst mit Adam und erneut mit Christus schloss, als normatives Grundmuster eines Bundes fungierte, was den „Erwartungshorizont eschatologisch, ja apokalyptisch anreicherte.“ 4 Die katholische und selbst die sich neu etablierende protestantische Kirchenorthodoxie bekämpften die befreiungstheologische Dimension der Bundesidee oder suchten diese soweit als möglich zu entpolitisieren – von protestantischer Seite spätestens dann, wenn hieraus radikal-sozialrevolutionäre Konsequenzen gezogen wurden. 5 Im Rahmen dieser Konstellation ergaben sich im 17. Jahrhundert durchaus gemeinsame Schnittmengen zwischen der theologischen Orthodoxie und den neuen im Anschluss an Hugo Grotius zunehmend säkular argumentierenden Naturrechtstheorien, deren ideelle Klammer die orthodoxe Lehre des Augustinus von der zweiten Natur des Menschen bildete. Insofern beide Positionen über Entpolitisierung und Säkularisierung die befreiungstheologischen Implikationen der Bundesidee bekämpften, schufen sie argumentative Strukturen, auf denen die Aufklärungsdebatten im 18. Jahrhundert aufbauen konnten. Ein klassisches Beispiel für diese tendenzielle Konvergenz von theologischer Orthodoxie und naturrechtlichem Rationalismus in der Bündnistheorie ist im 17. Jahrhundert die politische Vertragstheorie von Thomas Hobbes. Bekanntlich nimmt dieser für sich in Anspruch, die politische Wissenschaft zu revolutionieren, indem er die religiös-eschatologische Bundesidee durch einen naturrechtlich-rational begründeten Staatsbegriff ersetzt. 6 Gleichzeitig will er jedoch auch den antikisierenden Diskurs des neo-römischen Republikanismus mit Hilfe der neuen Lehren von Staatsräson und Souveränität modernisieren. Hobbes kontraktualistischer Staatsbegriff hebt daher nicht nur die sozialrevolutionäre Komponente der Föderaltheologie auf, er will auch den klassischen Renaissance-Republikanismus in eine moderne Form überleiten. Hobbes republikanischer Staat – „STATE“, „COMMONWEALTH“ und „CIVITAS“ werden als Synonyme verwandt – wird dabei bezeichnenderweise mit einem ‚sterblichen Gott‘ („Mortal God“) verglichen, dessen Künstlichkeit mit dem artifiziellen Charakter der politischen Beziehungen der Menschen korrespondiert. 7 Trotz dieser religiösen Analogie werden aber direkte föderaltheologische Interventionen in die Politik ebenso ausgeschlossen wie die unmittelbare Rückführung der Politik auf Natur und natürliche Phänomene, wie sie 4 Ebd., S. 640. 5 Vgl. ebd., S. 624. 6 Siehe Hont: Jealousy (wie Anm. 1), S. 17 – 22 sowie Skinner: Körper (wie Anm. 1), S. 43 – 59. 7 Thomas Hobbes: Leviathan, edited with an Introduction by J. C. A. Gaskin. Oxford / New York 1996, S. 7 und 114.

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sich gemäß der Konsenstheorie sowohl im politischen Aristotelismus, in der natürlichen Theologie als auch im neo-römischen Renaissance-Republikanismus der englischen Parlamentstheoretiker finden. In der älteren Naturrechtslehre von Grotius ist der Konsens „Ausdruck der natürlichen, schon der Anlage nach bestehenden Soziabilität, die den Menschen als animal sociale zu eigen ist.“ 8 Im consensus naturalis wird das natürliche Gesetz durch Zu- und Übereinstimmung anerkannt und als gegeben gebilligt. Dagegen verweist die Analogie des ‚sterblichen Gottes‘ auf eine besondere Eigenart von Hobbes’ Theorie, insofern sie das Festhalten am ursprünglich substantiellen Charakter des Bundeskonzeptes anzeigt, der nun aber nicht mehr unmittelbar föderaltheologisch, sondern nur noch mittelbar und analog über ein autonomes und repräsentatives Politikverständnis gedacht wird. Obwohl künstlich und sterblich, soll Hobbes neuer Staatsbegriff dennoch Qualitäten besitzen, die, wie die Allmacht, bisher Gott zugeschrieben wurden. Hobbes ursprünglichste Formel für ein solches substantielles politisches Bündnis, das nicht mehr unmittelbar theologisch begründet wird, sich aber begründungslogisch auf einer analogen Ebene bewegt, ist die „Union“. 9 Die „Union“ ist bei Hobbes eine ganz spezifische Form von Bündnis; die einzige, welche einen personifizierbaren ‚politischen Körper‘ (body politic) ausbildet, und qualitativ strikt von kontingenten und zweckmäßig-partikularen Vereinbarungen oder Zustimmungen per Konsens und Kompromiss zu unterscheiden ist, wie sie in den parlamentarischpopulistischen Republikanismustheorien zur Rechtfertigung gemischter Regierungsformen verwandt wurden. 10 „This is more than Consent, or Concord; it is a real Unity of them all, in one and the same person“, schreibt Hobbes diesbezüglich im Leviathan. 11 Zum selben Sachverhalt hatte er an anderer Stelle in den Elements of Law zuvor schon dargelegt: „Der Irrtum über die gemischte Regierung ist entsprungen aus dem Mangel an Verständnis dafür, was jenes Wort politischer Körper bedeutet und dass es nicht die Eintracht (concord), sondern die Vereinigung (union) vieler bezeichnet.“ 12 Entscheidend ist hierbei Hobbes’ Überzeugung, wonach juristische Personen niemals naturalistisch im Sinne einer vorpolitischen

8 Walter Euchner: Naturrecht und Politik bei John Locke. Frankfurt am Main 1979, S. 35. 9 Vgl. Hont: Jealousy (wie Anm. 1), S. 20 f. u. 126 – 131. 10 Zum populistisch-naturalistischen Bündnis- und Politikverständnis der englischen Parlamentsvertreter siehe Skinner: Körper (wie Anm. 1), S. 24 – 43. 11 Hobbes: Leviathan (wie Anm. 7), II, 17, S. 114. 12 Thomas Hobbes: Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen, mit einer Einführung von Ferdinand Tönnies. Essen 1926, Neudruck Darmstadt 1976, S. 195.

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Vielheit oder Menge existieren oder entstehen können. Dementsprechend kann das Volk weder als Ganzes noch in Fraktionen gespalten als eine politische Körperschaft oder juristische Person unabhängig von Repräsentation existieren, wie es die populistische Parlamentsdoktrin behauptet. Die zentrale These von Hobbes lautet daher: Eine Menge (multitude) von Menschen wird zu einer Person gemacht, wenn sie von einem Menschen oder einer Person vertreten wird und sofern dies mit der besonderen Zustimmung (consent) jedes einzelnen dieser Menge (multitude) geschieht. Denn es ist die Einheit (unity) des Vertreters, nicht die Einheit (unity) der Vertretenen, die bewirkt, daß eine Person entsteht. Und es ist der Vertreter, der die Person, und nur eine Person verkörpert – anders kann Einheit (unity) bei einer Menge (multitude) nicht verstanden werden. 13

Hobbes’ kontrakutalistischer Entwurf der ‚Union‘ abstrahiert nicht nur radikal von jeglicher Form einer gegebenen natürlichen, historischen oder, wie Hont betont, auch kommerziellen Soziabilität, wie sie alternative republikanische und naturrechtliche Bündnismodelle voraussetzen, er verbindet die allgemeine vertragliche Vereinbarung eines jeden Individuums mit jedem anderen auch noch mit der gleichzeitigen autorisierenden Delegation des Rechtes auf Selbstregierung auf eine fiktiv-allgemeine Staatsperson. 14 Der fiktive Allgemeincharakter dieser Persönlichkeit jenseits von Herrschenden und Beherrschten unterscheidet Hobbes, wie Skinner deutlich macht, sowohl von der absolutistischen Lehre als auch der populistischen Parlamentstheorie. Der durch das vertragliche Bündnis generierte politische Körper entsteht demnach nicht einfach durch den zustimmenden Konsens einer konkreten Vielheit (multitude), vielmehr transformiert sich diese ‚Multitude‘ im komplexen Vertrags- und Delegationsakt in eine ‚Union‘, deren Einheit mehr als die bloße Summe ihrer Teile ist und über einen einheitlichen Willen und eine einzige Stimme verfügt. Die politische Universalität der ‚Union‘ unterscheidet sich folglich qualitativ von der empirischen Allgemeinheit der konsensualen ‚Eintracht‘ (concord). Während eine Zustimmung (consent) oder Übereinstimmung (concord) sukzessive historisch gedacht werden kann und es ermöglicht, das Volk als ein natürliches Kollektivphänomen zu verstehen, entsteht Hobbes’ ‚Union‘ in einem besonderen logischen Moment per Vertragsschluss und Delegation logisch gleichsam ex nihilo. 15 Damit befindet sich auch diese

13 Thomas Hobbes: Leviathan. Hg. von Iring Fetscher. Frankfurt am Main 1992, I, 16, S. 125 f. Die englischen Ergänzungen nach Hobbes: Leviathan (wie Anm. 7), I, 16, S. 109. 14 Vgl. Hobbes: Leviathan (wie Anm. 7), II, 17, S. 114. 15 Vgl. Hont: Jealousy (wie Anm. 1), S. 130.

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Konstruktionslogik in einer theologischen Analogie zur göttlichen Schöpfung, was wiederum als Indiz gewertet werden kann, dass Hobbes hier eine säkularisierte Version der reformatorischen Föderaltheologie präsentiert. Die Grenze dieser Analogie wird jedoch sofort deutlich, wenn er den allgemeinen und einzigen Zweck der politischen ‚Union‘ auf den existentiellen Schutz des menschlichen Lebens reduziert. Die Sicherung des nackten Lebens und die menschliche Todesfurcht bilden zusammen die einzige rationale Begründung für den Bündnisvertrag. Als Bund verfolgt die staatliche ‚Union‘ deshalb keinerlei eschatologischen Ziele; auch das aristotelische ‚gute Leben‘ oder die sittliche und materielle Vervollkommnung werden als mögliche Vertragsgegenstände ausgeschlossen. Insofern geht die Entpolitisierung föderaltheologischer Motive soweit, wie sie nur gehen kann. Letztlich gehen aus der politischen ‚Union‘ bei Hobbes zwei Personen hervor: Einmal die juristische Person des Souveräns, auf welche die Autorität übertragen wird, im Namen der Bündnispartner zu sprechen und zu handeln. Bei der zweiten künstlich geschaffenen Person handelt es sich um den republikanischen Staat („Commonwealth“ oder „State“), der über einen einzigen Willen und eine einzige Stimme verfügt. 16 Da diese republikanische Staatsperson als Inhaber der gesetzgebenden Macht für Hobbes jedoch eine fiktive Person ist, die sowohl von den Herrschenden als auch den Beherrschten zu unterscheiden ist, muss sie notwendig von der Person des Souveräns verkörpert werden. 17 Bei dieser Konstruktion übernimmt Hobbes aus der republikanischen Theorie das Motiv der Volkssouveränität – die vertragliche Autorisierung ist konsequent demokratisch entworfen, da das Einverständnis egalitär und singulär durch alle gegeben ist. Das unterscheidet Hobbes von absolutistischen Herrschaftstheorien, wie sie etwa von Robert Filmer unter Hinweis auf das göttliche Recht der Könige vertreten wurde. Da Hobbes das Volk jedoch nicht als einen natürlichen Verband, sondern als Resultat eines explizit politischen Bündnisses begreift, das künstlich geschaffen werden muss, ist die Volkssouveränität nicht direkt möglich, wie im populistischen Parlamentsrepublikanismus, sondern nur indirekt per Repräsentation. Die Tatsache, dass Hobbes’ neuartige politische Bündnistheorie von seinen Zeitgenossen weitgehend ignoriert wurde, hat Hont vor allem auf deren Rücksichtslosigkeit und Inkompatibilität gegenüber den damaligen Kommerzdiskursen zurückgeführt. 18 Denn wie alle Formen natürlicher

16 Vgl. Skinner: Körper (wie Anm. 1), S. 52. 17 Ebd., S. 52 – 56. 18 Vgl. Hont: Jealousy (wie Anm. 1), S. 17 – 22. Ähnlich Skinner: Körper (wie Anm. 1), S. 60.

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Geselligkeit hat Hobbes auch die kommerzielle Soziabilität als mögliche Grundlage seines republikanisch-politischen Verbandsmodells verworfen. 19 Diesbezüglich und generell in seinen ökonomischen Ansichten blieb Hobbes laut Hont noch im politischen Horizont des RenaissanceRepublikanismus gefangen. Der moderne repräsentative Politikbegriff, der mit dem Konzept der ‚Union‘ inklusive indirekter Volkssouveränität und fiktiver Staatsperson formuliert war, schien daher den Bedürfnissen einer aufstrebenden Warenverkehrswirtschaft zu widersprechen, so dass beide nicht zusammengedacht werden konnten. Wenn daher Hobbes’ Staatstheorie überhaupt zur Kenntnis genommen wurde, dann zumeist nur reduktionistisch als eine extreme Form des autoritären Rechtspositivismus, die in der Regel auf schroffe Ablehnung stieß.

2 „Union“ und „socialitas“: Samuel Pufendorf Diese Wahrnehmung von Hobbes politischer Theorie ändert sich erstmals in und durch die naturrechtlichen Schriften Samuel Pufendorfs, in denen dieser sowohl das Modell der ‚Union‘ als auch das Konzept der persona ficta von Hobbes rezipiert und deren mögliche Kompatibilität mit dem kommerziellen Modus von Soziabilität nachzuweisen sucht. 20 Laut Hont wird Pufendorf damit zum eigentlichen Begründer einer post-hobbesianischen politischen Ökonomie, der dieser neuen Wissenschaft zugleich eine gewisse „sozialistische“ Perspektive hinzufügt. 21 Tatsächlich basiert Pufendorfs Theorieprojekt auf einer Reformulierung von Hugo Grotius’ gesellschaftsbasiertem Naturrechtsmodell unter Berücksichtigung der von Hobbes hieran geübten Fundamentalkritik. Wenn ein natürliches Recht, einschließlich des hierauf begründeten politischen Bündnismodells, Anspruch auf universale Geltung und Legitimität erhebt, so hatte Hobbes gegen das neoaristotelische Argument eines empirisch selbstevidenten appetitus socialis von Grotius eingewandt, dann kann es nicht von lokalen soziokulturellen Sitten und Gewohnheiten abhängen. Pufendorf gab Hobbes diesbezüglich recht, suchte nun aber gemäß dessen methodischen Vorgaben eine natürliche – im Sinne von universal gültige – Erklärung für die menschliche Vergesellschaftung zu geben. Im Ergebnis 19 Das unterscheidet Honts Interpretation grundsätzlich von besitzindividualistischen Auslegungen nach dem Vorbild von Crawford B. Macpherson: The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke. Oxford 1962. 20 Vgl. Samuel Pufendorf: De Jure Naturae et Gentium Libri VIII. Lund 1672; ders.: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Hg. u. übers. von Klaus Luig. Frankfurt am Main / Leipzig 1992. 21 Hont: Jealousy (wie Anm. 1), S. 159.

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wird das politische Modell der ‚Union‘ als moderne Reformulierung der Bundesidee aus seinem ausschließlich rechtslogischen Kontext bei Hobbes herausgelöst, wo es auf einen abstrakten Individualismus und die bloße Existenzsicherung festgelegt war, und in eine historische Naturgeschichte der Gesellschaft integriert, die über das neustoizistische Konzept der cultura vitae auch emanzipatorische, ursprünglich föderaltheologische Momente aufnahm. Das heilsgeschichtliche Motiv der Perfektionierung im Sinne einer möglichen Überwindung der korrupten menschlichen Sündennatur wird hierbei zum Prozess einer praktischen Kultivierung, deren Vervollkommnungsdynamik normative und materiale Aspekte miteinander verbindet. Damit wird der statisch-juridische Charakter der ‚Union‘ bei Hobbes zugunsten eines dynamischen und sozialintegrativen Modells überwunden. Methodisch unterscheidet Pufendorf grundsätzlich eine fiktive und eine realistische Perspektive auf den Naturzustand, wodurch er dieses Theorem in drei Richtungen pluralisiert, die die erwähnten juristischen, sozialhistorischen und bundestheologischen Motive miteinander kombinieren. 22 Anthropologisch greift er auf die alternative Figur des menschlichen Mängelwesens zurück, das durch seine natürliche Schwäche (imbecillitas) anders als die Tiere auf soziale Kooperation jenseits des bloßen Instinkts angewiesen ist und hierüber eine besondere soziokulturelle Bedürfnisstruktur entwickelt, die dem Menschen zur zweiten Natur wird. 23 Insofern entspringt das Prinzip der Geselligkeit (socialitas) nicht aus einer instinktiv-natürlichen Neigung des Menschen, vielmehr handelt es um ein reziprokes und kooperatives Strukturprinzip, das für die Erhaltung und Entwicklung der menschlichen Gattung notwendig ist. Damit muss auch der consensus naturalis, der den verschiedenen Zivilisationsstufen zugrunde liegt, nicht mehr direkt auf die natürliche Anlage des Menschen zur Gesellschaft zurückgeführt werden, sondern kann strukturell aus den sozialen Bedürfnissen abgeleitet werden. Nachdem die Menschheit verschiedene sozialhistorische Stadien (Jäger und Sammler, Hirten und Ackerbau) durchlaufen hat, tritt sie über die Einführung des Fernhandels in ein kommerzielles Zeitalter ein, worin die soziale Reziprozität des stillschweigenden Konsenses mit der vertragsrechtlichen Reziprozität der politischen ‚Union‘ prinzipiell zur Deckung kommen kann. Auf diese

22 Vgl. Pufendorf: Pflicht (wie Anm. 20), II, 1, § 6, S. 142. 23 Über die christliche Herkunft (Gregor von Nyssa) und humanistische Verwendung (Giovanni Pico della Mirandola) dieses anthropologischen Modells informiert Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt am Main, S. 225 – 234.

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Weise wird bei Pufendorf die sozio-ökonomische Dialektik von Bedürfnis und Begehren mit der politischen Dialektik von Macht und Freiheit verschränkt. Während es bei Pufendorf „absolute Pflichten“ gibt, die als solidarische und interessenlose „Pflichten der Menschlichkeit“ allein aus dem Gattungswesen und der Gleichheit menschlicher Würde mit Hilfe der Logik der Gabe abgeleitet werden, markieren die Verträge auf der Grundlage von „freiwilliger Zustimmung“ den Übergang zu „bedingten Pflichten“, die einer kommerziellen Tauschlogik folgen. 24 Im Unterschied zu Hobbes ist es bei Pufendorf deshalb möglich, dass der politische Körper nicht allein als Willensintegral, sondern auch als kooperativ-sozialer Integral der Kräfte funktioniert, so dass die politisch-rechtliche Vereinigung (union) soziale Eintracht (concord) und Zustimmung (consent) nicht ausschließt. In diesem Sinne wird der politische Körper des Staates doppelt als eine „Einheit des Willens und der Kräfte“ bestimmt. 25 Dafür sind zwei Verträge und ein Beschluss erforderlich: nach dem Vereinigungsvertrag (pactum unionis) folgt der Beschluss über die Regierungsform und abschließend ein Unterwerfungsvertrag (pactum subjectionis), in dem sich der Herrscher zur Pflege der gemeinsamen Sicherheit und Wohlfahrt sowie die Bürger zum Gehorsam verpflichtet. 26 Der hieraus entstehende Staat (civitas) ist eine künstlich-fiktive „Person im Rechtsinne, als moralische Person“. 27 Als eine solche fiktive Person ist der Staat, wie bei Hobbes, subjektiver Träger der souveränen Macht, was bedeutet, dass der konkrete Souverän lediglich den Willen der fiktiven Staatsperson repräsentiert. 28 Auf diese Weise ist gewährleistet, „dass die Person des Staates nicht bloß Träger der Souveränität ist, sondern das Mittel, um die Legitimität des Regierungshandelns langfristig zu garantieren.“ 29

3 Der politische Doublebind des Staatskredits Obwohl Pufendorf noch im späten 17. Jahrhundert die theoretischen Grundlagen für eine Synthese aus Hobbes’ ‚Union‘ und einer sozio-ökonomischen Konsenstheorie erarbeitete, dominierten im 18. Jahrhundert zunächst populistische und absolutistische Staatstheorien, die aus jeweils 24 25 26 27 28 29

Pufendorf: Pflicht (wie Anm. 20), I, 9, §§ 1 – 9, S. 86 – 89. Ebd., II, 6, § 6, S. 164. Ebd., II, 6, §§ 7 ff., S. 165. Ebd., II, 6, § 10, S. 166. Siehe hierzu Skinner: Körper (wie Anm. 1), S. 65 f. Ebd., S. 66 f.

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unterschiedlicher Perspektive die fiktive Lehre von der Staatsperson ablehnten. Dies änderte sich erst im längeren Verlauf der von England nach 1688 ausgehenden financial revolution, über die sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Institution des Staatskredits zur Finanzierung der großen europäischen Kriege zwischen England und Frankreich etablierte. 30 Zunächst schienen konstitutionelle Theorien nach dem Muster von John Lockes „government by consens“ am besten geeignet, günstige Bedingungen für den öffentlichen Kredit zu schaffen – „Consent“ wurde zum „Grundprinzip legitimer politischer Herrschaft“. 31 Die Garantie des Privateigentums, die parlamentarische Kontrolle des Budgetrechts und die Verfassung des King-in-Parliament dehnte die finanzielle Liquidität weit über die tatsächlichen Steuereinnahmen aus und erwies sich in der ersten ernsthaften Staatsschuldenkrise nach dem Platzen der South Sea Bubble (1720) als wesentlich sicherer als das absolutistische System in Frankreich. Es gab aber auch Kritiker, wie Daniel Defoe, deren Vorbehalte folgendermaßen zusammengefasst werden können: Gerade der King-in-Parliament, der glücklich gebundene Souverän, bietet die Bedingung für das Souverän-Werden eines ‚ungebundenen Kredits‘ (boundless Credit) [. . . ] und so sehr der König parlamentarisch kontrolliert ist und der Begriff des Parlaments jedem Anspruch auf ‚absolute Macht‘ widersteht, so sehr wird der vakante Platz vom öffentlichen Kredit selbst besetzt. In der wechselseitigen Begrenzung politischer Kräfte bleibt einzig der Kredit unbegrenzt, der selbst wiederum eine effiziente Bindung der Regierungsgewalten diktiert. Der mit seinen Schulden privatisierte König macht die Privaten im Kredit zur regierenden Kraft [. . . ]. 32

Die hierin angesprochene Bevorzugung der moneyed interests der Finanzgläubiger vor den landed interests, die über eine juristische Vertragstheorie (consenus positivus) abgesichert war, wurde so offensichtlich, dass die republikanische country-opposition in England dagegen Sturm lief und die juridische Legitimation des Finanzkapitalismus über die Vertragstheorie generell bekämpfte. 33 Gleichzeitig offenbarte sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein unübersehbarer Doublebind, wonach die politischen

30 Vgl. hierzu Peter G. M. Dickson: The Financial Revolution in England. A Study in the Development of Public Credit 1688 – 1765. London 1967 sowie John Brewer: The Sinews of Power. War, Money and the English State, 1688 – 1783. London 1989. 31 Raimund Ottow: Markt – Republik – Tugend. Probleme gesellschaftlicher Modernisierung im britischen politischen Denken, 1670 – 1790. Berlin 1996, S. 113. Siehe auch John Dunn: Consent in the political Theory of John Locke, in: ders.: Obligation in its historical Context. Essays in political Theory. Cambridge 1980, S. 29 – 52. 32 Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt. Zürich / Berlin 2015, S. 123. 33 Vgl. John G.A. Pocock: Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption. Frankfurt am Main / New York 1993.

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Institutionen über die Gewaltenteilung und die parlamentarische Regierung den öffentlichen Kredit zwar ermöglichten und bis zu einem gewissen Grad auch absicherten, letzterer aber ab einem bestimmten Niveau zu einer Gefahr für diese politische Ordnung und die soziale Sicherheit wurde. 34 Die von den Investoren gewünschte Form von politischer Stabilität tendierte dazu, die Tätigkeit der Regierung immer weiter einzuschränken, so dass sie langfristig ihre eigene Autonomie und die äußere Souveränität des Staates gefährdete. Damit begann der Staatskredit seine eigenen parlamentarischen Voraussetzungen in Frage zu stellen. Seinen klaren Ausdruck fand dieses Dilemma in den politischen Essays (1752) von David Hume. 35 Darin befürchtet Hume mit fortschreitender Verschuldung und wachsender Macht der neuen Finanzaristokratie den Staatsbankrott und eine allgemeine Enteignung der restlichen Bürger und plädierte deshalb für eine Reform oder gar gänzliche Beseitigung der öffentlichen Schuld. „Die Nation muß entweder den Staatskredit zerstören oder der Staatskredit zerstört die Nation. Sie können unmöglich beide weiter in der Art bestehen, in der sie bisher gehandhabt wurden“. 36 Ansonsten führe der Aufstieg des Finanzkapitalismus notwendig zur Dekadenz und zum Niedergang der traditionellen Werte der country-opposition. „Adieu allen Ideen von Hochadel, Landadel und Familie.“ 37 Aus diesen Gründen lehnt Hume sowohl das auf Konsens begründete Vertragsmodell der Whigs als auch das auf Gottesgnadentum basierende Autoritätsmodell der Torys ab und plädiert stattdessen für die direkte Begründung politischer Autorität auf dem sozialen Interesse. 38 Die Pointe besteht darin, dass der soziale Mechanismus des Marktes destruktive Leidenschaften nach demselben Muster in rationale Interessen transformieren soll, wie das in der kontraktualistischen Idee der ‚Union‘ bei Hobbes der Fall war. 39 Während das Konzept der ‚Union‘ in der schottischen Aufklärung mit Hilfe eines idealen Marktmodells nur indirekt und unabhängig von der Vertragstheorie als Therapie gegen die Auswüchse des Staatskredits umgesetzt wird, lässt sich in derselben Zeit die fortschreitende Akzeptanz

34 Siehe zu diesem finanzpolitischen Doublebind Michael Sonenscher: Before (wie Anm. 1), S. 7, 12, 40 u. 355 sowie Vogl: Souveränitätseffekt (wie Anm. 32), S. 137. 35 Vgl. hierzu ausführlich Hont: Jealousy (wie Anm. 1), S. 325 – 353. 36 David Hume: Über Staatskredit, in: ders.: Politische und ökonomische Essays. Hg. von Udo Bermbach. Hamburg 1988. Bd. 2, S. 285. 37 Ebd., S. 282. 38 Vgl. David Hume: Über den ursprünglichen Vertrag, in: ders.: Essay (wie Anm. 36), Bd. 2, S. 301 – 324. 39 Vgl. Albert Hirschmann: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Frankfurt am Main 1987, S. 39 – 51.

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von Hobbes’ fiktiver Personentheorie in der Staatsrechtslehre feststellen. 40 Dies kann mit Skinner wiederum auf den Doublebind der Staatsschuld zurückgeführt werden. Während sowohl der parlamentarische Populismus als auch der Absolutismus die Verantwortlichkeit für die Schuldenlast natürlichen Personen – entweder dem Volk oder dem Fürsten – aufbürdet und diese damit überfordert, erweist sich allein die fiktive Personentheorie in der Lage, die sozialen und politischen Probleme einer modernen Schuldenökonomie politisch zu moderieren. 41 Der Versuch, die getrennten Ansätze der Staatsrechtslehre und der politischen Ökonomie nach dem Vorbild von Pufendorf – allerdings durch den Problemhorizont der drückenden Staatschuld aktualisiert – erneut zusammenzuführen, zeichnet die politische Theorie von Jean-Jacques Rousseau aus. 42 Dieser verwarf im zweiten Discours (1755), ähnlich wie Hume, die juristische Vertragstheorie im Gefolge der whiggistischen Konsenstheorie, da hierdurch nur scheinbar republikanische, tatsächlich aber korrupte Gesellschaften nach dem Vorbild einer societas leonina (Löwengesellschaft) begründet würden, in denen das Risiko zwar von allen getragen wird, aber nur die reichen Finanziers den Löwenanteil ausgeschüttet bekämen. Nach dieser Kritik unternahm Rousseau allerdings den Versuch, im Anschluss an Hobbes ein gemeinwohlkonformes Staatsrecht auf Grundlage einer neuen Vertragstheorie zu entwerfen. Um das Recht des Stärkeren aus dem Vertragsrecht wirksam auszuschließen, genüge die konsensuale Zuoder Übereinstimmung einer heterogenen Vielheit im Sinne des Konzept der Eintracht (concord) nicht, dazu bedürfe es, wie im Du contrat social (1762) mit Hobbes argumentiert wird, einer politischen ‚Union‘, die im Konzept der volonté générale reformuliert wird. Die fiktive volonté générale ist der Träger der Volkssouveränität, wobei nicht ausgeschlossen wird, dass auf der Ebene der Regierung Mehrheitsentscheidungen und Kompromisse möglich sind. Wenn ‚Union‘ und volonté générale im ökonomischen Kontext des Staatskredits als Realabstraktionen interpretiert werden, dann verliert Rousseaus politische Theorie ein Stück weit jenen enigmatischen Charakter, der ihr in der Ideengeschichte oft zugeschrieben wird. „The most pressing reason for the European union“, so Sonenschers grundlegende Einsicht, „was, however, public debt.“ 43 Aus dieser Perspektive wirkt Rousseaus Republikanismus keineswegs mehr antik, sondern sogar höchst modern.

40 41 42 43

Vgl. Skinner: Körper (wie Anm. 1), S. 67 – 71. Vgl. ebd., S. 94 f. Vgl. Sonenscher: Before (wie Anm. 1), S. 222 – 253. Sonenscher: Before (wie Anm. 1), S. 363.

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Im Anschluss an Rousseau suchen die Reformer in Frankreich nach einem alternativen politischen System, in dem sich der öffentliche Kredit durch eine republikanische Synthese aus parlamentarischem Konsens und souveräner ‚Union‘ nicht nur stabilisieren ließe, sondern auch sozialpolitisch nutzbar gemacht werden könnte. 44 Auf diesen Voraussetzungen baut noch Emmanuel Joseph Sieyès in der revolutionsschwangeren Krisensituation von 1788 sein politisches Reformmodell für Frankreich auf. Mit Sonenscher kann dessen Grundkonzept folgendermaßen zusammengefasst werden: Union had to come first, so that concord could then have a chance to take root. What Is the Third Estate? spelled out the message. First the nation had to exercise sovereign power; then, under the aegis of the system of representative government that Sieyès had in mind, private and public prosperity could work together. 45

Um einen vollständigen Staatsbankrott zu verhindern und den öffentlichen Kredit nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern aus einem Instrument der kriegerischen Rüstung und der finanzkapitalistischen Bereicherung in eine produktive und wohlfahrtsstaatliche Institution zu transformieren, setzte Sieyès auf eine institutionelle Kombination von ‚Union‘ und ‚Concord‘. Im Mittelpunkt stand dabei die Wiederherstellung der Volkssouveränität, die unter dem Ancien Régime der Korruption der privilegierten Stände und des military-fiscal state anheimgefallen war. 46 Da der monarchische Souverän nach Sieyès offensichtlich nicht in der Lage war, die fiktive Staatsperson gegen die korrupten Partikularinteressen zu repräsentieren, bedurfte es eines grundlegenden Eingriffes in die politische Verfassung. Genau darin bestimmt Sieyès die Hauptaufgabe der Revolution. Das von ihm hierbei propagierte Konzept der ‚Nation‘ basierte auf einem kombinierten Repräsentationsmodell, das die Vorteile des Parlamentarismus mit dem Gemeinwohl effektiv verbinden sollte. 47 Obwohl Sieyès 1789 gegen einen Schuldenschnitt und für die vollständige Übertragung der Staatsschuld vom König auf die Nation eingetreten war, hatte er anschließend vergeblich gegen die partielle Auszahlung der

44 „Concord might be required for keeping the public faith, but union might still be required for unleashing state power. [. . . ] Adding a debt to a state seemed to call for both.“ (Ebd., S. 19). 45 Ebd., S. 19. 46 „Instead of the military-fiscal state of the eighteenth century, the system that Sieyès imagined looks somewhat more like the welfare-warfare state of more recent times.“ (Ebd., S. 88 f.) Hont beschreibt Sieyès als einen „market socialist in the tradition initiated by Pufendorf ’s revision of Hobbes in the seventeenth century.“ (Hont: Jealousy (wie Anm. 1), S. 134). 47 Vgl. Sonenscher: Before (wie Anm. 1), S. 35.

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Gläubiger der Staatsschuld gestimmt, die von der Mehrheit der neuen Nationalversammlung über die Enteignung sowie den Verkauf des Kirchenbesitzes einschließlich der Ausgabe von Pfandscheinen (Assignaten) betrieben wurde. Dieser ursprüngliche Sündenfall der Revolution in ihrer ‚liberalen‘ Frühphase setzte in Frankreich nicht nur eine verhängnisvolle Eskalationsdynamik frei, sie rief mit Edmund Burke gleich zu Anfang auch einen radikalen Kritiker auf den Plan.

4 Edmund Burke: von der „elenden Personentheorie“ zur ‚heiligen Allianz‘ Tatsächlich entzündete sich am Faktum der Enteignung und des Verkaufs der Kirchengüter die berühmte Fundamentalkritik Burkes in den bereits 1790 publizierten Reflections on the Revolution in France. Die Heftigkeit und Breite dieser Polemik musste das Publikum damals jedoch überraschen, da Burke als aktiver Whig-Politiker vielfach die Korruption im politischen Betrieb des Vereinigten Königreichs bekämpft und sogar die Unabhängigkeitsrevolution der nordamerikanischen Kolonien unterstützt hatte. 48 Zudem war er ein klassischer Anhänger der freien Repräsentation im Parlament, weshalb er gegen das Konzept des imperativen Mandats auf die logisch-politische Notwendigkeit einer allgemeinen oder nationalen Dimension von Repräsentation bestand. 49 Obwohl die Vertreter von einem konkreten und lokal beschränkten Kreis von Individuen gewählt werden, sind sie laut Burke nach der Wahl nicht dem konkreten Willen ihrer Wähler, sondern allein dem universalen Gemeinwohl verpflichtet, das sich allein über das Gewissen der Repräsentanten artikuliert. Repräsentative Politik auf dieser Grundlage muss, um legitim zu sein, immer 48 Pocock legt beim Resümee über Burkes politische Positionen darauf wert: „that Burke was a defender of Whig aristocratic government; that Whig government was identified with the growth of commercial society; that Burke saw the Revolution as a challenge of the Whig order, arising within the conditions that it made possible; and that he employed the language and categories of political economy in order to analyse the revolutionary threat and respond to it. He did not do so, however, without using language which revealed tensions within Whig society and its ideology and furthered changes in the ways in which that language was normally used.“ (John G.A. Pocock: The Political Economy of Burke’s Analysis of the French Revolution, in: The Historical Journal 25/2 (1982), S. 331 – 349, hier S. 332). 49 „[D]as Parlament ist die beratende Versammlung einer Nation, die ein Interesse hat – das des Ganzen. Dort sollen keine lokal beschränkten Zwecke verfolgt werden, noch sollen dort lokale Vorurteile die Führung übernehmen, sondern allein das allgemeine Wohl, das aus der allgemeinsten Vernunft des Ganzen entspringt.“ (Zit. n. Wilhelm Hofmann / Gisela Riescher: Einführung in die Parlamentarismustheorie. Darmstadt 1999, S. 92)

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gemeinwohlorientiert sein – andernfalls würde es sich sogar um eine extreme Form von freiwilliger Knechtschaft handeln –; sie muss deshalb auch zwingend mehr als die bloße Aggregation von Einzelinteressen sein, die allein durch Konsens zusammengehalten werden. Das rückt die freie Repräsentation aber eindeutig in die logische Nähe zur ‚Union‘. Von hier aus scheint die Kluft von Burkes repräsentationstheoretischen Ansichten zu Sieyès Entwurf einer repräsentativen Synthese aus ‚Union‘ und ‚Konsens‘ nicht unüberwindlich zu sein. Trotzdem wird gerade Sieyès für Burke zum Symbol von Korruption und revolutionärer Destruktion. Wie konnte es dazu kommen? Offensichtlich sah Burke in der Enteignung und dem Verkauf der Kirchengüter an private Finanzspekulanten gerade jenes Horrorszenario realisiert, vor dem Hume in seiner Jeremiade über den öffentlichen Kredit so eindringlich gewarnt hatte. Für Burke war dieser Vorgang der klare Beweis dafür, dass die Rede von den Menschenrechten und der gemeinwohlbasierten Nation nur rhetorische Fassade war, um dahinter die Interessen der Finanzoligarchie gegen die legitime politische Ordnung und das Eigentumsrecht der Bürger zu exekutieren. Im Anschluss an Humes Vertragskritik – und stillschweigend auch an Rousseaus zweiten Discours – greift er bei der Kritik der Menschenrechte auf das trügerische Motiv des ‚leoninschen Vertrags‘ zurück, der unter einer juristisch-egalitären Oberfläche zu einer verbrecherischen ‚Löwengesellschaft‘ (societas leonina) führt, in der sich eine skrupellose Minorität völlig legal bereichert und die gesamte politische Macht an sich reißt. Hinter den neuen, vermeintlich universalistischen Institutionen stecke daher in Wahrheit ein korruptes Bündnis zugunsten der Finanzkapitalisten, weshalb Burke von einer reinen „Agiotierkonstitution“ („stock-jobbing constitution“) spricht. 50 Der Erfolg dieser vermeintlichen Revolution sei wiederum nur möglich gewesen über ein „Bündnis, welches die Gelehrten in Frankreich mit den Geldbesitzern schlossen“, dessen Zweck die Manipulation der öffentlichen Meinung war. 51 Neben der Subversion des christlichen Glaubens hätten die vorgeblichen Aufklärer die „elende Personentheorie“ im Zusammenhang mit einer „Finanzwissenschaft der Philosophen“ propagiert, die nun in den „Akademien des Palais Royal und der Jakobiner“ als eine neue „Rechenkunst des Betruges“ gelehrt werde. 52 Dabei mischt sich Burkes Ablehnung der staatsrechtlichen Personentheorie mit Humes Theorie, wo-

50 Edmund Burke / Friedrich Gentz: Über die Französische Revolution: Betrachtungen und Abhandlungen, Hg. von Hermann Klenner. Berlin 1991, S. 120. 51 Ebd., S. 221. 52 Ebd., S. 211 u. 382.

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nach sich „Regierung [. . . ] ausschließlich auf Meinung (gründet)“. 53 Die „Geldbesitzer und die Gelehrten“ hätten die Wut des Volkes „mit ausstudierter Kunst“ auf die Kirche gelenkt, um „das Interesse der Geldbesitzer und Staatsgläubiger“ auch gegen den Landadel durchzusetzen. 54 Realpolitisch betrachtet stecke hinter der Französischen Revolution daher kein anders Ziel als einen „Krie[g] zwischen den alten Landbesitzern und den neuen Geldbesitzern“ zu entfesseln und für letztere über die Aneignung des Grundeigentums zu gewinnen. 55 Der eigentliche Konflikt verlaufe demnach nicht zwischen dem Volk und seinen Unterdrückern, sondern zwischen zwei Fraktionen innerhalb der privilegierten Klasse. Obwohl Burke als aktiver Whig-Politiker kein Gegner der commercial society ist, geht deren Akzeptanz aber keineswegs so weit, einem kreditgetriebenen Kapitalismus freie Hand in Politik und Gesellschaft zu lassen. In den Reflections verteidigt er die politische und sittliche Vorherrschaft der natürlichen Aristokratie des Landadels und der Kirche gegen den kommerziellen und finanziellen Utilitarismus, der für sich genommen die Tendenz besitze, die soziokulturellen Grundlagen menschlicher Ordnung aufzulösen. Entscheidend ist dabei, dass Burke hierfür im Unterschied etwa zu Hume wieder auf starke föderaltheologische Grundmotive zurückgreift, die bei ihm aber keinerlei sozialrevolutionäre Funktion mehr haben, sondern nun christlich konservativ gewendet werden. Mit diesem Rückgriff auf die christlich-theologische Bundesidee kann Burke die „bürgerliche Gesellschaft“ doch noch als „große(n) Kontrakt“ interpretieren, der aber ewig über den profanen und befristeten Privatverträgen steht. „Jeder Grundvertrag einer abgesonderten Staatsgesellschaft ist nur eine Klausel in dem großen Urkontrakt, der von Ewigkeit her alle Weltwesen zusammenhält“. 56 Aus dieser neuchristlichen Perspektive wäre es einfach „frevelhaft, den Staatsverein wie eine alltägliche Kaufmannssozietät [. . . ] zu betrachten“. 57 Trotz dieser Fundamentalkritik muss sich Burke fragen lassen, was er in einer Situation des drohenden Staatsbankrotts für Alternativen bereithält, die den Franzosen einen Ausweg aus ihren Dilemma ermöglicht hätten. 58

53 David Hume: Über die ursprünglichen Prinzipien der Regierung, in: ders.: Essays (wie Anm. 36), S. 25 – 30, hier S. 25. 54 Burke / Gentz: Revolution (wie Anm. 50), S. 221. 55 Ebd., S. 216 f. 56 Ebd., S. 193. 57 Ebd., 193. 58 Zu den finanzpolitischen Ansichten Burkes siehe zuletzt André Kahl / Harald Bluhm: Verfassung, Ökonomie und Staatsfinanzierung im Denken von Edmund Burke, in: Fiskus – Verfassung – Freiheit. Politisches Denken der öffentlichen Finanzen von Hobbes bis heute. Hg. von Sebastian Huhnholz. Baden-Baden 2018, S. 135 – 57.

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Zunächst betont er, dass sich „keine Disposition über das Staatsvermögen denken (lässt), die unbeschränktere Macht voraussetzt als die Verpfändung der öffentlichen Einkünfte.“ 59 Es ist für Burke also nicht, wie oberflächlich angenommen werden könnte, der Steuerstaat, der ein Höchstmaß an souveräner Gewalt voraussetzt, sondern der Staatskredit. Auch wenn der Kredit zunächst vielleicht aus politischer Schwäche aufgenommen wird, so treibt er bei seiner expansiven Verstetigung notwendig zu einer fortschreitenden Entgrenzung von Macht an. Diese Entwicklung mündet, wie schon von Hume beschrieben, entweder in eine Finanzdiktatur oder eine soziale Revolution – in Frankreich diagnostiziert Burke 1789/90 nun allerdings beides gemeinsam. Wenn sich Burke über den politischen Doublebind des Staatskredits vollständig bewusst ist, so müsste sein politisches Programm eigentlich auch auf eine Synthese von parlamentarischem Konsens und politischer ‚Union‘ fortschreiten, was sich in seiner Verteidigung der freien Repräsentation auch anzudeuten scheint. Da Burke die fiktive Personentheorie des Staatsrechts aber ablehnt, bleibt als alternative Variante nur der ‚heilige Bund‘ der Föderaltheologie übrig. Vor dasselbe Problem wie Sieyès gestellt, gibt Burke formal somit eine ähnliche, aber inhaltlich-politisch höchst verschiedene Antwort. Anstatt für eine repräsentativ-demokratische Lösung des Problems plädiert er für die Revitalisierung der politischen Theologie, die die bürgerliche Gesellschaft als ‚heilige Allianz‘ entwirft. Auch wenn Burke dabei von befreiungstheologischen Momenten nichts mehr wissen will, so kommt er bezüglich der öffentlichen Verschuldungsproblematik doch immerhin zu einigen bemerkenswerten Folgerungen. So gilt es Burke für ausgemacht, „daß die ersten und ursprünglichen Ansprüche auf Schutz vonseiten der bürgerlichen Gesellschaft nicht den Forderungen der Staatsgläubiger, sondern dem Eigentum der Bürger gebühren.“ 60 Auf die Frage nach der finanziellen Verantwortlichkeit für die Schulden antwortet er mit der polemischen Gegenfrage: „Warum bemächtigte man sich nicht der Güter aller Generalkontrolleurs? Warum nicht der Güter aller der Minister, Finanzbeamten und Bankiers, die sich bereichert hatten, unterdes daß die Nation durch ihre Operationen und durch ihre Ratschläge verarmte?“ 61

59 Burke / Gentz: Revolution (wie Anm. 50), S. 214. 60 Ebd., S. 212 f. 61 Ebd., S. 223.

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5 Fazit Der kurze Durchlauf durch die politische Ideengeschichte der Bündniskonzepte in der Frühen Neuzeit im Spannungsfeld von theologischem Bund, naturrechtlicher Konsenstheorie sowie dem politischen Konzept der ‚Union‘ sollte gezeigt haben, wie fruchtbar sich die kontextualisierende Methode der Cambridge School auf dieses Problemfeld anwenden lässt. Insbesondere die Konfrontation der Theoriegeschichte mit den realpolitischen Problemen des Staatskredits und dem Aufkommen einer Klasse von politisch immer einflussreicheren Staatsgläubigern, wie sie in den Arbeiten von Hont, Sonenscher und Skinner meisterhaft entwickelt wurde, erlaubt überraschend neue Einsichten, die nicht nur von historischem Wert sind.

Daniela Ringkamp

Moralische und politische Verbindungen Kants Theorie des Bündnisses zwischen den Rechtsgrundsätzen der Vernunft und politischer Willkürfreiheit 1 Philosophie – Feindseligkeit gegenüber der Politik? Die Ausnahme Kant Auf die Frage, wie der Unterschied zwischen politischer Theorie und Philosophie zu bestimmen sei, antwortete Hannah Arendt, die sich bekanntlich selbst als politische Theoretikerin und nicht als Philosophin betrachtete, zu Beginn des Interviews mit Günter Gaus, ausgestrahlt am 28. Oktober 1964 im ZDF, mit einem Verweis auf das Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Politik, das die Philosophie seit ihren Anfängen in der Antike kennzeichne. Bei den meisten Philosophen, konstatiert Arendt, gebe es eine „Art von Feindseligkeit gegen alle Politik.“ 1 Von diesem Urteil nimmt sie interessanterweise Immanuel Kant, der sich erst seit seinem 60. Lebensjahr mit Fragen der Politik auseinandergesetzt hat, explizit aus. Dies verwundert zunächst: Während der Hochphase seines Schaffens in den 1780er Jahren publiziert Kant seine einschlägigen Werke zur Moralphilosophie sowie die nicht weniger einschlägige Kritik der reinen Vernunft in ihrer ersten und zweiten Auf lage. 2 Der Essay Beantwortung der Frage: 1 Siehe dazu das Transkript des Interviews unter https://www.rbb-online.de/zurperson/ interview _ archiv / arendt _ hannah . html, letzter Zugriff: 06. 09. 2018. Nicht direkt eine Feindseligkeit, aber zumindest eine gewisse Skepsis gegenüber der Politik lässt sich z. B. in Platons Forderung nach einer Herrschaft der Philosophen in der polis erkennen, und auch Aristoteles, der den Menschen zwar als ein zoon politikon, also als ein politisches Lebewesen, das auf die polis hin ausgerichtet ist, begreift, wertet im letzten Buch der Nikomachischen Ethik die kontemplative, betrachtende Lebensart gegenüber der politischen auf. Vgl. Platon: Politeia. Buch V. Frankfurt am Main 1991, S. 473c sowie Aristoteles: Nikomachische Ethik. Buch X. Stuttgart 2017, S. 1177b. Kant grenzt sich in der Friedensschrift direkt von Platon ab, indem er zwar fordert, dass die „Maximen der Philosophen über die Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens [. . . ] von den zum Kriege gerüsteten Staaten zu Rate gezogen werden [sollen]“, es aber als nicht wünschenswert betrachtet, dass „Könige philosophieren oder Philosophen Könige würden.“ (Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Hamburg 1992, S. 368 – 369) Die Angabe der Seitenzahlen beziehen sich bei allen genannten Texten von Kant auf die Paginierung der Akademie-Ausgabe. 2 Die erste Auf lage der Kritik der reinen Vernunft erschien 1781, die zweite Auf lage 1787. Die zentralen moralphilosophischen Schriften Kants aus den 1780er Jahren umfassen die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) sowie die Kritik der praktischen Vernunft (1788).

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Was ist Aufklärung?, erschienen 1784 in der Berlinischen Monatsschrift, mit dem Kant auf einen Beitrag des Theologen Johann Friedrich Zöllner reagiert, sowie die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1785), die ebenfalls politische Fragen diskutiert, sind – verglichen mit Kants Hauptwerken zur theoretischen Philosophie und zur Moralphilosophie – von eher geringem Umfang. Bei einer genaueren Betrachtung der Spätphilosophie Kants zeigt sich jedoch, dass Arendts Urteil durchaus gerechtfertigt ist. Insbesondere in den 1790er Jahren setzt sich Kant mit dezidiert politischen Fragen auseinander. Zentral für diese politischen Spätschriften sind vor allem die Werke Vom Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793/1796) 3 und Zum ewigen Frieden (1795) sowie die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre, der erste Teil der Metaphysik der Sitten (1797). Vor allem in der Friedensschrift und der Rechtslehre zeigt Kant dabei eine äußerst differenzierte Auseinandersetzung mit den politischen Entwicklungen und revolutionären Umbrüchen seiner Zeit. In diesem Beitrag möchte ich Kants Hinwendung zum Politischen durch eine Analyse der Theorie der republikanischen Verfassung und des Völkerbundes aus den Schriften Zum ewigen Frieden und Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre verdeutlichen. So werde ich argumentieren, dass das von Arendt bemerkte Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Politik Kants politische Philosophie prägt. Um dies zu erläutern, greife ich Kants Unterscheidung zwischen der republikanischen Verfassung als Rechtssystem für einen Gesellschafts- bzw. Friedensbund und deren Äquivalent auf zwischenstaatlicher Ebene, dem Völkerbund, auf, den Kant im Gegensatz zur republikanischen Verfassung als lose Assoziation von Staaten mit Bündnischarakter begreift. Ziel ist es, durch einen Vergleich beider Vergemeinschaftungsmodelle und der sich daraus ergebenen Diskrepanzen die Entwicklungsschritte einer zweiteiligen Bündnistheorie zu skizzieren, die in Kants politischer Philosophie angelegt ist und sowohl republikanische Elemente der Vergemeinschaftung als auch Strukturen einer lockeren und freien Vergesellschaftung der Staaten umfasst. Nach einigen allgemeinen Überlegungen werde ich im zweiten Teil Kants Theorie des bürgerlichen Gesellschaftsbundes vorstellen, wie er sie in der Friedensschrift und der Rechtslehre entwirft. In einem dritten Schritt wird der bürgerliche Gesellschaftsbund mit Kants Theorie des Völkerbundes in Relation gesetzt. In einer abschließenden Betrachtung soll gezeigt werden, inwiefern Kant politische Situationsbedingungen berücksichtigt,

3 Die Jahreszahlen beziehen sich auf die erste und zweite Auf lage.

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die den normativen Gehalt der von ihm ausgewiesenen Modelle zwar schwächen, aber durchaus anschlussfähig an aktuelle politische Strukturen und Entwicklungen sind.

2 Bund und Bündnis Immanuel Kants Theorie eines internationalen Friedenszustandes, mit durchaus pathetischen Worten auch als ‚ewiger Friede‘ tituliert, ist eine Theorie des Rechtsfriedens, die darauf abzielt, den Modus der Austragung zwischenstaatlicher Konflikte juridisch zu regulieren. 4 Konzeptionell getragen wird Kants Friedenstheorie von den genannten Vergemeinschaftungsformen des bürgerlichen Gesellschaftsbundes und des Völkerbundes, die verdeutlichen, dass die Bedingungen eines internationalen Rechtsfriedens in der Kombination inner- und zwischenstaatlicher Rechtsetzungsprozesse zu suchen ist. Dennoch stellt der Völkerbund keine lineare Übertragung des bürgerlichen Gesellschaftsbundes auf zwischenstaatliche Verhältnisse dar. Beide Vergemeinschaftungsmodelle stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, schließen sich in einzelnen Aspekten sogar aus. Denn auf der einen Seite legitimiert Kant mit der republikanischen Verfassung einen bürgerlichen Gesellschaftsbund, der eine idealtypische Assoziation von Staatsbürgern innerhalb eines politischen Gemeinwesens markiert und starke moralphilosophische Anleihen macht, was sich auch in Kants Begriff der Freiheit verdeutlicht, wie er ihn im ersten Definitivartikel der Schrift Zum ewigen Frieden einführt. Auf der anderen Seite jedoch weist der Völkerbund auf zwischenstaatlicher Ebene einen strategischen Charakter auf, der die Form eines souveränitätserhaltenden, losen Bündnisses annimmt, aber nicht die eines Bundes als Solidargemeinschaft verschiedener Staaten, die sich zu umfassenden gemeinsamen Verrechtlichungsschritten bekennen. Der Begriff des Bündnisses benennt damit eine lockere Staatenassoziation, die auf geringeren Solidaritätsressourcen aufbaut und lediglich dem strategischen Ziel dient, Kriege zu vermeiden, jedoch beständig mit der Gefahr eines Kriegsausbruchs rechnen muss. Der vorliegende Beitrag betont die Integration empirisch-situativer Bedingungen in die Konzeption des kantischen Völkerrechts und unterstützt Ansätze, die die Eigenständigkeit von Kants politischer Philosophie – insbesondere auf der Ebene der internationalen politischen Beziehungen – im Verhältnis zur Moralphilosophie betonen. Diesen Überlegungen zufolge unternimmt Kant in seiner politischen Philosophie eine Regulierung von 4 Siehe dazu z. B. Georg Geismann: Pax Kantiana oder der Rechtsweg zum Weltfrieden. Würzburg 2012, S. 197.

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Rechtsverhältnissen unter nichtidealen Bedingungen. Kant, so die Auffassung von Christoph Horn, orientiert sich nicht an einem „normative[n] Optimum“ 5, sondern berücksichtigt die empirischen Existenzbedingungen insbesondere von Staaten, aber auch von einzelnen Individuen als strategisch handelnden Akteuren, die auch durch ihre Willkürfreiheit geleitet werden. Inwiefern tatsächlich vermehrt politisch-situative Überlegungen in Kants politische Philosophie einfließen, soll in diesem Beitrag verdeutlicht werden; bereits der Aufbau der Friedensschrift, die sich konzeptionell an politischen Verträgen orientiert, und der Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung zeigen die Relevanz politischer Rahmenbedingungen für Kants politische Philosophie. 6

3 Der bürgerliche Gesellschaftsbund Kants Schrift Zum ewigen Frieden reiht sich ein in eine Tradition kontraktualistischer Theorien, die das Vertragsmodell als Ausgangspunkt für die Legitimation zumeist innerstaatlicher Rechtsverhältnisse wählen und versuchen, politische Verhältnisse zu begründen, die unterschiedliche normative Maßstäbe garantieren – das Gemeinwohl, die bürgerliche Freiheit, Sicherheit und Selbsterhaltung der Staatsbürger sowie den Schutz des Eigentums. Obwohl sich sein kontraktualistischer Ansatz von den klassischen Vertragstheorien unterscheidet und einige konzeptionelle Aspekte bei ihm weniger beleuchtet werden, 7 thematisiert auch Kant die durch einen Vertrag gestiftete Etablierung einer bürgerlichen Ordnung, für die 5 Christoph Horn: Nichtideale Normativität. Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie. Berlin 2014, S. 280. 6 Die Friedensschrift teilt sich in sechs Präliminarartikel, drei Definitivartikel, zwei Zusätze und zwei Anhänge. Die Definitivartikel enthalten die zentralen Grundsätze der Verrechtlichung inner- und zwischenstaatlicher Verhältnisse sowie regulieren mit dem Weltbürgerrecht das Aufeinandertreffen zwischen Staaten und Menschen, die keine Bürger des entsprechenden Staates sind. Die Präliminarartikel, von Kant in leges latae und leges strictae unterteilt, formulieren Vorbedingungen von Friedensverträgen, z. B. das Verbot des Vererbens von Staaten oder das Verbot des Bestehens von Berufsheeren. Die Zusätze und Anhänge enthalten neben geschichtsphilosophischen Ausführungen zur Garantie des Friedens u. a. konkrete Überlegungen zum Verhältnis von Moral und Politik, so fordert Kant z. B. die sogenannte „Form der Publizität“ ein, der jeder Rechtsanspruch genügen muss. Nur durch eine öffentliche Kundmachung könne über die Gerechtigkeit eines Rechtsanspruches geurteilt werden. Vgl. dazu Kant: Frieden (wie Anm. 1), S. 381. Anlass zur Publikation der Friedensschrift war möglicherweise der Sonderfrieden von Basel, mit dem Preußen im April 1795 aus den Revolutionskriegen austrat. Vgl. dazu Otfried Höffe: Einleitung: Der Friede – ein vernachlässigtes Ideal, in: ders. (Hg.): Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Berlin 2004, S. 5 – 29, hier S. 5. 7 Klassische kontraktualistische Theorien setzen sich aus den drei Komponenten des Naturzustandes, des Vertrags und des durch den Vertrag gegründeten bürgerlichen

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der Begriff der Freiheit zentral ist. Fundament des kantischen Kontraktualismus ist die subjektive Freiheit des Individuums, deren Bedingungen und Möglichkeiten nicht nur in der Moralphilosophie entwickelt werden, sondern die auch politische Verhältnisse normiert. Legitime Staatsverhältnisse können nur durch einen Kontrakt gestiftet werden, der den Übergang vom Naturzustand in den bürgerlichen Zustand markiert und in den alle Individuen als diejenigen Instanzen einwilligen, die den im Staat gegründeten Gesetzen unterstehen werden. So hält Kant im ersten Definitivartikel der Friedensschrift, der den bürgerlichen Gesellschaftsbund begründet, fest: Die erstlich nach Prinzipien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen); zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen), und drittens die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung, – die einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muß, ist die republikanische. 8

Bereits hier zeigt sich eine erste Spannung zwischen den Prinzipien des bürgerlichen Gesellschaftsbundes und dessen Entstehungsbedingungen. Denn Kant konstruiert den Übergang zwischen Naturzustand und bürgerlichem Zustand als eine Konstellation des Zwangs: Der Austritt aus dem Naturzustand und der Zusammenschluss einzelner Menschen zur bürgerlichen Gesellschaft geschehen nicht freiwillig, sondern durch Nötigung. 9 Weil sich der Naturzustand aus empirischer und vernunftrechtlicher Perspektive als defizitär erweist, ist jedes Individuum dazu befugt, diejenigen, die sich weigern, aus der „Gesetzlosigkeit“ 10 in einen bürgerlichen Rechtszustand einzutreten, dazu zu nötigen, den Naturzustand zu verlassen. Diese Nötigung legitimiert sich durch die Aufrechterhaltung der Autonomie des Einzelnen, die im Naturzustand nicht gewährleistet ist: Erst im bürgerlichen Rechtszustand kann die vernunftrechtliche Freiheit als bürgerliche

Zustandes zusammen. Grundlegend ist, dass mit dem Vertrag ein als defizitär gekennzeichneter Naturzustand verlassen und ein bürgerliches Gemeinwesen gegründet wird, das die Defizite des Naturzustandes überwindet. Kontraktualistische Theorien sind daher als Staatsbegründungstheorien zu betrachten. Im Gegensatz zu anderen Kontraktualisten wie z. B. Thomas Hobbes oder John Locke verzichtet Kant jedoch auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Naturzustand, auch der Verweis auf einen Vertrag findet sich bei ihm nur gelegentlich. Stattdessen basiert der kantische Kontraktualismus auf Strukturmerkmalen der praktischen Vernunft, die den Rekurs auf kontraktualistische Komponenten zugunsten eines reinen Prozeduralismus obsolet machen. Siehe dazu Wolfgang Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt 1994, hier S. 182 u. 189. 8 Kant: Frieden (wie Anm. 1), S. 349 – 350. 9 Vgl. ebd., S. 349 Anm. 10 Ebd.

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Freiheit adäquat gesichert werden, und diesem Freiheitspostulat ist auch die republikanische Verfassung verpflichtet. Die Freiheit begründet auch das zentrale strukturelle Merkmal der republikanischen Verfassung, das Kant in der Trennung von Staatsform und Regierungsart sieht. Die Staatsform benennt die Zahl der Herrschenden; so kann die Herrschaft entweder an eine Person, an einige oder an alle gehen, die entsprechenden Staatsformen sind eine Monarchie, eine Aristokratie oder eine Demokratie. Für das Volk jedoch ist weniger die Staatsform, sondern vielmehr die Regierungsart eines Staates von Bedeutung, die entweder republikanisch oder despotisch sein kann. Den Despotismus bestimmt Kant als Prinzip „der eigenmächtigen Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst gegeben hat, mithin der öffentliche Wille, sofern er von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird.“ 11 Im Gegensatz dazu orientiert sich der Republikanismus nicht am Privatwillen der oder des Herrschenden, sondern am Prinzip der Gewaltenteilung oder, wie Kant es nennt, „der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden“ 12. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre von 1797 hält Kant dezidiert fest, dass die legislative, also die gesetzgebende Gewalt „nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen“ 13 könne. Die exekutive Gewalt, die Regierung, muss den vereinigten Willen des Volkes berücksichtigen und dafür Sorge tragen, dass nur solche Staatspraktiken umgesetzt werden, die dem Volkswillen nicht widersprechen – nur so ist gewährleistet, dass die einzelnen Individuen als Untertanen nur denjenigen Gesetzen unterstehen, die sie als Staatsbürger aufgestellt haben, so dass ihre bürgerliche Freiheit berücksichtigt wird. Die Orientierung am vereinigten Volkswillen erklärt auch die Friedensfunktionalität der republikanischen Verfassung, denn wenn „die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ‚ob Krieg sein solle oder nicht‘, so ist nichts natürlicher als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten [. . . ], sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“ 14. Dieses Szenario der innerstaatlichen Vergesellschaftung, das durch die Trennung von Staatsform und Regierungsart eine gewisse Dynamik birgt, wird von Kant jedoch durch einen zentralen Aspekt eingeschränkt. Zunächst scheint nahezuliegen, dass republikanische Verhältnisse nicht an eine bestimmte Staatsform gebunden sind, sondern in Monarchie, Ari-

11 Ebd., S. 352. 12 Ebd. 13 Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten Erster Teil. Hamburg 1998, S. 313. 14 Kant: Frieden (wie Anm. 1), S. 351.

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stokratie und Demokratie gleichermaßen umgesetzt werden können. Zugleich jedoch gilt für Kant, dass eine republikanische Regierungsart mit dem Prinzip der Repräsentation des Volkswillens einhergehen muss. Die Repräsentation des Volkswillens durch den oder die Herrscher wird bestmöglich erreicht, wenn die Anzahl der Herrschenden so gering wie möglich ist: „Man kann daher sagen: je kleiner das Personale der Staatsgewalt (die Zahl der Herrscher), je größer dagegen die Repräsentation derselben, desto mehr stimmt die Staatsverfassung zur Möglichkeit des Republikanism“. 15 Betrachtet man diesen Verweis auf die Repräsentation des Volkswillens, so wird schnell deutlich, dass sich Kant, obwohl er sich am gesetzgebenden Willen des Volkes orientiert, keinesfalls als Demokrat versteht: In einer Demokratie sieht Kant nicht nur das Prinzip der Gewaltenteilung verletzt, sondern auch das der bestmöglichen Repräsentation des Volkswillens, der nicht einmütig dargestellt wird, sondern in Mehr- und Minderheiten zerfällt. 16 Wird das Prinzip der Repräsentation berücksichtigt, so rückt vielmehr die Monarchie – ein Herrscher, der den Volkswillen repräsentiert – als bestmögliche Staatsform in den Vordergrund und wird von Kant auch als solche ausgezeichnet. Diese Aufwertung des Republikanismus als Repräsentationssystem und die Auszeichnung der Monarchie als beste Staatsform führen letztendlich zu einer moralphilosophischen Überformung der konkreten politischen Willensbildung. Denn Kant geht keinesfalls davon aus, dass in einem bürgerlichen Gemeinschaftsbund, der auf einem Repräsentativsystem aufbaut, das Volk tatsächlich nach seinem Willen befragt wird. Der Verweis auf den vereinigten Willen des Volkes ist vielmehr als idealtypische Normierungsgrundlage zu verstehen, die der Regent zu berücksichtigen hat. Denn Kant gilt es als eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Untertan, sofern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammengestimmt habe. 17

15 Ebd., S. 353. 16 In der Demokratie gilt, dass „alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht miteinstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist.“ Zudem ist in einer Demokratie der Gesetzgeber (das Volk) gleichzeitig Vollstrecker seines Willens, was die Trennung von exekutiver und legislativer Gewalt außer Kraft setzt. Vgl. dazu Kant: Frieden (wie in Anm. 1), S. 352. 17 Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Hamburg 1992, S. 297.

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Die Vernunft als maßgebliche Instanz nicht nur für die Grundlage der Moral, sondern auch als Fundament einer legitimen Regierungsart fordert die Orientierung politischer Herrschaft am Volkswillen ein, ohne jedoch eine konkrete Volksgesetzgebung festzuschreiben. Die Ermittlung des Volkswillens erfolgt vielmehr im Modus des ‚als ob‘; sie basiert in Anlehnung an den kategorischen Imperativ auf einem formalen Universalisierungstest, in dem der Herrscher den Volkswillen lediglich antizipiert. Ist ein Gesetz so beschaffen, dass das Volk diesem idealiter zustimmen könnte, so ist es Pflicht, das Gesetz anzunehmen, und das auch dann, so Kant, wenn „das Volk jetzt in einer solchen Lage oder Stimmung seiner Denkungsart wäre, daß es, wenn es darum befragt würde, wahrscheinlicherweise seine Beistimmung verweigern würde.“ 18 Kant geht es also nicht um eine direkte Befragung des Volkes zur Ermittlung des Volkswillens – ein solches Vorgehen birgt nicht nur die genannte Gefahr, dass sich der Volkswille in Mehrheits- oder Minderheitswillen spalten kann, 19 sondern auch diejenige, dass das Volk, selbst im Fall einmütiger Entscheidungen, Gesetze beschließt, die mit den Grundlagen der Vernunft nicht übereinstimmen. Der Gesetzgeber muss daher lediglich den Willen des Volkes antizipieren und solche Entscheidungen treffen, die dem einmütigen Willen des Volkes als Vernunftwillen entsprechen, der deswegen nicht falsch sein kann. Indem Kant auf den Willen des Volkes verweist und betont, dass Gesetze, die den Volkswillen respektieren, gleichzeitig auch die Freiheit der Individuen als Staatsbürger berücksichtigen, legt er fest, dass in die Etablierung gerechter Gesetze gerade nicht die Auslebung von Willkürfreiheiten und die Orientierung an subjektiven, zweckrationalen Zielen einfließen dürfen. Zwar ermöglichen es die durch das Recht abgesteckten gesetzlichen Grundlagen den Individuen, im Rahmen des vorgegebenen Regelungssystems gemäß ihren subjektiven Zielen zu handeln, sofern die Handlungsfreiheit anderer nicht verletzt wird. 20 Die dem Gesetz unterstehenden Individuen als Untertanen sind jedoch nicht dieselben Personen wie diejenigen, die die legislative Gewalt festlegen: Der homo phaenomenon, der empirische Mensch, unterliegt als Untertan den

18 Ebd. 19 Dieses Problem ist auch für Rousseau relevant und führt bei ihm zur Konstitution des Allgemeinwillens (volonté générale), der gerade nicht Ausdruck von Privatinteressen und Sonderwillen ist, die dem Allgemeinwillen entgegenstehen könnten. Vgl. dazu Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Stuttgart 2003, S. 31. 20 Dies verdeutlicht sich bereits in Kants Definition des Rechts als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ (Kant: Rechtslehre [wie in Anm. 13], S. 230).

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Gesetzen, in deren Rahmen er seine Willkürfreiheit ausleben kann, der homo noumenon, der ausschließlich vernünftige Mensch, legt die Gesetze des bürgerlichen Gesellschaftsbundes so fest, dass sie vernunftgemäß sind. 21 An dieser Stelle verdeutlicht sich die für die gesamte kantische Philosophie zentrale Dichotomie zwischen den empirisch-historischen Existenzbedingungen eines Individuums und seinem vernunftrechtlichen Potential, die beide in die Konstitution des Menschen als Person einfließen. Der bürgerliche Gesellschaftsbund versucht, im Rahmen realer politischer Verhältnisse eine an reinen Vernunftprinzipien orientierte Gemeinschaft zu entwerfen. Das aber geht nur, wenn die empirischen Existenzbedingungen des Menschen nicht in die Konstitution des Gemeinwesens einfließen, so dass der Mensch, der neben seiner Vernunftbegabung immer schon eine empirische Beschaffenheit aufweist, nicht direkt am Aufbau des bürgerlichen Gesellschaftsbundes beteiligt werden kann. Die Vorstellung des Volkswillens als rein vernünftigem Willen durch einen Gesetzgeber, den Kant als moralische Person begreift, soll daher dieses mit der Natur des Menschen begründete Defizit ausgleichen. Damit aber wird die Antizipation des Volkswillens als Grundlage des bürgerlichen Gesellschaftsbundes zu einer kontrafaktischen Denkleistung eines rein moralischen Gesetzgebers, dessen Relation zum Regenten ebenso unklar bleibt wie die zum Volk selbst. Diese Überlegungen zeigen, dass der bürgerliche Gesellschaftsbund bei Kant zweigleisig konzipiert ist: Auf der empirischen Ebene markiert er die Abhängigkeitsverhältnisse des Menschen als homo phaenomenon, als Untertan, vom Souverän; auf vernunftrechtlicher Ebene verweist er auf die Selbstgesetzgebung des Volkes als souveräne, vernunftrechtliche Einheit, die jedoch lediglich vorgestellt und zum Fundament des bürgerlichen Gesellschaftsbundes wird, der dem empirischen Staat teleologisch vorgeordnet ist.

4 Der Völkerbund Auf eine solche vernunftnormierte Überformung empirischer Verhältnisse verzichtet Kant jedoch in der Entwicklung völkerrechtlicher Grundlagen. Zwar betont er zu Beginn des zweiten Definitivartikels von Zum ewigen Frieden, dass Staaten wie einzelne Menschen beurteilt werden können, die aus dem Naturzustand austreten und in eine „der bürgerlichen ähnliche Verfassung treten“ 22 sollen. Das organisatorische Gebilde, das einer 21 Siehe zu den Begriffen des homo phaenomenon und homo noumenon Kant: Rechtslehre (wie in Anm. 13), S. 335. 22 Kant: Frieden (wie in Anm. 1), S. 354.

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solchen Vergemeinschaftung entspräche, wäre ein Völkerstaat: Wie sich einzelne Individuen zu einem Staat zusammenschließen, so gebietet die Vernunft, dass auch die souveränen Nationalstaaten einen Völkerstaat bilden sollen. Es ist jedoch die Souveränität der Einzelstaaten, die mit einem Völker- oder Weltstaat, dem eigentlichen normativen Optimum, nicht zu vereinbaren ist. Denn Kant schränkt die am Anfang des zweiten Definitivartikels vorgenommene Analogie zwischen Staaten und Individuen wieder ein: Im Gegensatz zu Einzelpersonen haben Staaten bereits intern eine rechtliche Verfassung, sie sind „dem Zwange anderer, sie nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen, entwachsen“ 23, so dass für Staaten eben nicht dasselbe gelten kann wie für einzelne Menschen. Jeder Staat, so Kant weiter, enthalte das Verhältnis eines Oberen – Gesetzgebenden – zu einem Gehorchenden, den Untertanen. Würden souveräne Nationalstaaten genötigt, in einen Weltstaat einzutreten, so müsste auch in diesem Weltstaat das Verhältnis eines Oberen zu einem Unteren bestehen, mithin ein Staat über andere Staaten regieren, was jedoch mit der Freiheit der Einzelstaaten nicht zu vereinbaren ist. Die Zurückweisung eines Weltstaates oder einer ‚Universalmonarchie‘ begründet Kant auch mit der Gefahr eines „seelenlosen Despotism“ 24, der einem Weltstaat drohe: Weil er seinen Gesetzen in weit entfernten Regionen keinen Nachdruck verleihen könnte, würde ein Weltstaat letztlich in Anarchie verfallen. 25 Der bürgerliche Gesellschaftsbund der innerstaatlichen Ebene erhält daher in den zwischenstaatlichen Beziehungen lediglich ein „negative[s] Surrogat“ 26, den Völker- oder Friedensbund, den Kant gleichwohl von einem bloßen Friedensvertrag unterscheidet: Während ein Friedensvertrag nur einen bestimmten Krieg beende, so versuche der Friedensbund im Gegensatz dazu, „alle Kriege auf immer zu endigen“ 27, müsse aber doch mit der beständigen Gefahr eines Kriegsausbruches rechnen. 28 In welches normative Dilemma sich Kant mit dieser Konzeption des Friedensbundes begibt, verdeutlicht sich in diesem Zitat: Dieser Bund [der Friedensbund, D.R.] geht auf keinen Erwerb irgendeiner Macht des Staats, sondern lediglich auf Erhaltung und Sicherung der Freiheit eines Staats für sich selbst und zugleich anderer verbündeter Staaten, ohne daß diese doch sich deshalb (wie Menschen im Naturzustande) öffentlichen Gesetzen und einem Zwange unter denselben unterwerfen dürfen. 29

23 24 25 26 27 28 29

Ebd., S. 355 – 356. Ebd., S. 367. Vgl. ebd., S. 367. Ebd., S. 357. Ebd., S. 356. Vgl. ebd., S. 357. Ebd., S. 356.

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Während die Idee der Freiheit im bürgerlichen Gesellschaftsbund der innerstaatlichen Ebene eine zentrale normierende Funktion erhält, erweist dieser Bund sich hier als konzeptionelles Problem: Einerseits gilt mit Kant, dass es „nach der Vernunft“ 30 für Staaten nur die Möglichkeit gibt, einen Völker- oder Weltstaat zu gründen, um in einen bürgerlichen Zustand einzutreten und einen ewigen Frieden zu erreichen. Die ebenfalls vernunftbegründete Freiheit der Einzelstaaten, die sich intern bereits an Vernunftgrundlagen orientieren, verbietet einen solchen Zusammenschluss jedoch: Auf der einen Seite gebietet die Vernunft völker- bzw. weltstaatliche Grundlagen, während sie diese auf der anderen Seite aufgrund des damit verbundenen Souveränitätsverlustes der Einzelstaaten ablehnt. Damit in dieser Sachlage „überall etwas dabei zu denken übrigbleiben soll“ 31, bleibt nur der Ausweg des losen Völker- bzw. Friedensbundes, der versucht, Frieden zu erreichen, ohne die nationalstaatliche Souveränität und damit die Freiheit der Staaten anzutasten. Dieser Friedensbund ist fragil, weil er, wie Kant selbst zugibt, letztendlich nicht sein eigentliches Ziel einer dauerhaften Friedensstiftung erreichen kann, sondern die Gefahr eines Kriegsausbruches permanent kalkulieren muss. Er erlaubt jedoch die Integration strategischer Staatspraktiken und damit ein Ausleben von Willkürfreiheiten, das in die Konzeption des innerstaatlichen bürgerlichen Gesellschaftsbundes gerade nicht einfließen darf. Dies kann durch eine aufschlussreiche Passage aus den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre erläutert werden, in der Kant den Völkerbund mit der Versammlung der Generalstaaten von Den Haag vergleicht: Man kann einen solchen Verein einiger Staaten, um den Frieden zu erhalten, den permanenten Staatenkongreß nennen, zu welchem sich zu gesellen jedem benachbarten unbenommen bleibt; dergleichen [. . . ] in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in der Versammlung der Generalstaaten im Haag noch stattfand; wo die Minister der meisten europäischen Höfe, und selbst der kleinsten Republiken, ihre Beschwerde über die Befehdungen, die einem von dem anderen widerfahren waren, anbrachten, und so sich ganz Europa als einen einzigen föderierten Staat dachten, den sie in jener ihren öffentlichen Streitigkeiten gleichsam als Schiedsrichter annahmen [. . . ]. Unter einem Kongreß wird hier aber nur eine willkürliche, zu aller Zeit auflösliche Zusammentretung verschiedener Staaten, nicht eine solche Verbindung, welche [. . . ] auf einer Staatsverfassung gegründet, und daher unauflöslich ist, verstanden; – durch welchen allein die Idee eines zu errichtenden öffentlichen Rechts der Völker; ihre Streitigkeiten auf zivile Art, gleichsam

30 Ebd., S. 357. 31 Ebd., S. 356.

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durch einen Prozeß, nicht auf barbarische (nach Art der Wilden), nämlich durch Krieg zu entscheiden, realisiert werden kann. 32

Der Völkerbund ist gerade kein permanenter Staatenkongress, auch wenn Kant diesen Begriff anfänglich auf den Völkerbund anwendet, sondern vielmehr eine „auf lösliche Zusammentretung“ von Staaten, die sich in drei zentralen Aspekten vom bürgerlichen Gesellschaftsbund unterscheidet. Erstens kann eine derartige Zusammentretung kein Völkerrecht begründen, weil es im Gegensatz zum bürgerlichen Gesellschaftsbund nicht auf eine Verfassung gegründet ist. Aufgrund ihrer Souveränität bleibt es den einzelnen Nationalstaaten zweitens selbst überlassen, ob sie in den Völkerbund eintreten oder nicht; Kant erwähnt zwar die Möglichkeit, dass sich – durch Glück – ein Volk zu einer Republik zusammenschließt, die dann weiteren Staaten ein Beispiel gibt, sich zu einem Völkerbund zusammenzufinden. Einen Zwang, dem Völkerbund beizutreten, oder eine Nötigung, wie sie auf innerstaatlicher Ebene im bürgerlichen Gesellschaftsbund gegeben ist, nennt Kant jedoch dezidiert nicht. Im Unterschied zum bürgerlichen Gesellschaftsbund erlaubt Kant auf zwischenstaatlicher Ebene drittens – und das ist zentral – eine Artikulation von Streitigkeiten und er verzichtet auf einmütige Regelungen, wie sie im bürgerlichen Gesellschaftsbund mit der Antizipation des Volkswillens gegeben sind. Zwar fungiert der Völkerbund als eine Art Schiedsrichter zwischen den Streitigkeiten der Staaten, doch gesteht er gleichzeitig zu, dass Staaten divergierende Ziele verfolgen können und dürfen. Gerade das wird mit der Repräsentation des Volkswillens im bürgerlichen Gesellschaftsbund, der ja nicht in unterschiedliche Interessen zerfallen soll, auf innerstaatlicher Ebene untersagt. Diese drei Aspekte untermauern den eher strategischen Charakter des Völkerbundes als lockeres Bündnis, das freiwillig eingegangen wird und die Auslebung von Willkürfreiheiten auf empirischer und gerade nicht auf vernunftrechtlicher Ebene ermöglicht und diese zu regulieren versucht, aber niemals einen ‚ewigen‘ Frieden erreichen kann.

5 Ausblick: Kant und die Realpolitik Trotz – oder gerade aufgrund – dieser Abweichungen von vernunftrechtlichen Normierungen und der Abkehr vom Gebot des ewigen Friedens birgt die kantische Konzeption des Völkerbundes realpolitisches Potential. Dies zeigt sich auch in der folgenden Beschreibung der empirischen Kon-

32 Kant: Rechtslehre (wie in Anm. 13), S. 350 – 351.

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stitution des bürgerlichen Gesellschaftsbundes, aus der sich indirekt auch Aussagen über den Völkerbund ableiten lassen: Selbst der bürgerliche Verein [. . . ] kann nicht wohl eine Gesellschaft genannt werden; denn zwischen dem Befehlshaber [. . . ] und dem Untertan [. . . ] ist keine Mitgenossenschaft; sie sind nicht Gesellen, sondern einander untergeordnet, nicht beigeordnet und die sich einander beiordnen, müssen sich, eben deshalb, untereinander als gleich ansehen, sofern sie unter den gemeinsamen Gesetzen stehen. 33

Während hier lediglich das Verhältnis der Untertanen zueinander als ein gleiches, symmetrisches Verhältnis beschrieben wird, nicht aber das der Untertanen zum Souverän, betrachtet der Völkerbund seine Mitglieder als freie und gleiche Bündnisgenossen: Die Staaten sind einander beigeordnete ‚Gesellen‘, die sich in einer Gesellschaft befinden und untereinander als gleich ansehen müssen. Diese Gleichheit jedoch resultiert ausschließlich aus den Gesetzen des Völkerbundes, denen alle Staaten gleichermaßen unterstehen. Eine einmütige Regulierung von Streitigkeiten im Sinne einer Konsensfindung oder Allgemeinwohlorientierung ist im Völkerbund nicht angelegt. Kants Bündnistheorie verfährt damit zweigleisig: Auf der einen Seite fungiert der bürgerliche Gesellschaftsbund als normatives Organisationsprinzip für Staatsbürger, das zugunsten einer vernunftrechtlichen Allgemeinwohlvorstellung auf strategische Interessensartikulationen der Bürger als empirische Individuen verzichtet, ausschließlich ihrer moralischen Personalität Rechnung trägt und eine einmütige Gemeinschaft stiftet. Auf der anderen Seite entfernt sich Kant von vernunftrechtlichen Normierungsprinzipien, indem er auf zwischenstaatlicher Ebene nicht für einen Völker- oder Weltstaat als einheitlichen Bund argumentiert, sondern vielmehr zugunsten einer strategischen Allianz als negatives Surrogat, deren Ziel eine Regulierung von Konflikten und damit eine Vermeidung von Kriegsausbrüchen ist, die aber der Artikulation unterschiedlicher strategischer Interessen als möglichen Konfliktgründen Raum gibt. Die Spannung zwischen Philosophie und Politik, auf die Arendt im Interview mit Günter Gaus hinweist, lässt sich damit auch in Kants politischer Philosophie verorten. Und weil Kant insbesondere die Aufwertung nationalstaatlicher Souveränität sowie die mit dieser Aufwertung verbundenen Probleme für internationale Friedensstiftungen ausführlich verhandelt, ist es gerechtfertigt, ihm gerade keine Feindseligkeit gegenüber der Politik zu unterstellen. In einer sehr emphatischen Deutung der Friedensschrift hat Otfried Höffe darauf aufmerksam gemacht, dass Kant aufgrund seiner Konzeption eines Völkerbundes auch als ‚Vordenker‘ der Vereinten Nationen, 33 Ebd., S. 307.

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der wichtigsten internationalen politischen Organisationen des 20. und 21. Jahrhunderts, verstanden werden könne. 34 Ob diese Interpretation adäquat ist oder nicht, mag dahingestellt sein. Die Ohnmacht, die insbesondere dem Sicherheitsrat durch die Konstellation seiner Mitglieder attestiert wird, mag jedoch auch auf den kantischen Völkerbund zutreffen: Denn die Wirkmächtigkeit eines Systems, das zwar die Artikulation von Streitigkeiten ermöglicht, darüber hinaus jedoch keine Ansätze zur inhaltlichen Lösung von Konflikten eröffnet, kann durchaus bezweifelt werden. Ein vollständiges Festhalten an nationalstaatlicher Souveränität ist mit Kompromissen, die Staaten bei einer friedlichen Beendigung von Kriegen notwendigerweise eingehen müssen, kaum zu vereinbaren.

34 Vgl. dazu Otfried Höffe: Ausblick: Die Vereinten Nationen im Lichte Kants, in: ders. (Hg.): Immanuel Kant (wie Anm. 6), S. 245 – 272.

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„Sinn für Bund“ Novalis’ romantische Theorie des Vertrags 1 Aus- oder Einschluss des Rechts: Einführung Zerstäubt wird dann der papierne Kitt sein, der jetzt die Menschen zusammengekleistert, und der Geist wird die Gespenster, die statt seiner in Buchstaben erschienen und von Federn und Pressen zerstückelt ausgingen, verscheuchen, und alle Menschen wie ein paar Liebende zusammenschmelzen. 1

Mit dieser eschatologischen Vision gibt Novalis in seinem frühromantischen Fragmentzyklus Glauben und Liebe oder Der König und die Königin (1798) indirekt Antwort auf die Frage, was denn die Menschen in einem Staat zusammenhält. Auf keinen Fall sind es Papier und Buchstaben, dies macht das Zitat nur allzu deutlich. Der Gegenüberstellung von totem Buchstaben und lebendigem Geist geht bekanntermaßen auf eine Formulierung des Apostel Paulus im zweiten Brief an die Korinther zurück, mit der er den Unterschied zwischen dem Neuen und dem Alten Bund Gottes mit den Menschen zu erläutern sucht, schließlich soll der Neue Bund im Gegensatz zum Alten nicht mehr einer der Gesetzestafeln, sondern einer des Geistes sein. Die Rede vom Buchstaben, der den Geist tötet, ist kulturhistorisch, ganz prominent etwa bei Herder, zu einem medienkritisch akzentuierten Topos geworden, 2 auf den auch die Autoren der Romantik vielfach zurückgreifen und so auch Novalis. In Glauben und Liebe transferiert er ihn in einen staatsphilosophischen Kontext, denn metonymisch gelesen verweisen die von ihm angeführten Medien Papier, Buchstabe und Druckerpresse, das zeigt der weitere Kontext des Fragmentzyklus, auf die Generierung von Verfassungs- und Gesetzestexten. In solche medialen Formen wird der Geist im Zuge der Kodifikationsprojekte um 1800 gegossen, um die zeitgenössischen Vorstellungen von einer sinnvollen und vernünftigen Gesellschaftsordnung in positives Recht zu übersetzen. Novalis hält dem in Glauben und Liebe jedoch den Geist der Liebe entgegen: Die

1 Novalis: Glauben und Liebe und Politische Aphorismen, in: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Schriften. Bd. 2: Das philosophischtheoretische Werk. Hg. von Hans Joachim Mähl. Darmstadt 1999, S. 287 – 309, hier S. 293, Nr. 16 (zukünftig als GL bzw. PA unter Angabe der Fragmentnummer zitiert). 2 Vgl. z. B. Johann Gottfried Herder: Siebendes Fragment. Schrift und Buchdruckerei [d. i. der 95. Brief der Achten Sammlung], in: Johann Gottfried Herder Werke. Bd. 7: Briefe zur Beförderung der Humanität. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt am Main 1991, S. 525 – 530, hier S. 529.

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Sigrid G. Köhler

Basis des Staats ist nicht seine Rechtsordnung, sondern das Gefühl. Der Staat muss Novalis’ suggestiver Bildersprache zufolge zudem ‚schön‘ und ‚poetisch‘ sein. Im Fluchtpunkt entsteht so, wie im Folgenden am Beispiel von Glauben und Liebe, aber auch mit Bezug auf wichtige Fragmente aus dem Allgemeinen Brouillon gezeigt werden soll, die Vision eines ästhetischen Staats, der auf einen ‚neuen‘ Bund der Menschen gründet. Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Romantik demnach mit Novalis’ ‚neuem Bund‘ entgegen der geläufigen romantischen Kritik an Recht und Vertrag als gar nicht so bundkritisch, der neue Bund jedoch auch als gar nicht so neu, sondern als tief in kulturgeschichtlich wirkmächtigen Vertragskonzepten verankert. Das, was Novalis’ Bund auszeichnet, ist nämlich seine ‚Elastizität‘: Er kann die Zentripetalkräfte der Vergesellschaftung mit den Zentrifugalkräften des individuellen Strebens nach Autonomie und Freiheit verbinden, indem er zentrale Elementes des modernen Vertrags, die kulturhistorische Semantik des Bundes, die anthropologisch bedingte Relevanz des Gefühls und ästhetische Formgebung ineinander verschränkt. Man könnte auch mit Blick auf die sich in der Soziologie später etablierende Differenzierung zwischen Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung sagen, Novalis’ Bund erlaube es, Kontraktualismus und Vergemeinschaftung in einem romantischen Übersetzungsprozess zusammenzubringen. Die ersten beiden Teile des Fragmentzyklus sind anlässlich der Inthronisierung Friedrich Wilhelms III. als Fortsetzung in den neu begründeten Jahrbüchern der Preußischen Monarchie unter der Regierung Friedrich Wilhelms des Dritten erschienen und lassen sich daher als Reaktion auf die zeitgenössische politische Situation lesen. Glauben und Liebe hat Novalis zuweilen das Label eines Konservativen eingetragen, der Zyklus ist aber auch schon von den Zeitgenossen mit sehr divergierenden, vom Herrscherlob bis zur Monarchiekritik reichenden Lesarten aufgenommen worden. Dabei ist Glauben und Liebe kein politischer Text im engeren Sinn. Er beschreibt keine konkrete, historische Staatskonstellation, noch entwirft er ein realisierbares Staatsprojekt. Als politisch kann man ihn aber insofern bezeichnen, als er die Grundbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens reflektiert und daraus die frühromantische Vision einer spezifischen staatlichen Organisation ableitet. Novalis’ Entwurf weist zunächst alle Ingredienzien auf, deren ein romantischer Staat bedarf. Vor allem aber schließt er – auf den ersten Blick zumindest – alles aus, was mit einem ästhetischen Staat inkompatibel zu sein scheint. Dazu gehören gemeinhin das Recht und die seit dem 17. Jahrhundert so wirkmächtige naturrechtliche Metapher des Gesellschaftsvertrags. Romantische Staatsentwürfe werden in der Regel organizistisch gedacht. Sie können auf diese Weise der zeitgenössisch so wichtigen Vorstellungen von der Geschichtlichkeit allen Seins Rechnung tragen und

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zugleich den Staat im Anschluss an zeitgenössische Körperkonzepte als durch Kommunikation und Austausch bestimmt denken. Schließlich hält ein physiologisch basiertes Organismusmodell den Staat für die sinnliche Wahrnehmung und das Gefühl offen. 3 Eine solche Komplexität des Staates lässt sich über ein aus der Vernunft abgeleitetes Recht nicht denken. Ein entsprechendes Unbehagen hinsichtlich des Rechts ist denn auch vielfach von romantischen Autoren geäußert worden. In Novalis’ Schriften findet es sich in Formulierungen wie, dass der „rechtliche Zustand [. . . ] ein moralischer werden“ 4 soll oder dass in einem vollkommenen Staat „ausdrückliche Gesetze überflüssig“ (AB, Nr. 250) sind. Damit lassen sich das Recht und der Vertrag aber keineswegs aus der Romantik verabschieden. Markus Schwering hat in seinem Beitrag zur romantischen Konzeption von Politik und Gesellschaft gegen die geläufige Dichotomie von Recht und Romantik schon darauf aufmerksam gemacht, dass trotz aller Verabschiedung des Naturrechts gerade bei den Autoren der Frühromantik das naturrechtliche Vertragsdenken überaus präsent ist. 5 Und auch in der Novalis-Forschung sind dessen Bezüge zum Recht längst zum Thema geworden. 6 Vielleicht geht es in romantischen Texten aber auch gar nicht um eine Verabschiedung oder Relativierung des Rechts, sondern um eine Neuperspektivierung und -kodierung, die zugleich den geläufigen Blick auf Naturrecht und Kontraktualismus korrigiert. Die Annahme, die naturrechtlichen Kontraktualismustheorien versuchten eine Staatsbegründung allein aus dem Recht zu leisten, impliziert ohnehin schon eine einseitige Sichtweise auf den Gesellschaftsvertrag. Die Figur des Vertrags fungiert in den modernen Kontraktualismustheorien schließlich nicht als Ursprungsfigur, sondern als Argument, um eine spezifische Staats- und Herrschaftsform zu legitimieren. 7 Der Status und die Funktion des Rechts werden dabei sehr genau reflektiert. So resümiert Hobbes beispielsweise im Schlusskapitel des Leviathan, dass es ihm um Rechtsfragen gehe; Rousseau wiederum formuliert seine Problemstellung in Du contrat social als eine Suche nach der richtigen ‚Form‘ 8. Auch die Argumentationsweise bei3 Vgl. einschlägig z. B. Ethel Matala de Mazza: Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg im Breisgau 1999. 4 Novalis: Das allgemeine Brouillon, in: Novalis. Bd. 2 (wie Anm. 1), S. 471 – 720, hier S. 487, Nr. 79 (zukünftig als AB und unter Angabe des Eintrags zitiert). 5 Vgl. Markus Schwering: Romantische Theorie der Gesellschaft, in: Helmut Schanze (Hg.): Romantik-Handbuch. Tübingen 1994, S. 508 – 540, hier S. 517. 6 Vgl. z. B. Klaus Peter: Stadien der Aufklärung. Wiesbaden 1980 oder Hans Wolfgang Kuhn: Der Apokalyptiker und die Politik. Studien zur Staatsphilosophie des Novalis. Freiburg im Breisgau 1961. 7 Vgl. Wolfgang Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt 1994, S. 15. 8 Vgl. Jean Jacques Rousseau: Du contrat social, in: Oeuvres completes. Bd. 3: Du contrat social, écrits politiques. Paris 1964, S. 347 – 470, hier S. 360.

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der Autoren zeigt, dass es für die Stabilität des Staates weit mehr als nur des Rechts bedarf. Neben einer sanktionierenden Staatsgewalt setzt Hobbes etwa auch auf die Religion, Rousseau auf eine staatsbürgerliche Erziehung, welche den Menschen eine Liebe zum Gesetz ins Herz pflanze. 9 – Es ist also ein differenzierterer Blick auf das Recht und den Vertrag gefragt. Mit Bezug auf Novalis ließe sich dies noch präzisieren. Statt um Ausschluss geht es, so die These, dezidiert um den Einschluss des Rechts.

1 Totalität als Projekt – Das allgemeine Brouillon und der „Sinn für Bund“ Mehrfach formuliert Novalis wie – im Übrigen eine ganze Reihe anderer zeitgenössischer Autoren auch – das Projekt, eine ‚Totalität‘ (wieder) zu entwerfen, ein Projekt, das als Reaktion auf die sich historisch vollziehende funktionale Ausdifferenzierung zu verstehen ist und mit dem sich vor allem seine Fragmentsammlung Das allgemeine Brouillon befasst. Letzterer ist auch das titelgebende Zitat „Sinn für Bund“ entnommen. Im Mittelpunkt der Suche nach ‚Totalität‘ steht bei Novalis der Versuch, die unterschiedlichen Gesellschafts- und Wissensbereiche durch Übersetzung und Vermittlung wieder in Beziehung zu setzen. Wenn Novalis das Recht in sein romantisches Denklaboratorium mit hineinnimmt, so kann es nicht mehr einseitig als rationales Prinzip gedacht werden. Es muss vielmehr mit Ästhetik, Geschichtlichkeit, Subjektformation, gesellschaftlicher Kommunikation etc. kompatibel sein können. Das allgemeine Brouillon (1798/99) gilt als Novalis’ Beitrag zur romantischen Enzyklopädik und wird von ihm selbst als eine Art Vorstudie für ein geplantes ‚Buch‘ dargestellt. Anvisiert wird eine „Totalwissenschaft“ (AB, Nr. 199), in deren Fokus nicht die Zusammenstellung von Wissen, sondern die Wissensgenerierung steht, genauer gesagt die ‚Verfahren‘ der Wissensgenerierung und der Versuch, diese methodisch zu beschreiben. Je nach Perspektive nennt Novalis seine Verfahren Analogie, Symbolisierung, Gleichnis, Analytik (Scheidungslehre), Synthetik (Verbindungslehre) oder Kombinatorik. 10 Effekt dieser Ver-

9 Vgl. dazu den ausführlichen dritten Teil zum ‚christlichen Staat‘ in Thomas Hobbes: Leviathan, in: The Clardendon Edition of the Works of Thomas Hobbes. Bd. 5. Oxford 2012 und Jean-Jacques Rousseau: Sur l’économie politique, in: Oeuvres completes. Bd. 3 (wie Anm. 7), S. 238 – 278, hier S. 252. Den Hinweis auf Rousseau verdanke ich Florian Schmidt. 10 Vgl. etwa die Einträge Nr. 49, 196, 458, 526 in Novalis’ Das allgemeinen Brouillon. Vgl. dazu Winfried Menninghaus: Vom enzyklopädischen Prinzip romantischer Poesie, in: Waltraud Wiethölter / Frauke Berndt / Stephan Kammer (Hg.): Vom Weltbuch bis zum World Wide Web – Enzyklopädische Literaturen. Heidelberg 2005, S. 149 – 163.

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fahren ist die Rekontextualisierung von Begriffen und Konzepten durch Übersetzung, Perspektivierung und Potenzierung. Gemäß Novalis’ Allgemeinem Brouillon ist die Politik zweifelsohne Teil dieses Projekts. Zwei zentrale Gedanken lassen sich aus den Einträgen zur Politik herauskristallisieren: Erstens die Frage nach der Einteilung bzw. Verbindung der Menschen in einem Staat und zweitens die Frage, was einen vollkommenen Staat auszeichnet. Die Beantwortung der ersten wäre für Novalis die „Auf lösung des hauptpolitischen Problems“ (AB, Nr. 262). Mit den Einteilungen sind, das zeigt der vorausgehende Eintrag, die „nach der relativen Einsicht und Kenntniß der menschlichen Natur“ (AB, Nr. 261) gemachten Einteilungen wie etwa die des Ständestaats gemeint. 11 Dieser – aus Novalis’ Sicht – problematischen Aufteilung wird die „Verbindung der entgegengesetzten politischen Elemente“ (AB, Nr. 262) als positives Projekt gegenübergestellt. Der wiederkehrende Bezug auf den Republikanismus als politische Form firmiert nicht explizit als Lösung, doch in der Bestimmung, die Novalis ihm gibt, lässt er sich durchaus als Antwortteil lesen. Der Republikanismus ist für ihn nämlich mit einem chemischen Verfahren vergleichbar, das „höhere republicanische Körper hervor[bringt]“, indem es „Stoffe [verbindet], ohne ihre Individualitaet zu vernichten“ (AB, Nr. 50). Mit Blick auf die Politik im engeren Sinne schreibt Novalis: „Freyheit und Gleichheit verbunden ist der höchste Caracter der Republik, oder der ächten Harmonie“ (AB, Nr. 249). Republikanismus wäre demnach der Garant für die Wahrung von ‚Individualität‘ und ‚Mannigfaltigkeit‘ auf der einen Seite und ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘ auf der anderen. Die Lösung des ‚hauptpolitischen Problems‘, nämlich der von Menschen gemachten Einteilungen, läge demnach in der NichtSetzung von Grenzen, in der Verweigerung der Aufteilung, wie man mit Rancière formulieren könnte, und in der Etablierung von Relationen und Verbindungen. Konsequent bezeichnet Novalis die „Lehre vom Mittler“ denn auch als ein Desiderat der Politik. ‚Monarch‘, ‚Regierungsbeamte‘, im Grunde jeder ‚Staatsbürger‘ sollte „Staatsrepraesentant[] – Staatsmittler“ (AB, Nr. 398) sein. In diesen Überlegungen zur Politik ist die Antwort auf die zweite Frage, die nach dem vollkommenen Staat, schon impliziert, denn Novalis’ Ausführungen zum Republikanismus zeigen, dass der vollkommene Staat vor allem über eine bestimmte Organisationsform verfügen soll. Nimmt man dies als normative Vorgaben ernst, so geht es im vollkommenen Staat

11 Zu Novalis’ Kritik an den Landesständen vgl. Kuhn: Apokalyptiker und die Politik (wie Anm. 5), S. 170 – 178 oder auch Peter: Stadien der Aufklärung (wie Anm. 5), S. 136 f.

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nicht um die Explizierung einzelner Normen in Form von Gesetzen, sondern um eine Norm spendende Form oder ein Verfahren, das dies leisten kann. Aus der Perspektive des Rechts liegt es nahe, dazu auf den Vertrag respektive den Bund zu rekurrieren, denn dieser kann unter der Wahrung von Freiheit und Autonomie ‚Differenz indifferent‘ 12 werden lassen und zugleich eine Verfassungsstruktur stiften. 13 Im Fragment einundsechzig des Allgemeinen Brouillon findet sich unter dem Stichwort ‚Theosophie‘ denn auch die Formulierung vom ‚Sinn für Bund‘: Theosophie. [. . . ] Je moralischer [. . . ] – desto verbündeter mit Gott. Nur durch den Moralischen Sinn wird uns Gott vernehmlich – der moralische Sinn ist der Sinn für Daseyn, ohne äußere Affection – der Sinn für Bund – der Sinn für das Höchste – der Sinn für Harmonie – der Sinn für freygewähltes, und erfundenes und dennoch gemeinschaftliches Leben [. . . ]. (AB, Nr. 61)

Unter dem Vorzeichen der Theosophie scheint es hier zunächst um einen Bund mit Gott zu gehen, d. h. um eine Verbindung zu Gott, für die der biblische Bund, d. h. der Bund Gottes mit den Menschen Modell steht. Wenn der Bund aber in der Moralität des Menschen vernehmbar wird, genauer gesagt im moralischen Sinn, dann verkehren sich die Relationen und der Bund erhält eine subjektphilosophische Deutung. Der biblische Bund nimmt seinen Anfang ja in Gott. Die Übersetzung des hebräischen ‚berît‘ bzw. des griechischen ‚diathe¯ke¯‘ mit ‚Bund‘ kann vor dem Hintergrund des modernen Vertragskonzepts als ein auf übereinstimmenden Willensmanifestationen gründendes zweiseitiges Rechtsgeschäft missverständlich sein, denn der göttliche Bund beschreibt keinen solchen zweiseitigen Vertrag. Er ist vielmehr ein Gebot oder eine Verheißung Gottes. 14 Grundlegend für Novalis’ subjektphilosophische Wendung ist die Rede vom ‚Sinn‘. Diese bezieht sich nicht auf einen äußeren Sinn, etwa den Sehoder Hörsinn, sondern auf das Gefühl als inneren Sinn, der seit der MoralSense-Debatte als eigenes und für die Subjektformation grundlegendes Vermögen profiliert worden ist. Der innere Sinn beschreibt ein intuitives Vermögen, innere Gemütszustände und -bewegungen wahrzunehmen und zu ordnen. Insofern er als ein ‚moralischer Sinn‘ konzeptualisiert wird, formuliert er zugleich eine anthropologische Voraussetzung für das gesellschaftliche Zusammenleben, denn die das Zusammenleben leitende

12 Vgl. Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995, S. 459. Luhmann bezieht sich mit dieser Formulierung freilich auf die Autonomie der Systeme. Vor dem Hintergrund des modernen Vertragsbegriffs lässt sie sich aber auch subjektphilosophisch umdeuten. 13 Vgl. Carl Schmitt: Verfassungslehre. Berlin 1957 [1928], S. 368. 14 Vgl. Ernst Kutsch: Bund, in: Horst Robert Balz u. a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie. Bd. 7. Berlin / New York 1981, S. 397 – 410.

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Normgenerierung wird dann nicht mehr einer transzendenten Instanz zugeschrieben, sondern im Menschen selbst verortet. 15 Diese Perspektivverschiebung vom Gebot Gottes zum moralischen Sinn und dann zum gesellschaftlichen Leben vollzieht Novalis’ Fragment in seiner elliptischen Reihung, wenn dem ‚Sinn für das Höchste‘ der ‚Sinn für Harmonie‘ und schließlich der ‚Sinn für freygewähltes, und erfundenes und dennoch gemeinschaftliches Leben‘ folgt. Kultur- und philosophiegeschichtlich betrachtet steht für den Akt einer freiwilligen und gemeinschaftlichen Gesellschaftsbegründung die Metapher des Gesellschaftsvertrags. Um einen solchen Vertragsschluss kann es hier aber nicht gehen, wenn der Gesellschaftsvertrag als rationale Begründungsfigur und als Akt einer menschlichen Einrichtung in Abgrenzung zur göttlichen Ordnung verstanden wird. Dieser naturrechtlichen Vertragskonzeption steht der Bezug auf den ‚Sinn‘ wie auch die in der Formulierung ‚Sinn für Bund‘ kulminierende Übersetzung der göttlichen Ordnung in eine menschliche entgegen. Es ist aber auch schon angedeutet worden, dass Kontraktualismustheorien sich nicht auf einen Nenner und schon gar nicht auf den einer umfassenden, rationalen und areligiösen Gesellschafts- und Staatbegründung bringen lassen. Bedeutsam nicht zuletzt für die Debatte um das Widerstandsrecht im 18. Jahrhundert sind die Schriften der Monarchomachen im 16. und 17. Jahrhundert, denen eine föderaltheologische Deutung des Staates zugrunde liegt. Die Föderaltheologie bezeichnet eine theologische Strömung des Protestantismus, die im Zuge der Reformation entsteht. Ihre Programmatik kreist um den Bundbegriff und mit ihm um eine spezifische Bibelauslegung, welche die Bundschlüsse im Alten und Neuen Testament aufeinander bezieht, um das göttliche Handeln als eine Einheit zu erfassen. 16 Die heilsgeschichtliche Dimension der Föderaltheologie erhält eine sozialrevolutionäre Umdeutung, wenn der biblische Bund wie etwa bei Calvin rechtlich im Sinne eines zweiseitigen Vertrags ausgelegt und auf die politische Sphäre projiziert wird. 17 Dies führt zu einer Art ‚christlichem Gesellschaftsvertrag‘ 18, in 15 Vgl. exemplarisch Angelica Baum: Selbstgefühl und reflektierte Neigung. Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001. Zu Novalis’ Reflexion des Gefühls als Subjektvermögen vgl. z. B. Novalis: Philosophische Studien 1795/96 (Fichte-Studien), in: Novalis. Bd. 2 (wie Anm. 1), S. 8 – 209, hier S. 73 f., Nr. 211 – 213 oder S. 133 f., Nr. 325, Nr. 328 f. (zukünftig als FS unter Angabe des Eintrags zitiert). 16 Vgl. J. F. Gerhard Goeters: Föderaltheologie, in: Balz u. a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie. Bd. 11 (wie Anm. 13), S. 246 – 252. 17 Vgl. Gerhard Oestreich: Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staatsvertrag [1958], in: ders.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1969, S. 157 – 178, hier S. 164 f. 18 Vgl. Reinhart Koselleck: Bund. Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Otto Brunner / Werner Conze / ders. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1. Bielefeld 2004, S. 582 – 671, hier S. 603.

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dessen Fokus aber nicht so sehr eine moderne Freiheitsemphase steht, sondern die auf wechselseitige Bindung von Herrscher und Untertanen gründende Staatskonstruktion. Vor diesem Hintergrund liest sich Novalis’ ‚Sinn für Bund‘ als Fortsetzung der kulturhistorisch wirkmächtigen theologischen und dann politischen Umdeutung des Bundbegriffes. Die Bedeutungsverschiebung vom Bund als Gebot Gottes zum Bund als zweiseitigem Vertrag findet in Novalis’ ‚Sinn für Bund‘ jedoch eine spezifisch moderne Radikalisierung, der letztlich die Ineinssetzung von menschlicher und göttlicher Ordnung entgegensteht. Denn: Eine freie Handlung ist bei Novalis immer (das zeigen seine Fichte-Studien) als eine Art Fichte’sche Tathandlung zu lesen, d. h. als eine unbedingte Handlung ohne Voraussetzung: „Freyheit ist das Vermögen einen Bewegungsgrund zu machen“ (AB, Nr. 713). Etwas später heißt es sogar: „Jeder Anfang ist ein Actus der Freyheit“ (AB, Nr. 717). Die Setzung eines Anfangs ist zwar zugleich immer schon Fiktion (vgl. AB, ebd.) und die Annahme eines Anfangs eine ‚regulative Idee‘ (vgl. FS, S. 472), welche den Übersetzungsprozess gewissermaßen aussetzt. Aber die Attribuierung ‚frei‘ legt dennoch ganz dezidiert eine moderne subjektphilosophische Perspektive nahe, der zufolge der Mensch als autonom handelnd begriffen werden muss. Diese steht dem Handeln aus dem Gefühl bei Novalis aber nicht entgegen, denn in Fortführung der Fichte’schen Bewusstseinsphilosophie nimmt Novalis ein grundlegendes Wechselverhältnis von Gefühl und Reflexion an, in dem das Gefühl den nicht-thetischen Grund der Anschauung und Reflexion bildet. Das Gefühl stellt eine intuitive Vertrautheit mit sich selbst dar, wie Manfred Frank formuliert hat. 19 Wird dieses Selbstgefühl auf eine Gemeinschaft und die sie regelnden Bindungen hin entworfen, so führt dies zur Formulierung von Gesetzen, die aus dem Gefühl bzw. aus der Beobachtung des Gefühls abgeleitet werden und deshalb gerade nicht der Freiheit widersprechen. Wenn ich ein Mensch bin, [. . . ] woher nehme ich meine Gesetze? [. . . ] Jedes wahre Gesetz ist mein Gesetz – sagen und auf aufstellen mag es, wer es will. Dieses Sagen und Aufstellen aber, oder die Beobachtung des ursprünglichen Gefühls und ihre Darstellung muß doch nicht so leicht sein, – sonst würden wir ja keiner besondern geschriebenen Gesetze bedürfen. (PL, Nr. 65)

Diskursgeschichtlich betrachtet führt auch Novalis’ Annahme eines Gefühls für das Recht wieder zurück zur Moral-Sense-Philosophie, gibt es doch auch dort Versuche, ein normatives Fühlen zu konzeptualisieren, welches über das moralische hinausweist. In Texten von David Hume 19 Vgl. Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Frankfurt am Main 1989, S. 252.

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etwa ist ganz explizit von einem Sinn für das Recht (sense of justice and injustice) zu lesen, der nicht so sehr als ein natürlicher ‚Gerechtigkeitssinn‘ konzipiert, sondern explizit als ein Sinn für die künstliche, von Menschen gemachte normative Ordnung gedacht wird. 20 In der Wendung vom ‚Sinn für Bund‘ wird dieses Gefühl für das Recht bei Novalis nun aber noch einmal entscheidend präzisiert. Der Fokus wird auf ein ganz spezifisches Rechtsinstitut verengt, nämlich auf ein Rechtsinstitut, das diesem Selbstgefühl Ausdruck gibt und für dieses Selbstgefühl eine Form bereitstellt, die zugleich Individualität und Mannigfaltigkeit unter Freien und Gleichen ermöglicht: den Vertrag. Ein Vertrag ist jedoch kein Bund, so ließe sich einwenden. Der allgemeine Vertragsbegriff, verstanden als ein auf freie und übereinstimmende Willensmanifestation gegründetes, zweiseitiges Rechtsgeschäft, ist ein relativ junges Konstrukt, das im Zuge der naturrechtlichen Systematisierungsprozesse im 17. und 18. Jahrhundert entstanden und seine Umsetzung ins positive Recht zu Beginn des 19. Jahrhunderts gefunden hat. 21 Im Vergleich dazu erweist sich der Bund am Ende des 18. Jahrhunderts geradezu als historische Figur, deren zentrale Bezugszeit das Mittelalter mit seinen inner- und zwischenständischen Bünden darstellt. 22 Der Bund bezeichnet dabei sowohl die Institution als auch den Prozess der Vertragsschließung. Als Kontraktionsform zu Bündnis werden beide Begriffe Bund und Bündnis zunächst synonym benutzt. In der Frühen Neuzeit findet dann eine Begriffsdifferenzierung statt, in deren Zuge Bündnis fortan als ein völkerrechtlicher Begriff primär rechtliche Vereinbarungen zwischen souveränen Staaten bezeichnen wird, während der Bund weiterhin die institutionelle Bindung von Bundgliedern beschreibt, die zugleich souverän und Teil einer Institution sind, der wiederum die Rechtskompetenz übertragen wird. Die Frage nach dem Ort der Souveränität wird damit zum Dreh- und Angelpunkt des Bundes – und zugleich unbeantwortbar. Sie verbleibt, so das den Bund kennzeichnende Paradox, in der Schwebe. 23 Der Bund ist rechtshistorisch betrachtet also nur eine spezifische Vertragsform, aufgrund seiner kulturhistorischen Kodierung aber weit mehr

20 Vgl. David Hume: A Treatise of Human Nature. Oxford 2003, S. 307 – 322. 21 Verträge gehören selbstverständlich zu den ältesten Rechtsinstituten der Welt – und maßgeblich für die Formierung des modernen westlichen Vertragsbegriffs war schon die Vertragstypologie des römischen Rechts. Allerdings gab es bis ins 18. Jahrhundert hinein keinen allgemeinen Vertragsbegriff, sondern abhängig vom Vertragsinhalt unterschiedliche Vertragstypen, die sich in Form und Möglichkeit der Klagbarkeit unterschieden. Vgl. Klaus-Peter Nanz: Die Entstehung des allgemeinen Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert. München 1985. 22 Ausführlich zur Begriffsgeschichte vgl. Koselleck: Bund (wie Anm. 17), S. 582 – 649. 23 Vgl. Schmitt: Verfassungslehre (wie Anm. 12), S. 370 f.

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als nur ein Vertrag. Zu der religiösen und politischen werden sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts noch weitere gesellen, allen voran die des Gefühls und der sozialen Kommunikation. Die heilsgeschichtliche Dimension übersetzt sich zudem vielfach in einen nationalen Erwartungshorizont. Diese semantische Offenheit des Bundes ermöglicht und befördert gewissermaßen Novalis’ enzyklopädisches Vermittlungsprojekt. Der Begriff erweist sich aufgrund seiner semantischen Mehrfachkodierungen geradezu als prädestiniert, um Religion, Moral, Politik, Recht und Ästhetik ineinander zu übersetzen. Im ‚Sinn für Bund‘ zeigen sich wie in einem Vexierbild zugleich die anthropologische wie auch die moralische, politische und rechtliche Disposition des Menschen.

2 In der Form des Bundes – romantische Staatsphilosophie in Glauben und Liebe Die mit dem Bund assoziierte heilsgeschichtliche Dimension ist für Novalis’ Schreiben insgesamt kennzeichnend. Als zentrale Metapher dafür steht in seinen Schriften eher die des Goldenen Zeitalters. Der Bund lässt sich in mancher Hinsicht jedoch als eine Formvariante lesen. Er wird dazu genauso wie die Metapher des Goldenen Zeitalters seiner religiösen Bestimmung entkleidet, denn die Erlösung im Sinne eines Erreichens des Absoluten ist nicht an die Wiederkehr des Heilands gebunden, sondern potentiell in jedem Menschen als unendlicher Annäherungsprozess angelegt. 24 Mehr noch, in Novalis’ Poetik wird die Annäherung ja komplementär als poetischer Prozess konzipiert, der im Glauben an die „Wunderkraft der Fiction“ (AB, Nr. 782) das nichtgegenwärtige Ideal in der Darstellung präsent werden lässt. Dieses Oszillieren auf der Zeitachse wie auch auf der Referenzachse bestimmt Novalis’ Fragmentzyklus Glauben und Liebe. Der Bezug auf das preußische Königspaar ist demnach einem historischen Anlass geschuldet, um eine poetische Vision des vollkommenen Staates zu entwerfen. 25 Das ‚Symbolisierte‘ ist jedoch nicht mit dem ‚Symbol‘ zu verwechseln (vgl. AB, Nr. 685). „Wer hier mit seinen historischen Erfahrungen angezogen kömmt“ (GL, Nr. 15), so schreibt Novalis selbst, weiß nicht, worum es geht. Zunächst erscheinen 1798 in der Juni-Ausgabe der Jahrbücher der Preußischen Monarchie die mit Blumen betitelten Gedichte, einen Monat später

24 Vgl. Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965, S. 348 f. 25 Ebd., S. 335 f.

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der Zyklus Glauben und Liebe. Die Veröffentlichung des letzten Teils, der Politischen Aphorismen, wurde von der Zensur allerdings schon verboten. Einer von Schlegel übermittelten Anekdote zufolge hatte Friedrich Wilhelm III. den Text nicht verstanden und erfolglos eine Deutung in Auftrag gegeben. 26 In der Einleitung der ersten Ausgabe stellen die Herausgeber der Jahrbücher ihr Publikationsprojekt programmatisch als Vermittlungsorgan vor, das fortan von all dem berichten wird, was geeignet ist, dem König die Zuneigung seiner Untertanen zu erwerben. Gegenstand der Jahrbücher werden dementsprechend nicht so sehr Abhandlungen über politische Ziele und Reformen sein, als vielmehr neben den üblichen Berichten über das kulturelle Leben und die inneren Verhältnisse des Staates (zum Recht, Militär, den Finanzen, zum Handel und der Landwirtschaft, Außenpolitik) die Person des Königs selbst samt seiner Familie und seines häuslichen Lebens. Projekt und Programm ist es, das tugendhafte Leben des Königs als Sinnbild für den Staat und mit Strahlkraft für die Untertanen zu generieren: Das ‚preußische Volk‘ wird sich in dem gezeigten ‚Bilde wiederfinden‘, ‚in den schönen Kreis eintreten‘ und noch ‚inniger das allgemeine Wohl teilen‘ und mit ‚vereinter, stärkerer Kraft‘ die Monarchie ‚schützen‘, so heißt es. 27 Die Jahrbücher erweisen sich aus dieser Perspektive als propagandistisches Regierungsorgan, das angesichts des mit so hohen Erwartungen verbundenen Thronwechsels zur Stärkung der Monarchie und des Staates Imagepflege betreibt. Bemerkenswert ist die von den Herausgebern verwendete Metaphorik, der zufolge der Staat ein von Kräften bewegter und durchdrungener Körper ist, an deren Anfang der König steht. Auf sein Wirken kommt es an – auch jenseits der expliziten Regierungsmittel, als die ganz klassisch das Recht und die Gesetze genannt werden. Die Gesetze, als Befehle des Königs (vgl. PJM, S. 6), halten zwar wie ‚wohltätigen Bande‘ das ‚preußische Volk‘ zusammen (vgl. PJM, S. 5). Daneben muss aber auch „das Gute und Schöne“ des Staates „Anerkennung und Verbreitung“ (PJM, S. 4) finden, damit die Monarchie für die Untertanen wieder „glänzend zu sehen“ (PJM, S. 2) ist. Die Regentschaft Friedrich Wilhelms III. wird von den Herausgebern damit gleichsam selbst der zeitgenössischen Gefühlskultur folgend einer ästhetischen respektive romantischen Programmatik unterworfen, welche in den einzelnen Ausgaben der Jahrbücher kontinuierlich entfaltet wird. Novalis’ Glauben und Liebe nimmt vieles von dem Ton und der Metaphorik bis hin zu beinahe wörtlichen Übernahmen aus dieser Einleitung 26 Vgl. Ludwig Stockinger: Kommentar [Glauben und Liebe und Politische Aphorismen], in: Novalis. Bd. 3: Kommentar und Register. Darmstadt 1999, S. 367 – 395, S. 376. 27 Die Herausgeber der Jahrbücher u. s. w. an ihre Leser, in: Jahrbücher der preußischen Monarchie unter der Regierung Wilhelms des Dritten 1 (1798), S. 1 – 12, hier S. 5 (zukünftig als PJM zitiert).

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auf. Von daher scheinen die Jahrbücher der Preußischen Monarchie tatsächlich der prädestinierte Ort für die Publikation zu sein. Allerdings wird die ästhetische Regierungsprogrammatik radikal zugespitzt. Die beiden für den Staat offenbar so wichtigen und in der Einleitung noch parallel geführten Prinzipien ‚Recht‘ und ‚Ästhetik‘ werden bei Novalis – darin ganz dem Vermittlungsprojekt des Allgemeinen Brouillon folgend – in ein sich bedingendes Wechselverhältnis gesetzt. Vor allem aber fragt Glauben und Liebe nach den Bedingungen der dem König zugeschriebenen Strahlkraft. Genauer gesagt: Mit dem Zyklus wird eine solche, dem König oder der Institution der Monarchie inhärente Kraft in Frage gestellt. Die unauf lösliche Verwebung von Recht und Ästhetik zeigt sich insbesondere im fünfzehnten Fragment, in dem die Frage der (Staats-)Verfassung aufgeworfen wird und das die eingangs zitierte topische Gegenüberstellung von Geist und Buchstaben wiederaufnimmt. Ein Königspaar ist für den ganzen Menschen, was eine Constitution für den bloßen Verstand ist. Man kann sich für eine Constitution nur, wie für einen Buchstaben interessiren. Ist das Zeichen nicht ein schönes Bild, oder ein Gesang, so ist Anhänglichkeit an Zeichen die verkehrteste aller Neigungen – [. . . ] (GL, S. 15)

Eine Verfassung im Sinne eines Verfassungstextes, einer kodifizierten Konstitution ist nur ‚Buchstabe‘. Das ‚Regelwerk‘, in dem die Staatsorganisation des ‚vollkommenen Staates‘ dargelegt wird, muss aber den ‚ganzen Menschen‘ ansprechen und deshalb mehr als toter, nur für den Verstand rezipierbarer Text sein, so ließe sich das Fragment paraphrasieren. Die Funktion des Königs ist es (zusammen mit der Königin), die Prinzipien der Staatsorganisation darzustellen, nicht nur die einmal festgelegten Grundprinzipien (der Verfassung), sondern auch die Gesetze, die das tägliche Leben regulieren. Entsprechend heißt es weiter: Was ist ein Gesetz, wenn es nicht Ausdruck des Willens einer geliebten, achtungswehrten Person ist? Bedarf der mystische Souverän nicht, wie jede Idee, eines Symbols, und welches Symbol ist würdiger und passender, als ein liebenswürdiger tref licher Mensch? Die Kürze des Ausdrucks ist doch wohl etwas werth, und ist nicht ein Mensch ein kürzerer, schönerer Ausdruck eines Geistes als ein Collegium? (GL, Nr. 15)

Novalis’ rhetorische Frage lässt sich als Präzisierung und Korrektur der in der Einleitung zu den Jahrbüchern suggerierten Gleichsetzung von Befehl und Gesetz lesen. Im weiteren rechtsphilosophischen Kontext ist es vor allem eine Anspielung und Abwandlung der neuzeitlichen Souveränitätslehre, die also auch in der Einleitung zu den Jahrbüchern mit anklingt und deren Bestimmung zufolge Gesetze Manifestationen des souveränen

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Willens sind. 28 Novalis versieht diese Bestimmung nun aber mit einem entscheidenden Einschub, der die Formel von Gesetz – Willensmanifestation – Souverän gleich auf zweifache Weise unterbricht: durch die Zuschreibung ‚geliebte Person‘ und durch den Hinweis auf die Modi der Darstellung: ‚Ausdruck‘ und ‚Symbol‘. Das Gesetz ist Ausdruck, also Willensmanifestation und Darstellung der geliebten Person, der Gesetzgeber aber nicht Souverän, sondern nur geliebte Person, die den ‚mystischen Souverän‘ symbolisiert. 29 Von der anderen Seite, nicht der des Gesetzgebers, sondern der Adressatenseite aus gelesen, zeigt sich die Verschiebung dieser Vermittlungskette noch deutlicher: Norm und Gesetz ist der Ausdruck nicht, weil er einen Herrschaftswillen formuliert, dem zu gehorchen wäre. Gesetze werden vielmehr erkannt und angenommen, weil sie von einer ‚geliebten Person‘ dargestellt werden, die in ihren Ausdrucksmodi keiner arbiträren Zeichenlogik folgt, stattdessen aber ästhetischen Verfahren: etwa denen des ‚Bildes‘, des ‚Gesangs‘ oder eben des ‚Symbols‘. Zur Grundbedingung des Rechts wird somit die Liebe, deren zentrale Funktion im Titel des Fragmentzyklus schon angekündigt ist. Sie führt zur im ‚inneren Sinn‘ gegründeten anthropologischen Disposition des Menschen zurück. Schließlich umschreibt die Liebe der platonischen Eros-Tradition folgend ja nicht nur eine auf Affektivität gegründete Form von Intersubjektivität, sondern ein in der affektiven Zugewandtheit begründetes Erkennen (vgl. auch GL, Nr. 4). Die Vorstellung vom Recht als normativem Zwangssystem wird somit überschritten und die Macht des Königs durchschnitten, nicht aber die Setzung von Normen in Form von Gesetzen. Ihre Erzeugung folgt einem anderen Weg: Sie entstehen in einem Wechselverhältnis von ästhetischem Ausdruck und gefühlsgeleiteter Bezogenheit, auf die sich das Erkennen und Annehmen der Gesetze gründet. Recht wird zu einer ästhetischen wie gefühlsgeleiteten intersubjektiven Praxis. 30 Das Optieren für den König und die Monarchie erweisen sich aus dieser Perspektive als eine Frage der Form. Es geht um die Kürze und die Schönheit des Ausdrucks, wie es in der Passage weiter heißt. Die Entscheidung für die „monarchische[] Form“ (GL, S. 16) ist also keine politische im engeren Sinne, sondern eine ästhetische, die nicht zuletzt natürlich mit der

28 Vgl. Jean Bodin: Six livres de la république. Lyon 1593, S. 155. 29 Zum ‚Ausdruck‘ als ästhetisches Wechselspiel von Darstellung und Performanz vgl. Rüdiger Campe: Is ‚the Political‘ a Romantic Concept? Novalis’s Faith and Love or The King and Queen with Reference to Carl Schmitt, in: Jens Meierhenrich / Oliver Simons (Hg.): The Oxford Handbook of Carl Schmitt. Oxford 2016, S. 657 – 678, hier S. 671. 30 In einzelnen Beiträgen der Jahrbücher wird ebenfalls ein gefühlsgeleiteter Zugang zum Recht propagiert, der allerdings durch die „Polizierung“ der Herzen erreicht werden soll (vgl. z. B. PJM Bd. 2, S. 303).

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romantischen Poetik des Fragments korrespondiert und auf dem Glauben an die Kraft der Dichtung basiert. 31 Dabei markiert der Glaube bei aller religiöser Konnotierung in Novalis’ Schriften immer wieder den unhintergehbaren Anfang und Ausgangsort der Erkenntnis, der nicht gewusst, sondern nur gefühlt werden kann (vgl. FS, Nr. 3). Wenn die Entscheidung für die Monarchie eine Entscheidung über die Form ist und auf Glauben und Liebe gründet, dann stellt sich die Frage, wie sie sich intersubjektiv vermittelt. Nicht durch Geburt oder aufgrund von Gottesgnadentum gelangt der König in seine Position – und auch nicht aufgrund eines durch das jeweilige Eigeninteresse geleiteten Zusammenschlusses, wie es naturrechtlicher Kontraktualismus und Liberalismus nahelegen könnten (vgl. GL, Nr. 36). Das ist eben das Unterscheidende der Monarchie, daß sie auf den Glauben an einen höhergeborenen Menschen, auf der freiwilligen Annahme eines Idealmenschen beruht. Unter meines Gleichen kann ich mir keinen Obern wählen; auf einen, der mit mir in der gleichen Frage gefangen ist, nichts übertragen. (GL, Nr. 18)

Mit der Freiwilligkeit, der Gleichheit, dem Akt der Übertragung und der hervorgehobenen Position des Souveräns sind dennoch wesentliche Merkmale des Gesellschaftsvertrags genannt. Die Kraft des Zusammenschlusses liegt allerdings nicht so sehr im gemeinsamen Beschluss, der (im Gegensatz zu naturrechtlichen Kontraktualismusmodellen) gleichsam als Leerstelle ausgespart wird, sondern im (gemeinsamen) Glauben an den König und im Symbolcharakter, der ihm aufgrund dieses Glaubens zugesprochen wird. Dies verbindet denn auch die zunächst als Paradox erscheinende syntaktische Gleichsetzung von ‚Glauben‘ und ‚freiwilliger Annahme‘, denn die Formulierung ‚freiwillige Annahme‘ lässt sich auf zweifache Weise lesen: als freiwillige Akzeptanz des Königs, aber auch im Sinne einer freiwilligen Vorstellung respektive Erfindung des Königs. In der ersten Lesart erhält die gefühlsgeleitete Bezogenheit auf den Gesetzgeber als geliebte Person nur eine komplementäre Beschreibung, welche die Bezogenheit zugleich zu einem freiwilligen Willensakt macht. In der zweiten nimmt sie (der Fichte’schen Tathandlung vergleichbar) den mit der Attribuierung ‚frey‘ verbundenen Gedanken der notwendigen Setzung eines Anfangs wieder auf. 32 Der König wird so zur notwendigen Setzung einer

31 Zur monarchischen Form als ästhetische bzw. rhetorische Form vgl. auch Jan Niklas Howe: Der arabeske Staat. Politik und Ornament bei Novalis, in: Athenäum 20 (2010), S. 65 – 109. 32 Für eine mit Bezug auf die Fichte’sche Tathandlung vergleichbare Lesart vgl. Hermann Kurzke: Romantik und Konservatismus. Das „politische“ Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte. München 1983 S. 193.

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Staatskonstruktion. Als solche markiert er den „absoluten Mittelpunct“ (GL, Nr. 18) des Staates, auf den diese Gemeinschaft ausgerichtet ist. Er hat systemische Funktion. 33 Diese drückt sich in einer Strahlkraft aus, die wiederum „allmählich die Masse seiner Unterthanen [assimilirt]“ (GL, ebd.). Nicht Herrschergewalt kommt ihm also zu, sondern die Funktion eines „Erziehungsmittel[s]“ (GL, ebd.), in dessen Nähe die „Äußerungen des Staatsbürgers [. . . ] glänzend“ (GL, Nr. 17) werden. Der König wird so zum Medium ästhetischer Mitteilung und Vermittlung, welche die Menschen bilden soll. Er tritt selbst an die Stelle, welche die Herausgeber der Jahrbücher der Preußischen Monarchie noch ihrem Publikationsprojekt zugeschrieben hatten. Er ist immer schon „Dichtung“ (GL, Nr. 18) bzw. wird durch Dichtung als extrapoliertes poetisches (Bildungs-)Prinzip des Staates erfunden und eingesetzt. Damit Novalis’ Konstruktion funktioniert, bedarf es aber noch mehr als der freiwilligen Annahme. Es bedarf auch einer Übereinstimmung in der Sinn- und Funktionszuschreibung, die der König erhält und die hier in der Rede von der Freiwilligkeit unter Gleichen nur angedeutet wird. Eine solche Übereinkunft kommt ohne das ‚Zuthun‘ der Menschen nur im ‚tausendjährigen Reiche‘ zustande, so heißt es in den Blüthenstaub-Fragmenten. Ansonsten muss eher „einstimmig durch ein lautes oder stilles Einverständniß gewählt“ 34 werden – und dies eigentlich kontinuierlich, denn die Könige sind ‚Ephemere‘, ihre Regierungszeiten auf einen Tag beschränkt (vgl. GL, Nr. 25). Es bedarf also einer Art semiotischen Bundes. Einen solchen entwirft Novalis in Glauben und Liebe nicht, wohl aber in einem Eintrag der Fichte-Studien, in dem es um die Frage geht, wie Kommunikation angesichts der Arbitrarität von Zeichen möglich ist. Novalis’ Lösung legt jedem Sprechen ein kontraktuales Moment zugrunde, welches das Erreichen der Übereinstimmung selbst schon als Willensakt, quasi als ‚freien Vertrag‘ (vgl. FS, Nr. 11), entwirft. 35 Dieser steht einem Bestreben, wie es den Jahrbüchern der Preußischen Monarchie zu Grunde liegt, nämlich über Ästhetik und Semiose zu herrschen, diametral entgegen. Am Anfang steht stattdessen die Vereinbarung, in Funktionsdeutung und Ausrichtung auf den König und damit des ganzen Staates übereinstimmen zu wollen. Dieser Bund der Vermittlung und Kommunikation unterscheidet sich freilich radikal vom naturrechtlichen Gesellschaftsvertrag, der die

33 Vgl. Campe: Is ‚the Political‘ a Romantic Concept? (wie Anm. 28), S. 668. 34 Novalis: Vermischte Bemerkungen / Blüthenstaub (179//98), Novalis. Bd. 2 (wie Anm. 1), S. 225 – 285, hier S. 261, Nr. 76. 35 Für eine ausführliche Analyse dieses Eintrags unter Berücksichtigung des kontraktualen Moments vgl. Sigrid G. Köhler: Homo contractualis. Das Regime des Vertrags und die Romantik (noch unveröffentlichtes Manuskript).

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Aufteilung von ‚Mein‘ und ‚Dein‘ zu organisieren sucht. Novalis’ poetischer Staat basiert damit auf der „Vorstellung einer Selbstgesetzgebung“ 36 in Rousseau’scher Tradition, die allerdings ihren Ausgang schon in der ästhetischen respektive semiotischen Praxis nimmt und auf Vermittlung zuläuft – und für die es offenbar keine weitere Begründung als den im Menschen angelegten ‚Sinn für Bund‘ gibt. Die Souveränität verbleibt in diesem Bund – so die Vision – zwischen den Kommunizierenden in der Schwebe. Vor allem aber zeigt sich an ihr, was den Herausgebern der Jahrbücher für die Preußische Monarchie und ihrer Staatsprogrammatik fehlt, um wahrhaftig ‚romantisch‘ zu werden: der richtige Sinn für Bund.

36 Oliver Kohns: Der Souverän auf der Bühne: zu Novalis’ politischen Aphorismen, in: Weimarer Beiträge 54/1 (2008), S. 25 – 41, hier S. 36.

Andreas Franzmann

Fürstenstaat und „Kapitalmächte“ Max Webers Deutung innen- und außenpolitischer Bündnisse in seiner Soziologie des frühneuzeitlichen Staates

Bündnisse waren lange Zeit eine Domäne der Geschichte internationaler Politik. Allianzen, Pakte, strategische Partnerschaften waren und sind – insbesondere in der Geschichte der Frühen Neuzeit – ein Thema der europäischen Bündnispolitik. Aus der Soziologie gibt es hierzu nur wenige Beiträge. In jüngerer Zeit wird in der Geschichtswissenschaft das Thema Bündnisse jedoch erweitert diskutiert, angeregt von einer gewissen historischen Konvergenz, der Zunahme innenpolitischer Bündnisse, von Bünden, freiwilligen Zusammenschlüssen, Ligen, Logen, dem Aufkommen eines Bündnisgedankens in der politischen und philosophischen Literatur einer Epoche, die gleichzeitig als Hochphase europäischer Bündnispolitik zu betrachten ist. Dabei stellt sich die Frage nach Zusammenhängen, die diese an sich distinkten Phänomene verbinden und zeitgleich evoziert haben könnten. Die nachfolgenden Überlegungen versuchen, eine schon verfügbare Deutung möglicher Zusammenhänge im Werke Max Webers zu rekonstruieren. Dabei mache ich mir zunutze, dass Weber zumindest einige strukturelle Zusammenhänge in seinen Überlegungen zur Entstehung des frühneuzeitlichen Staates bereits herausgearbeitet hat, auch wenn dem Thema ‚Bündnisse‘ bei ihm selbst keine eigenständige Studie gewidmet ist 1 und auch nicht alle hier denkbaren Querbeziehungen thematisch werden. Ich trage verstreute Argumente Webers zusammen, um zu einem Gesamtansatz zu gelangen, der in Webers Werk angelegt, aber nur annäherungsweise erreicht ist. Dabei darf nie vergessen werden, dass Webers Deutung im Kontext zeitgenössischer Debatten und Kenntnisse entstand und alle im Folgenden diskutierten Einzelstränge (Heeresverfassung, Rechtskodifikationen, Merkantilismus, Diplomatie etc.) ihre eigene Forschungsgeschichte haben, die im Detail längst über Weber hinausgegangen ist und eigene Kontroversen und Einzelperspektiven hervorgebracht hat. 1 Eine Ausnahme ist Webers Analyse des Dreibunds, die er im Rahmen seiner Betrachtungen der Außenpolitik Bismarcks angestellt hat, in: Max Weber: Bismarcks Außenpolitik und die Gegenwart, in: ders.: Gesammelte Politische Schriften. Hg. von Johannes Wickelmann. 5. Aufl. Tübingen 1988, S. 112 – 129.

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1 ‚Bündnisse‘ im Sprachgebrauch Webers Max Webers Schriften zeichnen sich nicht gerade durch argumentative Übersichtlichkeit aus. Oft fühlt man sich als Leser genötigt, die Argumente aus einer Vielzahl an Einzelbetrachtungen herausarbeiten. Webers Arbeitsweise verlangt, ihm in die Zusammenschau zahlreicher historischer Details aus verschiedenen Epochen und Ländern zu folgen. Teils arbeitet er mit den Mitteln des Vergleichs, teils typisierend, immer jedoch mit dem Interesse daran, aus dem reichhaltigen Material strukturelle Zusammenhänge hervortreten zu lassen, auf die man mit Blick auf die rein historischen Ereignisdaten kaum kommen würde. Ziel ist zumeist, strukturelle Triebfedern einer Entwicklung freizulegen, deren Anfänge und Wirkungsmacht aus einer späteren Kenntnis rätselhaft erscheinen, weshalb die Ursachen aus dem historischen Material rekonstruiert werden sollen. 2 Auch Webers Behandlung von Bündnissen muss man einer solchen Suche nach Triebfedern entnehmen, hier: den Triebfedern der Entstehung des frühneuzeitlichen Staates. Wenn Weber von „Bündnissen“ spricht, weicht dies zunächst deutlich von dem ab, was in einer Geschichte außenpolitischer Pakte, von Militär- oder diplomatischen Bündnissen zu erwarten wäre. Von „Bündnissen“ spricht Weber nämlich zunächst im Zusammenhang mit innenpolitischen Interessenallianzen. Was er vor Augen hat, ist vor allem ein Zusammenwirken von Patrimonialfürsten, ihren „Beamten“ und Verwaltungsdienern auf der einen Seite und den „Kapitalmächten“, Handelsmonopolisten, Kolonialkompanien, Manufakturbetreibern, „bürgerlichen Schichten“ auf der anderen. Diese Allianz beruhte nicht auf Verträgen, Schwüren, heiligen Manifestationen eines gemeinsamen Willens. Sie kannte weder formelle Absprachen über Leistungen und Gegenleistungen, noch waren die Parteien sich immer bewusst, im Bündnis mit einer anderen Macht zu stehen. Oft genug sahen sie sich sogar als Gegenspieler. Weber arbeitet jedoch eine langfristig wirksame Konvergenz von Interessenlagen verschiedener Gruppen heraus, die als Akteure auch ohne Verträge ihr Handeln strategisch aufeinander abstellten und koordinierten. Für dieses Bündnis interessiert Weber sich aufgrund seiner Frage nach der Entstehung der modernen Herrschaftsverbände. Weber hat sich be2 Auch Webers berühmte religionssoziologische Studien zum Protestantismus dienen einem solchen Unterfangen. Sie sollen den immer noch diskutierten Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Handeln im modernen Betriebskapitalismus und Wurzeln einer es vorbereitenden, weckenden religiösen Habitusformation in Gruppen und Sekten des Protestantismus freilegen. Vgl. zur Bewertung der empirischen Grundlagen Hartmut Lehmann: Max Webers „Protestantische Ethik“. Beiträge aus der Sicht eines Historikers. Göttingen 1996.

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kanntlich zeitlebens mit dem Problem beschäftigt, wie es dazu kommen konnte, dass im Okzident – und zunächst nur dort – eine Rationalisierungsdynamik der Lebensverhältnisse einsetzte. Diese Rationalisierungsdynamik mündete in einen modernen Kapitalismus, also einen auf Planung und dauerhafte Geschäftsbeziehungen angelegten Betriebskapitalismus, der seine Gewinne nicht kurzatmigen Raubzügen oder Ausbeutung verdankte, sondern planvoller Produktpflege, Handel, Kredit, später sogar Tarifpartnerschaft. 3 Ein moderner Industriekapitalismus existierte vor 1800 nicht. Für Weber war aber der Aufbau einer ihrerseits ‚rationalen‘ Staatsverwaltung unter der Ägide der Fürsten eine zentrale Voraussetzung für die Entstehung eines solchen. Folgt man Weber, hat der frühneuzeitliche Staat die Entfaltung eines vormodernen Kapitalismus über mehrere Perioden seiner Entwicklung hinweg stark befördert, dies jedoch aus eigenen Interessen und Entwicklungstendenzen heraus, nicht aufgrund bürgerlicher Einflüsse, die mit denen der Kapitalisten keineswegs immer deckungsgleich waren, ihnen oft sogar entgegenstanden, weshalb Inhalt und Richtung jener Entwicklungstendenzen aus sich heraus erklärt werden müssen.

2 Das Militärwesen als Triebfeder frühneuzeitlicher Bündnisse Einen wichtigen Antrieb sah Weber in der Militärverfassung und der Entwicklung stehender Heere ab 1600, welche den Fürsten zum einen eine größere militärische Beweglichkeit sowie Unabhängigkeit von ihren Vasallen und dem „Leiturgiesystem“ verschafften, das ein Mitbringen des Kriegsgeräts, von Waffen, Pferden, Rüstung durch die Soldaten vorsah, aber Pünktlichkeit und Umfang der Rekrutierung stets ungewiss blei-

3 Ich folge der Auffassung von Sprondel und Roth, wonach die Erklärung des okzidentalen Sonderwegs im universalhistorischen Rationalisierungsprozess das Hauptthema Webers gewesen sei. Diese These darf man jedoch nicht verwechseln mit der – meiner Ansicht nach falschen – Annahme, dass Weber die Ursachen dieser okzidentalen Entwicklung allein in der asketischen Moral des Protestantismus gesehen oder auch nur dort gesucht hätte. Seine berühmte These einer vom Protestantismus ausgehenden Disziplinierung des Wirtschaftshandelns im Sinne einer habituellen Ausrichtung der Lebensführung auf den diesseitigen Erfolg in wirtschaftlichen Unternehmungen als Ausdruck einer religiös gewerteten Bewährung ist nur ein, wenngleich zentraler, Baustein. Ein anderer Baustein ist die Entwicklung der frühneuzeitlichen Herrschaftsverbände vom Patrimonial- oder Fürstenstaat zum Verwaltungsstaat, den man aus jener innerreligiösen Bewegung alleine nicht erklären kann. Vgl. Walter M. Sprondel: Max Weber’s Protestant Ethic. The Universality of Social Science and the Uniqueness of the East, in: Detlef Kantowsky (Hg.): Recent Research on Max Weber’s Studies of Hinduism. Köln / London 1986, S. 59 – 72; Günther Roth: History and Sociology in the Work of Max Weber, in: British Journal of Sociology 27/3 (1976), S. 306 – 318.

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ben ließ (WuG, S. 211). 4 Zum anderen erhöhten die stehenden Heere die Abhängigkeit der Fürsten von der Geldwirtschaft, insbesondere von den Steuereinnahmen, noch weiter, als dies in den Söldnerheeren der Condottieri ohnehin schon der Fall war, die bereits mit Geld entlohnt worden waren, sich aber als anfällig für Desertion, Seitenwechseln und Plünderungen bei Zahlungsausfall erwiesen hatten. Mit der Oranischen Heeresreform der Niederländer Ende des 16. Jahrhunderts als Vorbild hatten daher alle größeren Territorialfürsten im Laufe des 17. Jahrhunderts stehende Heere eingeführt. 5 Neben dem militärischen Training der Truppen lag ein weiterer Vorteil in der größeren Bindung der Kommandeure an die Fürsten, was ihre Königstreue und Einsetzbarkeit auch in innenpolitischen Konflikten erhöhte. Der aus dem Festungsbau, den Regimentsbudgets, Artillerie und Schiffsbau erwachsende Finanzbedarf zwang die Fürsten dazu, ihre Einnahmen durch Steuern dauerhaft zu erhöhen, was nur möglich war mit einer moderneren Finanzverwaltung und Erweiterung der Anzahl an Amtsträgern, die im Namen der Fürsten die Eintreibung von Zöllen, Steuern, Abgaben verwalteten.

3 Rechtskodifikationen Weber hebt die Aktivitäten und Eigeninteressen dieser neuen Beamten hervor, die in mehrfacher Hinsicht sich mit den Interessen bürgerlicher Schichten gedeckt hätten. Er diskutiert dies im Zusammenhang mit den „Kodifikationen des Rechts“. 6 Als Hürde einer rationalen Finanzverwaltung erwies sich, laut Weber, die Vielzahl teils konkurrierender Rechtsvorschriften. Die fürstlichen Imperien zerfielen in zahlreiche Gebiete mit eigenen Rechtstraditionen. Außerdem existierte neben geschriebenem Recht 4 Ich zitiere nach der leicht zugänglichen und verbreiteten Ausgabe Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt v. Johannes Winckelmann. 5., rev. Aufl. Studienausgabe. Tübingen 1980, fortan unter Angabe der Seitenzahl im Text zitiert als: WuG. Auf die kritische Ausgabe von Webers Manuskripten sei verwiesen (Max Weber Gesamtausgabe MWG, München). Erhoben wird auch kein Anspruch auf Vollständigkeit bei der Sichtung aller relevanten Stellen. 5 Vgl. Werner Hahlweg: Die Heeresreform der Oranier. Das Kriegsbuch des Grafen Johann von Nassau-Siegen. Wiesbaden 1973; Gerhard Papke: Von der Miliz zum Stehenden Heer 1648 – 1789. Wehrwesen im Absolutismus, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt Freiburg (Hg.): Handbuch zur Deutschen Militärgeschichte 1648 – 1939. Bd. 1, Abschnitt 1. München 1979, S. 1 – 311; Charles Oman: A History of the Art of War in the Sixteenth Century. London 1991; Michael Roberts: The Military Revolution, 1560 – 1660, in: Clifford J. Rogers (Hg.): The Military Revolution Debate. Readings on the Military Transformation of Early Modern Europe. Boulder, Col. 1995, S. 13 – 35. 6 WuG, Kapitel VII. Rechtssoziologie, § 6, Amtsrecht und patrimonialfürstliche Satzung. Die Rechtskodifikationen, S. 482 – 495.

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römischer Provenienz (Pandekten, Digesten, Droit écrit) sowie dem kanonischen Recht, das seit dem Investiturstreit in den Fürstenherrschaften für alle Angelegenheiten der Kirche galt, auch noch das örtliche Gewohnheitsrecht (droit coutumier), teils als „Juristenrecht“ der Richter, teils als lokale Praktik der Rechtsschöpfung durch Adel, Magistrate, Zünfte. Amtsträger der Zentralgewalt ergriffen daher, so Weber, zahlreiche Initiativen für eine Angleichung, auch mit dem Ziel einer Zusammenführung, Vereinfachung und Systematisierung von Verwaltungs- und Rechtsvorschriften. Das Mittel dieser Systematisierung war zunächst die Kompilation, dann Kodifikation 7 in Statuten und Rechtsbüchern, abschließend und konsequent verwirklicht erst in der Französischen Revolution, in Napoleons „Code civile“ und parallelen Büchern zum Strafrecht, Handelsrecht, zur Zivil- und Strafprozessordnung. Ganz allgemein zeichnete sich die Wissenskultur der Frühen Neuzeit durch ein Streben nach Vereinheitlichung und Schaffen von Übersichtlichkeit aus. 8 Auch unter den Juristen ist die Tendenz zur Systematisierung, Ordnung, Fundamentierung des Rechts durch Aufstellen von Grundsätzen zu erkennen (Grotius, Pufendorf, Thomasius, Wolff, Svarez, Bentham; Codex Theresianus). Die Kodifikation des Rechts griff jedoch die lokalen Rechtsautoritäten und Inhaber von Privilegien an. Diese Aktivitäten entfalteten die Beamten nur zum Teil im Interesse ihrer Herrscher, zum anderen Teil aus eigenen technischen Interessen. Auch zwischen ihnen herrschte eine Konvergenz der Interessen, nicht schon Einheit vor. Zum einen: „Der Fürst will ‚Ordnung‘. Und er will ‚Einheit‘ und Geschlossenheit seines Reichs“ (WuG, S. 487) – dies aber auch zu der Seite hin, dass er auf eine breite Einsetzbarkeit seiner Beamten in allen Landesteilen aus sein musste, was Vertrautheit mit lokalen Gegebenheiten, mithin Übertragbarkeit, Anwendbarkeit allgemeiner Grundsätze voraussetzte. Überdies ermöglichte die Rechtskodifikation erweiterte Karrierechancen der Beamten, „die nun nicht mehr an den Bezirk ihrer Herkunft dadurch gebunden sind, dass sie dessen Recht allein kennen“ (WuG, ebd.). Zum anderen erfolgten Kodifikationen aus technischen Interessen der Beamten insofern, als eine Übersichtlichkeit, Beherrschbarkeit, weitgehende Widerspruchsfreiheit der Verwaltungsvorschriften im Interesse der alltäglichen Verwaltungspraxis lag. Hieraus erwuchs königlichen Beamten eine andauernde Interessenkollision mit der Praxis der ständischen Rechtspflege. Auf eine Konformität des Rechts angewiesen, musste den Beamten die

7 Vgl. Gunter Wesener: Kodifikation und Kompilationen. Reformprogramme und Landrechtsentwürfe des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung 127 (2010), S. 202 – 244. 8 Vgl. Frank Büttner / Markus Friedrich / Helmut Zedelmaier (Hg.): Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit. Münster 2003.

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auf örtlichem Gewohnheitsrecht, Privilegien und Willkür beruhende Praxis ständischer Rechtsschöpfung ohne Bezug auf übergeordnete Normen, aus denen landesweiter Rechtsschutz und Planbarkeit durch Ansprüche, sogar Klagewege jenseits lokaler Gerichte eröffnet würden, ein Dorn im Auge sein. Zusammen mit den Fürsten hatten die Beamten ein Interesse daran, das ständisch gegliederte Rechtswesen zugunsten einer formalen Rechtsgleichheit, sogar Hierarchie der gerichtlichen wie gesetzgeberischen Instanzen zurückzudrängen, mit dem König an der Spitze, weil nur dies den Fürsten das Durchregieren ermöglichte. Darin war aber auch ein Konflikt zwischen den Staatsbediensteten und ihren Fürsten selbst angelegt, da auch die auf ihre religiöse Legitimität sich stützenden Fürsten mittels königlicher Verfügung, ‚persönlicher‘ Rechtsprechung: willkürlichen Einzelfallentscheidungen ohne rechtlich bindende Kraft für andere Fälle, sich über gesatztes Recht hinwegsetzten; die anhaltende Aufsplitterung des Rechtsgebietes durch Privilegien unterlief die rationale Berechenbarkeit und Verbindlichkeit der Rechtsschöpfung ohnehin. Von Konflikten zwischen dem ständischen Rechtssystem und dem rationalen Recht einer Zentralgewalt war die Verwaltungspraxis der frühen Neuzeit durchgängig beherrscht. Gegenüber den Sonderrechten drang die frühmoderne Verwaltung auf die Herrschaft durch ein ‚Reglement‘, durch Satzungen, Statuten, welche nur die Herrscher sollten erlassen können, was allerdings auch die Frage aufwarf, inwiefern sie selbst diesen Reglements unterworfen sein müssten, was ihrer Souveränität widersprach. Für die Entfaltung einer gewerblichen Kapitalistenschicht von großer Bedeutung war nicht nur die Einschränkung patriarchaler Willkür, an der Bürokratie und Gewerbestand im Handel, Kreditwesen gemeinsam interessiert sein mussten, sondern auch die Frage einer Anerkennung personenbezogener Rechte, deren Unangreifbarkeit im Naturrecht eine so große Rolle spielt. Eine Einschränkung patriarchaler Willkür durch feste Reglements lag im Interesse beider (vgl. WuG, ebd.). Doch die Schaffung fester Ansprüche der Beherrschten an die Justiz: Garantie „subjektiver Rechte“, zwar noch nicht von „Menschenrechten“, doch bereits von „objektiven Rechten“ zumindest im privatrechtlichen Gebiet des Vertragsrechts, war zunächst nur für kaufmännische und gewerbliche Schichten existenziell (WuG, ebd.). Absolute Vertragsfreiheit bei der Eigentumsveräußerung, in der Wahl der Gewerbe, in Erwerbsfreiheiten und darüber hinaus Ansprüche auf zivile Klagerechte bei Vertragsverletzungen wie Säumigkeit, Zahlungsausfall, Betrug, lagen nicht zwingend im Interesse der Fürsten, auch nicht in dem ihrer Beamten und wurden von ihnen aus denselben utilitaristischen Motiven technischer Herrschaftsfreiheit ausgebremst.

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Aber [. . . ] die Existenz nicht nur [. . . ] fester Normen, sondern objektiven ‚Rechts‘ im strengen Sinne also, ist [. . . ] die einzige sichere Form der Garantie jener Gebundenheit an objektive Normen überhaupt. Auf eine solche Garantie aber wirken ökonomische Interessengruppen hin, welcher der Fürst unter Umständen zu begünstigen und an sich zu fesseln wünscht, weil dies seinen fiskalischen und politischen Machtinteressen dient. (WuG, ebd.)

Der Konvergenz von Interessen wohnte also bereits auch ein Konflikt von Rechtsauffassungen inne, wurde aber durch das gemeinsame Streben nach wirtschaftlicher Prosperität noch neutralisiert. Es lag im Interesse der Fürsten, gewollte Zivilkontrakte zwischen Kauf leuten vor Willkür der lokalen Zollbehörden, vor Konfiskationen und Sonderabgaben zu schützen, aber eine Rechtsgarantie auf Klage auch im Kredit-, Leih- und Pfandgeschäft bei Zahlungsausfall, ein völliges Abstellen von Privilegien ging aus Sicht der Herrscher zu weit, da es ihre eigene politische Souveränität unterminiert hätte. Umgekehrt war Rechtsschutz für die frühen kapitalistischen Kaufmannschichten weniger eine dogmatisch-philosophische Frage des Eigentumsrechts, als vielmehr eine Frage der Berechenbarkeit der politischen Umstände eines wirtschaftlichen Unternehmens. Verlässlichkeit und Auslegungsklarheit von Rechtsvorschriften sind eine wichtige Bedingung von Kapitalinvestitionen. Zu einer fundamentalen Position haben erst die Philosophen des Naturrechts jene Rechtsaufassungen radikalisiert, darin jenen Gedanken des ‚objektiven‘, das heißt unantastbaren Rechts mit dem Gedanken des Menschseins, der Humanität verbindend. Es waren vor diesem Hintergrund drei Interessenlagen, die ein Bündnis eingingen: Die Fürsten aus fiskalischen Interessen an Einnahmequellen, um ihre Heere und Höfe zu finanzieren; die Beamten aus technischen Interessen an einer Rationalisierung der Herrschaftspraktiken; die Gewerbestände aus ökonomischen Interessen an einer rationalen Planbarkeit und geringeren Störanfälligkeit ihrer Geschäftsbeziehungen. Ein Bündnis von fürstlichen und von Interessen bürgerlicher Schichten gehörte daher zu den wichtigsten treibenden Kräften formaler Rechtsrationalisierung. Nicht in dem Sinne, dass eine direkte ‚Kooperation‘ dieser Mächte immer erforderlich wäre. Denn dem privatwirtschaftlichen Rationalismus der bürgerlichen Schichten kommt als selbständiger Faktor der utilitarische Rationalismus jeder Beamtenverwaltung schon von sich aus weit entgegen. [. . . ] das fiskalische Interesse der Fürsten sucht, weit über das Gebiet der aktuellen Bedeutung schon bestehender kapitalistischer Interessen hinaus, diesen das Bett zu bereiten, schon ehe sie da sind. (WuG, S. 487 f.)

Die Fürsten hatten also, getrieben von militärischen Konflikten, ein eigenes fiskalisches Interesse an wirtschaftlicher Prosperität und von daher ein Motiv nicht nur für die Duldung, sondern für die Förderung kaufmänni-

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scher Unternehmungen, weil sie auf Einnahmequellen angewiesen waren, um derentwillen sie Handelskapitalisten, Manufakturbesitzer, Gewerbetreibende, Kolonialunternehmer bedingt unterstützen mussten.

4 Merkantilistische Wirtschaftspolitik Diese Antriebsmotivation drückte sich nach Weber in der merkantilen Wirtschaftspolitik aus, der zwischen 1500 und 1750 praktisch alle Fürstenstaaten mit je eigenen Schwerpunkten anhingen. 9 Ziel war „die Erschließung von möglichst vielen Gelderwerbsquellen im eigenen Land“ (WuG, S. 820). Dazu dienten auch Versuche zur „Vermehrung der Bevölkerung, und, um diese trotz ihres Anwachsens ernähren zu können, Schaffung möglichst vieler Verkaufschancen nach außen, und zwar tunlichst von Verkaufschancen solcher Produkte, in denen ein Maximum inländischer Arbeit steckte, also für Fertigfabrikate, nicht für Rohstoffe“ (WuG, S. 820). Das merkantile Wirtschaftssystem beruhte auf der Annahme, dass sich die wirtschaftliche Stärke eines Landes in seinen Edelmetallreserven ausdrückte (Bullionismus). Gold und Silber waren eine politische Währung. Bezahlt wurden damit Heere, Waffen, Festungsbauten, Amtsträger, Höfe; sie dienten aber auch als Zahlungsmittel in den außenpolitischen Bündnissen, als Gegenleistung für Neutralität, Beistand, als Mitgift oder Lösegeld. Der immense Silberzufluss aus den spanischen Kolonien Amerikas erhöhte bei den Merkantilisten die Sorge vor einer Übermacht der Habsburger, was die anderen Länder ohne nennenswerte Gold- und Silbervorkommen zwang, den Mangel an Edelmetallen durch eine aktive Außenhandelsbilanz auszugleichen, was im Wesentlichen drei Konsequenzen hatte (vgl. WuG, S. 820 ff.): (i) Überschüssiges Kapital musste im Land gehalten, es sollte in inländische Unternehmen investiert werden; der Staat gewährte politisch hohe Zinsen für Anlagen; Gold- und Silberausfuhren wurden strikt verboten. (ii) Ein reeller Zugewinn an Werten konnte nur durch den Export von Waren ins Ausland erfolgen, dem ein Rückfluss von Gold oder Silber als Zahlungsmittel entsprach. Damit jedoch für exportierte Waren in Gold bezahlt wurde, mussten diese Waren, wie Weber schreibt, veredelt sein, was sie rar, konkurrenzarm und teuer machte; dies wiederum förderte

9 Zur neueren Forschungsdiskussion vgl. jeweils mit weiterer Literatur Moritz Isenmann (Hg.): Merkantilismus. Wiederaufnahme einer Debatte. Stuttgart 2014; Gerhard Stapelfeld: Der Merkantilismus. Die Genese der Weltgesellschaft vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Freiburg 2001; Rainer Gömmel: Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus 1620 – 1800. München 1998; Lars Magnusson: Mercantilism. The Shaping of an Economic Language. London / New York 1994.

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handwerkliche Manufakturen von Textilien, Brokat, Tuch, Kunsthandwerk, Porzellan, Wandteppichen, Instrumentenbau, Uhren, Wein, usw. (iii) Aktivitäten des Außenhandels mussten wenn möglich in der Hand inländischer Kauf leute bleiben, damit deren Erlöse dem eigenen Land zugute kamen; dies begünstigte Handelsgesellschaften, Kolonialhändler, Schiffsbau, Küstenstädte mit Fernhandel. Handelsmonopole wurden durch Privilegien gesichert; hohe Zölle auf fremde Einfuhren erhoben. Dieser Merkantilismus förderte also heimische Kapitalunternehmen aus seinen eigenen, fiskalischen Interessen heraus. Mit einer ‚bürgerlichen Idee‘ der Öffnung von Märkten hatte dies wenig zu tun. Ganz im Gegenteil nahm der merkantile Kapitalismus seinen Ausgangspunkt von der Regulierung des Außenhandels im Dienste einer Kontrolle der Einfuhren. Weber sieht die Ursprünge dieses Merkantilismus von England ausgehen: Unter dem schwachen König Richard II. [1367 – 1400, A.F.] setzte das Parlament, als eine Geldklemme eintrat, eine Untersuchungskommission ein, die zuerst mit dem Handelsbilanzbegriff [. . . ] gearbeitet hat. Zunächst produzierte sie nur Gelegenheitsgesetze: Verbot der Ein-, Begünstigung der Ausfuhr, allerdings ohne dass die gesamte englische Politik nun eine merkantilistische Richtung genommen hätte. Den entscheidenden Umschwung pflegt man von 1440 zu datieren. Damals wurden [. . . ] zwei Sätze, [. . . ] zum Prinzip erhoben: fremde Kauf leute, die Waren nach England bringen, müssen alles Geld, das sie dafür einnehmen, in englischen Waren anlegen, und: englische Kauf leute, die in das Ausland gehen, müssen wenigstens einen Teil des Erlöses in Bargeld nach England zurückbringen. An diese beiden Sätze hat sich dann allmählich das ganze System des Merkantilismus bis zur Navigationsakte von 1651 [Oliver Cromwell] mit ihrer Ausschaltung der Auslandsschifffahrt angeschlossen. (WuG, S. 820)

Die merkantilistische Politik war also gegen einen Abfluss von Werten gerichtet. Bezogen auf den internationalen Warenverkehr ging ihr Denkgebäude von einer Art Nullsummenspiel aus, in dem der Wettbewerb der Staaten nicht zu einer gesamtwirtschaftlichen Nutzenmaximierung führt, wie dies von den Theoretikern der klassischen politischen Ökonomie (Adam Smith, David Ricardo) später konzipiert wurde. Zuwachs konnte nach dem merkantilistischen Denken nur derjenige erreichen, der seine Anteile am Welthandel auf Kosten anderer Länder, durch Außenhandelsüberschüsse und / oder territoriale Zugewinne dauerhaft ausweitete. Dies u. a. legte auch einen Grundstein für die Suche nach Kolonien, weil Kolonien zugleich billige Rohstoffquellen für heimische Manufakturen, Gebiete des inländischen, zollfreien Warenverkehrs und mögliche neue Absatzmärkte waren. Darüber hinaus förderte es in der inländischen Wirtschaftsentwicklung handwerkliche Protoindustrien, Manufakturen, sowie Fernhandelsgesellschaften, Transportwesen, und soziale Gruppen, die sich

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bei Aktivitäten dieser Art und des Handels besonders hervortaten, wie z. B. die Hugenotten, deren Ansiedelung in Deutschland im 17. Jahrhundert als Ausdruck merkantilistischer Politik hessischer oder preußischer Souveräne betrachtet werden kann. Der Merkantilismus als das Bündnis des Staates mit kapitalistischen Interessen kannte selbst zwei verschiedene Lager, von denen das eine, in England etwa die Stuarts im Verbund mit der anglikanischen Kirche, besonders des Erzbischofs William Laud, Berater Karls I. wie Thomas Wentworth, Earl of Strafford, während des Konflikts mit dem Parlament, eine sozialpolitische Absicht mit dem Merkantilsystem verfolgte und die ständische Gliederung Englands im christlichen Sinne durch Fürsorge des Staates auch für die Armen erneuern wollte (vgl. WuG, S. 820). Die Stuarts haben neue Industrien sehr eng an ihre fiskalischen Interessen gebunden, indem sie Rohstoff-Importeure und Handelskompanien mit strengen Monopolkonzessionen versahen und nur zuließen, was den unmittelbaren Interessen der königlichen Steuerausbeutung entsprach. Ähnlich habe später Colbert in Frankreich zusammen mit den Hugenotten agiert (vgl. WuG, ebd.). Das Gegenlager in England, die Puritaner, hat die monopolistische Politik des Königs im Langen Parlament jahrzehntelang bekämpft, bis sie zusammenbrach, und die traditionelle Feindschaft vieler Engländer gegen Kartelle und Staatsmonopole begründet. Die Puritaner versammelten hinter sich jene kleine, noch teilweise zünftig verwurzelte, handwerkliche Unternehmerschicht, die von den königlichen Monopolen benachteiligt wurde und ihre Aktivitäten nicht den von den Außenwirtschaftsinteressen des Königs politisch erzeugten Veredelungsindustrien widmeten, sondern Absatzchancen in der breiteren Binnenwirtschaft im eigenen Land und den reellen Bedarfslagen der Städte jenseits der auf Luxusgüter abstellenden Märkte suchten. Diese kleinstädtische Unternehmerschicht stand einer Politik der Marktöffnung viel positiver gegenüber, hat ihren Aufstieg aber erst nach dem Sturz der Stuarts begonnen. Das Bündnis der Fürsten mit den Kapitalmächten hat in den Ländern Europas unterschiedliche Entwicklungen genommen. Dort, wo sich, wie in England oder den Niederlanden, ein königlicher Absolutismus nicht recht hatte durchsetzen können, haben Veredelungsindustrien und entsprechende Handelsmonopolisten im Landesinneren nicht die gleiche Bedeutung gehabt, vielmehr haben sich andere, mehr bürgerliche Unternehmergruppen früher entwickeln können; dort, wo die Könige ihre Macht haben durchsetzen können wie in Frankreich, Österreich oder im Kirchenstaat, behielten die privilegierten Monopolkapitalisten ihre Bedeutung länger. Vor allem der zweiten Spielart des Bündnisses wohnt als ein weiterer Aspekt die Gegnerschaft gegen alle Interessentengruppen inne, die einer

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Rechtskodifikation und Verwaltungshierarchisierung, einer Stärkung der Zentralgewalt sowie eines Abbaus lokaler Sonderrechte und Privilegien entgegenstanden – auf dem Kontinent in erster Linie die städtischen Zünfte, der lokale Adel, die mit den Lokalgewalten verbündete Kirche. Hierin unterschied sich die Entwicklung in den Ländern Europas erheblich. In Frankreich blieb die großgrundbesitzende Aristokratie über die Fronde hinaus wichtigster Widersacher der königlichen Politik und konnte nur durch einen riesigen und teuren Hofstaat neutralisiert werden. Dagegen blieb die Kirche bis zur Revolution weitgehend unangetastet. In England, wo die Kirche schon früh ihrer klösterlichen Besitztümer enteignet worden war, nachdem Heinrich VIII. in der Suprematsakte von 1535 die Klöster hatte auf lösen lassen, entwickelte sich die anglikanische Kirche zur Staatskirche, und es gelang den Königen, sich als Oberhaupt der anglikanischen Kirche zu installieren. Ähnlich in Deutschland nach der Reformation in den evangelischen Gebieten; Säkularisationen von Kirchenbesitz gab es auch hier, in Sachsen, Bremen, Schwerin, Magdeburg, ebenso die Vereinigung von „Thron und Altar“. In Österreich hingegen, wo die Kirche ihre Besitztümer behalten hatte, ist sie der eigentliche Widersacher gegen die Reformen der absolutistischen Monarchen geworden. Die Josephinische Kirchenreform der 1780er Jahre zielte daher auf eine Enteignung der weltlichen Besitztümer der Klöster, und eine materielle Kontrolle der religiösen Aktivitäten durch einen staatlichen „Religionsfond“, aus dem die geistlichen Aktivitäten bezahlt wurde, deren Verwaltung jedoch beim Staat lag.

5 Stoßrichtung des Bündnisses gegen die „Hierokratie“ Weber betont, dass die Maßnahmen gegen die Macht der alten Kirche diese nicht nur ökonomisch in Abhängigkeit bringen sollten, um deren Widerstand gegen die merkantilen Wirtschaftsinteressen der Fürsten aufzuweichen. Sie dienten überall auch dazu, die „hierokratische“ Macht des Klerus als Träger „magischer Gnadengaben“ fundamentaler zurückzudrängen (WuG, S. 693). Der Widerstand der Kirche gegen den Kapitalismus ergab sich auch daraus, dass das Akkumulieren von Kapital außerhalb des sozialen Einflussbereiches von Klöstern und Diözesen eine Form der Lebensführung förderte, welche sich zunehmend der Lebensreglementierung durch die klerikale Autorität in der Verwaltung religiöser Heilswege entzog. Gerade die rigoristische Ethik des bürgerlichen Rationalismus ist es, welche [. . . ] sich gegen die Hierokratie wendet, denn sie gefährdet [. . . ] den Wert des Gnaden- und Ablaßspendens, und ist daher von jeher von der Hierokratie

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als ein Weg zur Ketzerei behandelt worden, wenn sie sich nicht in die Form kirchlich kontrollierter Askese fügte. (WuG, S. 714)

Während die Fürsten die Macht des Klerus also nur zu entschärfen trachteten, indem sie dessen ökonomische Basis angriffen, solange diese ihrer merkantilen Politik widersprach, paktierte das entstehende Bürgertum gegen die Kirche mehr noch aus ethisch-religiösen Motiven, je mehr es „in seinen ‚großbürgerlichen‘ Schichten zunehmend seiner historischen Verbindung mit hierokratischen Mächten“ entwachsen war (WuG, ebd.). Bürgerliche Schichten waren aus Webers Sicht um eine in ethischer Selbständigkeit konzipierte Lebensführung bemüht; diese Selbständigkeit war Folge und Begleiterscheinung einer rationalen Methodisierung der Lebensführung. Zu ihr gehörten kaufmännische Rechnungslegung ebenso wie eine asketische Disziplinierung privater Verhaltensweisen, etwa bei Ausgaben für Feste, Geschenke, ‚Luxus‘, Mätressen. Darüber hinaus zielte die bürgerliche Lebensführung auf eine Rationalisierung des Weltbildes. Askese, Gottgefälligkeit, religiöse Gebote gab es auch hier, doch brauchte sie die klerikale Mittlerstellung und Schlüsselgewalt nicht unbedingt, lehnte sie in reformatorischer Tradition sogar ab. Auch die anhaltenden, an sich nicht leicht erklärlichen Vorbehalte des Klerus gegen die Erfahrungs- und Naturwissenschaften haben die Kluft zu den bürgerlichen Schichten vertieft. Der daraus erwachsene Konflikt zwischen Kirche und bürgerlichen Schichten war für Weber unausweichlich: Während eine auf moralischer Autonomie gründende bürgerliche Lebensführung in den Augen des Klerus außerhalb des Heilsweges stand, entweder als Frevel angemaßter Sündenfreiheit erscheinen musste, da sie sich kirchlicher Reglementierung entzog, oder sich gar dem gegen die Städte ohnehin gehegten Verdacht einer bürgerlichen Libertinage aussetzte, war umgekehrt der Klerus aus Sicht der moralisch rigiden, an Tugendhaftigkeit orientierten stadtbürgerlichen Milieus gerade in ethischen Fragen am ehesten angreifbar und unglaubwürdig geworden; denn, so Weber, „mit der ethischen ‚Laxheit‘, die stets feudalen Schichten, solange sie sich ihrer Herrschaft sicher fühlen, spezifisch ist, hat die Kirche, vermittels des Beichtinstituts, weitgehend paktiert“ (WuG, ebd.). Das heißt, der Klerus hat seine sakramentale Macht bei moralischen Verfehlungen (‚Sünden‘) der Privilegierten nicht energisch genug eingesetzt; er ist nicht ‚erzieherisch‘ gegen sie geworden, hat gegen Beichtauf lagen letztlich eine Absolution erteilt. Dies machte den Klerus aus Sicht der bürgerlichen Schichten zu einer Stütze des gegnerischen Adels und kleinen Gewerbehandels, der Handwerker und Bauern, so Weber. Die klerikalen Waffen gegen dessen ‚Sünden‘ waren stumpf, im Ergebnis unwirksam, und Fürstbischöfe, Kardinäle waren sogar selbst von ‚ethischer Laxheit‘ betroffen.

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Bürgerliche Schichten haben gegen die klerikale Hierokratie also nicht nur aus wirtschaftspolitischen Gründen paktiert, sondern weil sie auch in anderen Lebensbereichen den autoritativen Machtanspruch des Klerus als Hinderungsgrund einer ‚Rationalisierung der Lebensführung‘ wahrgenommen haben. Noch bis ins 18. Jahrhundert verteidigte der Klerus seine auf Sakramenten, Liturgie und Dogma basierende hierokratische Macht, und dies nicht ausschließlich aus eigenem Antrieb, sondern weil die Kirche zum Auffangbecken und Schutzschild all derjenigen Schichten wurde, die sich in ihrem Traditionalismus vom Kapitalismus und der Macht des Bürgertums gefährdet sahen: „das Kleinbürgertum, der Adel, und – nachdem das Zeitalter des Bündnisses der ihrer Macht sicheren Fürstengewalt mit dem Kapitalismus verflossen ist und die Herrschaftsgelüste des Bürgertums gefährlich zu werden drohen – auch die Monarchie“ (WuG, ebd.). 10 Das ‚Schicksal‘ der Kirche, sofern man darunter ihren anhaltenden Widerstand gegen die Moderne versteht, erklärt sich somit, folgt man Max Weber, nicht zuletzt aus dem Umstand, dass ihre gesellschaftlichen Bündnispartner sie in dieser ‚konservativen‘ Tendenz, als Widerpart der Moderne aufzutreten, besonders gebraucht haben. Man kann sich daran klarmachen, was Max Weber unter diesen gesellschaftlichen ‚Bündnissen‘ versteht: temporäre Allianzen aufgrund von historischen Interessenlagen, die sich auseinander- und sogar gegeneinander entwickeln können.

6 Zusammenhang der inneren Staatenentwicklung mit der äußeren Bündnispolitik Während bislang eine innenpolitische Bündniskonstellation thematisch war, soll es nun um die außenpolitische Konstellation gehen. Dabei lässt sich aus Webers Schriften ein direkter Zusammenhang zwischen beidem benennen. Für die Entstehung des frühneuzeitlichen Staates sieht Weber es als eine zentrale Bedingung an, dass sich in Europa beginnend mit dem ausgehenden Mittelalter bis etwa zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine politische Konstellation zwischen ungefähr gleich starken Herrschaftsverbänden herausgebildet hatte, die jeweils ‚Imperien‘ bildeten, das heißt stabile territoriale Kerngebiete anstrebten, die in ihrem Umfeld kleinere Staaten dominierten, aber untereinander in einer militärischen, wirt10 Ebd.: „Den gleichen Weg findet das Bürgertum in dem Augenblick, wo seine eigene Stellung durch den Ansturm der Arbeiterklasse von unten her gefährdet wird. Mit dem einmal im Sattel sitzenden Kapitalismus als solchem hat die Kirche [. . . ] sich abgefunden.“

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schaftlichen und demographischen Konkurrenz zueinander standen und sich dabei in einem dynamischen Gleichgewicht bewegten. Kein Land in Europa konnte die anderen Länder dauerhaft dominieren. Weder Spanien, Österreich, noch Frankreich, weder England, noch später Deutschland oder Russland, zeitweilig auch das Osmanische Reich vermochten eine dominante Stellung auf Dauer zu behaupten. Die drohende Suprematie einer dieser großen Mächte konnte durch Bündnisse der anderen Staaten entweder untereinander oder im Zusammenschluss mit kleineren Staaten, die oft den Ausschlag gaben, verhindert werden. 11 Die in der Frühen Neuzeit aufkommende Bündnispolitik ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Sie erfolgte immer vor dem Hintergrund aufstrebender Suprematien, die ausbalanciert oder niedergerungen werden sollten. Diese anhaltende Konkurrenzlage ist aus Webers Sicht für die europäische Geschichte typisch und universalhistorisch ohne vergleichbare Parallele. Während etwa im Herrschaftsraum islamischer Kalifate bis zu den Osmanen keine langanhaltende Konkurrenzkonstellation gleichgewichtiger Herrschaftsverbände sich entwickelte, entstand in Europa als dem Nachfolgeraum der weströmischen Herrschaft eine Wettbewerbssituation zwischen ähnlich starken politischen Gebilden, die sich auf gemeinsame religiöse Bezüge und Rechtstraditionen stützten, insofern auch als ‚Modelle‘ miteinander konkurrierten. Der Konkurrenzkampf großer, annähend gleich starker, rein politischer Machtgebilde (blieb) eine politische Macht nach außen und ist, wie bekannt, eine der wichtigsten spezifischen Triebkräfte jener Privilegierung des Kapitalismus, die damals entstand und, in anderer Form, bis heute anhält. Weder die Handels- noch die Bankpolitik der modernen Staaten, [. . . ] sind nach Genesis und Verlauf ohne jene sehr eigenartige politische Konkurrenz- und ‚Gleichgewichts‘-Situation der europäischen Staatenwelt des letzten halben Jahrtausends zu verstehen, welche schon Rankes Erstlingsschrift als das ihr welthistorisch Spezifische erkannt hat. (WuG, S. 211) 12

11 Vgl. Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700 – 1785. Paderborn u. a. 1997. 12 Oder eine ähnliche Stelle: „Der ständige friedliche und kriegerische Kampf konkurrierender Nationalstaaten um die Macht schuf dem neuzeitlich-abendländischen Kapitalismus die größten Chancen. Der einzelne Staat musste um das freizügige Kapital konkurrieren, das ihm die Bedingungen vorschrieb, unter denen es ihm zur Macht verhelfen wollte. Aus dem notgedrungenen Bündnis des nationalen Staates mit dem Kapital ging der nationale Bürgerstand hervor, die Bourgeoisie im modernen Sinne des Wortes“ (WuG, S. 815). Der Verweis auf Ranke bezieht sich auf dessen Schrift: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514. Leipzig / Berlin 1824. ND mit einer Einleitung und einem Register bearb. v. Oliver Ramonat. Hildesheim / Zürich / New York 2010.

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Für den Soziologen Max Weber ist diese Konkurrenz-Situation vor allem deshalb wichtig, weil sie langfristige Auswirkungen auf die innere Formation der Herrschaftsverbände hatte. Von diesen konnte keiner dauerhaft hinter strukturellen Modernisierungsprozessen anderer Länder zurückbleiben. Dies hat die Innovations- und Rationalisierungsdynamik immens angefacht. Die dauernden territorialen Konflikte haben den Fürsten etwa eine permanente Anpassungsbereitschaft an neue militärische, waffentechnische oder taktische Maßnahmen abverlangt. Verwaltungsbeamte waren daran interessiert, von verwaltungstechnischen oder rechtlichen Entwicklungen in anderen Ländern zu lernen oder eigene, alternative Lösungen für vergleichbare Entwicklungsprobleme zu suchen. Die Konkurrenz der Fürsten um das in Europa verfügbare Kapital hat ihre Verwaltungsbeamten dazu angehalten, die Zölle, Steuern oder Einfuhrbestimmungen in anderen Ländern zu studieren, ausländische Silberminen, Industrien, Eigentümer zu kennen, zollpolitische Maßnahmen auf andere Länder abzustimmen. Diese Konkurrenz hat den Fürsten überhaupt erst das innenpolitische Bündnis mit den Kapitalmächten aufgezwungen. Die kapitalistischen Unternehmungen, sofern sie mit lokal nur bedingt gebundenen Handelswaren, Gütern, Kredit, Transportkapazitäten operierten, haben nach den für sie günstigen Bedingungen Ausschau halten können und bei den Verwaltungsbeamten eine Verhandlungsmacht gegen Vergünstigungen gehabt. Auf diese Weise standen die Fürstenstaaten auch diesbezüglich in einem Wettbewerb, diese gerade lukrativsten Kapitalunternehmen an sich zu binden. Vor diesem Hintergrund lässt sich nach den Zusammenhängen zwischen dem innenpolitischen Bündnis von Fürstenstaat und Kapitalmächten sowie der außenpolitischen Bündnispolitik fragen. Die Bündnispolitik förderte den Kapitalismus insofern, als sie wechselnde Konstellationen schuf, innerhalb derer auch die Handelsunternehmen im Gefolge der Majestäten neue Partnerschaften knüpfen konnten. Wie sehr die einzelnen Bündnisse jedoch auch innen- und wirtschaftspolitisch motiviert gewesen sein mögen, dazu findet man bei Max Weber keine Bemerkungen. In Webers Fokus stehen die Konsequenzen der Bündnispolitik als solcher für die Rationalisierung der Herrschaftsverbände selbst, vor allem: für die Entstehung der modernen Diplomatie. Max Weber sieht die Entwicklung der Diplomatie analog zum Aufstieg anderer ‚Fachbeamten‘. Die Diplomatie war zusammen mit der Kriegsführung das Mittel der fürstlichen Außenpolitik. Sie ermöglichte deren Verfeinerung, Permanenz, taktische Ausrichtung. Dabei wurden Diplomaten als eine Fachgruppe behandelt, die ein eigenes Milieu bildeten, aufgrund der Komplexität der Materie zur Absonderung tendierten und der politischen Führung bedurften. Die Diplomatie durchlief seit ihren Anfängen, ausgehend von Mailand bis zur

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Pentarchie des 18. Jahrhunderts einige wichtige Rationalisierungsschritte, die noch heute relevant sind. 13 Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurde es bekanntlich üblich, dauerhafte Vertretungen einzurichten, in Anerkennung des Einflusses, den Frankreich und Spanien im Machtgefüge der oberitalienischen Städte auszuüben begonnen hatten. Mit dem dauerhaften Austausch von Gesandten wurde auch ihr rechtlicher Status im Gastland, die Akkreditierung und Immunität sowie die Handhabung der Spionage geregelt. Ein weiterer Schritt vollzog sich Ende des 17. Jahrhunderts entlang der europäischen Konflikte zwischen Frankreich und den Habsburgern. Es entstand unterhalb der Ebene der Gesandten das eigentliche Botschaftspersonal, das dauerhaft im Gastland lebte und Völkerrecht, Landeskunde, Sprachen studiert hatte. Es pflegte die Kontakte im Gastland, organisierte die Korrespondenz und gewährleistete eine Kontinuität der Vertretung. Darüber hinaus übte es Spionage aus. In dieser Zeit kristallisierte sich auch die Notwendigkeit einer fürstlichen außenpolitischen Führung heraus. Da die Länder bis in die 1780er Jahre über Netze solcher Vertretungen verfügten, entstanden in den Hauptstädten Außenministerien, die in Kanzleien, Kabinetten die Korrespondenz mit den Gesandtschaften leiteten und die Außenpolitik koordinierten. Nach dem Fall Napoleons vollzog sich während des Wiener Kongresses der bis heute wichtige Schritt einer internationalen Angleichung und Vereinheitlichung der nationalen Rangordnungen der Diplomaten, die fortan überall den Botschafter an der Spitze stellten. Die Arkanisierung der Diplomatie hatte zwei Gründe. Die soziale Herkunft von Gesandten blieb lange Zeit an die Aristokratie gebunden: Gesandtschaften waren bekanntlich teuer, bedeuteten häufiges Reisen, das Unterhalten einer Entourage, aufwändige Empfänge. Gesandtschaften setzten außerdem Standesgemäßheit am fremden Hofe voraus; Gesandte mussten die Etikette, Sprachen, Diskretion, die Kunst des Notenaustauschs beherrschen, was nur mit der nötigen Gewandtheit in der Wahl der Mittel und in den Umgangsformen möglich war. Der von Weber stark inspirierte Soziologe Norbert Elias hat sich für diese Welt der diplomatischen Sitten im Zusammenhang mit der Entstehung höfischer Courtoisie besonders interessiert. 14 Ein zweiter Grund hängt damit zusammen: Diplomaten beschäftigten sich zeitlebens mit Krieg und Frieden; sie konnten Folgen einer unbedachten Politik besser überschauen, verfügten über Einblicke in Zusammenhänge an fremden Höfen, die sie zu Insidern machten. 15 13 Jeremy Black: A History of Diplomacy. Chicago 2010. 14 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt am Main 1976. 15 „Bei dem heute üblichen Schelten auf unsere Diplomatie wird immer das eine vergessen: daß auch die beste Diplomatie gar nichts leisten kann, wenn die Politik einer

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Der Aufstieg einer diplomatischen Funktionselite im frühneuzeitlichen Staat hängt insofern mit der europäischen Bündnispolitik unmittelbar strukturell zusammen, so wie umgekehrt die Allianzen, Pakte, Bündnisse, Beistandsabkommen als Instrumente der Politik zwischen 1600 und 1850 in dem Maße komplexer, raffinierter, professioneller umgesetzt werden konnten, in dem jene Funktionselite die Kunst der Diplomatie verfeinerte. Als Kontrahenten der Diplomaten erwachsen den Diplomaten die Berufsmilitärs, Offiziere, welche ihr Denken und Handeln habituell am Scheitern von Bündnissen auszurichten und für den Kriegsfall zu planen haben. Die aufsteigende Konkurrenz dieser beiden Gruppen von Fachbeamten innerhalb des entstehenden Staatsapparates hat ihren Anteil an der fortschreitenden ‚Abdankung‘ der Fürsten und Übertragung von Herrschaftsfunktionen an Fachbeamten, die ähnlich wie in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik einen eigenen Fachdiskurs über Fragen von Krieg und Frieden entfalten. Die Dynamik dieser Konkurrenz von diplomatischen und militärischen Akteuren, die auch für differente strategische Optionen und Einschätzungen stehen können, blieb noch eingehegt und gebremst, solange Diplomaten und Offiziere eine gemeinsame ständisch-adlige Stellung und Herkunft hatten und ihre Familien im sozialen Interessenbündnis mit den Fürsten standen. Diese Konstellation begann sich jedoch forciert seit der Napoleonischen Ära aufzulösen und fand im Scheitern diplomatischpolitischer Führung im Ersten Weltkrieg, das gerade von Militärs beklagt wurde, ihr monströses Ende. An dieser Stelle kommt auch eine Rekonstruktion von Webers Soziologie des frühneuzeitlichen Staates an ihre Grenze. Einzelne Studien zum Zusammenhang außenpolitischer Bündnisse, militärisch-diplomatischer Konflikte sowie innenpolitischer Sozialpakte findet man in seinem Werk angedeutet, aber nicht mehr ausgeführt.

Nation darin falsch orientiert wird.“ (Max Weber: Deutschland unter den europäischen Weltmächten (1916), in: ders.: Gesammelte Politische Schriften (wie Anm. 1), S. 157 – 177, hier: S. 159.

II. Politische Bündnisse und ihre künstlerischen Reflexionen

Christopher Meid

Bündnisse im politischen Roman Fénelon, Loen, Justi

Der politische Roman in der Nachfolge von Fénelons Aventures de Télémaque, Andrew Michael Ramsays Voyages de Cyrus und Jean Terrassons Sethos zählt auch in der deutschsprachigen Literatur der Aufklärung zu den narrativen Leitgattungen. 1 Romane wie Hallers Usong oder Wielands Goldner Spiegel (um nur die prominentesten Beispiele zu nennen) erzählen von dem Versuch, aufgeklärtes Gedankengut und Herrschaftspraxis zu verbinden: Dazu zählt nicht zuletzt die umfassende Pazifizierung und Humanisierung der Machtausübung, die sich in einem neuen Ideal von Heroismus artikuliert. In Abgrenzung vom höfisch-historischen Roman des 17. Jahrhunderts, der wesentlich heroisch-militärische Konfliktlösungen in den Mittelpunkt stellte, erzählt die überwiegende Zahl der politischen Romane der Aufklärung davon, wie sich militärische Konflikte beilegen oder ganz verhindern lassen. In Einklang mit Positionen des aufgeklärten Völkerrechts betonen die Texte den Wert der Pazifizierung internationaler Beziehungen und wenden sich gegen Machtvergrößerung durch militärische Expansion. 2

1 Vgl. zur ersten Orientierung Hans-Jürgen Schings: Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung, in: Helmut Koopmann (Hg.): Handbuch des deutschen Romans. Düsseldorf 1983, S. 151 – 169. Ein Überblick über die Forschung bei Philip Ajouri: Probleme der Empirisierung einer Gattung. Zum Erwartungshorizont und der sozialen Funktion des politischen Romans im 18. Jahrhundert, in: Philip Ajouri / Katja Mellmann / Christoph Rauen (Hg.): Empirie in der Literaturwissenschaft. Paderborn 2013, S. 283 – 305; vgl. zu den zeitgenössischen Definitions- und Abgrenzungsversuchen Christopher Meid: Erzählte Aufklärung. Reflexionen über den politischen Roman zwischen Sinold von Schütz und Wieland, in: Frauke Berndt / Daniel Fulda (Hg.): Die Erzählung der Aufklärung. Hamburg 2018, S. 510 – 525. 2 Vgl. etwa Christian von Wolff: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, worinn alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden. Halle 1754, S. 896 f. (9. Hauptstück, Von dem Frieden und dem Friedensvertrag): „Weil kein Volck einem andern Unrecht anthun (§. 1089.), und sorgen soll, daß die Streitigkeiten ohne Gewalt der Waffen beygeleget werden mögen (§. 1157.), und es folglich keine Ursach zum Kriege geben muß (§. 1158.); so sind die Völcker natürlicher Weise verbunden den Frieden unter einander zu bauen. Und da die Menschen sich deswegen in einen Staat begeben haben, daß sie ihr Recht ruhig geniessen, und solches sicher von andern erhalten wollen (§. 972.); so ist auch ein Regent des Staats so wohl seinen Unterthanen, als auch, in sofern die

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In diesem Zusammenhang kommt Bündnissen eine zentrale Rolle zu, und das in mehrfacher Hinsicht: Das Motiv klingt zunächst bei der immer wieder verhandelten Frage nach den Ursprüngen des Staates an, vor allem aber werden Bündnisse auf inhaltlicher Ebene in wesentlich konkreterem Sinn thematisiert: Nahezu alle einschlägigen Texte berichten von diplomatischen Missionen und von Bündnisverträgen, die souveräne Staaten miteinander abschließen. Im Unterschied zur politischen Praxis, in der Bündnisse ja gerade als temporäre Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen fungierten, 3 erzählen die Romane von friedensstiftenden Bündnissen, die nicht auf Machtsteigerung einzelner Staaten, sondern auf Harmonisierung und Friedensstiftung abzielen. Dieser Gegendiskurs sollte aber nicht als Utopie missverstanden werden: Ganz im Gegenteil sind Autoren wie Rezipienten der Romane, die ja tatsächlich in der Fürstenerziehung eingesetzt wurden, von einer Wechselwirkung von Literatur und Praxis überzeugt. Der Roman wird hier zum Experimentierfeld, indem er eine Alternativerzählung zur Welt der Arkandiplomatie entfaltet: Im Medium des Romans scheint so modellhaft eine humane Bündnispolitik auf.

1 Der „roi pacifique“: Fénelons Aventures de Télémaque (1699/1717) Fénelons Aventures de Télémaque, die der Erzbischof von Cambrai für die Erziehung des Duc de Bourgogne verfasste, entwirft das Programm eines christlichen Königs, der als friedliebender und nüchtern lebender Völkerhirte ein neues goldenes Zeitalter einläutet. 4 Auch wenn sich Fénelon von der satirischen Interpretation seines Textes distanzierte, 5 kann kaum ein Zweifel bestehen, dass die im Roman entfaltete politische Programmatik kritisch auf die Herrschaft Ludwigs XIV. reagiert. 6 Der skandalöse Text

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Natur selbst die Völcker in den grössesten Staat zusammen gebracht hat (§.1090.), andern Völckern dies natürlicher weise schuldig, daß er den Frieden auf alle Art zu erhalten trachte, folglich muß er nicht nur selbst den Krieg möglichst vermeiden, sondern auch Mühe anwenden, daß er andere abrathe, daß sie nicht leichtsinniger weise einen Krieg anfangen.“ Vgl. Katja Frehland-Wildeboer: Treue Freunde? Das Bündnis in Europa 1714 – 1914. München 2010. Vgl. Fénelon [François de Salignac de La Mothe-Fénelon]: Les Aventures de Télémaque. Texte établi avec introduction, chronologie, notes, choix de variantes et bibliographie par Jeanne-Lydie Goré. Paris 1987. Vgl. Fénelon: Brief an P. Le Tellier, in: Oeuvres complètes de Fénelon. Bd. 7. Paris 1850, S. 661 – 666, hier S. 665. Vgl. zu den politischen Schriften Fénelons die Darstellung von Lionel Rothkrug: Opposition to Louis XIV. The Political and Social Origins of the French Enlightenment. Princeton 1965. Natürlich handelt es sich beim Télémaque ebenso sehr um einen spirituellen wie um einen politischen Text. Vgl. dazu Volker Kapp: Télémaque de

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wurde nicht zuletzt deshalb in kürzester Zeit populär, weil er jenen ‚oppositionellen‘ Strömungen Ausdruck verlieh, die Frankreich auf dem Weg des Niedergangs sahen, und dabei insbesondere den Monarchen und seine aggressive Außen- und Handelspolitik nicht schonte. Einerseits ist die (im Kontext von Fürstenerziehungsliteratur durchaus übliche) Mahnung zum Frieden, die der Roman artikuliert, auf christliche Konzeptionen zurückzuführen und als solche nicht weiter originell. Andererseits hat sie auch konkrete völkerrechtliche Implikationen, 7 indem sie dem Krieg als Mittel der Politik seine Legitimation abspricht: „La guerre est un mal qui déshonore le genre humain“. 8 Télémaque selbst beschreibt den „roi pacifique“, 9 der auf Eroberungen verzichtet, um stattdessen Glück und Wohlstand seiner Untertanen zu fördern: [I]l est juste, modéré et commode à l’égard de ses voisins; il n’entreprend jamais contre eux aucun dessein qui puisse troubler sa paix; il est fidèle dans ses alliances. Ses alliés l’aiment, ne le craignent point et ont une entière confiance en lui. S’il y a quelque voisin inquiet, hautain et ambitieux, tous les autres rois voisins, qui craignent ce voisin inquiet et qui n’ont aucune jalousie du roi pacifique, se joignent à ce bon roi pour l’empêcher d’être opprimé. Sa probité, sa bonne foi, sa modération le rendent l’arbitre de tous les États qui environnent le sien. 10

Fénelon setzt hier bei der Gesinnung des Monarchen an, der die tradierten Grenzziehungen akzeptiert und so zum begehrten Bündnispartner wird, ja sogar zum Schiedsrichter der umliegenden Staaten. Diesen Rang, den Ludwig XIV. durch Demonstrationen militärischer Stärke für Frankreich anstrebte, 11 erlangt der ideale König bei Fénelon gerade durch seine Friedfertigkeit. Was Télémaque hier postuliert, setzt Mentor in Salente um. Dessen Herrscher Idomenée verkörpert alle korrekturbedürftigen Eigenschaften – wie Ludwig XIV. strebt er nach militärischem Ruhm, wie dieser begreift

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Fénelon. La signification d’une œuvre littéraire à la fin du siècle classique. Tübingen 1982. Vgl. Eva Mohr: Fénelon und der Staat. Bern / Frankfurt am Main 1971, S. 75: „Fénelon wünschte eine Übertragung der innerstaatlichen Rechtsgebundenheit auch auf den internationalen Bereich, in dem die Staaten noch gewissermaßen im Naturzustand lebten und das Recht des Stärkeren galt.“ Vgl. ebd., S. 121: „Es [das Völkerrecht, C. M.] ist unverletzlich und jedem einzelstaatlichen Recht überlegen.“ Fénelon: Dialogues des Morts, in: Oeuvres complètes de Fénelon. Bd. 6, Paris 1852, S. 233 – 334, hier 256. Fénelon: Télémaque (wie Anm. 4), S. 208. Ebd., S. 209. Vgl. Christoph Kampmann: Arbiter und Friedensstiftung. Die Auseinandersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit. Paderborn u. a. 2001.

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auch er die Handelspolitik als Mittel der Machtsteigerung. Schließlich impliziert die Kritik am Merkantilismus zugleich die Kritik an einer militaristischen, auf Expansion gerichteten Außenpolitik. 12 Mithin richten sich auch die Passagen des Télémaque, in denen sich Mentor gegen die auf Abschottung und Konkurrenz basierende Politik Idomenées wendet, gegen den aggressiven Merkantilismus, den Colbert bekanntlich als friedlichen Krieg zwischen den Nationen bezeichnet hatte. 13 Mentor stiftet nicht nur Frieden zwischen Idomenée und seinen Nachbarn und beendet die schädliche Abschottungspolitik, sondern schlägt sogar eine regelmäßige Versammlung zur Friedenssicherung vor und begründet dies mit dem Wohl der Menschheit: 14 Tout le genre humain n’est qu’une famille dispersée sur la face de toute la terre. Tous les peuples sont frères et doivent s’aimer comme tels. Malheur à ces impies qui cherchent une gloire cruelle dans le sang de leurs frères, qui est leur propre sang! La guerre est quelquefois nécessaire, il est vrai; mais c’est la honte du genre humain, qu’elle soit inévitable en certaines occasions. 15

Er kontrastiert die Völkerfamilie, die in brüderlicher Eintracht leben sollte, mit den Gottlosen, deren Ruhm im Leid ihrer Mitmenschen bestehe. Wahrer Ruhm liege hingegen in Mäßigung und Güte: „[L]a vraie gloire ne se trouve point hors de l’humanité.“ 16 Die Pazifizierung von Herrschaft kann mithin als wesentliches Kennzeichen der politischen Vorstellungen 12 Vgl. Paul Schuurman: Fénelon on Luxury, War and Trade in the Telemachus, in: History of European Ideas 38/2 (2012), S. 179 – 199, bes. S. 190: „His criticism of money as a merely artificial source of wealth, and his preference for agriculture over trade, form an obvious counterpoint to the monetarist and commercial preoccupations of Colbert’s mercantilism. Jealousy of trade was in many ways a continuation of Machiavellian reason-of-state policies with economic means, and Fénelon viewed Colbert’s policies as the economic side of Louis XIV’s ‚Italian policy‘.“ 13 Vgl. Jean-Baptiste Colbert: Dissertation sur la question: quelle des deux alliances de France ou de Hollande peut estre plus avantageuse à l’Angleterre [1669], in: Lettres, Instructions et mémoires de Colbert. Hg. von Pierre Clément. Bd. 6. Paris 1869, S. 260 – 270, hier S. 269: „Mais ce qui doit entièrement décider cette question, c’est que le commerce est une guerre perpétuelle et paisible d’esprit et d’industrie entre toutes les nations.“ Vgl. dazu Istvan Hont: Jealousy of Trade. International Competition and the Nation-State in Historical Perspective. Cambridge, Mass./London 2005, S. 23: „Initially France was the worst offender in the corrupt application of reason of state to trade. Louis’ absolutist regime welded war and trade into a single new policy.“ 14 Vgl. Fénelon: Télémaque (wie Anm. 4), S. 319: „Songez donc à vous rassembler de temps en temps, ô vous qui gouvernez les puissantes villes de l’Hespérie. Faites de trois ans en trois ans une assemblée générale, où tous les rois qui sont ici présents se trouvent pour renouveler l’alliance par un nouveau serment, pour raffermir l’amitié promise, et pour délibérer sur tous les intérêts communs. Tandis que vous serez unis, vous aurez au dedans de ce beau pays la paix, la gloire et l’abondance; au dehors vous serez toujours invincibles.“ 15 Ebd., S. 318. 16 Ebd.

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des Romans gelten; sie drückt sich sprachlich in der Umdeutung des für die Herrschaft Ludwigs XIV. so zentralen Begriffs des Ruhms, der „gloire“, aus. 17 Dieses Beharren auf Friedensstiftung und Friedensbewahrung, die auch institutionell abgesichert sind, 18 berührt sich mit Fénelons Kritik an den Eroberungskriegen Ludwigs XIV. und dessen Streben nach einer Universalmonarchie. 19 Der Krieg wirke sich nicht nur negativ auf den Zustand des Landes aus, 20 sondern untergrabe auch die königliche Autorität. Der Herrscher ist mithin nicht nur seinem Volk, sondern der Menschheit verpflichtet. Die Aventures de Télémaque reihen sich mithin ein in die europäischen Friedensschriften der Jahre um 1700, 21 auf die auch Johann Michael von Loen rekurrieren sollte.

2 Bündnisse und Klugheit. Johann Michael von Loens Redlicher Mann am Hofe (1740) Loens einziger Roman Der Redliche Mann am Hofe; Oder die Begebenheiten Des Grafens von Rivera. In einer auf den heutigen Zustand der Welt gerichteten Lehr- und Staats-Geschichte, einer der ‚Longseller‘ des 18. Jahrhunderts, 22 erzählt anhand des tugendhaften Grafen von Rivera, der bewusst auf die Annehmlichkeiten des Landlebens verzichtet und 17 Vgl. Peter Burke: Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs. Berlin 1993, S. 13; vgl. auch Kampmann: Arbiter und Friedensstiftung (wie Anm. 11), S. 216 zum Ruhm als Leitmotiv der Herrschaft Ludwigs XIV. 18 Vgl. auch Klaus Malettke: Fénelon, la France et le système des états européens en 1699, in: François-Xavier Cuche / Jacques Le Brun (Hg.): Fénelon. Mystique et Politique (1699 – 1999). Actes du colloque international de Strasbourg pour le troisième centenaire de la publication du Télémaque et de la condamnation des Maximes des Saints. Paris 2004, S. 469 – 480. 19 Vgl. Mohr: Fénelon und der Staat, S. 76, S. 113. Vgl. zum Konzept der Universalmonarchie die Studie von Franz Bosbach: Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der Frühen Neuzeit. Göttingen 1988. 20 Vgl. Fénelon: Télémaque (wie Anm. 4), S. 324: „Il falloit une longue paix dans ces commencements, pour favoriser la multiplication de votre peuple.“ Vgl. aber auch ebd., S. 327: „Il faut – disoit-il – avoir soin, pendant la paix, de multiplier le peuple; mais, de peur que toute la nation ne s’amollisse et ne tombe dans l’ignorance de la guerre, il faut envoyer dans les guerres étrangères la jeune noblesse.“ 21 Vgl. die eher knappe Zusammenfassung von Marcel Pekarek: Absolutismus als Kriegsursache. Die französische Aufklärung zu Krieg und Frieden. Stuttgart / Berlin / Köln 1997. Vgl. auch Kampmann: Arbiter und Friedensstiftung (wie Anm. 11), der zeigt, dass der „Schiedsrichterrang der französischen Krone als politische Zielvorstellung für die Gestaltung der Außenpolitik“ Ludwig XIV. diente (ebd., S. 215). 22 Ich zitiere nach der Reprintausgabe: [Johann Michael von Loen:] Der Redliche Mann am Hofe; Oder die Begebenheiten Des Grafens von Rivera. In einer auf den heutigen Zustand der Welt gerichteten Lehr- und Staats-Geschichte. Vorgestellet von Dem Herrn von ***. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1742, mit einem Nachwort von

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unter Einsatz seines Lebens für eine nach Maßgabe einer christlichen Tugendethik ausgerichteten Politik wirkt, von der Reform des Staates, die in einen allgemeinen Frieden münden solle. Loens „Fürstendienerspiegel“ 23 verschiebt mithin den Akzent von Herrscher zu seinem ersten Diener und thematisiert dessen Handlungsspielräume bei der von Tugend geleiteten Reform des Staates. Im Gespräch mit dem Fürsten von Argilien, der einzigen uneingeschränkt positiv gezeichneten Herrscherfigur des Textes, entwickelt der Graf ein politisches Konzept mit weitreichenden Konsequenzen: Es geht ihm um nicht weniger als einen allgemeinen Frieden, um die „Erhaltung der gemeinen Ruh“. 24 Diese solle „durch unumstößliche Bündnisse mit den benachbahrten Staaten“ erreicht werden. 25 Der Graf von Rivera möchte also durch ein Bündnissystem nicht nur die Sicherheit seines Staates sichern, sondern darüber hinaus dauerhaft für den Frieden in Europa arbeiten. Die Verlässlichkeit Aquitaniens solle, so die Vorstellung des Grafen, dazu führen, dass „bey entstehenden Zwistigkeiten der Nachbarn, der Aquitanische Hof sich ins Mittel schlagen, und sich dadurch das Ansehen eines Schieds-Richters erwerben könte.“ 26 In den Freyen Gedancken Von der Verbesserung des Staats, die als Werk des Grafen ausgegeben wird und den Anhang zu dem Roman bildet, 27 wird dieser Anspruch ausführlicher dargelegt: Es geht dort um einen „beständigen Frieden in Europa“. 28 Dieser lasse sich dadurch erreichen, dass die europäischen Mächte eine Übereinkunft über die friedliche Beilegung von Konflikten träfen und auf diese Weise ihre Stabilität und Integrität sicherstellten. Zu diesem Zweck sollten an einem „zur allgemeinen FriedensVersamlung bestimmten Ort“ 29 die Staaten Europas einen „beständigen

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Karl Reichert. Stuttgart 1966. Deutsche Ausgaben des Romans erschienen 1740, 1742, 1751, 1752, 1760 und (sprachlich überarbeitet) 1771. Wolfgang Martens: Der patriotische Minister. Fürstendiener in der Literatur der Aufklärungszeit. Weimar / Köln / Wien 1996, S. 106. Loen: Der Redliche Mann (wie Anm. 22), S. 282. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 388: „Der Graf überreichte hierauf dem Fürsten seinen hierüber gemachten Plan, davon der Haupt-Inhalt am Ende dieses Werks wird zu finden seyn.“ u. S. 485: „Der Graf, welchen der König [von Aquitanien, C. M.] an des verstorbenen Ober-Cämmerers Stelle erhoben hatte, übergab demselben einen Plan, der die Verbesserung seines Staats, die Einrichtung seiner Finanzen, und das allgemeine Wohlseyn aller Stände betraf. Seine Vorschläge hatten nichts hochgekünsteltes; sie waren gantz einfältig und der Natur gemäß; Sie hatten blos die Ordnung und die Gerechtigkeit zum Grund.“ sowie S. 537 – 576 („Freye Gedancken von der Verbesserung des Staats“). – Loens Gedancken wurden auch mehrfach separat publiziert. Ebd., S. 572. Ebd., S. 573.

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Friedens-Rath von ungefehr vierzig biß fünffzig Friedens-Richter unterhalten“. 30 Diese von den partizipierenden Staaten gewählten Richter sollen an einem neu erbauten Ort – „gleichsam der Hof von gantz Europa“ – über die Anliegen der Gesandten entscheiden und so einen friedlichen Ausgleich gewähren. Diese bereits im Télémaque entfaltete Idee eines Schiedsgerichts steht in Übereinstimmung mit Entwicklungen der zeitgenössischen Völkerrechtstheorie, die in der ersten Jahrhunderthälfte unter Rückgriff auf Grotius und Pufendorf den Aspekt der Friedensvermittlung in den Blick nimmt. 31 Am prominentesten ist sicherlich der erstmals 1712 öffentlich gemachte Friedensplan des Abbé Saint-Pierre, den Loen zwar in einer Fußnote nennt, aber wohl nicht gelesen hat. 32 Jedenfalls sind seit dem sog. „Grand Dessein“ Heinrichs IV., das der Herzog von Sully in seinen Memoires (1634) darstellt, 33 oder auch William Penns Essay towards the present and future Peace of Europe (1693) derartige Vorstellungen ubiquitär: Christian Wolff erwähnt in seinen Vernünftigen Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen (1721) die Bedeutung von Vermittlern, 34 und auch 30 Ebd., S. 572. 31 Vgl. Heinz Duchhardt: „Friedensvermittlung“ im Völkerrecht des 17. und 18. Jahrhunderts: Von Grotius zu Vattel, in: ders.: Studien zur Friedensvermittlung in der Frühen Neuzeit. Mainz / Wiesbaden 1979, S. 89 – 117. 32 In der mir vorliegenden zweiten Auf lage des Romans lautet die Fußnote (Loen: Der Redliche Mann, [wie Anm. 22], S. 572): „Diesen Entwurff soll ehedessen der Abbé de S. Pierre in einem Tractat: Projet pour rendre la paix eternelle, weitläufftig ausgeführet haben.“ In den 1760 (und öfters) separat publizierten Freyen Gedanken heißt es hingegen ausführlicher: „Einen dergleichen Entwurf soll ehedessen der Abbé de S. Pierre in einem Tractat: Project pour rendre la paix eternelle, weitläuftig ausgeführet haben; ich habe denselben noch nicht geleßen.“ (Des Herrn von Loen Freye Gedanken von dem Hofe, dem Adel, den Gerichts-Höfen, von der Policey, von dem GelehrtenBürgerlichen- und Bauren-Stand, von der Religion und einem beständigen Frieden in Europa. Frankfurt / Leipzig 1760, S. 19). Tatsächlich unterscheidet sich St. Pierres systematischer Entwurf sehr von den Überlegungen Loens. 33 Vgl. dazu Kampmann: Arbiter und Friedensstiftung (wie Anm. 11), S. 184 – 199. 34 Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen Und insonderheit Dem gemeinen Wesen. Halle 1721. Reprint Frankfurt am Main 1971, S. 606 (§ 499): „Gleichwie man aber in der natürlichen Freyheit einen Schiedsmann erwehlen kan, der den Streit, welchen wir mit unserem Gegentheile nicht ausmachen können, entscheidet: also können auch die Staate und Potentaten, als Personen, die in der natürlichen Freyheit leben, andere unpartheyische Potentaten erwehlen, welche die zwischen ihnen schwebende Streitigkeiten entscheiden helffen und zwar mit dem Gedinge, daß, woferne der eine Theil von dem getroffenen Vergleiche abgehen würde, sie ihn selbst dazu mit anhalten wollen, daß er ihm besser ein Gnügen thue.“ Vgl. auch ebd., S. 611 (§ 500): „Und eben hieraus [der Pflicht, Schaden nach Möglichkeit zu vermeiden, C. M.] erhellet zugleich, daß sie nicht gehalten sind Krieg anzufangen, wenn sie entweder durch nachdrückliche Vorstellungen, die sie durch ihre Abgesandten können thun lassen, oder durch Repressalien, oder durch Vermittelung anderer Potentaten die zwischen ihnen schwebende Streitigkeiten entscheiden können (§ 499).“

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Immanuel Kants in zeitlicher Nähe zur Französischen Revolution entstandenen Abhandlungen Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793) und Zum ewigen Frieden (1795) stehen in dieser Traditionslinie und fordern die institutionell abgesicherte Konfliktregulierung. In ähnlicher Weise wandte sich auch Loen in dem Brief Von der Gerechtigkeit des Kriegs gegen diese „erschrecklichste“ aller „menschlichen Handlungen“, 35 die nur als Notwehr zu entschuldigen sei. 36 Loens Roman belässt es nicht bei der Erwähnung dieses Plans, sondern liefert gleichsam den Kommentar mit, wenn ausgerechnet der tugendhafte Fürst von Argilien an der Realisierbarkeit dieser Pläne zweifelt, die er angesichts der menschlichen Natur als weitgehend illusionär auffasst. Wesentliches Hindernis seien „die Menschen selbst. Diese widerstreben, aus einer unerforschlichen Quelle des Verderbens, ihrem eignen Wohlseyn, und stürzen sich gleichsam vorsetzlich ins Verderben.“ 37 Der explizit geäußerte anthropologische Vorbehalt markiert deutlich, dass es sich bei Loens Roman nicht um ein Beispiel für „epische Naivität“ handelt, 38 sondern ganz im Gegenteil um einen Text, der in differenzierter Weise das Verhältnis von menschlichen Befindlichkeiten (einschließlich aller Gefährdungen) und politischen Realitäten auslotet und aktualisiert und dabei Strategien politischer Wissensvermittlung variiert. Dabei ist der Redliche Mann am Hofe ein politischer Roman im doppelten Sinne: Einerseits geht es um ‚politische‘ Klugheit im älteren Wortsinn, also um kluges Sozialverhalten mit dem Ziel der Selbsterhaltung, 39 andererseits erfasst er auch das Staatwesen und den gesamten politischen Körper. Loens Roman steht also (auch gattungspoetisch) an der Schnittstelle von zwei Traditionslinien, nämlich dem ‚politischen‘ Erzählen Christan Weises und anderer und dem staatspolitisch akzentuierten Roman in der Fénelon-Nachfolge. 40

35 Johann Michael von Loen: Von der Gerechtigkeit des Kriegs, in: ders.: Gesammelte kleine Schriften. Besorgt und herausgegeben von Johann C. Schneider. Zweyter Theil. Frankfurt / Leipzig 1750, S. 348 – 395, hier S. 349. 36 Vgl. ebd., S. 357. 37 Loen: Der Redliche Mann (wie Anm. 22), S. 389. 38 So Bernhard Spies: Politische Kritik, psychologische Hermeneutik, ästhetischer Blick. Die Entwicklung bürgerlicher Subjektivität im Roman des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1992, S. 62. 39 Vgl. Merio Scattola: ‚Prudentia se ipsum et statum suum conservandi‘. Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit, in: Friedrich Vollhardt (Hg.): Christian Thomasius (1655 – 1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997, S. 333 – 363. 40 Vgl. zu Christian Weise und seinen Romanen Gotthardt Frühsorge: Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Chri-

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So werden trotz der vom Erzähler regelmäßig erwähnten Providenz die fundamentalen Schwierigkeiten einer Verbindung von Moral und Politik nicht geleugnet. Ganz im Gegenteil: Der Roman stellt gerade nicht die Realisierung des europäischen Friedensplans dar, sondern einzelne Bündnisse, die (so die Vorstellung des Grafen) auf lange Sicht pazifizierend wirken könnten. Der Weg dorthin ist aber ein Testfall für die Redlichkeit des Grafen, weil hier eben jene Fähigkeiten des Hofmanns gefragt sind, die aus tugendethischer Perspektive zumindest problematisch scheinen. Schließlich stellt sich dem redlichen Mann bei der Realisierung seiner Mission ein zentrales Problem: Wie lassen sich seine Ziele in einer moralisch verdorbenen Welt verwirklichen, ohne seine Tugend und damit zugleich seine Glückseligkeit preiszugeben? Der Protagonist selbst exponiert bereits im ersten Buch des Romans das Dilemma: „Bey Hofe muß man sich zu verstellen wissen. Ich kan solches nicht; ich mag mir auch die gröste Gewalt von der Welt anthun, meine wahre Empfindungen zu verbergen; sie brechen aus meinen Augen, und ich kan mir nicht so viel Herz geben, eine Unwahrheit standhaftig vorzubringen.“ 41 Der Graf fürchtet also, die für die eigene Existenzsicherung notwendige Fähigkeit zur dissimulatio nicht zu besitzen. Als „schlechter Hofmann“ scheitert er, „wann er sich ein wenig verstellen solte“: „Der Graf war dazu nicht geboren: die Natur hatte ihn zu einem redlichen Mann gemacht, und die Religion überzeugte ihn, daß man in allen Umständen des menschlichen Lebens aufrichtig seyn müste.“ 42 Gerade diese Aufrichtigkeit um jeden Preis wird aber spätestens dann problematisch, wenn es um ein großes Ganzes geht, dem offensichtlich nur mit List geholfen werden kann. 43 Eben diese Konstellation exponiert das zehnte Buch des Romans: Es beschreibt, wie der Graf von Rivera als Gesandter seines Königs versucht, den Konflikt zwischen den Königreichen Aquitanien und Licatien zu beenden. Dabei unterstreicht der Text deutlich die Verwicklungen und kontingenten Umstände, die erfolgreicher Diplomatie entgegenstehen. 44 So findet der

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stian Weises. Stuttgart 1974; Andrea Wicke: Die Politischen Romane, eine populäre Gattung des 17. Jahrhunderts. Phil. Diss. Frankfurt am Main 2005. Loen: Der Redliche Mann (wie Anm. 22), S. 10. Ebd., S. 509. Vgl. zu diesem Komplex die Ausführungen von Kevin Hilliard: Der aufrichtige Mann am Hofe. Tugend und politische Klugheit bei von Leon und Lessing, in: Simon Bunke / Katerina Mihaylova (Hg.): Aufrichtigkeitseffekte. Signale, soziale Interaktionen und Medien im Zeitalter der Aufklärung. Freiburg / Berlin / Wien 2016, S. 135 – 162. Die These, dass in Loens Roman „die Unterordnung unter die Obergewalt des Fürsten als alleiniger Maßstab für redliches Verhalten gilt“ (ebd., S. 142), halte ich allerdings für zu stark. Vgl. die Einschätzung des Protagonisten bei Loen: Der Redliche Mann (wie Anm. 22), S. 277 f.

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Graf in Licatien einen zwar wohlwollenden, aber schwachen Monarchen vor, 45 dessen mangelnde Entschlussfähigkeit zum Schaden des Landes von seinem ersten Minister, dem Fürsten von Kärndtenburg, ausgenutzt wird. Als dieser selbstverliebte Minister aus gekränkter Eitelkeit den Fortgang der Verhandlungen sabotiert, greift der Graf von Rivera zu einer List: Er täuscht seinen eigenen König über den Stand der Dinge, bis dieser aufgrund der Fehlinformationen mit Kriegsvorbereitungen beginnt, 46 betreibt Propaganda sowohl durch gezielt verbreitete Pamphlete als auch durch Agenten, 47 ja er instrumentalisiert das licatische Volk und alle Stände. Angesichts bevorstehender Steuererhöhungen empören sich diese gegen den unfähigen Minister, ohne den letztlich ein Vertragsabschluss gelingt. Die Romanhandlung präsentiert mithin die Arbeit des Diplomaten, der sich am Hof vor allem mit menschlichen Schwächen konfrontiert sieht, die er wiederum kompensieren und zugleich instrumentalisieren muss. 48 Dabei kann der redliche Mann nur bestehen, indem er zu List und Manipulation greift: Der Graf muste also hier auf andre Mittel sinnen, seinen Zweck zu erreichen: er sahe wohl, daß in solcherley Geschäften, ganz ohne List nicht wohl fortzukommen war. Der Endzweck macht öfters eine Sache gut, oder bös. Der Graf hatte die beste Absichten von der Welt. Er wolte niemand schaden, sondern vielmehr, wenn es in seiner Macht stünde, aller Menschen Wohlfahrt befördern helfen. 49

Die „Wohlfahrt“ der Menschheit rechtfertigt also auch die Lüge. Das entspricht Christian Thomasius’ Unterscheidung von „Klugheit“ und „Arglistigkeit“. Der „vornehmste Unterscheid zwischen der Klugheit und Arglistigkeit“ bestehe nämlich darin, „daß die Klugheit weise Thaten zu befördern und närrische zu verhindern; die Arglistigkeit aber närrische zu

45 Vgl. ebd., S. 277: „Er wurde von dem König auf das leutseligste empfangen, und hatte das Glück, sich über eine Stunde lang allein mit ihm zu unterreden. Der König verwunderte sich, daß der Graf in verschiedenen Umständen besser, als er selbst, von den Angelegenheiten seines Reichs unterrichtet war.“ 46 Vgl. ebd., S. 284. 47 Vgl. ebd., S. 285: „Der Graf selbst ließ unter der Hand einige zu seinen Absichten dienliche Schriften in Toscana drucken, und sie heimlich in Mönnisburg ausstreuen. Dem Volk wurde darin die bevorstehende Gefahr des Kriegs vor Augen gemahlet: es begunte dadurch noch immer schwieriger zu werden, und desto eifriger nach dem Frieden zu schreyen.“ 48 Vgl. zur Tradition der literarischen Hofkritik Helmuth Kiesel: „Bei Hof, bei Höll“. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979, zu Loen S. 199 – 207. 49 Loen: Der Redliche Mann (wie Anm. 22), S. 281.

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befördern und weise zu verhindern trachtet.“ 50 Ein ‚redlicher Mann‘ kann also in Loen Romans durchaus politisch klug handeln. Redlichkeit bedeutet mithin nicht Naivität, gerade wenn man es – wie der Graf von Rivera – mit „Narren“ zu tun hat. Für Thomasius ist die Verstellung bekanntlich per se moralisch indifferent, es kommt – wie auch für Loens Protagonisten – auf den „Endzweck“ an: „Hieraus erhellet / daß simuliren und dissimuliren eine Kunst sey / die ein Kluger so nöthig als ein Arglistiger brauchet / nicht daß er zum Thoren werde / sondern nach Gelegenheit sich närrisch stelle / oder zum wenigsten seine Weißheit nicht mercken lasse.“ 51 Einerseits ist der Graf von Rivera ein gewiefter Realpolitiker, der über ein Netz von Agenten verfügt und geschickt die öffentliche Meinung instrumentalisiert, andererseits ein Idealist, dem es nicht nur auf den raschen Vorteil, sondern auf dauerhafte Friedenssicherung ankommt. 52 In diesem Sinne greift der Graf auch auf die überkommenen Muster dynastischer Heiratspolitik zurück, die aber nun nicht mehr nur dem Vorteil des eigenen Staats, sondern der Menschheit dienen sollen. Ein unverheirateter König, so der Graf gegenüber dem Fürsten von Argilien, dessen tugendhafte Tochter er seinem Herrscher zugedacht hat, sei nicht bündnisfähig, da die Dauer der Dynastie und damit die Stabilität des Staates nicht gewährleistet sei: So lange mein König nicht vermählet und das Königliche Haus nicht mit rechtmäßigen Cron-Erben besetzet ist; lasset sich mit uns kein festes Bündnüs schliesen: denn wir haben in unserm Reich, wo der König, ohne Leibes-Erben zu hinterlassen, mit Tod abgehen solte, nichts als Verwirrung und innerliche Kriege zu gewarten. Meine Absichten gehen also vornehmlich da hinaus, um meinem König eine würdige Gemahlin, aus einem alten Fürsten-Haus zu suchen: Man hat mir vieles von Dero Durchleuchtigsten ältesten Prinzeßin-

50 Christian Thomasius: Kurzer Entwurf der Politischen Klugheit. Frankfurt / Leipzig 1710. Reprint Frankfurt am Main 1971, S. 37. 51 Ebd., S. 123. 52 Vgl. Isabelle Stauffer: Verführung zur Galanterie. Benehmen, Körperlichkeit und Gefühlsinszenierungen im literarischen Kulturtransfer 1664 – 1772. Wiesbaden 2018, S. 241: „Sein unwidersprochen gutes Ziel hat er durch Verstellung erreicht. Damit erfüllt er Machiavellis Forderung an den Fürsten einen [!] großen Simulator und Dissimulator zu sein.“ Allerdings liegt der kategoriale Unterschied zu Machiavelli darin, dass für Loen eben die moralische Qualität der zu erreichenden Zwecke die Grundlage für alles weitere Handeln ist. Was Stauffer kurzschlüssig für eine ‚Machiavellisierung‘ hält, ist tatsächlich die Indienstnahme prudentiellen Verhaltens für die Moralisierung der politischen Sphäre – allerdings in dem Bewusstsein, dass in der latent feindseligen politischen Sphäre prudentielles Verhalten notwendig ist. Vgl. auch die ideologiekritische Interpretation von Hermann Kurzke: Die Demut des Aufklärers. Der redliche Mann am Hofe von Johann Michael von Loen (1740), in: Text & Kontext 13/1 (1985), S. 233 – 243, der den Roman aus Perspektive von Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung liest und so nahezu zwangsläufig deren Blick auf die Aufklärung im Roman wiederfindet (vgl. ebd., S. 241).

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Tochter gesagt; Ich habe aber noch mehr fürtref liche Eigenschaften an derselben entdecket, als der Ruhm von ihr ausgebreitet hatte. Mich dünket, sie solte sich nicht übel für unsere Königin schicken. Durch dieses Mittel könten Ew. Durchl. nicht nur Dero Hohes Haus zusamt den Höfen Dero Durchleuchtigsten Anverwandten mit dem Unsrigen verbinden; sondern auch dadurch zur Beförderung der allgemeinen Ruh in Europa nicht wenig mit beytragen. 53

Erst das Ehebündnis macht den Fürsten zu einem verlässlichen politischen Bündnispartner. Zwar greift Loen deutlich erkennbar auf traditionelle Versatzstücke des höfischen und des galanten Romans zurück, wenn er alle Wirren durch Hochzeiten auf löst, allerdings tut er das in einer Weise, die eine zumindest teilweise Abkehr von diesen Mustern bedeutet. So ist die Eheschließung des Fürsten nicht die Belohnung für dessen (ohnehin nicht vorhandenen) politische oder militärische Erfolge, sondern die Basis einer zukünftigen friedensorientierten Politik, mithin Teil des Therapieund Reformprogramms, das der Graf von Rivera verfolgt. Loens Roman aktualisiert überkommene Muster – die Verbindung von Bündnis und dynastischen Überlegungen – und passt sie an sein Programm an: Denn auch die Ehe des Königs soll nicht dazu dienen, seinen Herrschaftsbereich zu vergrößern, sondern ihn zum Agenten einer „allgemeinen Ruh in Europa“ zu machen. Damit setzt der Roman bei der gängigen Heiratspraxis der europäischen Dynastien an und zeigt auf, wie sie nicht mehr als Mittel der Machtsteigerung, sondern vielmehr der Humanisierung von Herrschaft jenseits territorialer Grenzziehungen nutzbar gemacht werden könnte. Auch hier entwirft Loen kein utopisches Gegenbild politischer Praktiken, wohl aber eine Versuchsanordnung, die übliche Verfahrensweisen aufgreift und idealisierend umdeutet.

3 Bündnis und politische Ökonomie. Justis Psammitichus (1759/60) Johann Heinrich Gottlob von Justis Roman Die Wirkungen und Folgen sowohl der wahren, als der falschen Staatskunst in der Geschichte des Psammitichus Königes von Egypten und der damaligen Zeiten (1759/60) erzählt anhand der Biographie eines altägyptischen aufgeklärten Musterherrschers von der Einrichtung des idealen absolutistischen Staates. 54 Sein Psammitichus etabliert im alten Ägypten einen Musterstaat, der den Maximen der aufgeklärten politischen Ökonomie folgt, wie sie Justi in seinen 53 Loen: Der Redliche Mann (wie Anm. 22), S. 390. 54 Vgl. [Johann Heinrich Gottlob von Justi:] Die Wirkungen und Folgen sowohl der wahren, als der falschen Staatskunst in der Geschichte des Psammitichus Königes von Egypten und der damaligen Zeiten. 2 Bde. Frankfurt / Leipzig 1759/60.

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etwa zeitlich mit dem Roman entstandenen Schriften formuliert und begründet hat. 55 Der Kameralismus als spezifisch deutsche Ausprägung des Merkantilismus zielte zunächst primär auf den Machtzuwachs des Staates durch prosperierende Ökonomie ab; die Wirtschaft rückte so ins Zentrum der staatswissenschaftlichen Betrachtung. 56 Justis eigentliche Leistung besteht in der Verbindung von Kameralwissenschaften mit philosophischnaturrechtlicher Fundierung. 57 Die merkantilistische Wirtschaftspolitik hat aber nicht nur eine konkrete Funktion für den Wohlstand des eigenen Staates, sondern sie trägt in Justis Verständnis auch dazu bei, die internationalen Beziehungen friedlich zu gestalten. Der Romanheld Psammitichus agiert wirtschaftspolitisch vorausschauend und fördert die Herstellung von Waren gezielt für den Export, 58 schafft die nötige Infrastruktur und organisiert das Steuersystem nach entsprechenden Grundsätzen. 59 Um den Außenhandel zusätzlich zu

55 Vgl. die Bibliographie bei Ulrich Adam: The Political Economy of J. H. G. Justi. Oxford u. a. 2006, S. 239 – 245 (systematischer und chronologischer Überblick), S. 285 – 295 (genaue Nachweise). 56 Vgl. Karl-Heinz Schmidt: Merkantilismus, Kameralismus, Physiokratie, in: Otmar Issing (Hg.): Geschichte der Nationalökonomie, 4., überarbeitete und ergänzte Auf lage. München 2002, S. 37 – 66, hier S. 40: „So verschiedenartig die wirtschaftspolitischen Lehren und Rezepte in den einzelnen Ländern Europas auch waren, lag ihnen doch eine einheitliche Auffassung des Wirtschaftsprozesses zugrunde: ausgehend von einer unterbeschäftigten Wirtschaft dachten die Merkantilisten staatswirtschaftlich. Sie empfahlen, die wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf die Hebung der produktiven Kräfte in Handel, Gewerbe und Landwirtschaft auszurichten und durch die gesteigerte Entfaltung der Produktivkräfte sowohl die Wirtschaft als auch den Staat zu fördern.“ 57 Vgl. Jutta Brückner: Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der Politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. München 1977, S. 229. Justi baue „die um die Staatsklugheit erweiterte Kameralwissenschaft als Staatswissenschaft auf. Alte und neue Politik erleben hier ihre Symbiose nicht nur durch die Übernahme der jeweiligen Theoreme der anderen, sondern durch ihre Zusammenfassung in einem System. Die leitenden Ideen eines durch Montesquieuschen Einfluß gegangenen Naturrechts verbinden sich mit dem Systemgedanken und der Verwaltungspraxis des Kameralismus.“ 58 Vgl. Justi: Psammitichus. Bd. 2 (wie Anm. 54), S. 139: „So fort ließ sich Psammitichus angelegen seyn, neue Wollen-Manufacturen anzulegen und die alten zu erweitern; und ob zwar die wollene Kleider in Egypten nicht stark, sondern am meisten leinene Kleider gebraucht wurden; so war doch dieses eine sehr beliebte Waare vor die auswärtigen Commercien.“ 59 Vgl. ebd., S. 81 f. (8. Buch): Psammitichus nimmt „die schon längst vorgehabte Verminderung der Abgaben in ganz Egypten“ in Angriff. Er prüft die Steuern „in wie weit diese, oder jene Abgabe das Armuth [!] drückte, und ob sie einen nachtheiligen Einfluß in das Aufnehmen der Commercien und Gewerbe hätte; und an diesen Arten von Steuern brachte er vornehmlich die Verminderung zu Stande; diejenigen aber so in diesen Puncten am nachtheiligsten waren, hob er ganz und gar auf, oder brachte sie in eine andere Form, daß sie weder der Armuth, noch denen Gewerben mehr beschwehrlich wären.“

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fördern, schließt er Bündnisse mit anderen Nationen, achtet aber immer auf den Vorteil Ägyptens: Der Vortheil der Handlung war demnach allemal auf Seiten der Egyptier; indem die Fremden vielmehr Egyptische Waaren ausführeten, als fremde Waaren in das Reich gebracht wurden. Folglich vermehrte sich der Reichthum in Egypten. Dieses hatte seinen Einfluß in alle Künste und Gewerbe. Sie wurden dadurch aufgemuntert und zu Vermehrung ihres Fleißes und ihrer Arbeiter angetrieben; weil sie kaum so viel arbeiten konnten, als die Waaren gesucht wurden; und alle Nahrungs-Arten und Gewerbe erlangten dadurch eine große Lebhaftigkeit. 60

Als Verfechter einer merkantilistischen Politik ist sein Ziel eine positive Handelsbilanz. 61 Trotz dieses nicht zu leugnenden Vorteils der Ägypter führen die Handelsbeziehungen zu einer Pazifizierung der Außenpolitik; Ökonomie und Völkerverständigung sind hier nicht nur vereinbar, sondern hängen zusammen: Einige dieser Bündnisse kommen nur wegen der großen Tugend des Psammitichus zustande. 62 Der Außenhandel hat im Roman somit eine doppelte Funktion: Einerseits stellt er eine positive Handelsbilanz sicher, andererseits führen die ökonomischen Verflechtungen der Staaten zu einer friedlichen Koexistenz, ja zuweilen sogar zu Freundschaft. 63 Zweifellos ist Justis Modell der neo-colbertistischen Praxis insofern idealisiert, als es die aggressiven Bestandteile, die diesem Wirtschaftsmodell eignen, nahezu völlig ausblendet. 64 Schließlich besteht ein immanenter Widerspruch zwischen einer auf „Gewinnung der Handlungsbalanz“ 65 60 Ebd., S. 32. 61 Vgl. auch Justis theoretische Schriften. Johann Heinrich Gottlob von Justi: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseeligkeit der Staaten; oder ausführliche Vorstellung der gesamten Policey-Wissenschaft. Erster Band. Königsberg / Leipzig 1760, S. 516: „Es ist aber die Gewinnung der Handlungsbalanz das allerwichtigste Augenmerk in dem ganzen Commercienwesen, worauf eine weise Regierung, oder die Landespolicey zu sehen hat. Blühende und dauerhaftige Commercien kommen lediglich darauf an, daß ein Volk diese Handlungsbalanz gewonnen hat.“ Vgl. auch ebd., S. 519: „Folglich [wegen der Bevölkerungszunahme!] muß ein solches Volk, das die Handlungsbalanz eine lange Zeit auf seiner Seiten gehabt hat, immer mächtiger werden. Kurz! heute zu Tage zweifelt so leicht niemand, daß die Handlung die Seele eines Staats ist, und daß dessen Macht und Glückseeligkeit größtentheils auf den Zustand seiner Commercien ankommt.“ 62 Vgl. Justi: Psammitichus. Bd. 2 (wie Anm. 54), S. 33: „Battus hatte in seinem Schreiben von denen schönen Eigenschaften des Psammitichus eine so lebhaftige Abschilderung gemacht; und das Gerüchte hatte bereits so viel zu dem Ruhme des Psammitichus ausgebreitet, daß sich der König Grinus eine besondere Ehre daraus machte, mit einem so berühmten Könige in Bündniß zu stehen.“ 63 Vgl. ebd. 64 Zu diesem Verhältnis vgl. Hont: Jealousy of Trade (wie Anm. 13). 65 Justi: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseeligkeit der Staaten (wie Anm. 61), S. 516.

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ausgerichteten Politik und der Idee von Völkerverständigung. Der latente Konflikt zwischen Protektionismus und den Bedürfnissen anderer Nationen, der ja in der Praxis gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu etlichen Handelskriegen führte, 66 wird nicht aufgelöst, ja ließe sich wirtschaftstheoretisch wohl auch nicht auf lösen. 67 Diese Leerstelle wird auch in den Reflexionen über das Verhältnis von Moral und Handel deutlich. Das Problem stellt sich, als Psammitichus erwägt, einen Handelsvertrag mit Korinth abzuschließen, wo der unberechenbare König Kypselus herrscht: 68 Psammitichus, nachdem er diesen Bericht seines Gesannten reif lich erwogen hatte, urtheilte, daß man auch mit solchen Staaten Verbindungen eingehen könnte, deren Regierungen böse und verdorben wären, insonderheit in Ansehung der Commercien; wenn man sich nur in diesen Verträgen zu nichts anheischig machte, was ihre böse Regierung und ungerechten Maaßreguln unterstützte; und eben dieser Meinung war Piromis, ohngeachtet er in der Staats-Kunst ein sehr zärtliches Gewissen hatte. Man befahl demnach dem Oberpriester Elbos, den Freundschafts- und Handlungs-Tractat zum Schluß zu bringen, so wie es dem Aufnehmen der Handlung von Egypten vortheilhaftig wäre; und da sich Kypselus alle Bedingungen gefallen ließ; so kam dieser Tractat gar bald zu Stande; und die Commercien von Egypten wurden mithin abermals erweitert. 69

Dass die Protagonisten überhaupt die Frage nach der Verbindung von Ethik und Ökonomie stellen, ist ungewöhnlich; wie sie allerdings rasch wieder abgetan wird, verrät, dass die aporetische Konstruktion in der Logik von Justis Roman nicht vermittelt werden kann. So zieht er eine Trennlinie zwischen Handel und Moral; die eine Sphäre könne von der anderen 66 Vgl. dazu Rainer Gömmel / Rainer Klump: Merkantilisten und Physiokraten in Frankreich. Darmstadt 1994, S. 103: „Die Verdreifachung der französischen Importzölle, die der neue Zolltarif von 1667 beinhaltete, führte zu Retorsionsmaßnahmen im Ausland, zu einem Handelskrieg und schließlich zum Krieg mit den Niederlanden. Im Frieden von Nymwegen mußte Frankreich schließlich wieder zu dem alten Zolltarif von 1664 zurückkehren.“ 67 Vgl. Friedrich Heinrich Gottlob von Justi: Die Chimäre des Gleichgewichts der Handlung und Schiffahrt; oder: Ungrund und Nichtigkeit einiger neuerlich geäußerten Meynungen von denen Maaßregeln der freyen Mächte gegen die zu befürchtende Herrschaft und Obermacht zur See, wobey zugleich Neue und wichtige Betrachtungen über die Handlung und Schiffahrt der Völker, und über den höchsten Punkt der daraus entstehenden Macht und Glückseligkeit beygebracht werden. Altona 1759. In dieser Schrift legt Justi dar, dass eine lange andauernde extreme Dominanz eines Staates nicht möglich; es gebe „self-balancing tendencies of international free trade“ (Adam: The political economy of J. G. H. Justi [wie Anm. 55], S. 89), z. B. bedingt durch Preise und Lohnentwicklungen. 68 Vgl. Justi: Psammitichus. Bd. 2 (wie Anm. 54), S. 86 – 109 (8. Buch, „Schreiben des Oberpriester Elbos, worinnen die alte Korinthische Geschichte und des dasigen Fürsten Kypselus Begebenheiten erzählet werden“). 69 Ebd., S. 109.

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problemlos geschieden werden. Im Vordergrund steht hier der konkrete Nutzen für das eigene Staatswesen – ein Indiz, dass im Zweifelsfall der Nutzen für die Glückseligkeit der eigenen Untertanen die allgemeineren Erwägungen zurücktreten lässt.

4 Bündnis und Aufklärung Die didaktischen Romane von Fénelon, Loen und Justi diskursivieren und vermitteln politisches Wissen. Sie reflektieren nicht nur zeitgenössische politische Debatten und Reformideen, sondern entwerfen eigenständige Modelle, die einer Moralisierung der politischen Sphäre das Wort reden. In diesem Zusammenhang sind die diplomatischen Bemühungen und die damit zusammenhängenden Bündnisse von zentraler Bedeutung, weil sich in ihnen der für das Genre essentielle Thema der Friedensstiftung und Friedenswahrung artikuliert. Während sich Fénelon und Justi auf die referierende Darstellung von Staatsaktionen fokussieren, stellt Loen in seiner anthropologisch-religiösen Versuchsanordnung den tugendhaften Diplomaten ins Zentrum, der in einer ungünstig gesonnenen Welt an ihrer graduellen Veränderung zum Besseren arbeitet. Das Beharren auf der Verbindung von Moral und Diplomatie, auf dauerhafter Friedensstiftung stellt ein mahnendes Gegenbild zur politischen Praxis dar – aber nicht im Sinn einer Utopie, sondern getragen von dem Vertrauen in die (wenn von zahlreichen Widerständen begleitete) Realisierbarkeit ähnlicher Entwürfe. Zahlreiche Paratexte politischer Romane verleihen dieser Hoffnung Ausdruck. So erklärt Jean Terrasson, der Télémaque könne zum Glück der gesamten Menschheit beitragen: „[S]i le bonheur du genre humain pouvoit naître d’un Poëme, il naîtroit de celui-là.“ 70 Auch Albrecht von Haller vertraut in die Langzeitwirkung politisch-didaktischer Literatur, 71 und selbst für Christoph Martin Wieland 70 Jean Terrasson: Sethos, Histoire ou Vie tirée des Monumens Anecdotes de l’ancienne Egypte. Traduit d’un Manuscrit Grec. 3 Bde. Paris 1731. Bd. 1, S. X. 71 Vgl. Albrecht von Haller: Fabius und Cato, ein Stück der Römischen Geschichte. Bern / Göttingen 1774, S. VII – IX: „Niemahls dachten wir, kan man den Fürsten genug wiederholen, ihr Glück bestehe in der Erfüllung ihrer großen Pflicht, im Glücke ihrer Unterthanen. Dennoch haben die wiederholten Ermahnungen eines Fenelons, eines Montesquiou [!], einigen Eindruk auf die Gemüther der Menschen, und selbst der Mächtigen gemacht. Wo man vormahls nur die Ehre des Königs nennen hörte, da wird der Nahmen des Vaterlandes nunmehr gehört. Große Fürsten nehmen sich vor, wie Väter zu herrschen, und einige davon erfüllen die Absicht. Vielleicht sind eben diese Vermahnungen auf deutsch, noch nicht oft genug, nicht lebhaft genug gegeben worden. Vielleicht ruft die wiederholte Stimme der Wahrheit die Fürsten von der Jagd, von den Tänzen, und der Musterung zurück in den Verhörsaal, und zur Arbeit eines Fürsten.“

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„ist am Ende doch gewiß, daß durch solche Bücher wirklich gutes in der Welt gestiftet wird, so unmerklich es auch ist“. 72 Damit erscheinen die politischen Romane als Hilfsmittel einer praktischen Aufklärung: Sie erzählen nicht nur von Bündnissen, sondern sind zugleich Ausdruck (bzw. Wunschprojektion) eines Bündnisses der aufgeklärten Eliten mit den Trägern der Macht. 73

72 Christoph Martin Wieland an Sophie La Roche, 22. 06. 1772, in: Wielands Briefwechsel. Bd. 4: Briefe der Erfurter Dozentenjahre. Bearbeitet von Annerose Schneider und Peter-Volker Springborn. Berlin 1979, S. 545. 73 Das schließt nicht aus, dass etliche Texte gerade die Schwierigkeit der Allianz zwischen aufgeklärt-gelehrter und politischer Sphäre thematisieren, so etwa Loens Redlicher Mann am Hofe, vor allem aber Christoph Martin Wielands Goldner Spiegel.

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Hohe Politik und kommerzieller Nutzen Musikalischer Transfer zwischen Wien und Paris nach dem „Renversement des alliances“ 1 1 Missglückte Opernpläne Der Salzburger Hofkapellmeister Leopold Mozart verfügte über beste Beziehungen und verfolgte hochfahrende Pläne. Am 30. Januar 1768 schreibt er aus Wien nach Salzburg: „Wir haben die grösten Personnen der Noblesse zu unserer Protection. Der Fürst Kaunitz, der duc de Braganza. die Fräulein von guttenberg die das linke aug der Kayserin ist, der obriststahlmeister graf dietrichstein, welcher alles beym Kayser vermag, sind unsere Freunde.“ Mozart nutzte jede Gelegenheit, die hohe Begabung seines Sohnes unter Beweis zu stellen. Um endgültig auch alle Zweif ler zu gewinnen, verfiel er auf die kühne Idee, den kleinen Wolfgang, dessen Auftreten in Wien gleichermaßen Bewunderung wie Missgunst entfachte, eine abendfüllende Oper komponieren zu lassen. „[W]as glauben Sie,“ schreibt er weiter, was für ein lärmen unter der Hand unter dennen componisten entstanden? – – was? – – heut soll man einen Gluck und morgen einen Knaben von 12 Jahren bey dem Flügel sitzen und seine opera dirrigiren sehen? – – – ja trotz aller Neider! [. . . ] den ersten gedanken aber, den Wolfgangerl eine opera schreiben zu lassen, gab mir die Wahrheit zu bekennen, der Kaiser selbst indeme er den Wolfgangerl 2 mahl fragte, ob er lust hätte eine opera zu componieren, und selbe zu dirigieren? Er sprach freylich ja, allein der Kayser konnte auch mehr nicht sagen, indeme die opera den Aff ligio angehe. 2

Der Impresario Giuseppe d’Aff lisio oder d’Aff ligio (1722 – 1788) hatte seit einigen Monaten die beiden großen Theater Wiens auf eigenes Risiko gepachtet. Der Hof leistete keinerlei finanzielle Beiträge. Etliche Jahre zuvor, 1754, hatte Giacomo Casanova Aff lisio in die Wiener Gesellschaft eingeführt. Innerhalb kurzer Zeit machte er durch Glücksspiel ein Vermögen,

1 Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des Projektes Transferprozesse in der Musikkultur Wiens, 1755 – 1780: Musikalienmarkt, Bearbeitungspraxis, neues Publikum (FWF Austrian Science Fund, P 26456-G21), siehe https://www . mdw . ac . at / imi / transferprozesse - in - der - musikkultur - wiens / , letzter Zugriff: 01. 12. 2018. 2 Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe. Bd. 1: 1755 – 1776. Erw. Ausgabe hg. von Ulrich Konrad. München 2005, S. 256 und 257.

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musste aber Wien 1756 verlassen, nachdem er ins Visier der Keuschheitskommission geraten und wegen der versuchten Entführung einer jungen Frau sechs Wochen in Haft gesessen war. Später übersiedelte der geborene Neapolitaner nach Paris, wo er sich mit Spielen seinen Lebensunterhalt verdiente. Auch im Burgtheater waren Spieltische aufgestellt. Seitdem das Theater nicht direkt der höfischen Verwaltung unterstellt war, finanzierte man die Aufführungen zum Teil mit Einnahmen aus dem Glücksspiel. 3 So verwundert es nicht, dass man sich 1767 einen Experten dieser Sparte als Operndirektor holte. 1770 stieg Aff lisio wegen gewaltiger Verluste vorzeitig aus dem Vertrag aus und ging nach Italien, wo er nach einigen Jahren wegen Finanzbetrugs zu lebenslanger Strafarbeit verurteilt wurde. 4 Der vorliegende Beitrag behandelt Bündnisse verschiedener Art. In der Hauptsache werden die neuen Möglichkeiten skizziert, die die neue politische Allianz mit Frankreich im Bereich der Oper und der Instrumentalmusik eröffnete – und, wie wir gleich sehen werden, welche Schwierigkeiten für einzelne sich daraus ergeben konnten. Im Zuge dieser Erkundungen begegnet man auch einem Bund von Adeligen, die unter der Leitung des Staatskanzlers Kaunitz Opéra comique als adeliges Vergnügen erhalten wollten und sich damit gegen die Austeritätspolitik des Kaisers wie auch gegen kommerzielle Interessen wandten. Und man beobachtet, welch fruchtbare Verbindung das Patronagesystem mit dem aufkommenden Markt einging, zum Vorteil beider Seiten: Wie bei Büchern steigerten Widmungen gedruckter Musikalien den Kaufanreiz, indem sie am Glanz der herrschenden Klasse partizipieren ließen, und boten jener wiederum 3 Die enge Verbindung von Oper und Glücksspiel in den Wiener Theatern des 18. Jahrhunderts wird in der Fachliteratur, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt, siehe Robert Haas: Gluck und Durazzo im Burgtheater (Die Opera Comique in Wien). Zürich / Wien 1925, S. 35 (‚Pharao‘ wird 1759 eingeführt, um das Defizit zu verringern); Gustav Zechmeister: Die Wiener Theater nächst der Burg und nächst dem Kärntnerthor von 1747 bis 1776. Im Anhang chronologisches Verzeichnis aller Urund Erstaufführungen. Graz u. a. 1971, S. 44 und 51 (Einführung des Glücksspiels in den 1750er Jahren als Mittel der Kostenreduktion); Bruce Alan Brown: Gluck and the French theatre in Vienna. Oxford u. a. 1991, S. 88 (HZAB 370, 1763/64-III listet „für die Spiel Sâal“ einen „Spiel und Abbonirungs Cassier und die Spiel Tisch zu bedienen“ mit zwei Gehilfen); vgl. Ingrid Schraffl: Opera buffa und Spielkultur. Eine spieltheoretische Untersuchung am Beispiel des venezianischen Repertoires des späten 18. Jahrhunderts. Wien 2014. Über die Einnahmen aus Spieltischen zusätzlich zu denen aus Logenvermietung siehe etwa eine Eingabe von Graf Sporck vom 05. 02. 1766, ÖStA FHKA Kamerale, Fasz. 67, Karton 2186, Theatralausgaben 1762 – 1789, S. 43 ff. 4 Oscar Teuber: Das K. K. Hofburgtheater seit seiner Begründung. Wien 1896, S. 138 – 144; Elisabeth Großegger: Gluck und d’Aff lisio. Ein Beitrag zur Geschichte der Verpachtung des Burgtheaters (1765/67 – 1770). Wien 1995, bes. S. 12 – 14; Christian Fastl: Art. „Aff lissio (d’Aff lisio, Aff ligio, Aff lissio), Giuseppe (Joseph; eig. Giuseppe Maratti?)“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, https://www.musiklexikon.ac.at/ml/ musik _ A / Aff lissio _ Giuseppe . xml, letzter Zugriff: 01. 12. 2018.

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ein Forum, den adeligen Rang vor einem anonymen Käuferpublikum auszustellen. Hier begegnen sich die Logik des Aufwands und die der Rentabilität, eine Verbindung, die mit dem alle Lebensbereiche erfassenden Aufstieg des Marktes und dem sozialen Niedergang des Hochadels freilich nicht allzu lange währen konnte. Mozart und der Theaterdirektor Aff lisio handelten also einen Vertrag aus, doch die Sache zog sich in die Länge und scheiterte schließlich, offensichtlich weil der Impresario der Oper eine entsprechende Zugkraft beim Publikum nicht zutraute. Aff lisio aber war auf finanziellen Erfolg angewiesen. Deutlich ernüchtert beschreibt Leopold Mozart die Hintergründe in einem Brief vom 30. Juli 1768. Aus seiner Sicht bestimmte nicht hohe Politik das Programm der Wiener Oper, sondern einzig kommerzielles Interesse. Nun werden sie sich noch wundern, warum Tit: der Fürst Caunitz und andere grosse, ja S:e Majestät der Kajser selbst nicht befehlen, daß die opera aufgeführt wird. Erstlich können sie es nicht befehlen, weil es nur das interesse des Sgr Aff ligio [. . . ] betrifft: 2:do würden sie es ihm zu einer anderen Zeit respective befehlen: allein da der Fürst Caunitz, wieder den willen S:r Majestätt dem Aff ligio beredet hat, daß er französische Comoedianten hat kommen lassen die ihn jährlich 70000 f: kosten und die ihn nun /: da sie den Zulauf nicht haben, den man gehoffet :/ in Untergang bringen, und er Aff ligio, die Schuld auf den Fürst Caunitz wältzet, dieser Fürst hingegen sich Hofnung machte den Kayser dahin zu bewegen, daß er an dem französischen Theater belieben haben, und dem Unkösten ihm aff ligio ersetzen sollte; so liessen S:e Mayestätt sich viele Wochen gar in keinem Specktakl sehen. 5

Ein Theaterdirektor, der sich eine französische Truppe aufschwatzen lässt und damit Verluste schreibt; ein Staatskanzler, der gegen den Willen des Kaisers französisches Theater in Wien durchsetzt und damit in der Schuld des Impresarios steht; ein Kaiser, der nicht daran denkt, die Verluste am Theater auszugleichen, deshalb das Haus meidet und so durch sein Beispiel zum Misserfolg beiträgt: Wie und warum das Wunderkind Mozart mit seiner ersten Oper La finta semplice unterging, wirft Licht auf ein komplexes Gefüge von Einfluss und Interessen.

2 Funktionen des französischen Theaters in Wien Mit ungewöhnlichem Engagement hatte Fürst Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg, der Staatskanzler, sich darum bemüht, drei Jahre nach dem 5 Mozart: Briefe (wie Anm. 2), S. 272. Mozart lässt zwischen den Zeilen erkennen, dass er Aff lisio für einen Hochstapler hält: „Sgr Aff ligio /: den einige Graf Aff ligio heissen :/“.

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plötzlichen Tod von Kaiser Franz Stephan das Burgtheater wieder zu öffnen und neuerlich eine französische Truppe zu verpflichten. Mit Erfolg: Ende 1767 wurde das Theater wiedereröffnet, und 1768 bis 1772 spielte neben deutschen und italienischen Truppen eine Gruppe von Akteuren aus Frankreich, die Tragödien und Komödien, musikalische Komödien (Opéras comiques) und Ballette zum Besten gab. Joseph von Sonnenfels begleitete die ersten Monate des neu eröffneten Burgtheater mit seinen anonym erschienenen Briefen über die wienerische Schaubühne, wo er etwa die vorbildliche Schauspielkunst eines Aufresne (Jean Rival 1728 – 1804) und einer Mme. Sainville in höchsten Tönen pries. 6 Für das französische Theater nahm Kaunitz die Organisation selbst in die Hand. Er wandte sich persönlich an Mitglieder des hohen Adels mit der Bitte um finanzielle Unterstützung und bemühte sich um die Erweiterung des Ensembles in direktem Austausch mit dem österreichischen Botschafter in Paris, MercyArgenteau, mit dem Theateragenten Bréa und sogar mit einzelnen Schauspielern. 7 In seiner verdienstvollen Kaunitz-Monographie behauptet Franz A. J. Szabo schlicht: „Theater was his life-blood“ 8 und vermeidet es, die kulturellen Ambitionen von Kaunitz in sozialhistorische oder politische Zusammenhänge einzubinden. In der grundlegenden Studie von Lothar Schilling zur außenpolitischen Konzeption des Staatskanzlers ist von Musik, Theater oder überhaupt kulturpolitischen Zielen nicht die Rede. 9 Gänzlich abgehoben von der Politik versteht auch Gerhard Croll die künstlerischen Neigungen des Staatskanzlers: Die Musik und der Umgang mit Musikern haben für den Staatskanzler Kaunitz zweifellos zu den unterhaltsamen, entspannenden Bereichen seines Lebens gehört. Bei unserer Beschäftigung mit diesem Thema – abseits der großen Politik – haben wir Einblicke in eine sehr persönliche Sphäre gewonnen. Vielleicht sind wir dabei dem Menschen Kaunitz näher gekommen. 10 6 [Joseph von Sonnenfels]: Briefe über die wienerische Schaubühne aus dem Französischen übersetzt. Wien 1768, S. 322 – 325 („Aufrin“, „Sainvil“). 7 Eine Sammlung einschlägiger Akten befindet sich im Archiv der Staatskanzlei: HHStA Staatskanzlei, Interiora 86 (früher 108). Die Akten wurden sehr sorgfältig ausgewertet in: Rahul Markovits: Civiliser l’Europe. Politiques du théâtre français au XVIIIe siècle. Paris 2012, besonders S. 723 – 725, 731 – 734 u. 737 f. Weitere Quellen dazu bietet: Julia Ackermann: Zwischen Vorstadtbühne, Hoftheater und Nationalsingspiel. Die Opéra comique in Wien 1768 – 1783. PhD Diss. Universität für Musik und darstellende Kunst Wien 2018, S. 73 – 78. Siehe außerdem Teuber: Hofburgtheater (wie Anm. 4), S. 136 – 171 und Franz A. J. Szabo: Kaunitz and enlightened absolutism 1753 – 1780. Cambridge MA 1994, S. 205 – 208. 8 Szabo: Kaunitz (wie Anm. 7), S. 206. 9 Lothar Schilling: Kaunitz und das Renversement des alliances. Studien zur außenpolitischen Konzeption Wenzel Antons von Kaunitz. Berlin 1994. 10 Gerhard Croll: Musiker und Musik in der Privatkorrespondenz von Wenzel Anton Fürst von Kaunitz. Informanten und Informationen, in: Grete Klingenstein / Franz A.

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Wer den besonderen Einsatz des Staatskanzlers lediglich aus einer persönlichen Vorliebe für französisches Theater und Opéra comique erklärt, für ein individuelles Faible, das ein Aristokrat in solcher Machtposition effektiv und rücksichtslos verfolgen könne, verstellt den Blick auf eine viel komplexere Motivlage. Auch die naheliegende entgegengesetzte Ansicht, dass der Einsatz für das französische Theater eine klare Folge der neuen politischen Allianz mit Frankreich gewesen sei, bedarf einer differenzierenden Präzisierung. Erstens bestand der Plan, ein französisches Theater in Wien einzurichten, bereits Jahre vor dem Vertrag von Versailles, mit dem sich am 1. Mai 1756, unmittelbar vor Ausbruch des Siebenjährigen Krieges, Österreich mit Frankreich gegen Preußen und England verbündete. Bereits im März 1750 plädierte Kaunitz noch als Mitglied des Geheimen Rates dafür, neben der italienischen Oper auch eine französische Truppe an den Wiener Hoftheatern zu installieren. 11 Ein Jahr zuvor hatte er zwar in einem Memorandum eine Koalition mit Frankreich ins Auge gefasst. Doch immer noch hatte Frankreich als ‚natürlicher Feind‘ zu gelten. 12 Dies hatte sich auch 1752 nicht geändert, als das Burgtheater tatsächlich zu einer französischen Bühne umgewandelt wurde. Kaunitz war damals österreichischer Botschafter in Paris, konnte aber über den ihm loyal ergebenen Grafen Giacomo Durazzo, der zum Intendanten der höfischen Bühnen bestellt wurde, direkten Einfluss auf die Theatergeschäfte ausüben. Noch weiter zurück reicht zweitens eine Praxis der höfischen Gesellschaft, französische Komödien aufzuführen. Wir wissen von etlichen derartigen Aufführungen in den Jahren um 1750, die im Spanischen Saal der Hofburg, in Schönbrunn oder anderen Adelssitzen stattfanden. Für Wenzel Anton von Kaunitz wie auch für Giacomo Durazzo bildete die Mitwirkung an solchen Aufführungen quasi das Eintrittsbillet in die höchsten Kreise und damit in eine Gesellschaft, die ihnen als Mitglied einer gräf lichen Familie von mittlerem Rang, wie im Falle von Kaunitz, oder als feindlichem Ausländer, wie im Falle des Genuesers Durazzo, nicht von vornherein offenstand. Kaunitz wirkte bei einer Aufführung eines Stückes J. Szabo (Hg.): Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg 1711 – 1794. Neue Perspektiven zu Politik und Kultur der europäischen Aufklärung. Graz 1996, S. 341 – 359, hier S. 358. 11 Mémoire sur l’Entreprise des Spectacles dans la Ville de Vienne, dressé par le C[omte] de Kaunitz-Rittberg, par ordre de S[a] M[ajesté] et présenté le 1er Mars 1750, HHStA Staatskanzlei, Interiora 86, siehe Haas: Gluck (wie Anm. 3), S. 5 f. und Markovits: Civiliser (wie Anm. 7), S. 724 u. 728. Im Mémoire ist von 30.000 Gulden die Rede (und neuerlich in einer Eingabe von Kaunitz im Jahr 1767, siehe Markovits S. 726), wenig im Vergleich zu den 70.000, von denen Leopold Mozart zu wissen glaubte. 12 Ausführlich zur Vorgeschichte der neuen Koalition siehe Schilling: Kaunitz (wie Anm. 9), S. 16 – 52.

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von Jean-François Regnard am 31. Mai 1747 in Schönbrunn mit und führte sich also mit französischem Theater am Wiener Hof ein, noch während des Österreichischen Erbfolgekriegs und lange bevor von einem Bündnis mit Frankreich die Rede sein konnte. 13 Drittens bestand in der Vorstellung der Zeitgenossen keine exklusive Verbindung zwischen französischem Theater und dem französischen Königreich, das über viele Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte als politischer Gegner der Habsburger angesehen wurde. Französische Kultur war auch in anderen und befreundeten Reichen heimisch. Durch Prinz Eugen von Savoyen und mit Franz Stephan von Lothringen kamen zahlreiche französischsprachige Künstler nach Wien, darunter Schauspieler, die dem französischen Theater am Hof Auftrieb verliehen. Auch anderswo verhinderte politische Feindschaft nicht die Assimilation französischer Kultur. Auf seiner Grand Tour hatte etwa Wenzel Anton von Kaunitz 1732 bei seinem Aufenthalt in Hannover die Gelegenheit, eine französische Theatergruppe zu erleben, die in Gegenwart des englischen Königs zur Feier seines Besuchs spielte. 14 Folglich bedeutete die Etablierung eines französischen Theaters in Wien nicht notwendig einen freundlichen Akt gegenüber dem neuen Bündnispartner. In einem materialreichen, 2012 in der Zeitschrift Annales erschienenen Aufsatz demonstriert Rahul Markovits, dass für den österreichischen Staatskanzler französisches Theater und Opéra comique weit mehr bedeuteten als bloßen Zeitvertreib und Mittel der geistigen Entspannung. Unter dem Titel L’Europe française’, une domination culturelle? Kaunitz et le théâtre français à Vienne au XVIIIe siècle beschreibt der Autor drei wesentliche Funktionen, die das französische Theater für Kaunitz als einem Repräsentanten der kosmopolitischen Hocharistokratie bekleidete: Theater diente (1) als Mittel einer Diplomatie durch Kultur (Markovits: „diplomatie culturelle“), (2) dem Nachweis, dass die Residenzstadt Wien eine kulturelle Metropole darstelle, und schließlich (3) als distinguierender ‚Rückhalt‘ des hohen Adels. Eine klare Deklaration, dass Staatskanzler Kaunitz im Transfer von Theater und Musik ein Instrument der Diplomatie gesehen hätte, kennen wir nicht. Ein solches Konzept als eine Grundlage seiner Politik lässt sich

13 Siehe Haas: Gluck (wie Anm. 3), S. 6 f., Brown: Gluck (wie Anm. 3), S. 41 – 43 und Markovits: Civiliser (wie Anm. 7), S. 726 – 728. 14 Markovits: Civiliser (wie Anm. 7), S. 727. Zur französischen Kultur in Wien siehe Brown: Gluck (wie Anm. 3), Kapitel 2: „Cultural Politics in Maria Theresia’s Vienna“, S. 26 – 43 und Hans Wagner: Der Höhepunkt des französischen Kultureinflusses in Österreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Österreich in Geschichte und Literatur 5 (1961), S. 507 – 518.

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nur indirekt nachweisen. Markovits widerlegt die naheliegende Vermutung, die französische Regierung selbst hätte mit Nachdruck die Ausbreitung des französischen Theaters in ganz Europa gefördert. 15 Das Gegenteil ist der Fall: Durch die steigende internationale Nachfrage wurde es zunehmend schwerer, ausgezeichnete Schauspielerinnen und Schauspieler zu rekrutieren. Dies führte dazu, dass solche Künstler nur durch Zahlung hoher Ablösen an die Theaterdirektoren in Paris und im sonstigen Frankreich zu gewinnen waren. Zusätzlich wurde die Ausreise durch Verwaltungsmaßnahmen erschwert, was so weit gehen konnte, dass man einzelne Personen ohne die entsprechenden Dokumente an der Grenze kurzerhand gefangen setzte. Nach Ansicht von Kaunitz hätte es im Interesse der französischen Regierung liegen müssen, diese Hindernisse aus dem Weg zu räumen. De facto aber verstoße Frankreich durch derlei Schikanen ‚gegen die Grundsätze der Politik und des gesunden Menschenverstandes‘. 16 Die Klage über das Fehlen einer Diplomatie durch Kultur in Frankreich belegt ex negativo, dass Kaunitz eine solche Politik verfolgte. Neben der Funktion eines diplomatischen Instruments diente, zweitens, das französische Theater dazu, Wien als Theaterhauptstadt und kosmopolitische Metropole zu präsentieren. 17 1757 erschien unter dem Titel Répertoire des théâtres de la ville de Vienne depuis l’année 1752 jusqu’à l’année 1757 ein Theaterkalender im Druck, der die Produktionen der vergangenen fünf Jahre auf listet. Das Vorwort enthält programmatische Aussagen, die Aufschluss geben über die Selbsteinschätzung und (vor allem) die Selbstdarstellung Wiens im internationalen Kontext. Wien und Paris, heißt es hier, seien die einzigen Städte, die sich ganzjährig Theateraufführungen leisteten. Damit wird eine enge Verbindung zwischen den beiden Städten geknüpft und dem Kriegsgegner Preußen signalisiert: ‚und wir machen damit auch während des Krieges unverdrossen weiter!‘ Ein als solches nicht ausgewiesenes Zitat von Voltaire lenkt die Darstellung in eine allgemeinere Richtung. Das Theater wirke als Instrument und Maßstab der Zivilisierung: Nichts, heißt es bei Voltaire und im Vorwort des Répertoire, mache in Wahrheit die Menschen umgänglicher und verfeinere mehr ihre Sitten als eine Versammlung, bei der man gemeinsam die reine Freude des Geistes genießen kann. 18 Aus unterschiedlichen Graden der Zivili-

15 Siehe Markovits: Civiliser (wie Anm. 7), S. 737 – 746. 16 „il est contre la bonne Politique ains la saine raison de souffrir qu’il soit fait des chicanes à ceux qui ont des Trouppes hors du Royaume“, Brief von Kaunitz an MercyArgenteau vom 19. 11. 1767, HHStA Staatskanzlei, Interiora 86, zit. nach Markovits: Civiliser (wie Anm. 7), S. 737 f. 17 Dazu Markovits: Civiliser (wie Anm. 7), S. 734 – 737. 18 „Rien, en effet, ne rend les hommes plus sociables, n’adoucit plus leur mœurs, [. . . ] que de les rassembler, pour leur faire goûter ensemble les plaisirs purs de l’esprit“: Voltaire,

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sierung ergebe sich eine Distinktion unter den Völkern, wie der Wiener Theaterkalender unterstreicht: „Les Spectacles, aujourd’hui, la ressource, & le lien de la Société, ont toujours distingué, les nations polies des peuples barbares.“ 19 An die Fähigkeit des Theaters, zur Verfeinerung der Gesellschaft beizutragen, hatte Voltaire die Überzeugung geknüpft, dass in seiner Gegenwart das französische Theater dem Theater der übrigen Nationen überlegen sei. Diesen Gedanken übernimmt der Wiener Kalender nicht. Vielmehr heißt es hier, das französische Theater repräsentiere eine Entwicklungsstufe in der Geschichte des Theaters neben anderen. Und es sei das Verdienst Wiens, mehrere Traditionen zusammenzuführen und zu verschmelzen: die italienische Oper, das französische und das deutsche Theater. Ein kosmopolitisches Interesse präge den Fortschritt der Wissenschaft und der Künste. Mit natürlicher Neugierde auf das uns Unbekannte, heißt es in der Vorrede an den Leser, müssten wir uns über die Praxis anderer Völker, die uns fremd sind, informieren. Wenn die Fremden reisen, haben sie genauso Vergnügen, ihre Nachbarn kennenzulernen. Durch dieses Mittel erhalte alles in der Welt eine neue Seite, Fortschritte in den Wissenschaften und den Künsten strebten in großem Tempo zur Vollkommenheit, der Geschmack verfeinere sich, und auf so vielen unterschiedlichen Wegen, denen die Gelehrten in ihren jeweils verschiedenen Ländern folgen, überwinde man allmählich die größten Schwierigkeiten. 20 Der zitierte Satz, mit dem im Theaterkalender die Vorrede an den Leser beginnt, führt indirekt schließlich zu einer weiteren Funktion des französischen Theaters in Wien. Das Schauspiel sei „aujourd’hui, la ressource, & le lien de la Société“, hieß es. La société, das ist die höfische Gesellschaft, die Gesellschaft des Hochadels. Ressource hat im zeitgenössischen Wortgebrauch eine kämpferische Note und meint etwas, worauf man zurückgreift, um Schwierigkeiten zu überwinden, einen Rückhalt. Kaunitz verwendet den Terminus in einem Brief 1770 im selben Kontext: das Theater sei „mon seule ressource dans notre bonne ville de Vienne“. 21 Wenn Theater nun der Rückhalt und das Band der hocharistokratischen Gesellschaft ist, dient es der Distinktion sozialer Schichten ebenso wie jener der Völker untereinander. Die erwähnten Aufführungen französischer Komödien durch die höfische Gesellschaft um 1750 und die Beliebtheit des französischen

„A monseigneur le maréchal duc de Richelieu“, épître dédicatoire de L’orphelin de la Chine, zit. nach Markovits: Civiliser (wie Anm. 7), S. 736. 19 Répertoire des théâtres de la ville de Vienne depuis l’année 1752 jusqu’à l’année 1757. Wien 1757, „Au lecteur“, nicht paginiert, zit. nach Markovits: Civiliser (wie Anm. 7), S. 734. 20 Ebd., zit. bei Markovits: Civiliser (wie Anm. 7), S. 736 f., Fn. 72. 21 Kaunitz an Mercy-Argenteau, 21. 10. 1770, zit. nach ebd., S. 724. Zum Folgenden siehe ebd., S. 726 – 734.

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Theaters beim adeligen Publikum machte dieses, Markovits zufolge, zum ‚aristokratischen Theater par excellence‘. 22 Graf Durazzo beschrieb seinem Pariser Korrespondenzpartner, dem Autor Charles Simon Favart, die speziellen Anforderungen, die das Wiener Publikum an Komödien stellte. Als „amusement de la noblesse“ müsste das allzu Freizügige zugunsten einer ‚noblen‘, also dem Adel entsprechenden Komik unterdrückt werden. 23 Dies erfordert eine besondere Einrichtung von Stücken für Wien oder, von der anderen Seite betrachtet, eine aktive Anverwandlung der einlangenden Stücke. Auch Wenzel Anton von Kaunitz nannte das Publikum des französischen Theaters eine „société choisie“. Als sich auf Betreiben Josefs II. der Hof nach 1765 aus dem Theaterbetrieb zurückzog, suchte er, wie erwähnt, die finanzielle Unterstützung der Hocharistokratie und stellte eine Subskription für das französische Theater auf die Beine. Dieses Bündnis von hohen Adeligen sollte die Austeritätspolitik des kaiserlichen Hofs unterlaufen und den kommerziellen Erfolg für die Theaterleitung sicherstellen. Der Kanzler schickte die Liste, die zunächst 77 Personen umfasste, 1768 an weitere Adelige wie den Prinzen von Sachsen-Hildburghausen oder den Prinzen Josef Wenzel von Liechtenstein mit der Bitte, sich der Unternehmung anzuschließen. Wie Markovits scharf beobachtet, appelliert Kaunitz in dem Schreiben nicht an deren Großzügigkeit, sondern an ihr Gefühl der Zugehörigkeit, ihre Solidarität. 24 Dennoch konnte er den Übergang von einer feudalen ‚Logik des Aufwands‘ zu einer bürgerlichen (oder aufgeklärten) ‚Logik der Rentabilität‘ nicht auf Dauer aufhalten. 25 Der Theaterunternehmer Aff lisio hielt zwar die französische Truppe für einige Jahre, doch die Verluste, die sie ihm bescherte, erlaubten ihm, ja machten es geradezu erforderlich, dass er unter dem Banner der Rentabilität sonstige Wünsche des Hofes und des Hochadels wie im Falle von La finta semplice weitgehend ignorierte.

3 Opéra comique in Wien Die Gattung Opéra comique wurde in Wien auf vielfache Weise angeeignet in einem Prozess, der von der höfischen Kultur ins Vorstadttheater führte. Man kann drei Phasen unterscheiden, in denen französische Komödien 22 Ebd., S. 728. 23 Durazzo an Favart, 20. 12. 1759 (tatsächlich Anfang 1760), zit. nach Markovits: Civiliser (wie Anm. 7), S. 731. 24 Markovits: Civiliser (wie Anm. 7), S. 733. 25 Vgl. ebd., S. 732: „le passage d’une logique somptuaire à une logique de rentabilité menaçait fondamentalement le spectacle français“.

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mit Musik auf Wiener Bühnen präsentiert wurden. Die erste reicht von der Eröffnung des französischen Theaters 1752 bis zum Tod des Kaisers Franz Stefan 1765 und entspricht im Wesentlichen der Ära des Grafen Durazzo als Direktors des Theaters. 26 Die zweite Phase unter der Direktion von d’Aff lisio und Graf Kohary beginnt mit der Wiedereröffnung des Burgtheaters im Dezember 1767 und endet mit der Verabschiedung der französischen Truppe 1772. Die dritte Phase umfasst ein paar Monate im Winter 1775/76 und die gesamte Saison 1780/81, als zwei Truppen aus Frankreich Gastspiele in Wien gaben. 27 Während in den ersten Jahren des neu eröffneten französischen Theaters das Ballett musikalisch das Feld dominierte, setzte 1755 zusätzlich eine kontinuierliche Aufführungsserie von Opéras comiques ein. In dieser Gattung werden in der einfachsten Form gesprochene Dialoge von einer Ouvertüre eingeleitet und von Liedern und Tänzen unterbrochen. Später kamen auch gesungene Duette und Ensembles dazu. Die Aufführungen in Wien wurden von Christoph Willibald Gluck geleitet, der die Stücke auch musikalisch eingerichtet, zum Teil neu komponiert hatte. Die Textbücher stammten durchwegs aus Paris und wurden für Wien bearbeitet. Regionale Idiome, nur lokal verständliche Bezüge, Angriffe auf Kirche und Geistlichkeit sowie sexuelle Anspielungen wurden eliminiert. Die Stücke haben dadurch gewiss deutlich an Witz eingebüßt. Zu den textlichen Änderungen kamen musikalische; 28 alte, lang tradierte Liedmelodien wurden durch neue ersetzt, Elemente der italienischen Oper hinzugefügt (eine Entwicklung, die in den 1750er Jahren auch in Frankreich zu beobachten war), wenn nicht überhaupt Arienmelodien aus italienischen Opern für den neuen Text eingerichtet wurden. Der Hauptzweck solcher Änderungen bestand in der Anpassung der Musik an die Möglichkeiten der jeweiligen Schauspielerinnen und Schauspieler, die die Lieder und Arien sangen. Auf Texte bekannter französischer Autoren, allen voran Charles Simon Favart, mit dem von Wien aus ein reger Austausch gepflegt wurde, schrieb Gluck ab 1758 auch sieben eigene Opéras comiques. 29 Die Werke wurden zunehmend komplexer und opernhafter. Doch nicht nur Elemente der italienischen Oper gingen in gesungene französische Komödien ein; auch umgekehrt mischten sich Elemente der Opéra comique in die italienische Opernproduktion. In seiner umfassenden Studie über Gluck und das französische Theater in Wien (1991) zeigt Bruce Alan Brown dies an Glucks

26 Durazzo wurde 1764 durch Graf Sporck abgelöst. 27 Zur ersten Phase grundlegend Brown: Gluck (wie Anm. 3), zur zweiten und dritten Ackermann: Opéra comique (wie Anm. 7). 28 Dazu ausführlich Brown: Gluck (wie Anm. 3), S. 194 – 208. 29 Siehe ebd., S. 208 – 262.

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berühmter Reformoper Orfeo ed Euridice (1762). Die Arie Che faró senza Euridice, heute wohl das bekannteste Stück von Gluck überhaupt, zitiert eine seiner Opéras comiques, L’Ivrogne corrigé (1760/61). Eine weitere Arie ist als Romance gestaltet, die Schlussszene als Vaudeville-Finale. Auch die Tänze im Orfeo haben ihr Modell in französischen Balletten. 30 In der zweiten Phase unter Aff lisio und Kohary gab man hauptsächlich Sprechtheater; Musik wurde bei den Komödienaufführungen relativ selten eingesetzt. Wir kennen nur eine kleine Zahl von Opéras comiques, die um 1770 im Burgtheater aufgeführt wurden. 31 Eine zentrale Stellung im Spielplan nahm jedenfalls das Ballett ein, für das Jean Georges Noverre (1727 – 1810) von 1767 bis 1774 als Choreograph engagiert war. Noverre war ein in ganz Europa gefragter Künstler, dessen Reform das Ballett als autonome Kunstform etablierte. In Wien arbeitete er in seinen Produktionen mit den Komponisten Gluck, Josef Starzer und Franz Aspelmayr zusammen. Aus der dritten Phase hingegen sind überraschend viele Opéras comiques bekannt, die in dem mehrwöchigen Gastspiel im Winter 1775/76 der französischen Truppe des Prinzipals Hamon in Wien vorgestellt wurden. 32 Nur wenige Wochen später ging der Intendant Graf Kohary endgültig in Konkurs, und der Kaiser selbst übernahm die Führung des Theaters. Gerade in dieser Situation scheinen Opéras comiques durch verschiedenste Bearbeitungen dem Musikleben in Wien nachhaltige Impulse gegeben zu haben. Textbücher wurden ins Italienische und Deutsche übersetzt und dienten als Textgrundlage von Opere buffe 33 oder Singspielen, die bei Gastspielen auswärtiger deutschsprachiger Truppen, danach im neu eingerichteten Deutschen Nationaltheater, aber auch auf den Vorstadtbühnen aufgeführt wurden. 34 Einzelne Arien gingen in Liedersammlungen ein, und die Stücke wurden auch instrumental für Streichquartett oder Klavier arrangiert. Ein instruktives Beispiel eines auf vielfache Weise angeeigneten Stücks bildet Grétrys Welterfolg Zémire et Azor (1771), eine Opéra comique, die in Wien und seinem Einflussbereich sowohl im Original als auch in deutschen, italienischen oder instrumentalen Bearbeitungen kursierte. 35

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Siehe ebd., S. 258 u. 364 – 368. Siehe Ackermann: Opéra comique (wie Anm. 7), S. 25. Siehe ebd., S. 28 – 31. Joseph Haydns L’incontro improviso (1775) basiert etwa auf Dancourts La rencontre imprévue. 34 Siehe Ackermann: Opéra comique (wie Anm. 7), S. 31 – 48; ältere Beispiele von Übersetzungen um 1770, wie etwa auch Wolfgang Amadeus Mozart, Bastien und Bastienne (1768) nach Favarts Les amours de Bastien et Bastienne, einer Parodie von Rousseaus Le devin du village, siehe ebd. S. 26 – 28. 35 Siehe Ackermann: Opéra comique (wie Anm. 7), S. 232 – 237.

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4 Wiener Instrumentalmusik in Paris Die Einführung und der Betrieb eines französischen Theaters in Wien wurden von oben, vom Staatskanzler zentral gesteuert. Und doch gelangte die hohe Politik mit der neu Einzug haltenden Logik der Rentabilität an ihre Grenze. Bei den Drucken von Wiener Komponisten in Paris sieht es zunächst so aus, als ob umgekehrt nur kommerzielle Interessen die handelnden Personen motivierten. Als Josef Haydns Streichquartette op. 1 Anfang 1764 in Paris erschienen, war der 32-jährige Komponist in Frankreich, England oder Italien ein unbeschriebenes Blatt. Dies sollte sich rasch ändern. Die Edition steigerte seine Bekanntheit weit über den deutschen Sprachraum hinaus und gab den Startschuss für die internationale Verbreitung seiner Musik. Der Verleger La Chevardière ließ bald nach op. 1 die Quartette op. 2 folgen. Viele der Werke wurden darauf in rascher Folge von Verlegern in Amsterdam und London nachgedruckt. Doch auch Abschriften kursierten in weiter Verbreitung. Bereits 1767 gelangte etwa ein Manuskript dieser Werke zu den Mährischen Brüdern in die (damals noch) britischen Kolonien in Amerika. 36 Einen ersten Schritt in Richtung internationaler Verbreitung hatte zuvor Immanuel Breitkopf in Leipzig unternommen. Der Musikalienhändler hatte ab 1762 begonnen, in gedruckten Titel-Verzeichnissen und thematischen Katalogen sein Angebot an hauptsächlich handschriftlich vorliegenden Musikalien zu präsentieren, von denen man Kopien bei ihm bestellen konnte. Die genannten Quartette tauchten (zusammen mit weiterer Instrumentalmusik) zu Ostern 1763, und damit unmittelbar nach Ende des Siebenjährigen Krieges, erstmals in seinem Angebot auf. 37 Der Wiener Markt selbst war für solch weitreichende Verbreitung seiner Produkte noch nicht gerüstet. Hier dominierte die handschriftliche Distribution mit regionaler Ausstrahlung. Die Ware wurde von Kopisten wohl durchwegs auf Bestellung angefertigt. Erst als 1777 Antoine Huberty aus Paris in die österreichische Hauptstadt übersiedelte, stellte der Wiener Musikalienmarkt innerhalb weniger Jahre weitgehend auf Notendruck um. Paris dagegen erlebte bereits in den 1750er Jahren einen gewaltigen Aufschwung des Notendrucks. Es existierten im Zeitraum bis zur Revolution

36 Hob. III:6, 7, 11 und 12. Datierung 1767 auf III:7, siehe Anthony van Hoboken: Joseph Haydn. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis. Bd. 1. Mainz 1957, S. 369. 37 Vgl. Wolfgang Fuhrmann: Haydn und sein Publikum. Die Veröffentlichung eines Komponisten, ca. 1750 – 1815. Habil. Schr. Universität Bern 2010, S. 94 – 100. Fuhrmann korreliert hier Breitkopfs „Bücher-Verzeichnis“ mit den etwas späteren Thematischen Katalogen, in denen die Quartette 1765 aufscheinen.

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rund 80 Verlage. 38 Viele davon wurden von Frauen geleitet. Auf welchem Weg Haydns Quartette in diesen Markt gelangten, ist unbekannt. Haydn selbst, der später mit seinen Verlegern in London, Paris und Wien harte Verhandlungen führte, kommt als Urheber des Transfers wohl kaum in Frage, denn unter die Originalkompositionen sind auch Arrangements gemischt. Vor Haydn waren bereits andere Wiener Komponisten auf dem Pariser Markt präsent. Georg Christoph Wagenseil war dort schon seit 1755 und mit wesentlich mehr Werken als Haydn vertreten. Ab 1760 kamen langsam weitere (heute ziemlich unbekannte) Musiker wie Franz Aspelmayr, Johann Baptist Vanhal, Joseph Anton Steffan und Florian Leopold Gassmann dazu. 39 Von ihnen wurde Instrumentalmusik gedruckt, Symphonien, Cembalokonzerte, Quartette und Trios. Eine Vielzahl dieser Drucke erschien beim erwähnten Notenstecher und Verleger Antoine Huberty, der seit 1756 in Paris arbeitete und dessen Produkte durch königliche Privilegien (1757 und 1760) geschützt waren. Huberty, der möglicherweise ursprünglich aus Wien stammte, hatte offensichtlich schon früh intensive Geschäftsbeziehungen zu Wien aufgebaut. Wie weit diese Aktivitäten durch politische Impulse angestoßen oder durch kommerzielle Interessen von Komponisten oder Verlegern vorangetrieben wurden, ist nicht gänzlich geklärt. Manche der in Paris vertretenen Komponisten standen in enger Beziehung zum Wiener Hof. Wagenseil war Hofkomponist; Asplmayr schrieb unter der Ägide Durazzos Ballettmusik für das Kärntnertortheater; Gassmann diente Josef II. als Kammerkomponist. Dies muss nichts bedeuten; denn für andere wie Vanhal, Steffan oder den beim Fürsten Esterhazy engagierten Haydn gilt ähnliches nicht. Dennoch wäre es naiv anzunehmen, dass am Pariser Druckmarkt allein das freie Spiel der Kräfte, ein idealer Ausgleich von Angebot und Nachfrage das Feld beherrscht hätte. Ein erster Impuls, Wiener Komponisten mit Instrumentalmusik in Paris zu präsentieren, war möglicherweise wiederum von Wenzel Anton von Kaunitz ausgegangen. Wagenseil sandte ihm am 13. November 1751 eigene Klaviermusik nach Paris. Die Skepsis darüber, dass man dort die Musik

38 Axel Beer: Art. Musikverlage und Musikalienhandel, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 2. Aufl. Sachteil Bd. 6 (1997), Sp. 1760 – 1783, hier 1767. 39 Zum Verleger Huberty und dem Angebot von Musik aus Wien in Paris siehe ausführlich: Sarah Schulmeister: Antoine Huberty und die Wiener Instrumentalmusik am Pariser Notendruckmarkt, 1756 – 1777. PhD Diss. Universität für Musik und darstellende Kunst Wien 2018; vgl. auch Paul Robey Bryan: Johann Wan˙ hal, Viennese symphonist. His life and his musical environment. Stuyvesant NY 1997, S. 20 f. u. 471 – 475.

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richtig auffassen und vor allem schnell genug spielen würde, lässt vermuten, dass der Komponist nicht dem eigenen Antrieb folgte, sondern einem Wunsch des damaligen Botschafters in Paris nachkam: Exzellenz, Euren schmeichelhaften Befehlen gehorchend, habe ich versucht, hiermit das Bestmögliche zu schicken. Doch Eure Exzellenz wird die Güte haben, denjenigen, die sich herablassen, meine Kompositionen zu spielen, zu erklären, dass meine Tempi, hauptsächlich die Allegros und die Prestos, sehr schnell und legato sind. Das wird schwer machen, was nicht schwer scheint. 40

Abschließend soll noch einmal Leopold Mozart das Wort haben, den nichts so sehr zu freuen schien als der Lärm, den sein Sohn in der Welt hervorrief. Wie eingangs zitiert, war auch in Wien davon die Rede. In der Saison 1763/64 verbrachte er mit seiner Familie fünf Monate in der französischen Hauptstadt. Er wollte das überragende Talent seines damals achtjährigen Sohnes, das auch ihm selbst wie ein Wunder erschien, der Welt präsentieren. Und zu diesem Zwecke versuchte er Kontakte zu knüpfen, Audienzen zu erlangen und Konzerte zu veranstalten. Er ließ auch die Gelegenheit nicht verstreichen, hier, in der europäischen Metropole des Notendrucks, Werke seines Sohnes stechen zu lassen. Es erscheint als merkwürdige musikhistorische Koinzidenz, dass Haydns op. 1 und Mozarts op. 1 innerhalb weniger Wochen fast gleichzeitig in Paris gedruckt wurden. Haydns Quartette wurden am 30. Januar 1764 in einer Pariser Zeitung erstmals angezeigt. 41 Und nur zwei Tage später, am 1. Februar, berichtet Leopold Mozart, dass vier Sonaten Wolfgangs „beym stechen“ seien. Er schreibt: die teutschen spielen in Herausgaabe ihrer Composition dem [recte: den] Meister. [. . . ] Mr: Schoberth. Mr. Eckard, Mr: Le grand und Mr: Hochbrucker haben ihre gestochne Sonaten alle zu uns gebracht und meinen Kindern verehret. Nun sind 4 Sonaten von Mr: Wolfgang Mozart beym stechen. stellen sie sich den Lermen für, den diese Sonaten in der Welt machen werden, wann am Titlblat stehet daß es ein Werk eines Kindes von 7 Jahren ist [. . . ]. 42

40 Wagenseil an Kaunitz, 13. 11. 1751: „Eccelenza / Eccola ubbidita [recte: ubbidito] dei Graziosi Commandi, hò Cercato di mandare il meglio che poteva, però V.E. averà la Grazia di Spiegare a chi vorrà degnarsi di Sonare queste mie Compositioni, che i miei tempi principalmente gli Allegri e Presti Sono molto veloci, e legati, il che renderà difficile, quel che non pare.“ Zit. nach Croll: Musiker (wie Anm. 10), S. 349 sowie ders.: „Gli Allegri e Presti sono molto veloci e legati“. Eine authentische Spielanweisung eines Komponisten für seine Musik, in: Pio Pellizzari (Hg.): Musicus perfectus. Studi in onore di Luigi Ferdinando Tagliavini prattico e specolativo nella ricorrenza del 65. compleanno. Bologna 1995. 41 Hoboken: Haydn (wie Anm. 36), S. 361. 42 Leopold Mozart an Maria Theresia Hagenauer, 01. 02. 1764, Mozart Briefe (wie Anm. 2), S. 126.

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Der Musikdruck in Paris begegnet uns als ein blühender, doch auch schnelllebiger Geschäftszweig. Die Stecherin Mme. Vendôme übernahm die Produktion, die so rasch vonstatten ging, dass Leopold Mozart später bedauerte, dass einige Satzfehler stehengeblieben waren, die er bei einer zweiten Korrektur (zu der es nicht mehr kam) noch hätte ausmerzen können. 43 Wie bei der Opéra comique zeigen auch die Drucke von Instrumentalmusik, wie eng verwoben, ja verbündet im Musikleben des dritten Viertels des 18. Jahrhunderts adelige und bürgerliche Welt waren und wie sich die Logik des Aufwands mit jener der Rentabilität verband. Drucke gehörten beiden Sphären an, sie brachten doppelten Nutzen, als Geschenk und als Ware. Wie bei Haydn folgte auf Mozarts op. 1 rasch das op. 2. Mozart widmete die Bände zwei Damen aus dem hohen Adel. Op. 1 wurde Prinzessin Louise-Marie-Thérèse (1733 – 1799), einer Tochter des Königs, zugeeignet und vom Komponisten persönlich in Versailles überreicht. 44 Dass er dafür im Gegenzug ein wertvolles ‚Geschenk‘ erhielt, ist mit Sicherheit anzunehmen. Bei einem solchen formalisierten Tausch gewannen nicht nur die Komponisten, sondern auch die Widmungsträger. Auch für diese stand etwas auf dem Spiel, nämlich der Erhalt und die Demonstration von Status. Dies zeigt sich an den leichten Turbulenzen, die bei op. 2 auftraten. Gräfin Adrienne-Catherine de Tessé, eine hochgestellte Hofdame, wollte nämlich die ursprünglich vorgesehene Widmungsvorrede nicht akzeptieren und verlangte Änderungen. 45 Die Widmung diente der Repräsentation ihres Rangs, und es war nicht gleichgültig, wie sie in der Vorrede dargestellt wurde. Der Text dieser Widmung stammt von dem aus Regensburg stammenden Friedrich Melchior von Grimm (1723 – 1807), einem Publizisten und Hofbeamten beim Herzog von Orléans, dessen Correspondance littéraire in ganz Europa hochgestellte Leser hatte. Die näheren Umstände zeigen das aristokratische Patronage-System, dem die Widmung sich verdankt, in der Krise. Leopold Mozart berichtet, dass die adelige Protektion und etliche Briefe an hochgestellte Persönlichkeiten in Paris für ihn nichts ausrichten konnten. Dagegen verdanke er das meiste dem Baron von Grimm, er sei „[sein] großer Freund, von dem [er] hier alles habe.“ 46 Grimm habe die Verbindung zum französischen Hof hergestellt und zwei Konzerte organisiert, ein ‚Freund‘ wie Kaunitz und Dietrichstein, mit denen sich Mozart 43 Leopold Mozart an Lorenz Hagenauer, 03. 12. 1764, Mozart: Briefe (wie Anm. 2), S. 177 f. 44 Leopold Mozart an Lorenz Hagenauer, 22. 02. 1764, Mozart: Briefe (wie Anm. 2), S. 130. 45 Leopold Mozart an Lorenz Hagenauer, 01. 04. 1764, Mozart: Briefe (wie Anm. 2), S. 141. 46 Ebd.

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einige Jahre später in Wien brüsten würde. Gemeint waren wohl nicht Freunde auf Augenhöhe (wie in einem Freundschaftsbund), sondern Förderer, Patrone, Personen, die sein Fortkommen tatkräftig unterstützten. Selbstverständlich bedeutete auch für Komponisten der Druck eigener Werke einen Gewinn an Renommée. Mozart ersuchte aus London, man möge dem Erzbischof in Salzburg die gedruckten Sonaten seines Sohnes vorspielen, wohl um die lange Beurlaubung seines Untergebenen durch den Ruhm zu rechtfertigen, den dieser für sich und seinen Herrn errungen hat. Doch genauso wichtig war dem fernen Briefschreiber, dass eine Anzeige des Druckes in den heimischen Zeitungen erscheine; schon warteten Exemplare der Noten in Salzburg zum Verkauf. Aus seinen Anweisungen geht hervor, dass Mozart den Verkauf der Exemplare zumindest teilweise selbst und auf eigene Rechnung übernommen hatte. Stolz berichtet er, dass die Sonaten in Paris teurer als in Salzburg verkauft würden und in Frankfurt sogar das Doppelte kosteten. 47 Wie sich zeigte, war das Musikleben im Zeitalter der Aufklärung durch vielerlei politische, soziale und ökonomische Gegensätze geprägt, die durch verschiedene Bündnisse überbrückt werden konnten. Der Habsburger Hof und jener der Bourbonen, die Metropolen Wien und Paris, Adel und Bürgertum, die Logik des Aufwands und jene der Rentabilität – sie alle konkurrierten und wirkten zugleich zusammen. Die politische und militärische Allianz zwischen den alten Gegnern Österreich und Frankreich ermöglichte und unterstützte einen intensiven Austausch von Musikalien und die Migration von Musikerinnen und Musikern. Während bei Mozarts erster Oper kommerzielle Notwendigkeiten der Patronage enge Grenzen setzten und die gewünschte Aufführung im Wiener Burgtheater nicht zustande kam, gingen bürgerliche Akteure auf dem Pariser Druckmarkt ein Bündnis mit dem hohen Adel ein, das beiden Seiten nutzte: Widmungen an hochgestellte Personen erhöhten den kommerziellen Erfolg von Verlegerinnen und Komponisten und stellten der Welt aufs Neue den gesellschaftlichen Rang der Widmungsträger und -trägerinnen vor Augen. Ehedem hatten repräsentative Musikdrucke primär den Ruhm des Fürsten im Blick. Erst dort, wo sich kommerzielle Momente und die Interessen der Patrone die Waage halten, kann von einem Bündnis der sozialen Gruppen überhaupt die Rede sein. Die Mozarts bewegten sich in diesem Netz von Beziehungen und suchten pragmatisch ihr Glück auf allen Seiten. Was ihre reiche Korrespondenz so klar erweist, wird für viele andere ähnlich gelten. Nicht was das Talent

47 Leopold Mozart an Lorenz Hagenauer, 03. 12. 1764, Mozart: Briefe (wie Anm. 2), S. 177.

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von Wolfgang Amadeus Mozart anlangt, aber was Tätigkeitsfelder und Interessenlagen betrifft, repräsentiert die Familie einen ganzen Berufszweig. Und von ihnen lernt man: Die Welt war in Bewegung geraten, und wer von den dadurch in Gang gesetzten Prozessen profitieren wollte, musste sich selbst auf den Weg machen.

Wolfram Malte Fues

Were They „Anonymous“? Aufklärung und Clandestinität einst und jetzt

Was ist Aufklärung? Eine endgültig vergangene Epoche, die sich die Forschung spurensuchend und spurensichernd zu vergegenwärtigen hat, oder eine, die ihr eigenes Vergehen so wendet, dass sie es in seinem Vollzug umkehrt und es zukunftsträchtig macht? Ist die Aufklärung ein abgeschlossener Modernisierungsprozess, oder noch unabgeschlossen oder gar unabschließbar? Die Frage scheint in der Aufklärungsforschung wieder Aktualität zu gewinnen. Während zwei jüngere Gesamtdarstellungen des 18. Jahrhunderts dazu neigen, die Aufklärung als Epoche zu verstehen, deren Modernisierungspotential stets auf seine Aktualität hin überprüft werden muss, fragt sich ihr Rezensent, „ob man nicht als Historiker besser beraten wäre, die Aufklärung als abgeschlossene Epoche zu betrachten und in historischen Kontexten zu vertreten“. 1 Vielleicht hilft ein klassischer Selbstverständigungstext der Aufklärung weiter. „Aufklärung ist“ – wir wissen es alle – „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ 2 Nun kann die sich über sich aufklärende Vernunft in keine schlimmere Schuld fallen als in diejenige des Dogmatismus, die unkritische Annahme überlieferter Grundsätze und Maximen. Autos epha! Lautet die Devise jener faulen Vernunft, die Kant zufolge dazu führt, „daß man seine Untersuchung, wo es auch sei, für schlechthin vollendet ansieht, und die Vernunft sich also zur Ruhe begibt, als ob sie ihr Geschäfte völlig ausgerichtet habe“. 3 Die als kategorisches Urteil formulierte Maxime fordert also, keine überlieferte Setzung unbedacht hinzunehmen, auch diejenige nicht, die eben diese Forderung enthält. Aufklärung bestimmt sich demgemäß in ihrem historischen Kontext so, dass sie dessen künftige Tradition ebenso antizipiert wie sie solche Antizipation kritisch präfiguriert. Da diese Bestimmung rein formal ist,

1 Andreas Pecar: War das 18. Jahrhundert ein Laboratorium der Moderne? Eine Erörterung darüber, wie die Geschichte des 18. Jahrhunderts erzählt wird, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 38/1 (2014), S. 57 – 62, hier S. 62. – Die Frage betrifft Georg Schmidt: Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert. München 2009, sowie Wolfgang Schmale: Das 18. Jahrhundert. Wien 2012. 2 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, A 481. 3 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 718.

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transzendental statt empirisch, methodisch statt positivistisch, fordert sie von ihrer Vergegenwärtigung erstens die aktualisierende Überprüfung der sie tragenden Logik, zweitens die dementsprechende Suche nach sie darstellenden Texten und Kontexten. Erst aus der Perspektive einer Epoche, deren Charakter beide Forderungen als ihm fremd und damit als endgültig historisch abwiese, ließe sich die Aufklärung als abgeschlossene Epoche betrachten. Hiermit sind die Methode und die Perspektive benannt, die den nun folgenden Überlegungen als Richtschnur dienen. 1795, ein knappes Jahr vor seinem Tod, lässt Adolph Freiherr von Knigge in Wien sein Manifest einer nicht geheimen, sondern sehr öffentlichen Verbindung echter Freunde der Wahrheit, Rechtschaffenheit und bürgerlichen Ordnung an ihre Zeitgenossen erscheinen. Sein Inhalt soll uns hier nicht näher beschäftigen. Es wiederholt jene politischen und sozialen Forderungen, deren Erfüllung alle deutschen Intellektuellen sich wünschen, die den Anfang der Französischen Revolution begrüßt haben und später über ihre blutigen Konsequenzen erschrecken. „Ich kann seit 14 Tagen keine französischen Zeitungen mehr lesen, so ekeln diese elenden Schinderknechte mich an“, schreibt Schiller am 8. Februar 1793 an Körner. 4 Beschäftigen soll uns demgegenüber vielmehr, wie Knigge sich die Verbreitung und die Verwirklichung seines Konzepts vorstellt. Robespierre ist gestürzt, die Thermidoriens verfolgen die Jakobiner, das Directoire steht vor der Tür und mit ihm die Republik der Bourgeoisie. Jetzt, findet Knigge, sei es in Deutschland „nun wohl einmal Zeit, daß die verständigern Freunde der Wahrheit, Rechtschaffenheit und Ordnung zusammentreten, um [. . . ] mit vereinten Kräften an Herstellung der bürgerlichen Ordnung, des Friedens und der brüderlichen Duldung zu arbeiten.“ 5

4 Friedrich Schiller: Schillers Werke. Nationalausgabe. 1940 begründet von Julius Petersen. Fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese, Siegfried Seidel. Hg. im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers. 40 Bde. Weimar 1943 ff. Bd. 26, S. 183. 5 Adolph Freiherr Knigge: Manifest einer nicht geheimen, sondern sehr öffentlichen Verbindung echter Freunde der Wahrheit, Rechtschaffenheit und bürgerlichen Ordnung an ihre Zeitgenossen, in: ders.: Werke. Mit einem Essay von Sibylle Lewitscharoff. 4 Bde. Hg. von Pierre-André Bois u. a. Bd. 4. Göttingen 2010, S. 339 – 381, hier S. 365. – Zu Knigges politischem und historischem Denken siehe Pierre-André Bois: 1752 – 1796: de la „nouvelle religion“ aux Droits de l’Homme: l’itinéraire politique d’un aristocrate allemand franc-maçon à la fin du dix-huitième siècle. Wiesbaden 1990; Anke Bethmann / Gerhard Dongowski: Adolph Freiherr von Knigge an der Schwelle zur Moderne. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte der deutschen Spätaufklärung. Hannover 1994, S. 71 ff.; W. Daniel Wilson: Vom internalisierten ‚Despotismus‘ zur Mündigkeit. Knigge und die Selbstorganisation der aufgeklärten Intelligenz, in: Hugo Dittberner (Hg.): Text + Kritik 130. München 1996, S. 35 ff; Pierre-André Bois: Zwischen Revolution und aufgeklärtem Absolutismus. Knigges Vorstellung von der Politik, in: Martin Rector (Hg.): Zwischen Weltklugheit und

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Liberté, Egalité, Fraternité. Das soll für Deutschland nun heißen: bürgerliche Ordnung, Friede, brüderliche Duldung. Diesen Zustand herbeizuführen ist Aufgabe der „verständigern Freunde der Wahrheit, Rechtschaffenheit und Ordnung“. Verständiger. Als wer? Einerseits als diejenigen „Vernunftfreunde“, die den anzustrebenden Gesellschaftszustand mit einer „ärgeren Geistesdespotie einzuführen“ suchen, „als noch je in der Welt gewütet hat“, 6 also als die Jakobiner in der Epoque sous la terreur. Andererseits aber auch als jene „Dummheitbeförderer“ 7, die sich aller Aufklärung widersetzen, wie sie Knigge in Des seligen Herrn Etatsrats Samuel Conrad von Schafskopf hinterlassene Papiere: von seinen Erben herausgegeben 1792 porträtiert hat. Der Weg, den die zum Zusammenschluss aufgerufenen Männer einzuschlagen haben, liegt demnach in der Mitte zwischen Reaktion und Revolution und somit auf dem Boden der Reform. Wie soll dieser Weg nun gebahnt und beschritten werden? „In vierundzwanzig Städten von Teutschland haben sich schon kleine Zirkel solcher Männer zusammengefügt und laden jeden redlichen und klugen Mann ein, ihrem patriotischen Bunde beizutreten.“ 8 Vierundzwanzig. Zwei Dutzend. Eine symbolische Zahl, an die 24 Buchstaben des griechischen Alphabets und an die 12 Tierkreiszeichen erinnernd. 9 Keine der angeblich beteiligten Städte wird beim Namen genannt. Keiner der Zirkel. Keiner der Männer. So sehr öffentlich das Manifest erscheint, das die Verbindung echter Freunde der Wahrheit vorstellt, so privat, so geheim hält sich die Verbindung gegenüber ihrer Öffentlichkeit. Wie soll ein redlicher und kluger Mann ihr beitreten, wenn er nicht den mindesten Anhaltspunkt hat, wohin oder an wen er sich deshalb wenden muss? Keine

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Moral. Aufklärer Adolph Freiherr Knigge. Göttingen 1999, S. 121 ff.; sowie Ingo Hermann: Knigge. Die Biographie. Berlin 2007, S. 268 ff. (zum Manifest). Knigge: Werke. Bd. 4 (wie Anm. 5), S. 365. Ebd. Ebd. – „Das Mittel, unter dem Schleyer von Lese-Gesellschaften u.d.gl. in allen Städten zu wirken, kömmt mir sehr zweckmäßig, so wie überhaupt alle Mittel, welche, ohne Aufsehen zu erregen, und ohne gegen Andere intolerant zu verfahren, dahin führen, Grundsätze der Vernunft und Rechtschaffenheit auszubreiten.“ (Knigge an die Deutsche Union im Dezember 1788, in: ders.: Briefwechsel mit Zeitgenossen 1765 – 1796. Hg. von Günter Jung / Michael Rüppel. Göttingen 2015, S. 120) Ist der Griff nach diesen Mitteln nicht im Selbstverständnis des sich über sich aufklärenden Subjekts bereits angelegt? „Alle Wissenschaften und Künste suchte ich mir nach möglicher Kraft anzueignen“, berichtet einer der Erzähler aus Achim von Arnims Novellen-Sammlung Der Wintergarten. Jedoch: „Bald genügte es mir nicht, dies allein in mir zu treiben, ich fühlte einen Drang, andre damit zu ergreifen und zu durchdringen, ich knüpfte reisend mit Unzähligen an, wir [. . . ] arbeiteten fleißig, es sollte wie ein wunderbarer allseitiger Spiegel die Welt vereinigen.“ Achim von Arnim: Sämtliche Romane und Erzählungen. Bd. II. Hg. von Walter Migge. München 1963, S. 345. Zur Rolle der Zwölf in der valentinianischen Gnosis siehe Franz Dornseiff: Das Alphabet in Mystik und Magie. Reprint der 2. Aufl. von 1925. Wiesbaden 1979, S. 128 ff.

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Sorge. „[E]rfahren wir“ – Knigge spricht bereits für die Verbindung –, „daß würdige Männer uns näher kennenzulernen wünschen, so werden wir schon Mittel finden, uns diesen zu nähern.“ 10 Wir uns ihnen. Nicht sie sich uns. Und nicht zuletzt: Wie die Verbindung davon erfährt, bleibt ungesagt. Knigge schwebt anscheinend eine Art Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige vor, die alles über sich für sich behält außer ihrer Existenz und ihren Absichten; die im Licht der Öffentlichkeit steht, aber ihre Organisationsstruktur wie ihre Operationsweise im Dunkeln lässt. Damit hofft Knigge wohl, einerseits das Misstrauen der Machthaber gegen sein Projekt zu besänftigen, andererseits politisch Gleichgesinnte anzuziehen, die Entscheidung über ihre Teilhabe aber völlig in der Hand zu behalten. Wie treten diese Zirkel nun miteinander in Verbindung? In jedem zeichnet ein Mitglied verantwortlich für die Korrespondenz. Es sammelt, was die übrigen Mitglieder ihm zutragen: „Nachrichten, Anfragen, Forderungen, Vorschläge, auch [. . . ] kleine Abhandlungen über verschiedene Gegenstände“. 11 Das so entstandene Heft schickt der Verantwortliche alle zwei Wochen an den Korrespondenten des ihm reihum nächstfolgenden Zirkels und fügt ihm das Heft des in der Reihe vor ihm liegenden bei, das er selber vor zwei Wochen erhalten hatte. Es ist in seinem Zirkel erörtert und um diese Erörterung bereichert worden. Jedes in Umlauf gesetzte Heft trägt statt des Namens der Stadt, aus der es stammt, nur die Nummer des Zirkels, der es verfasst hat, keine Absender-, sondern nur die Empfängeradresse. Eine Staatsgefährdung witternde Untersuchungsbehörde, mit deren Eingreifen Knigge trotz des sehr öffentlichen Charakters der von ihm projektierten Verbindung offenbar rechnet, hätte also einige Mühe, ihr auf die Spur zu kommen. Sie unterhält demnach mittels des damals raschesten und allgemeinsten Mediums, der Post, ein kommunikatives Netzwerk, das, bei jederzeit möglichem Wachstum, durch seine eigentümliche Praxis die größtmögliche Teilhabe aller seiner Mitglieder mit der kleinstmöglichen Gefährdung seiner Agenten kombiniert. Was enthalten nun die in Umlauf gesetzten Hefte? Empfehlende und warnende Buchbesprechungen. Kampagnen gegen im Land A erlassene, nach Ansicht der Verbindung schädliche Gesetze, die vom Land B aus begonnen werden müssen, weil die Strenge der Zensur im Land A das unmöglich macht. Einflussnahme auf Stellenbesetzungen in Schule, Universität und Verwaltung. 10 Knigge: Werke. Bd. 4 (wie Anm. 5), S. 366. – Zuerst jedoch gelingt es der Wiener Polizei, sich Knigge zu nähern und unter dem gefälschten Namen ‚Aloys Blumauer‘ einen Briefwechsel mit ihm zu beginnen. Siehe über die näheren Umstände jetzt die Einleitung zu Jung / Rüppel (Hg.): Adolph Freiherr Knigge. Briefwechsel mit Zeitgenossen (wie Anm. 8), S. 24 f. Siehe dort die Briefe Nr. 175,177,178,184,185. 11 Knigge: Werke. Bd. 4 (wie Anm. 5), S. 370.

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Wir können nicht sterben. Wir sind ewig. Wir wachsen von Tag zu Tag, nur durch die Macht unserer Ideen, so bösartig und feindselig sie manchmal auch sind [. . . ] Wissen ist frei. Wir sind Anonymous. Wir sind Legion. Wir vergeben nicht. Wir vergessen nicht. 12

So die Botschaft, die fünf Anons am 21. Januar 2008 an Scientology senden. Was hätte Knigge seiner Verbindung echter Freunde der Wahrheit Besseres wünschen können als nicht zu brechende Expansionskraft in alle und für alle Zukunft im unerbittlichen und unnachsichtigen Verfolg der Wissensfreiheit? Nur dass dazu auch bösartige und feindselige Ideen dienen sollen, hätte ihn wohl verstört. Knigge hält anscheinend die bürgerliche Gesellschaft nach wie vor für an sich vernünftig, glaubt aber nicht mehr daran, dass sie sich durch sich selber zur Vernunft bringen kann. Sein Projekt baut nicht mehr auf jene von Kant postulierte jederzeit freie öffentliche Vernunft, deren gesellschaftlicher Gebrauch erst zu theoretischer Übereinstimmung und schließlich zu praktischer Übereinkunft führt, wodurch sie die bestehenden Machtstrukturen als ganze konfrontiert, kritisiert und letztendlich transformiert. 13 Knigges Verbindung echter Freunde der Wahrheit sucht vielmehr in einer eigentümlichen Mischung aus sich öffentlich gebender Institution und klandestiner Kaderpartei die Machtstrukturen des herrschenden Systems punktuell mit Gegen-Macht zu infizieren, bis es schließlich durch Überdeterminierung in sein Gegenteil umschlägt. Begleitet, wie sich versteht, um nicht irgendwann von irgendwoher Ziel eines Radikalenerlasses zu werden, von der öffentlichen Erklärung: „Gut gesinnte, weise

12 Ole Reißmann / Christian Stöcker / Konrad Lischka: We are Anonymous. München 2012, S. 55 f. – „The digital entity Anonymous, part digital direct action, part human rights technology activism, and part performance spectacle, while quite organizationally flexible, is perhaps one of the most extensive movements to have arisen almost directly from certain quarters of the Internet.“ E. Gabriella Coleman: Coding Freedom. The Ethice and Aesthetics of Hacking. Princeton 2013, S. 210; vgl. dazu dies.: our weirdness is free. The logic of Anonymous – online army, agents of chaos, and seekers of justice, abrufbar unter: http://canopycanopycanopy . com / 15 / our _ weirdness _ is _ free, letzter Zugriff: 20. 03. 2012; sowie dies.: Anonymous. Hacker, activiste, faussaire, mouchard, lanceur d’alerte, Montréal 2016. Siehe außerdem: Parmy Olson: We are anonymous: inside the hacker world of LulzSec, Anonymous, and the Global Cyber Insurgency. New York 2012; Antonella Beccaria: noi siamo legione. Reggio Emilia 2012; Camille Gicquel: Anonymous. La fabrique d’un mythe contemporain. Limoges 2014; sowie David Kergel: Kulturen des Digitalen. Postmoderne Medienbildung, subversive Diversität und neoliberale Subjektivierung. Wiesbaden 2018, S. 101 ff. 13 „Der intelligiblen Einheit des transzendentalen Bewusstseins entspricht die in der Öffentlichkeit sich herstellende Einigung aller empirischen Bewusstseine.“ Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 13. Aufl. Darmstadt / Neuwied 1982, S. 133. Vgl. dazu jedoch Kants skeptische Unterscheidung zwischen Überredung und Überzeugung: Kritik der reinen Vernunft, B 849.

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Fürsten und Regierungen haben [. . . ] nichts von uns zu besorgen.“ 14 Gut gesinnt ist selbstverständlich nur, wer gesinnt ist wie wir. Die Netzgemeinde kommuniziert in geborgter oder fiktiver Identität von Accounts aus, die für gewöhnlich so über eine Serverkette laufen, dass die ID des Ausgangscomputers unkenntlich wird. Die Website mit ihren Foren und Unterforen hingegen ist öffentlich zugänglich. (Die Netzadressen finden sich in dem eben zitierten Buch.) Wir begegnen der gleichen Kombination aus sehr öffentlicher Verbindung und Klandestinität wie bei Knigge, allerdings nicht der Kaderpartei, denn jede Form von regelgeleiteter Hierarchie ist den Anons verhasst. Das Wissen, dessen Freiheit sie verteidigen, liegt in der Gewissheit von allem, was im Netz als Botschaft Sinn oder Unsinn macht, so bösartig oder feindselig es auch sein mag. 15 Keinen gesellschaftlichen Sachverhalt nehmen die Anons von ihrer Kritik, ihrer Polemik, ihrem Zynismus aus, am wenigsten sich selbst. Jedes Moment jeder Selbstdarstellung wird mit allen Mitteln angegriffen, auch mit sexistischen und rassistischen. Und wozu das alles? Die Anons würden über diese Frage erstaunt die Augenbrauen heben: Ist doch klar – lulz. Eine Verballhornung von LOL, laughing out loudly, also: fun, Spaß. Und was macht hier so viel Spaß? – Jeder Anon erhebt mit jeder Botschaft einen Geltungsanspruch im Vertrauen auf anerkennende Kritik, wie es jeder der Freunde der Wahrheit mit einem Eintrag im Heft seines Zirkels ebenfalls tat. Aber in dem Augenblick, in dem der Anon diesen Anspruch erhebt, weiß, erwartet er zugleich, dass sein Vertrauen enttäuscht wird, dass er auf nichts trauen darf als das Misstrauen in sein Vertrauen. Jede Fest-Stellung, betreffe sie sein Selbst- oder sein Weltverständnis, verwandelt sich sogleich in ihre Negation, der es nicht anders ergehen wird, ohne dass sie ihren Anspruch auf Bestimmtheit und damit auf Bestimmungsmacht verliert. Die Grenze zwischen Positivität und Negativität hebt sich in einem Maskenspiel auf, das am Aufschub der Entscheidung zwischen Bedeutsamkeit und Nichtigkeit seine wahre Freude hat. Ironie? Die höchste Regsamkeit des Lebens muss wirken [. . . ]; findet sie nichts außer sich, so wendet sie sich zurück auf einen geliebten Gegenstand, auf sich selbst, ihr eigen Werk; sie verletzt dann, um zu reizen, ohne zu zerstören. 16

14 Knigge: Werke. Bd. 4 (wie Anm. 5), S. 378. 15 Vgl. dazu Geert Lovink: Networks Without A Cause. A Critique of Social Media. Malden 2012. 16 Friedrich Schlegel: Vom ästhetischen Wert der Griechischen Komödie (1794), in: ders.: Kritische Schriften und Fragmente [1794 – 1797]. Hg. von Ernst Behler / Hans Eichner. Studienausgabe. Bd. 1. Paderborn 1988, S. 14.

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Zu reizen, ohne zu zerstören? Dann müssten sich in dieser Regsamkeit allmählich die Konturen dessen abzeichnen, wozu sie sich anreizt und was dann der Verletzung, dem Reiz widersteht, weil es aus ihm entsteht. Die Masken von Bedeutsamkeit und Nichtigkeit müssten ihrem Zusammenspiel, soll Schlegels Ironiebegriff für es gelten, das Profil eines Ereignisses zeigen, das an dem wirksamen Verfolg einer Wahrheit, in der Positivität und Negativität sie konkretisierende Momente sind, ihre Freude hat. Am 15. Januar 2008 hinterlässt ein Anon auf einem Unterforum folgende Botschaft: „Ich glaube, es ist an der Zeit [. . . ], etwas Großes zu tun [. . . ] Ich spreche davon, die offizielle Scientology-Website [. . . ] ‚auszuschalten‘. Es ist an der Zeit, dass wir mit unseren Ressourcen etwas anstellen, was wir für richtig halten.“ 17 Scientology war Anonymous als raffgierige, Menschen manipulierende, freiheitsgefährdende Organisation aufgefallen, die nicht zuletzt die Freiheit des Internets dadurch bedrohte, dass sie ihr missliebige Darstellungen vom Netz zu klagen versuchte. Die Botschaft zündet. Fluten von Telefonanrufen, E-mails, geschwärzten FaxSeiten setzen sich in Bewegung. „Distributed Denial-of-Service“-Attacken, bei denen parallel geschaltete Computer eine Website durch eine Überfülle von Anfragen lahmlegen, werden gegen diejenige von Scientology geführt. Das ist noch nicht alles. Die Anons verabreden, von der Virtualität in die Realität zu gehen, und demonstrieren öffentlich vor den Niederlassungen der Organisation, beispielsweise am 13. März 2008, dem Geburtstag von Ron Hubbard, dem Gründervater von Scientology, vor deren Hauptsitz in Clearwater, aber auch in vielen anderen amerikanischen und europäischen Städten. In Guy-Fawkes-Masken. Mit Spruchbändern und Sprechchören. Tanzend und hüpfend. So verwirrt Knigges Freunde der Wahrheit auch von der Art und Weise des Protests gewesen wären: seine Ziele – die Bekämpfung von Obskurantismus, Zensur, Kritik- und damit Freiheitsfeindschaft – hätten sie geteilt. Neben all dem geht das übliche üble Treiben in den Foren und Unterforen uneingeschränkt weiter. 18 Damit kehren wir an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück. Wir haben, stellen wir fest, den Theorieraum der Aufklärung nicht verlassen, finden ihn aber merkwürdig verzerrt und entstellt. Was ist ihm geschehen? „Auf Vernunft und freiem Entschlusse der Menschen [. . . ] beruht der Grund sowie die Dauer einer jeden Bürgerlichen Verbindung.“ 19 17 Reißmann / Stöcker / Lischka: Anonymous (wie Anm. 14), S. 52 f. – Vgl. dazu Frédéric Bardeau / Nicolas Danet: Anonymous. Von der Spaßbewegung zur Medienguerilla. Aus dem Französischen von Bernhard Schmid. Münster 2012, S. 76 ff. 18 „Anonymous war nun Spaßguerilla, Anarcho-Clique und Protestorganisation mit ernsthaften Zielen in einem.“ Reißmann / Stöcker / Lischka: Anonymous (wie Anm. 14), S. 89. 19 Knigge: Manifest, in: Werke (wie Anm. 5), Bd. 4, S. 344.

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Davon ist Knigge unmittelbar überzeugt. Ebenso unmittelbar davon, dass die von ihm geplante Verbindung echter Freunde der [. . . ] bürgerlichen Ordnung nicht nur Subjekt dieser Vernunft ist, sondern auch in ihrer Kommunikation und deren Resultaten mit ihr übereinstimmt. Vermöge der Mitteilung der Begriffe wird das menschliche Geschlecht einer fortschreitenden Vervolkommnung fähig [. . . ]. Bei dieser Betrachtung scheint mir eine fortschreitende Vervolkommnung des menschlichen Geschlechts [. . . ] Entwurf der Natur zu sein. 20

Der Mensch ist als Gattungswesen an sich vernünftig; um es für sich zu werden, muss er nur dieses An-Sich bestimmend und vermittelnd aus sich heraus setzen; eine Aufgabe, die, da die Gattung sie zu lösen hat, mit keiner Generation abreißen oder verschwinden kann. „Ehrgeiz, Eigennutz, Eitelkeit und Herrschsucht“ 21 können die Lösung wohl erschweren, aber nicht vereiteln. 22 Dieses teleologische, im Kern theologische (neuplatonisch-gnostische) Geschichtsbild setzt eine Idee von Geschichte voraus, die Folge und Zusammenhang ihrer Epochen so zu regulieren vermag, dass alle in konkretisierender Vermittlung stehen und an ihrer objektivierenden Totalisierung teilnehmen. Diese absolute Idee bedingt das Verständnis von Geschichte überhaupt. Sie fungiert als rein formales, transzendentales Apriori aller historischen Empirie. Ihre Realität könnte nur von einem politischen Reform- oder Revolutionsprojekt bewiesen werden, in dem seine Epoche sich so erkennen würde, dass davon die Einsicht in die vernünftige Einheit von Geschichte überhaupt ausginge. Alle politische Theorie der Moderne beruht entweder auf dieser Voraussetzung oder problematisiert sie. Sie ist nach wie vor nicht realisiert. Jede Epoche in der Geschichte der Moderne zeigt den von ihr ge- und betriebenen Reform- oder Revolutionsprojekten ein ebenso annehmliches wie ablehnendes Gesicht; jede lässt die Idee der Geschichte als fortschreitender Aufklärung der Gattung Mensch unverifiziert, aber auch unfalsifiziert, also im Zweifel. Knigge und seine Freunde sind von diesem Zweifel noch gänzlich unberührt. Wäre

20 Josias Ludwig Gosch: Fragmente über den Ideenumlauf. Kopenhagen 1789 (Reprint Berlin 2006. Hg. von Georg Stanitzek / Hartmut Winkler), S. 121. – Zur Medientheorie im 18. Jahrhundert siehe Dieter Prokop: Der Kampf um die Medien. Das Geschichtsbuch der neuen kritischen Medienforschung. Hamburg 2001, S. 126 ff. 21 Knigge: Manifest, in: Werke (wie Anm. 5), Bd. 4, S. 348. 22 „Was die Langsamkeit des Weltgeist[es] betrifft, so ist zu bedenken: er hat nicht zu eilen; er hat Zeit genug – [. . . ] daß er einen ungeheuren Aufwand des Entstehens und Vergehens macht, darauf kommt es ihm auch nicht an; er ist reich genug für solchen Aufwand.“ G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Berliner Niederschrift der Einleitung [1820], in: Werke in 20 Bänden. Hg. von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel. Bd. 20. Frankfurt am Main 1971, S. 506 f.

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ihre Verbindung wirksam geworden, hätte sie angesichts von Widerstand und Fremdheit ihre Anstrengungen nur verstärkt. Anders eine Bewegung wie Anonymous. Sie empfindet diesen Zweifel nicht zuletzt deshalb so genau, weil ihr Kommunikationsmedium nicht, wie der Briefwechsel, der extensiven, sondern der intensiven Zeit 23 untersteht. Auf dieser ihrer Stelle stoßen die Bedeutsamkeit und die Nichtigkeit eines individuellen Geltungsanspruchs ebenso unmittelbar zusammen wie die Erhabenheit und die Lächerlichkeit des Anspruchs der sich über sich aufklärenden Vernunft auf geschichtliche Totalität. 24 Indem Anonymous diesen Zusammenstoß immer neu vorstellt und durchspielt, gibt die Bewegung, scheint mir, ein Modell ab für die aktuell mögliche Gestalt politischer Reform- oder Revolutionsprojekte, eine Gestalt, die ihrer Struktur nach verhindert, „dass man seine Untersuchung, wo es auch sei, für schlechthin vollendet ansieht, und die Vernunft sich also zur Ruhe begibt, als ob sie ihr Geschäfte völlig ausgerichtet habe“. 25 Die Anons wissen es nicht, aber sie tun es.

23 „Das Zeitalter der intensiven Zeit ist [. . . ] ausschließlich dasjenige des Telekommunikationsmittels, anders gesagt: dasjenige des ‚Auf-der-Stelle‘.“ Paul Virilio: Rasender Stillstand. München 1992, S. 44. Vgl. zu diesem Zeit-Problem Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München 2013. 24 Weil „die Massenmedien bei der Entstehung einer postmodernen Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielen“; weil „sie diese Gesellschaft nicht als eine ‚transparentere‘, selbstbewusstere und ‚aufgeklärtere‘ charakterisieren, sondern als eine komplexere und sogar chaotischere“; weil „gerade in diesem relativen ‚Chaos‘ unsere Hoffnungen auf Emanzipation liegen“. Gianni Vattimo: Die transparente Gesellschaft. Wien 1992, S. 15 f.. 25 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 718 (wie Anm. 3).

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Patriotismus und Nationalismus als Bündniskonzepte Laßt uns den Eid des neuen Bundes schwören. – Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.

Diese Zeilen aus der Rütlischwur-Szene in Schillers Wilhelm Tell machten nach der Uraufführung 1804 auch abseits der Bühne Karriere; sie avancierten zu „einem unendlich oft wiederholten Ruf des deutschen Nationalgefühls“. 1 Die diskursive Konstruktion einer deutschen Nation, die in den Folgejahren einen ersten Höhepunkt erlebte, rekurrierte auch auf die Weimarer Klassik. 2 Dramenimmanent erscheint das kaum begründbar: Die Hauptfigur wird von Schiller nicht als glühender Kämpfer für eine eigene Nation angelegt, sondern als aufrechter Familienvater, der eher widerstrebend auf Konfrontationskurs mit den habsburgischen Statthaltern gerät. Selbst die Eidgenossen auf dem Rütli – bezeichnenderweise ist Tell nicht unter ihnen – wollen lediglich ihre alten Rechte schützen und explizit „nicht ungezügelt nach dem Neuen greifen“. 3 Zwar radikalisieren sich die „Freunde des Landes“ – so ihre Selbstwahrnehmung – im Laufe

1 Reinhart Koselleck: [Art.] Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart 1972, S. 582 – 671, hier S. 641. Für das Schillerzitat siehe Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. Schauspiel, in: ders: Dramen IV. Hg. von Matthias Luserke, Frankfurt am Main 1996, S. 385 – 505, hier S. 437. 2 Festgestellt wurde der konstruktive Charakter moderner Nationen in den grundlegenden Publikationen von Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London 1983; Eric J. Hobsbawm / Terence Ranger (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge u. a. 1983 und Ernest Gellner: Nations and Nationalism. Oxford 1983. Vgl. dazu für die spezifisch deutsche Situation Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus und Nation in der deutschen Geschichte, in: Helmut Berding (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2. Frankfurt am Main 1996, S. 163 – 175. Die Bedeutung des Tell- und Rütlimythos für die Schweiz untersucht Olaf Mörke: Bataver, Eidgenossen und Goten. Gründungs- und Begründungsmythen in den Niederlanden, der Schweiz und Schweden in der Frühen Neuzeit, in: Helmut Berding (Hg.): Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 3. Frankfurt am Main 1996, S. 104 – 132. 3 Schiller: Tell (wie Anm. 1), S. 434.

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des Dramas ein Stück weit, doch der Akzent liegt dabei auf einer Demokratisierung und nicht auf der Nation. 4 In zurückhaltender Rhetorik und defensiver Programmatik erinnern Tell und die Verschwörer eher an aufgeklärte Patrioten denn an überzeugte Nationalisten. 5 Tendenziell patriotischer Inhalt und manifest nationalistische Rezeption des Dramas markieren die Anschlussfähigkeit des Kunstwerks in beide Richtungen und damit den fließenden Übergang zwischen diesen Ideologien: Patriotismus wie Nationalismus wirken integrierend; sie suggerieren ihren Anhängern, „das soziale Band, das in den Individualisierungs- und Ausdifferenzierungsschüben der Neuzeit [. . . ] als gefährdet erfahren wurde, fester zu knüpfen“ 6. Beide Phänomene erscheinen als Antidot gegen eine als bedrohlich empfundene Wahrnehmung gesellschaftlicher Desintegration – es verwundert daher nicht, dass noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts Patriotismus und Nationalismus im Sprachgebrauch nicht klar voneinander geschieden waren. 7 Es liegt deshalb nahe, sie ohne vorschnelle Trennung einer gemeinsamen Analyse zu unterziehen. Im Folgenden wird die von Schiller verwandte Terminologie des „Bundes“ ernst genommen. Patriotismus und Nationalismus werden heuristisch als verschiedene Ausformungen eines Allianzmodells verstanden. Schließlich erbringen beide Ideologien für ihre Anhänger die identische Leistung: Sie stiften angesichts einer scheinbar feindseligen Umwelt eine Wir-Gruppe und stellen diese auf Dauer. Patriotische und nationalistische Texte des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts werden daher als Angebote an die Leserschaft, sich mit einer In-Group zu verbünden, auf-

4 Schiller: Tell (wie Anm. 1), S. 423. Für die Charakterisierung von Schillers Tell als fast naivem Privatmann und die Interpretation der Eidesleistung auf dem Rütli als Installation einer repräsentativen Volksvertretung vgl. Hans-Jörg Knobloch: Wilhelm Tell, in: Helmut Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart 22011, S. 515 – 543, hier S. 521 – 531. 5 Vgl. dagegen Hans A. Kaufmann: Nation und Nationalismus in Schillers Entwurf „Deutsche Größe“ und im Schauspiel „Wilhelm Tell“. Zu ihrer kulturpolitischen Funktionalisierung im frühen 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1993. Wie der Untertitel bereits andeutet, argumentiert Kaufmann über weite Strecken anachronistisch: Er beurteilt den Schillertext anhand seiner Rezeption im frühen 20. und misst ihn an den Maßstäben des späten 20. Jahrhunderts. 6 Diese Formulierung, bezogen auf den Patriotismus, findet sich bei Hans P. Herrmann: [Art.] Patriotismus, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 9. Stuttgart 2009, Sp. 931 – 937, hier Sp. 932. Analog die Argumentation bei Hans-Ulrich Wehler für den Nationalismus, den er als massenintegrierende Antwort auf Modernisierungskrisen auffasst (vgl. Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. München 2001, S. 16 – 26). 7 Vgl. Arnold Ruge: Der Patriotismus. Hg. von Peter Wende. Frankfurt am Main 1968. Ruge greift in dem erstmals 1844 publizierten Text eine Ideologie scharf an, die nach heutiger Terminologie als Nationalismus anzusprechen wäre.

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gefasst. 8 Den Adjektiven ‚patriotisch‘ und ‚national‘ soll in diesem Kontext zunächst nur eine chronologische Orientierungsfunktion zukommen; das erste bezeichnet eine tendenziell ältere, das zweite eine tendenziell jüngere Form des zugrundeliegenden Allianzdiskurses. Die Analyse des diachronen Wandels des Diskurses über das Bündnis ermöglicht einerseits die Herausarbeitung der Unterschiede zwischen Patriotismus und Nationalismus und erhellt andererseits die Genealogie einer die Moderne bis heute prägenden Ideologie. Als Frageraster dienen dabei die von den Herausgebern in der Einführung zu diesem Band angestellten Überlegungen zum Thema ‚Bündnis‘. Bündnisse, so wurde dort festgehalten, beruhen auf freier Wahl; man sucht sich die Partner aus. Damit ist die Frage nach dem grundsätzlichen Adressatenkreis des Bündnisangebotes gestellt. Nach einer erzwungenen Demission und mitten in einem unerquicklichen Rechtsstreit mit seinem vormaligen Dienstherrn Landgraf Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt veröffentlichte der vormalige „Karrierebeamte“ 9 Friedrich Carl von Moser 1784 den ersten Band seines Patriotischen Archivs für Deutschland. Die programmatische Ausrichtung des Periodikums stellte der Herausgeber in einer umfangreichen Einleitung vor: Durch die Sammlung von Lebensläufen guter wie böser Regenten, Minister und Räte, die Berichte über geglückte und gescheiterte politische Projekte sowie allgemeine politische Reflexionen soll „die Absicht, nützlich zu seyn“, erreicht werden. Diesen Nutzen zu stiften ist das Ziel der titelgebenden Patrioten. Moser wünscht sich nicht nur, diese Patrioten selbst besser kennenzulernen, sondern sie darüber hinaus auch „unter einander bekannt zu machen“. 10 Deshalb erwartet er keineswegs nur eine passive Konsumhaltung seiner Leser, sondern fordert sie ausdrücklich auf, selbst Beiträge einzusenden. Er imaginiert so ein Bündnis der Vaterlandsfreunde, das sich als Kollektiv durch Lektüre und Mitarbeit an seinem Archiv konstituiert. Eine soziale Exklusivität des Leserkreises sicherte schon der relativ hohe Preis der Publikation: Jeder der insgesamt zwölf bis 1790 erschienenen Bände kam auf mehr als 550 Druckseiten. Diese Tatsache korrespondiert mit der

8 Zur Möglichkeit der Beschreibung von Nationalismus und Patriotismus als Bündnisangebote siehe Christian M. König: Die Nation als Allianz der Patrioten. Zum Verhältnis von Patriotismus und Nationalismus in der Sattelzeit, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 65/12 (2017), S. 1013 – 1027. 9 Eva Sturm: Absolutismuskritik in der Tradition der Fürstenspiegel? Zum Werk Friedrich Carl von Mosers. Über Regenten, Regierung und Ministers, in: Hans-Otto Mühleisen / Theo Stammen (Hg.): Politische Tugendlehre und Regierungskunst. Studien zum Fürstenspiegel in der frühen Neuzeit. Tübingen 1990, S. 229 – 254, hier S. 234. 10 Friedrich Carl von Moser: Patriotisches Archiv für Deutschland. Bd. 1. Mannheim / Leipzig 1784, Einleitung, unpag.

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Beobachtung, dass von Moser die politischen Funktionseliten in den Territorien des alten Reiches als „Patrioten“ angesprochen werden. 11 Einzig dieser in der Regel akademisch gebildete und finanziell relativ gut gestellte Personenkreis kann kraft seiner beruf lichen Position die im Archiv referierten patriotischen Anregungen praktisch umsetzen und somit den selbst formulierten Anspruch der Publikation, nützlich zu sein, erfüllen. Auch die von Moser so dringend zum Abdruck erbetenen patriotischen Exempel, die laut Einleitung allesamt aus der Sphäre der Fürstenhöfe und Kabinette stammen sollen, können aus eigener Anschauung nur von den dort Tätigen beigesteuert werden. Zahlreiche Zeitgenossen teilten die Auffassung Mosers: Mit der Formulierung, ein Patriot sei ein „rechtschaffener Landes-Freund, ein Mann, der Land und Leuten treu und redlich vorstehet“, unterstellte Zedlers Universallexikon bereits 1740, dass Patriotismus eine Eigenschaft sei, die nur dem politisch Verantwortlichen zukommen könne. 12 Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts – beginnend mit dem im selben Jahr veröffentlichen paradigmatischen Roman Johann Michael von Loens, Der redliche Mann am Hofe – forderte eine Flut von Publikationen gerade von den politisch verantwortlichen Räten und Ministern implizit oder explizit „patriotisches“ Verhalten. 13 Der Allianzappell zur Stiftung einer Wir-Gruppe angesichts gesellschaftlicher Desintegrationsprozesse richtete sich im 18. Jahrhundert vorzüglich an eine schmale Funktionselite. Allerdings verbreiterte sich der Adressatenkreis des Bündnisangebots diachron erheblich: 1800 erschien das kleine Büchlein Über die Beförderung des Patriotismus im Preußischen Reich. Der angegebene Autorenname O. C. C. Höpffner war vorgeschoben, der tatsächliche Urheber ist ein herausragender Protagonist der frühen deutschen Nationalbewegung: Friedrich Ludwig Jahn. 14 In dieser ersten Publikation des späteren

11 Zum Moserschen Patrioten vgl. Notker Hammerstein: Das politische Denken Friedrich Carl von Mosers, in: Historische Zeitschrift 212 (1971), S. 316 – 338, hier S. 332 f. Für die zentrale Rolle der politischen Funktionseliten als mittlerer Ebene zwischen Fürst und Volk in Mosers langfristig-strategischen Erwägungen siehe Ursula A. J. Becher: Moralische, juristische und politische Argumentationsstrategien bei Friedrich Carl von Moser, in: Hans E. Bödeker / Ulrich Herrmann (Hg.): Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung. Hamburg 1987, S. 178 – 195, hier S. 186 f. 12 Johann H. Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. Bd. 26. Leipzig/Halle 1740, Sp. 1393. Den für das Alte Reich im 18. Jahrhundert typischen Zusammenhang von aufgeklärtem Patriotismus und territorialpolitischer Funktionselite beschreibt aus soziologischer Perspektive Bernhard Giesen: Kollektive Identität. Frankfurt am Main 32016, S. 156 – 166. 13 Vgl. dazu mit zahlreichen Belegen Wolfgang Martens: Der patriotische Minister. Fürstendiener in der Literatur der Aufklärungszeit. Weimar / Köln / Wien 1996. 14 Vgl. Hans-Joachim Bartmuß/Eberhard Kunze / Josef Ulfkotte: Einleitung, in: dies. (Hg.): „Turnvater“ Jahn und sein patriotisches Umfeld. Briefe und Dokumente 1806 –

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„Turnvaters“ mischen sich logische Inkonsistenz und treuherzige Offenheit: Zwar wird einerseits eine besonders ausgeprägte Vaterlandsliebe der preußischen Untertanen konstatiert. Doch andererseits besteht die Schrift fast ausschließlich aus Vorschlägen, genau diese Vaterlandsliebe erst zu wecken und zu stärken. Der Autor legt eine förmliche Anleitung zur obrigkeitlichen Konstruktion einer preußischen Nation vor; dazu projektiert er eine Nationalgeschichte, Denkmäler militärischer Großtaten, eine von katholischen Einsprengseln zu reinigende protestantische Nationalreligion und nationale Festtage. Wenn Jahn nicht nur vom Universitätsprofessor, sondern auch vom einfachen Volksschullehrer fordert, „er soll[e] seinen Zuhörern die Pflichten gegen das Vaterland predigen, er soll[e] der Jugend im Unterricht Patriotismus einflößen“, 15 wird deutlich, dass seine Empfehlungen nicht mehr auf eine schmale Funktionselite, sondern auf jeden Bewohner des Territoriums zielten. Mit diesen Ideen steht Jahn keineswegs alleine: Im 1796 für den späteren Kurfürsten und ersten König von Bayern Maximilian Joseph von Pfalz-Zweibrücken verfassten Ansbacher Mémoire entwickelt Maximilian von Montgelas ein umfassendes Reformprogramm für den Staat seines Herrn. Im Zuge seiner umfangreichen Denkschrift wendet er sich auch den „écoles primaires des villes et des campagnes“ zu und betont, sie seien es, „qui proprement développent les facultés de la classe la plus intéressante de la société et impriment le scel à l’esprit national.“ 16 Die erneute Verbindung von Elementarschule, einfacher Bevölkerung und Formung des Nationalgeistes macht es evident: Um 1800 soll die gesamte Bevölkerung für eine patriotische Allianz empfänglich gemacht werden. Ebenfalls in der Einleitung zum vorliegenden Sammelband angerissen wurde die Problematik der ausgeschlossenen Out-Group, gegen die sich der Zusammenschluss konstituiert. Diese Out-Group muss keineswegs zwingend ein Feind im engeren Sinne des Wortes sein, doch ist sie als das ‚Andere‘ des Bündnisses notwendig zur Stabilisierung der In-Group.

1812. Köln / Weimar / Wien 2008, S. 13 – 24, hier S. 19. Zur inhaltlichen Seite des Nationalismus Jahns siehe Dieter Düding: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808 – 1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung. München 1984, S. 22 – 42. 15 [Friedrich Ludwig Jahn:] Über die Beförderung des Patriotismus im Preußischen Reiche. Allen Preußen gewidmet von O. C. C. Höpffner. Halle an der Saale 1800, S. 30. 16 Maximilian von Montgelas: Mémoire présenté à M[onsei]g[neu]r le Duc le 30 Septembre 1796. Hg. von Eberhard Weis, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 33/1 (1970), S. 243 – 265, hier S. 253. Es ist das Verdienst Eric Hobsbawms, bereits 1962 in seiner Studie The Age of Revolution 1789 – 1848 auf die enge Verzahnung zwischen dem Wachstum der Schulbildung und dem des Nationalismus hingewiesen zu haben (vgl. Eric J. Hobsbawm: Europäische Revolutionen 1789 – 1848. Darmstadt 2017, S. 180 f.).

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In der Patriotismuskonzeption der 1761 gedruckten Beherzigungen Mosers kann das einfache Volk, durch „Gauckeleien und Verblendung“ 17 in seiner Urteilskraft beschränkt und in dumpfen Gewohnheiten befangen, gar kein Teil der imaginierten Allianz werden. Trotzdem spielt es eine wichtige Rolle im Kapitel zum Patrioten-Eifer: Es definiert als das ausgeschlossene ‚Andere‘ die Außengrenze des Bündnisses der patriotisch gesinnten Funktionseliten. Das ‚Volk‘ wird ganz eindeutig als soziale Unterschicht aufgefasst. 18 So steht es als Objekt für eine paternalistische Fürsorge der Patrioten und ihre allenthalben reklamierte Nützlichkeit zur Verfügung. Davon profitiert laut Moser paradoxerweise vor allem der Patriot: Denn ein wesentlicher Effekt patriotischer Bemühungen sei, dass sie ihren Urheber adelten, wodurch „aus seinen Worten und Wercken ein seinen Compatrioten angenehmer Geruch der Wahrheit und Tugend [ströme und] das rechtschaffene Publicum [. . . ] in Hochachtung, Liebe, Danckbarkeit und Verehrung vor ihn hingezogen“ werde. 19 Nur mit dem Volk als ausgeschlossenem Gegenüber kann sich die aufgeklärte Allianz der Patrioten überhaupt konstituieren: Erst ihre Leistung für das Volk macht die Engagierten zu Patrioten und nur an ihr erkennen sie sich gegenseitig als solche. Aus dieser Arbeit resultiert ein erhebliches Sozialprestige, das den eigentlichen Lohn der Patrioten darstellt. Vorbereitet durch die deutsche Volksaufklärung, die die Verblendung der einfachen Leute nicht nur diskursiv relativierte, sondern auch aktiv zu reduzieren suchte, und inspiriert durch die Verfassungsrevolution vom 17. Juni 1789 in Frankreich, in der sich der tiers état als Nationalversammlung konstituierte, 20 vollzog sich spätestens bei Johann G. Herder eine Umwertung des Wortes ‚Volk‘: Die Reichweite des Begriffes erhöhte sich, er bezeichnete nicht mehr eine Gruppe unter- oder innerhalb einer Nation, sondern repräsentierte die Nation als Ganzes. 21 Auch wenn die real exi-

17 [Friedrich C. von Moser:] Beherzigungen, Frankfurt am Main 1761, S. 261. 18 Vgl. Reinhart Koselleck u. a.: [Art.] Volk, Nation, Nationalismus und Masse, in: Brunner / Conze / Koselleck (Hg.): Grundbegriffe (wie Anm. 1). Bd. 7. Stuttgart 1992, S. 141 – 431, hier S. 314 – 316. 19 [Moser:] Beherzigungen (wie Anm. 17) S. 242. 20 Zum neuen Bild, das sich die Volksaufklärer von den unteren Ständen machten, vgl. Holger Böning: Entgrenzte Aufklärung – Die Entwicklung der Volksaufklärung von der Ökonomischen Reform zur Emanzipationsbewegung, in: ders./Hanno Schmitt / Reinhart Siegert (Hg.): Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts. Bremen 2007, S. 13 – 50, hier S. 17. Für die Selbstermächtigung der Vertreter des dritten Standes der französischen Generalstände siehe Pierre Nora: Nation, in: François Furet / Mona Ozouf (Hg.): Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution. Bd. 2. Frankfurt am Main 1996, S. 1221 – 1238, hier S. 1223 – 1225. 21 Vgl. Koselleck u. a.: [Art.] Volk (wie Anm. 18), S. 316 – 319. Der weitgehend synonyme Gebrauch von „Volk“ und „Nation“ findet sich z. B. bei Johann G. Herder: Briefe zu Beförderung der Humanität, Sammlung 10, 115. Brief (1797), in: ders.: Briefe zur

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stierenden sozialen, rechtlichen und politischen Ungleichheiten natürlich nicht zu existieren aufhörten, verlor der Begriff ‚Volk‘ so zwangsläufig die Fähigkeit, als das ‚Andere‘ der elitären patriotischen Allianz zu dienen: Ausgerechnet angesichts der Herausforderungen durch die Französische Revolution und den militärischen Revolutionsexport drohte das patriotische Bündnis, das ja nicht zuletzt zur mentalen Bewältigung solcher Modernisierungsprozesse geschlossen worden war, sein konstituierendes Gegenüber zu verlieren. In dieser Situation erwies sich das ‚Andere‘ aber als erstaunlich austauschbar: Hatte Jahn in seiner Frühschrift Über die Beförderung des Patriotismus den preußischen Nationalcharakter noch primär gegen landsmannschaftliche und territoriale Loyalitäten im Reich abgesetzt, 22 so wandte er sich später gegen Frankreich. Als Kriegsgegner und Besetzungsmacht drängte sich der westliche Nachbar bis 1815 natürlich als Feindbild auf, doch Jahn hat die strukturelle Notwendigkeit einer Out-Group für das nationale Bündnis nur zu gut verstanden: So äußerte er sich bereits 1815 in einem Stammbucheintrag geradezu verschnupft über den endgültigen militärischen Erfolg der Koalition und forderte einen neuen Krieg gegen Frankreich. In diesem solle sich dann eine deutsche „Volkstümlichkeit“, ein Nationalgefühl im ganzen Volk, entwickeln und stabilisieren. 23 Hatte sich das ältere, elitäre Bündnis noch durch die Differenz zum Fürsorgeobjekt „Volk“ konstituiert, so propagierte der Turnvater jetzt ein neues Bündnismodell, das eben dieses Volk als Bündnispartner gegen einen Feind gewinnen wollte. 24 Zwar wurde die Stelle des neuen „Anderen“ von den frühen Nationalisten durchaus flexibel besetzt – Jahn schlug noch „Zigeuner“ und „Schacherjuden“ vor, Jakob Friedrich Fries die Juden und Ernst Moritz Arndt arbeitete sich neben seinem Lieblingsfeind Frankreich auch an den Polen

Beförderung der Humanität. Hg. von Hans D. Irmscher. Frankfurt am Main 1991, S. 686 – 697. 22 [Jahn:] Beförderung des Patriotismus (wie Anm. 15), S. 13 f. 23 Vgl. Friedrich Ludwig Jahn: Aus dem Stammbuch der Wartburg, 24. 10. 1815, in: Friedrich Ludwig Jahns Werke. Hg. von Carl Euler. Bd. 2/2. Hof 1887, S. 1003 f. Für die Bedeutung des Wortes „Volkstum“ bei Jahn siehe ders.: Deutsches Volkstum, in: ebd. Bd. 1. Hof 1884, S. 143 – 380, hier S. 154 sowie Peter Hacks: Ascher gegen Jahn. Ein Freiheitskrieg. Berlin 1991, S. 100 f. Die Interpretation, Jahn habe den Sieg über Napoleon „eher als Belastung“ empfunden, findet sich bei Dieter Langewiesche: „für Volk und Vaterland kräftig zu würken. . . “. Zur politischen und gesellschaftlichen Rolle der Turner zwischen 1811 und 1871, in: ders.: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München 2000, S. 103 – 131, hier S. 106 f. 24 Vgl. Jahn: Volkstum (wie Anm. 23), S. 293 – 308. Für preußische Frankreichbilder in den Koalitionskriegen siehe Karen Hagemann: Francophobia and Patriotism. AntiFrench Images and Sentiments in Prussia and Northern Germany during the AntiNapoleonic Wars, in: French History 18/4 (2004), S. 404 – 425.

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ab. 25 Doch es bleibt die grundlegende Einsicht, dass nach dem Wegfall des zu umsorgenden Volkes der zu bekämpfende innere oder äußere Feind die zentrale Strategie zur Integration des Volkes in das neue Bündnismodell wurde. 26 Die Herausgeber des Sammelbandes weisen in der Einleitung unter Rückgriff auf die Wörterbücher von Johann Christoph Adelung und Joachim Heinrich Campe auf einen neuen, dynamisierten Bündnisbegriff hin, der sich im 18. Jahrhundert etabliert hatte und im Gegensatz zur älteren, statischen und religiös konnotierten Bedeutung des Wortes auf einen interessensgeleiteten und vertragsmäßigen Charakter der Vereinbarung abhob. Die hier verhandelte patriotische oder nationale Allianz bot ihren Mitgliedern einen virtuellen Schutzraum vor den Zumutungen beschleunigter Modernisierung. Da Verträge aber auf Gegenseitigkeit beruhen, steht man vor der Frage, welche Gegenleistung vom Einzelnen für diese mentale Entlastung zu erbringen war. Die Eingangshürden für den elitären Patriotenbund waren – wie bereits angedeutet – relativ hoch. Der von Loen 1740 in seinem Roman Der Redliche Mann am Hof konzipierte prototypische Patriot ist adeliger Herkunft, besitzt eine imponierende Physis und beeindruckende intellektuelle Fähigkeiten: So ist er „nicht allein in den Wissenschaften des Staats, sondern auch in der Welt-Weisheit und schönen Künsten gründlich gelehrt.“ Erworben hatte er dieses Wissen im Zuge einer Kavalierstour und eines längeren Hofaufenthalts. Dazu kommen eine herausgehobene soziale Stellung, finanzielle Unabhängigkeit und moralische Qualifikationen wie Redlichkeit und Gottesfurcht. Erst diese Eigenschaften und Fertigkeiten qualifizieren den Protagonisten, als Ratgeber und Minister das Reich gut zu verwalten. 27 Auch in der in Hamburg zwischen 1724 und 1726 veröffentlichten moralischen Wochenschrift Der Patriot wurden immer wieder fiktive Patrioten als nachahmenswerte Exempel vorgestellt. Trotz vorhandener Unterschiede im Detail ermöglichen die Beispiele die Konstruktion eines Idealtypus: Der 25 Vgl. Jahn: Volkstum (wie Anm. 23), S. 156; Jakob Friedrich Fries: Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden. Heidelberg 1816 und Ernst Moritz Arndt: Polenlärm und Polenbegeisterung [1848], in: ders.: Kleine Schriften. Vierter Teil. Hg. von Robert Geerds. Leipzig o. J., S. 75 – 79. 26 Vgl. Dieter Langewiesche: Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: zwischen Partizipation und Aggression, in: ders.: Nation (wie Anm. 23), S. 35 – 54, hier S. 49 – 54 sowie pointiert Hagen Schulze: Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte? Berlin 1989, S. 28. 27 Vgl. Johann Michael von Loen: Der redliche Mann am Hofe; Oder die Begebenheiten des Grafen von Rivera. In einer auf den Zustand der heutigen Welt gerichteten Lehrund Staatsgeschichte. Frankfurt am Main 1742, S. 3 f. (Zitat ebd., S. 4). Zu Eigenschaften und Qualifikationen des Protagonisten siehe auch Christian M. König: Christliche Ethik oder zweckrationale Technik der Macht? Der frühneuzeitliche Politikbegriff im Spiegel höfischer Verhaltenslehren. Frankfurt am Main 2012, S. 338 – 342.

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Patriot ist umfassend gebildet, durch Reisen mit der Welt vertraut, rechtschaffen bis zur Selbstaufgabe, gewandt auf gesellschaftlichem Parkett und vermögend. Zudem ist er ein guter Christ, aber kein konfessioneller Eiferer. 28 Der von Loen und die in der Wochenschrift vorgestellten Patrioten sind exzeptionelle Erscheinungen, ihr Patriotismus ist die Haltung einer dezidiert elitären Gruppe. Entsprechend bleiben auch die patriotischen Bündnisse auf wenige Teilnehmer beschränkt: Zwar suggeriert das Periodikum durch den Hinweis auf eine sächsische „Patriotische Assemblée“ oder die regelmäßige Publikation tatsächlicher oder fingierter patriotischer Zuschriften einerseits die Existenz einer die Territorien übergreifenden Allianz der Patrioten. 29 Und Loen stellt seinen Helden im zweiten Teil des Romans als umtriebigen Netzwerker dar, der gemeinsam mit Fürstendienern am eigenen und an anderen Höfen sowie verschiedenen Monarchen ein europäisches Friedensprojekt zu implementieren versucht. 30 Deutlich wird hier eine kosmopolitische Dimension der patriotischen Bemühungen, die keineswegs automatisch auf das eigene Territorium beschränkt blieben. Doch andererseits richteten sich die Appelle, in dieser Hinsicht aktiv zu werden, ausschließlich an die Inhaber gesellschaftlicher Spitzenpositionen im eigenen und in fremden Territorien. Bildung und Vermögen mit der gleichzeitigen Bereitschaft, beides im patriotischen Sinne einzusetzen, waren der Eintrittspreis in die Allianz. In dem Maße, in dem das Volk vom ausgeschlossenen ‚Anderen‘ der Allianz zum umworbenen Bündnispartner wurde, mussten auch die Ansprüche an die Exklusivität der neuen Bündnissubjekte gesenkt werden: Der im Jahr 1800 erschienene 78. Band der von Johann Georg Krünitz begründeten Oekonomischen Encyclopädie behandelt die Vaterlandsliebe als umfangreichen Unterpunkt in dem Lemma „Liebe“. Der Artikelautor glaubt, den „Patriotism“ unter bestimmten Voraussetzungen auch im

28 Vgl. Der Patriot. Nach der Originalausgabe Hamburg 1724 – 1726 in drei Textbänden und einem Kommentarband kritisch herausgegeben von Wolfgang Martens. 4 Bde. Berlin 1969 – 1984. Exempel für typische Patrioten finden sich z. B. programmatisch in der ersten und – sozusagen als Vermächtnis – in der vorletzten Ausgabe des Periodikums (vgl. Der Patriot. Nr. 1, 05. 01. 1724, in: Martens: Patriot. Bd. I, S. 1 – 8 und Der Patriot. Nr. 155, 20. 12. 1726, in: ebd., Bd. III, S. 408 – 417). Als eine „elitäre Bewegung“ charakterisiert wird der Hamburger Patriotismusdiskurs auch von Martin Krieger: Patriotismus-Diskurs und die Konstruktion kollektiver Identitäten in Hamburg im Zeitalter der Aufklärung, in: Gonthier-Louis Fink / Andreas Klinger (Hg.): Identitäten. Erfahrungen und Fiktionen um 1800. Frankfurt am Main 2004, S. 117 – 131, hier S. 122 f. 29 Für die Patriotische Assemblée vgl. Der Patriot. Nr. 36, 07. 10. 1724, in: Martens: Patriot (wie Anm. 28). Bd. I, S. 302 f. Für die patriotischen Zuschriften vgl. z. B. Der Patriot. Nr. 17, 27. 04. 1724; Nr. 57, 01. 02. 1725; Nr. 105, 03. 01. 1726, in: ebd., Bd. I, S. 143 – 150; Bd. II, S. 33 – 35; Bd. III, S. 1 – 7. 30 Vgl. Loen: Mann am Hofe (wie Anm. 27), S. 387 – 392 u. 572 – 576.

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Landwirt oder Handwerker finden zu können – und zwar in so hoher Intensität, dass im Notfall „jeder bereit [sei], gleich den Kriegern zum Schutz des Vaterlandes aufzustehn.“ 31 Es folgt ein langer Textabschnitt, in dem ein Catechismus der Vaterlandsliebe projektiert wird. Den Untertanen werden ihre Verpflichtungen dem Staat gegenüber plausibel gemacht; im Frieden sollten sie willig Steuern und Zoll zahlen, im Krieg müssten sie bereit sein, „den Tod für das Vaterland [zu] sterben“. 32 Die Passage kulminiert im Entwurf eines gleichsam standardisierten Kriegerdenkmals, das – beschriftet mit den Namen der gefallenen Dorfbewohner – in den jeweiligen Pfarrkirchen aufzurichten sei und das durch seine alltägliche Sichtbarkeit einen „Nacheiferungstriebe“ in den jungen Männern wecken solle. 33 Da sich der patriotische Appell im Krünitz bereits ausnahmslos an alle Untertanen richtet, können für den Eintritt in die projektierte Allianz keine hohen Vorleistungen mehr verlangt werden. Es fehlt den jetzt angesprochenen breiten Bevölkerungsschichten zwangsläufig an der Bildung, dem Vermögen und den sozialen Positionen, die dem Patrioten älteren Zuschnitts sein Engagement fürs Allgemeinwohl ermöglicht hatten. Erwartet wird stattdessen die Bereitschaft, im Kampf für das Bündnis nötigenfalls Gesundheit und Leben zu opfern. Die Tendenz, die elitäre patriotische Allianz zur Volksbeglückung in eine jetzt das gesamte Volk umfassende Kampfgemeinschaft umzudeuten, findet sich keineswegs nur im Krünitz: Im Angesicht eines militärischen Debakels Friedrichs II. versuchte der Philosophieprofessor Thomas Abbt bereits 1761, alle preußischen Untertanen mit vernünftig-aufgeklärten Argumenten von der Notwendigkeit des soldatischen Selbstopfers auf dem Schlachtfeld zu überzeugen. 34 Auch in der Lyrik lässt sich diese Entwicklung nachweisen: Ebenfalls im Siebenjährigen Krieg verherrlichte Johann Wilhelm Ludwig Gleim in seinen sog. Grenadiersliedern den Heldentod

31 Vgl. D. Johann Georg Krünitz, ökonomisch-technologische Encyclopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft, und der KunstGeschichte. Bd. 78: Von Licht bis Liliastrum. Hg. von Heinrich Gustav Flörke. Berlin 1800, S. 436. Zur Enzyklopädie, von der zwischen 1773 und 1858 insgesamt 242 Bände erschienen, siehe Hagen Reinstein: Die Oeconomische Encyclopädie von Johann Georg Krünitz, in: Robert Charlier (Hg.): Wissenswelten. Historische Lexikographie und europäische Aufklärung. Laatzen 2010, S. 63 – 82. 32 Krünitz (wie Anm. 31), S. 456. 33 Vgl. Krünitz (wie Anm. 31), S. 464 f. (Zitat ebd., S. 464). 34 Thomas Abbt: Vom Tode für das Vaterland, in: Johannes Kunisch (Hg.): Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg. Frankfurt am Main 1996, S. 589 – 650. Siehe dazu Christian M. König: Frieden durch Vernunft? Krieg und populäre Aufklärung in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Das achtzehnte Jahrhundert 39/1 (2015), S. 39 – 55, hier S. 49 – 54.

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und 1812 rief dann Arndt alle Deutschen „Mann für Mann zum Heldentode“ auf. 35 Betont wurde in der Einleitung des Sammelbandes auch eine prospektive Dimension von Bündnissen; damit stellt sich die Frage, welche Zukunft durch die jeweilige Allianz herbeigeführt werden soll. Die Vertreter des älteren Bündniskonzepts propagierten einen im Kern sozial und politisch konservativen Paternalismus. Zwar war es ein Anliegen der Wochenzeitschrift Der Patriot, konkrete Missstände zu korrigieren, doch handelte es sich stets um systemimmanent durchführbare Reformschritte. Propagiert wurden unter anderem ein Vorschlag zur Errichtung einer Töchterakademie, eine Verbesserung des städtischen Armen- und Bettelwesens oder eine Reform des Vormundschaftsgerichts. 36 Ziel dieser Verbesserungen im Detail war nicht der Umsturz der bestehenden Ordnung, sondern ihre evolutionäre Perfektionierung. Die Träger des Patriotismusdiskurses hatten als Inhaber politischer und sozialer Spitzenpositionen naturgemäß kein Interesse an revolutionären Veränderungen. So bleiben selbst in utopischen Entwürfen wie der Christianopolis-Episode in Loens Der redliche Mann am Hofe die real existierenden Standes- und Vermögensverhältnisse weitgehend in Kraft; verschwunden sind lediglich die strukturellen Interessenskonflikte, die chronische Ressourcenknappheit und die konfessionellen Verhärtungen der zeitgenössischen Gesellschaft. 37 In politischer Hinsicht erschöpft sich die Utopie in der Imagination eines benevolenten Monarchen und seines aufgeklärt-patriotischen Mitarbeiterstabes, deren beider Devise lautet: Alles für das Volk, nichts durch das Volk. 38 Das jüngere Allianzkonzept suggeriert dagegen, ein größeres emanzipatorisches Potential zu enthalten: Seine Propagatoren forderten für das zum Bündnispartner avancierte Volk – nicht zuletzt als Gegenleistung für dessen Opferbereitschaft im Krieg – zunehmend politische Freiheits- und Mitbestimmungsrechte. Nationalisierung und Demokratisierung scheinen zusammenzugehören. 39 Allerdings lag im Gegensatz zu Schillers Tell der 35 Vgl. z. B. Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Bei Eröffnung des Feldzuges, in: ders.: Kriegslieder. Hg. von Wilhelm Körte. Halberstadt 1811, S. 1 – 3 und Ernst Moritz Arndt: Vaterlandslied [1812], in: ders.: Gedichte. Erster Teil. Hg. von Heinrich Meisner. Leipzig o. J., S. 147 – 149 (Zitat ebd., S. 148). 36 Vgl. z. B. Der Patriot. Nr. 2, 13. 01. 1724; Nr. 3, 20. 01. 1724; Nr. 37, 13. 10. 1724; Nr. 150, 14. 11. 1726, in: Martens: Patriot (wie Anm. 28). Bd. I, S. 9 – 17; S. 18 – 25; S. 309 – 317; Bd. III, S. 366 – 373. 37 Vgl. Loen: Mann am Hofe (wie Anm. 27), S. 291 – 312. Vgl. Karl Reichert: Utopie und Satire in J. M. von Loens Roman ‚Der redliche Man am Hofe‘ (1740), in: GermanischRomanische Monatsschrift, NF 15 (1965), S. 176 – 194, hier S. 190 – 192. 38 Martens: Minister (wie Anm. 13), S. 346. 39 Vgl. Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770 – 1990. München 1993, S. 82.

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Akzent jetzt auf der ersteren. So machte Jahn unmissverständlich seine Prioritäten deutlich: „Ich will die Einheit, und für die Einheit gebe ich mein Leben und alles, was ich habe; sogar die Freiheit, wenn ich die Einheit bekomme, denn die Freiheit kommt von selbst“. 40 Hier wird nicht nur eine Reihen-, sondern auch eine Rangfolge der Ziele postuliert: Jahn reduziert die Freiheit auf eine bloße Funktion der Einheit, die dieser automatisch nachfolge – wie, das bleibt im Dunkeln. Diese Tendenz zur Kannibalisierung des emanzipatorischen Gehalts des Bündniskonzepts durch seine nationalen Elemente wird überdeutlich, wenn demokratische und nationale Prinzipien miteinander in Konflikt gerieten: Im Revolutionsjahr 1848 verurteilte Arndt – selbst Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung – in seinem Text Polenlärm und Polenbegeisterung jede Sympathie für die ebenfalls revolutionären Polen; drohte doch durch eine Wiederherstellung Polens die preußische Provinz Posen verlorenzugehen. Da sich die polnischen Forderungen – nicht anders als die der deutschen Revolutionäre – um Einheit und Freiheit drehten und deswegen schlecht zu diskreditieren waren, behalf sich Arndt mit blankem Chauvinismus: Die Polen hätten im Gegensatz zu ihren westlichen Nachbarn kein Recht auf nationale Selbstbestimmung, da sie „und überhaupt der ganze slawonische Stamm [. . . ] geringhaltiger als die Deutschen“ seien. 41 Bleibt das politische Freiheitsversprechen des nationalen Bündnisses bestenfalls prekär, so werden gesellschaftliche und soziale Fragestellungen vollkommen ausgeblendet. Während die Allianz der Patrioten noch versucht hatte, reformerisch für das einfache Volk zu wirken, führte die Aufnahme des Volks in das Bündnis zu einer Scheinnivellierung: Da nur Partner auf Augenhöhe ein Bündnis eingehen können und die Konstituierung einer Kampfgemeinschaft gegen einen gemeinsamen Feind von einer Interessenidentität profitiert, kann das nationale Bündnis soziale Gegensätze in seinem Inneren nicht thematisieren. Diese gekoppelte Feindund Identitätsfiktion bringt der Linkshegelianer und frühe Nationalismuskritiker Arnold Ruge bündig auf den Punkt, wenn er 1844 feststellt: „Der Patriotismus nimmt die Völker als Partheien und abstrahiert von den Partheien in den Völkern.“ 42 Der Bündnisdiskurs, geführt um die 40 Jahn: Rede in der Frankfurter Nationalversammlung, 172. Sitzung, 17. Februar 1849, in: Jahns Werke (wie Anm. 23). Bd. 2/2. Hof 1887, S. 1033 – 1042, hier S. 1036. 41 Arndt: Polenlärm (wie Anm. 25), S. 76. Arndts „Gegnerschaft zu einer parlamentarisch bestimmten Regierungsform“ betont auch Thomas Stamm-Kuhlmann: Ernst Moritz Arndt über Demokratie und Volkssouveränität. Sein Abstimmungsverhalten in der Frankfurter Nationalversammlung nach dem stenographischen Bericht, in: Baltische Studien, NF 92 (2006), S. 85 – 112 (Zitat ebd., S. 111). Die strukturelle Ambivalenz jedes Nationalismus zwischen Emanzipation und aggressivem Ethnozentrismus betont Thorsten Mense: Kritik des Nationalismus. Stuttgart 2016. 42 Ruge: Patriotismus (wie Anm. 7), S. 296.

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Zumutungen der Moderne zu verkraften, verlor so paradoxerweise seine sozialreformerische Dimension. Tatsächlich eröffnet der Wandel im Diskurs um das patriotisch-nationale Allianzmodell – dieser letzte Rückgriff auf die Einleitung sei als Fazit gestattet – Perspektiven auf die Entstehung der modernen, „bürgerlichen“ Gesellschaft. So waren es gerade die Geburtswehen dieses Gesellschaftstypus, die den Eintritt in eine patriotische oder nationale In-Group für die Zeitgenossen so attraktiv erscheinen ließen. Die Ausweitung des Bündniskonzeptes von einer schmalen Elite auf ein ganzes Volk findet seine realgeschichtliche Entsprechung in der langfristigen Nivellierung der Stände- und der Entstehung einer Massengesellschaft. Die strukturelle Schwierigkeit, die angesichts eines wachsenden Pauperismus drängende soziale Frage im nationalen Diskurs adäquat zu fassen, spiegelt sich in der Tatsache wider, dass sozialer Ausgleich im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem gegen die neuen nationalen Eliten erkämpft wurde. Auch die im Diskurs aufscheinende unsichere Verbindung von Nationalismus und politischer Emanzipation muss heute als bewiesen gelten: Nationalistische Argumente mobilisieren die Massen in autoritären und totalitären Herrschaftsformen wenigstens ebenso effizient wie in liberalen Demokratien. Während der Zusammenhang zwischen sozialer und politischer Emanzipation einerseits und nationalem Bündnis andererseits stets prekär bleibt, erweist sich die Notwendigkeit eines kollektiv geteilten Feindbilds für das nationale Bündnis als stabil: In den großen europäischen Kriegen der letzten beiden Jahrhunderte wurde die Kampfbereitschaft der Bevölkerung stets durch Appelle an stereotype nationale Feindbilder erhöht. Auch wenn sich die moderne bürgerliche Gesellschaft keineswegs in den hier angerissenen Fluchtlinien erschöpft, wird in dieser Zusammenstellung doch deutlich, welches heuristische Potential in der Interpretation patriotischer und nationaler Diskurse als Bündnisangebot steckt.

III. Zwischen Gottesbezug, Sozialität und Individualität

Astrid von Schlachta

„gib Dich nur ganz und lediglich verloren an seine Gnade über“ Mennonitisch-pietistische Bündnisse zum Heil der Seele

Die in der Überschrift zitierte Aufforderung, mit Jesus Christus und dem göttlichen Willen vollkommen eins zu werden und sich völlig der Gnade Gottes auszuliefern, 1 ist Teil des unermüdlichen Werbens, mit dem der Mennonit Peter Weber seine Glaubensgeschwister für die Erneuerung der Gemeinden gewinnen wollte. Nimmt man den historischen Hintergrund dieses Aufrufs in den Blick, den der Prediger aus dem pfälzischen Hardenburg bei Dürkheim 1763 an seinen Glaubensgenossen Christian Strohm im badischen Unteröwisheim verfasste, so lagen diesem Bündnis der Seele mit Gott ganz weltliche Verbindungen zugrunde. Peter Weber selbst hatte wesentliche Impulse für sein geistliches Leben aus dem Pietismus gezogen und verfügte über vielfältige Kontakte zu pietistischen oder pietistisch beeinflussten Akteuren, sowohl innerhalb der mennonitischen Gemeinschaft als auch außerhalb – Bündnisse, so lässt sich sagen, zum Heil der Seele und in der Hoffnung, dadurch neues Leben in alte Gemeinden zu bringen und Erweckung zu fördern. 2 Damit sind die beiden wesentlichen Großgruppen benannt, die im Folgenden unter dem Aspekt ihrer wechselseitigen Verbindungen betrachtet werden sollen: täuferische und pietistische Gemeinden, die jedoch ihrerseits keineswegs homogen, sondern oft sehr vielfältig waren. Der genannte Peter Weber gehörte zu jenem Kreis von Mennoniten, der im Pietismus die

1 Zit. nach: Christian Neff: Peter Weber. Ein mennonitischer Pietist aus dem 18. Jahrhundert, in: Christlicher Gemeinde-Kalender 39 (1930), S. 61 – 102, hier S. 75; ein Abriss über Peter Webers Leben auch in: Karl Weber: Die Geschichte der Kindenheimer Familie Weber. Bolanden-Weierhof, o. J., bes. S. 8 – 26. 2 Generell zu den personellen und ideellen Beziehungen zwischen täuferisch-mennonitischen Gemeinden und Pietismus, vgl. Robert Friedmann: Mennonite Piety Through the Centuries. Its Genius and its Literature. Goshen, IND 1949, ND Sugarcreek, OH 1980; John D. Roth: Pietism and the Anabaptist Soul, in: Stephen L. Longenecker (Hg.): The Dilemma of Anabaptist Piety. Strengthening or Straining the Bonds of Community. Bridgewater, VA 1997, S. 17 – 33; Astrid von Schlachta: Anabaptists and Pietists. Influences, Contacts, and Relations, in: Douglas H. Shantz (Hg.): A Companion to German Pietism, 1660 – 1800. Leiden / Boston 2015, S. 116 – 138.

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Chance sah, aus seiner Warte erstarrten mennonitischen Gemeinden zu neuem Schwung zu verhelfen. Allerdings führte dieser Kurs zu harten Auseinandersetzungen mit Glaubensgeschwistern, die nicht seine Auffassung von der Notwendigkeit zur Gemeindeerneuerung teilten. Auf Seiten Peter Webers und seiner Gesinnungsgenossen entstand schließlich die Frage, ob sich eine erweckte, vom Pietismus beeinflusste Gruppe von den übrigen Mennoniten abspalten müsste. Doch Weber entschied sich nicht für die ‚Separation‘, sondern strebte eine größere ‚Vereinigung‘ beziehungsweise nach seiner Absetzung als Prediger eine Wiedervereinigung mit seiner mennonitischen Gemeinde an. Dadurch sah er bessere Möglichkeiten, seine Glaubensgeschwister mit ‚erwecklichen‘, auf geistliche Reife und biblische Unterweisung zielende Predigten zu erreichen: „Dabei liegt mir sehr viel an der großen Unwissenheit unseres Mennonitenvolkes. Sie wissen ja nicht anders, weil sie nicht besser gelehrt sind worden. Wie können sie glauben ohne Predigt?“ 3 Peter Weber war nicht der einzige, der im 18. Jahrhundert unter den Mennoniten für Erneuerung warb. Über seine Person und seine Korrespondenzpartner eröffnet sich dem Betrachter ein Netzwerk des geistlichen Austauschs, das sich von den Niederlanden über Ostfriesland bis nach Krefeld, Neuwied und in die Kurpfalz erstreckte. Wesentliche Voraussetzungen für alle Kontakte war die Erkenntnis, dass ein Defizit in der geistlichen Entwicklung der Gemeinden und der inneren Ausrichtung der Gläubigen vorlag. Um dem Abhilfe zu verschaffen, ging der Blick über die eigenen Gemeindegrenzen hinaus auf andere konfessionelle Gruppen und andere spirituelle Formen, was die Erneuerer jedoch rasch mit dem Vorwurf konfrontierte, Traditionen und Herkommen zu ignorieren und auf eine Spaltung der Gemeinden zu zielen. Das Bündnis der Seele mit Jesus Christus war also äußerst umstritten, und die Bündnisse, die die Gläubigen untereinander schlossen, wurden mit einigem Argwohn beäugt.

1 Bündnisse zum Heil der Seele – Definitionen und Begriff lichkeiten Zieht man zur Charakterisierung der Kontakte Peter Webers den Begriff ‚Bündnis‘ heran, so liegt es nahe, zunächst grundsätzlich zu fragen, was die Verbindungen ausmachte und ob ein solcher Begriff überhaupt gerechtfertigt ist. Denn im Fall von Peter Weber wurden die Bündnisse weder feierlich geschlossen noch durch Schriftlichkeit begründet, wenn man von

3 Zit. nach Neff: Peter Weber (wie Anm. 1), S. 76.

„gib Dich nur ganz und lediglich verloren an seine Gnade über“

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der hin- und herlaufenden Korrespondenz absieht. Es handelte sich also nicht um offizielle und bewusst eingegangene Verbindungen, sondern um Zweckbündnisse, die dem Ideenaustausch dienten und das gemeinsame Anliegen, das Heil der Seele zu fördern, voranbringen wollten, oder wie der Amsterdamer Mennonit Johannes Deknatel dies ausdrückte, die „seligmachende Gnade GOttes in unseren Herzen, durch den Glauben an JEsum“ zu befördern. 4 Es war ein fluides, manchmal sehr spontanes Bündnis, das von Ideentransfer begleitet wurde. Kennzeichnend für die hier zu analysierenden Bündnisse ist darüber hinaus die Tatsache, dass beide Partner sich stets im Dunstkreis konfessioneller Devianz bewegten. Manchmal war diese Devianz sehr weitreichend und die Gemeinden positionierten sich selbst mit einer exklusiven Attitüde abseits der ‚Welt‘. Einige waren von der Tolerierungssituation her in einer prekäreren Lage, beispielsweise in der Kurpfalz, wo die Mennoniten seit der ‚Mennistenkonzession‘ von 1664 zwar toleriert waren, jedoch einigen Beschränkungen unterlagen. So war ihnen verboten, Versammlungen abzuhalten, die eine bestimmte Teilnehmerzahl überschritten, und sie durften nicht missionieren und sich generell nur dort versammeln, wo eine bestimmte Anzahl von Mennoniten lebte. 5 In einem solchen Fall konnten die Erweckung und die Abhaltung von ‚Privatversammlungen‘ leicht mit den Privilegien kollidieren. Andere Gemeinden, wie etwa jene in Krefeld oder Neuwied, waren dagegen in die städtische Gesellschaft sehr gut integriert. Grundsätzlich gilt, dass die Täufer stets ein wenig die Juniorpartner in diesen Bündnissen waren; sie waren die Hilfesuchenden und der nach Erweckung ‚dürstende‘ Part. Somit waren die Bündnisse zum Heil der Seele nicht auf eine Konfession oder Gemeinderichtung beschränkt, sondern überkonfessionell und übergemeindlich ausgerichtet. Und sie waren offen für weitere Partner, das heißt, letztendlich waren sie missionarisch orientiert, was dann eben zu Problemen mit den Privilegien führte. Wie können diese ‚Bündnisse zum Heil der Seele‘ nun begriff lich gefasst werden? Ganz oberflächlich könnte man lediglich von ‚Kontakten‘ reden, doch wäre dies der Situation nicht angemessen, wenn man das gemeinsame Ziel aller Akteure berücksichtigt. Helfen könnte ein Blick auf die

4 Johannes Deknatel: Kurzer Auszug von Menno Simons Schrifften. Büdingen 1758, Vorrede. 5 Siehe Frank Konersmann: Duldung, Privilegierung, Assimilation und Säkularisation. Mennonitische Glaubensgemeinschaften in der Pfalz, in Rheinhessen und am nördlichen Oberrhein (1664 – 1802), in: Mark Häberlein / Martin Zürn (Hg.): Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. St. Katharinen 2001, S. 339 – 375, bes. S. 346 f.; Birgit Kerstin Häge: Das Kurfürstentum Pfalz und sein Umgang mit Mennoniten, Juden und anderen religiösen Minderheiten. Weierhof-Bolanden 2006, S. 48 – 52.

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Begriff lichkeiten, die die Akteure selbst verwendeten, was jedoch ebenfalls nicht so einfach ist, weil klassifizierende Begriffe für die Verbindungen nicht häufig zu finden sind. Deshalb ist eine Klassifizierung manchmal nur möglich über Umwege, etwa über die Anreden, die verwendet werden. So verweist die Titulierung „Glaubensbruder“ oder „Herzensbruder“ auf eine Verbindung, die Grenzen überspringen und über Konfessionen hinweg Einheit herstellen kann. 6 Ein Begriff, der dem des ‚Bündnisses‘ nahesteht, findet sich in der Korrespondenz, die der Mülheimer Pietist und Quietist Gerhard Tersteegen mit Krefelder Mennoniten unterhielt. In einem Briefwechsel, den Tersteegen mit dem Mennoniten Arnold Goyen führte, sprechen beide immer wieder über ihre Kontakte; sie bezeichnen diese als „Vereinigung“. So schreibt etwa Tersteegen im Juni 1741: „Unsere Vereinigung ist keine papierne Vereinigung, sonst wäre sie längst verschlissen; sondern eine Vereinigung in Christo und nach Christo, der unser haupt, unser ziel und unser band der Vereinig〈ung〉 ist, und immer wesentlicher werden will.“ 7 Ziel ist also ein Bündnis des Herzens, eine „freundschaffts-liebe“, eine Vereinigung der Herzen „in Christo und nach Christo“. 8 Es handelt sich um ein doppeltes Bündnis, denn einerseits steht ein Bündnis mit Gott im Mittelpunkt, das im Herzen geschlossen wird. An einer anderen Stelle spricht Tersteegen auch von einer „vereinigung im Herrn“, die stets wachsen solle. 9 Nur unter dieser Voraussetzung kann dann, andererseits, das Bündnis der Menschen untereinander zustande kommen. Über die gemeinsame Herzensfrömmigkeit erhält die Mensch-zu-Mensch-Beziehung eine tragfähige Basis. Das transzendente Bündnis geht also dem weltlichen Bündnis stets voraus. Ein ganz ähnliches Bild begegnet in einer anderen Korrespondenz. Der Amsterdamer Mennonit Jakob Janson schrieb 1758 in einem Brief an Peter Weber: Wenn Gotteskinder einander begegnen, so haben sie einander lieb und ihre Herzen schmelzen ineinander und der Grund davon ist die Liebe unseres Heilandes, sein Blut und Wunden für alle Sünder und derweil sie ihn lieb haben, der sie geboren hat, haben sie auch die lieb, die aus Ihm geboren sind. 10 6 So etwa Goyen in einem Brief an Tersteegen vom 06. 11. 1739, in: Gerhard Tersteegen. Briefe 1. Hg. von Adolf Benrath. Göttingen 2008, S. 448; entsprechende Termini auch in einem Brief des Predigers der Mennonitenkirche Neuwied, Lorenz Friedenreich, an Peter Weber, in: Neff: Peter Weber (wie Anm. 1), S. 76. 7 Tersteegen: Briefe 1 (wie Anm. 6), S. 273, auch: Gustav Adolf Benrath: Die Freundschaft zwischen Gerhard Tersteegen und dem Mennoniten Arnold Goyen in Krefeld (1738 – 1762), Teil 1, in: Mennonitische Geschichtsblätter 69 (2012), S. 45 – 60, hier S. 49. 8 Tersteegen: Briefe 1 (wie Anm. 6), S. 448. 9 Benrath: Freundschaft (wie Anm. 7), S. 51. 10 Zit. nach Neff: Peter Weber (wie Anm. 1), S. 63 f.

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2 Über die Mennoniten im 18. Jahrhundert Es gilt für fast alle Phasen der täuferischen Geschichte festzuhalten, dass die Täufer nie eine homogene Gruppe waren, sondern sich stets äußerst divers präsentierten, oftmals über theologische und glaubenspraktische Fragen gespalten. 11 Von der sehr vielfältigen täuferischen Landkarte des 16. Jahrhunderts waren im 17. Jahrhundert zwei größere Gruppen übriggeblieben, die Mennoniten und die Hutterer. Ende des 17. Jahrhunderts entstanden dann noch die Amischen als Erneuerungsbewegung unter den Mennoniten. Selbst unter jenen mennonitischen Gemeinden, die bis ins 17. Jahrhundert überlebt haben, ist eine breite Vielfalt zu beobachten, wie ja bereits ein wenig in den Äußerungen von Peter Weber deutlich geworden ist. Zwar vertraten alle Mennoniten die Auffassungen, nur ein erwachsener, seinen Glauben bekennender Mensch, dürfe getauft werden, und ein (täuferischer) Christ dürfe nicht zur Waffe greifen und sich verteidigen, doch entstanden Meinungsverschiedenheiten dort, wo es um Einflüsse von außen und um die konkrete politisch-gesellschaftliche Integration ging. Seit dem 16. Jahrhundert markierte vor allem die Trennung in eine Gruppe von „Flamen“ und eine Gruppe von „Waterländern“ eine wesentliche Distinktion, die zunächst die Niederlande betraf, jedoch Auswirkungen auf täuferische Gemeinden im Alten Reich hatte. Die Waterländer waren hinsichtlich der politisch-gesellschaftlichen Integration eher progressiv, leisteten Eide, übernahmen obrigkeitliche Ämter und praktizierten eine weniger scharfe Absonderung von ihrer Umgebung. Einige unterliefen sogar die Idee der Wehrlosigkeit, indem sie Geld für die Armee gaben oder auf ihren Handelsschiffen Kanonen zur Verteidigung gegen Überfälle dabeihatten. 12 Die Flamen zeichneten sich dagegen durch eine konservativere Haltung aus. Sie verweigerten Eide, übernahmen keine politischen Ämter und lebten strikt wehr- und waffenlos. Beide Richtungen waren allmählich auch terminologisch geschieden – jene striktere Richtung, die auf die Flamen und auch auf Menno Simons zurückging, wurde als „Mennoniten“ bezeichnet; für die Waterländer setzte sich der Begriff „Doopsgezind“ durch. 13 Unter den Mennoniten des 17. Jahrhunderts standen sich also Gemeinden gegenüber, die orthodoxe und orthopraktische Tendenzen aufwiesen und Gemeinden, die eine gewisse Indifferenz zeigten und den spezifischen 11 Generell: Hans-Jürgen Goertz: Die Täufer. Geschichte und Deutung. 2. Aufl. München 1988; John D. Roth / James M. Stayer (Hg.): A Companion to Anabaptism and Spiritualism. Leiden / Boston 2007. 12 Siehe Piet Visser: Mennonites and Doopsgezinde in the Netherlands, 1535 – 1700, in: Roth / Stayer: Companion (wie Anm. 11), S. 299 – 345, bes. S. 317 – 319. 13 Ebd., S. 299 f.

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Glauben nicht mehr als Distinktionsmerkmal zu anderen konfessionellen Gruppen auffassten. Beide Richtungen wurden von der jeweils anderen Seite als Abweichung von der ursprünglichen Frömmigkeit und ‚Gemeindeordnung‘ angesehen. Einen Einblick in die Wahrnehmung und in die entsprechende Kritik bietet ein Brief holländischer Mennoniten aus Amsterdam an den bereits erwähnten Peter Weber, mennonitischer Prediger in der Pfalz. Da heißt es von Seiten der holländischen Mennoniten im April 1757: Die Finsternis ist groß und das Evangelium unbekannt; hier [in Holland, A.v.S.] ist wohl keine Verfolgung wie bei Euch, aber wir haben auch niemand, der dazu gewürdigt werden kann; sie sind reich und vermögend und haben an keinem Ding Mangel; man spricht zu den Zuhörern als zu Gläubigen; niemand fühlt sein von Gott abgewendetes Herz, da ist kein Mangel; man hat keinen gütigen Heiland nötig, da man doch Tugend übt; die Seligkeit steht fest, ein rechter Zustand um die ganze Gemeinde in den Tod zu stürzen.

Zwei Jahre später schrieben Mennoniten, ebenfalls aus Amsterdam: [D]er Zustand der Mennisten hierzulande und sonderlich in unserer Gemeinde ist gewiß so jämmerlich und arg als es bei Euch nicht sein kann. Denn sie tun manchmal eine ganze Predigt ohne den Namen des Heilandes darin zu nennen, leugnen die Erbsünde und lehren etliche sogar, der Heiland sei nur gestorben und habe gelitten um seine Lehre zu befestigen und predigen eine Sittenlehre, die nicht weiter geht als die heidnische und dabei man auch im Aeußerlichen der Welt ganz gleichförmig bleiben kann. 14

Betrachtet man die mennonitische Welt im Alten Reich, so lassen sich solche Urteile und Klagen gerade in den nach geistlicher Erneuerung strebenden Kreise verfolgen. In Krefeld beispielsweise waren im 18. Jahrhundert ganz ähnliche Entwicklungen zu beobachten wie in Holland. Die Krefelder Mennoniten gehörten zur wirtschaftlichen Elite der Stadt; sie waren führende Produzenten in der Leinenindustrie, und entsprechend integriert waren sie in das soziale und politische Leben. Unter anderem saßen Mennoniten im Stadtrat. Ab 1678 konnten die Mennoniten in Krefeld das Bürgerrecht erwerben. 15 Diese Entwicklungen bereiteten den Weg für 14 Zit. nach Neff: Peter Weber (wie Anm. 1), S. 67 f. 15 Siehe Ralf Klötzer: Verfolgt, geduldet, anerkannt. Von Täufern zu Mennoniten am Niederrhein und die Geschichte der Mennoniten in Krefeld bis zum Ende der oranischen Zeit (ca. 1530 – 1702), in: Wolfgang Froese (Hg.): Sie kamen als Fremde. Die Mennoniten in Krefeld von den Anfängen bis zur Gegenwart. Krefeld 1995, S. 13 – 60; Peter Kriedte: Die niederrheinisch-bergischen Mennoniten und Krefelds Aufstieg zur „Manufactur-Stadt“, in: Mennonitische Geschichtsblätter 62 (2008), S. 62 – 76; ausführlicher: Peter Kriedte: Taufegesinnte und großes Kapital. Die niederrheinischbergischen Mennoniten und der Aufstieg des Krefelder Seidengewerbes. Göttingen 2007; Piet Visser: Die Krefelder Mennoniten im Rahmen der niederländischen Mennonitengeschichte, in: Mennonitische Geschichtsblätter 62 (2008), S. 9 – 44.

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eine Gegenbewegung zum allzu ‚weltlichen‘ Leben. So sind Kontakte mit Mystikern überliefert, etwa mit Ernst Christoph Hochmann von Hochenau oder eben mit Gerhard Tersteegen. 16 Beide predigten in der Krefelder Mennonitenkirche und unterhielten persönliche und brief liche Kontakte mit Mennoniten in der Stadt. Von Tersteegen sind beispielsweise 60 Briefe erhalten, die er an Arnold Goyen schrieb, mit dem ihn die Ideen eines quietistischen Mystizismus und der Absonderung von der ‚Welt‘ verbanden. 17 1715 hatten sich zudem einige Anhänger des Neutäufers Alexander Mack in Krefeld niedergelassen, nachdem sie aus der Grafschaft BüdingenYsenburg vertrieben worden waren. Sie gewannen unter den Mennoniten einige Anhänger. 18

3 Herrnhuter und Mennoniten in ihren wechselseitigen Beziehungen Bevor sich engere Kontakte zu Gerhard Tersteegen ergaben, stechen zunächst die Mennoniten in den Niederlanden und die Herrnhuter als intensiv verbundene Partner überkonfessioneller Verbindungen heraus. Aus ihren Reihen kamen wesentliche Ideengeber für die Mennoniten in der Kurpfalz, aber auch in anderen Regionen des Alten Reichs. Es ist bereits erwähnt worden, dass die Doopsgezinden in den Niederlanden eine sehr große Offenheit für die Integration in die Gesellschaft zeigten sowie über gute Kontakte zu anderen Konfessionen verfügte, unter anderem zu den auf Jacob Arminius zurückgehenden Remonstranten, aber auch zu den Sozinianern, von denen viele nach der Vertreibung aus Polen im Jahr 1638 Zuflucht in den Niederlanden gefunden hatten. Als 1655 viele Quäker nach ihrer Vertreibung aus England ebenfalls in den Niederlanden ankamen, bildeten sich auch zu ihnen Verbindungen aus. 19 Das Bestreben, theologische Diskussionen über die eigenen Gemeindehorizonte hinaus zu führen und eine überkonfessionelle Spiritualität zu erleben, war spürbar und so wurden auch Kontakte zu Vertretern des Pietismus gesucht. Ein wesentlicher Mittler war Johannes Deknatel, Mennonit aus dem ostfriesischen Norden. Deknatel, 1698 geboren, hatte in Amsterdam auf dem „Seminarie der Remonstranten“ studiert, das 16 Siehe Hertha Sagebiel: Die Mennoniten und die anderen Konfessionen in Krefeld, in: Mennonitische Geschichtsblätter 62 (2008), S. 34 – 48, bes. S. 37 f. 17 Siehe Benrath: Freundschaft (wie Anm. 7); siehe auch: Cornelis Pieter van Andel: Gerhard Tersteegen. Wagenungen 1961, S. 66; Gustav Adolf Benrath: Tersteegen, Gerhard, in: mennlex, http://www.mennlex.de/doku.php ?id=art:tersteegen_gerhard, letzter Zugriff: 26. 02. 2019. 18 Sagebiel: Die Mennoniten und die anderen Konfessionen (wie Anm. 16), S. 37 f. 19 Siehe Visser: Mennonites and Doopsgezinde (wie Anm. 12), S. 332 f.

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unter anderem von der Amsterdamer Mennonitenkirche „Het Lam“ finanziert wurde, die dem konfessionell eher liberalen Zweig der holländischen Mennoniten zugehörte. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bestanden gute Kontakte zwischen „Het Lam“ und den Kollegianten, einer aus den Reihen der Remonstranten entstandenen Glaubensrichtung, die auch die Erwachsenentaufe praktizierte und überkonfessionell verbindend ausgerichtet war. Das undogmatische und überkonfessionelle Glaubensverständnis der Kollegianten wirkte zudem verbindend, ebenso wie die Ablehnung eines strikten Glaubensbekenntnisses und festgelegter Zeremonien sowie die starke Akzentuierung auf einer laienorientierten Frömmigkeit. Die Kollegianten praktizierten ein freies prophetisches Reden, und in ihren Versammlungen durfte jeder, der sich vom Heiligen Geist dazu aufgefordert fühlte, sprechen. Die Ausbildungsstätten der Kollegianten wurden zu wichtigen Seminaren für liberale Mennoniten vor allem aus dem Kreis der Waterländer. 20 Einige Mennoniten schlossen sich den Kollegianten an, unter ihnen Galenusz Abrahams de Haan, ein Prediger aus der Amsterdamer Flämischen Gemeinde. Er war einer der führenden Männer in der Unterstützung von verfolgten Täufern in der Schweiz, aber auch von Hugenotten, die ihre Heimat verlassen mussten. Zudem unterhielt er Kontakte zu Quäkern. 21 Aus diesem Umkreis kam auch der erwähnte Johannes Deknatel, der 1720 zum zweiten Prediger der Gemeinde „Het Lam“ ernannt wurde. 22 Über das Kollegiantische hinausgehend entwickelte er vermutlich durch seinen persönlichen Hintergrund sehr intensive Beziehungen zur Brüdergemeine der Herrnhuter. Seine zweite Frau, Elisabeth von Almonde, kam ursprünglich aus einer Herrnhuter Gemeinde. So entstanden in den 1730er Jahren vielfältige Kontakte zwischen Deknatel und Nikolaus Ludwig von Zinzendorf beziehungsweise August Gottlieb Spangenberg. Dokumentiert sind Besuche von Zinzendorf und Spangenberg in der Amsterdamer mennonitischen Gemeinde; man feierte Gottesdienst und Abendmahl zusammen, was gemeinschaftsverbindend wirkte, jedoch in den Augen traditionell eingestellter Mennoniten gegen das separatistische Gemeindeverständnis verstieß. Deknatel wiederum predigte in den Herrnhuter 20 Zu den Hintergründen der Kontakte zwischen Mennoniten und Kollegianten siehe: Andrew Fix: Mennonites and Collegiants in Holland 1630 – 1700, in: Mennonite Quarterly Review 64 (1990), S. 160 – 177. 21 Zu seiner Biografie vgl.: Hendrik Wiebes Meihuizen: Galenus Abrahamsz, 1622 – 1706. Strijder voor een onbeperkte verdgraagzaamheid en verdediger van het Doperse spiritualisme. Haarlem 1954. 22 Zum Hintergrund: Vincent O. Erickson: Joannes Deknatel und sein Einfluß auf die freikirchlichen Bewegungen des 18. Jahrhunderts in seiner Geburtsstadt Norden, in: Emder Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 57 (1977), S. 144 – 165.

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Versammlungen in Amsterdam, und er besuchte die Herrnhuter Synode in Zeist. Darüber hinaus unterhielt er eine intensive Korrespondenz mit den Herrnhutern David Nitschmann, Friedrich Christoph Steinhofer und Leonhard Dober. Zudem übersetzte Deknatel Herrnhuter Lieder und publizierte sie unter dem Titel Evangelische Lideren. Auch zu John Wesley hatte Deknatel Kontakt. Wesley berichtet über einen Besuch in Amsterdam, wo er eine Predigt von Deknatel hörte, die ihn sehr beeindruckte. 23 Deknatel versuchte sogar, Menno Simons im pietistischen Sinne zu interpretieren, wie Ernst Crous im Hinblick auf das Werk Menno Simons in’t Kleine (Amsterdam 1753), auf Deutsch den Kurzen Auszug von Menno Simons Schrifften (Büdingen 1758) hingewiesen hat. Unter Verwendung eines Sprachschatzes, der sehr deutlich seine eigene Zeit widerspiegelte, schrieb Deknatel, in allen Schriften von Menno Simons strahle es durch, wie er JEsum Christum, und zwar gecreutziget gepredigt hat, als das einzige Fundament, sein Blut als unsere einzige Gerechtigkeit, und daß keinerley Werck, ob schon auch jemand die Heiligkeit aller Heiligen hätte, das Löse-Geld für seine Sünden GOtt bezahlen kann. 24

Seine eigenen Söhne schickte Johannes Deknatel zur Ausbildung in Seminare der Brüdergemeine. Über diese Kontakte hinaus beziehungsweise intensiviert durch die Kontakte wird auf Seiten Johannes Deknatels das vielfältige Bemühen deutlich, erwecktes Gedankengut in die eigene Gemeinde einzubringen und auf diesem Wege eine Wiederbelebung des alten Glaubens unter neuen, pietistischen Vorzeichen zu erreichen. Dieses Bemühen griff weiter um sich, wie am Beispiel der Einflüsse Deknatels in der Kurpfalz zu zeigen sein wird. Auf Herrnhuter Seite dagegen stellte der Kontakt zu den Mennoniten einen weiteren Baustein in der gemeinde- und konfessionsunabhängigen Sammlung der Gläubigen dar; die Mennoniten wurden eingepasst in den Aufbau der philadelphischen Gemeinde. In diesem Punkt traf sich Zinzendorf mit Johannes Deknatel, denn auch dieser sah eine überkonfessionelle Gemeinde der wahren Gläubigen als Ziel, wollte jedoch zunächst erst einmal von der eigenen mennonitischen Basis ausgehen: Ich habe Liebe gegen alle Menschen und glaube an eine allgemeine christliche Kirche. Dennoch muß ich bezeugen, daß ich mein taufgesinntes Volk auf dem Herzen trage und vor allem meine eigene Gemeinde, unter der ich von Jugend

23 Siehe J. Molenaar: Mittheilungen aus Briefen, in: Mennonitische Blätter 5 (1858), S. 39 f.; auch: Christian Neff: Deknatel, in: Christian Hege / Christian Neff (Hg.): Mennonitisches Lexikon. Bd. 1. Frankfurt am Main / Weierhof 1913, S. 398 f., hier S. 399. 24 Johannes Deknatel: Kurzer Auszug von Menno Simons Schrifften. Büdingen 1758, Vorrede; siehe auch: Ernst Crous: Mennonitentum und Pietismus. Ein Versuch, in: Theologische Zeitschrift 8 (1952), S. 279 – 296, hier S. 282.

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auf Glied und Lehrer gewesen bin und deren Seligkeit ich gleich meiner eigenen zu fördern trachte. 25

1745 wurde Deknatel von Zinzendorf als Zeuge Jesu unter den Mennoniten eingesegnet. 26 Ein weiterer Mennonit war in die Kontakte zu Herrnhut sehr intensiv eingebunden. Jan van Calker, der 1718 in der mennonitischen Gemeinde in Amsterdam getauft worden war, wurde für eine Ansiedlung der Herrnhuter zum Tor nach Holland. Nach seiner Taufe geriet Calker seinen eigenen Schilderungen zufolge in eine geistliche Krise. Durch Fasten und Gebet versuchte er, den für die Zeit nicht unüblichen Kampf um und die Unsicherheit über die eigene Errettung zu lösen. Als dann noch die Mennoniten in Amsterdam anfingen darüber zu streiten, welche Kleidung fromme Leute zu tragen hätten, begann Calker sich ob dieser Streitigkeiten um Tradition und Äußerlichkeit den Herrnhutern anzunähern. Er kam zu der Erkenntnis, dass diese wirklich Gottes Leute seien, lernte in Amsterdam auch Zinzendorf kennen, und stellte kurze Zeit später eine erkleckliche Summe Geldes zur Verfügung, damit die Herrnhuter ein Stück Land in der Nähe von Utrecht kaufen und ihre Kolonie „Heerendyk“ aufbauen konnten. 27 Die Beziehungen zwischen Mennoniten und Herrnhutern blieben nicht auf die Gemeinde in Amsterdam beschränkt. Auch in Ostfriesland und eben in der Pfalz waren die Auswirkungen zu spüren. In Ostfriesland, in Johannes Deknatels Geburtsstadt Norden, war in den 1730er Jahren Marcus Arisz Prediger der Mennoniten. Seine Biographie öffnet weitere Einblicke in die täuferisch-pietistischen Beziehungen, denn Arisz war Schüler und Protegé von Johannes Deknatel und Prediger in der ebenfalls von den Waterländern geprägten mennonitischen Gemeinde in Norden. Er war ebenfalls mit einer Herrenhuterin verheiratet, mit Catharina Leeuw aus Haarlem. Über Arisz scheinen die Herrnhuter nach Norden gekommen zu sein, wo sie 1738 die erste Versammlung in einem Privathaus abhielten. 25 Zit. nach Neff: Deknatel (wie Anm. 24), S. 399; zu den Ideen der Herrnhuter siehe: Irina Modrow: „Wir sind philadelphische Brüder mit einem lutherischen Maul und Mährischen Rock . . . “. Die Lösung der Identitätsfrage der Herrnhuter Brüdergemeine, in: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 1. Weimar / Köln / Wien 1997, S. 577 – 591; Peter Vogt: ‚Philadelphia‘ – Inhalt, Verbreitung und Einfluss eines radikal-pietistischen Schlüsselbegriffs, in: Udo Sträter (Hg.): Interdisziplinäre Pietismusforschung. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung. Bd. 2. Tübingen 2005, S. 837 – 848. 26 Samme Zijlstra: Jimme (Joannes) Deknatel, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland. Bd. 3. Aurich 2001, S. 107 f. 27 Siehe: B. Rademaker-Helfferich: Jan van Calker, 1696 – 1773. De levensweg van een doopsgezinde piëtist aan de hand van zijn „Levensberigt“, in Doopsgezinde Bijdragen 20 (1994), S. 157 – 179, bes. S. 169 – 179.

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Der Versammlung stand signifikanterweise Johannes Deknatel vor. Die guten Beziehungen hielten an und von mennonitischer Seite war offenbar sogar der Wunsch da, sich mit den Herrnhutern zu einer gemeinsamen Gemeinde zu vereinigen. Jedoch kam es dazu nicht, denn eine mögliche Vereinigung wurde von konservativeren Gruppen der Mennoniten strikt abgelehnt. Zudem begann sich Marcus Arisz in den 1750er Jahren allmählich von den Herrnhutern zu distanzieren. Der Grund waren wohl einerseits die zunehmenden Spannungen zwischen Johannes Deknatel und Zinzendorf, die die Verbindung der beiden Prediger allmählich in eine größere Krise geraten ließen, was schlussendlich in einen Bruch der Beziehungen mündete. Offenbar war Geld ein Thema. Bekanntermaßen war Zinzendorf dauerhaft verschuldet und hatte auch bei Deknatel Geld geliehen, um dessen Rückzahlung man nun aneinander geriet. Darüber hinaus kritisierte Deknatel, dass Herrnhut zunehmend ein separatistisches Kirchenverständnis an den Tag legte. Diese Debatten und Zerwürfnisse wirkten sich wohl bis nach Norden aus. Andererseits wurde das Thema Konvertiten im Norden zu einem Ärgernis für die Mennoniten. Die Herrnhuter hatten nämlich einige Konvertiten unter den Mennoniten gewonnen, was verständlicherweise auf nicht allzu viel Gegenliebe stieß. Die Gründe waren allerdings nicht nur geistlicher Natur, sondern auch ganz konkret finanzieller Art, denn jeder für Herrnhut gewonnene Konvertit wurde zu einer finanziellen Last für die Mennoniten. Schließlich hatten diese in Ostfriesland ein „Schutzgeld“ zu zahlen, das auf alle Schultern der Gemeindeglieder verteilt wurde. 28

4 Die Verbindungen in die Kurpfalz Ein weiteres Beispiel für die Einflüsse Herrnhuts ist die bereits erwähnte Kurpfalz, und damit richtet sich der Blick wieder auf den mennonitischen Prediger Peter Weber. Er war eigentlich Leinenweber und Prediger der Mennonitengemeinde in Höningen. Seine Biographie zeigt die Wagnisse auf, die mit der Hinwendung zum Pietismus verbunden waren. Er begann, private geistliche Erbauungsversammlungen von „Erweckten“ zu veranstalten und wurde darin nicht nur von pietistischen Vorbildern inspiriert, sondern auch von Johannes Deknatel, den er als das „Werkzeug meiner Bekehrung“ bezeichnete. 29 Auch Peter Weber versuchte, die Erbauungsver28 Erickson: Deknatel (wie Anm. 22), S. 153 – 155 u. 158 f., S. 161 f.; Sünne Juterczenka: Über Gott und die Welt. Endzeitvisionen, Reformdebatten und die europäische Quäkermission in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2008. 29 Zit. nach Neff: Peter Weber (wie Anm. 1), S. 61.

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sammlungen überkonfessionell auszurichten; er lud mennonitische und nicht-mennonitische Gläubige zu den Versammlungen ein, bei denen man unter anderem das Abendmahl feierte. Weber war darüber hinaus bestrebt, seine eigene Bildung zu steigern, was sich in seinem Bücherbesitz dokumentiert. Es ist überliefert, dass seine Bibliothek eine große Bandbreite an Titeln aus dem pietistisch-spiritualistisch-mystischen Spektrum umfasste; unter anderem fanden sich Werke von August Hermann Francke, Gerhard Tersteegen sowie von den Mystikern Madame Guyon und Emanuel Swedenborg. In Briefen, die Weber an andere mennonitische Prediger schrieb, betont er immer wieder, dass er viel von diesen Werken profitiert habe. Zudem verbreitete er Literatur, etwa von August Hermann Francke, unter den Mennoniten. 30 Seine harsche Kritik galt dem Zustand der Mennoniten seiner Zeit, die er beispielsweise im Juli 1761 in einem Brief an seinen Bruder äußert. Mit den Mennoniten sei es noch „zehnmal ärger“ bestellt. Die Kinder würden in einer großen Unwissenheit aufwachsen, was die Glaubenslehre der Mennoniten angeht; es fehle die Unterweisung, einerseits gebe es keine zentrale Institution, andererseits seien die Prediger nicht geeignet. Man erwähle solche, die „so wohl zum Predigen sich schicken als ein Ochse zum Orgelschlagen“. 31 Peter Weber legte Nachdruck auf eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus sowie eine Herzensfrömmigkeit, die sich in intensivem Gebet äußern sollte. Darüber hinaus lebte er in der Erwartung, Leitung in Lebensentscheidungen vom Heiligen Geist zu erhalten. Auf diese innerliche Frömmigkeit konzentriert galt seine Kritik allen äußerlichen Formen des Glaubens, allen äußerlichen Zeremonien, unter anderem eben im Gottesdienst. Doch diese Meinungen und die pietistisch beeinflussten privaten Bibel- und Erweckungsversammlungen, die Weber und einige andere mennonitische Prediger in der Pfalz veranstalteten, stießen nicht nur auf Seiten der Obrigkeiten auf Misstrauen, sondern sorgten auch unter den Mennoniten selbst für Unruhe. Die Obrigkeit verbot die Versammlungen, die mennonitischen Ältesten enthoben Weber und drei andere Prediger 1758 ihrer Ämter. Als Problem wurde von den Ältesten vor allem angeführt, dass Weber gar nicht berechtigt gewesen sei, das Abendmahl zu feiern, da er kein ordinierter Ältester war. Der Prediger der Mannheimer Mennoniten, Martin Möllinger, schrieb, Weber und seine Freunde hätten „ohne Unterredung mit andern Mitgliedern und ohne Anfrage bei der Obrigkeit Versammlungen gehalten [. . . ] da und dort nach eigener Willkür an ungewöhnlichen Orten“ – was laut der Privilegien für die Mennoniten

30 Siehe ebd., S. 62 f. u. 101. 31 Zit. nach: ebd., S. 72.

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in der Pfalz eben verboten sei. Zudem warf Möllinger Weber die überkonfessionelle Offenheit vor: Weber habe auch solche, „die ärgerlich leben und auch die nicht mit uns in gleicher Glaubensgenossenschaft stehen [. . . ] nach eigener Willkür für Mitglieder Eurer Gemeinde gehalten und zwar auch mit Unterhaltung des Liebesmahles u. dgl. mehr“. 32 Als Konsequenz aus diesen Auseinandersetzungen überlegten Weber und seine Kollegen, sich von den Mennoniten abzusondern und unabhängige Gemeinden zu gründen. In ihrem Fragen wandten sie sich an die Mennoniten in Amsterdam, also jene Kreise rund um Johannes Deknatel, die ihnen ja auch geistlich nahe standen. Johannes Deknatels Sohn Jan schrieb Peter Weber 1760 folgende Antwort, die mit ihren Ausführungen zu Absonderung und Trennung wie eine Spiegelung der täuferischen Ursprungserzählung des 16. Jahrhunderts wirkt: Alle Trennung und apartes Gemeindemachen, ohne besonderen Ruf vom Heiland dazu zu haben und ohne daß man deutlich spürt, daß er es selber so macht, kann sehr gefährlich und schädlich sein. Dabei wenn man unter einer allgemeinen Verfassung ist, so hat man viel mehr Hoffnung und Gelegenheit von seinen Mitbrüdern für den Heiland zu gewinnen, als wenn man ein apartes separiertes Häuf lein [ist, A.v.S.].

Deshalb werde man auch in Amsterdam bei den Mennoniten bleiben, „worin es doch ebenso schlecht aussieht wie bei Euch, wir bleiben dabei in der Hoffnung und im gläubigen Zutrauen, daß der liebe Heiland zu seiner Zeit wieder einen der Lehrer erwecken werde, ein Zeuge von ihm nach seinem Herzen zu sein.“ 33 Das Zitat ist vor allem insofern äußerst interessant, als sich die Täufer im 16. Jahrhundert gerade aus Missmut über solche Fragen von der katholischen und lutherischen Kirche getrennt hatten. Der Konflikt um Peter Weber wurde schließlich so gelöst, dass Weber wieder in sein Amt eingesetzt wurde, jedoch versprechen musste, seine privaten Versammlungen „still und ruhig“ und nicht während der üblichen Gottesdienstzeiten abzuhalten. Der Blick in die Kurpfalz zeigt, wie sich Konflikte zwischen traditionellen und erweckten Mennoniten an den überkonfessionellen Kontakten zu pietistischen Gruppen und an der Kirchenfrage entzündeten. War ‚Gemeinde‘ beziehungsweise ‚Kirche‘ beschränkt auf die eigene Konfession, oder konnten sie ausgedehnt werden auf alle Gläubigen, die eine Herzensfrömmigkeit und eine Jesusliebe entwickelt hatten? Eine wesentliche Frage war dabei, wer berechtigt war, an den Riten und Zeremonien der Gemeinde, insbesondere am Abendmahl, teilzunehmen. Die konfessions-

32 Zit- nach Neff: Peter Weber (wie Anm. 1), S. 63, 67 u. 72. 33 Zit. nach: Neff: Peter Weber (wie Anm. 1), S. 69 f.

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übergreifende Aussage, Gemeinde definiere sich über eine bestimmte Herzensfrömmigkeit, war sogar geeignet, Gemeindeglieder aus der eigenen Konfession vom Abendmahl auszuschließen, wenn man ihnen unterstellte, lediglich ein rein äußerliches, wenig erwecktes und lebendiges Glaubensleben zu praktizieren, wie in einem Brief von Jakob Janson aus Amsterdam vom August 1763 deutlich wird. Das Abendmahl sollte „billig kein anderer genießen als derjenige, der seinen Heiland von Herzen lieb hat und der durch nichts anders als durch sein Leiden und Tod seine Seligkeit erkennt“. Da in einem Hause nicht allein golden und silberne Gefäße sind, sondern auch hölzerne und wir arme Menschen nur den Geist mit Maß haben und nicht ins Herz von unserm Bruder sehen können, ob es gläubig und aufrichtig ist vor Gott oder nicht, und es ist auch nicht befohlen, darüber zu urteilen, so müssen wir allezeit das Beste hoffen und in dem Gebet dem H. Jesu vortragen. 34

5 Resumée Über pietistische Ideen ergaben sich im 18. Jahrhundert Verbindungen, die verschiedenste Regionen des Alten Reichs und angrenzender europäischer Regionen überspannten. Sie reichten von den Niederlanden über Ostfriesland, Krefeld und Neuwied bis in die Pfalz. Man könnte die Linie sogar noch verlängern, da auch die Hutterer in Oberungarn und in der Ukraine in den Kreis der Korrespondenzpartner hineinkamen. 35 Es zeigt sich eine Offenheit für überkonfessionelle Glaubenseinheit, die über das Anliegen, das geistliche Leben zu stärken, zustande kam. Es wuchsen Kontakte zu Herrnhuter Kreisen und zu Erweckten rund um Gerhard Tersteegen, nicht nur von Seiten der Krefelder Mennoniten, sondern beispielsweise auch aus den Reihen der Mennoniten in Altona. Später intensivierten sich die Verbindungen der Mennoniten zum pietistischen Erweckungsschriftsteller Johann Heinrich Jung-Stilling sowie zum Schweizer reformierten Pfarrer Johann Caspar Lavater. Die Kontakte, die aufgrund des gemeinsamen Anliegens als ‚Bündnisse‘ bezeichnet werden können, waren zweckgebundene Vergemeinschaftungen, die nicht dauerhaft waren, jedoch durch ihren missionarischen Charakter in die Gemeinden hineinwirken wollten. Dem Bündnis ging, wenigstens auf einer Seite, das Eingeständnis voraus, alleine nicht stark genug zu sein und einen Partner zu benötigen, der wesentlicher Ideengeber

34 Zit. nach: Neff: Peter Weber (wie Anm. 1), S. 70. 35 Siehe von Schlachta: Anabaptists and Pietists (wie Anm. 2), S. 129 – 133.

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war. Im Umkehrschluss kann gesagt werden, dass dem Bündnis im Fall der Mennoniten auch die Erkenntnis vorangehen musste, dass die eigene Gemeinde nicht länger als exklusiv gelten kann. Es musste sich die Einsicht durchsetzen, dass das Heil auch bei anderen Kirchen zu finden sei beziehungsweise auch die andere Kirche gottgefällig lebt und eine Heilsanstalt ist. Die Bündnisse, die das Heil der Seele in den verschiedenen Gemeinden und Gemeinschaften vermitteln sollten, brachen streng gedachte konfessionelle Grenzen auf.

Claudia Resch

Die kaiserlich-königliche Totenbruderschaft in Wien „Bündnuß und höchst Lob-würdige Alliantz zum Heil der Seelen“

Stärker als heute war den Menschen der Vormoderne bewusst, „was für einen Bund wir mit dem Tod haben / nemlich keinen / denn er kommt / wenn er will / und nicht wenn wir wollen oder meinen“, so die sachliche Feststellung in einer von der kaiserlich-königlichen Totenbruderschaft verantworteten Publikation. Um dem nicht bündnisfähigen Tod gemeinsam entgegenzutreten, war die Mitgliedschaft in der erwähnten Vereinigung ein Mittel der Wahl: „so werden wir dann / wenn uns oder andern dergleichen begegnet / nicht so sehr erschrecken / absonderlich wenn wir wachsam sind und alle Stund uns auf die Zukunfft des Todes bereiten.“ 1 Was es konkret bedeutet hat, auf diese Weise Vorsorge zu treffen und mit anderen „eine Bündnuß und höchst Lob-würdige Alliantz“ 2 zum Heil der Seelen einzugehen, soll in vorliegendem Beitrag präzisiert werden.

1 Bruderschaftswesen und Totengedenken Der Wunsch, das irdische Ende vorausschauend-planerisch im Sinne einer Ars moriendi zu gestalten, begleitete Menschen aller Stände und Altersgruppen und hatte seit jeher etwas Verbindendes, ja sogar Gemeinschaftsstiftendes. Während in klösterlichen Gemeinschaften die Vorbereitung auf den Tod inkludiert und das Totengedenken zum Heil der Seele u. a. durch Gebetsverbrüderungen organisiert war, entstanden, neben den geistlichen, auch laikale Formen des Verbunds. Insbesondere im Zu-

1 [Abraham a Sancta Clara]: Besonders meublirt- und gezierte Todten-Capelle / Oder Allgemeiner Todten-Spiegel. Nürnberg / Würzburg 1710, S. 214. Digital ediert in: Claudia Resch / Ulrike Czeitschner (Hg.): ABaC:us – Austrian Baroque Corpus 2015, http://acdh . oeaw . ac . at / abacus / , letzter Zugriff: 10. 03. 2019. 2 Ebd. unpaginierte Widmungsvorrede [S. 10]. „Bündnuß“ wird hier noch als Femininum verwendet.

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ge der katholischen Reform und der katholischen Konfessionalisierung 3 erlebte das Bruderschaftswesen 4 und mit ihm das Totengedenken einen neuerlichen, anhaltenden Höhepunkt: Nach dem Vorbild christlicher Brüderlichkeit 5 gegründet, kirchlich approbiert und obrigkeitlich besonders gefördert, gewannen die barocken, nachtridentinischen Bruderschaften im Alltagsleben und in der Seelsorge zunehmend an Bedeutung. Maßgeblich für diese bruderschaftlichen Vereinigungen war „der frei gewählte Zusammenschluss von Gleichgesinnten, in dessen genossenschaftlichem Zentrum sich die sieben Werke der Barmherzigkeit, aber vor allem Totengedenken, Totendienst und der Erwerb von Ablässen im Sinne des Seelenheils befanden.“ 6 Trotz unterschiedlicher Ausrichtung waren daher all diese Bruderschaften in gewisser Weise auch „Totenbünde und Jenseitsversicherungen“ 7, indem sie ihrer Verstorbenen kollektiv gedachten, wie Rupert Klieber in seiner Untersuchung Bruderschaften und Liebesbünden nach Trient betont. Die in Trient dogmatisch bestätigte Lehre vom Fegefeuer wurde (neben anderen) zum wesentlichen konfessionellen Unterscheidungsmerkmal und prägte die Bruderschaften in ihren Ausrichtungen und Aktivitäten. Sie ließ nicht nur Vorstellungen des Purgatoriums konkret werden, sondern auch Mittel zur Rettung der darin befindlichen

3 Vgl. Elisabeth Lobenwein und Martin Scheutz: Frühneuzeitliche Bruderschaften in Zentraleuropa. Zur Einschätzung einer Massenbewegung, in: Elisabeth Lobenwein / Martin Scheutz / Alfred Weiß (Hg.): Bruderschaften als multifunktionale Dienstleister der Frühen Neuzeit in Zentraleuropa. Wien / Köln / Weimar 2018, S. 15 – 25, hier S. 15. 4 Wiewohl man inzwischen weiß, wie stark das vielzitierte „blühende Bruderschaftswesen“ (z. B. bei Jan Kopiec: Bruderschaften als Ausdruck barocker Frömmigkeit, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 44 (1987), S. 81 – 91, hier S. 81) das religiöse Leben geprägt hat, sind die nachtridentinischen Bruderschaften (im Vergleich zu den mittelalterlichen und spätmittelalterlichen) noch wenig erforscht: „Zweifellos waren Bruderschaften das tragende Element der religiösen Alltagskultur. Umgekehrt zu ihrer Bedeutung steht ihre Erforschung, was zwar bis jetzt häufig beklagt, aber noch nicht geändert wurden ist.“ Gerhard Tanzer: Spectacle müssen seyn. Die Freizeit der Wiener im 18. Jahrhundert. Wien 1992, S. 82 u. 83. 5 Vgl. Gerhard Dilcher: An den Ursprüngen der Normbildung – Verwandtschaft und Bruderschaft als Modelle gewillkürter Rechtsformen, in: Gerhard Krieger (Hg.): Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebens- und Kommunikationsformen im Mittelalter. Berlin 2009, S. 37 – 55, hier S. 53. 6 Martin Scheutz: Bruderschaften als multifunktionale Dienstleister der Frühen Neuzeit. Das Beispiel der vereinigten Barbara- und Christenlehrbruderschaft Herzogenburg (1637/1677 – 1784), in: Günther Katzler / Victoria Zimmerl-Panagl (Hg.): 900 Jahre Stift Herzogenburg. Aufbrüche – Umbrüche – Kontinuität. Tagungsband zum wissenschaftlichen Symposium vom 22. – 24. September 2011. Innsbruck u.a 2013, S. 283 – 311, hier S. 283; vgl. auch Irene Rabl: Ite ad Joseph. Chrysostomus Wieser und die Lilienfelder Erzbruderschaft des Hl. Joseph. St. Pölten 2015, S. 104. 7 Rupert Klieber: Bruderschaften und Liebesbünde nach Trient. Ihr Totendienst, Zuspruch und Stellenwert im kirchlichen und gesellschaftlichen Leben am Beispiel Salzburg 1600 – 1950. Frankfurt am Main u. a. 1999, S. 27.

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Seelen. 8 Obwohl der Dienst der Lebenden an den Toten de facto in allen katholischen Vereinigungen praktiziert wurde, hatten sich doch auch ganz spezielle Bruderschaften formiert, deren vordringlichstes Anliegen es war, sich um die Rettung der Seelen im Fegefeuer verdient zu machen, die programmatisch betitelten „Arme Seelen-Bruderschaften“ oder auch „Totenbruderschaften“. 9 Der Zweck ihres Zusammenschlusses lag einerseits in der Vorbereitung der Mitglieder auf den Tod und andererseits im Dienst an verstorbenen Mitgliedern. Mit diesen Agenden positionierten sich die Totenbruderschaften zwischen den von Jan Kopiec beschriebenen „Guter Tod-Bruderschaften“, welche die Gnade eines seligen Todes erbaten, und den sogenannten „Begräbnis- oder Beerdigungsbruderschaften“, wie sie bei Peter Löff ler erwähnt sind. 10 Die Mitglieder solcher Totenbruderschaften hatten ihren Blick auf das Jenseits gerichtet; sie investierten in die Minimierung von Unsicherheit und in die Erfüllung einer besonderen Erwartung – in diesem Fall: in die Erwartung ihres Seelenheils. Mit dem Bündnisziel, eine verlässliche Verbindung zum Heil der Seelen herzustellen, hatten die Totenbruderschaften in der Barockzeit zweifellos großen Stellenwert. Umso erstaunlicher ist es, dass sie in der Forschung wenig wahrgenommen worden sind und „bislang keine umfassende wissenschaftliche Darstellung des religiös-gesellschaftlichen Phänomens der Totenkonfraternitäten existiert.“ 11 Harald Johannes Mann weist weiters zwar darauf hin, dass „die Analyse des barocken Totenbruderschaftswesens ein üppiges Arbeitsfeld darstellt“, doch bleiben Forschende in diesem Bereich oftmals auf die Zufälligkeit der Überlieferung und die verstreute Aufbewahrung ihres Quellenmaterials angewiesen. 12

8 Vgl. ebd., S. 36 – 38. 9 Christoph Daxelmüller: Artikel Totenbräuche, in: Lexikon für Theologie und Kirche 10 (2001), S. 124; weiters Peter Löff ler: Studien zum Totenbrauchtum in den Gilden, Bruderschaften und Nachbarschaften Westfalens vom Ende des 15. Jahrhunderts bis zu Ende des 19. Jahrhunderts. Münster 1975; Gerhard Hölzle: Der guete Tod. Vom Sterben und Tod in den Bruderschaften der Diözese Augsburg und Altbaierns. Augsburg 1999; Harald Johannes Mann: Die barocken Totenbruderschaften. Entstehung, Entwicklung, Aufgabe, Struktur, Verwaltung und Frömmigkeitspraxis. Eine kultur-, gesellschafts- und frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchung, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 39 (1976), S. 127 – 151 und zuletzt Elisabeth Lobenwein: Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Bruderschaften und ihr Totendienst, in: Lobenwein / Scheutz / Weiß (Hg.): Bruderschaften als multifunktionale Dienstleister (wie Anm. 3), S. 189 – 205. 10 Vgl. Löff ler: Totenbrauchtum (wie Anm. 9), S. 141. 11 Mann: Totenbruderschaften (wie Anm. 9), S. 127. 12 Vgl. auch Christopher F. Black: Italian Confraternities in the Sixteenth Century. Cambridge 1989, Kapitel „The problem of sources“, S. 17 – 22.

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Auch im Falle der exemplarisch vorgestellten, in der Literatur mehrfach erwähnten, 13 aber kaum untersuchten Wiener Totenbruderschaft gelten relevante Dokumente wie etwa das Bruderschaftsalbum, Einschreibbücher oder -zettel und Aufzeichnungen über Ein- und Ausgaben als verschollen. Zu ihrer Erforschung stehen aber dennoch einige Quellen zur Verfügung, die verschiedenen Orts aufbewahrt werden: handschriftliche Dokumente sowie auch gedruckte, zum Teil mehrsprachige Publikationen, die von der Totenbruderschaft selbst verantwortet, mehrfach publiziert und verbreitet worden sind wie etwa ihre Regel- und Andachtsbücher, Neujahrsgaben und Festschriften. Unter Auswertung dieses Materials soll im Folgenden spezifiziert werden, weshalb es sich um ein Bündnis handelte, wie es zustande kam und welche Verbindlichkeiten daraus abgeleitet wurden.

2 Die Gründung der Wiener Totenbruderschaft Die beschriebene Vereinigung – „in gemain die Todten Bruderschafft genandt“ –, war eine ursprünglich „vnter dem Nahmen vnd Titul der Ab-

13 Vgl. (in chronologischer Reihenfolge): Johann Evangelist Schlager: Wiener Skizzen aus dem Mittelalter. Neue Folge 2. Wien [1842], S. 141 – 146; Ernst Tomek: Das kirchliche Leben und die christliche Charitas, in: Anton Mayer (Hg.): Geschichte der Stadt Wien 5. Wien 1914, S. 305; Karl Bertsche: Die Totenkapelle von Abraham a Sancta Clara. Mönchen Gladbach 1921, S. 24; Heinz Riedel: Die Totenbruderschaft, in: Der österreichische Bestatter 32 (1990), S. 147 – 149; Franz M. Eybl: Abraham a Sancta Clara. Vom Prediger zum Schriftsteller. Tübingen 1992, S. 79; Geraldine M. Rohling: Exequial and Votive Practices of the Viennese Bruderschaften. A Study of Music and Liturgical Piety. Washington 1996; Klare und Warhaffte Entwerffung Menschliche Gestalt und Wesenheit oder Dessen Auffgang und Untergang. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger. Heidelberg 2000; Uli Wunderlich: Abraham a Sancta Claras ‚Besonders meublirt- und gezierte Todten-Capelle‘. Der erfolgreichste Totentanz des Barock und seine Rezeptionsgeschichte, in: L’art macabre. Jahrbuch der Europäischen Totentanz-Vereinigung 1 (2000), S. 191 – 210; Anton Lang: Hochgericht und Räderkreuz. Die Hinrichtungsstätten am Wienerberg. Wien 2002, S. 7; Felix Czeike: Historisches Lexikon Wiens. Ergänzungsband. Wien 2004 bzw. darauf basierend: Wien Geschichte Wiki, online unter: https://www . wien . gv . at / wiki / index . php ? title = Totenbruderschaft, letzter Zugriff: 10. 03. 2019; Uli Wunderlich: Überall Abraham – Totentänze von und nach Abraham a Sancta Clara vom 17. Jahrhundert bis heute, in: Anton Philipp Knittel (Hg.): Unterhaltender Prediger und gelehrter Stofflieferant. Abraham a Sancta Clara (1644 – 1709). Eggingen 2012, S. 122 – 184. Das Projekt „Totenkult und Jenseitsvorsorge in Wien: Barocke Bruderschaftsschriften als Forschungsgegenstand der digitalen Geisteswissenschaften“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Leitung: Claudia Resch, 2014 – 2018 gefördert von der Stadt Wien) hat sich nun der digitalen Aufbereitung und Analyse dieses wertvollen Quellenmaterials verschrieben. Vgl. https://www.oeaw.ac.at/de/acdh/projects/ bruderschaftsdrucke - digital / , letzter Zugriff: 10. 03. 2019.

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gestorbenen auffgerichte Confraternitet“. 14 Erste Schritte zu ihrer Gründung in der ehemaligen Wiener Hofkirche (heute: Augustinerkirche) hatte Kaiser Ferdinand II. mit seiner zweiten Frau Eleonore von Mantua unternommen. Die päpstlichen und bischöf lichen Genehmigungsverfahren waren allerdings erst nach seinem Tod abgeschlossen, weshalb sein Sohn Ferdinand III. die gestiftete Bruderschaft im Jahr 1638 bestätigte und in Stand setzte. Er ließ sich selbst (sowie weitere Familienangehörige) als Mitglied einverleiben 15 und bedachte die Totenbruderschaft mit besonderen Freiheiten und Privilegien, indem er sie etwa mit einem eigenen Wappen ausstattete: Unter den Füßen des kaiserlichen Doppeladlers erschien auf goldenem Grund „auff zweyen Creutzweiß vbereinander geschrenckten Todtenbainen / ein etwas fürwerts gekehrter Todtenkopff “, 16 den die Bruderschaft auf ihren Siegeln und auf den schwarzen Übermänteln ihrer bodenlanger Habite bei Prozessionen und Begräbnissen als Zeichen des Bündnisses führen durfte. Durch eine päpstliche Bestätigung 17 war die Totenbruderschaft außerdem eng mit der bereits länger bestehenden „Ertz Bruderschafft deß Todts vnd deß Gebetts zu Rom“ verbunden, deren Ablässe und Gnaden dadurch auch den Wiener Brüdern und Schwestern zugutekommen sollten. 2.1 Bündnispartner diesseits und jenseits Aus den Gründungsdokumenten geht der konkrete Zweck des Bündnisses hervor, nämlich „denen im Fegefeuer büssenden Seelen Hülff-reiche Hand darzubieten / ihre schmertzlichste Peinen zu linderen / ihre Strafs-Zeit abzukürzen / und inen die verschlossene Himmelsporten mittels Christlicher Liebs-wercken Trostreich zu eröfnen.“ 18 Das hierin beschriebene Angebot wandte sich also an jene im Fegefeuer büßenden Seelen, die weder verdammt noch gerettet waren. Durch gute Werke der Lebenden an den Toten konnten diese in katholischem Sinne getröstet und vollkommen von ihren Qualen erlöst werden. Das erläuterte Bündnis sollte also nicht nur die lebenden Mitglieder der Totenbruderschaft untereinander vereinen, sondern man ging davon aus,

14 Regulen Vnd andächtige Vbungen / Der in der Statt Wienn [. . . ] Mit sonderbahren Freyheiten vnnd Gnaden begabter [. . . ] Löbl: Todten Bruderschafft. In dem Gotts Hauß der Ehrwürdigen PP: Augustinern Barfüssern. Wien 1650, S. 38 – 39. 15 Vgl. Hoch-feyerliches SÆCULUM, Oder Erstes Jahr-Hundert Einer Hochlöblichen [. . . ] Todten-Bruderschafft Bey denen WW. EE. PP. Augustinern Baarfüssern allhier. Wien [1738]. Bl. Br – B2v. 16 Regulen (wie Anm. 14), S. 32. 17 Abgedruckt in: ebd., S. 8 – 20. 18 Hoch-feyerliches SÆCULUM (wie Anm. 15), Bl. B3r.

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„mit denen auff dieser Welt abgelebten – in der Anderen – aber ewiglebenden Seelen einen Bund und Alliantz gemacht [zu] haben.“ 19 Diesen jenseitigen Bündnispartnern fühlte man sich über den Tod hinaus im Jenseits verpflichtet und wollte den dort „Alliierten mit einer Gegen-Alliantz“ auf Erden behilf lich sein. 20 Die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten wurde in den Bruderschaftsschriften als Allianz bzw. als Bündnis 21 bezeichnet, das sich – hier wie dort – formiert hatte, um die bestehende Verbindung zwischen dem Diesseits und dem unzugänglichen Jenseits aufrechtzuerhalten. Die Kontakte dieser beiden weitläufigen Bündniswelten galten in der katholischen Bruderschafts- und Predigtliteratur als durchlässig; 22 die in dieser Allianz Verbündeten wurden als annähernd gleich handlungsstark geschildert: Nicht nur die Lebenden konnten in dieser Verbrüderung als Helfer und Erlöser in Erscheinung treten und etwas für die armen Seelen bewirken, sondern auch diese konnten sich dankbar erweisen und den Lebenden Gutes tun. All das, was Bündnispartnern im Jenseits Gutes widerfuhr, wurde dankbar angenommen und rückerstattet, wodurch sich auch jenseitige Mitglieder – ebenfalls „exzessive Nehmer und großzügige Geber“ 23 – als nicht minder verlässliche Akteure in diesem Bündnis erwiesen. Daraus ergab sich eine gewisse gegenseitige Erwartungshaltung: Wie die Verstorbenen „ohnfehlbar von vns Hülff erwarten, also bleibt vns gleichmässig nicht auß die Hülff vnd Danck derselben.“ 24 Das Bündnis war insofern prospektiv angelegt, als die von den lebenden Mitgliedern erhofften Vorteile über deren eigene Lebensspanne hinausreichen sollten. Die Bündnispartner waren einander nicht nur zu Lebzeiten verpflichtet, sondern über den Tod hinaus, und hatten in der Totenbruderschaft einen Pakt für die Ewigkeit geschlossen. 19 Abraham a Sancta Clara: Todten-Capelle (wie Anm. 1), unpaginierte Vorrede [S. 10]. 20 Ebd. [S. 13]. 21 „Alliance, Allianz, oder Bündniß, ist ein gewisser Vergleich, welchen zwey, oder mehr Puissancen unter einander schliessen, daß sie nach dem Inhalt desselben einander etwas auf beyden Seiten leisten wollen“. Artikel „Alliance, Allianz“, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 1. Leipzig / Halle 1731, Sp. 1255 – 58, hier: Sp. 1255; ähnlich hier: „ein ohne Noth aus dem Franz. Alliance entlehntes Wort, eine Verbindung, oder ein Bündniß“. Artikel: „Die Allianz“, in: Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Erster Theil, von A – E. Leipzig 1793, Sp. 217. 22 Vgl. etwa Abraham a Sancta Clara: Lösch Wienn / Das ist Ein Bewögliche Anmahnung zu der Kays. Residentz-Statt Wienn in Oesterreich, Wien 1680, S. 68 und S. 108; ders.: AUGUSTINI Feurigs Hertz Tragt Ein Hertzliches Mitleyden mit den armen im FeegFeuer Leydenden Seelen, Salzburg 1693, S. 33 – 35, beides digital ediert in: Claudia Resch / Ulrike Czeitschner (Hg.): ABaC:us – Austrian Baroque Corpus 2015. http:// acdh . oeaw . ac . at / abacus / , letzter Zugriff: 10. 03. 2019. 23 Iris Därmann: Theorien der Gabe zur Einführung. Hamburg 2010, S. 75. 24 Abraham a Sancta Clara: Lösch Wienn (wie Anm. 22), S. 214.

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Im Diesseits war die „Bruderschafft beeder Geschlechts“ 25 prinzipiell als gleichheitliche Gemeinschaft von (vorwiegend) Laien organisiert und stand Männern wie Frauen gleichermaßen offen. In einem gedruckten Verzeichnis von Mitgliedern 26 scheinen unter den zwischen November 1679 und Oktober 1680 Verstorbenen verschiedene Berufsgruppen auf: kaiserliche Bedienstete, Soldaten, Stadtgerichtsbeisitzer, Notare, Steuerdiener, Kauf leute, Musiker, Korbmacher, Schuster, Wachszieher, Goldschmiede sowie viele andere mehr. In Zeiten strenger gesellschaftlicher Trennung schienen ständische Ungleichheiten unter den Mitgliedern kaum eine Rolle gespielt zu haben. Gemeinsam wollte man füreinander beten und dafür Sorge tragen, dass soziale Unterschiede gemildert und auch weniger vermögende Mitglieder angemessen bestattet wurden und man ihrer Seele über den Tod hinaus solidarisch im Fürbittengebet gedachte. Diese vertikale gesellschaftliche Verflechtung und Überschreitung der gewohnten Standesgrenzen wurde wohl nirgends deutlicher als bei der Bestattung der sogenannten ‚armen Sünder‘, die zum Tod verurteilt und damit außerhalb jeglicher Gemeinschaft waren: Auch die „Beglait- vnd Begrabung der jenigen Personen / so zwar wegen begangener Missethat / von der Justitia vom Leben zum Todt verurtheilt vnd hingricht / aber gleichwol zur Sepultur zugelassen werden“, war der Totenbruderschaft ein exklusives Recht und besonderes Anliegen. 27 Der Vorstand der Bruderschaft hingegen, bestehend aus dem Präfekten, dem Vizepräfekten, Assistenten und Consiliarii, war ausschließlich von gesellschaftlich hochrangigen Männern besetzt, wobei diese Ämter sowohl an weltliche als auch an geistliche Würdenträger vergeben wurden. Da die Bruderschaft bei den Augustiner Barfüßern in St. Augustin ansässig war, wurde sie vom jeweiligen Prior des Ordens geistlich begleitet und auch unter den Mitgliedern scheinen mehrere Ordensbrüder auf. 2.2 Der Totenbruderschaft „einverleibt“ Die Einschreibungen wurden ebendort, in der ehemaligen Wiener Hofkirche, vermutlich in einem Vorraum der Toten(bruderschafts)kapelle vorgenommen. 28 Neue Mitglieder wurden der bestehenden Gemeinschaft „ein-

25 Regulen (wie Anm. 14), S. 3. 26 [Abraham a Sancta Clara]: Grosse Todten Bruderschaft / Das ist Ein kurtzer Entwurff Deß Sterblichen Lebens. O.O. 1681. Bl. D4r – [D7v], in: Resch / Czeitschner (Hg.): ABaC:us (wie Anm. 1). 27 Regulen (wie Anm. 14), S. 33. 28 Zur Verortung der Totenbruderschaft in St. Augustin und zu ihren Versammlungsräumen vgl. Claudia Resch: Die Totenbruderschaft von St. Augustin und ihre Totenkapelle(n) – geziert, gemalt und gedruckt für die Ewigkeit, in: Scheutz / Lobenwein /

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verleibt“, indem sie ihre Namen durch „aigenhändige Unterschreibung“ in das sogenannte große, heute nicht mehr erhaltene Bruderschaftsalbum eintrugen. 29 Jede Mitgliedschaft beruhte auf einem freien, willentlichen Entschluss, der durch diese Einschreibung besiegelt und dokumentiert wurde. 30 Sie hatte für das einzelne Mitglied große Bedeutung, denn das Bruderschaftsalbum gewährte Schutz und bestätigte die gegenseitigen Verpflichtungen in dieser bewusst eingegangenen Interessensverbindung. Neben die gewollte „gefühlsmäßige Bindung“ trat damit auch eine „rationale Verbindlichkeit“, 31 wie Gerhard Dilcher beobachtet, wodurch Dauer und Durchsetzung dieses Bündnisses gesichert wurden. Während das Album im Besitz der Bruderschaft verblieb, steht zu vermuten, dass das jeweilige neue Mitglied im Gegenzug einen sogenannten Bruderschaftszettel erhielt, jedenfalls aber ein „Täfferle alß ein Zeichen der Bruderschafft“ 32, das seine Einverleibung bestätigte und gewissermaßen als Beleg für das ihm zustehende Totengedenken galt. Rupert Klieber spricht diesbezüglich auch von einem „Gutschein für eine Seelenmesse“; 33 allerdings ist in den untersuchten Quellen eher die Rede davon, dass dieses Täfelchen, das Verbundenheit signalisierte, öfter, nämlich an den Quatembertagen, mit einem Opfer abgelegt werden sollte. Bei anderen, auf den Tod ausgerichteten Bruderschaften hatte man, wie Alkuin Schachenmayr in seiner Habilitationsschrift erwähnt, wohl auch die Möglichkeit, aufgrund seiner Mitgliedschaft eingekleidet beerdigt zu werden: „Durch die Mitgliedschaft bestellte man sich de facto das Leichenkleid; Mitglieder wollten nach mittelalterlicher Tradition bei der Auferstehung der Toten als Mönche gelten.“ 34 Darauf gibt es in den Quellen der Wiener Totenbruderschaft keinerlei Hinweise, denn der Habit wurde ausschließlich zu Prozessionen und Begräbnissen angelegt. Ob dieses Bündnis mit Kosten verbunden war beziehungsweise wie hoch die Tarife für die Einverleibung in der kaiserlich-königlichen Totenbruderschaft angesetzt waren, wird in den erhaltenen Quellen nicht erwähnt – es ist anzunehmen, dass es diesbezüglich keine verbindlichen

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Weiß (Hg.): Bruderschaften als multifunktionale Dienstleister (wie Anm. 3), S. 373 – 393. Vgl. Abraham a Sancta Clara: Todten-Capelle (wie Anm. 1), unpaginierte Widmung [S. 10]. Zu Formen und Funktionen der Gedenküberlieferung und Praktik des Verzeichnens vgl. Rainer Hugener: Buchführung für die Ewigkeit. Totengedenken, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter. Zürich 2014. Dilcher: Normbildung (wie Anm. 5), S. 54. Regulen (wie Anm. 14), S. 74. Klieber: Bruderschaften (wie Anm. 7) S. 22. Alkuin Volker Schachenmayr: Sterben, Tod und Gedenken in den österreichischen Prälatenklöstern der Frühen Neuzeit. Heiligenkreuz im Wienerwald 2016. S. 297.

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Empfehlungen gab, sondern dass die Höhe der Summe im Ermessen des neuen Mitglieds lag. Sicher aber ist, dass ‚Einschreibgelder‘ eingehoben wurden, zumal diese Art von Kosten in den Statuten der Bruderschaft als Einnahmequelle eigens ausgewiesen wird. 35 2.3 „von Schuldigkeit oder Verbündtnuß“ Mit dem Abschluss dieses Bündnisses gab das jeweilige neue Mitglied auch seine Zustimmung über die Eigenart und Ausgestaltung dieser besonderen bruderschaftlichen Vergemeinschaftung. Mit dem Erwerb eines Bruderschaftsbüchleins nahm es folgende Pflichten zur Kenntnis und auf sich: War mit dem Tag der Einverleibung noch ein vollkommener Ablass 36 verbunden, so war dem Mitglied der Erwerb weiterer Ablassprivilegien nur in Verbindung mit geistlich-religiösen Übungen und Aktivitäten in Aussicht gestellt. Um in den Genuss weiterer (nach Tagen gestaffelter) Ablassprivilegien zu kommen, konnte ein Mitglied am Allerseelentag bzw. in der Allerseelenoktav 37 die Totenbruderschaftskapelle zum Sakramentsempfang besuchen, am 40-stündigem Gebet teilnehmen, an Weihnachten, Karfreitag und Marienfeiertagen die Kapelle frequentieren und an der Fronleichnamsprozession teilnehmen. Die Möglichkeit, tageweisen Ablass zu erwerben, bestand auch, wenn man Kranke besuchte oder Fremde beherbergte. Weiteren jährlichen Ablass erhielt man außerdem für das Totengeleit innerhalb und außerhalb der Stadt. 38 Wie sehr die einzelnen Mitglieder täglich beansprucht und in die Pflicht genommen waren, ist im Sinne religiöser Alltagsordnung besonders in Kapitel 4 des Bruderschaftsbüchleins – im Inhaltsverzeichnis: „von Schuldigkeit oder Verbündtnuß“ – nachzulesen, worin sich die tägliche Gebetsleistung gelistet findet: [Tä]glich 5. Vatter vnser vnd 5. Englische Gruß zu Ehren der 5. Wunden vnsers Herrn Jesu christi: am Sontag aber noch 7. Vatter vnser / vnnd 7. Englische Gruß darzu / zu Ehren der 7. Schmertzen der Allerseeligsten Jungkfrau Mariae für die armen Seelen deß Fegfewers / vnnd bey Absterben eines Bruders oder Schwestern für dieselbe 15. Vatter vnser / vnd 15. Englische Gruß [. . . ]. 39

35 Vgl. Regulen (wie Anm. 14), S. 59. 36 Vgl. Regulen (wie Anm. 14), S. 21. 37 Besondere Feiertage, wie das Fest Allerseelen, bekräftigten den Vertrag und Austausch zwischen den Lebenden und den Toten. Vgl. dazu Därmann: Theorien der Gabe (wie Anm. 24), S. 75 und Natalie Zemon Davis: Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Kaiser. München 2002, S. 41. 38 Vgl. Regulen (wie Anm. 14), S. 21 – 25. 39 Ebd., S. 73.

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Nach Möglichkeit sollten die Totenbrüder und -schwestern außerdem sowohl an den wöchentlichen Gottesdiensten teilnehmen als auch am monatlichen Totenoffizium, das in der Totenbruderschaftskapelle gefeiert wurde; hinzu kam die gelegentliche Anwesenheit bei Begräbnissen der Mitbrüder und -schwestern beziehungsweise anderen Versammlungen und Andachten, die auch kurzfristig bekannt gegeben wurden – jene, die dabei nicht anwesend sein konnten, sollten sich zumindest jährlich um ein Register der Verstorbenen kümmern. Obwohl die Mitglieder laut Statuten jederzeit „vnd nach belieben opfferen“ 40 sollten, und damit wohl auch einigen finanziellen Aufwand in dieses Bündnis investierten, so waren doch die Vorteile, die sie sich davon versprachen, nachvollziehbar: Das verständliche Eigeninteresse bestand vor allem in der Überlegung, dass alles, was der / die Einzelne zeitlebens in die Gemeinschaft einzubringen bereit war, auch ihm / ihr selbst eines Tages – um ein Vielfaches vermehrt – zustünde. Was er / sie für die anderen leistete, wird ihm / ihr morgen ebenso durch die anderen zuteil. So konnte jede / r Einverleibte sichergehen, dass – im Fall des eigenen Ablebens – das Bündnis auch seiner / ihrer Seele zum Vorteil gereichen würde. Diese „komplexe und ineinandergreifende Reziprozität“ 41 zwischen den Lebenden und den Toten, bei der vieles aufgeboten wurde, beschreibt Natalie Zemon Davis als charakteristisch für das katholische System; im Bruderschaftswesen erfuhren die genannten Verhaltensmuster der Gegenseitigkeit eine besondere Ausprägung und Förderung. Nicht nur war auf diese Weise die Nutznießung aus der gemeinschaftlichen Solidarität garantiert, auch konnte sich etwa durch den Zusammenschluss im Fürbittengebet die Wirkung verstärken – in der Vielstimmigkeit des Gebets ließ sich womöglich sogar das Unvermögen oder die Minderleistung einzelner kompensieren, wodurch diese in ihrer Verantwortung entlastet und der guten Werke anderer teilhaftig wurden. Dieser solidarisch verantwortete Ausgleich galt nicht nur für spirituelle Leistungen, sondern auch für materielle Zuwendungen, wie sie besonders den ärmeren Mitgliedern der Totenbruderschaft für deren Begräbnis zugesagt waren. Die Unterstützung, die man (spirituell oder monetär) selbst leistete, war zu beiderseitigem Nutzen, und dabei nicht uneigennützig, weil sie zwar dem allgemeinen Fortkommen diente, aber letztlich auch zum Heil der eigenen Seele beansprucht werden konnte, weshalb Rupert Klieber Totenbünde als versicherungsartige Zusammenschlüsse beschreibt, deren Hauptzweck der Dienst an den Toten war: „Diese konkrete ‚Dienstleistung‘

40 Ebd., S. 74. 41 Vgl. Davis: Gesellschaft (wie Anm. 37), S. 147.

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kam jedem Mitglied in einer Art Umlagesystem absehbar selbst zugute und bildete deshalb das ausschlaggebende Motiv der Beitritte bzw. Beteiligung.“ 42

3 Der Totenbruderschaft Ziel und Ende Die Stifter hatten die kaiserlich-königliche Totenbruderschaft bei ihrer Gründung mit besonderen Ablassprivilegien ausgestattet und mit einem „wohldotierten ‚geistlichen Ressourcen-Pool‘“ 43 attraktive, vielversprechende Bündniskonditionen geschaffen. Bei entsprechender Anstrengung konnten die Einverleibten das ganze Jahr über von Ablässen profitieren und höhere Güter vergelten. Es ist kein Zufall, dass die Regel- und Gebetsbücher wie auch die Festschriften der Bruderschaft diese besonderen Privilegien (samt kaiserlichem Dekret, päpstlicher Bulle und bischöf licher Bestätigung) in jeder Neuauf lage wieder druckten, weil diese Texte das Vertrauen in das Bündnis sicherten, seine Exklusivität betonten und damit sein Prestige steigerten. Wenn man bedenkt, dass es zwischen den Bruderschaften „alle Formen der Konkurrenz und des Wettstreits“ 44 gab, wird verständlich, weshalb auch die Bruderschaftsliteratur nicht ohne Komparativ und Superlativ auskommt: „O wer ist doch dißfalls reicher / vnd mehrer mit Geld versehen / als die Brüder vnd Schwestern in der ErtzBruderschafft der Toden allhier zu Wienn bey vns PP. Augustinern“, lautet die rhetorische Frage Abraham a Sancta Claras, „massen ein gantzes Jahr hindurch sie mit so häuffigen Ablaß versehen / womit sie / als mit dem besten Geld / vnd himmlischer Müntz der armen verstorbenen Christglaubigen / forderst deren in GOTT entschlaffenen Brüder vnd Schwester Schulden können bezahlen“. 45 Nicht nur der Verfasser des obigen Zitats hat als begabter Redner, erfolgreicher Schriftsteller und zeitweilig als geistlicher Vorsteher der Bruderschaft dazu beigetragen, deren Bekanntheit zu fördern – auch die Tatsache, dass die Totenbruderschaft hochrangige geistliche und weltliche Einverleibte führte, nützte der Reputation. Die Festschrift anlässlich des 100-jährigen Bestehens 1738 berichtete davon: „Es pranget das erste Blat dieses Buchs [i.e. das Album] mit so vielen Cronen und Sceptern / als viele Buchstaben auf demselben gelesen werden“, 46 hieß es darin nicht ohne Stolz. 42 43 44 45 46

Klieber: Bruderschaften (wie Anm. 7), S. 571. Ebd., S. 27. Eybl: Abraham a Sancta Clara (wie Anm. 13), S. 76. Abraham a Sancta Clara: AUGUSTINI Feurigs Hertz (wie Anm. 22), S. 75. Hoch-feyerliches SÆCULUM (vgl. Anm. 15), Bl. Br.

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Printpublikationen wie diese und andere mehr, die in vorliegendem Beitrag keine oder nur kurze Erwähnung finden konnten, zeigen die Totenbruderschaft als publizierende Gemeinschaft, 47 sicherten das Vertrauen der Einverleibten in das Bündnis und bekräftigten dessen Glaubwürdigkeit, Tragfähigkeit und Verlässlichkeit. Obwohl die Totenbruderschaft 100 Jahre nach ihrer Gründung noch „geseegnete Fortpflantzung / und all-höchst beglückten Wohlstand“ 48 genossen hatte, gerieten religiös-motivierte Sozietäten wie diese gegen Ende des 18. Jahrhunderts bekanntermaßen zunehmend in die Kritik der Aufklärung. Im Jahr 1783 wurde die kaiserlich-königliche Totenbruderschaft schließlich samt ihrem spirituellen wie finanziellen Vermögen von Joseph II. aufgehoben – und mit ihr ein gesuchtes Bündnis zum Heil der Seelen, das für die Ewigkeit gedacht gewesen wäre.

47 Vgl. dazu Matija Ogrin: Confraternities and Sparks of Spirit. Books of Baroque Confraternities in Slovenian Lands, in: Acta Historiae Artis Slovenica 21/2 (2016), S. 55 – 88 und Rebekka von Mallinckrodt: Struktur und kollektiver Eigensinn. Kölner Laienbruderschaften im Zeitalter der Konfessionalisierung. Göttingen 2005, insbesondere S. 259 – 267, Abschnitt „Handreichung für die religiöse Praxis und Werbeschriften“. 48 Vgl. Hoch-feyerliches SÆCULUM (vgl. Anm. 15), Bl. [D2v].

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Aufklärungssoziabilität und Repräsentation der modernen Gesellschaft Il semble que la société lui [sc. l’homme] devienne nécessaire en proportion des maux qu’elle lui cause. Simon-Nicolas-Henri Linguet, 1767 1

1 Eine gesellschaftliche Bewegung Im 18. Jahrhundert beschrieb man in Westeuropa und in Nordostamerika ein bis dahin unbekanntes Phänomen: die Existenz von Assoziationen ranghoher Männer außerhalb der bestehenden gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen, also in einem neuen, rechtsfreien Raum, ohne erkennbaren praktischen Zweck. Diese Assoziationen stellten sich außerhalb von Familie, Ehe, Stand, Gilde, Profession, Kirche, Schule, Universität, Armee, staatlichen Institutionen jeder Art. Sie waren keinem Bereich der Gesellschaft zuzuschreiben. Gleichzeitig waren ihre Mitglieder honorige Familienväter, in ihrem Beruf äußerst erfolgreich, brave und sogar engagierte Kirchenmitglieder, ostentativ treue Untertanen oder Beamte ihres Prinzen, Königs, ihrer Republik. Anders als die in Handel und Produktion agierenden Kapitalgesellschaften verfolgten diese Assoziationen keine wirtschaftlichen Interessen. Wenn praktische Ziele zu erkennen waren, dann äußerten sie sich vielfältig im Mäzenatentum: Einrichtung von Häusern für Waisen, Witwen, Alte, Gründung von Schulen, Sparkassen, Versicherungen etwa, auch die Finanzierung von Mustergütern, Theatern, Orchestern, Opern, Musées (was man mit einer Volkshochschule vergleichen könnte; an ihnen durften auch Frauen unterrichten). Das waren kaum profitträchtige Investitionen. Vermutet wurde zeitgenössisch hingegen, dass die Männer sich insgeheim Tipps für Spekulationen gaben wie in den Hinterzimmern der Wirtshäuser, dass sie für ihre Familien Heiratspläne mit Vermögenshintergrund ausheckten, dass insgeheim alle 1 Simon-Nicolas-Henri Linguet: Théorie des loix civiles, ou Principes fondamentales de la société. Bd. 1. London 1767, S. 187. Der Beitrag wurde im Projekt History of Political Representation im Forschungsverbund des Center for Comparative Studies of Modernization, Universität Fudan Shanghai verfasst.

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möglichen Absprachen gemacht wurden, von denen sonst niemand etwas wusste. Doch man wusste allemal wenig über diese Männerbünde, wenig drang nach außen. Ihre Formen waren vielfältig. Sie traten auf als relativ zwangloser Salon, als Tisch-, Sprach- und Patriotische Gesellschaft mit eigener Satzung, als Klub, Loge oder sonstige Geheimgesellschaft, als Gelehrte Gesellschaft oder als Akademie, alle mit strengen Satzungen. Letztere war in der Regel obrigkeitlich patentiert und besaß von daher als einzige einen legalen und dadurch geschützten Status. Die Aufnahme von Mitgliedern geschah in der Regel durch Kooptation. Dabei wurde Wert gelegt auf den gesellschaftlichen und professionellen Rang des Kandidaten, aber auch auf sein ehrenwertes Auftreten in Familie, Ehe, Konfessionsgemeinschaft. Und natürlich hatte er ein tadelloser Untertan in seinem jeweiligen Regime zu sein. Nicht zuletzt hatte er durch Einkommen und Vermögen unabhängig und damit frei zu sein. Die ‚Nationalität‘ – im Sinne der landsmannschaftlichen Herkunft – schien kein Diskriminationsgrund zu sein, sofern die anderen Kriterien erfüllt waren. Geselligkeit von, mit oder um Frauen wie im Salon war ein Sonderfall und baute oft auf anderen sozialen Sonderstellungen auf, etwa Vermögen, Bildung, erotischer Emanzipation oder konfessioneller Außenseiterschaft, womöglich auch miteinander kombiniert. Die Assoziationsbewegung dauerte generationenübergreifend zu lange, um als reine Mode abgetan werden zu können, selbst wenn es zweifellos konjunkturelle Perioden gab, in denen es chic war, diesem Salon und jener Gesellschaft anzugehören. Es war eine Bewegung, die sich nicht auf den urbanen Lebensraum beschränkte, sondern sich auch auf den kleinstädtisch-ländlichen Einzugsbereich erstreckte. Quantitativ ist die Bewegung schwer einzuschätzen. Für mache Städte und Landschaften lassen sich sehr genaue Angaben über Mitgliederzahlen machen, für andere weisen die Quellen erhebliche Lücken auf. Man ist also auf Inter- und Extrapolationen sowie auf Analogieschlüsse angewiesen. 1750 – 1800 hatte Deutschland – in den späteren Grenzen von 1914 – überwiegend in den ländlichen Gebieten eine erstaunliche demographische Wachstumsphase durchgemacht. Die Gesamtbevölkerung erreichte ca. 24,5 Millionen Einwohner, davon etwa 10 % in Städten über 5.000 Bürgern. Rund 1,5 % lebten in Großstädten wie Hamburg oder Berlin mit 100.000 bzw. 200.000 Einwohnern. 2 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zählte man nun für Deutschland ca. 100.000 Mitglieder in 1.250 Vereinigungen. Es waren nicht mehr wie vorher religiöse, volksfromme,

2 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. München 32008, S. 69 – 70.

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politische oder berufsständische Vereinigungen, sondern etwa 500 Lesegesellschaften, 450 Freimaurerlogen, 117 weitere Geheimbünde, 80 Patriotische und 100 Gelehrte und Deutsche Gesellschaften, davon die Hälfte Gründungen in Städten; es handelte sich vor allem, aber nicht ausschließlich um ein urbanes Phänomen. 3 Zum Vergleich: Anfang des 20. Jahrhunderts kam nach Max Weber ein Verein auf 20 Familienväter in Städten von mehr als 30.000 Einwohnern. 4 Die Gründungen waren Konjunkturen unterworfen. Bei den Freimaurerlogen kam es zwischen den 1750er und 1770er Jahren zu einem Anstieg von 31 auf 123 Gründungen, wonach die Kurve bis zum Ende des Jahrhunderts auf 44 absank. 5 Lesegesellschaften wurden vor allem in den 1780er (170) und 1790er Jahren (200) aufgemacht und überrundeten dabei die Logen. 6 Rund die Hälfte der Sozietäten wurde in Mittelstädten gegründet (2 – 10.000 Einwohner), auf 100 – 300 Männer kam eine Gesellschaft. Dabei wurden auch ländliche Regionen erfasst. In Städten wie Leipzig und Jena wurden 2.634 bzw. 2.344 Mitgliedschaften gezählt. In den letzten zwei Jahrzehnten des Jahrhunderts entstanden im mitteldeutschen Raum 4.372 Mitgliedschaften. 7 Für Klein- und Mittelstädte waren das 2 – 8 % der (männlichen) Bevölkerung, für Leipzig aber über 50 %. Knapp 80 % der Gesellschaften hatten weniger als 50 Mitglieder, was aber Assoziationen von 300 bis 900 Mitgliedern nicht ausschloss. 8 Den größten Zulauf erhielten die Freimaurerlogen. Geschätzt werden 27.000 Mitgliedschaften für die 450 Logen. Die Konfessionszugehörigkeiten werden in den Quellen nicht immer erfasst; präzise allgemeine Angaben sind deswegen kaum zu machen. Möglicherweise spiegelten sie die jeweilige Konfessionslandschaft, mit einem starken Akzent auf den protestantischen Konfessionen. Mit gut 20 % adligen Mitgliedschaften (überwiegend Grafen und Freiherren) lagen die Sozietäten über dem Gesellschaftsdurchschnitt von etwa 1 %. Das galt insbesondere für die Johannislogen. Je esoterischer die kleinen Logen waren,

3 Vgl. Holger Zaunstöck: Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 113. – „Reich“ ist insofern unscharf, als Österreich und die Schweiz manchmal berücksichtigt werden, manchmal nicht, die norditalienischen Reichsgebiete jedoch nicht in den Blick kommen. 4 Vgl. Max Weber: Geschäftsbericht und Diskussionsreden auf den deutschen soziologischen Tagungen (1910, 1912), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. Hg. von Marianne Weber. Tübingen 21988, S. 431 – 491, hier S. 441. 5 Vgl. ebd., S. 104. 6 Vgl. ebd., S. 109; der Höhepunkt der Logengründungen lag mit 123 in der Periode 1770 – 1779. 7 Vgl. ebd., S. 142 f. 8 Vgl. ebd., S. 146 f.

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umso größer wurde der Anteil von Adligen, in der Strikten Observanz um die Hälfte, in den Winkellogen selbst mehr als die Hälfte. 9 Für Frankreich ist in den letzten drei Jahrzehnten des Ancien Régime in zwei Wellen ein rapides Anwachsen von Geheimgesellschaften zu verzeichnen (1789: ca. 700 Logen mit bis zu 40.000 Mitgliedern), das offenbar dem sozialen Druck bestimmter Teile des Bürgertums, aber auch des Handwerks und des Kleinhandels zuzuschreiben ist. 10 An der Wahlkampagne von 1788/89, bei der Redaktion der Cahiers de doléance, in den États généraux und in der Nationalversammlung waren (teils ehemalige) Mitglieder von Geheimgesellschaften individuell zwischen ca. 20 % und 45 % vertreten, ohne jemals eine Gruppe oder Fraktion zu bilden. Auffallend ist, dass sie bestimmte abstrakte Grundüberzeugungen teilten, die der internen sozialpraktischen Binnenstruktur der Geheimgesellschaften entsprachen und zugleich die Basis der Grundrechte und Konstitutionen bildeten. Dies deutet keine Kausalkette, sondern Strukturähnlichkeiten in unterschiedlichen Bereichen an. Die Krisen und Reorganisationsversuche der Grande Loge bzw. des Grand Orient de France ab Mitte des 18. Jahrhunderts waren offensichtlich – wie in Deutschland 11 – nicht Ursachen einer freimaurerischen Konjunktur, sondern verzögerte Reaktionen auf eine Gründungswelle von Geheimgesellschaften, die sich nicht mehr an der überlieferten freimaurerischen Tradition orientierten, welche ständisch-aristokratisch ausgerichtet waren und sowohl das Hofzeremoniell imitierten als auch die Soziabilitätsform des Akademiewesens nachbildeten. In der zweiten und dritten Wachstumsperiode der Logen zwischen 1760 und 1790 sah sich die gesellschaftlich abgeschirmte klassische Freimaurerei dem massiven Druck konkurrierender ‚illegitimer‘ Neugründungen von Geheimgesellschaften gegenüber, deren Mitglieder aus den bislang ausgeschlossenen Schichten des Handwerks und des Kleinhandels stammten. Man sprach zeitgenössisch von einer „rage de s’associer“, einer regelrechten ‚Vergesellschaftungswut‘, auch wurde das alles manchmal als sinnlose Modeerscheinung qualifiziert, die gleichsam zum guten Ton gehört habe, aber bald wieder abebben und schließlich verschwinden werde. Dagegen revoltierten die traditionellen Freimaurerlogen. Die ‚Revolution‘ des Grand Orient de France (GOF) von 1773 sollte dem Rechnung tragen, indem sie einerseits ein egalitäres, demokratisches und meritokratisches Grundprinzip zentral, d. h. direkt und 9 Vgl. ebd., S. 165 ff. 10 Hier und im folgenden alle Angaben aus Daniel Roche: Le Siècle des Lumières en province. Académies et académiciens provinciaux, 1680 – 1789. Paris 1989. 11 Zu den Schröderschen Reformen vgl. Eugen Lennhoff / Oskar Posner / Dieter A. Binder: Internationales Freimaurer-Lexikon. 2. Aufl. München 2015, die Artikel ‚Deutschland‘, ‚Reformen‘, ‚Friedrich Ludwig Schröder‘.

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ohne Einschaltung bestehender Logen in der Provinz durchsetzen, andererseits die nationale Logenstruktur derart umstrukturieren wollte, dass der soziale Druck von unten ohne Konflikte mit der Tradition kanalisiert wurde. Die durchschnittliche Verteilung der drei Stände in der Logenmitgliedschaft zeigt zunächst ein deutliches Übergewicht des dritten Standes und hier vor allem der Geschäftsbourgeoisie. Der Kreis aus Handel, Banken und Manufaktur stellte allein 36 %, der des Handwerks und des Kleinhandels 12 % der Mitgliedschaft, weitere 33 % setzten sich aus nichtadligen Amtsinhabern, Verwaltungsbeamten, Anwälten, Architekten usw. zusammen (in Paris respektive 17 %, 12 %, 36 % und 35 % ‚divers‘, d. h. Wissenschaftler, Maler, Künstler usw.). Es überrascht nicht, dass in den Handelsund Industriezentren der Anteil der neuen Bourgeoisie bis über 70 % lag. 12 Doch solche Durchschnittsverteilungen sagen zu wenig über die soziale Struktur der Logen selbst aus. Daniel Roche belegt zum einen eine durchgängig stärker werdende Selektion, eine Abwehr neuer sozialer Schichten gegen Ende des Ancien Régime. Orte mit nur einer Loge schlossen die Aufnahme mittlerer und Kleinhändler sowie von Handwerkern aus oder ließen nur Minderheiten zu, wobei die Kosten für die Mitglieder oft von selbst eine soziale Barriere bildeten und zur Resignation zwangen. Existierten hingegen mehrere Logen in einer Stadt, bildeten sich soziale Polarisierungen zwischen alten Notablen, neuer Handels- und Industriebourgeoisie, Handwerk und Kleinhandel heraus. Die Vielfalt der örtlichen Ateliers entsprach derjenigen der sozialen Schichtungen. Nur innerhalb desselben sozialen Rekrutierungsbereichs konnte das Ideal der Gleichheit und Freiheit sowie der menschlichen Werte organisiert werden. In vielen größeren Städten und Kreisen setzte sich das Modell einer Tripolarität der Logen durch: die eine ausschließlich für die alte Aristokratie und für die Spitze der Finanz, die zweite für Handel und Bourgeoisie mit beschränktem Zugang für den Kleinhandel, die dritte für die sozial homogenere Schicht des Kleinhandels, des Handwerks, der unteren Verwaltungshierarchie, kleinerer Angestellter. Faktisch fand somit eine Form sozialer Repräsentation innerhalb der Freimaurerbewegung sowohl auf lokaler Ebene als auch durch Deputation ins Zentrum des Pariser Grand Orient statt, die das Resultat sozialer Auseinandersetzungen zwischen alter Notabilität und den sich differenzierenden neuen sozialen Schichten in den Städten war. Es waren kleine, ‚private‘, synthetische, inoffizielle Gesellschaften, die sich mit allem beschäftigten und jeden Gegenstand bearbeiten konnten. Sie waren exklusiv, vom Mitgliederkreis her beschränkt und praktizier-

12 Wieder nach Roche: Siècle des Lumières (wie Anm. 10).

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ten unter einem zumeist strengen und sehr elaborierten Reglement eine Gleichheit ihrer Mitglieder, die von den Unterschieden der Ämter in der wirklichen Gesellschaft abstrahierte, auch wenn genau diese Differenz die Grundlage der exklusiven Aufnahme bildete. Es handelte sich also historisch um eine breite soziale Bewegung des langen 18. Jahrhunderts, auch wenn sie sich, etwa in Akademien und Logen, in Gründungsmythen eine erfundene geschichtliche Verankerung gab. Diese Soziabilität hatte kaum noch etwas mit den alten traditionellen Ständen zu tun, sie wollte vielmehr aus allen Eliten einen allgemeinen Stand bilden. Sie besaß einen anderen Charakter als im 17. Jahrhundert, und er veränderte sich weiter im 19. Jahrhundert. Sie war geographisch auf den west- und mitteleuropäischen Raum konzentriert, mit starken Ablegern in Nordamerika, speziell an der Ostküste. Außereuropäische Männerbünde, etwa in China, waren etwas völlig anderes, besaßen andere Grundlagen und andere gesellschaftliche funktionale Zusammenhänge, auch wenn sich die Phänomene äußerlich zu ähneln scheinen. 13 Es ließe sich bei alledem relativierend einwenden, dass Männerfreundschaften und Männerbündnisse gleichsam zum anthropologischen Grundbestand jeglicher Vergesellschaftung gehören. Das erscheint plausibel, wenn man die ethnologischen Beschreibungen relativ unkomplexer Stammesgesellschaften ansieht. Die Differenz liegt jedoch eben in den gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen solcher scheinbar allgemein menschlichen Konstanten. Und um den Aufriss dieser Funktionszusammenhänge in ihrer Differenz zu anderen historischen Gesellschaften soll es im Folgenden gehen.

2 Historiographische herrschende Meinung Die historiographische herrschende Meinung war und bleibt in dieser Frage einhellig. Was folgt, ist eine quellengestützte Kritik und Korrektur von Positionen, die der Autor anfangs selbst vertreten hat. 14 Unisono wird die Aufklärungssoziabilität der Konstitution bürgerlicher Öffentlichkeit zugeschrieben, und zwar der bürgerlichen in Opposition zur ständischen

13 Jean Chesneaux: Popular Movements and Secret Societies in China, 1840 – 1950. Stanford 1972, S. 29 – 125. 14 Vgl. etwa Fred E. Schrader: Sociétés de pensée zwischen Ancien Régime und französischer Revolution. Genese und Rezeption einer Problemstellung von Augustin Cochin, in: Francia 12 (1984), S. 571 – 608; ders.: Zur sozialen Funktion von Geheimgesellschaften im Frankreich zwischen Ancien Régime und Revolution, in: Aleida Assmann / Jan Assmann (Hg.): Schleier und Schwelle. Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit. München 1997, S. 179 – 194.

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Gesellschaft überhaupt. Aufklärungsassoziationen erscheinen so als NGOs der ersten Zivilgesellschaft eigenen Rechts und heroisch gegen Feudalität, Stände und Absolutismus gerichtet. An dieser Einschätzung ändern auch Judenfeindschaft und Demokratieferne nichts, die an diesen Assoziationen wahrnehmbar sind. Es bleibt bei jener generellen Zuschreibung. Historisch-empirisch gestützt und belastbar ist das kaum, eher eine theoretische Vorannahme im Stil bürgerliche gegen feudal-ständische Gesellschaft, Emanzipation des Bürgertums etc. 15 Zeitgenössisch herrschten zunächst reine und z. T. wilde Vermutungen über diese ‚Vergesellschaftungswut‘ vor, und das ist auch im 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts so, selbst wenn etwa Max Weber den Gegenstand auf die Liste der wichtigsten soziologischen Forschungsdesiderate setzte. 16 Bis in die 1970er Jahre blieb es bei theoretischen Spekulationen, die sich sozialhistorisch gesehen als empirisch nicht belastbar erwiesen. Erst dann kam es zu ernsthafter Arbeit an den verfügbaren Quellen, zuerst in Frankreich, dann auch in Deutschland. Sie zeigten ein sozioprofessionelles Profil der Assoziationen sowie eine Landkarte ihrer Verteilung, nicht zuletzt auch ihrer Kommunikation durch Korrespondenz und Reisetätigkeit auf. Es wurde deutlich, dass die Assoziationen prinzipiell pluriprofessionell zusammengesetzt waren, auf gleichen Rang achteten (weshalb es in Großstädten nicht nur der Mitgliederzahl wegen ca. drei nach Rang differenzierte Logen gab), von Unterschieden zumindest christlicher Konfessionen ebenso wie von denen des Standes abstrahierten. Ausschlaggebend für die Mitgliedschaft war, dass es sich um Männer der Eliten handelt, die sich durch Entscheidungsgewalt, Bildung, Einkommen und Vermögen, Macht und Einfluss auszeichneten. Es waren Funktions- und Entscheidungsträger der zweiten Linie, also nicht Fürsten und Minister, sondern deren hohe Beamte, nicht Generäle, sondern deren Offiziere, nicht Bischöfe, sondern deren Klerus, nicht die größten, aber doch die schon wichtigen Bankiers und Händler, nicht unbedingt die herausragendsten Köpfe von Wissenschaft, Forschung, Philosophie, aber doch Hoch-

15 Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg 1959; Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied 1962, streckenweise kopiert aus Ernst Manheim: Die Träger der öffentlichen Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit. Brünn u. a. 1933, wieder u.d.T.: Aufklärung und öffentliche Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. Neu bearb. von Norbert Schindler. Stuttgart-Bad Cannstatt 1979; Stefan-Ludwig Hoffmann: Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750 – 1914. Göttingen 2003 und viele andere. 16 Vgl. Max Weber: Geschäftsbericht, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19. – 22. Oktober 1910 in Frankfurt am Main, Tübingen 1911, S. 39 – 62, hier S. 52 – 60.

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schullehrer von Bedeutung. Dieses Personal war zu einem großen Teil mobil auf dem gesamteuropäischen Arbeitsmarkt präsent. Es richtete sich ausdrücklich nicht gegen Kirche und Obrigkeit, war keine Verschwörung, verfolgte keine praktischen Ziele, strickte keine Seilschaften, auch wenn diese Verdächtigung fortdauernd geäußert wurde. Trotzdem beharrte es auf seinem Assoziationsraum, der über keine rechtliche Grundlage verfügte. Über die Gründe der Assoziation herrschte bereits zeitgenössisch Erklärungsnot, sowohl bei Beobachtern, als auch bei Mitgliedern. Die ergingen sich in manchmal geheimnisvollen Allusionen. Bei den historischen und sozialwissenschaftlichen Erklärungsversuchen fällt ins Auge, dass diese Bewegung in der Regel umstandslos der Aufklärung zugeschrieben wird, auch wenn es hier und dort Zweifel gibt, was die Logen angeht. Ebenso umstandslos wird die Bewegung als bürgerlichrepublikanisch in Opposition zu ständisch-monarchisch charakterisiert, wobei es als genialer Trick des Bürgertums dargestellt wird, Teile des Adels mit ins Boot gezogen zu haben. Versuche, den egalitären Zug innerhalb der Assoziationen als zumindest protodemokratisch zu interpretieren, werden inzwischen kaum noch aufrechterhalten. Natürlich hängen diese erklärenden Einordnungsversuche jeweils am Verständnis von Aufklärung sowie davon, was man unter ‚bürgerlich‘ versteht. Doch glaubte man im Assoziationswesen die entscheidenden Momente der freien Person und ihres Willens sowie der gemeinsamen Übereinkunft zu einer freien Vergesellschaftung wiederzuerkennen, zu einer neuen bürgerlichen oder – im heutigen Politologiejargon: – Zivilgesellschaft; womit dann eine Traditionslinie zur römisch-republikanischen societas civilis zu ziehen und Kants Republikentwurf praktischerweise gleich mitgenommen wäre. 17 Tatsächlich wurde hiermit aber die Problemstellung nur verschoben, indem sie anders formuliert wurde. Im Übrigen verführte die begriff liche Gleichheit von societas civilis und bürgerlicher Gesellschaft dazu, eine historisch-semantische Identität des Begriffs zu unterstellen. 18 Und genau dies ist eine historiographische Sackgasse: Bei Cicero war societas civilis die republikanische Gesellschaft als Rechtsstaat, und so verstanden es auch wieder Kant und die nordamerikanischen Federalists. 19 Hobbes und Locke

17 Jürgen Kocka: Zivilgesellschaft in historischer Perspektive, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 16 (2003), H. 2, S. 29 – 42. 18 Die wird dann von den unterschiedlichen historischen Funktionszusammenhängen ausdifferenziert, so z. B. bei Manfred Riedel: [Art.] Gesellschaft, bürgerliche, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 719 – 800. 19 Vgl. Horst Dreier: Demokratische Repräsentation und vernünftiger Allgemeinwille. Die Theorie der amerikanischen Federalists im Vergleich mit der Staatsphilosophie

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konnten sich die neuzeitliche Gesellschaft nur als politisch vergesellschaftet vorstellen, so wie es die ständische war. Rousseau konstatierte, dass die Personen in der Tat immer schon in politische Vergesellschaftung hineingeboren werden, fragte aber nach der Legitimität dieser Form, d. h. er fragte nach der Möglichkeit eines Nexus von Gesellschaft und Staat. Allein die Frage zeigt, dass ein solcher legitimer Zusammenhang offensichtlich nicht mehr evident, noch nicht einmal mehr plausibel erschien. Die Konstruktion der volonté générale löste das Problem theoretisch und verschob es auf die Frage der Regierungsform. Rousseaus und Kants Vorschläge gingen dahin, dass jede Regierung so handeln solle, wie es das virtuelle Gesamtvolk täte. Dann konnte die Republik auch in der Form einer Monarchie daherkommen. Sieyès’ Konstruktionen – und auch die von Payne und anderen Amerikanern – sahen eine physische Darstellung des virtuellen Gesamtvolks durch Repräsentanten vor, die vom wirklichen Volk bzw. deren Wahlmännern bestimmt werden und die politische Vergesellschaftung prozessual herstellen. Sie erschien nicht mehr als positiv vorgegeben wie bei Cicero und Hotman, und bereits die Überlegungen von Hobbes und Locke zeigten, dass zumindest Zweifel an jener Identität aufgekommen waren. Dafür waren nicht allein die westeuropäischen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhundert verantwortlich. Die Zweifel und Fragen verstärkten sich im 18. Jahrhundert noch. Wie Rousseau gegen die unheilige Macht des Geldes in der Gesellschaft pestete, verdampfte in Großbritannien, besonders in der schottischen Aufklärung, der Begriff dieser Gesellschaft. Civil society wurde zeitgenössisch schlicht als commercial society verstanden und sogar definiert, und es ging jetzt darum, diese politisch als civilized society zu gestalten und gegen Dekadenz und Tyrannei, sprich: absolute Monarchie, zu verteidigen, so lehrten es Ferguson und Millar. Mit einem nächsten Schritt erreichte man dann Hegels Konstruktion der bürgerlichen Gesellschaft als Not- und Verstandesstaat. 20 Bei Georg Simmel 21 erscheint Soziabilität zwar als mit festen Spielregeln ausgestattet, die es strikt einzuhalten gelte, aber ansonsten als frei. Das mag für den Salon gelten, aber die Nichteinhaltung der Spielregeln wird realgesellschaftlich sehr wohl sanktioniert. Bezeichnenderweise kam Kants. Tübingen 1988; Robert Derathé: Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps. Paris 21970, insbes. der Anhang zur politischen Begriffsgeschichte; ebenfalls Derathés Anmerkungsapparat zum Contrat Social in: Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes. Écrits politiques. Paris 1979. 20 Vgl. Adam Ferguson: An Essay on the history of civil society. Dublin 1767; John Millar: Observations concerning the distinction of ranks in society. Dublin 1771; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hg. von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel. Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt am Main 1970, § 183, S. 340. 21 Vgl. Simmel: Soziologie der Geselligkeit, in: Verhandlungen (wie Anm. 16), S. 1 – 16.

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keine Tisch-, keine Lesegesellschaft und erst recht keine Freimaurerloge ohne eine juristische Satzung, ohne eine verbindliche Verfassung aus. Die Verhandlungen wurden schriftlich festgehalten, und die Schriftführung erzeugte ein eigenes geschichtliches Korpus, das regelmäßig erinnert wurde. Die Mitgliedschaft setzte einen bewussten Beitrittswillen voraus, über sie wurde entschieden. Es etablierte sich eine formelle Hierarchie, die von jeder Entscheidung durchlaufen wurde. Diese war für alle Mitglieder bindend. Führt man diese Momente zusammen, hat man es in der Tat nicht mit freier Geselligkeit zu tun, die einem menschlichen Naturtrieb folgte, sondern mit einer veritablen gesellschaftlichen Organisation, die netzwerkartige Strukturen zeigte und trotzdem noch vor Ort auf direkter persönlicher Interaktion basierte. Simmel vernachlässigte die einengende Verbindlichkeit, den Zwangscharakter, die neurotische Repetition, die regelrechte Pathologie dieser Assoziationen als Organisationen, denen sich die Individuen aus freiem Willen unterwarfen. Genau dies ruft Erinnerungen an Durkheims Definitionen der faits sociaux hervor. Interessanterweise spricht die klassische Soziologie mehr von Verband – „Herrschaftsverband“ bei Max Weber 22 – als von Bund oder Bündnis. Letzteres entspricht mehr Georg Simmel. Verband ist nach Art der Familie und der gesellschaftlichen Institution vorgegeben, Bündnis ein aktiver Zusammenschluss, der unter dem Vorzeichen der permanenten Erneuerung steht. Verband steht der Person, dem Individuum als objektiver Zusammenhang gegenüber, ein Bündnis erfordert individuelle Aktivität und Engagement, und zwar außerhalb des Kontexts des vorgegebenen Verbandes. Bündnis ist bei Weber offenbar ein Subsiduum für Verband. Es füllt eine Lücke subjektiv, da es um etwas geht, das die normale Vorstellungskraft übersteigt, was die Integration in bestehende Institutionen, Organisationen, Regeln welcher Art auch immer angeht. Es füllt die Lücke objektiv, da es um etwas geht, das wirklich geschehen muss, unter gesellschaftlichem und auch zeitlichem Druck oder sogar Zwang. Émile Durkheim sah keinen grundlegenden Unterschied zwischen den von ihm angeführten historischen Formen Familie, römischen, mittelalterlichen Korporationen und den sozialen Bedingungen des angehenden 20. Jahrhunderts. 23 Familienclans und städtische Gilden funktionieren wesentlich auf der Basis eines unmittelbaren persönlichen Verkehrs. Diese

22 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Jubiläumsausgabe zum 50. Jahrestag des Erscheinens der Erstausgabe. Vollständiger Nachdruck der Erstausgabe Tübingen 1922. Frankfurt am Main 1972, 2 IX 8. Zum Vereinswesen vgl. ders.: Geschäftsbericht (wie Anm. 16), S. 52 – 60. 23 Émile Durkheim: De la division du travail social. Étude sur l’organisation des sociétés supérieures. Paris 1897, Vorwort zur 2. Ausgabe.

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Kommunikation ist eine der personellen Interaktion bei physischer Präsenz. Das galt auch für die Assoziationen, Logen, Salons und Freundschaften des 18. Jahrhunderts. Für die moderne kapitalistische Marktgesellschaft bleibt dies noch zu erfinden. Genau hier ordnet Augustin Cochin die Entwicklung von der Aufklärungssoziabilität („société de pensée“) zu den ersten politischen Parteien ein. 24

3 Quellenkreuzung Es liegt nahe zu vermuten, dass die verschiedenen Bereiche, in denen die Männer der Assoziationsbewegung aktiv waren, irgendwie zusammenhingen: Mitgliedschaften, Familien- und Geschäftsverbindungen, konfessionelles Engagement, kulturelle Aktivitäten, Mäzenatentum. Um dies zu beschreiben, bietet sich eine Quellenkreuzung an. Als Fallbeispiele wurden die Regionen Bordeaux und im Vergleich dazu Hamburg / Altona anhand mehrerer Archive untersucht. 25 Beide Städte und Regionen wiesen ein breites Spektrum an Assoziationen auf: Tisch-, Lese-, Patriotische Gesellschaften, je 3 – 5 Freimaurerlogen, Musée und Museum, sowie Theater und Orchester, daneben eine Akademie. Durch Quellenkreuzung kommen auch Nichtmitgliedschaften in den Blick. Aufschlussreich sind auch EgoDokumente wie Korrespondenzen, Tagebücher, Erinnerungen, die aus der Sicht der Akteure über Motive und Erlebnis mit Bezug auf die Soziabilitätsformen und ihre Bezüge zu Familie, Kirche, Politik, Beruf berichten. Eine weitere Frage ist die nach der Rolle der Assoziationen für die Integration und gegebenenfalls Assoziation von Fremden in die Gesellschaft, in diesem Fall vor allem Kauf leuten, Männern der Finanz, gefolgt von Offizieren und Beamten. Spielt man diese Datenbank durch, kommt es zu recht eindeutigen Ergebnissen, die ein neues Licht auf die gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge dieser Aufklärungssoziabilität werfen. 26 24 Fred E. Schrader: Augustin Cochin et la République française. Traduit par MarieClaude Auger. Paris 1992. 25 Eigenprojekt „Soziabilitätsgeschichte der Aufklärung, Bordeaux-Hamburg“, seit 1986 gefördert von der Volkswagenstiftung und der Maison des Sciences de l’Homme Paris. Ausgewertet wurden neben gedruckten Quellen solche der Bibliothèque nationale, der Archives nationales Paris, der Archives municipales Bordeaux, des Geheimen Staatsarchivs Berlin-Dahlem, des Staatsarchivs Hamburg. Die durch Quellenkreuzung erstellte Datenbank erfasst ca. 6.000 Personen, 1750 – 1800. Die ausführlichen Ergebnisse werden veröffentlicht in: Fred E. Schrader: Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Bd. 1: Soziabilität und Assoziationen in Westeuropa, 18. Jh.; gefolgt von Bd. 2: Politische Repräsentation, Bd. 3: Politische Ökonomie. 26 Da es sich um bedeutende Handelsstädte handelt, waren Kauf leute und Financiers in der Aufklärungssoziabilität in Hamburg und Bordeaux im Vergleich zu anderen

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Wer waren diese Menschen? Es waren nicht alle Spitzenvertreter aller Berufe der bürgerlichen Gesellschaft, aber doch herausragende Männer unter den lokalen und regionalen Intellektuellen, Professoren, Großhändlern, Finanzleuten, Theologen, Militärs, Juristen, Verwaltungsleuten usw., alles Entscheidungsträger der praktischen, angewandten Sparten des bürgerlichen Lebens. Die Mitglieder rekrutieren sich aus der zweiten Linie der Eliten vor Ort, einschließlich der anderer Landsmannschaften. Die der ersten Linie engagierten sich als Mäzene und waren bestenfalls Mitglieder der Akademien. Wenn eine politische Karriere angestrebt wurde, etwa als Senator, dann ging das persönliche Engagement in den Assoziationen deutlich zurück. Aktive Prinzen, Fürsten, Könige waren zu exponiert, um öffentlich an Logen teilzunehmen, auch wenn einige ihnen wohlwollend und fördernd gegenüberstanden. 27 Ansonsten sind alle weiteren Bestimmungen negativ: Es ging nicht um Familienclans, um Heiratspolitik, um beruf liche Beziehungen und Geschäftsstrategien, um konfessionelle und nationale Organisation, um politische oder patriotische Zielsetzungen, vor allem nicht im Gegensatz zu anderen. Nicht besondere Projekte wurden verfolgt, sondern gemeinnützige Projekte sollten ermöglicht werden, für sie sollte eine gemeinsame Basis geschaffen werden. Soziabilität sollte die familiären, konfessionellen, beruf lichen, politischen, nationalen Besonderheiten und Gegensätze aufheben. Sie konnte sie nicht aufheben, dazu sind sie in einer arbeitsteiligen commercial society zu fundamental. Sie kann ihnen aber durch Zusammenschluss und Ausschluss eine negative Einheit geben und sie in eine zeitlich gestreckte Bewegungsform bringen. Dass die Organisation unter Gleichen selbst wieder eine innere Hierarchie aufrechterhält, wird dabei in Kauf genommen. Soziabilität umfasste prinzipiell alle Bereiche der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, nahm deren praktischen Entscheidungsträger – die, welche sich als solche gegenseitig anerkannten –, fasste sie exklusiv zusammen und ließ sie die Gesellschaft beschreiben, was grosso modo negativ ausfiel. Zumindest unter Eliten sollten jedoch in exklusiven Räumen Perspektiven aufgezeigt werden. Städten höher repräsentiert als in anderen Städten und Regionen. Diese waren aber nicht minder von der Marktgesellschaft erfasst, vgl. Zaunstöck: Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen (wie Anm. 3) und Klaus Weber: Deutsche Kauf leute im Atlantikhandel 1680 – 1830. Unternehmen und Familien in Hamburg, Cádiz und Bordeaux. München 2004; Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona. 2., erg. Aufl. Hamburg 1990. In Paris oder in Residenzstädten wie Mannheim, Kassel oder Weimar wurde die ‚Krankheit‘ der arbeitsteiligen Gesellschaft nicht minder denunziert und mit mesmerischer oder rosenkeuzerischer ‚Medizin‘ behandelt. 27 Friedrich II., Karl Wilhelm Ferdinand, Joseph II.

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Die Hypothese einer subjektiv oder objektiv „nützlichen“ Gesellschaft wird von den Quellen her verworfen. Bestenfalls ging es um Anerkennung und Hebung des sozialen Status. Die Anerkennung war wechselseitig und wurde durch das Prinzip der Kooptation ausgedrückt. Man suchte und war in „guter Gesellschaft“ und grenzte sich von „schlechter Gesellschaft“ ab 28 – dies kommt in Briefen und Erinnerungen immer wieder zum Ausdruck. Gleichzeitig wurde diese Soziabilität als Lösungsform beschrieben gegen persönliche Isolation, Stress, Beengung, als Familienersatz, obwohl auch respektable Familienväter Soziabilität als Entspannungsraum kennzeichneten. Positiv wurde durchgehend die Teilnahme an einer exklusiven intellektuellen, künstlerischen, nicht zuletzt sinnlichen Infrastruktur vermerkt (Kulinarik, stimulierende Genussmittel wie Tee, Kaffee, Tabak, Alkohol).

4 Selbstbeschreibungen Die Satzungen und Programme der Akademien und Logen objektivierten eine Selbstbeschreibung. In ihnen erschien die Gesellschaft durch Vereinzelung krank und unmenschlich geworden. Einerseits sollte an die einende Tätigkeit der idealisierten Gilden, Korporationen, Bauhütten, aber auch an die gute Gesellschaft des Adels angeknüpft werden, nur dass es jetzt, anders als im Mittelalter, um eine neue Art transprofessioneller Meritokratie ging. Andererseits bestand die ‚Arbeit‘ darin, die Grundlagen einer allgemeinen gesunden und ‚guten Gesellschaft‘ zu legen, indem die Mitglieder entsprechend sozialisiert und konditioniert wurden. Das geschah in einer merkwürdig verklausulierten Sprache, die sich an Mythologie und Theologie anlehnte. 29 Davon waren auch die Akademien durchaus nicht frei, und deren Forschungsprojekte scheinen nicht durchweg auf der Höhe der zeitgenössischen Wissenschaft gewesen zu sein. Das berühmt-berüchtigte ‚Geheimnis‘ der Logen war keines, weil man es nicht aussprechen konnte – weil man nicht wusste, wie diese kranke Gesellschaft denn nun konkret genesen sollte. Der Mesmersche ‚Magnetismus‘ entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als direkte menschliche Interaktion, die der modernen Gesellschaft fehle. Ebenso setzten die Logen auf Kommunikation unter

28 André Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssystem. Frankfurt am Main 1999. 29 Vgl. Klaus C. F. Feddersen (Hg.): Constitutionen. Statuten und Ordensregeln der Freimaurer in England, Frankreich, Deutschland und Skandinavien. Eine historische Quellenstudie aus den Constitutionen der freimaurerischen Systeme, insbesondere zur religiösen und christlichen Tradition in der Freimaurerei. Wiesbaden 1994.

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Anwesenden – die in der arbeitsteiligen Gesellschaft und ihren Institutionen sonst nicht möglich wäre. Bei den Satzungen und Programmen der Assoziationen ging es oft nicht ohne Zwanghaftigkeit und Pathos ab. Gegen die kranke bürgerliche Gesellschaft sollte eine gesunde gesetzt werden, welche die Individuen so konditionierte, dass sie sich frei und im Einklang mit der Natur und dem Willen Gottes universell entfalten können. Am explizitesten waren hier Akademien und Logen, weniger die mehr informellen Tisch- und Lesegesellschaften. Dies ist in der Historiographie bereits umfassend beschrieben worden. 30 Es lassen sich aber auch explizite, autobiographische Befunde heranziehen. In seinen Erinnerungen beschreibt etwa der Kaufmann Peter Keetman die Logenmitgliedschaft als junger Mann geradezu als Familienersatz. Andere, insbesondere junge Männer berichten von ihren Mitgliedschaften als Möglichkeit, ihre persönliche soziale Isolation zu überwinden, die sich trotz oder wegen beruf lichen Erfolgs eingestellt habe. 31 Was in den Ego-Dokumenten eher unbeholfen daherkommt, wurde von anderen Publizisten, Literaten und Philosophen, die der Bewegung zumindest nahestanden, theoretisch systematisiert, wenn auch letztlich resignierend relativiert. Georg Forster machte eine regelrechte Karriere durch die Geheimbünde, einschließlich eines alchimistischen Ausflugs zu den Rosenkreuzern in Kassel – was er als pathologisierend beschreibt –, um bei den aufgeklärten Freimaurern im Wien der josephinischen Reformen zu landen – und als Revolutionär in Mainz zu enden. 32 Zwischen Selbst- und Fremdbeobachtung zum Assoziationswesen, insbesondere zur Freimaurerei, standen im deutschen Bereich Lessing, Fichte und Krause. Sie waren mit Freimaurern befreundet, teilweise selbst Mitglieder oder ehemalige Mitglieder, wandten sich in der Sache erklärend an Außenstehende und Maurer, wurden von diesen auch zur Selbsterklärung überwiegend positiv rezipiert. Kant und Hegel waren mit dem Phänomen wohlvertraut, gleichzeitig aber Selbstdenker genug, um auf die Organisation, nicht aber auf eigene Tischgesellschaften zu verzichten. Hegels Allgemeiner Stand erinnert an Beschreibungen der zivilen Sozietät. 33

30 Insbesondere bei Daniel Roche: Le Siècle des Lumières en province (wie Anm. 10) und ders.: Les Républicains des Lettres. Gens de culture et Lumières au XVIIIe siècle. Paris 1988. 31 Vgl. Peter Keetman: Lebenserinnerungen: Hamburger Wirtschafts-Chronik 1 (1952), S. 129 – 229. 32 Vgl. Gerhard Steiner: Freimaurer und Rosenkreuzer – Georg Forsters Weg durch Geheimbünde. Neue Forschungsergebnisse auf Grund bisher unbekannter Archivalien. 2., erw. Aufl. Berlin 1987. 33 Vgl. Hegel: Grundlinien (wie Anm. 20), § 250, S. 393.

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Lessing benutzte 1778/1780 einen literarischen Kunstgriff, indem er dem Publikum eine Serie von Dialogen zwischen zwei Freunden vorführte. 34 Falk ist Freimaurer, der Ernst auf dessen Befragen die Maurerei erklärt. Dieser wird daraufhin zum Logenmitglied und diskutiert dann seine neuen Erfahrungen kritisch mit Falk. Fluchtpunkt der Gespräche ist die ‚bürgerliche Gesellschaft‘ mit ihren ‚Staatsformen‘. Sie wird als zutiefst geteilt und notwendigerweise widersprüchlich gespalten dargestellt: in Nationen, Religionen, Staaten, Berufsstände, Gesellschaftsklassen, Bildungsstände. Die Maurerei arbeite komplementär zu Bürgerlicher Gesellschaft und Staat daran, eine umfassende, übergreifende Einheit der Menschen als Menschen herzustellen, zunächst als Patrioten, aber darüber hinaus beseelt vom Geist des Weltbürgertums, zusammengesetzt aus Staaten unter gleichen Gesetzen. Bei Fichte heißt es um 1800 entsprechend, Zweck des Freimaurerbundes sei es, „die Nachteile der Bildungsweise in der größeren Gesellschaft wieder aufzuheben und die einseitige Bildung für den besonderen Stand in die gemeine menschliche Bildung zu verschmelzen“. Dabei sei der „Weltbürgersinn“ Gedanke oder Geist der Vaterlandsliebe. 35 Karl Krause führte dies 1814 zum Projekt eines universalen „Menschheitsbundes“ zusammen. 36 Schiller zielte 1795 nicht auf Soziabilität, sondern auf das Kunstschöne ab, wenn er seine zeitgenössische Gesellschaft kritisierte. 37 Diese Kritik hatte es in sich: Das Individuum entwickele nur noch einseitige Fähigkeiten – die dann aber bis zur Perfektion –, sei fragmentarischer Teil eines überdimensionalen Uhrwerks, seine Arbeit sei seelenlos. Der Staat selbst sei Teil („Partei“) der Gesellschaftsmaschine. Von ihm sei also keine Rettung, kein Ausweg zu erwarten. Ziel blieb für Schiller die Wiederherstellung eines umfassenden, ästhetisch voll entwickelten, enzyklopädisch gebildeten Individuums. Bei Schleiermacher sah die Gesellschaftskritik 1799 ähnlich aus. Der Mensch sei durch Gesellschaft samt Staat auseinandergerissen als Geschäftsmann, Verwaltungsmann. Ziel müsse es sein, die aus der allseitigen Arbeitsteilung resultierende Depravierung aufzuheben: Durch „freie, durch keinen äußeren Zweck gebundene Geselligkeit“, „von allen gebilde-

34 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk. Gespräche für Freymäurer von G. E. Lessing. Wolfenbüttel 1778. 35 Johann Gottlieb Fichte: Philosophie der Maurerei. Briefe an Konstant. Hg. von Thomas Zimmermann. Mundering 2017. 36 Karl Christian Friedrich Krause: Der Menschheitbund. Nebst Anhang und Nachträgen. Berlin 1900. 37 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Hg. von Karl-Maria Guth. 2. Aufl. Berlin 2016, insbesondere sechster Brief.

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ten Menschen als eins ihrer ersten und edelsten Bedürfnisse laut gefordert“, ergebe sich „allseitige wechselseitige Bildung“. 38 Die Perspektiven und die Herangehensweisen der Autoren unterschieden sich. Bei Kant ging es – ein gutes Mahl mit gutem Wein unter Freunden 39 – um eine gesellige Geselligkeit gegen die ungesellige der Gesellschaft, bei Lessing um die Verbesserung und Heilung der Gesellschaft durch Soziabilität, bei Schiller um die Heilung des durch Staat und Gesellschaft verarmten Individuums durch Kunst, bei Schleiermacher um einen Lebensraum jenseits von Familie und Beruf, sei letzterer in Wirtschaft oder staatlicher Administration verankert. Nach den Erfahrungen mit dem jakobinischen Terrorregime setzte niemand mehr auf eine Politik, die auf den als roh und wild wahrgenommenen Volksmassen aufbaute, auch nicht auf eine als barbarisch denunzierte Politik des Adels und der Besitzaristokratie, die beide keine Bildung mehr generierten. Auf eine bessere oder verbessernde Politik wurde gar nicht mehr gehofft, da sie derselben zerfallenden Gesellschaft angehörte und sogar als deren treibende Ursache angesehen wurde. Es ging mit anderen Worten nicht um einen Gegensatz zwischen bürgerlicher Gesellschaft und wie auch immer politisch verfasstem Staat, sondern beide wurden als schlechte arbeitsteilige Sphären begriffen – und verworfen. Jenseits von Familie, Beruf, Vermögen, Einkommen, Kirche, Politik und Staat also sollte in freier, autonomer Gemeinschaft eines außersozialen Raums das Individuum mit seinen einseitig ausgebildeten – also: missgebildeten – Eigenschaften wieder zum umfassenden Menschen werden. 40 Das war kein konstituierender Akt, sondern ein andauernder Prozess. Durch Soziabilität wurde die Bürgerliche Gesellschaft nicht verändert; das vermochte bereits Politik nicht, die deren integraler Teil war. Immerhin wurde sie aber für das Individuum durch Soziabilität erträglicher – bevor es wieder in sie zurückmusste, zu Familie, Arbeit, Geschäft, Verwaltung, Politik, Kirche. Außersoziale Soziabilität war für die defizitäre Gesellschaft ein Supplement, für das gebildete Individuum hingegen komplementär. Hier versteht man, warum Hegel auf das Projekt eines allgemeinen Standes setzte, den es tatsächlich zu seiner Zeit gar nicht gab und auch später nie geben sollte. Es ging um den Bildungsbürger mit enzyklopädischer

38 Friedrich Schleiermacher: Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe. Bd. 1. Frankfurt am Main 2009, S. 15 f. – Habermas’ „herrschaftsfreier Diskurs“ kündigt sich hier an. 39 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Berlinische Monatsschrift (November 1784), S. 385 – 411. 40 Hier kündigt sich gegen den „Fachidiotismus“ das „allseitig entwickelte Individuum“ an, vgl. Karl Marx: Das Elend der Philosophie, in: MEW. Bd. 4: Mai 1846 – März 1848. Berlin 1977, S. 63 – 182, hier: S. 157.

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Orientierung und Haltung, der forschte und wusste, was die Gesellschaft noch zusammenhalten kann, der dadurch nicht ein besonderes, privates, sondern das allgemeine Interesse der Gesellschaft vertreten konnte und sollte – weil es niemand anderer tat. Daraus machte Hegel in der Tat einen Berufsstand, den intellektuellen Beamten, letztlich den deutschen Universitätsprofessor, dem unter staatlicher Protektion besoldete Freiheit der Lehre und Forschung garantiert werden sollte. Das löste keine Probleme, gab den Beamten aber immerhin einen Gegenstand, der bearbeitet werden konnte. Tatsächlich ist das Berufsbeamtentum eine historische Besonderheit und Ausnahme des deutschen politischen Raums geblieben. Typischerweise gingen diese Theorien und Reflexionen über Geselligkeit fast durchgehend von der Vorgegebenheit des Menschen als eines Individuums aus, das sich erst einmal vergesellschaften müsste; statt umgekehrt ebenso das Individuum, das vermeintlich natürliche Element, bereits als ein Produkt einer bestimmten, historischen Vergesellschaftung zu verstehen, das sich nun noch einmal gleichsam synthetisch vergesellschaften kann, will oder muss. 41 Erst wenn man eine wie auch immer geartete und konstituierte Gesellschaft als Ausgangspunkt der Orientierung nimmt, gerät die Vergesellschaftung und damit auch Geselligkeit selbst in den Blick. Konsequenterweise war es dann erst die Soziologie der Industriegesellschaft, welche die Geselligkeit als eigenen Gegenstand entdeckte und fokussierte, ohne ihn gleich umstandslos als natürlich zu idealisieren oder umgekehrt als Teufelswerk zu dämonisieren. Mit solcher Kategorisierung hält sie sich nicht auf, weil das für sie keinen Sinn ergibt.

5 Gesamtbild Der Anonymität der Marktgesellschaft, der Vereinzelung der Personen, der Fachidiotie der arbeitsteiligen Spezialisierung, alles unter Wegfall von Gilden und Korporationen, der Auf lösung der Selbstrepräsentation der societas civilis, aber auch dem leblosen Mechanismus der Bürokratie, der offensichtlichen Unfähigkeit der Politik, eine Einheit der Gesellschaft sichtbar her- und darzustellen, dieser allgemeinen schweren ‚Krankheit‘ der Gesamtheit der bürgerlichen Gesellschaft setzte das Konzept der Aufklärungsassoziationen ein anderes praktisches Modell entgegen: Zum einen die Kommunikation in Kreisen überschaubarer persönlicher Interaktion unter Teilnehmern, welche aus den Eliten möglichst aller professioneller

41 Vgl. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, Einleitung.

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Funktionsbereiche der Gesellschaft und aller Generationen zusammengestellt wurden; zum anderen die exklusive und strikte Organisation dieser persönlichen Interaktion zwischen Anwesenden durch Satzung, Regeln, Riten, Mythen, Selbsthistoriographie, Buch- und Schriftführung vor Ort, aber auch durch schriftliche und persönliche Kommunikation mit Assoziationen außerhalb. Durch die Repräsentation der Eliten in persönlicher Interaktion unter Anwesenden wurde der gesellschaftliche Zusammenhang auf lokaler und regionaler Ebene unmittelbar anschaubar, geradezu physisch greifbar. Durch Korrespondenz, Delegation und Reisen wurde diese konkrete Darstellung über die spezielle Assoziation, die Region, ja über die Landesgrenzen hinaus auf die gesamteuropäische Gesellschaft der Aufklärung erweitert. Damit wurden die Landkarten neu gezeichnet. Das Desiderat der Einheit der societas civilis war anschaulich als Netzwerk darstellbar und als persönlicher Kontakt zwischen Menschen erfahrbar, die sich nicht umsonst euphorisch als ‚Brüder‘ bezeichneten und auch verstanden: Die soziale Anonymität wurde in Kriterien von Familie überführt, die konfessionelle Differenzierung nicht weniger euphorisch in einer monotheistischen oder zumindest christlichen Gesamtreligion aufgehoben, die Landsmannschaft in einer zumindest westeuropäischen Gesamtrepublik. Und selbst wenn damit die Gesellschaft, Bürokratie, Politik faktisch gar nicht verändert wurden, waren sie doch in ihrem Gesamtzusammenhang persönlich erfahrbar, lesbar gemacht worden, was zumindest so etwas wie eine Reformperspektive aufscheinen ließ. Wesentlich erscheinen hier die zwei Momente der Interaktion unter Anwesenden und der Organisation. In den folgenden Revolutionen, aber auch in den sozialen Bewegungen war die Präsenz der Handelnden ausschlaggebend. Nur in der Aktion wurde ‚das Volk‘ sichtbar und erfahrbar, ansonsten trat es nicht in Erscheinung. 42 Deswegen wurde Organisation wichtig. Nur durch sie wurde Interaktion von einer Serie kontingenter Zufallsbegegnungen zu einer stabilen Kommunikation aufgebaut. Das erklärt, warum Akademien, Logen, Gesellschaften derart strikt auf die Einhaltung ihres jeweiligen repetitiven Regelwerks insistierten. Wer dieses nicht respektierte oder gar lächerlich machte, wurde ebenso umstandslos ausgeschlossen wie jemand, der durch Blasphemie oder obrigkeitswidrige Ideen auf fiel. Es wird hierbei deutlich, warum die erste Reihe der Eliten nicht in diesen Assoziationen vertreten war, bestenfalls in den Akademien. Zum

42 Pierre-Joseph Proudhon: Le représentant du peuple. Paris 1848, nach Pierre Rosanvallon: Le Peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France. Paris 1998, S. 51 – 53.

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einen mag eine Rolle gespielt haben, dass diese Männer sich ihrer Funktion wegen nicht exponieren wollten oder konnten, selbst wenn sie das Unternehmen selbst befürworteten und protegierten. Zum anderen waren sie derart prominent in Politik, Familie und Kirche eingebunden, dass sie, selbst wenn sie das Elend der neuen bürgerlichen Gesellschaft wahrnahmen, keinen Ersatz in Anspruch nehmen konnten und wollten. Auch fand auf familiärer, politischer und konfessioneller Ebene zwischen diesen Eliten hinreichend direkte Interaktion statt, so dass hier kein weiterer Bedarf bestand und sie in Konflikt mit ihren gesellschaftlichen Funktionsanforderungen gerieten. Es wird ebenso deutlich, warum sich die Assoziationen in ihrer Mitgliederzahl beschränkten und durch parallele Neugründungen niedrig hielten. Denn anders war das Prinzip der Interaktion zwischen Anwesenden nicht aufrecht zu erhalten. Statt einer unbegrenzten Erweiterung der Mitgliederzahl einer einigen Gesellschaft wurden die Teilnehmer lokal oder regional auf mehrere Gesellschaften verteilt, die dann zusätzlich miteinander verkehrten, meist durch Besucher oder Mäzenatentum. Nicht zuletzt grenzte sich diese Gesellschaft der Gesellschaften sozial nach unten ab. Handwerker, Ladenbesitzer, Kleinkauf leute, gar Unselbständige, also Arbeiter und Bedienstete, wurden nicht nur nicht zugelassen, sondern ihnen wurde sogar die Selbstorganisation verwehrt. Es lässt sich nachvollziehen, dass die Assoziationen ihre Exklusivität wahren mussten, wenn ihre Mitglieder als Brüder miteinander verkehren wollten. Nur auf derselben sozialen Ebene kann man sich wechselseitig als Gleicher anerkennen. Der Klassenkampf gegen die ‚wilden‘, ungeregelten Gesellschaften und Logen versuchte nur, das Konzept gleichsam rein zu halten und nicht beliebig verwässern zu lassen. In Protestschreiben wurde dies als Gefahr für das Repräsentationsmodell angeprangert. Tatsächlich wurde in modischen Imitationen mancher Unsinn betrieben und beklagt. Dennoch zeigen diese Auseinandersetzungen, dass offensichtlich ein Bedürfnis nach Vereinen als Organisationen persönlicher Interaktion auch außerhalb der Eliten besteht. Letztlich wird sich das Modell auf allen Ebenen, in allen Schichten der Gesellschaft durchsetzen, nur eben in mehr oder weniger säkularisierten Formen.

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Eine Gemeinschaft „sympathisierender Geister“ Lessing – Mendelssohn – Nicolai 1 System und Lebenswelt Das 18. Jahrhundert gilt als jene Phase der Menschheitsgeschichte, in der sich das Prinzip der sozialen Differenzierung fundamental gewandelt hat. Seit Luhmann ist es üblich, vom Übergang einer primär stratifikatorischen zu einer primär funktionalen Form der Gesellschaftsdifferenzierung zu sprechen. Das sind soziologische Kategorien, die Gesellschaft als System von Kommunikationen denken, aber keine Vorstellung davon vermitteln, wie es war, diesen Prozess als Zeitgenosse zu erleben. Diese Wirklichkeit rückt in den Blick, wenn man nach dem lebensweltlichen Sinnhorizont fragt, in dem das einzelmenschliche Leben seine selbstverständlichen Orientierungen findet. Aus der „Teilnehmerperspektive handelnder Subjekte“ 1 erscheint der soziale Wandel als Wandel sozialer Beziehungs- und Lebenslaufmuster. Es liegt nahe, ihn als Erosion gemeinschaftlicher und Etablierung gesellschaftlicher Lebensformen zu begreifen, d. h. als Auf lösung einer Gesellschaft, in der sich der Einzelne primär als Angehöriger einer sozialen Gruppe versteht, zu einer Gesellschaft, die sich interaktionsfrei organisiert, das individuelle Selbstverständnis aber nicht mehr im selben Maße stabilisiert. 2 Man kann das – wie Luhmann – als Wandel der Individualitätssemantik diskutieren. 3 Vollends verständlich wird dieser Prozess aber erst, wenn man ihn mediengeschichtlich rekonstruiert, d. h. nach den Möglichkeiten und Notwendigkeiten fragt, die der Wandel der medialen Kommunikationsformen dem einzel- und zwischenmenschlichen Leben eröffnet und auferlegt. Tatsächlich hat Luhmann selbst einen solchen Zusammenhang zwischen Medienevolution und gesellschaftlicher Differenzierung ausdrücklich hergestellt: „Kommunikationstechniken haben die Welt mindestens zweimal revolutioniert: durch Erfindung der Schrift und durch 1 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt am Main 1995, S. 179. 2 Vgl. Alois Hahn / Matthias Hoffmann: Gemeinschaft und Gesellschaft, in: Christian Bermes / Ulrich Dierse (Hg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Hamburg 2010, S. 106 – 115. 3 Vgl. Niklas Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt am Main 1989, S. 149 – 258.

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Erfindung des Buchdrucks.“ 4 Die Korrelation zwischen Mediengeschichte und kulturellem Wandel, die hier nur grob umrissen ist, wird sinnfällig, wenn man sie exemplarisch betrachtet und dabei zwischen makrohistorisch-strukturgeschichtlicher und mikrohistorischer Perspektive zu vermitteln versucht. 5 Ich möchte die neuartige Form der Vergesellschaftung, die das 18. Jahrhundert zu einer Schwellenphase der Kulturgeschichte werden ließ, anhand der Lebensläufe und des Freundschaftsbundes dreier junger Männer anschaulich machen, die einander Mitte der 1750er Jahre in Berlin kennenlernen: Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai. Der Forschung ist diese Konstellation der Berliner Aufklärung bestens bekannt; 6 ich stelle sie in einen Kontext, der ihre kulturgeschichtliche Singularität und Signifikanz auf neue Weise sichtbar macht. Mein Beitrag zur Debatte um die politischen und intellektuellen Allianzen im Jahrhundert der Aufklärung ist also am Rande des Themenspektrums angesiedelt, das von den Herausgebern in der Einleitung umrissen wird. Bündnisse werden dort als „strategische und zeitlich befristete Zusammenschlüsse“ bestimmt, deren auffällige Konjunktur es zu erklären gilt. Randständig ist mein Beitrag, weil er zunächst einer informellen Grauzone der Bündnisbildung gewidmet ist: Die Begegnung zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai stand nicht im Zeichen eines strategischen Zweckes. Wenn er gleichwohl ins Zentrum des skizzierten Fragenkomplexes zielt,

4 Niklas Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie, in: Hans-Ulrich Gumbrecht / Ursula Link-Heer (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt am Main 1985, S. 11 – 33, hier S. 20 f.; ausführlicher: Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997, Kap. 2. 5 Ich knüpfe damit an ein Projekt an, das ich im Rahmen der Diskussion des IZEA um „Kulturmuster der Aufklärung“ vorgestellt habe. Vgl. Verf.: Aufklärung und Briefkultur. Wie das Herz sprechen lernt, wenn es zu schreiben beginnt, in: Das 18. Jahrhundert 35/2 (2011), S. 154 – 171. 6 Vgl. Hans-Gert Roloff: „Wir, Moses und ich“ oder „Der Buchhändler und der Jude“. Beobachtungen zur Freundschaft zwischen Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai, in: Bodo Plachta (Hg.): Literarische Zusammenarbeit. Tübingen 2001, S. 25 – 47; Horst Möller: Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn. Zwei Repräsentanten der Berliner Aufklärung, in: Menora 16 (2006), S. 97 – 114; Vera Forester: Lessing und Moses Mendelssohn. Geschichte einer Freundschaft. Darmstadt 2010; Cord-Friedrich Berghahn: Das Wagnis der Freundschaft. Nicolai, Lessing und Mendelssohn in Berlin, in: Stefanie Stockhorst / Knut Kiesant / Hans-Gert Roloff (Hg.): Friedrich Nicolai (1733 – 1811). Berlin 2011, S. 271 – 284; Conrad Wiedemann: Ein Denkmal für Lessing und Moses Mendelssohn, in: Heinz Ludwig Arnold / Cord-Friedrich Berghahn (Hg.): Text + Kritik Sonderband: Moses Mendelssohn. München 2011, S. 169 – 179; Julius H. Schoeps: Das Dreigestirn der Berliner Aufklärung. Eine Skizze der Freundschaftsbeziehungen zwischen Moses Mendelssohn, Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Nicolai, in: Stefanie Stockhorst (Hg.): Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung. Göttingen 2013, S. 275 – 295.

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dann deshalb, weil er nach den epochenspezifischen Erfahrungen fragt, die verständlich machen, wieso „eine unaggressive Emanzipation von familiärständisch-konfessioneller Verhaltenssteuerung“ überhaupt zu einer Leitvorstellung der Lebensführung werden konnte. Auch wenn die Funktion des Bündnisdiskurses tatsächlich darin bestand, das „persönliche Streben nach Glück“ zu legitimieren, bleibt die Frage zu klären, was Zeitgenossen wie Lessing, Mendelssohn und Nicolai dazu veranlasste, dieses Glück jenseits der Bindungen zu suchen, in die sie hineingeboren wurden. Die Spur, die ich verfolge, führt ins Feld der Freundschaftskultur und ihrer engen Verknüpfung mit der Mediengeschichte der Aufklärung und des Kulturkonsums. 7 In Lessing, Mendelssohn und Nicolai fanden sich drei passionierte Leser, und wenn es ein „persönliches Streben“ gab, das dieses „Dreigestirn der Berliner Aufklärung“ (Schoeps) miteinander verband, dann war es das Streben nach Erkenntnis: Ihr persönliches Glück fanden sie im Umgang mit Büchern und im geselligen Austausch mit Lesern, die sich die Freiheit nahmen, ihr Curriculum selbst zu wählen und sich von den Konventionen der etablierten Gelehrtenkultur nicht beeindrucken zu lassen. In diesem Sinne waren sie frühe Exponenten jener „goldenen Epoche der Autodidakten“, die Heinrich Bosse in seinen Arbeiten zur „Bildungsrevolution“ des 18. Jahrhunderts so eindrucksvoll porträtiert hat. 8 Wenn es ein Bündnis gab, dem diese Autodidakten verpflichtet waren, dann war es allererst das Bündnis mit der kulturellen Überlieferung Europas und den europäischen Literaturen, deren Aneignung sie mit der ganzen Emphase jugendlicher Neugier betrieben und in der sie ihre verbindlichen intellektuellen Orientierungen fanden.

2 Homo duplex Ich beginne im Jahr 1778. In seinen Gesprächen für Freimäurer, den sozialphilosophischen Dialogen zwischen Ernst und Falk, 9 hat sich Lessing das Problem der Vergesellschaftung selbst zum Thema gemacht. Die

7 Vgl. Michael North: Genuss und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung. Köln 2003. Norths Fazit lautet: „Unsere Betrachtung des Kulturkonsums im 18. Jahrhundert hat gezeigt, daß [. . . ] die Partizipation an der internationalen Kulturkonsumgemeinschaft Gruppenidentitäten schuf.“ (S. 219). 8 Heinrich Bosse: Bildungsrevolution 1770 – 1830. Hg. mit einem Gespräch v. Nacim Ghanbari. Heidelberg 2012. Das Zitat nach Carlos Spoerhase: Der kurze Sommer der Autodidakten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 03. 2013, S. 26. 9 Ich zitiere Lessings Werke nach der Ausgabe Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985 – 2003 und weise Zitate mit der Sigle „B“ und Angabe von Band und Seitenzahl im fortlaufenden Text nach (hier B 10, S. 11 – 72).

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„bürgerliche Gesellschaft“, so seine Diagnose, „kann die Menschen nicht vereinigen, ohne sie zu trennen; nicht trennen, ohne Klüfte zwischen ihnen zu befestigen, ohne Scheidemauern durch sie hin zu ziehen“ (B 10, S. 30). Was Menschen einer Gruppe miteinander verbindet, trennt sie von jenen, die einer anderen Gruppe angehören. Das gilt nicht nur in politischer, sondern auch in religiöser und sozialer Hinsicht: Mit dem Prozess der Vergesellschaftung entstehen verschiedene Völker und Staaten, verschiedene Religionen und Konfessionen, verschiedene Stände oder Klassen. Die biologisch argumentierende Moralpsychologie hat Lessings Überlegungen nachdrücklich bestätigt. Weil das menschliche Moralempfinden „groupish“ 10 ist, ist der Prozess der Gruppenbildung besonders konfliktträchtig: „Prosoziale Aktivität“, so der Befund Norbert Bischofs, „ist [. . . ] immer mehr oder weniger exklusiv.“ 11 Sie diskriminiert zwischen der je eigenen Wir-Gruppe, an die man sich gebunden fühlt, und den Anderen, denen man, wenn nicht misstrauisch (oder gar feindselig), so doch zumindest gleichgültig gegenübersteht. Gruppenzugehörigkeit wird durch Vertrautheit gestiftet: Vertraut sind uns primär solche Menschen, mit denen wir Umgang haben, aber darüber hinaus auch all jene, mit denen wir uns identifizieren können. Als besonders wirkungsmächtiger „Gestaltfaktor der Identifikation“ 12 kann – neben „räumlicher Nähe“ und „gemeinsamem Schicksal“ – der Gestaltfaktor „Gleichheit“ gelten, insbesondere jene Gleichheit, die kulturell vermittelt ist: Gleichheit der Sprache, Gleichheit des Benehmens (d. h. des Brauchtums und der Sitten), Gleichheit der Werte, Gleichheit des Glaubens (und der diesen Glauben begründenden Mythen). Damit ist das Spektrum derjenigen Merkmale benannt, die – über die bloße Verwandtschaft hinaus – seit jeher jene Zusammengehörigkeit von Gruppen gestiftet haben, die in Lessings Freimaurerdialogen in ihrer Exklusivität, d. h. in ihrem konfliktträchtigen Potential, zum Problem wird. Weil es zur Vergesellschaftung selbst keine Alternative gibt, kann die Überwindung der von ihr bedingten Trennungen nicht darin bestehen, hinter sie zurück, sondern nur darin, über sie hinaus zu gehen. Am Ursprung von Lessings Sozialphilosophie stehen also die „unvermeidlichen Übel“ (B 10, S. 36) der „bürgerliche[n] Gesellschaft des Menschen überhaupt“ (B 10, S. 24) – die vorurteilsbehaftete Feindseligkeit gegenüber anderen Gruppen, die durch die Identifikation mit der eigenen Gruppe in die Welt kommt.

10 Vgl. Matt Ridley: The Origins of Virtue. Human Instincts and the Evolution of Cooperation. London 1996, Kap. 9. 11 Norbert Bischof: Moral. Ihre Natur, ihre Dynamik und ihr Schatten. Wien / Köln / Weimar 2012, S. 393. 12 Vgl. ebd., S. 397 f.

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„Recht sehr zu wünschen“ wäre es deshalb, so Falks emphatisches Fazit, „daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären, und genau wüßten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhöret“. „Recht sehr zu wünschen“ wäre es, „daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die dem Vorurteile ihrer angebornen Religion nicht unterlägen, nicht glaubten, daß alles notwendig gut und wahr sein müsse, was sie für gut und wahr erkennen.“ „Recht sehr zu wünschen“ wäre es schließlich, „daß es in jedem Staate Männer geben möchte, welche bürgerliche Hoheit nicht blendet, und bürgerliche Geringfügigkeit nicht eckelt; in deren Gesellschaft der Hohe sich gern herabläßt, und der Geringe sich dreist erhebet“. (B 10, S. 33) – „Recht sehr zu wünschen!“ lautet Ernsts Echo, das Falks Worten den Charakter einer gemeinsamen Verpflichtung verleiht. (B 10, ebd.). Es versteht sich von selbst, dass Lessings Vision nicht die bestehenden Freimaurerlogen beschreibt, sondern das Ideal einer Lebenspraxis formuliert, die als solche nicht die Gestalt von „Satzungen und Formeln“ 13 annehmen, sondern nur handelnd verwirklicht und habituell geprägt werden kann. Das Gebot, eine Lebenspraxis zu kultivieren, die sich von der exklusiven Bindung an die Normen und Werte der eigenen Herkunftsgruppe emanzipiert hat, ist nicht selbst ein bürgerliches Gebot; es kann nicht dekretiert werden, denn es liegt als „Opus supererogatum“ „außer den Grenzen aller und jeder Staaten“ (B 10, S. 32). Jan Assmann hat dieses „Opus supererogatum“, von dem zu wünschen wäre, dass sich ihm „die Weisesten und Besten eines jeden Staats [. . . ] freiwillig unterzögen“ (B 10, ebd.), als menschheitsgeschichtliches Projekt ausgewiesen, das dem Einzelnen abverlangt, ein „homo duplex“ 14 zu werden – einer, der nicht aufhören kann, in gemeinschaftlichen Bindungen zu leben, ohne sich doch durch die Lebensorientierungen der Gemeinschaft, in die er hineingeboren wurde, auf exklusive Weise binden zu lassen. Lessings Gespräche für Freimäurer versuchen die Erfahrung einer gemeinsamen Menschennatur, die auch das christliche Gebot der Nächstenliebe begründet, auf weltbürgerlichem Niveau zu denken; 15 sie formulieren ein

13 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders.: Werkausgabe. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 11: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Frankfurt am Main 1968, S. 53 – 61, hier S. 54. 14 Vgl. Jan Assman: Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung. Berlin 2010, S. 196 – 202. 15 Vgl. Gisbert Ter-Nedden: Juden, die keine Juden sind. Lessings Modernisierungen des Samariter-Gleichnisses. Die Juden, Nathan der Weise und Der fromme Samariter nach der Erfindung des Herrn Jesu Christi, in: Dirk Niefanger / Gunnar Och / Birka Siwczyk (Hg.): Lessing und das Judentum. Lektüren, Dialoge, Kontroversen im 18. und 19. Jahrhundert. Hildesheim u. a. 2015, S. 21 – 52, hier S. 42.

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Selbstverständnis, dem zufolge der Einzelne nicht nur „ein solcher“, sondern immer auch „ein bloßer Mensch“ ist (B 10, S. 28). Die Freimaurerei, die Lessing im Sinn hat, „beruht [. . . ] nicht auf äußerlichen Verbindungen, die so leicht in bürgerliche Anordnungen ausarten, sondern auf dem gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister“ (B 10, S. 57) – und unterscheidet sich deshalb von den Freimaurerlogen wie der Glaube von der Kirche (vgl. B 10, S. 53). Geister, die miteinander sympathisieren, nehmen einander als Personen 16 wahr und werden – so Falks Formulierung – „vermöge ihrer gleichen Natur gegen einander angezogen“ (B 10, S. 28). Man wird Lessings Freimaurergespräche als Vergegenwärtigung einer solchen sympathisierenden Umgangs verstehen dürfen: „Nichts“, so heißt es programmatisch, „geht über das laut denken mit einem Freunde.“ (B 10, S. 14) Das Gespräch stiftet eine persönliche Vertrautheit und Nähe, die als solche keines formellen Bundes oder Bündnisses bedarf: keines Initiationsritus, keines Eides, keines rechtsförmigen Vertrages, wie sie für „bürgerliche Anordnungen“ charakteristisch sind. 17 Und sie kann auch darauf verzichten, eine Gruppenidentität zu beschwören, wie sie etwa die Mitglieder des Göttinger Hains durch eine Art Transsubstantiationserlebnis zu gewinnen suchten. 18 Es wäre deshalb missverständlich, Lessings Apologie der Sympathie und des „symphilosophierenden“ Umgangs 19 einander unwillkürlich zugetaner Geister als Vision eines alternativen Gesellschaftsmodells zu begreifen; es ist radikal individualistisch gedacht und versteht sich als ein mit der bürgerlichen Gesellschaft gleichursprünglicher Widerpart zu deren dysfunktionalen Folgen. Freundschaft ist nicht die wahre Form der Vergesellschaftung, sondern deren notwendiges Komplement. Was Lessing die Freunde Ernst und Falk im Jahre 1778 laut denken lässt, kann vermutlich nur jemand schreiben, der die Erfahrung, von der hier die Rede ist, selbst gemacht hat. Lessing ist einer der prominentesten Intellektuellen des 18. Jahrhunderts, die sich von der Biographie, die ihnen ihrer Herkunft gemäß zugedacht war, gelöst haben; in Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai findet er zwei weitere Mitglieder jener weltbürgerlichen Gemeinschaft sympathisierender Geister, deren Gespräche im

16 Vgl. Robert Spaemann: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘. Stuttgart 1996. 17 Vgl. Martin Papenheim: Freunde oder Brüder? Die Semantik sozialer Netze im 18. Jahrhundert, in: Natalie Binczek / Georg Stanitzek (Hg.): Strong ties / Weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie. Heidelberg 2010, S. 39 – 53, v. a. S. 46. 18 Vgl. Erika Thomalla: Die Erfindung des Dichterbundes. Die Medienpraktiken des Göttinger Hains. Göttingen 2018, Kap. 1, hier v. a. S. 37. 19 Zum treffenden Vergleich dieser Konstellation mit den Gesprächs- und Lebenszirkeln der Romantiker vgl. Berghahn: Wagnis der Freundschaft (wie Anm. 6), S. 284.

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Briefwechsel über das Trauerspiel fortgeführt wurden und schließlich in das publizistische Projekt der Briefe, die neueste Literatur betreffend mündeten. Wie diese drei jungen Männer im Berlin der 1750er Jahre gegen alle Wahrscheinlichkeit, aber doch auch nicht zufällig zueinander fanden, ist Thema meines Beitrags.

3 Berlin 1755 In einer kurzen autobiographischen Schrift hat Friedrich Nicolai die lebensgeschichtliche Phase, in der er, Lessing und Mendelssohn einander begegnet sind, und die Vergleichbarkeit ihrer sozialen Lage eindrücklich dargestellt: Diese drey eng verbundene Freunde [also: Lessing, Mendelssohn und er selbst], welche wöchentlich wenigstens zwey- oder dreymal zusammenkamen, waren sich darin gleich, dass sie in der gelehrten Welt gar keinen Stand, keine Absichten, keine Verbindungen, keine Aussichten auf Beförderung hatten oder suchten, und selbst in der bürgerlichen Welt ohne alle Verbindung oder Bedeutung waren, auch keine verlangten. Moses und Nicolai waren junge Kauf leute, beide noch nicht in eigner Haushaltung. Lessing hatte zwar auf Universitäten studirt, aber gar nicht auf die gewöhnliche Art, oder zu einer von den gewöhnlichen Zwecken und hatte auch in Berlin keine andere Absicht als seine Wissbegierde zu befriedigen. Ihre Studien und ihre Unterhaltungen hatte nichts als bloss die Erweiterung ihrer Kenntnisse und die Schärfung ihrer Beurtheilungskraft zum Zwecke. Desto weniger galt bei ihnen allen irgend eine Autorität oder anderweitige Rücksicht, und Vorurtheil galt gar nicht. 20

Keinen Stand in der gelehrten, ohne Bedeutung selbst in der bürgerlichen Welt, nur der eigenen Wissbegierde verpflichtet, keiner Autorität unterworfen – prägnanter lässt sich die soziale Ortlosigkeit der drei jungen Männer nicht charakterisieren. Die Artikulation ihres Selbstverständnisses ist gewiss prägnanter, als die Wirklichkeit selbst es gewesen sein wird; das macht sie nicht weniger signifikant – im Gegenteil: Sie gibt dem Selbstverständnis eine klare Kontur und kann eben deshalb als Orientierung dienen, um den Weg dieser „eng verbundenen“ Freunde im Detail nachzuzeichnen.

20 Christ[oph] Fr[iedrich] Nicolai’s Bildniss und Selbstbiographie. Hg. von M[ichael] S[iegfried] Lowe. Berlin 1806, S. 15 f.

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3.1 Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) Lessings biographische Extravaganzen sind bekannt; sie haben ihm geradezu den Ruf eingetragen, eine „Biographie ohne Lebenslauf “ 21 gelebt zu haben. Als erklärter Lieblingssohn 22 eines gelehrten Theologen unternimmt er zunächst erste Schritte auf der klassischen Laufbahn eines Gelehrten, findet als hochbegabter Schüler in der Meißner Fürstenschule St. Afra sein „ganzes Glück in [. . . ] Büchern“ 23 und geht schließlich nach Leipzig, um dort Theologie zu studieren. Im urbanen Milieu der sächsischen Metropole macht er die Erfahrung, dass die Bücher ihn „wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen“ 24 würden. Er gerät in Kontakt mit dem Theater der Neuberin (deren Lebenslauf nicht weniger beeindruckend ist als sein eigener), 25 stellt sein Studium zurück und beginnt sich dem zu widmen, was er seinen „innerlichen Beruf “ 26 nennt: der Kunst, „leben zu lernen“ 27 und „in dem Umgange der Menschen zu studieren“. 28 Sein Umgang mit den Komödianten und dem als Freigeist verschrienen Christlob Mylius bringen ihn im Elternhaus in moralischen Misskredit. Bezeichnend sind die Details: Lessings Mutter muss erfahren, dass der Sohn ihren Christstollen zu Weihnachten mit seinen gottlosen Freunden geteilt und bei einer Bouteille Wein verzehrt hat. Bitterlich weinend gibt sie ihren Sohn, wie Lessings Bruder Karl berichtet, „zeitlich und ewig verloren“. 29 Schauspieler und Freigeister, das sind jene sozialen Randexistenzen, denen man mit Misstrauen begegnet, weil sie als ‚fahrendes Volk‘, als bekennende Nicht-Bekennende sozial nur lose und konfessionell nicht gebunden sind. Selbst Gellert rät in seinen Lehren eines Vaters für seinen Sohn, den er auf die Akademie schickt vom Umgang mit ihnen ab: Ein Mensch, so das Argument, „der zu wenig Güte des Herzens hat, ein Freund Gottes zu seyn“, ist „eben so unfähig, als unwürdig“, ein „wahrer Freund“ zu sein. 30

21 Horst Steinmetz: Lessing. Biographie ohne Lebenslauf, in: Jürgen Fohrmann (Hg.): Lebensläufe um 1800. Tübingen 1998, S. 91 – 103. 22 Vgl. K[arl] G[otthelf] Lessing: Gotthold Ephraim Lessings Leben. Von neuem mit Anmerkungen hg. und eingeleitet v. Otto F. Lachmann. Leipzig [1887], S. 175. 23 Brief an Justina Salome Lessing vom 20. 01. 1749 (B 11/1, S. 15). 24 Ebd. 25 Dazu anschaulich Petra Oelker: Die Neuberin. Die Lebensgeschichte der ersten großen deutschen Schauspielerin. Reinbek bei Hamburg 2004. 26 Brief an Johann Gottfried Lessing vom 08. 02. 1751 (B 11/1, S. 34). 27 Brief an Justina Salome Lessing vom 20. 01. 1749 (B 11/1, S. 16). 28 Brief an Johann Gottfried Lessing vom 10. 04. 1749 (B 11/1, S. 20). 29 Lessing: Lessings Leben (wie Anm. 22), S. 46. 30 Christian Fürchtegott Gellert: Lehren eines Vaters für seinen Sohn, den er auf die Akademie schickt, in: ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe.

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Lessings Antwort auf die Diskreditierung seines ‚moralischen Charakters‘ ist so dogmatisch wie selbstbewusst: „Die Xstliche Religion“, so sein Argument, „ist kein Werk, das man von seinen Eltern auf Treue und Glaube annehmen soll.“ Man erbt sie nicht. Und: man übt sie nicht aus, indem man ihre Glaubenssätze auswendig lernt und „im Munde“ führt und die christlichen „Gebräuche mit macht, weil sie gewöhnlich sind“. 31 Die Wahrheit des Glaubens bewährt sich am „überpflichtigen Gebot“ der Feindes- und Nächstenliebe (vgl. B 10, S. 32), d. h. an der Fähigkeit, sich für zwischenmenschliche Begegnungen über die eigene Gruppenzugehörigkeit hinweg zu öffnen. Aufklärung, so wird es Kant formulieren, ist die Fähigkeit, zwischen der „Wahrhaftigkeit des Lehrers“ und der „Wahrheit der Lehre“ zu unterscheiden. 32 Eben dies, die intellektuelle Aneignung des religiösen Erbes, macht sich Lessing zum Lebensprogramm – ohne doch daraus einen traditionellen Beruf machen zu wollen. Goeze gegenüber wird er stolz darauf beharren, ein „Liebhaber der Theologie“, nicht aber „Theolog“ zu sein: „Ich habe auf kein gewisses System schwören müssen. Mich verbindet nichts, eine andre Sprache, als die meinige, zu reden.“ 33 – Und ähnlich kritisch grenzt er sich bekanntlich von der Verwaltung des traditionellen Bücherwissens ab, als deren Inbegriff ihm die akademisch betriebene Gelehrsamkeit gilt. Sein publizistisches Heil sucht Lessing in der Welt der periodischen Printmedien Berlins, die ihm, mit Kant zu sprechen, die Möglichkeit bieten, von seiner Vernunft „öffentlichen Gebrauch“ 34 zu machen: Er publiziert in der Berliner Privilegierten Zeitung und gründet mit den Beiträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters (1750) und der Theatralischen Bibliothek (1754) die ersten Theaterzeitschriften Deutschlands. Selbstverständlich war Lessing, dem äußeren Anschein nach, ein Gelehrter: Er sprach Latein, er hatte studiert, er war als Autor tätig. 35 Den-

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Hg. von Bernd Witte. Bd. 5: Poetologische und Moralische Abhandlungen, Autobiographisches. Hg. von Werner Jung / John F. Reynolds / Bernd Witte. Berlin / New York 1994, S. 299 – 311, hier S. 303. Brief an Johann Gottfried Lessing vom 30. 05. 1749 (B 11/1, S. 26). Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders.: Werkausgabe. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 12: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2. Frankfurt am Main 1968, S. 397 – 690, hier S. 499. Gotthold Ephraim Lessing: Axiomata (B 9, 57). Kant: Beantwortung der Frage (wie Anm. 13), S. 55. Ernst Manheim hat betont, dass Kants medientheoretische Bestimmung der Aufklärung „nur das Ergebnis einer sieben Jahrzehnte lang systematisch betriebenen publizistischen Praxis“ zusammenfasst. Ernst Manheim: Aufklärung und öffentliche Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. Hg. und eingel. von Norbert Schindler. StuttgartBad Cannstatt 1973, S. 102 f. Vgl. Heinrich Bosse: Gelehrte und Gebildete – die Kinder des 1. Standes, in: ders.: Bildungsrevolution (wie Anm. 8), S. 327 – 350, hier v. a. S. 327 – 331.

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noch wird man darauf beharren müssen, dass er sich nicht als Gelehrter verstand. Identität lässt sich nicht restlos objektivieren; sie ist eine immer auch subjektive Kategorie. Lessings erster Biograph, sein Bruder Karl, wird ihn nicht als Gelehrten, sondern als einen Mann charakterisieren, für dessen Treiben es keinen Begriff gibt: „Denn er wollte weder witziger Kopf, noch Dichter, noch Philosoph, noch Litterator, vorzugsweise seyn, sondern alle deren Kenntnisse und Vorzüge in sich vereinigen und das werden, wozu wir im Deutschen eigentlich kein Wort haben.“ 36 Es liegt nahe, Lessing als Intellektuellen zu bezeichnen. In einem vielsagenden Brief, mit dem sich Lessing im Oktober 1754 an Michaelis wendet, charakterisiert er sich als „Menschen ohne Bedienung, ohne Freunde, ohne Glück“, den die Frage, was er denn studiert habe, „in eine große Verlegenheit“ setzt. In Berlin – Nicolais autobiographische Erinnerung liest sich wie ein Echo dieser Zeilen – suche er „keine Beförderung“: „ich lebe bloß hier, weil ich an keinem andern großen Orte leben kann.“ 37 3.2 Moses Mendelssohn (1729 – 1786) Dass dieser institutionell ungebundene junge Intellektuelle gänzlich ohne Freunde ist, ist allerdings ganz und gar unwahr, denn von einem dieser Freunde ist in Lessings Brief ausdrücklich die Rede. Mehr noch: Er ist der eigentliche Anlass des Briefes. Michaelis hatte in seiner Rezension von Lessings Juden bemängelt, dass dessen Hauptfigur, der edle Jude, dem ästhetischen Gebot der Wahrscheinlichkeit widerspreche: Es sei „zwar nicht unmöglich, aber doch allzu unwahrscheinlich [. . . ], daß unter einem Volke von den Grundsätzen, Lebensart und Erziehung, das wirklich die üble Begegnung der Christen auch zu sehr mit Feindschaft, oder wenigstens mit Kaltsinnigkeit gegen die Christen erfüllen muß, ein solches edles Gemüt sich gleichsam selbst bilden könne“. 38 Lessing hatte diese moralische Diskreditierung der Juden durch den Göttinger Gelehrten in der Theatralischen Bibliothek als provinzielles Vorurteil zurückgewiesen und, ohne den Verfasser zu nennen, einen Brief Mendelssohns veröffentlicht, in dem sich dieser gegen die erniedrigende Unterstellung, die Juden seien zu moralischer Bildung nicht fähig, souverän zur Wehr setzte. Den Verfasser dieser Schreibens charakterisiert Lessing als „Mensch von etliche zwanzig Jahren, welcher, ohne alle Anweisung, in Sprachen, in der Mathematik, in der Weltweisheit, in der Poesie,

36 Karl Lessing: Vorbericht des Herausgebers, in: Gotthold Ephraim Lessing: Vermischte Schriften. Zweyter Theil. Berlin 1784, S. III – XXXII, hier S. XII. 37 Brief an Johann David Michaelis vom 16. 10. 1754 (B 11/1, S. 59). 38 Zit. Gotthold Ephraim Lessing: Über das Lustspiel „Die Juden“ (B 1, S. 490).

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eine große Stärke erlangt hat“, und er prophezeit ihm eine Zukunft, die seiner Nation zur Ehre gereichen werde, „wenn ihn anders seine eigne Glaubensgenossen zur Reife kommen lassen, die allezeit ein unglücklicher Verfolgungsgeist wider Leute seines gleichen getrieben hat“. 39 Damit ist nicht nur Mendelssohns autodidaktische Anstrengung, sich zum Weltweisen zu bilden, angesprochen, sondern zugleich auch das Konfliktpotential benannt, das diese Entscheidung zur Selbstbildung außerhalb seiner sozialen Bezugsgruppe für ihn besaß. – Als er 1754 mit seinen von Lessing anonym veröffentlichten Philosophischen Gesprächen publizistische Aufmerksamkeit erregt, bittet er Michaelis, seine Verfasserschaft in den Göttingischen gelehrten Anzeigen nicht bekanntzumachen, weil es „seine zeitlichen Umstände erforderten [. . . ], niemanden ausser sehr wenigen Freunden für einen Schriftsteller bekannt zu seyn“. 40 Die „einzig ehrbare und anerkannte Karriere“, die diesem hochbegabten Sohn des Dessauer Schulmeisters und Gemeindesekretärs Mendel Heymann offenstand, war der „Weg in die rabbinische Elite“. 41 Doch Mendelssohn, der in Dessau zunächst von seinem Vater, dann von dem Rabbiner David Fränkel unterrichtet worden war, 42 folgte Fränkel gegen den Widerstand des Vaters als 14-jähriger nach Berlin und fand dort nach Jahren der existentiellen Unsicherheit im Haus des Seidenfabrikanten Isaak Bernhard Unterschlupf (zunächst als Hauslehrer, später wird er dessen Buchhalter, dann auch Teilhaber der Firma). Durch Fränkel kommt Mendelssohn in Kontakt mit dem Arzt Aaron Gumpertz, an den er jenen Brief geschrieben hatte, den Lessing in der Theatralischen Bibliothek anonym veröffentlichte. Der junge Gumpertz zählt zu jenen Berliner Juden, die sich aus dem intellektuellen Ghetto der jüdischen Orthodoxie gelöst hatten und in ihrem äußeren Erscheinungsbild auf die typisch jüdischen Unterscheidungsmerkmale (die Kopfbedeckung und den Bart) verzichteten. 43 In Berlin hatten sie mit Christen Umgang, die ihrerseits aufgehört hatten, in ihrer religiösen Tradition eine exklusive Lebensorientierung zu finden. Das urbane Milieu Berlins, das Lessing in seiner Entgegnung auf Michaelis’ Kritik gegen Göttingen ausspielt, bildete aber nicht nur den Lebensraum für Begegnungen über die Grenzen der sozialen und religiösen Zugehörigkeiten

39 Brief an Johann David Michaelis vom 16. 10. 1754 (B 11/1, S. 58). 40 Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 118. Stück vom 02. 10. 1755, S. 1107. 41 Shmuel Feiner: Moses Mendelssohn. Ein jüdischer Denker in der Zeit der Aufklärung. Aus dem Hebräischen v. Inge Yassur. Göttingen 2009, S. 24. 42 Zur intellektuellen Physiognomie Fränkels vgl. Gerhard Lauer: Die Rückseite der Haskala. Geschichte einer kleinen Aufklärung. Göttingen 2008, S. 329. 43 Vgl. ebd., S. 332 – 333; zu Gumpertz vgl. auch Wiedemann: Denkmal (wie Anm. 6), S. 171 – 173.

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hinweg, 44 sondern bot auch das mediale Umfeld, in dem der persönliche Austausch publizistischen Ausdruck finden und den Gedankenaustausch seinerseits wieder inspirieren konnte. Gumpertz, der in Berlin zu Mendelssohns Mentor und Lehrer wurde, dürfte diesen mit Lessing 1753 bekannt gemacht haben. Er verkehrte wie Lessing (und dann auch Mendelssohn) im ‚Gelehrten Kaffeehaus‘ und war wie dieser Mitglied des 1752 gegründeten ‚Montagsklubs‘, einem Forum des geselligen intellektuellen Austausches, das in engem Kontakt mit den gelehrten Zeitschriften Berlins und ihrem ‚Feuilleton‘ stand. 45 Mendelssohn hat in einer biographischen Skizze aus dem Jahr 1774 betont, „nie auf einer Universität gewesen“ zu sein, auch habe er in seinem ganzen Leben „kein Collegium lesen hören“: „Dieses war eine der größten Schwierigkeiten, die ich übernommen hatte, indem ich alles durch Anstrengung und eigenen Fleiß erzwingen mußte.“ 46 3.3 Friedrich Nicolai (1733 – 1811) Ähnliches gilt für den dritten in diesem Bunde, Friedrich Nicolai, der sich Mendelssohn eben deshalb besonders nahe fühlte, weil auch er ein Autodidakt und von Jugend an ein einsamer Leser war. 47 Wie Mendelssohn, der – Nicolais Darstellung zufolge – „bis etwa Nachmittag um 4 Uhr im Contor“ war und „die übrige Zeit bis um Mitternacht zum studiren an[wendete]“, 48 führte auch er selbst gleichsam ein Doppelleben und gehörte – so Michaelis’ Andeutung über den anonymen Verfasser der Philosophischen Briefe – „seiner äussern Lebens-Art nach gar nicht zu den Gelehrten“. 49 Zum Schriftsteller wurde Nicolai, weil er in Berlin niemanden fand, mit dem er sich über seine Lektüren austauschen konnte.

44 Ernst-Peter Wieckenberg hat in seinem Buch über Johan Melchior Goeze (Hamburg 2007) darauf hingewiesen, dass eine Freundschaft wie die zwischen Lessing bzw. Nicolai und Mendelssohn in Goezes Hamburg kaum möglich gewesen wäre (vgl. S. 144 f.). Wie Nicolai in seiner Gedächtnißschrift auf Johann August Eberhard (Berlin / Stettin 1810) zu berichten weiß, hatten aber auch in Berlin Theologen mit Widrigkeiten zu rechnen, wenn sie mit Juden wie Mendelssohn vertrauten Umgang pflegten oder sich mit ihnen allzu oft auf der Straße zeigten (vgl. S. 23). 45 Vgl. Ursula Goldenbaum: Im Schatten der Tafelrunde. Beziehungen der jungen Berliner Zeitungsschreiber Mylius und Lessing zu französischen Aufklärern, in: Berliner Aufklärung 1 (1999), S. 69 – 100, hier S. 73 f. 46 Brief an Johann Jacob Spiess vom 01. 03. 1774, in: Moses Mendelssohn: Einsichten. Ausgewählte Briefe. Hg. von Eva J. Engel. Dessau 2004, S. 34. 47 Vgl. Friedrich Nicolai’s Leben und literarischer Nachlaß. Hg. von L[eopold] F[riedrich] G[ünther] v[on] Goeckingk. Berlin 1820, S. 18. 48 Brief an Johann Peter Uz vom 26. 03. 1759, in: Mendelssohn: Einsichten (wie Anm. 45), S. 29. 49 Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 118. Stück vom 02. 10. 1755, S. 1107.

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Drei Jahre (1749 – 1751) hatte er zunächst in Frankfurt an der Oder zugebracht, um nach dem Willen des Vaters eine Buchhändlerlehre zu absolvieren, jede freie Zeit dort aber genutzt, sich eigenständig, „ohne mündliche Anweisung, in der lateinischen, griechischen und engländischen Sprache einigermaßen fest zu setzen“. 50 Einen solchen „Privatfleiß“ hatte er bereits in Halle entwickelt, wo er als Zögling der Franckeschen Stiftungen einen Band der Bremer Beyträge, den ihm sein älterer Bruder zugesteckt hatte, wie einen „Schatz“ hütete und vergeblich vor den Augen der frommen Inspektoren im Bettstroh zu verbergen suchte. 51 Das größte „Glück“ seiner Jugendzeit bestand in der Entdeckung und mühsamen autodidaktischen Entzifferung Homers. 52 Als Nicolai 1752 nach Berlin zurückkehrt, um in der väterlichen Buchhandlung zu arbeiten, verbringt er die frühen Morgenstunden und halbe Nächte mit „seinen lieben Büchern“ 53 – ebenso passioniert wie auf sich allein gestellt: Er hatte, so schreibt er rückblickend, „in dem großen Berlin keinen einzigen Bekannten, mit dem er über poetische oder literarische Gegenstände hätte Gedanken wechseln können“ (BS, S. 13). Weil er „Alles in sich selbst suchen“ muss, versucht er sich schreibend Klarheit über die Situation der deutschen Literatur und dem ihm unverständlichen Streit zwischen Gottsched und den Schweizern zu verschaffen, und nimmt „in seiner einsamen Kammer die Zuflucht zur Feder“ (BS, S. 13 f.). So entstehen die Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland, die ihn Ende 1754 in Kontakt mit Lessing bringen. Die Aushängebögen waren Lessings Freund, dem Buchhändler Voss, in die Hände geraten, der sie diesem zeigte und damit Lessings Interesse weckte, den Verfasser persönlich kennenzulernen. „Man hielt es“, so Nicolais Darstellung, „für eine Art von Wunder, daß ein Jüngling, der nichts als ein angehender Buchhändler war, und erst vor ein Paar Jahren seine Lehrjahre geendigt hatte, ein Buch schrieb, und ein Buch, worin noch dazu die damal hochberühmten Männer Gottsched und Bodmer sehr freymüthig beurtheilt waren.“ (BS, S. 49). Lessing, Mendelssohn und Nicolai – so sollte deutlich geworden sein – fanden zueinander, weil sie als passionierte Leser auf eine Gemeinschaft „sympathisierender Geister“ geradezu angewiesen waren. Die erste gemeinsame publizistische Tätigkeit der drei Freunde, die – wie eingangs zitiert – sich nur ihrer „Wissbegierde“, der „Erweiterung ihrer Kenntnisse“

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Nicolai’s Bildniss und Selbstbiographie (wie Anm. 20), S. 9. Nicolai’s Leben (wie Anm. 47), S. 9 f. Ebd., S. 13. Nicolai’s Bildniss und Selbstbiographie (wie Anm. 20), S. 12. Nachweis der folgenden Zitate im Text unter der Sigle „BS“.

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und der „Schärfung ihrer Beurtheilungskraft“ verpflichtet sahen, war ein literaturkritisches Projekt, das den freundschaftlichen Gedankenaustausch über die Grenzen der kommunikativen Nahwelt hinaustrug und zum publizistischen Ereignis machte. 3.4 Briefe, die neueste Literatur betreffend (1759 – 1765) Bereits der Briefwechsel über das Trauerspiel muss als Dokument eines solchen unbefangenen Gedankenaustausches gelesen werden. Züge eines (durchaus labilen) Bündnisses gewann der freundschaftliche Umgang der gelehrten Autodidakten aber erst, als er sich im Medium der Zeitschrift vollzog. Friedrich Nicolai hat auf die Entstehung der Literaturbriefe aus dem Geist des lebendigen Gesprächs ausdrücklich hingewiesen und ihre Differenz zu den üblichen kritischen Blättern betont: „Die damaligen Journale waren fast alle frostig, seicht, partheyisch, voll Complimente“; 54 die Briefe, die neueste Literatur betreffend waren auf einen anderen Ton gestimmt. Hatten sich etwa die Bremer Beiträger durch den bewussten Verzicht auf Polemik profiliert und Freundlichkeit zum literarischen Programm erhoben, so war der Diskussionsstil der Berliner Freunde dezidiert individualistisch angelegt. 55 Insbesondere Lessing, der unter den Chiffren A. E. Fll. G. L. O in Erscheinung trat, 56 machte die Polemik zum kreativen Prinzip: „Ein kritischer Schriftsteller“, so seine Maxime, „suche sich nur erst jemanden, mit dem er streiten kann: so kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige findet sich.“ 57 In der Brieffiktion fand das publizistische Projekt seine ideale Gestalt, weil sie es den Verfassern erlaubte, sich – wie in ihren Gesprächen –

54 Friedrich Nicolai: Schreiben an den Hrn. Professor Lichtenberg in Göttingen, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaft und Literatur III, 1782, Nr. 1, S. 387 – 401 (zit. B 4, 1086). Ausführlicher dokumentiert ist die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Literaturbriefe in der Edition Gotthold Ephraim Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend, hg. und kommentiert von Wolfgang Bender. Stuttgart 1972. 55 Zur „versteckten Polemik“ und „Bündnispolitik“ der Bremer Beiträger vgl. die instruktive Studie von Kristin Eichhorn in diesem Band; zum Gegenprogramm vgl. Dirk Rose: Lessings Krieg. Zum publizistischen und polemikgeschichtlichen Ort der Litteraturbriefe (1759 – 1765), in: Stefanie Stockhorst (Hg.): Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien. Hannover 2015, S. 93 – 112. 56 Friedrich Nicolai: Brief an Johann Gottfried Herder vom 24. 12. 1768 (zit. B 4, S. 1084). – Hans Werner Seiffert hat sie als „FLAGELLO: ich peitsche“ entziffert. Vgl. Hans Werner Seiffert: Neues über Lessings Literaturbriefe, in: Gleimhaus (Hg.): Festschrift zur 250. Wiederkehr der Geburtstage von Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Magnus Gottfried Lichtwehr. Beiträge zur deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Halberstadt 1969, S. 65 – 79, hier S. 77 (vgl. B 4, S. 1065 f.). 57 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 70. Stück (B 6, S. 535).

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„keinen bestimmten Zweck vorstellen“ zu müssen, Anfang und Ende selbst bestimmen und ihren Gegenstand nach Belieben wählen zu können. 58 An die Stelle der Verpflichtung zur systematischen und vollständigen Explikation trat das lebhafte Interesse am Gegenstand, das auf Würde und Verdienst, den Status der Gelehrten innerhalb der res publica literaria, keine Rücksicht nahm: Johann Heinrich Gottlob von Justi wird in einem Schreiben an Friedrich II. gegen die Verfasser ins Feld führen, dass diese „die berühmtesten Gelehrten in allen Landen auf die unhöf lichste und unverantwortlichste Art mißhandeln“ und „weder gegen Gott noch gegen Menschen Ehrerbietung haben“. 59 Eben darin lag ihr kulturrevolutionäres Potential. Die Briefe, die neueste Literatur betreffend machten das Publikum zum Ohrenzeugen einer ebenso offenherzigen wie schonungslosen und in eben dem Maße faszinierenden Auseinandersetzung. 60 Insbesondere Lessings Beiträge wurden in ihrer Prägnanz, Eleganz und Schärfe von den Zeitgenossen als „Fanal eines Neubeginns“ 61 wahrgenommen. Auch wenn sich freundschaftliche Beziehungen vielleicht nicht in eben dem Maße dazu eignen, „stabile Netzwerke mit abrufbaren Verpflichtungen“ zu etablieren, wie dies bei formalisierten Bündnissen der Fall ist, 62 nahm die Freundschaft zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai im Rahmen der neuen, von periodischen Printmedien geprägten Medienöffentlichkeit des 18. Jahrhunderts doch Züge eines Schriftstellerbündnisses an und gewann für kurze Zeit – vielleicht nicht zufällig für die Zeit des Krieges 63 – eine den Moment überdauernde Stabilität. Ein nicht unwesentlicher Faktor für den Erfolg der Literaturbriefe dürfte – neben ihrer Faszinationskraft – die Tatsache gewesen sein, dass an dem Projekt nicht nur „Kenner“, sondern mit Friedrich Nicolai auch ein ausgesprochener „Vermittler“ beteiligt war – so könnte man die Physiogno58 Nicolai: Schreiben an den Hrn. Professor Lichtenberg (wie Anm. 54), zit. B 4, S. 1087. 59 Brief vom 10. 03. 1761, zit. Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend (wie Anm. 54), S. 344 und 345. 60 Vgl. Nicolais Charakterisierung der vertrauten Gespräche im Nekrolog auf Moses Mendelssohn in: ADB 65 (1786), 1. Stück, S. 624 – 631, hier S. 627 f.: „Diese innige Uebereinstimmung im Ganzen, diese Unübereinstimmung in vielen Nebenideen, bey aller scharfen Untersuchung, ist mir noch der sicherste Probierstein unserer Offenherzigkeit und unserer Wahrheitsliebe; indem jeder seinem eigenthümlichen Charakter und ohne alle Heucheley und Prätension, seiner eigenthümlichen Denkungsart getreu blieb.“ Zur Publikumswirksamkeit dieser medialen Strategie vgl. die Einleitung von Ursula Goldenbaum zum Band: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687 – 1796. Teil 1. Berlin 2004, S. 1 – 118, v. a. S. 90 – 115. 61 Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 4., aktualis. u. erw. Aufl. Stuttgart 2016, S. 176. 62 So die Vermutung von Papenheim: Freunde oder Brüder? (wie Anm. 17), S. 51. 63 Vgl. Annika Hildebrandt: Die Mobilisierung der Poesie. Literatur und Krieg um 1750. Berlin / Boston 2019. [Im Druck.] – Auf die Zeit des Krieges war das Projekt nach Auskunft Nicolais (wie Anm. 54, zit. B 4, S. 1087) von vornherein begrenzt.

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mie dieses Schriftstellerbündnisses aus netzwerktheoretischer Perspektive charakterisieren. 64 Kenner überreden nicht – sie sind leidenschaftliche Lernende 65 und gewinnen ihre Bedeutung in Netzwerken gerade dadurch, dass sie an den Dingen, die sie beschäftigen, ein instinktives Interesse haben: „Ein Kenner ist jemand, der die Probleme anderer Leute lösen will, indem er seine eigenen löst“ 66 – so der Befund der modernen Marketingforschung. Das wird man auch von den drei Autodidakten, vor allem aber von Lessing sagen dürfen. Lessing war ein herausragender Leser, dessen Neubegründung der modernen Literatur sich einer geradezu kulturrevolutionären Philologie verdankt. 67 Ohne einen passionierten Vermittler aber hätten die Literaturbriefe nicht jene Wirkung entfalten können, die sie im Kontext der zeitgenössischen Publizistik hatten. Für buchhändlerische Unternehmungen war Lessing denkbar ungeeignet, wie sein mit Bode verfolgtes Projekt, „den führenden deutschen Verlag“ zu gründen, eindrucksvoll unter Beweis stellte. 68 Diese Aufgabe kam Nicolai zu. Ihn wird man als den „sozialen Klebstoff “ 69 identifizieren dürfen, der den im engen Kreis geführten Debatten seine überregionale Reichweite verschaffte und den Literaturbriefen nach Lessings Weggang aus Berlin ihren Fortbestand sicherte. Ich beschließe meine kurze ‚Medienkulturgeschichte‘ dieser lebenslangen Freundschaft sympathisierender Geister und ihres fragilen Schriftstellerbündnisses mit einem Rückblick aus dem Jahr 1793.

4 Erziehung durch Lektüre Herder hat Lessings Freimaurergespräche im 26. seiner Briefe zur Beförderung der Humanität fortgeführt und ihnen eine dezidiert medientheoretische Wendung gegeben. Die wahre Gesellschaft der Freimaurer ist demnach die „Gesellschaft aller denkenden Menschen in allen Weltteilen“, einer ihrer „Meister vom Stuhl“ ist Gutenberg, dessen Erfindung die Entstehung 64 Ich bin weit davon entfernt, hier ernsthaft Netzwerkanalyse betreiben zu wollen, möchte aber dazu anregen, bei der Analyse lose oder eng geknüpfter Netzwerke immer auch „Materialeigenschaften“, d. h. psychologische Dispositionen, zu berücksichtigen. Vgl. Malcolm Gladwell: Der Tipping Point. Wie kleine Dinge Großes bewirken können. Aus dem Amerikan. übers. von Malte Friedrich. Berlin 2000, Kap. 2. 65 Ebd., S. 76. 66 Ebd., S. 73. 67 Das ist eine der zentralen Thesen des Buches von Gisbert Ter-Nedden: Der fremde Lessing. Eine Revision seines dramatischen Werks. Hg. von Robert Vellusig. Göttingen 2016. 68 Für Details vgl. Jan Philipp Reemtsma: Lessing in Hamburg. 1766 – 1770. München 2007, S. 22 – 33, hier S. 30. 69 Gladwell: Tipping Point (wie Anm. 64), S. 76.

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einer überregionalen, ständisch nicht gebundenen Medienöffentlichkeit initiiert hatte, in dem die „Geister“ sich verständigen können, ohne auf die „Zusammenkunft der Körper“ angewiesen zu sein. 70 So Herder 1793. 1794 charakterisiert Schiller die kulturelle Gegenwart als eine Zeit, „wo ein so großer Theil der Menschen seine eigentliche Erziehung durch Lecture bekommt, und wo ein anderer nicht unbeträchtlicher Theil sich diese Erziehung durch Schriften zum Geschäft seines Lebens macht“. 71 Erziehung durch Lektüre: Diese Erfahrung verbindet schon Lessing, mehr noch Mendelssohn und Nicolai miteinander. Alle drei sind sie zunächst ebenso leidenschaftliche wie einsame Leser. In der Vorrede zum dritten und vierten Teil seiner 1754 erschienenen Schriften bezeichnet Lessing die Zeit seines Studiums der antiken Klassiker, dem er sich „in dem engen Bezirke“ der „klostermäßigen Schule“ von St. Afra „mit aller Bequemlichkeit“ widmen konnte – „Theophrast, Plautus und Terenz waren meine Welt“ – als „die einzigen“ Jahre, in denen er „glücklich gelebt“ habe. 72 Dieses Selbstporträt eines jungen Gelehrten ist signifikant. Anders als der nachfolgenden Generation – der „Generation Werther“ – fehlt diesen ersten Exponenten einer Schriftkultur, die den kommunikativen Alltag erreicht und die Biographien zu prägen beginnt, eine gemeinsame Jugendkultur, in der ihre Lebens- und Leseerfahrungen ein literarisches Echo hätten finden können. Das ist das eine generationsspezifische Manko der drei; das andere ist geschlechtergeschichtlicher Natur: In der entscheidenden Phase ihrer literarischen Sozialisation fehlt ihnen die Erfahrung, mit jungen Leserinnen Umgang zu haben. Die Sozialisation in die Schriftkultur erleben sie ausschließlich im Kontakt mit gelehrten Vätern, Lehrern und allenfalls mit anderen jungen Männern. 73

70 Johann Gottfried Herder: Werke in 10 Bänden. Hg. von Martin Bollacher u. a. Bd. 7: Briefe zur Beförderung der Humanität. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt am Main 1991, S. 139. 71 Brief an Christian Garve vom 01. 10. 1794, in: Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Hg. von Julius Petersen / Hermann Schneider. Bd. 27: Schillers Briefe 1794 – 1795. Hg. von Günter Schulz. Weimar 1958, S. 57. Den Hinweis auf Schillers mediengeschichtliche Zeitdiagnose verdanke ich Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn u. a. 1981, S. 22 – 24. 72 Gotthold Ephraim Lessing: Vorrede (B 3, S. 154). 73 Vgl. Ter-Nedden: Der fremde Lessing (wie Anm. 67), S. 17 – 31. Bezeichnenderweise setzt sich Moses Mendelssohn in seinen Briefen an Lessing (und an die Braut Fromet Gugenheim) die Maske des verliebten Philosophen auf und nimmt auch Nicolai als „zerstreuten Liebhaber“ wahr. Vgl. Verf.: Der verliebte Philosoph. Moses Mendelssohns Brautbriefe, in: Renate Stauf / Jörg Paulus (Hg.): SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin / Boston 2013, S. 49 – 75.

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Dass die durch Lektüre erzogenen Leser selbst zu Schriftstellern wurden, lag in dem urbanen Milieu, in dem sie sich bewegten, nahe. Die Grenze zwischen kommunikativer Nah- und Fernwelt war um die Jahrhundertmitte offensichtlich noch ebenso fließend wie diejenige zwischen der Autoren- und der Leserschaft von Zeitschriften und Journalen. 74 Wer in diesen Jahren – wie Gellert es tut – vor der „Autorkrankheit“ warnt, warnt deshalb immer auch vor der „Krankheit, nur Journale zu lesen“. 75 Die gemeinsame Erfahrung, die Lessing, Mendelssohn und Nicolai miteinander verband, war die Erfahrung, aus der geistigen Enge ihrer sozialen Herkunft herausgetreten zu sein; ihr gemeinsames Ethos fanden sie in dem Bedürfnis, sich – wie Karl Lessing es formulierte – zur „eignen möglichsten Vollkommenheit“ 76 zu bilden und dies öffentlich, d. h. publizierend, zu tun. Die wahren guten Taten der Freimaurer, so heißt es in Ernst und Falk, sind solche, die das, „was man gemeiniglich gute Taten zu nennen pflegt, entbehrlich [. . . ] machen“ (B 10, 21). Lessing hat eine auch für seine Zeit beispiellos öffentliche Existenz als Schriftsteller geführt; in einem Brief an Eva König behauptete er gar, sich „nicht bewußt“ zu sein, „jemals eine Zeile geschrieben zu haben, welche nicht die ganze Welt lesen könnte“. 77 Laurence Sterne, einem jener schriftstellernden Geister, dem er sich sympathisierend nahe und verbunden fühlte, hätte er gerne „fünf Jahre von einem eignen Lebens abgetreten“, und dies selbst dann, wenn er „gewiß gewußt“ hätte, dass sein „ganzer Ueberrest nur zehn oder acht betrüge“. 78 Das ist eine Phantasie, die die traditionellen Heldentaten – den Opfertod fürs Vaterland und den Märtyrertod für den rechten Glauben – auf eine Weise konterkariert, die kosmopolitischer nicht sein könnte. Sie ist nämlich an Bedingung geknüpft: Sterne hätte dafür „schreiben müssen“. 79

74 Ernst Fischer / Wilhelm Haefs / York-Gothart Mix: Einleitung: Aufklärung, Öffentlichkeit und Medienkultur in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: dies (Hg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland. München 1999, S. 9 – 23, hier S. 20. 75 Gellert: Lehren eines Vaters (wie Anm. 30), S. 308. 76 Lessing: Vorbericht (wie Anm. 36), S. XII. 77 Brief an Eva König vom 08. 01. 1773 (B 11/2, S. 497). – Bemerkenswerterweise hat keiner der drei Freunde ein Tagebuch geführt. Vgl. Roloff: „Wir, Moses und ich“ (wie Anm. 6), S. 29. 78 So der Bericht Bodes in der Vorrede zu seiner Übersetzung von Sternes Empfindsamer Reise (zit. B 11/1, S. 905). Ähnlich heißt es in einem Brief an Nicolai vom 05. 07. 1768 über Winckelmann: „Das ist seit kurzem der zweite Schriftsteller, dem ich mit Vergnügen ein Paar Jahre von meinem Leben geschenkt hätte.“ (B 11/1, S. 526 f.). 79 Ebd.

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„Schließe, Lina, schließ den Bund, der an Seele Seele kettet“ Zum poetischen Beginn der Korrespondenz zwischen Karoline von Dacheröden und Wilhelm von Humboldt im Sommer 1788 Daß es nützlich sey, die Sprache auch in dieser Rücksicht zu studieren, bedarf wohl keines Beweises, da sie selbst ein Abdruck der menschlichen Seele ist, von welcher sie uns in ihren Fugen und geheimen Verbindungen ein getreues Gemälde darstellt. 1

Besonders eindrucksvoll muss Carl von La Roche, Sohn der berühmten Schriftstellerin Sophie von La Roche, den Charakter und die Person Wilhelm von Humboldts seiner Vertrauten Karoline von Dacheröden im Hochsommer 1788 geschildert haben. 2 Carl – mit beiden befreundet – hatte ihnen viel voneinander erzählt. Neugier und Ungeduld sind in ihren brief lichen Mitteilungen aus der Zeit mit Händen zu greifen. Zu dieser Zeit warb er selber um Karoline und hoffte sie noch zu heiraten. 3 Ihm vertraut sie jedoch gleich am 28. Juli 1788 „ein paar Zeilen für Wilhelm“ 4 an, in denen sich eine sehnsüchtige, zugleich äußerst behutsame Einladung nach Burg Oerner entfaltet, die dem bekannt-unbekannten Jüngling aus Tegel, der in Göttingen studiert, zugedacht ist. Karolines Brief vibriert vor Spannung. Die Metaphorik des Bindens und Verbindens durchzieht

1 Carl Philipp Moritz: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin 1783, S. 92. – Für erhellende Hinweise danke ich Herrn Prof. Dr. Daniel Fulda (Halle / Saale). Mein Dank gilt auch Frau Prof. Dr. Elena Agazzi (Bergamo) für großzügige Unterstützung und wegweisende Ratschläge. 2 Zum biographischen Hintergrund siehe Hazel Rosenstrauch: Wahlverwandt und ebenbürtig. Caroline und Wilhelm von Humboldt. Frankfurt am Main 2009, bes. S. 38 – 48; ferner: Michael Maurer: Wilhelm von Humboldt. Ein Leben als Werk. Köln / Weimar / Wien 2016, bes. S. 23 – 29 sowie Manfred Geier: Die Brüder Humboldt. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2009, bes. S. 73 – 76. Im Text folge ich dem Originalwortlaut „Karoline“. 3 Vgl. Dagmar von Gersdorff: Caroline von Humboldt. Eine Biographie. Berlin 2011, S. 10. 4 Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Bd. 1: Briefe aus der Brautzeit. Hg. von Anna von Sydow. 6. Auflage. Berlin 1910, S. 4.

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den Brieftext und erhält dabei nicht weniger als die Züge einer sakralen Angelegenheit. Auf der einen Hälfte jenes an Carl gerichteten Blattes schreibt sie an Humboldt: „Laß Dir von Carln sagen, daß ich gut bin und ein warmes, liebevolles Herz im Busen trage, daß mich verlangt, es mit heiligen Banden an das Deine zu knüpfen, und daß es Dir entgegenwallt mit reiner schwesterlicher Liebe.“ 5 Erlesene Sensibilität, Intensität des Gefühls, Verknüpfungsvisionen, zärtliche Kommunikation im Triangel – es ist kaum von der Hand zu weisen, dass zwischen Carl, Wilhelm und Karoline ein typisches „Gefühlsdreieck“ im Entstehen begriffen ist, bei dem – wie Ladislao Mittner in einer klassischen Studie zum Phänomen im Allgemeinen festgestellt hat 6 – ein Jüngling sein Herz dem Freunde öffnet und sich in dessen Seelenschwester verliebt. Es handelt sich dabei um eine Situation, die sowohl im Leben vieler Autorinnen und Autoren der Aufklärungsepoche als auch in deren literarischen Werken – man denke an Goethes Stella oder an Jacobis Woldemar – noch gegen Ende des Jahrhunderts oft vorkam. 7 Die „heiligen Band[e]“, von denen Karoline spricht, stellen gleichsam das objektive Korrelat einer besonderen Form der Liebe dar, die sich – vermutlich in Anlehnung an die antike Fabel von Iphigenie, Orestes und Pylades – auf Bilder familiärer Vertraulichkeit, Verwandtschaft und Gemeinschaft stützt. Anzubieten hat Karoline die transitive Liebe einer Schwester für einen Bruder, den sie zwar noch nicht gesehen, von dem sie aber durch ihren gemeinsamen Freund Carl viel Gutes gehört hat und den sie daher bereits als blutsverwandt und gleichgesinnt anerkennt. Mit eindringlichem Ton darf sie diesen „Bruder“ ihrer Seele darum bitten, die Zeit ihrer ersten persönlichen Begegnung nicht weiter hinauszuzögern. Bilder drohender Vereinsamung in der häuslichen Umgebung sollen seine Fähigkeit zum Mitfühlen erwecken und sein tatkräftiges Mitleid mobilisieren: „Laß mich, mein Bruder, Dich nicht vergebens bitten. Denke, daß ich in einer Wüste lebe, wo mein Herz sich von Erinnerungen tränkt und 5 Ebd., S. 3. Zu Humboldt und Caroline in Burg Oerner siehe Heidrun Hübel: Humboldt in Burgörner: eine verborgene Kulturoase im Mansfeldischen – damals wie heute, in: Seniorenzeit. Magazin des Seniorenkollegs der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 16 (2018), S. 9. 6 Ladislao Mittner: Freundschaft und Liebe in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, in: Albert Fuchs / Helmut Motekat (Hg.): Stoffe, Formen, Strukturen. Studien zur deutschen Literatur. FS Hans Heinrich Borcherdt. München 1962, S. 97 – 138, bes. S. 97 – 101. 7 Zum Gefühlsdreieck in Goethes Stella siehe Giuliano Baioni: Il giovane Goethe. Torino 1996, S. 328 – 335 und Dieter Borchmeyer: Goethe, der Zeitbürger. München und Wien 1999, S. 48 – 52. Zu Jacobis Woldemar und der Liebe im Triangel siehe Verf.: Maschilità divise ed equilibri del femminile: appunti sul Woldemar di Friedrich Heinrich Jacobi, in: Cristina Passetti / Lucio Tufano (Hg.): Femminile e maschile nel Settecento. Firenze 2018, S. 149 – 164, hier bes. S. 161 – 163.

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von Hoffnungen nährt.“ 8 Eine „heilige Laube“ soll außerdem als symbolträchtige Kulisse zu ihrer beseligenden Zusammenkunft dienen. Die Abschluss-Vokative in den letzten Briefzeilen heben dann noch einmal die Hauptbegriffe hervor, um die das empfindsame Verhältnis zwischen den beiden kreisen soll: „Lebe wohl, mein Freund, mein Bruder, mein teurer Wilhelm, lebe wohl und gib meiner Bitte Gehör.“ 9 Der affektive Dreiklang lautet: Freund, Bruder, Vertrauter – die Erwähnung dieser drei hier synonym verstandenen Rollen soll die mögliche Ausdehnung ihrer „Liebe“ klar konturieren und deren Kompetenzbereich zugleich begrenzen. 10 Verschmelzungsphantasien, die sich ansatzweise bereits in den Metaphern der Herzensbindung kundtaten, werden von Humboldt selbst gern geteilt und weiterentwickelt. Davon zeugt sein gesamter Briefwechsel mit Karoline, die er 1791 heiraten sollte. Im Folgenden soll es im Rahmen einer eingehenden Fallstudie um den schriftlichen Auftakt ihrer Korrespondenz gehen. Angeboten wird dabei eine textnahe Analyse, die einige semantische und literaturgeschichtliche Interna jenes anfänglichen Dokuments durchleuchten möchte. Darin entfalten sich Bilder, Begriffe und Denkfiguren, die die zwischenmenschlichen Beziehungen von zwei empfindsamen Mittzwanzigern oft durch die Figur des Bundes und des Bündnisses, samt ihren etymologischen Korrelaten, veranschaulichen.

1 Ein Bund in empfindsamen Strophen Mit einem Gedicht, ohne weitere begleitende Zeilen, leitet Humboldt im August 1788 die Korrespondenz mit Karoline ein, genauer: mit sieben Strophen, die jeweils dem Reimschema einer lyrischen Sestine folgen. Das Gedicht beantwortet den oben erwähnten Brief der neuen Freundin vom 28. Juli 1788 und ist vermutlich, ja wahrscheinlich um die zweite Augustwoche verfasst worden. Die erste Strophe enthält eine durchaus konventionelle, an die Zeit gerichtete Aufforderung: Sie möge schneller vergehen, damit der lang ersehnte Tag der Begegnung näher rückt: Eilet raschen Flugs dahin, Eilt, ihr trägen Augenblicke, Daß mein lieberfüllter Sinn

8 Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Bd. 1 (wie Anm. 4), S. 3. 9 Ebd., S. 4. 10 Zu dieser Form von „Liebe“ im Allgemeinen siehe Mittner: Freundschaft und Liebe (wie Anm. 6), S. 97.

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Meine Lina bald erblicke, Sie, die meinem Herzen ach! so nah Nie mein schwermutsvolles Auge sah! 11

Zwischen dem Wissen der Sinne (in diesem Fall durch den Sehsinn vermittelt) und dem Wissen des Herzens wird in dieser Strophe klar unterschieden. Das Gefühl der Ungeduld erhält außerdem die zwielichtigen Töne melancholischer Verstimmung. Das Auge des dichtenden Ich ist „schwermutsvoll“ und die Augenblicke sind „träge“. Die Übel der acedia kommen da zu Gesicht und versprechen sich Erlösung durch die beseligende Vision der neuen Freundin, die Humboldt noch nicht gesehen hat. Die beiden Herzen kommen sich näher und fühlen sich miteinander so verbunden, als würden sie von einer unwiderstehlichen Naturkraft angezogen. Humboldt spielt dann weiter auf der Klaviatur der Melancholie. Die Risiken der Schwärmerei, gegen die die Phalanx der vernünftigen Ärzte der Aufklärung gerade in den 1780er Jahren Front machte, 12 lassen sich erst in der imaginierten und gefühlten Gegenwart Karolines beschwichtigen. Doch damit nicht genug: der status afflictionis der kopfhängerischen Melancholie ist kein Anlass zu Selbstvorwürfen, sondern er wird zur Quelle einer himmlischen Wonne und als Zeichen der eigenen moralischen Distinktion umgedeutet: Daß ich an ihr klopfend Herz Traulich-brüderlich mich schmiege, Süß vergessend jeden Schmerz, Jede Sorg in Schlummer wiege, Und versenkt in Himmelsschwärmerei Nur in Lina lebe, webe, sei! 13

In der fünften und sechsten Sestine kommt es dann, nach ausladenden liebevollen Gesinnungen, zur direkten Anrede, zur invocatio an die ferne Karoline. Hartnäckigkeit und Konsequenz kann man Humboldt nicht absprechen. Es geht dabei um die pathosvolle Einladung zur Stiftung einer konkreten Gemeinschaft der Seelen, die sich in erster Linie der Metapher des Bundes bedient. Die liebevoll formulierte Aufforderung, die zärtliche 11 Wilhelm von Humboldt: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Abteilung 1: Briefe bis zum Beginn der diplomatischen Laufbahn 1781 – 1802. Bd. 1: 1781 – Juni 1791. Herausgegeben und kommentiert von Philip Mattson. Berlin 2014, S. 107 – 108, hier S. 107. Zur Datierung siehe den Kommentar von Philip Mattson, ebd., S. 446. 12 Dazu siehe Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977; Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, bes. S. 147 – 154 und Michel Delon: Le principe de délicatesse. Libertinage et mélancolie au XVIIIe siècle. Paris 2011, bes. S. 105 – 175. 13 Wilhelm von Humboldt: Briefe. Bd. 1 (wie Anm. 11), S. 107.

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Äußerung, die schnell in den Geruch der ‚Empfindelei‘ hätte geraten können, hat – kaum zu übersehen – einen imperativischen Charakter. Sie stellt außerdem Szenarien einer Genugtuung kosmischen Formats in Aussicht: Schließe, Lina, schließ den Bund, Der an Seele Seele kettet, Der aus diesem Erdenrund Uns in bessre Sphären rettet, Den von seines Thrones Herrlichkeit Hoch der Vater sieht und benedeit! Nie zerreißt ein Liebesband, Von der Tugend selbst geschlungen. Siehst Du nicht im Sternenland, Wenn wir endlich ausgerungen Dieses Pilgerleben, ausgeweint Jedes Leiden, dort uns fest vereint? 14

Karoline soll den „Bund“ schließen, der die Vereinigung ihrer Seelen ratifizieren wird. Der erste Satz im Imperativ ist so etwas wie eine Kennmarke von Humboldts sentimentaler Haltung. Die syntaktische Struktur des darauf folgenden Relativsatzes im zweiten Vers führt zur symmetrischen Aneinanderreihung der zwei Seelen, die dadurch gepaart in der Versmitte erscheinen können. Mit dem Rekurs auf das Bild des Bundes greift Humboldt auf einen zentralen Begriff des politisch-juridischen Diskurses der Neuzeit zurück 15 und dehnt dessen Pertinenz auf den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen metaphorisch aus. 16 Es geht auch in diesem Fall um eine „figürliche Bedeutung“ des Terminus. „Bund“ wie „Bündniß“ sei, wie Adelung in seinem Wörterbuch deutlich erkannte, „figürlich, der Vertrag, die Verabredung, wodurch sich mehrere Personen oder freye Staaten zu gewissen gegenseitigen Pflichten verbinden.“ 17 Bezogen auf zwei Personen markiere die Wortwahl „Bund“ Ende des 18. Jahrhundert

14 Ebd, S. 107 – 108. 15 Reinhart Koselleck: Bund, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1: A – D. Stuttgart 2004, S. 582 – 671. Siehe außerdem die „Einleitung“ von Franz M. Eybl, Daniel Fulda und Johannes Süßmann in diesem Sammelband. 16 Zur Bund-Metaphorik im Zeitalter der Aufklärung, jedoch ohne Bezug auf unseren besonderen Kontext, siehe Angelika Beck: „Der Bund ist ewig“. Zur Physiognomie einer Lebensform im 18. Jahrhundert. Erlangen 1982. Siehe außerdem die grundlegende Studie von Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. Vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock. Halle an der Saale 1936. 17 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Erster Band. Leipzig 1793, Sp. 1254.

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außerdem eine Art Archaismus, der in Humboldts Fall den poetischen Duktus des Gedichts nobilitieren soll. „Überhaupt“, so Adelung weiter, „kommt dieses Wort [scil. Bund] im Hochdeutschen in dieser ganzen figürlichen Bedeutung [. . . ] außer der dichterischen Schreibart, immer seltener vor, indem das Wort Bündniß üblicher geworden ist.“ 18 Humboldt evoziert also – bewusst archaisierend – das Bild des „Bundes“ und meint damit, was lat. „foedus“ entspricht, 19 d. h. ein „Bündniß“, dem die religiösen Konnotationen des Wortes „Bund“ zuteil werden, insbesondere die biblischen Vorstellungen der Allianz zwischen Gott und seinem Volk, also jener diathéke (2 Kor. 3:14), die Luther mit dem Terminus „Bund“ übersetzt hatte. 20 Wie Adelung weiter präzisiert, ist nämlich das Wort „Bündniß“ „vermittelst der Endsylbe -niß von Bund gebildet.“ 21 Bei Humboldt bedeutet es nicht einen juristischen Vertrag, sondern ein nobilitierendes Treueverhältnis. Der religiöse Unterton der Humboldt’schen Sestinen ist dabei kaum zu überhören, denn der von Karolines Entscheidung abhängige Seelenbund und die damit verbundene empfindsame Aktivität beider Kontrahenten soll die Freunde „in bessre Sphären“ retten und als Antriebskraft gelten auf dem Weg zu einer stufenweisen, transzendierenden Vervollkommnung, die – kanonischer christlicher Ikonographie entsprechend – in die „Herrlichkeit“ des segnenden Gott-Vaters mündet. Die zwischenmenschliche Interaktion erweist sich als Trieb zur Vollkommenheit, als Beförderungsdispositiv einer höheren Kultur und Moralität. Theologisches und Säkulares gehen dabei eine besondere Verbindung ein, in der man die Chiffre der spätaufklärerischen Empfindsamkeit erkennen darf. 22 Im hochgesinnten Bündnis zwischen Karoline und Humboldt werden – dem Bilde nach – ihre Seelen fest zusammengefügt, fest miteinander vereinigt. Dieses Zusammenfügen, dem die Semantik des Bindens stets zugrunde liegt, führt idealiter zu einer neuen Einheit, zu einer engen Beziehung, zu einer zwischenmenschlichen Verbindung oder „Verbündung“, wie es noch im späten 18. Jahrhundert mit leichter vokalischer Variation heißen konnte. Eine solche „Verbindung“ hatte Humboldt zusammen mit Carl von La Roche und zwei weiteren Berliner Freundinnen – Henriette Herz

18 Ebd. 19 Ebd. 20 So noch in der revidierten Fassung „Lutherbibel 2017“: „Aber ihr Sinn wurde verstockt. Denn bis auf den heutigen Tag bleibt diese Decke über dem alten Bund, wenn daraus gelesen wird; sie wird nicht aufgedeckt, weil sie in Christus abgetan wird.“ https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lutherbibel-2017/bibeltext/bibel/text/ lesen / stelle / 57 / 30001 / 39999 / , letzter Zugriff: 08. 10. 2018. 21 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch (wie Anm. 17), Sp. 1255. 22 Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1 (wie Anm. 12), S. 211 – 226.

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und Brendel Veit – einige Monate zuvor gegründet. Es ging dabei um einen „Geheimzirkel, mit strengen Regeln bezüglich der Mitgliedschaft, Neuaufnahmen, Umgangsformen“, die unter den vier „Verbündeten“ 23 – so nannten sie sich – vereinbart wurden. 24 „Freundschaft und Liebe soll uns beglükken“ – so lautete die Devise in dem kleinen Kreis. „[W]ahre Empfindsamkeit“ sollte dabei verstellte Lobhudelei bekämpfen und die „Früchte der edelsten Tugenden“ hervorbringen. 25 In Humboldts Strophen für Karoline sind die Grundlinien eines scheinbar ähnlichen sentimentalen Unternehmens abgesteckt, das jedoch – bei genauerem Hinsehen – so ganz andere Wege gehen möchte. Auf den Nägeln brennt nun Humboldt die Realisierung einer zweigliedrigen Gemeinschaft, die von Statuten, Pflichten und Eifersucht im kleinen Kreis nichts mehr wissen will. Um dieses metaphorische und zugleich psychophysische Verfahren zu veranschaulichen, beruft sich Humboldt auf das traditionsreiche Bild der „Kette“, aber die Kette, die ihm vorschwebt, beschränkt sich auf zwei Individuen: Der neue Bund mit Karoline soll Seele an Seele „ketten“ – wiederum leicht archaisierend in der Wortwahl „ketten“ statt „verketten“. In solcher Wortwahl schimmert eine einheitliche Grundvor-

23 Wilhelm von Humboldt: Briefe. Bd. 1 (wie Anm. 11), S. 110. 24 Philip Mattson ist im Rahmen seiner editorischen Arbeiten an Humboldts Briefkorpus den verwickelten Zusammenhängen der Überlieferung, Erschließung und Auslegung der mit dem Geheimzirkel verbundenen Unterlagen nachgegangen und hat die schwierige und faszinierende Materie durchleuchtet. Die Geschichte dieses Geheimzirkels ist jetzt gut erforscht. Die Ergebnisse von Mattsons einschlägigen Forschungen zum Geheimzirkel kann man u. a. in der von ihm besorgten historisch-kritischen Briefausgabe nachlesen (Wilhelm von Humboldt: Briefe [wie Anm. 11]). Auf der Basis der Mattson’schen Briefedition konnten in den vergangenen Jahren neue wissenschaftliche Untersuchungen zum Geheimzirkel gedeihen, die für Licht und Klarheit gesorgt haben. Es sei hier u. a. auf folgende Sammelbände und Studien hingewiesen (darin weitere Literatur): Hannah Lotte Lund / Ulrike Schneider / Ulrike Wels (Hg.): Die Kommunikations-, Wissens- und Handlungsräume der Henriette Herz (1764 – 1847). Mit 10 Abbildungen. Göttingen 2017; Liliane Weissberg: Das Projekt der Aufklärung und der „Tugendbund“, in: Frieder von Ammon / Cornelia Rémi / Gideon Stiening (Hg.): Literatur und praktische Vernunft. FS Friedrich Vollhardt. Berlin / Boston 2016, S. 465 – 483; Petra Wilhelmy-Dollinger: Tugendbund (um Henriette Herz), in: Uta Motschmann (Hg.): Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786 – 1815. Berlin / München / Boston 2015, S. 425 – 435; dies.: Tugendbund (um Henriette Herz), in: Uta Motschmann (Hg.): Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786 – 1815. Supplement: Satzungen und programmatische Schriften. Berlin / Boston 2016, S. 387 – 393; Verf.: La „ligue de la vertu“ et les billevesées de l’amitié: mélancolie du solitaire et liens d’intimité salonnière à Berlin au tournant des Lumières, in: Sophie Abdela u. a. (Hg.): La sociabilité du solitaire. Pratiques et discours de l’intimité, de l’exclusion et du secret à l’époque moderne. Paris 2016, S. 109 – 124. Siehe außerdem den glänzenden Beitrag von Chiara Conterno: Il carteggio tra la salonnière berlinese e lo studente di medicina. Henriette Herz e Louis Baruch (alias Ludwig Börne), in: Romanticismi 2 (2016 – 2017), S. 133 – 153, bes. S. 138. 25 Wilhelm von Humboldt: Briefe. Bd. 1 (wie Anm. 11), S. 129.

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stellung im Keim durch, die dann den ganzen Briefwechsel 26 zwischen Humboldt und Karoline in die späten 1820er Jahre hinein charakterisieren wird: Durch die reine Liebe werden in ihrer Beziehung in geistigem Sinne die Zwei eins. 27 Sie werden mit goldener Kette aneinander ‚gefesselt‘, Herz an Herz, Brust an Brust. 28 Solche Verschmelzungsphantasien, die in der körperlichen Vereinigung zwar ihren Ausgangspunkt haben, sich aber von ihr rasch loslösen wollen, schlagen sich prinzipiell im Bereich des Geistigen nieder und scheinen in erster Linie von Diotimas Rede in Platos Symposion (210a – 212a) beeinflusst worden zu sein, die bekanntlich eine Neubestimmung des Eros als Aufstiegskraft zum Schönen und zur Tugend einführt. In der von Johann Friedrich Kleuker besorgten Übersetzung von 1783, die Humboldt wohl bekannt war, 29 liest man von einem verliebten Menschen, der „nicht mehr blosse Bilder der Tugend aus sich gebiert; sondern die Wahrheit und das Wesen derselben. Muß ein solcher, nachdem er wahre Tugend gebohren hat und derselben wartet und pfleget, nicht auch der Gottheit Freund und wenn irgend ein Mensch, unsterblich werden?“ 30 Der platonische (oder ‚platonisierende‘) Zusammenhang von Liebe, Tugend und Vervollkommnung scheint bei genauem Hinsehen den Humboldt’schen Versen zugrunde zu liegen. Sie besingen ein unzerstörbares „Liebesband“, das „von der Tugend selbst geschlungen“ wurde. Humboldt kontaminiert in der oben herangeführten Strophe platonisches Gedankengut mit christlichen Vorstellungen von Vergänglichkeit, diesseitigem Jammertal und jenseitiger Erlösung. Die von der platonischen Diotima verheißene Unsterblichkeit der Liebenden versteht sich nun bei Humboldt nur im Rahmen eines neutestamentlich gefärbten „Sternenland[es]“, in 26 Grundlegend zum Verständnis des Briefwechsels: Ernst Osterkamp: Unendlichkeit. Über die Bedeutung eines Begriffs im Briefwechsel Karoline und Wilhelm von Humboldts, in: Jutta Müller-Tamm / Cornelia Ortlieb (Hg.): Begrenzte Natur und Unendlichkeit der Idee. Literatur und Bildende Kunst in Klassizismus und Romantik. Freiburg im Breisgau 2004, S. 183 – 197. 27 Hierzu siehe Verf.: ‚Anthropologia dualis‘. Ein Annäherungsversuch an Wilhelm von Humboldts Rede „Ueber den Dualis“ im Kontext der Goethezeit, in: Etudes Germaniques 70 (2015), S. 633 – 657, bes. S. 645 – 652. 28 Zur Tradition der „goldenen Kette“ siehe Friedrich Ohly: Zur goldenen Kette Homers, in: Gerhard Buhr et al. (Hg.): Das Subjekt der Dichtung. Festschrift Gerhard Kaiser. Würzburg 1990, S. 411 – 493. Ferner: Allan Bloom: Love and Friendship. New York u. a. 1993, bes. S. 429 – 546. 29 Eine eingehende Untersuchung des Platonismus im Gesamtwerk Humboldts ist ein Desiderat der Forschung. Plato spielt eine wichtige Rolle in den Bildungsjahren Humboldts, wird in seinen Frühschriften explizit erwähnt bzw. bildet den Gegenstand von Humboldts Interesse und prägt seine Liebesauffassung bis zu seinem Tod. Wichtig u. a. hierzu: Jürgen Trabant: Apeliotes oder Der Sinn der Sprache. Wilhelm von Humboldts Sprach-Bild. München 1986, S. 15 – 17. 30 Werke des Plato. Dritter Band. Lemgo 1783, S. 107 – 108.

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dem erst das wunschlose Glück einer vollkommenen Vereinigung statthaben kann. Solche Vereinigung im Jenseits stellt wiederum einen landläufigen Topos der spätaufklärerischen Empfindsamkeit dar, der nicht zuletzt durch das Medium der Musik Möglichkeit zu weltweiter Verbreitung fand. Humboldts Mentor Joachim Heinrich Campe wird beispielsweise ein Lied zugeschrieben, das dank Mozarts Musik (Abendempfindung, 1787, KV 523) zu einem Manifest empfindsamer Kultur avancierte. Da kehren die Motive der Pilgerfahrt, des irdischen Leidens und der Hoffnung wieder, die auch in Humboldts Sestinen zum Vorschein treten: Bald vielleicht – mir weht, wie Westwind leise, Eine stille Andung zu! – Schlies ich dieses Lebens Pilgerreise, Fliege in das Land der Ruh. Werden Freunde dann an meinem Grabe weinen, Und mit Schmerz meine Asche sehn; Dann ihr Lieben will ich euch erscheinen Und will Himmel auf euch wehn. 31

Humboldts Gedicht basiert – im Unterschied zu Abendempfindung – auf einem imaginären Dialog mit der verschwisterten Freundin, und nicht mit Freunden im Plural. Ihr ‚duales‘ Bündnis steht im Zeichen einer Freundschaft, die wie ein einendes Band wirkt.

2 Das ewige Bündnis der Freundschaft: antike Visionen und moderne Interpreten Die Vergegenwärtigung dieses Bildes, die bildhafte Darstellung des Seelenbundes durch Verknüpfungsvisionen ermöglicht ferner die Anbindung des Gedichts an eine ehrwürdige Tradition lyrischer Poesie, die in Humboldts Vorstellungswelt durchschimmert. Wie eine heimliche Himmelsgabe besungen steht das Bild des Bündnisses bekanntlich auch im Mittelpunkt einer Tradition antiker Lyrik, die Freundschaft und Liebe dem Schutz der Götter anzuvertrauen pflegt. In elegischen Tönen sprechen die Ursprünge dieser Tradition und Catull ist einer ihrer wortgewandten Hohepriester. Mit glänzender Sprachkraft inszeniert er im Carmen CIX. einen Dialog des dichtenden Ich mit seinem „eigenen Leben“, in dem das foedus, ja

31 Dichter-Manuskripte. Herausgegeben von [Johann Friedrich] Schink. Erste Sammlung. Wien 1781, S. 172 – 173. Zum Lied siehe David Paisey: Who was Mozart’s Laura? Abendempfindung and the Editors, in: Electronic British Library Journal, http://www. bl . uk / eblj / 2006articles / article9 . html, letzter Zugriff: 28. 12. 2018.

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das Bündnis zwischen ihm und der geliebten Lesbia unter Anrufung der Götter geschlossen wird. Die Ausgangslage könnte für das dichtende Ich beseligender kaum sein: Lesbia hat ihm ein Wonne gewährendes Liebesverhältnis vorgeschlagen; geradezu glücklich („iucundum“) male sie ihm diesen „amor“ aus, ohne Ende gar möchte ihre Liebe sein! Nimmt das dichtende Ich ihr Anerbieten an, so kommt es zu einem intimen Bündnis, das die Verbindlichkeit eines juristischen Vertrags zwar nicht besitzt, aber zumindest metaphorisch einer möglichst dauerhaften Allianz der Seelen und der Körper entsprechen möchte, die als solche unter rechtliche Bestimmungen nicht fallen kann. Die ehrbare Zuneigung dieses Zweierpaars, denkbar fern von den käuf lichen Liaisons der attischen Hetärenmietsverträge, 32 versteht sich dabei als ein seltenes, äußerst fragiles Pflänzchen, das des anhaltenden Schutzes höchster Instanzen bedarf und auf die gegenseitige Förderung der Liebenden angewiesen ist. Darauf deuten die zwei abschließenden Distichen von Catulls Gedicht hin: Di magni, facite ut vere promittere possit, atque id sincere dicat et ex animo, ut liceat nobis tota perducere vita aeternum hoc sanctae foedus amicitiae. 33

Aus der persönlichen Situation lässt der römische Dichter himmelwärts Hoffnungen herauswachsen: Mögen die großen Götter dafür bürgen, dass Lesbias Versprechen wahr werde, ja dass sie dies aufrichtig sage, und von Herzen, damit es den Liebenden offenstehe, ihr ewiges Bündnis heiliger Freundschaft („aeternum hoc sanctae foedus amicitiae“) ein ganzes Leben lang fortzuführen. Die Metapher des „foedus“ verweist somit bei Catull auf eine zwischenmenschliche Beziehung, bei der beide Kontrahenten aus Liebe und stets freiwillig einander treu sind. Eine 1793 erschienene Übersetzung des ganzen Gedichts, besorgt von keinem Geringeren als Karl Wilhelm Ramler, hat folgenden Wortlaut:

32 Hierzu Richard Reitzenstein: Zur Sprache der lateinischen Erotik. Heidelberg 1912, bes. S. 9 – 11. Zu den Hetären als Reflexionsfigur im 18. Jahrhundert siehe Charlotte Kurbjuhn: Symposien und Hetärenkultur. Imaginationen antiker Geselligkeit um 1800, in: Günter Oesterle / Thorsten Valk (Hg.): Riskante Geselligkeit. Spielarten des Sozialen um 1800. Würzburg 2015, S. 73 – 98. 33 Gaio Valerio Catullo: Le poesie. Testo, traduzione e commento a cura di Alessandro Fo. Con interventi di Alfredo Maria Morelli e Andrea Rodighiero. Torino 2018, S. 300. Zum Kommentar siehe ebd., S. 1181 – 1184.

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An die Lesbia Du versprichst mir, mein liebstes Leben, daß unsere Liebe Immer so vergnügt seyn soll, und ewig bestehn. Große Götter, o gebt, daß dieses Versprechen ihr möglich, Daß es ein Ernst ihr sey, daß es von Herzen ihr geh’, Und daß unser ganzes Leben hindurch der geschloßne Heilige Freundschaftsbund unter uns heilig besteh! 34

Höher als die Liebe steht hier die Freundschaft. Das „heilige“ Freundschaftsbündnis, die propositio amicitiae schließt dabei die Vorstellung eines festen Liebesbundes ein und verleiht ihm die Züge eines besonderen Treueverhältnisses, bei dem die persönliche Beziehung der Liebenden nicht auf rechtlicher Bindung beruht (wie bei einem Ehebund), sondern auf reziproker, zugleich sinnlicher und geistiger Zuneigung. Catull empfindet seine Liebe als Freundschaft „in dem Sinne einer Zeit, welche die Freundesliebe wohl auf die geistigen und sittlichen Vorzüge, Gemeinsamkeit der Neigungen und Interessen zu begründen pflegt, [. . . ] aber doch sinnliches Wohlgefallen, ja, eine gewisse Leidenschaft nicht ausschließt“. 35 Der Rückgriff auf das Bild des Freundschaftsbündnisses zur Bezeichnung eines Liebesverhältnisses indiziert durch solch paradox anmutende Wortwahl die außerordentliche Qualität jener erotisch-sentimentalen Beziehung. 36 Das Ableitungsverhältnis von amor aus amicitia – eine dem heutigen Wortverständnis vielleicht kontraintuitiv anmutende Auffassung von amicitia als Steigerung von amor – kommt dabei voll zur Empfindung und etabliert Bande, die äußerst prekär sind und dennoch als lebensnotwendig erscheinen. Catull sucht nach einer eigenen Sprache, um eine besondere Erfahrung zu definieren, für die die bisherige lateinische Dichtung noch keine adäquate Lexik entwickelt hatte. 37 Das prägnante Bild der Freundschaftsbindung dient somit dazu, einer Beziehung Gestalt zu geben, die dem Dichter deutlich mehr als eine flüchtige Neigung bedeutet und die er daher als lebenswichtig erachtet.

34 Kajus Valerius Katullus in einem Auszuge Lateinisch und Deutsch. Von Karl Wilhelm Ramler. Leipzig 1793, S. 385. Zu Ramler als Übersetzer siehe Jürgen Leonhardt: Ramlers Übersetzungen antiker Texte, in: Laurenz Lütteken / Ute Pott / Carsten Zelle (Hg.): Urbanität als Aufklärung. Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2003, S. 323 – 353. Über Catull im 18. Jahrhundert siehe Ute Felicitas Wetzel: Catulle francisé. Untersuchungen zu französischen Catullübersetzungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Sankt Augustin 2002, bes. S. 58 – 67. 35 Reitzenstein: Zur Sprache der lateinischen Erotik (wie Anm. 32), S. 29. 36 Franco Bellandi: „Lepos“ e „pathos“. Studi su Catullo. Bologna 2007, bes. S. 371 – 375. 37 Frank O. Copley: Emotional Conflict and Its Significance in the Lesbia-Poems of Catullus, in: American Journal of Philology 70 (1949), S. 22 – 40, bes. S. 22 – 25 f.

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In Catulls Versen tut sich ein Wertehorizont auf, der der „seelische[n] Kultur“ 38 des späten 18. Jahrhunderts als höchst kongenial erscheinen musste. „Liebe soll uns zur Freundschaft laden, Liebe soll selbst die innigste Freundschaft werden“ – so heißt es beispielsweise in Herders einflussreicher Schrift Liebe und Selbstheit von 1781. 39 Ungeachtet der im Titel angekündigten Hochwertwörter „Liebe“ und „Selbstheit“ wird darin der Triumph der Freundschaft verherrlicht. Als soziale und kosmische Kraft sei sie „reiner und also gewiß auch mächtiger“ als Liebe, ihre „Glut“ sei „reine erquickende Menschenwärme“, sie bilde den „höchste[n] Lichtpunkt aller Sehnsucht.“ 40 Die klassische Antike liefert auch bei Herder Modelle unanfechtbarer Gültigkeit, erscheint ihm doch das „Bild der Alten von der Freundschaft, ‚die beiden in einander geschlungenen Hände‘“ als das „beste Sinnbild ihrer Vereinigung, ihres Zwecks und Genusses“. 41 Hervorgehoben wird dabei insbesondere die gesellschaftsstiftende und -erhaltende Funktion des Freundschaftsbundes, der in ähnlicher Wortwahl wie bei Catull – wir erinnern uns: „sanctae foedus amicitiae“ – wiederum als jenes „heilig[e] Band“ definiert wird, das „Herzen und Hände zu Einem gemeinschaftlichen Zweck zusammen[knüpft]“. 42 Im Neunten Buch der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit erkennt Herder in der „Freundessprache“ ein Hauptmittel zur „Bildung der Humanität in uns“. 43 „Freundes-Empfindungen“ zählen, so Herder weiter, zu den „schönsten Gliedern“ der „Goldene[n] Kette der Bildung“ 44 und bilden somit ein Hauptkapitel jener „Geschichte der Menschheit in herabgeerbten Formen des Herzens und der Seele“, 45 die er in seinem Werk nachzuzeichnen trachtet. 38 Zum Vorrang der Freundschaft vor der Liebe, besonders in der elegisch-anakreontischen Tradition, siehe nach wie vor Paul Kluckhohn: Die Auffassung der Liebe im 18. Jahrhundert und in der Romantik. Zweite Auf lage. Halle 1931, bes. S. 180 – 182. Siehe außerdem Erich Trunz: Seelische Kultur. Eine Betrachtung über Freundschaft, Liebe und Familiengefühl im Schrifttum der Goethezeit, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 24 (1950), S. 214 – 241, bes. S. 215 – 217. 39 [Johann Gottfried] H[erder]: Liebe und Selbstheit. Ein Nachtrag zum Briefe des Herrn Hemsterhuis, in: Der Teutsche Merkur, Viertes Vierteljahr, 1781, S. 211 – 235, hier S. 221. 40 Ebd., S. 220. 41 Ebd., S. 217. 42 Ebd., S. 218. Über Catull bemerkt Herder: „Wie schön ist seine Sprache, mannigfalt und reizend seine Dichtkunst“ (Johann Gottfried Herder: Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten, in: Abhandlungen der baierischen Akademie über Gegenstände der schönen Wissenschaften. Erster Band. München 1781, S. 25 – 138, hier S. 78). 43 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a. 1785, S. 232. 44 Ebd., S. 222. 45 Ebd., S. 228.

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3 Blüten unzertrennlichen Zugehörens Die pädagogische Funktion der freundschaftlichen Liebe prägt wesentlich auch die Beziehung zwischen Humboldt und Karoline nach ihrer Verlobung im Jahr 1789. 46 Die Präsenz des Anderen wird geradezu zum Antidot gegen nihilistische Vorstellungen. Und wiederum erweist sich dabei eine gewisse Verknüpfungsmetaphorik als ausschlaggebend: „Deine Liebe ist nun das Band, das mich an mich selbst und die Wahrheit knüpft, und sie macht, daß ich nie aufhöre, meines innern Seins froh zu werden“, so Humboldt am 20. März 1790. 47 Das Bündnis ist nun zur stabilen „Verbindung“ geworden, zum rechtlichen conjugium, zur Ehe, d. h. zu einem rechtlichen Bund, der bei Humboldt und Karoline als Liebesbund verstanden sein will: so „können wir uns im Sommer 91 verbinden.“ 48 Wie sehr Herders Überlegungen mit ihren antiken Bezügen Einfluss auf die jüngere Generation ausgeübt haben, erhellt außerdem aus zwei Briefen Humboldts, die direkten Bezug auf die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit nehmen. „Mit den Blumen treibt Herder überhaupt großen Spuk“, so lässt Humboldt verlauten. 49 Gemeint ist hier die Blumenmetaphorik, zu der Herder immer wieder greift zur Veranschaulichung seines geschichtlichen Denkens. Mag Humboldt diese Metaphorik nun als „Spuk“ erscheinen, sie hat nichtsdestoweniger auch seine Auffassung der Freundschaft und der Liebe für Karoline nachhaltig bedingt. Die botanische Metaphorik löst nämlich die Bündnis-Metaphorik gleichsam ab und gibt der Idee des Einswerdens der Seelen ein neues Gewand. Ein 46 Dazu Peter Weisz: Beziehungserfahrung und Bildungstheorie. Die klassische Bildungstheorie im Lichte der Briefe Caroline und Wilhelm von Humboldts. Frankfurt am Main 2005. 47 Wilhelm von Humboldt: Briefe. Bd. 1 (wie Anm. 11), S. 256. 48 Ebd., S. 262. Verbreitet war die Auffassung der Ehe als höchster Form affektiver Zuneigung, jenseits von Interesse und Zwang, bereits im frühen 18. Jahrhundert. Bilder des Verbindens markieren nach wie vor die Struktur der Argumentation. Zum Preußischen Territorium siehe beispielsweise: Rede, welche bey der Beerdigung des Königl. Preußischen General-Maiors, Freyherrns von Lethmathe, von dem Fürstlich Anhaltischen Hof-Rath, Herrn von Proeck am I Sept. an. 1714. abgeleget worden, in: Grosser Herren, vornehmer Ministren, und anderer berühmten Männer gehaltene Reden. Neundter Theil. Hamburg 1731, S. 857 – 858: „Edle Gemüther wissen wohl, daß ein eheliches verbinden nicht heißt, ehre, güter und reichthum heyrathen, sondern sich mit menschen vermählen, und da muß tugend und gleichheit des gemüths der fürnehmste endzweck seyn.“ Die eheliche Bindung wird nicht mehr nur als Verpflichtung zur Aufrechterhaltung des Familiengeschlechts wahrgenommen, sondern als Möglichkeit, die eigene Moralität zu verwirklichen. Berücksichtigt werden dadurch die – mit Humboldts Worten – „Bedürfnisse des Geistes und Herzens“ (Wilhelm von Humboldt: [Aus Kleins Vorträgen über Naturrecht], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VII / 2: Paralipomena. Hg. von Albert Leitzmann. Berlin 1908, S. 477). 49 Wilhelm von Humboldt: Briefe. Bd. 2: 1791 – 1795. Hg. von Philipp Mattson. Berlin 2015, S. 210.

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Beispiel muss hier genügen. In einem Brief vom 11. November 1790 heißt es: Ach Li, immer ist mir’s, als wären wir beide nur verschiedene Blüten desselben, in stiller Einsamkeit unter dem Hauch milder Lüfte aufgesproßten Stammes. Darum werden wir auch zusammen dahinwelken und in einen Staub uns mischen und aus einem Staube wieder zu neugestalteten, aber immer gleich verschwisterten Blüten hervorgehn! 50

Das harmonische Nebeneinander der „verschwisterten Blüten“ erscheint als das Resultat einer kontinuierlichen Metamorphose hin zur Vollkommenheit des Zusammenseins. Zyklisches und Aufsteigendes sind hier gepaart. Der Bereich der natürlichen Verwandtschaften, implizit in der Idee der Verschwisterung und zentral in der Metaphorik der Humboldt’schen Brautzeit, wird auf das Gebiet der Liebesbeziehung übertragen. Letzteres erscheint dadurch als eine von Natur aus unabänderliche, höchst erfreuliche Tatsache. Was durch Pflanzen- und Blütenmetaphorik angekündigt wird, führt Humboldt in einem weiteren Brief an die Braut vom 20. März 1791 aus. Das Beieinandersein der zwei Blüten tritt hier als Figuration einer leib-seelischen Ganzheitserfahrung auf: Wenn ich es ausdrücken sollte, was mir das seligste Gefühl Deiner Liebe ist, so wäre es diese ewige Nähe, diese unaussprechliche Gegenwart, daß ich nicht begreife, was Entfernung, Trennung ist unter uns [. . . ]. Dann fühl ich es so innig, daß ich Dein bin und Du mein, und in dieses Gefühl hat doch die höchste Liebe ihrer unendlichen Wonne süßeste gelegt. Nichts gibt diese dauernde Ruhe, als diese Gewißheit des unzertrennlichen Zugehörens, nichts diese Kraft, als diese stete Empfindung des gedoppelten Seins, nichts diese Kraft beglückendster Spannung, als diese ineinander verschmolzene Einheit. 51

„Gewißheit des unzertrennlichen Zugehörens“ – die Hoffnung auf ein ewiges Bündnis, generiert vom Prinzip einer vollkommenen Symmetrie, äußert sich in dieser Passage u. a. durch die Widerspiegelung der aneinander gereihten Pronomina „Ich“ und „Du“. Sie stellen eine imaginierte „ineinander verschmolzene Einheit“ dar, die den beiden ‚Liebesbündlern‘ von Anfang an als Chiffre ihrer hochgesinnten Verbindung gegolten hat.

50 Wilhelm von Humboldt: Briefe. Bd. 1 (wie Anm. 11), S. 348 – 351, hier S. 350. 51 Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Bd. 1 (wie Anm. 4), S. 432 – 434, hier S. 432 – 433.

IV. Schriftsteller-Bündnisse und ihre Medien

Daniel Ehrmann

Bündnisse, die es nie gegeben hat Lessing, Klotz und die Dynamik latenter Allianzen

Bündnisse sind der Gegenstand von Erfolgsgeschichten. Das meint freilich nicht, dass sie ihre Ziele immer erreichen, sondern vielmehr, dass sie beinahe ausschließlich dann in den Blick geraten, wenn sie zustande kommen und damit auch selbst handlungsmächtig werden. So metaphorisch daher seine Existenz auch gewesen sein mag, 1 der ‚Dichterbund‘ zwischen Goethe und Schiller ist auch deshalb das bestens erforschte, nahezu notorische Beispiel literarischer Allianzbildung, weil er sich in vielfältigen poetischen, theoretischen und literaturpolitischen Einsätzen dokumentiert. Es sind diese greifbaren Relikte der Zusammenarbeit in den gut zehn Jahren um 1800, 2 die unzählige Narrationen dieses ‚Bundes‘ in vielfältigen Variationen motiviert haben. Neben diesen gut dokumentierten Formen des literarischen ‚Bündnisses‘ scheint es aber einen weiteren Typus zu geben, der auch deshalb viel weniger beachtet ist, weil er sich zum Teil nur mühevoll in tradierbare Erzählungen formen lässt. Nur selten nämlich treten Bündnisse in den Blick, die es nie gegeben hat. Gewiss: Bevor es überhaupt geschlossen wird und damit einen neuen Komposit-Akteur in Erscheinung treten lässt, der sich aus mehreren Part1 Man wird im Bereich der Literatur kaum einen Fall finden, in dem ein formelles, etwa vertraglich fixiertes Bündnis vorliegt; häufig begegnen aber beschreibbare Allianzen im Sinne gemeinsamer Handlung, die informell artikuliert werden oder unausgesprochen bleiben. Generalisierende Aussagen werden daher nicht weit führen und man ist auf die Untersuchung und Charakterisierung von Einzelfällen angewiesen. Wo es eine solche terminologische Unsicherheit gibt, wird der Begriff hier in einfache Anführungszeichen gesetzt, im Folgenden aber darauf verzichtet, ohne dadurch die Problematik der Verwendung zu vergessen. Vgl. dazu auch Daniel Ehrmann: Dichter Bund – loses Netz. Multiple Bündnisse als Unruhestifter im Literatursystem, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 92/4 (2018), S. 463 – 492. Dieser Beitrag geht wie der vorliegende auf einen Vortrag zurück, der bei der gemeinsamen Jahrestagung der DGEJ und ÖGE 18 „Bündnisse. Politische und intellektuelle Allianzen im Jahrhundert der Aufklärung“ (15. – 17. 09. 2014) in Regensburg gehalten wurde. Dass sich beide Aufsätze in einzelnen Punkten überschneiden, war nicht gänzlich zu vermeiden. 2 Bereits früh wurden die zwischen 1794 und 1805 entstandenen Texte Goethes und Schillers mit dem hypostasierten Bündnis in so enge Verbindung gebracht, dass sie kaum mehr als Monumente, sondern meist auch als Dokumente der Fruchtbarkeit dieser Verbindung gelesen wurden. Zur Unterscheidung von Monument und Dokument vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main 1981, S. 14.

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nern zusammensetzt, aber als Einheit handelt, gibt es das Bündnis noch gar nicht als unter diesem Namen beschreibbares Phänomen. Gesteht man aber dem Bündnis eine Existenz vor seinem Abschluss, eine Latenz zu, die auch die Möglichkeit seiner Nichtrealisierung einschließt (dynamis), dann treten etwa auch ausgebliebene Bündnisse, gescheiterte Verhandlungen und Interventionen der Abwerbung in den Blick. Solche Formen virtueller Allianzen, ausgebliebener und nicht zuletzt auch zugeschriebener Bündnisse werden im Folgenden erkundet.

1 Kairos – Zeitlichkeit und Symbolik von Bündnissen Mitte Oktober 1773 schreibt ein noch kaum bekannter Dichter einen Brief an den damals als ‚avancierter‘ Autor bereits bestens positionierten Heinrich Wilhelm Gerstenberg, in dem er einen ‚Bund der Guten‘ imaginiert. 3 Es war kein anderer als der junge Goethe, der eben erfolgreich seinen Götz von Berlichingen veröffentlich hatte und nun versuchte, von Frankfurt aus weitläufigere Verbindungen zu schlagen, poetisch-strategische Allianzen zu schließen. Es sollte damit weit mehr als nur ein Kontakt hergestellt werden, wie nicht zuletzt aus jenem Schreiben Gottlob Friedrich Ernst Schönborns 4 an Gerstenberg hervorgeht, in das Goethes Brief eingelegt war: „Ich sagte ihm [Goethe, D.E.] daß ich wünschte zwey solche Männer wie Er u Sie möchten sich schriftlich unterreden: Er wünsche es auch u da er erfuhr daß ich von hier [Frankfurt am Main, D.E.] aus an Sie schrieb sagte er mir er wolle ein paar Zeilen mit beylegen u da sind sie.“ 5 Der junge Autor, der ‚noch keine Rolle spielt‘, 6 erhofft sich Förderung durch Einbindung in das bereits bestehende Netzwerk des arrivierten Kollegen, dem als Gegenleistung die Versüßung einiger Stunden in Aussicht gestellt wird. Eine wohl nicht ganz ausbalancierte Offerte also.

3 „Mein bester Wunsch ist immer gewesen, mit den Guten meines Zeitalters verbunden zu seyn“, schreibt Goethe an Heinrich Wilhelm Gerstenberg, [16].10.1773, in: Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. in 143. Weimar 1887 – 1919 (im Folgenden zit. als WA), Abt. IV, Bd. 2, S. 112. 4 Der heute kaum noch bekannte Schönborn (1737 – 1817), in dänischem Diplomatendienst, war zwar selbst auch Schriftsteller, ist aber vor allem aufgrund seines persönlichen Netzwerks von Bedeutung, das u. a. Klopstock, Gerstenberg und die Brüder Stolberg umfasste. 1773 lernte er Goethe in Frankfurt durch eine Empfehlung Heinrich Christian Boies kennen. 5 Gottlob Friedrich Ernst Schönborn an Heinrich Wilhelm Gerstenberg, 21.09. – 16[?]. 10.1773, in: Johann Wolfgang Goethe: Der junge Goethe. Hg. von Hanna FischerLamberg. Bd. 1. Unv. Neuausg. Berlin / New York 1999, S. 425. 6 Vgl. Goethe an Gerstenberg, [16].10.1773, WA, IV, 2 (wie Anm. 3), S. 112.

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Es mag auch daran liegen, dass Gerstenberg erst spät, im Januar 1774, auf den „Brief des deutschen Shakepear“ 7 mit einem Schreiben antwortet, das die zeitgenössische Semiotik der Autographie unterstreicht: Er habe Goethes „Geist nicht nur von Angesicht zu Angesicht darinn gesehen, sondern den warmen Händedruck dieses edlen Geistes gar sehr gefühlt“. 8 Gerstenberg imaginiert eine Berührung der Geister, die ihm den Beginn einer Freundschaft mit jenem „Original Deutsche[n]“ verspricht, der „in Deutschland ein Publikum von Deutschen werben wird.“ 9 Bei diesen überaus freundlichen, beinahe anbiedernden Zeilen nimmt es zunächst Wunder, dass damit ein Briefwechsel gerade nicht gestiftet, sondern beendet wurde. Deutlich wird aber bereits dem oberflächlichen Blick auf die folgenden Jahre, dass Goethes dichterische Karriere rasch an Fahrt aufnimmt, während Gerstenberg schon bald zu den Relikten einer überkommenen Literatur gehört. Er wird zwar noch vielfach gelesen und sogar verehrt, 10 doch kann er keinen Platz mehr unter den innovativen bzw. avancierten Autoren seiner Zeit behaupten. Gerade aufgrund seiner relativen Bekanntheit und vormaligen Fortschrittlichkeit erscheint er geradezu als Modellfall des Zurückgebliebenen. 11 Bezeichnenderweise sind von Goethe keine weiteren Briefe an Gerstenberg überliefert, und es konnte kein Bund gestiftet werden. Gerade dieses Beispiel kann vielleicht zeigen, welchen Wert ausgebliebene Allianzen haben können. Denn dass er im Bereich des Virtuellen blieb, liegt weniger daran, dass Goethe keines Bundes mehr bedurfte, als daran, dass er Gerstenberg bereits nicht mehr unter die ‚Guten seines Zeitalters‘ rechnete, als er endlich antwortete. Derselbe Autor, der den Bund vorgeschlagen hatte, schlug ihn nun aus, und er setzte damit ein – öffentlich unsichtbares – Zeichen. Der Umstand, dass das Bündnis ausblieb, lenkt den Blick auf die Frage, warum es nicht zustande kam, und es kann damit die Erforschung gescheiterter oder unrealisierter Allianzen 7 Heinrich Wilhelm Gerstenberg an Goethe, 05. 01. 1774, in: Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar / Goethe- und Schiller-Archiv hg. von Georg Kurscheidt / Norbert Oellers / Elke Richter. Bd. 2/2. Berlin 2009, S. 120. 8 Ebd. 9 Heinrich Wilhelm Gerstenberg an Goethe, 05. 01. 1774, WA, IV, 2 (wie Anm. 3), S. 120. 10 Vgl. Johann Gottfried Herder: Briefe zu Beförderung der Humanität. Hg. von J. G. Herder. Achte Sammlung. Riga 179, S. 139. 11 Daher hängt Friedrich Schiller noch 1796 seine Kritik an Johann Gottfried Herder unter anderem an dessen „Verehrung gegen Kleist Gerstenberg und Geßner – und überhaupt gegen alles verstorbene und vermoderte“ auf. Schiller an Goethe, 18. 06. 1796, in: Schillers Werke. Nationalausgabe. 1940 begründet von Julius Petersen. Fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese, Siegfried Seidel. Hg. im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers. 40 Bde. Weimar 1943 ff. Bd. 28, S. 228.

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zum Seismographen für beginnende ästhetische Verschiebungen und sich entwickelnde literaturpolitische Agenden werden.

2 Begriff liche Probleme des literarischen ‚Bündnisses‘ Bereits dieser erste Aspekt der durchaus vielfältigen Formen von ‚Autorenbündnissen‘ 12 im 18. Jahrhundert zeigt, wie eigensinnig die Annäherung, Ablehnung und Verbindung von Dichtern untereinander sein kann. Selbst und womöglich gerade ausgebliebene oder gescheiterte Bündnisse können literaturwissenschaftliches Interesse wecken. Denn sie sind, wenn sie auch keine gemeinschaftlichen Werke hervorgebracht haben, keineswegs folgenlos; sie öffnen vielmehr den Blick auf die relationale Genese jener abwesenden Figur des Autors, die nur noch auf paradox anmutende Weise mittelbare Präsenz im Werk gewinnt, 13 nur durch Texte sichtbar gehalten wird. Vielleicht lassen sich die Schreibszenen von Urhebern, 14 wohl aber nicht die Kategorie der Autorschaft, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts ihre Funktion auf so bedeutsame Weise verändert hat, mit Blick auf einzelne Akteure erforschen. Autoren sind in das Mediensystem des Drucks transponierte Repräsentanten realer Textproduzenten und als solche Effekt vielfältiger Verbindungen und Allianzen: unter anderem mit Personen, Institutionen und Medientechniken. 15 Versucht man in diskursökonomi-

12 So der Titel der Sektion, in der der diesen Überlegungen zugrundeliegende Vortrag gehalten wurde; siehe Anm. 1. 13 Vgl. Heinrich Bosse: Der Autor als abwesender Redner, in: Paul Goetsch (Hg.): Bewertung von Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Tübingen 1994, S. 277 – 292 und Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, bes. S. 302 – 307. Zur Bedeutung des Werks im Zeitalter der Autorschaft vgl. den leider schlecht lektorierten und nicht seitengleichen Neudruck der mittlerweile klassischen Studie von Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Neue, mit einem Nachwort von Wulf D. v. Lucius versehene Ausg. Paderborn 2014; sowie Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin / New York 2007, bes. S. 1 – 112. 14 Vgl. Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben, in: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt am Main 1991, S. 759 – 772. 15 Exemplarisch sei hier die Verbindung des Weimarer Herzogs zu Goethe genannt, der wiederum seine Kontakte zu deutschen Gelehrten und Fürsten (als potenzielle Mäzene oder Arbeitgeber) etwa Aloys Hirt zur Verfügung stellt, während er sich im Gegenzug archäologische Expertise und eine stetige Verbindung zu den römischen Kunstwerken erhofft. Zum teils ängstlichen Klientel-Bündnis siehe auch Goethes Brief an Jakob Friedrich von Fritsch, 6. 5. 1783, WA, IV (wie Anm. 3), 6, S. 158 – 160.

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scher Perspektive sichtbar zu machen, 16 wie Texte und die nicht zuletzt durch Signatur mit ihnen verbundenen Autoren in Zirkulation gesetzt werden, treten unterschiedlichste Allianzen in Erscheinung, die das rekursive Verhältnis von Medienpraktiken und Mediensystem erst begründen. 17 Fraglich ist, wie solche akteur-medialen Bündnisnetze 18 zu beschreiben und wie sie von den – aus dieser Blickrichtung restriktiven – Bündnissen zwischen zwei oder mehreren schreibenden Individuen abzugrenzen sind. Das einleitende Beispiel sollte auch einer Annäherung an diese Fragen dienen. Es scheint verallgemeinerbar zu sein, dass im Bereich der Literatur eine von den Bündnispartnern nicht auszumerzende Unsicherheit über die inhaltliche und zeitliche Erstreckung und sogar über die schiere Möglichkeit ihrer Allianz besteht. Das Problematische an der Verbindung solcher verunsichernden Merkmale mit einer meist als ordnungsstiftend und regulierend konzeptualisierten Sozialform tritt im Vergleich mit geläufigen Funktionsbestimmungen insbesondere politischer Bündnisse deutlich hervor. Die Geschichtswissenschaft, die sich mit Vorliebe den Details politischer Allianzen widmet, „d.h. den jeweils spezifischen Zielen, Zwecken und Hintergründen von einzelnen Bündnissen oder der Bündnispolitik einzelner Akteure“ nachgeht, 19 musste sich immer wieder auch mit der Frage nach Form und Funktion von Bündnissen auseinandersetzen, zumal die überlieferten Abkommen und Verträge bisweilen ganz unterschiedliche Bündnisvorstellungen der beteiligten Akteure dokumentieren. Die jüngere geschichtswissenschaftliche Forschung bestätigt die längst gebräuchliche Minimalannahme, der zufolge ein Bündnis als „vertraglich fixierter, politischer Zusammenschluss zwischen zwei oder mehreren souveränen Staaten zu einem bestimmten Zweck“ anzusehen ist. 20 Wobei theoretisch die Anzahl der Partner unbegrenzt ist, während sich tatsächlich Limitierungen schon daraus ergeben, dass das Gemeinsame des Ziels meist desto stärker eingeschränkt wird, je mehr Parteien, 16 Vgl. Hartmut Winkler: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien. Frankfurt am Main 2004. 17 Schreiben und Lesen werden über verschiedene technische und aktoriale Medien in Beziehung, genauer: in ein Rückkopplungsverhältnis gesetzt. 18 Zur aktuellen Debatte über die Verbindung von Medien und Akteurs-Netzwerken vgl. Erhard Schüttpelz: Elemente einer Akteur-Medien-Theorie, in: Tristan Thielmann / Erhard Schüttpelz (Hg.): Akteur-Medien-Theorie. Bielefeld 2013, S. 9 – 67; Tristan Thielmann: Jedes Medium braucht ein Modicum. Zur Behelfstheorie von AkteurNetzwerken, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 4/2 (2013), S. 112 – 127; Jens Schröter / Tristan Thielmann: [Art.] Akteur-Medien-Theorie, in: Jens Schröter (Hg.): Handbuch Medienwissenschaft. Unter Mitarbeit von Simon Ruschmeyer und Elisabeth Walke. Stuttgart / Weimar 2014, S. 148 – 158. 19 So Katja Frehland-Wildeboer: Treue Freunde? Das Bündnis in Europa 1714 – 1914. München 2010, S. 18. 20 Ebd., S. 24.

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mithin: Interessen, Obligationen und Anliegen beteiligt sind. Bereits im Zedler’schen Lexikon findet man das ganz praktische Problem formuliert, das sich an eine Vielfalt an Bündnispartnern knüpft: „Je mehr in einer Allianz verbunden, desto schwerer ist, daß die Harmonie gut bleibt.“ 21 Der hier betonte, sonst vielfach implizierte Normalfall des Bündnisschlusses zwischen zwei Akteuren dominiert auch in der Literatur: Ein Autorenbündnis erscheint vornehmlich als zielgerichtete Vereinigung eines Autorpaares. Sie schließen sich zusammen, um ästhetische Positionen durchzusetzen, ökonomische Gewinne zu erzielen oder bedrohlichen Konkurrenzverhältnissen zu begegnen. Das kann in aller Öffentlichkeit oder im Geheimen geschehen, und die Bündnispartner können wie Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger als Koautoren auftreten oder sich auf epitextuelle Schützenhilfe in Rezensionen und Folgepublikationen, in Briefen und Reklame beschränken. Gerade solche – vielfach von anderen verantwortete – Epitexte 22 spielen eine seit dem 18. Jahrhundert steigende Rolle für die Positionierung von Autoren und Texten. Sie bringen bisweilen Allianzpartner ins Spiel, die sonst weniger sichtbar und mit nur auf starke Autorenbünde eingeschränktem Blick nicht zu erfassen sind. So treten etwa in Verlagsankündigungen die Verleger selbst als Autoren auf, um epitextuell die Aufnahme der Dichter und ihrer Werke beim Publikum zu steuern. Nicht zu unterschätzen sind dabei insbesondere die vielfältigen Formen der Reklame, also alle Medienpraktiken, durch die „gezielt und intentional Aufmerksamkeit auf bestimmte Produkte, Personen oder Dienstleistungen“, nicht zuletzt also auch Texte, gelenkt werden soll, „um so ökonomisches oder symbolisches Kapital“ – oder beides zugleich – anzuhäufen. 23 Wenn somit Bündnissen auch im Bereich der Literatur ein strenger Pragmatismus eingeschrieben ist, dann muss die unauf lösliche Nähe dieser auf ihren kulturökonomischen Mehrwert berechneten Sozialform zu der bereits im 18. Jahrhundert kultivierten und beinahe ubiquitären Freundschaftssemantik problematisch werden, 24 die ein Nutznießen

21 [Johann Heinrich Zedler (Hg.):] Großes vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste. 1. Bd. Halle und Leipzig 1732, Sp. 1257. 22 Nach Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Franz. von Dieter Hornig. Frankfurt am Main / New York 1989. 23 So Thomas Wegmann: Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850 – 2000. Göttingen 2011, S. 19. Der dort für das Literatursystem der Moderne erstellte Befund lässt sich mit leichten medientechnischen Einschränkungen auf das 18. Jahrhundert übertragen. 24 Das 18. gerät so zum ‚geselligen Jahrhundert‘. Vgl. exemplarisch Ulrich Im Hof: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. München 1982; Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches

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zwar nicht ausschließt, aber doch in den Bereich des Unwillkürlichen eskamotiert. Schon für Friedrich Gottlieb Klopstock war Freundschaft eine „Glückseligkeit“, die auf größter Vertrautheit und Vertraulichkeit beruht. 25 „Freundschaft und Liebe sind Steigerungsformen der freien Geselligkeit“, 26 und es sind diese hohen emotionalen Anforderungen an die Freundschaft, durch die sie im 18. Jahrhundert zusehends „in Opposition zu anderen Gesellschaftsbeziehungen“ gerät 27 – darunter nicht zuletzt das Bündnis. Trotz dieser diskursiven Reinigungsarbeit an der Freundschaft scheint sie immer wieder gleichzeitige Bündnisse geduldet, ja hervorgebracht zu haben. 28 So inszenieren jedenfalls Christoph Martin Wieland und der Verleger seiner großen Werkausgabe letzter Hand, Georg Joachim Göschen, die Geschäftsverbindung als Ergebnis ihrer einträchtigen Beziehung, 29 nehmen diesen „Accord“ aber zugleich als Gefährdung ihrer Freundschaft wahr. 30 Es stellen sich also durchaus Überlagerungseffekte zwischen beiden Bereichen ein. 31 Das wohl berühmteste dieser ambigen ‚freundschaftlichen Bündnisse‘ in der deutschen Literaturgeschichte, das

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Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München 1984; Wolfram Mauser / Barbara Becker-Cantarino (Hg.): Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Tübingen 1991. Freunden dürfte er „nur ein halbes Wort sagen, so verstünden sie mich“; sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie „nichts Geheimes für einander haben“, sondern sich, der gegenseitigen Verschwiegenheit gewiss, „Alles mit der offensten Aufrichtigkeit anvertrauen“ (Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Freundschaft, in: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Karl August Schleiden. München 1962, bes. S. 934 – 937). Georg Jäger: Freundschaft, Liebe und Literatur von der Empfindsamkeit bis zur Romantik. Produktion, Kommunikation und Vergesellschaftung von Individualität durch „kommunikative Muster ästhetisch vermittelter Identifikation“, in: Siegener Periodicum zur internationalen empirischen Literaturwissenschaft 9/1 (1990), S. 69 – 83, hier S. 72. Steffen Martus: Friedrich von Hagedorn – Konstellationen der Aufklärung. Berlin / New York 1999, S. 175. Für den Jahrhundertwechsel verzeichnet Günter Oesterle: Diabolik und Diplomatie. Freundschaftsnetzwerke in Berlin um 1800, in: Natalie Binczek / Georg Stanitzek (Hg.): Strong ties / Weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie. Heidelberg 2010, S. 93 – 110, hier S. 94, einen „Re-Import von Formen der Diplomatie in die Gefühlsfreundschaft“. Vgl. C. M. Wielands Leben. Neu bearb. von J. G. Gruber. Mit Einschluss vieler noch ungedruckter Briefe Wielands. 4. Theil. Leipzig 1828, S. 12 f.; Stephan Füssel: Georg Joachim Göschen. Ein Verleger der Spätaufklärung und der deutschen Klassik. Bd. 1. Berlin / New York 1999, S. 91 f.; Peter-Henning Haischer: Historizität und Klassizität. Christoph Martin Wieland und die Werkausgabe im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2011, S. 231 – 239. Vgl. Wielands Brief an Göschen, November 1790, in: Wielands Briefwechsel. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe. Bd. 10/1. Bearbeitet von Uta Motschmann. Berlin 1992, S. 424: „Der bloße Gedanke, daß dieser Accord das Grab unsrer Freundschaft seyn könnte, ist mir unerträglich.“ Vgl. auch die vom Dienstverhältnis überlagerte Freundschaft Goethes zu Herzog Carl August und dazu Friedrich Sengle: Das Genie und sein Fürst. Die Geschichte der

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Goethe mit Friedrich Schiller eingegangen sein soll, wird denn auch ebenso gerne als „Arbeitsbündnis“ 32, „Interessengemeinschaft“ 33, „taktisches Bündnis“ 34 oder gar „Zweckallianz“ 35 bezeichnet wie als ‚Freundschaftsbund‘ 36. 37 Die Vielfalt der Bezeichnungen und insbesondere der Umstand, dass mit gleichem Recht und ähnlicher Häufigkeit von Dichterfreundschaft wie von Dichterbund die Rede ist, zeigt, wie unsicher die Bestimmung des literarischen Bündnisses bleiben muss. Ästhetische Bünde dokumentieren sich im Unterschied zu politischen üblicherweise nicht in Verträgen, und sie verbalisieren ihre Voraussetzungen, Konditionen und Endpunkte auch kaum; sie scheinen vielmehr von großer Wandelbarkeit geprägt zu sein und ihre Bedingungen und Ziele regelmäßig anzupassen oder gar neu auszuhandeln. Dokumente dieser Aushandlungen, dieser ne-

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Lebensgemeinschaft Goethes mit dem Herzog Carl August von Sachsen-WeimarEisenach. Ein Beitrag zum Spätfeudalismus und zu einem vernachlässigten Thema der Goetheforschung. Stuttgart / Weimar 1993. Jochen Golz: Der Publikumsfreund Schiller und sein Autor Goethe. Ein Blick in die Werkstatt der Venezianischen Epigramme, in: Bodo Plachta (Hg.): Literarische Zusammenarbeit. Tübingen 2001, S. 121 – 130, hier S. 121. Eckhardt Meyer-Krentler: Freundschaft im 18. Jahrhundert. Zur Einführung in die Forschungsdiskussion, in: Mauser / Becker-Cantarino (Hg.): Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft (wie Anm. 24), S. 1 – 21, hier S. 7. Wolfgang Fahs: Zum Verhältnis Goethe-Schiller, in: Mauser / Becker-Cantarino (Hg.): Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft (wie Anm. 24), S. 137 – 140, hier S. 137. Johannes Weber: Goethe und die Jungen. Über die Grenzen der Poesie und vom Vorrang des wirklichen Lebens. Tübingen 1989, S. 42. Klaus F. Gille: „Glückliches Ereignis“. Zum Freundschaftsbund von Schiller und Goethe, in: Weimarer Beiträge 48/4 (2002), S. 520 – 530. Der ‚Freundschaftsbund‘ ist unzählige Male in der Forschung thematisiert worden, alleine das Goethe Jahrbuch 122 (2005) versammelt vierzehn Beiträge zum Thema „Goethes Schiller – Schillers Goethe“. Für Ernst Osterkamp: Wir. Was Goethe und Schiller unter Freundschaft verstehen, in: Bernhard Fischer / Norbert Oellers (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Berlin 2011, S. 179 – 204, hier 179, spielt hingegen „der Begriff der Freundschaft nur eine marginale Rolle“, und er kritisiert die „gewaltige Verschwendung, die in der Rezeptionsgeschichte ihres Briefwechsels mit dem Begriff der Freundschaft getrieben worden ist“, als eine „Taktlosigkeit“. Vgl. auch Michael Böhler: Die Freundschaft von Schiller und Goethe als literatursoziologisches Paradigma, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 5 (1980), S. 33 – 67; ders.: Geteilte Autorschaft: Goethe und Schiller. Visionen des Dichters, Realitäten des Schreibens, in: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), S. 167 – 182; zur ‚Allianz gegen die Öffentlichkeit‘ bzw. ‚Bündnispolitik‘ vgl. Wilfried Barner / Eberhard Lämmert / Norbert Oellers (Hg.): Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Stuttgart 1984; zur ‚öffentlichen Allianz gegen die Konkurrenz‘ vgl. Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Eine Biographie. 2., durchges. Aufl. München 2004, S. 329. Einen Klärungsversuch unternimmt jetzt auch Gerrit Brüning: Ungleiche Gleichgesinnte. Die Beziehung zwischen Goethe und Schiller 1794 – 1798. Göttingen 2015, S. 336: „Das Verhältnis, in dem die historischen Personen Goethe und Schiller standen, lässt sich als eine Freundschaft zweier Ungleicher begreifen, nicht aber als ein Bund von ‚Geistesantipoden‘.“

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gotiations 38 sind nicht nur kommentierende Briefe, sondern auch die Texte als (mediale) Handlungen selbst. Es zeigt sich also zunächst, dass man sich mit der Rede von Bündnissen im Bereich der Literatur auf terminologisch unsicheres Terrain begibt. Keineswegs klar ist nämlich bereits, was ein solches Bündnis überhaupt ausmacht und wann es wie zustande kommt. Im Unterschied dazu wird das politische Bündnis, häufig in der analogen französischen Bezeichnung ‚Alliance‘, bereits im 18. Jahrhundert relativ klar definiert. Im großen Zedler’schen Lexikon etwa erscheint es als ein „Vergleich, welchen zwey, oder mehr Puissanzen unter einander schliessen“, 39 als Vertrag also zwischen mindestens zwei souveränen Staatsvertretern, die um die „Reguln und Cautelen, die bey Schliessung der Alliancen in Obacht zu nehmen,“ wissen. 40 „Bündniße müssen gewisse Eigenschafften haben“, so spricht es Johann Georg Walch in seinem Philosophischen Lexicon noch deutlicher aus. Ein Abkommen müsse „zwischen zwey Potentaten im Nahmen und zum Nutzen der Republic gemacht werden“, da es ansonsten „eigentlich kein Bündniß zu nennen“ ist. 41 Im Lichte dieser Begriffsbestimmungen kann die Rede von Bündnissen im Bereich der Literatur nicht anders als metaphorisch erfolgen, 42 denn literarische Allianzen ähneln den politischen zwar durchaus darin, dass auch sie sich häufig – sowohl defensiv als auch offensiv – zur Wahrung bzw. Durchsetzung der eigenen Interessen gegen eine oppositionelle Kraft richten; doch sind die dafür zu erbringenden Leistungen üblicherweise nicht genau geregelt und auch die Zusammensetzung der Bündnispartner toleriert wesentlich größere Heterogenität. Die pragmatische Reichweite eines Bündnisses ist daher im Bereich der Literatur abhängig nicht nur von der ohnehin schwer einzuschätzenden Potenz des Bündnispartners, sondern auch von seiner jeweiligen Funktion innerhalb einzelner oder mehrerer gesellschaftlicher Bereiche. Daraus ergibt sich, dass Bündnisse im Bereich der Literatur wesentlich vielfältiger zu denken sind. Sie lassen sich häufig nicht auf die zweckgerichtete Allianz zweier Dichter beschränken, sondern werden in dem Maße komplexer, in

38 Zur durchaus so konkret zu verstehenden Codierung von sozialer Energie in ästhetischen Objekten vgl. Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley / Los Angeles 1988. 39 Ein nicht nur metaphorischer Bündnisschluss war damit nur wenigen Akteuren vorbehalten. Vgl. den Eintrag ‚Alliance‘, in: Zedler: Universal Lexicon (wie Anm. 21), Sp. 1255. 40 Ebd., Sp. 1257. 41 Johann Georg Walch (Hg.): Philosophisches Lexicon. Leipzig 1726, Sp. 323. 42 Dies gilt im Grunde nicht nur für literarische, sondern für alle nicht-staatlichen Bünde; vgl. etwa Martin Papenheim: Freunde oder Brüder? Die Semantik sozialer Netze im 18. Jahrhundert, in: Binczek / Stanitzek: Strong ties / Weak ties (wie Anm. 28), S. 39 – 53, bes. S. 40 – 43.

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dem Autorschaft als Diskursfunktion in ökonomischen und symbolischen Zusammenhängen an Bedeutung zunimmt. Da die Möglichkeit der Durchsetzung eigener Interessen im Bereich der Literatur zunehmend an die mediale Positionierung von Autoren und Texten gebunden war, konnten und mussten ganz unterschiedliche gesellschaftliche Funktionsträger zu Bündnispartnern werden. War die Bestimmung literarischer Bündnisse im herkömmlichen Sinn schon unsicher, so verändert die Heterogenität der Partner auch die Struktur und gefährdet die Balance der jeweiligen Allianzen. Es kann daher kein klares Formalkriterium eingesetzt werden, über das ein Bündnis positiv zu bestimmen wäre, sondern es lassen sich – wie bei den meisten Sozialbeziehungen – nur Tendenzen und Intensitäten beschreiben. Wann ein Kontakt eine Bekanntschaft, wann eine Freundschaft, wann ein zweckgerichtetes Bündnis ist, das ist oft nur mit großer Mühe und eigentlich nie mit hinreichender Präzision zu ermessen. Die Unsicherheiten der Beschreibung sollen indes nicht zu dem Schluss verleiten, dass diese Allianzen unwillkürlich oder absichtslos eingegangen wurden. Die Beteiligten verfolgten auch im Bereich der Literatur durchaus ihre Ziele im Offenen oder Geheimen, weshalb ihre Verbindung aus Akteursperspektive von Pragmatik bestimmt ist. Solche Allianzen sind somit in die Zukunft gerichtet, aber sie kalkulieren mit imaginären Werten. 43 Literarische Bündnisse können daher nur scheinbare Vehikel der Absicherung und Ordnung sein, stellen tatsächlich aber einen Punkt dar, an dem das Inkalkulable als eminent unsicherer Bereich, als noch unspezifisches Nichtwissen 44 einbricht. Sie erweisen sich

43 Verstärkt wird diese Unsicherheit durch den Umstand, dass die Akteure häufig selbst die Reichweite und die Anzahl der Beteiligten nicht überblickten. Es ist daher grundsätzlich die Frage zu stellen, ob Bündnissen stets volitive Vereinigungen mit festen Grenzen und Partnern zugrunde liegen. Wenn die Akteure nicht unbedingt wissen müssen, dass sie Teil eines Bündnisses sind, ist die Frage nach den Quellen historischer und vor allem literaturhistorischer Bündnisforschung, die Rückschlüsse auf die Entwicklung und die Charakteristik bestimmter persönlicher Verbindungen erlauben, neu zu stellen. Es sind gewöhnlich schriftliche Dokumente geselliger Praktiken, naheliegenderweise etwa Korrespondenzen, Berichte und Tagebücher, aus denen die Art der Beziehung erhellt werden kann. Anlässlich eines Missverständnisses schlägt etwa Goethe in einem Brief an Johann Kaspar Lavater vom 4.10.1782, WA, IV (wie Anm. 3), 6, S. 66, vor: „Wir sollten einmal unsere Glaubensbekenntniße in zwey Columnen neben einander sezen und darauf einen Friedens- und Toleranzbund errichten.“ Es wird an anderer Stelle näher zu untersuchen sein, ob man von Bündnissen auch dann sprechen kann, wenn sie nicht funktionieren, wenn sie projektiert, aber nicht hergestellt und wenn sie mit inferioren oder infamen Akteuren eingegangen werden. 44 Im Unterschied zum ‚spezifischen Nichtwissen‘, wie es Robert K. Merton: Three Fragments from a Sociologist’s Notebooks: Establishing the Phenomenon, Specified Ignorance, and Strategic Research Materials, in: Annual Review of Sociology 13 (1987), S. 1 – 28, beschreibt.

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als hochgradig fragil und ihre Dynamik bedingt, dass die Allianzen ständig bestätigt und adaptiert werden müssen. Zwar können sie über viele Jahre hin bestehen bleiben, genauso gut aber nach kürzester Zeit schon – von beiden Seiten her – aufgebrochen werden. Es scheint sich so keine feste Erstreckungsdauer und auch keine bestimmte Erfüllungsbedingung ausmachen zu lassen, die Verbindungen erweisen sich vielmehr als eminent zukunftsoffen und bedürfen der ständigen Überprüfung und Absicherung, um nicht zu einem gefährlichen Unsicherheitsfaktor zu werden. 45 Autorenbündnisse – zumal im ausgehenden 18. Jahrhundert – scheinen daher besonderen Bedingungen zu unterliegen. Sie sind asymmetrisch, dabei aber flexibel und keineswegs auf wenige starke Bünde beschränkt. Im Gegenteil sind es häufig ganze Netzwerke von Verbündeten, die Dichter ausmachen; 46 es sind die personellen, publizistischen und medialen Allianzen, die sie allererst entstehen lassen. Daher sind sie auch nur mit Blick auf dieses wandelbare Netz, in dem sich nicht nur schreibende Kollegen, sondern auch Funktionäre anderer Gesellschaftsbereiche und von der Literaturwissenschaft häufig als inferior erachtete Partner finden, in ihrer Autorschaft zu verstehen.

45 Gerade diese schwierige Beherrschbarkeit birgt indes großes Neuerungspotential. Zur Innovationskraft des Nichtwissens vgl. auch Michael Gamper: Nicht-Wissen und Literatur. Eine Poetik des Irrtums bei Bacon, Lichtenberg, Novalis, Goethe, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 34/2 (2009), S. 92 – 120. 46 Die (mediale) Erscheinung des Autors stellt sich so als Akteurs-Netzwerk, als Hybrid aus menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren dar. Vgl. grundlegend Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Übersetzt von Gustav Roßler. Berlin 1995; Andréa Belliger / David J. Krieger: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, in: dies. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S. 13 – 50, hier S. 23, fassen das modernekritische Programm folgendermaßen zusammen: „Zeichen, Menschen, Institutionen, Normen, Theorien, Dinge und Artefakte bilden Mischwesen, techno-soziale-semiotische Hybride, die sich in dauernd sich verändernden Netzwerken selbst organisieren. Die Moderne hat durch Reinigungsverfahren aus diesem Realitätsmix Konstrukte wie Natur und Gesellschaft, Subjekt und Objekt herauspräpariert und zu Erklärungsgründen erhoben, wobei diese Konstrukte eigentlich das sind, was einer Erklärung bedarf.“ Bruno Latour: Technology is Society Made Durable, in: John Law (Hg.): A Sociology of Monsters. Essays on Power, Technology and Domination. London / New York 1991, S. 103 – 132, hier S. 129, ist skeptisch gegenüber vermeintlich stabilen Entitäten – denen man auch ‚den Autor‘ zurechnen könnte –, denn: „we do not have to start from stable actors, from stable statements, from a stable repertoire of believes and interests, nor even from a stable observer.“ Er nimmt damit eine spezifische Verunsicherung der Relationen in Kauf: „When actors are unstable and the observers’ points of view shift endlessly we are entering a highly unstable and negotiated situation in which domination is not yet exerted.“

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3 Lessing contra Klotz – Dynamik, Medien und Praktiken schriftstellerischer Allianz So problematisch es also ist, im Bereich der Literatur von Bündnissen im eigentlichen Sinn zu sprechen, so hilfreich kann dagegen das Konzept des Bündnisschlusses als heuristische Kategorie zur Erkundung und Sortierung autorschaftspraktisch relevanter Handlungen werden. Zwar wird der Begriff im Bereich der Literatur kaum mehr als metaphorisch verwendet, er kann aber vielleicht aufgrund dieser Uneigentlichkeit, also aufgrund der mangelnden Passung von Begriff und eigentlich Bezeichnetem zur Reflexionsfigur werden. Gerade die Diskrepanzen zwischen der dominanten Konzeption des Bündnisses nach politischem Vorbild und den Sozialformen der Literatur im 18. Jahrhundert können dann den Blick auf die Akteure und die konkreten Formen ihrer Beziehung selbst lenken, um damit zwei Fragen zugleich anzuregen: Die eine zielt auf die Sozialpraktiken sowie die Art und Frequenz, in der Interaktionen stattfinden und bisweilen geteilte Intentionen geformt werden. 47 Die andere betrifft die Medien und Formen, in denen diese Beziehungen auch ausgestellt werden, sowie die Orte, an denen man sich (öffentlich) der gegenseitigen Unterstützung versichert. Es geht damit um Praktiken, durch die reale oder auch vorgestellte soziale Beziehungen an symbolischem Wert gewinnen. Insbesondere dieser letzte Aspekt ist geeignet, das Potential des Bündnisbegriffs als heuristische Kategorie der Literaturwissenschaft darzustellen. Denn es macht im Bereich der Literatur einen keinesfalls zu unterschätzenden Unterschied aus, ob die Allianzen privat geschlossen und geheim gehalten oder zumindest auch öffentlich ausgestellt werden. Gerade die epitextuelle Schützenhilfe durch Rezensionen, in Briefen und Verlagsreklame wird dann unwirksam werden, wenn sie Teil eines bekannten Bündnisses ist, und sie wird bisweilen sogar der eigenen Sache schädlich werden, wenn hinter den öffentlichen Stellungnahmen verborgene Abkommen und ‚Partheylichkeit‘ vermutet werden müssen. Den kritischen Medien, insbesondere den Rezensionszeitschriften kam eine seit der Jahrhundertmitte rasch steigende Bedeutung für die Positionierung von Autoren qua Relationierung zu. Die aufklärerische Hoffnung, auf diese Weise auch ein nahezu objektives Abbild der Literaturproduktion und damit zugleich des Wissens der Zeit erreichen zu können, mit der etwa die Allgemeine Deutsche Bibliothek angetreten ist, beruht entscheidend auf der Vorstellung einer durch Anonymität gewährleisteten Unparteilichkeit.

47 Zu einigen Perspektiven geteilter Absichten vgl. Hans Bernhard Schmid (Hg.): Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen. Frankfurt am Main 2009.

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Damit wurde indes in einem entscheidenden, weil diskursbildenden Bereich ein Modus etabliert und sogar inauguriert, der zugleich jener des Geheimbunds, der verschleierten Parteilichkeit war. Dieses Problemfeld lässt sich vielleicht am besten mit Blick auf eine öffentliche Auseinandersetzung erkunden, die schon aus Sicht der Zeitgenossen nicht eindeutig eine zwischen zwei Personen war, sondern in die zumindest auch zwei ‚Parteien‘ tief involviert waren. Dem ersten Anschein nach handelt es sich um einen Gelehrtenstreit, aus dem mit den Briefen, antiquarischen Inhalts (1768) ein Werk hervorging, das mit einigem Recht als Stiefkind der Lessing-Forschung bezeichnet werden kann. Es ist jedenfalls auffällig, dass die neueren Nachschlagewerke den sogenannten ‚antiquarischen Streit‘ nur beiläufig erwähnen. 48 Nicht einmal das durchaus umfangreiche und sonst recht großzügige Lessing-Handbuch gesteht den Briefen, antiquarischen Inhalts, deren Werkstatus schwer zu bestreiten sein würde, ein eigenes Kapitel zu. 49 Das ist auch deshalb überraschend, weil der Streit für die Zeitgenossen von einiger Bedeutung war, obwohl er sich vordergründig an Details des damaligen antiquarischen Wissens und den ihm angemessenen Schreibweisen entzündete. Der Gegner, den sich Lessing wählte und der deshalb zum Ziel seiner Polemik wurde, weil „er mich nicht verstanden hat“, 50 ist niemand geringerer als der ShootingStar der damaligen Altertumskunde, der preußische geheime Rat und Halle’sche Professor für Philosophie und Beredsamkeit Christian Adolf Klotz. Freilich geht es vordergründig um den gegenseitigen Vorwurf von philologischen Fehlern und schlampiger Recherche, Lessing wiederholt aber vor allem in den ersten Briefen so ostentativ die zentralen Maximen seiner Laokoon-Schrift, 51 dass es schnell offensichtlich wird, worauf er eigentlich zielt, nämlich auf die öffentliche Präzisierung seiner Argumentation. Damit fordert er zugleich zu einer genauen (Re-)Lektüre seines Textes auf – was nichts anderes meint, als ihn zu bewerben. Für einen Autor auf Stellensuche, der eben auf dem Feld der Altertumskunde debütiert hat, ist

48 Vgl. exemplarisch Wilfried Barner u. a.: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. 6. Aufl. München 1998. 49 Auf den über 600 Seiten von Monika Fick: Lessing Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 4., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart 2016, finden die antiquarischen Briefe nur im Kontext der Wirkungen der Laokoon-Schrift auf einer knappen Spalte Erwähnung. Vgl. ebd., S. 233. 50 Gotthold Ephraim Lessing: Briefe, antiquarischen Inhalts, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5/2. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt am Main 1990 (im Folgenden zit. als: LWB 5/2), S. 353 – 582, hier S. 357. 51 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder Über die Grenzen der Mahlerey und Poesie [1766], in: LWB 5/2 (wie Anm. 50), S. 11 – 206. Er schreckt dabei auch nicht vor ausgiebigen Paraphrasen und sogar Zitaten aus seinem Text zurück, die er nur leidlich mit „Notwehr“ zu entschuldigen vermag; siehe ebd., S. 361.

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Klotz als Gegner denkbar gut gewählt. Denn wer es, wie bereits auf den ersten Seiten der Laokoon-Schrift geschehen, neben Winckelmann auch mit einem zentralen Vertreter des Fachs in Deutschland aufnehmen kann, hat eines bereits gewonnen: die Aufmerksamkeit des lesenden Publikums. Es kann und soll an dieser Stelle die Genealogie des Streits nicht im Detail rekonstruiert werden, 52 dennoch gilt es festzuhalten, wo und wie die Auseinandersetzung begann. Denn der Einsatzpunkt des Streits scheint ein einzelner, wenngleich öffentlicher Brief gewesen zu sein. Er wurde am 20. Juni 1768 in die Kayserlich privilegierte Hamburgische Neue Zeitung und am 22. Juni in die Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten eingerückt. Lessing nimmt darin eine anonyme Rezension zu Klotzens Buch „von den alten geschnittenen Steinen“ 53 zum Ausgangspunkt, weil sie behauptet, dass der Hallenser Professor darin Lessing mit einer eigentlich marginalen Kritik am Laokoon eines ‚unverzeihlichen Fehlers‘ überführt habe. Dieser durchaus als Provokation verstehbare Hinweis führt Lessing schnell zu Klotz selbst. Er zieht damit jene Linie vom Rezensenten zum Rezensierten, die das Narrativ der folgenden öffentlichen Kontroverse bilden wird. Denn es werden von beiden Seiten echte oder unterstellte mediale Allianzen offengelegt, durch die auch die Glaubwürdigkeit bekannter Akteure und die Unparteilichkeit von Rezensionen wie ganzer Zeitschriften in Frage gestellt werden. Die Unterschiede in Umfang und Struktur, die sich zwischen diesen Bündnissen ausmachen lassen, sind keineswegs marginal, und sie lassen sich wohl am besten durch den Blick auf die verschiedenen Relationierungen und Hierarchien ermessen. Welche Stellung Klotz in seiner Allianz einnahm, lässt sich vielleicht ausgehend von einem überraschend weit verbreiteten Sprachgebrauch in der recht spärlichen Forschungsliteratur zum Streit entwickeln. So wurde festgehalten, dass Klotz bei Erscheinen der Briefe, antiquarischen Inhalts „nicht nur angesehener Professor ordinarius publicus der Philosophie und Beredsamkeit in Halle (seit 1765), ‚Hofrath‘ und preußischer ‚Geheimrath‘, sondern auch gefürchteter Inhaber eines nicht unbeträchtlichen publizistischen Imperiums“ war. 54 Gefürchtet ist Klotz unter Zeitgenossen und Konkurrenten vor allem deshalb, 55 weil 52 Hilfreich sind hierfür die Materialien und Hinweise in LWB 5/2 (wie Anm. 50), insbesondere S. 987 – 1056. 53 Ebd., S. 356. Die Rezension stammte von Johann Jakob Dusch, der später für Klotz Partei ergriff. 54 Wilfried Barner: Autorität und Anmaßung. Über Lessings polemische Strategien, vornehmlich im antiquarischen Streit, in: Wolfram Mauser / Günter Saße (Hg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Tübingen 1993, S. 15 – 37, hier S. 16. 55 Zu Beginn des Streits schreibt Lessing am 05. 07. 1768 an Nicolai: „Noch fürchten sich alle vor Klotzen“ (LWB 5/2 [wie Anm. 50], S. 999). Er macht damit auch deutlich, dass

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er „als Herausgeber der Acta litteraria und der Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften ein kleines Zeitschriftenimperium verwaltet, mit dem er Einfluss auf den literarischen Markt und die öffentliche Meinung nimmt“. 56 Die Forschung hat die fachwissenschaftlich und publizistisch einflussreiche Position Klotzens durchaus herausgestrichen, aber meist deshalb, um zu zeigen, welch mächtigen Gegner sich Lessing hier gewählt hat. Zugleich ist herausgearbeitet worden, dass Klotz aufgrund seiner Stellung der wichtigste Repräsentant der ‚Hallenser‘ war, mithin nur der Kopf eines viel größeren kollektiven Kontrahenten. Aufgrund dieser Doppelgestalt seines Gegners geriet auch Lessing, der freundschaftlichen Kontakt zu Friedrich Nicolai pflegte, in dieser ‚polemischen Konstellation‘ 57 zum Mitstreiter der ‚Berliner‘. Auf beiden Seiten lassen sich damit unterschiedliche Akteursverbindungen ausmachen, die – zumindest metaphorisch – auch als Bündnisse bezeichnet werden können. Es ist immerhin bemerkenswert, dass der ‚antiquarische Streit‘ bereits in den Augen der damaligen „Öffentlichkeit, und auch noch der Nachwelt“, ganz wesentlich einer zwischen „‚Schulen‘, ‚Freundschaften‘, ‚Lagern‘, ‚Parteien‘“ 58 war. Spätestens mit dem Erscheinen der Buchausgabe der ‚antiquarischen Briefe‘ wurde der Streit nach Barner zu einem „zwischen der Berliner ‚Litteraturschule‘ [. . . ] und ‚den Hallensern‘ oder der ‚Hallenser Schule‘ um Christian Adolf Klotz“. 59 Von der dominierenden Rezeption des Streits her betrachtet, ist es in der Tat keine unzulässige Zuspitzung, zu sagen, Lessing und Klotz „gehören gegnerischen ‚Parteien‘ zu.“ 60 Nimmt man den Bündnisbegriff aber nicht einfach als bellizistische Metapher zur Beschreibung einer Konfrontation, die nach dem rhetorischen Modell der Polemik von Einzelpersonen, jedenfalls von relativ einheitlichen Intentionen ausgehen müsste, sondern als Reflexionsbegriff, dann wird der Blick auf eine spezifische, durchaus wandelbare Konstellierung historischer Akteure gelenkt. Nimmt man also wahr, wo der Bündnisbegriff jeweils ins Leere geht, dann bemerkt man,

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er sich auch gegen den Grund für diese Furcht richtet und damit gegen nichts anderes als das ‚Imperium‘, für das Klotz steht. Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk. Göttingen 2018, S. 259. Vgl. dazu Daniel Ehrmann: Polemik als Konstellation. Klassizismus und Antiklassizismus im ‚langen‘ 19. Jahrhundert, in: ders. /Norbert Christian Wolf (Hg.): Der Streit um Klassizität. Polemische Konstellationen vom 18. zum 21. Jahrhundert. Paderborn [ersch. 2020]. Barner: Autorität und Anmaßung (wie Anm. 54), S. 27, betont: „alle vier Metaphern ziehen sich als dichtes Netz durch die zeitgenössischen Zeugnisse“. Barner: Autorität und Anmaßung (wie Anm. 54), S. 27. LWB 5/2 (wie Anm. 50), S. 956.

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dass zwar beide Seiten als ‚Parteien‘ bezeichnet werden, strukturell dieser terminologischen Äquivalenz aber nicht gleichkommen. Fragt man nämlich nach der Charakteristik der beiden Allianzen, dann treten die ‚Parteien‘ auseinander. Denn Klotz versammelt als Zeitschriftenherausgeber in Halle eine Reihe von in durchaus scharfem Ton für seine Sache streitenden Rezensenten 61 in einer Weise um sich, dass man sie als „Klotzianer“ 62 zu bezeichnen begann. 63 Er setzte sich selbst als intellektuelles Zentrum, machte sich aber durch seine Möglichkeiten, den Beiträgern öffentliche Anerkennung zu verschaffen, und seinen institutionellen Einfluss auch in einem machtpolitischen Sinne zur ‚regierenden‘ Instanz. Klotz war daher nicht einfach Teil einer ‚Clique‘, 64 sondern ihr Kopf; und wenn er einer ‚Schule‘ 65 angehörte, dann jener, die seinen Namen trug. 66 Er war – die Formulierungen bei Barner und Vollhardt aufgreifend – ein Imperator. Das bestätigt er auch durch sein Verhalten, das zumindest dem jener ‚Grossen Herren‘ entspricht, die Christian Thomasius’ Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit keineswegs in erratischer Einsamkeit, sondern in dichten Bündnisnetzen verortet. So haben hohe Personen die Freundschafft der Geringern nöthiger als die Geringern [. . . ] der Höhern Freundschafft bedürffen. Denn Macht und Ansehen kan ohne Vereinigung vieler Leute nicht bestehen, und es ist handgreif lich,

61 Darunter finden sich nicht zuletzt Friedrich Justus Riedel, Johann Georg Jacobi, Johann Georg Meusel und Gottlob Benedict von Schirach. Vgl. dazu Pawel Zarychta: „Spott und Tadel“. Lessings rhetorische Strategien im antiquarischen Streit. Frankfurt am Main u. a. 2007, S. 42. 62 Bis zum Ende des Jahrhunderts ging diese Bezeichnung sogar in gebräuchliche Lexika ein. Vgl. den Eintrag „Klotz, (Christian Adolph)“, in: Jean Baptiste Ladvocat: Historisches Handwörterbuch. 5. Theil. Ulm 1785, Sp. 1009 – 1012, bes. Sp. 1011. 63 So hält Carl Christian Redlich: [Art.] Lessing, in: Allgemeine Deutsche Biographie. 19. Bd. Leipzig 1844, S. 756 – 802, hier S. 778 f., mit deutlicher Favorisierung einer Seite, die aber die bald hegemoniale Wahrnehmung des Streits dokumentiert, fest: „Eine Schaar jüngerer Männer, zum Theil geblendet von seinen formalen Talenten, zum Theil gelockt durch die Aussicht auf Beförderung durch seinen Einfluß, zum Theil lustige Genossen seines dissoluten Lebens, halfen ihm bereitwillig seinen Ruhm in allen Tonarten durch seine und fremde Zeitungen auszuposaunen, und er selbst suchte durch eine ausgebreitete Correspondenz ältere Gelehrte von Ruf als Freunde einzufangen und eine große Lobassecuranz auf Gegenseitigkeit immer fester zu begründen.“ 64 Eine Liste der variierenden, meist retrospektiv in Anschlag gebrachten, Gruppenbezeichnungen findet sich bei Zarychta: „Spott und Tadel“ (wie Anm. 61), S. 42 f. 65 Etwa Vollhardt: Lessing (wie Anm. 56), S. 261. 66 Ab 1769 häufen sich in der Allgemeinen deutschen Bibliothek die Seitenhiebe und Invektiven gegen einen Opponenten, der eben nicht als ‚Hallesche‘, sondern als ‚Klotzische Schule‘ bezeichnet wurde. Beispielsweise beginnt die Rezension einer Sammlung satirischer Gedichte bereits mit der Kurzcharakteristik: „Gassenlieder, wider den Antikriticus und andere Leute gerichtet, die die Ehre haben, der Klotzischen Schule zu mißfallen.“ (Allgemeine deutsche Bibliothek 10/2 (1769), S. 126).

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daß, wer sich wenig vornimmt, fremde Hülffe weniger brauche, als wer viel und grosse Dinge ausführen will. 67

Schon für die Zeitgenossen war es offenkundig, dass sich Klotz der hier skizzierten Strategie bediente. Nicht nur versuchte er die ‚Geringen‘, seine Schüler und Rezensenten, an sich zu binden, er suchte auch in zwei Briefen vom 9. Mai und vom 11. Oktober 1766 Kontakt zu Lessing und verfasste zudem eine lateinische Rezension des Laokoon, von der er selbst sagte, es sei darin mit Lessing „sehr glimpf lich umgegangen worden.“ 68 Er bemerkt das freilich nicht, ohne gleich im Anschluss zu offenbaren, dass dieses Wohlwollen weniger der Schrift als dem Schreiber gilt: „Allein dergleichen Leute verlangen bloß Weyrauch, u. zündet man ihnen diesen nicht an, so rufen sie ängstlich“. 69 Klotz scheint also sehr wohl gewusst zu haben, dass ein kluger Souverän „sich allzeit auch einige von seinen Feinden zu gewinnen“ bemüht. 70 Daraus wird nicht zuletzt deutlich, dass Klotz seine Allianzen nach der Art von Thomasius’ Herrschern schmiedet. Gewiss handelt es sich also bei Klotzens Briefen an Lessing um einen Annäherungsversuch, aber um einen, der offenbar von tieferem und ‚politischerem‘ Kalkül bestimmt war, als die ihrem Gegenstand meist argumentativ folgende, 71 mithin recht schmeichelhafte Lessing-Biographik häufig annahm. So habe sich der – nicht zu vergessen andernorts vielgelobte und gefeierte – Hallenser Professor „mit einer zudringlichen Liebeserklärung auch an L[essing] gewandt und nach Empfang einer höf lichen Antwort seine mit den zierlichsten Lobeserhebungen verbrämte Anzeige des Laokoon aus den Actis litterariis überschickt.“ 72 Die übertriebene Schärfe, mit der Klotz hier kritisiert wird, tritt besonders deutlich hervor, wenn man sie mit der weitestgehenden Indifferenz vergleicht, mit der Johann Gottfried Herders Brief vom Jänner 1769 behandelt wurde, in dem er sich immerhin auch „mit beträchtlicher Lobhudelei als Bewunderer an[dient].“ 73 Der Unterschied zwischen Herder und Klotz findet sich daher wahrscheinlich weniger in ihren Texten, als vielmehr in den sozialen Orten und dem jeweils damit verbundenen Habitus, aus denen diese sich herschreiben. Denn während Klotz Lessing für seine Allianz gewinnen will, bietet Herder ein offeneres Bündnis, und zwar eines der Texte. Auch Herder 67 Christian Thomasius: Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit. Frankfurt am Main / Leipzig 1720, Kap VI, § 15, S. 180. 68 C. A. Klotz an Christoph Harleß, 13. 08. 1766, zit. nach LWB 5/2 (wie Anm. 50), S. 679. 69 Ebd. 70 Thomasius: Kurtzer Entwurff (wie Anm. 67), Kap VI, § 14, S. 180. 71 Vgl. den Abdruck des Privatbriefs im 52. der Briefe, antiquarischen Inhalts, LWB 5/2 (wie Anm. 50), S. 558 – 563. 72 Redlich: Lessing (wie Anm. 63), S. 779. 73 Barner: Autorität und Anmaßung (wie Anm. 54), S. 28.

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kündigt mit dem ersten seiner anonym erschienenen Kritischen Wälder eine Auseinandersetzung mit dem Laokoon an, will aber im Unterschied zu Klotz zunächst „gerne unerkannt bleiben“. 74 Damit aber sein „Widerspruch“ nicht „mißfällig“ werde, gibt er zugleich an, worauf sein Text eigentlich zielt: „Jedes Wort sei verbannt, was einen Lessing beleidigen wollte; allein jedes Wort werde auch umso schärfer geprüft, was ein Lessing sagt, denn wie viel hat der nicht Nachsager!“ 75 Das Wäldchen unternimmt also ein öffentliches close reading des Laokoon, das ihn nicht widerlegen, sondern graduell verbessern soll. In diesem Sinne wendet er sich auch gegen die nicht zuletzt von Klotz angestellten Versuche, dem Laokoon Fehler nachzuweisen, indem er zu Beginn des 6. Kapitels erinnert: „[M]an muß L[essing] erst verstehen, ehe man ihn widerlegt.“ 76 Wenngleich Herders Text stellenweise kritischer ist, als seine brief liche Ankündigung erwarten lässt, so führt er „in Wirklichkeit“ Lessings „Anschauungen weiter, klärt seinen Wortschatz, systematisiert seine Ideen“, 77 und bietet damit zugleich eine Allianz der Texte an, die weniger nach einer Logik des Kommentars als nach einer des Gesprächs funktioniert. Nachdrücklich stellt Herders Wäldchen, das schon im Untertitel nicht dem Autor, sondern dem Werk, nämlich „Herrn Leßings Laokoon gewidmet“ ist, die Notwendigkeit einer intensiven (Re-)Lektüre aus, die er dann auch selbst vorführt und vollzieht. Wenn meine Zweifel und Widersprüche die Leser des Laokoons dahin vermögen, ihn nochmals, ihn so sorgfältig, als ich, zu lesen, und ihn aus meinen Zweifeln, oder meine Zweifel aus ihm, zu verbessern: so habe ich der Sache des Laokoon weit mehr gevortheilet, als durch kaltes Lob, hinter welchem jeder Leser, so, wie sein Urheber und Besitzer, gähnet. 78

Freilich legitimiert Herder hier auch den Stil und die durchaus ungewöhnliche Länge seiner Kritik damit, dass sie eigentlich nicht mehr dieser Gattung zugehöre. Das Wäldchen ist nämlich auch deshalb ein Buch, weil es sich nicht mit dem ‚kalten Lob‘ wohlmeinender Rezensionen oder

74 Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763 – 1803. Bd. 1. Bearb. von Wilhelm Dobbek / Günter Arnold. Weimar 1977, S. 291. Dass es sich bei dem Schreiber um Herder handelt, war Lessing allerdings bewusst, da ihm der Brief durch seinen Bruder zugestellt wurde, der auch gleich das Geheimnis lüftete. 75 Ebd., S. 291 f. 76 [Johann Gottfried Herder:] Kritische Wälder. Oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maasgabe neuerer Schriften. Erstes Wäldchen. Herrn Lessings Laokoon gewidmet. o. O. 1769, S. 74. Gegen die ‚falschen‘ und die ‚Missverständnisse‘ anderer Kritiker hält Herder eine wohlwollende Lesart, die ostentativ mit den Worten beginnt: „Ich verstehe ihn so:“ (ebd., S. 75). 77 Armand Nivelle: Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik. 2., durchges. und erg. Aufl. Berlin / New York 1971, S. 137. 78 Herder: Erstes Wäldchen (wie Anm. 76), S. 274.

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schlimmer noch: strategischer Besprechungen (wie die von Klotz eingesetzten) begnügen konnte. Es ist aber auch kein Kommentar, sondern ein relationaler und zugleich relationierender Text, der insofern ein rekursives Verhältnis begründet, als er den Laokoon verbessert und seinerseits von ihm verbessert werden wird. Das ist eine Schleife des wechselseitigen Verweisens, die mehr als einmal durchlaufen werden muss. Denn Herders ‚Zweifel‘ sollen die erneute und diesmal: ‚sorgfältige‘ Lektüre des Laokoon motivieren, die dann aber wiederum die ebenso sorgfältige Lektüre des Kritischen Wäldchens anregt. Nimmt man das ernst, dann müssen die Texte gemeinsam, gleichsam als Kollektiv gelesen werden. 79 Wenngleich Lessing diesen Antrag nicht öffentlich unterstützt – auch deshalb, weil er die versprochenen Fortsetzungen des Laokoon nicht veröffentlicht und sich stattdessen auf die Briefe, antiquarischen Inhalts konzentriert hat –, scheint er Herders Text doch bis zur zitierten Stelle gelesen und die Geste als Einladung zum Gespräch verstanden zu haben. Immerhin sei der Verfasser des Wäldchens „der einzige, um den es mir die Mühe lohnt, mit meinem Krame ganz an den Tag zu kommen.“ 80 Es führt daher vielleicht nicht allzu weit, in Klotzens Brief eine „zudringliche[ ] Liebeserklärung“ 81 und in Herders Schreiben nur „Lobhudelei“ 82 zu sehen. Viel eher empfiehlt sich ein genauer Blick auf die unterschiedlichen Angebote, die darin gemacht werden und die vielleicht auch erhellen können, worauf der ‚antiquarische Streit‘ abzielte. Denn im Rausch der Affekte, die von Anfang an auch das Publikum spalteten, wurde Lessing wohl vorschnell in jene Machtposition versetzt, von der aus er Klotz und seinen „anhündelnden Brief“ 83 zurückweisen konnte. Was diese Geschichte einer gescheiterten brief lichen Annäherung aber auch sichtbar macht, ist die Bündnislogik, die dem eigentlichen Streit bereits vorausging. Als Polemik betrachtet, wirft Lessing mit der Veröffentlichung in den beiden Hamburger Zeitungen den ersten Stein; von den Bündnissen her gesehen, zeigt sich eine strategische Linie, in der Lessings erster Brief zwar ein entscheidender Impuls, aber nicht der Einsatzpunkt der Querele ist. Versucht man in diesem Sinn, eine Konzentration auf Lessing zu vermeiden, dann erscheint eher Klotz als Aggressor, wenngleich 79 Dass die Wahrnehmung dieser Allianz eine Überforderung großer Teile des Publikums darstellen musste, liegt auf der Hand. Nicolai berichtet bspw. am 18. 10. 1768 an Lessing: „Die kritischen Wälder, glaubten hier emunctae homines, würden aus der Klotzischen Schule sein.“ (LWB 5/2 [wie Anm. 50], S. 1021). 80 Lessing an Nicolai, 13. 04. 1769, in: Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann. Bd. 12. Neue rechtm. Ausg. Berlin 1840, S. 229. 81 Redlich: Lessing (wie Anm. 63), S. 779. 82 Barner: Autorität und Anmaßung (wie Anm. 54), S. 28. 83 Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Bd. 1. 2. Veränderte Aufl. Berlin 1899, S. 654.

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auf mittelbare Weise. Es spricht einiges dafür, dass er weniger wegen der Detailkritik an Lessings Buch als vielmehr aufgrund seiner heimlichen Herrschaft über ein mediales Netz zum Ziel der Polemik wurde. So berichtet Albrecht Wittenberg in einem Brief vom 22. Juni 1768 an Nicolai, dass Lessing sich „in seiner Vertheidigung“ deshalb nicht an den eigentlichen Urheber der anonymen Rezension, der die Kritik an Lessings ‚Fehler‘ kolportiert und ihn als einen ‚unverzeihlichen‘ apostrophiert, sondern gegen „Herrn Klotz [. . . ] wendet, weil er glaubt, dieser habe die Recension eingeschickt“. 84 Lessing liest offenbar eine Rezension und erkennt darin eine versteckte Erweiterung von Klotzens medialem Herrschaftsraum. Indem der Herausgeber der Deutschen Bibliothek als regierendes Zentrum eines Imperiums agiert, muss er auch die Verantwortung für die Handlungen der (ihm untergeordneten) Bündnispartner und deren Kritiken tragen – und sogar dann, wenn die Allianz nur vermutet oder gar unterstellt wird. Nicht zuletzt deshalb warnt Joseph von Sonnenfels vor zu breiten oder konzertierten Attacken, insbesondere gegen einen Gegner, dem man mit solchen öffentlichen Sticheleien nur in die Hände spielt: [D]ie Hitze ihrer Freunde dient nur einen Streit länger zu unterhalten, der sehr ungleich ist. Sie haben einen Ruhm zu verliehren; und das haben Ihre Gegner nicht. Leßing allein ist ein Mann, der um die Literatur verdient ist, aber Leßing hat vielleicht nicht den Ruhm, der noch wesentlicher ist, den Ruhm eines so guten Mannes. 85

Die Analyse des Wiener Professors für Polizey- und Kameralwissenschaft könnte kaum treffender sein, denn er erkennt scharfsinnig den entscheidenden strukturellen Unterschied zwischen den Gegnern. Im Unterschied zu Lessing hat Klotz etwas zu verlieren, er hat ein ‚Eigenes‘, von dem aus er agiert. Damit wird sein Herrschaftshandeln als „Strategie“ im Sinne Michel de Certeaus lesbar, „die in dem Augenblick möglich wird, wo ein mit Macht und Willenskraft ausgestattetes Subjekt (ein Eigentümer, ein Unternehmen, eine Stadt, eine wissenschaftliche Institution) von einer ‚Umgebung‘ abgelöst werden kann.“ 86 Entscheidende Voraussetzung für die Charakteristik und den Handlungsspielraum ist ein Ort, der als etwas Eigenes umschrieben werden kann und der somit als Basis für die Organisierung seiner Beziehungen zu einer bestimmten Außenwelt (Konkurrenten, Gegner, ein Klientel [. . . ]) dienen kann. Die politische, ökonomische

84 Der Brief ist auszugsweise zitiert bei: Gottschalk Eduard Guhrauer: Gotthold Ephraim Lessing, sein Leben und seine Werke. 2. Bd. Leipzig 1853, S. 328. 85 Sonnenfels an Klotz, 24. 07. 1769, in: J. J. A. v. Hagen (Hg.): Briefe Deutscher Gelehrten an der Herrn Geheimen Rath Klotz. Erster Theil. Halle 1773, S. 32. 86 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 23.

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oder wissenschaftliche Rationalität hat sich auf der Grundlage dieses strategischen Modells gebildet. 87

De Certeau entwickelt diesen Modus, der letztlich einer des Herrschaftshandelns ist, um ihm die „Taktik“ entgegenzusetzen. Sie ist im Unterschied zur ‚Strategie‘ „ein Kalkül, das nicht mit etwas Eigenem rechnen kann und somit auch nicht mit einer Grenze, die das Andere als eine sichtbare Totalität abtrennt.“ 88 Implizit werden in dieser Beschreibung taktischen Handelns auch die realen Limitationen aufgelistet, die es motivieren. So verfüge die ‚Taktik‘ „über keine Basis, wo sie ihre Gewinne kapitalisieren, ihre Expansionen vorbereiten und sich Unabhängigkeit gegenüber den Umständen bewahren kann.“ 89 Sie kann ihre momentanen Gewinne daher nicht akkumulieren, sondern „muß andauernd mit den Ereignissen spielen, um ‚günstige Gelegenheiten‘ daraus zu machen. Der Schwache muß unaufhörlich aus den Kräften Nutzen ziehen, die ihm fremd sind.“ 90 Das bezeichnet mit frappierender Akkuratesse die Situation und die relativ ‚schwache‘ Position Lessings, der zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung wieder auf Stellensuche war. Doch diese Ähnlichkeit betrifft nicht nur Lessing. Was de Certeau als die grundsätzliche Logik analysiert, der sich Alltagspraktiken verdanken, lässt sich strukturell auf die Situation übertragen, in der sich der ‚antiquarische Streit‘ entwickelt. In diesem Licht zeigt sich, dass Klotz durch sein Herrschaftshandeln die Struktur auch für andere Akteure prägt und vorgibt: als Universitätsprofessor, als Herausgeber und als in seinem Fach maßgeblicher Autor markiert er Bereiche des Eigenen. Interessant ist dabei, dass er diese Expansionen zudem von Akteuren ausführen lässt, die ihm in Form von hierarchisierten, dabei informellen Allianzen verbunden sind. Entscheidend für die folgende Entwicklung ist, dass diese Verbindungen zunächst weitgehend unsichtbar blieben. Das konnte nur deshalb gelingen, weil Anonymität bis zum Ende des Jahrhunderts fest als Modus des kritischen, zum Teil auch des wissenschaftlichen Sprechens in der Öffentlichkeit etabliert war. Georg Christoph Lichtenberg erinnerte noch 1778 daran, dass die namentliche Nennung „dem Credit der Zeitungen nicht anders als nachtheilig seyn“ könne. 91 Die Anonymität sei es, die die Unparteilichkeit gewährleiste und 87 88 89 90 91

Ebd., S. 23. Ebd. Ebd. Ebd. Georg Christoph Lichtenberg, Brief vom 18. 02. 1778, zit. nach Thomas Kempf: Pulverisierter Empirismus. Wissensdiskurse in Intelligenzblättern, in: Sabine DoeringManteuffel / Josef Mancal / Wolfgang Wüst (Hg.): Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich. Berlin 2001, S. 121 – 130, hier S. 127. Dort auch weitere Hinweise zu diesem Zusammenhang.

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zugleich die Beiträge mit der Autorität einer allgemeinen oder kollektiven 92 Äußerung versehe. Anonymität ist damit sichtbares Zeichen von Objektivität, 93 sie birgt aber zugleich eine Gefahr, die auch in der zunehmenden Angst vor Geheimbünden zutage tritt. Denn mit dem Namen fehlt auch der entscheidende Referenzpunkt, von dem aus die tatsächlichen Beziehungen zwischen ansonsten abstrakt bleibenden textproduzierenden Instanzen ermessen werden können. Anonymität ermöglicht eben auch jene geheimen Absprachen und unsichtbaren Netze öffentlicher Kritik, von denen Klotz zunächst profitiert. Man sollte es daher wohl nicht für einen Zufall nehmen, dass Lessing hier namentlich zeichnet, im Unterschied zu den Polemiken in den Briefen, die neueste Litteratur betreffend. Freilich hat er insgesamt wenig, auf dem Gebiet der antiquarischen Gelehrsamkeit beinahe nichts zu verlieren, aber gerade deshalb viel zu gewinnen, wenn er einen der angesehensten Vertreter des Fachs öffentlich besiegen kann. Indem er sich selbst aufs Spiel setzt, zwingt er Klotz in dieselbe Lage. Dass dieser Versuch letztlich so erfolgreich war, liegt daran, dass Lessing nicht nur argumentiert, sondern seine ‚Taktik‘ auch darauf zielt, die ‚Strategie‘ seines Gegners zu decouvrieren. Bereits im achten Brief deckt Lessing eine mutmaßliche Verbindung auf, die im – prospektiven – Zusammentreten am medialen Ort der Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften sichtbar werden wird. So widerlege zwar der Erfurter Ästhetikprofessor Friedrich Justus Riedel „die Einwürfe des Herrn Klotz, und Herr Klotz giebt mir Waffen wider Herrn Riedeln.“ 94 Doch es entstehe daraus keineswegs ein Streit zwischen den Beiden: „Vielmehr sehe ich sie schon im voraus in ihrer Deutschen Bibliothek so nahe zusammenrücken, daß ich doch küppen muß“. 95 Diese Taktik zielt darauf, durch die Behauptung einer geheimen, vielleicht noch gar nicht eingegangenen Verbindung beiden Gegnern zugleich (künftige) ‚Parteylichkeit‘ zu unterstellen. Ihnen und ihren Urteilen ist nicht zu trauen, weil ihre wechselseitigen Kritiken dazu dienen, eine Allianz zu verdecken, die – sie mag geschlossen sein oder nicht – bereits wirksam wird. Der Ort dieser Wirksamkeit wird bezeichnet nicht als Klotzens, sondern als ‚ihre Deutsche Bibliothek‘. Damit wird die Zeitschrift, deren Anonymität sonst Garant

92 Die Göttingischen gelehrten Anzeigen würden etwa mit „der Stimme der Universität oder doch der Societät“ sprechen (ebd.). 93 Siehe auch Sabine Pabst: Unbeobachtete Kommunikation. Das Konzept von Anonymität im Mediendiskurs seit der Aufklärung. Wiesbaden 2018, S. 153: „Denn weil Anonymität in diesem Zusammenhang frei von Privatinteressen das Wohl aller zum Gegenstand hat, kann sich die Autorität einer anonymen Person oder Personengruppe aus einer überindividuellen Quelle speisen.“ 94 LWB 5/2 (wie Anm. 50), S. 378. 95 Ebd.

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ihrer Objektivität war, zum Organ einer durch Vorspiegelung individueller Äußerungen versteckten kollektiven Intentionalität. Genau diese Möglichkeit des Umschlags, die Entdeckung oder Behauptung geteilter Intentionen hinter individuellen Handlungen ist eine Gefahr, die auch Joseph von Sonnenfels bemerkt. Nachdem er sich zunächst als Partner eines Geheimbündnisses anträgt, gibt er daher Klotz einen wichtigen Hinweis zur öffentlichen Kriegsführung: Dieses Wort sey unter uns beyden auf unsere wechselseitige Ehre verschlossen, ein Zeichen meines Zutrauens gegen Sie! und in eben diesem Zutrauen fahre ich fort, Sie zu bitten: lassen Sie Ihren Mitarbeitern an der Bibliothek, alle kleinen, und oft sehr herbey gezogenen Anspielungen auf Leßingen und Herdern nicht angehen: solche Sticheleyen entscheiden nichts, aber sie erwecken den Argwohn der Partheylichkeit, und machen die gegründesten Urtheile verdächtig. 96

Deutlich wird hier, dass es unter den Bedingungen der druckmedialen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts nicht des Beweises bedarf, sondern dass es bereits der Argwohn ist, der wirksam wird. Gerade über die Macht des Gerüchts wusste der geheime Rat Klotz indes selbst bestens Bescheid. In einer – wohlgemerkt: anonymen – Anzeige der Briefe, antiquarischen Inhalts in den Halleschen neuen gelehrten Zeitungen vermutet Klotz, dass Lessing das Buch geschrieben habe, „um dem Verleger und den Verfassern der Allgemeinen Bibliothek eine Probe seiner Freundschaft zu geben“. 97 Beinahe gleichzeitig erscheint eine namentlich gezeichnete Besprechung des Buches in der Deutschen Bibliothek, die sich zunächst als Stellungnahme des von Lessings scharfer Polemik persönlich gekränkten Herausgebers gibt, um im Verlauf aber eine Akteursverbindung zu insinuieren und zum wahren Gegner zu machen. Er spricht von der „Berlinischen Litteraturschule“, 98 von „Hr. Nikolai und seinen Freunden“ 99 und schließt einen Text, der als Rezension begonnen wurde, mit dem Bedauern, „daß sich Hr. Leßing zu einer solchen Zänkerey hat herablassen können, die ihn nicht einmahl als einen Mitarbeiter an den Litteraturbriefen kleidet.“ 100 Die Behauptung, dass Lessing sich entweder bei den ‚Berlinern‘ anbiedern wollte oder sogar bereits mit ihnen im Bunde war, soll Evidenz dadurch gewinnen, dass sie nicht nur von Klotz, sondern noch von einem weiteren 96 Sonnenfels an Klotz, 24. 07. 1769, in: Hagen: Briefe Deutscher Gelehrten (wie Anm. 85), S. 32. 97 Zit. nach LWB 5/2 (wie Anm. 50), S. 1006. 98 Christian Adolph Klotz: [Rez.] Briefe antiquarischen Inhalts: von Gotthold Ephraim Lessing. Erster Theil. Berlin bey Friedrich Nikolai, 1768, in: Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften. Halle 1768, 7. St., S. 465 – 478, hier S. 470. 99 Ebd., S. 468. 100 Ebd., S. 478.

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Daniel Ehrmann

Kritiker aufgestellt wird. Nur die Möglichkeit anonymen Sprechens aber kann Klotzens Stimme auf diese Weise pluralisieren.

4 Reale Akteursverbände und die Inszenierung imaginierter Bündnisse Es ist bemerkenswert, wie konsequent sich der Streit bald auf die Legitimität des jeweiligen Gegners richtet. Indem aber Klotz auf Lessings Taktik des Aufdeckens geheimer Verbindungen mit einer eigenen Bündnisimagination reagiert, deckt er damit auch einen schon länger schwelenden Konflikt auf, der Lessing nur am Rande betrifft. Denn Klotz richtet sich hier wie in beinahe jeder öffentlichen Stellungnahme zu Lessings Angriffen auch gegen Friedrich Nicolai, der aufgrund der spürbaren Konkurrenz der Halle’schen Zeitschriften bereits vor dem ‚antiquarischen Streit‘ zu einem entschiedenen Gegner Klotzens geworden war. 101 Nicolai hatte freilich Lessings „Briefe alle mit Vergnügen gelesen“ 102 und im Anschluss auch den Verlag der Buchausgabe besorgt, er tritt aber erst in der Vorrede zum zweiten Stück des achten Bandes der Allgemeinen deutschen Bibliothek auch öffentlich an Lessings Seite in den Streit ein – um damit freilich vor allem für seine eigene Sache zu kämpfen. Er übernimmt aber gerne den Vorwurf der Parteilichkeit von Lessing und zeigt sich erleichtert, dass Klotz kein Mitarbeiter seiner Zeitschrift mehr sei, da er bald bemerken musste, dass er „sich nur der Bibl. bedienen wollte, um unerkannt das zu sagen, was ihm zur Erreichung gewisser Absichten diente.“ 103 Diese in unsichtbaren Netzen ausagierte Parteilichkeit wird bei Nicolai unumwunden zum Kennzeichen nicht nur einer Person, sondern einer geheimen Allianz, zum Signum von „Hrn. K. und seinen Anhängern“. 104 Spätestens mit der Veröffentlichung des ersten Bandes der Briefe, antiquarischen Inhalts wird die Behauptung geheim gehaltener Bündnisse, die aber subkutan von höchster Wirksamkeit sind, zu einer wichtigen Waffe, die auf den Kern der Auseinandersetzung gerichtet zu sein scheint:

101 Bereits Carl Renatus Hausen: Leben und Charakter Herrn Christian Adolph Klotzens. Halle 1772, S. 23 – 35, verortet den ‚antiquarischen Streit‘ in einer längeren Auseinandersetzung mit Nicolai. „Herr Nicolai hob nunmehro den Briefwechsel auf; und die bisher in der Stille geführten Streitigkeiten wurden öffentliche und nicht selten unanständige Zänkereyen. Herr Lessing gab wider das Buch von geschnittenen Steinen die Briefe antiquarischen Inhalts heraus“ (ebd., S. 31). 102 Nicolai an Lessing, 09. 08. 1768, LWB 5/2 (wie Anm. 50), S. 1002. 103 Friedrich Nicolai: Vorrede, in: Allgemeine deutsche Bibliothek, 8/2 (1769), S. 3 – 26, hier S. 17. 104 Ebd., S. 14.

Bündnisse, die es nie gegeben hat

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Reale Akteursverbände aus Autoren, Verlegern, wissenschaftlichen Institutionen, Herausgebern und Zeitschriften werden angegangen durch die Inszenierung imaginierter Bündnisse. Dass dieses Vorgehen überhaupt erfolgreich sein konnte, liegt an einem meist vernachlässigten oder übersehenen Aspekt des Bündnisses zumindest im Bereich der Literatur: Allianzen haben über die offensichtlichen realen Werte wie der Akkumulation und Koordination individueller Kräfte hinaus auch symbolischen Wert, der sogar völlig unabhängig von ausgeführten Handlungen bestehen kann. Das Beispiel des ‚antiquarischen Streits‘ macht darüber hinaus deutlich, dass sich dieser symbolische Wert verselbständigen und sich sogar dort einstellen kann, wo gar nie ein echtes Bündnis war. Indem es sich um textuelle Auseinandersetzungen im kulturellen Feld der Zeit handelt, gewinnen auch symbolische Handlungen bisweilen ganz handfeste Realität. Um diese Verwischung der Wirklichkeitsebenen des Textes und der Welt wussten die am ‚antiquarischen Streit‘ beteiligten Akteure bestens Bescheid, und es zeigt sich dieses Bewusstsein deutlich in der Wahl ihrer Mittel. Es ist nämlich auch ein Effekt dieser Art der symbolischen Kriegsführung, dass man nicht einfach davon sprechen kann, es handle sich um einen Konflikt zwischen Lessing und Klotz. Zugleich ist er aber auch keiner zwischen ‚Hallensern‘ und ‚Berlinern‘ – es ist ein Konflikt, der sich im Spannungsfeld von Einzelakteuren, realen und unterstellten Allianzen entspinnt. Das ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil man im Unterschied zur Staatspolitik im Bereich der Literatur Besitzungen erst als Folge von Einbußen im symbolischen Kapital verliert. Wenn „Ruhm“ 105 das wichtigste Gut des Schriftstellers ist, dann ist es zugleich ein sehr empfindliches, denn es kann sogar durch Bündnisse verloren werden, die es nie gegeben hat.

105 Vgl. wiederum Sonnenfels an Klotz, 24. 07. 1769, in: Hagen: Briefe Deutscher Gelehrten (wie Anm. 85), S. 32.

Kristin Eichhorn

Leise Polemik und funktionalisierte Freundschaft Zur Bündnispolitik der Bremer Beiträger

Die Gruppe der Bremer Beiträger ist im Vergleich mit anderen Autorenbünden, die im Band zur Sprache kommen, wesentlich weniger gut untersucht. Um die Bremer Beiträger hat sich vor allem die ältere Forschung bemüht, wobei das Interesse, was Monographien und größtenteils auch Aufsätze anbetrifft, seit 1962 stark nachgelassen hat. 1 Dies ist also das erste Problem, auf das man stößt, wenn man sich mit der Gruppe der Bremer Beiträger beschäftigt: Die Fachgemeinschaft weiß insofern sehr wenig über diesen Autorenbund, als es einen Mangel an Experten gibt, die sich intensiver mit ihm beschäftigt haben. Doch es ist nicht nur das inzwischen recht geringe Forschungsinteresse an sich, das dafür sorgt, dass unser Bild der Bremer Beiträger vage bleibt. Schließlich hat die vorhandene ältere Forschung wichtige Grundlagen erarbeitet, auf die sich immer noch zurückgreifen lässt. Im Zentrum stand in erster Linie die positivistische Erfassung des gesamten Phänomens: die Zuordnung einzelner Texte zu konkreten Verfassern, 2 die Rekonstruktion der Daten und Umstände von Anfang, Verlauf und Ende der Zusammenarbeit, 3 die Aufarbeitung der Biographien der Mitglieder 4 sowie die zusammenfassende Darstellung des Inhalts der gemeinsamen Publikationen. 5 Wenn man dieses – zweifellos nützliche – Material überblickt, drängt sich indes ein möglicher Grund für das geringe Forschungsinteresse auf.

1 Vgl. zuletzt Fritz Meyen: Bremer Beiträger am Collegium Carolinum in Braunschweig, Braunschweig 1962. Die wichtigsten Beiträge davor sind Franz Muncker: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Bremer Beiträger. Erster Teil: Gellerts Fabeln und Geistliche Dichtungen. Zweiter Teil: Rabener, Cramer, Schlegel, Zachariä [= Nachdruck der Ausgabe Berlin / Stuttgart 1889]. Hildesheim / Zürich / New York 2003. Bd. I, S. I – XXXVIII; Christel Matthias Schröder: Die „Bremer Beiträger“. Vorgeschichte und Geschichte einer deutschen Zeitschrift des achtzehnten Jahrhunderts. Bremen 1956. 2 Muncker: Einleitung (wie Anm. 1), S. XIXff. 3 Franz Ulbrich: Die Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Ein Beitrag zur Journalistik des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1911, insbes. S. 130 ff.; Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. Vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock. Halle 1936, S. 222 ff. 4 Muncker: Einleitung (wie Anm. 1); Schröder: Die „Bremer Beiträger“ (wie Anm. 1), S. 17 ff.; Meyen: Bremer Beiträger (wie Anm. 1). 5 So über weite Strecken Schröder, ebd.

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Es scheint nämlich kein klares Programm zu geben, das das Bündnis der Bremer Beiträger ausmacht. So wird der Zusammenhalt der Gruppe nach wie vor im Wesentlichen in den zwei Aspekten gesehen, die schon Franz Ulbrich 1911 für die Bremer Beiträger angesetzt hatte: „einmal d[em] Bedürfnis nach freiem, vorurteilslosen Gedankenaustausch, geistiger Anregung und ehrlicher Kritik, zum andern [. . . ] de[m] Wunsch nach fröhlichem, geselligem, ja, wenn es sein konnte, freundschaftlichem Zusammenleben“. 6 Wenn man sich daran erinnert, wie umkämpft das literarische Feld im mittleren 18. Jahrhundert ist, wirkt eine solche Beschreibung auffällig blass: Der Gruppe scheint ein unverkennbares eigenes Profil zu fehlen, das sie von anderen Dichtergemeinschaften abgrenzt und ihre literaturgeschichtliche Relevanz begründet. 7 Und: Da es sich primär um einen freundschaftlichen Zusammenschluss handelt, der sämtlichen literarischen Produkten mit Toleranz begegnet, scheinen die Bremer Beiträger gleichsam keinen klaren poetologischen Standort zu haben – was sie angesichts des in den 1740er Jahren grassierenden Streites zwischen Gottsched und den Schweizern schwer greifbar macht. Dass es sich bei der Kooperation der Bremer Beiträger jedoch nicht um ein so konfliktfreies Unternehmen handelt, ist auch der älteren Forschung bekannt. Schließlich verdankt die gemeinsame Wochenschrift, nach ihrem Verlagsort ‚Bremer Beyträge‘ genannt, ihre Gründung letztlich der Unzufriedenheit der Freunde mit der zunehmenden polemischen Ausrichtung der Belustigungen des Verstandes und des Witzes durch Gottsched und ihren Herausgeber Johann Joachim Schwabe. 8 Man weiß auch, dass einzelne Mitglieder der Gruppe durchaus Polemiken verfasst und damit ihren Standort innerhalb des Literaturstreits zwischen Leipzig und Zürich deutlich zu erkennen gegeben haben. 9 Hier scheinen also einzelne Autoren aus dem gemeinsamen Projekt auszuscheren, während das Bündnis als Ganzes auf Polemik programmatisch verzichtet. 10 Bei den Bremer Beiträgern hat man es – wie ich hier zeigen möchte – demnach in der Tat mit einer Gruppierung zu tun, die recht klare Vor-

6 Ulbrich: Belustigungen (wie Anm. 3), S. 139. 7 In erster Linie hebt man deshalb die Position der Bremer Beiträger als „Menschen des Übergangs“ hervor (Schröder: Die „Bremer Beiträger“ [wie Anm. 1], S. 217), deren Wert in ihrem Anteil an der „Wegbereitung zur deutschen Klassik“ gesehen wird (Jacob Steigerwald: Die Bremer Beiträger. Ihr Verhältnis zu Gottsched und ihre Stellung in der Geschichte der deutschen Literatur. Chicago 1974, S. 176). Immerhin weist Schröder noch auf ein formales Novum hin, indem die Neuen Beyträge das erste rein literarische deutschsprachige Journal darstellen. Vgl. Schröder, ebd., S. 220 8 Vgl. schon Muncker: Einleitung (wie Anm. 1), S. II. 9 Dies gilt vor allem für Gottlieb Wilhelm Rabener und Johann Adolf Schlegel. Vgl. Steigerwald: Die Bremer Beiträger (wie Anm. 7), S. 113. 10 Vgl. etwa ebd., S. 29 – 31.

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stellungen davon erkennen lässt, was sie auszeichnet. Im Gegensatz zu der bisherigen Forschungsmeinung ist die Gruppenidentität als Bündnis hier sogar besonders deutlich gesichert. Die folgenden Ausführungen sollen zunächst kurz noch einmal die wesentlichen Fakten zur Gruppe und ihrer Zeitschrift in Erinnerung rufen. Anschließend wird das genannte Programm der Bremer Beiträger mit einer Beispielpolemik eines ihrer Mitglieder konfrontiert. Wie sich zeigen wird, setzt die Gruppe in der Tat auf ästhetische Toleranz und Polemikverzicht. In diesem Ansatz steckt allerdings eine indirekte – ‚leise‘ – ständige Polemik gegen Gottscheds antischweizerische Publikationen. Statt die Selbstbeschreibungen der Bremer Beiträger unbefragt für bare Münze zu nehmen, wird im Folgenden deutlich werden, dass hinter ihnen eine konsequente Inszenierungspraxis steckt, die gerade auf Abgrenzung von Gottscheds Praktiken 11 angelegt ist und die auch in den individuellen Projekten einzelner Mitglieder fortgesetzt wird. Auf diese Weise entpuppt sich der scheinbar periphere Gegenstand – das heute kaum noch bekannte Bündnis der Bremer Beiträger – als erhellendes Lehrbeispiel der Funktion literarischer Freundesbündnisse im 18. Jahrhundert überhaupt.

1 Der ‚schärfste Feind‘ ist der beste Freund: Das Freundschaftskonzept der Bremer Beiträger Wer also sind die Bremer Beiträger? Es handelt sich um einen relativ geschlossenen Kreis junger Leipziger Autoren, der in den 1740er Jahren häufiger zusammengekommen ist und von denen die meisten an Schwabes Belustigungen des Verstandes und des Witzes mitgearbeitet haben. Zu nennen sind hier neben Karl Christian Gärtner vor allem Johann Adolf Schlegel (der Batteux-Übersetzer und Vater von Friedrich und August Wilhelm Schlegel), Johann Andreas Cramer, Nikolaus Dietrich Giseke und Johann Arnold Ebert sowie ferner Christian Fürchtegott Gellert, Gottlieb Wilhelm Rabener, Friedrich Wilhelm Zachariä und Johann Elias Schlegel; außerdem stößt 1747 Klopstock zu der Gruppe, dessen erste drei Gesänge des Messias 1748 im vierten Band der Bremer Beyträge abgedruckt sind. Nachdem der Versuch gescheitert ist, den Herausgeber der Belustigungen Johann Joachim Schwabe zu einer Reform der Zeitschrift bzw. zu einer unpolemischen Neugründung unter seiner Regie zu überreden, 12

11 Vgl. zu Gottsched im Überblick unlängst George Bajeski: Praeceptor Germaniae. Johann Christoph Gottsched und die Entstehung des Frühklassizismus in Deutschland. Frankfurt am Main 2015. 12 Zum Verlauf im Einzelnen vgl. Schröder: Die „Bremer Beiträger“ (wie Anm. 1), S. 32 ff.

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beschließt die Gruppe Christian Felix Weißes Bericht zufolge, auf eigene Faust eine „Fortsetzung der Belustigungen“ ins Leben zu rufen, 13 die unter der Herausgeberschaft von Karl Christian Gärtner ab 1744 mit dem Titel Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes beim Bremer Verleger Nathanael Saurmann erschienen sind. 14 Gärtner hat die Zeitschrift bis zum sechsten Stück des vierten Bandes 1748 betreut. Danach gehen die Wege von Saurmann und den Bremer Beiträgern auseinander. Während der Verleger die Neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes unter veränderter Herausgeberschaft noch zwei Bände lang fortsetzt, hält der Gärtner-Kreis mit der Sammlung vermischter Schriften dagegen, die sich explizit von den nicht mehr von der ursprünglichen Gruppe betreuten Bänden fünf und sechs der Neuen Beyträge abgrenzt. 15 Wie die Entstehung des neuen Journals zeigt, handelt es sich bei den Neuen Beyträgen schon konzeptionell nicht um eine eigenständige Zeitschrift, sondern um ein Wochenblatt, das gezielt auf bestimmte Entwicklungen innerhalb der literarischen Produktion und die Debatten reagiert, die sie begleiten. Die Bremer Beyträge nehmen bereits im Titel auf die Belustigungen des Verstandes und des Witzes Bezug und sind als eine Art Verbesserung von Schwabes Zeitschrift angelegt. Auf diesen Umstand nimmt auch die Vorrede Gärtners 16 zum ersten Stück Bezug, wenn sie das Postulat einer auf Polemik verzichtenden Literaturkritik formuliert: Vor Streitschriften dürfen sich unsre Leser nicht fürchten. Sie sollen keine Seite in unsern Blättern einnehmen, ob wir uns gleich die Freyheit vorbehalten, nach Gelegenheit der Umstände, bescheidne Beurtheilungen über andre Schriften einzurücken. Diese Arten von Arbeiten gehören so wohl in die schönen Wissenschaften, und zum Vergnügen der Leser, als andre Aufsätze. Man muß sie aber ohne Haß und Bitterkeit verfertigen. Es giebt genug kriegerische Gegenden. Man wird noch ausmachen, unter welchem Himmelsstriche der gute Geschmack seine meisten Anhänger hat. Wir wollen friedlich zusehen. (NB I, S. 6)

Obwohl Literaturkritik durchaus einen Platz in der neuen Zeitschrift erhalten soll, wird jeglicher polemischen Färbung eine klare Absage erteilt; an die Stelle von „Haß und Bitterkeit“ sollen nunmehr „bescheidne Beurtheilungen“ treten. In Abwehr der an lokale Zentren gebundenen Auseinandersetzung zeigen sich die Bremer Beiträger bewusst als Kosmopoliten

13 Ebd., S. 34. 14 Die Zeitschrift wird im Folgenden mit der Sigle NB zitiert. 15 Karl Christian Gärtner (Hg.): Sammlung vermischter Schriften. Von den Verfassern der Bremischen neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes. 3 Bde. Leipzig 1748 – 1757. 16 Vgl. Muncker: Einleitung (wie Anm. 1), S. XIX.

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und appellieren an einen vernünftigen Leser, dem es bei einem guten Produkt nicht darauf ankommt, ob er es „einem Griechen, einem Römer, einem Engelländer, einem Franzosen, einem Schweitzer, einem Niedersachsen, oder einem Leipziger zu verdanken hat“ (NB I, S. 7). Das Hauptanliegen der Neuen Beyträge ist es also ihrer Vorrede nach, sich jenseits der Streitigkeiten zwischen Leipzig und Zürich zu situieren und stattdessen das Augenmerk ihrer Leserschaft wieder auf die Qualität der Texte selbst zu lenken, während sich der Fokus im polemischen Kontext gern von der Sache weg hin zu einer Auseinandersetzung mit Personen verschiebt. 17 Eine solche Programmatik zieht bestimmte Konsequenzen für die Zeitschrift selbst nach sich. Die Wahl eines Bremer Verlegers ist diesem Anspruch ebenso dienlich wie der Umstand, dass sämtliche Einzelbeiträge in den Bänden anonym erschienen bzw. mit z. T. unauf lösbaren Initialen verschlüsselt worden sind, um ihre Zuordnung zu einem konkreten Verfasser unmöglich zu machen. 18 Allerdings muss man dieses Postulat der Unparteilichkeit insofern relativieren, als die Bremer Beiträger sich in der Tat nicht von Gottsched und den Schweizern distanzieren, sondern ihr Neuansatz vielmehr nur in Opposition zu den Projekten des Leipzigers entsteht. Wird dies schon an der Abgrenzung von der Entwicklung der Belustigungen erkennbar, haben mehrere der Bremer Beiträger – namentlich die Gebrüder Schlegel, Nikolaus Dietrich Giseke, Carl Christian Gärtner sowie Gottlieb Wilhelm Rabener – in den 1740er Jahren Briefkontakt mit Johann Jacob Bodmer, den sie immer wieder ihrer „Hochachtung“ versichern. 19 Wenn sich die Bremer Beiträger zudem von Polemik distanzieren, so gilt dies relativ einseitig für die von Gottsched und seinen Schülern ausgehenden Attacken, was seinen konkreten Grund hat: Von allem was Obersächsisch ist, vermuthet die Welt schon zum voraus, daß es von den Gottschedischen Vorurtheilen angesteckt ist, und in Leipzig darf kein witziger Schriftsteller aufstehen, ohne in den Verdacht zu fallen, daß er ein Gottschedischer Schüler sey. 20 17 Vgl. dazu im Überblick Sigurd Paul Schmidt: Polemik [Art.], in: Jan-Dirk Müller u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Georg Braungart u. a. Berlin / New York 2007, S. 117 – 120. 18 Allerdings dürfen diese Punkte auch nicht überbewertet werden, wie dies z. T. in der älteren Forschung der Fall ist (vgl. z. B. die Begründung bei Schröder: Die „Bremer Beiträger“ [wie Anm. 1], S. 38). Schließlich lautet die Angabe des Verlagsorts auf dem Titelblatt der Zeitschriftenbände jeweils Bremen und Leipzig. Zudem handelt es sich bei der Entscheidung für Anonymität um eine gängige Mode nicht nur im Zeitschriftenwesen des 18. Jahrhunderts. 19 So Giseke an Bodmer im Brief vom 25. 11. 1747, in: [Johann Jacob Bodmer]: Litterarische Pamphlete aus der Schweiz. Nebst Briefen an Bodmern. Zürich 1781, S. 113. 20 „Ein Obersachse [= J. A. Schlegel] an Bodmern, 1744“, ebd., S. 74 f.

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Die Schwierigkeit für die Bremer Beiträger besteht, wie der hier zitierte anonyme Brief Schlegels an Bodmer zeigt, darin, dass sie als Obersachsen ständig mit der Gottschedschule in Zusammenhang gebracht werden und deshalb allein ihrer Herkunft wegen Angriffe von außen zu befürchten haben. Die Gruppe wählt deshalb einen auswärtigen Verleger und setzt in ihrer Vorrede zum ersten Band gezielt auf einen kosmopolitischen Ansatz, um der Zuordnung zur Gottschedschule zu entgehen, die sie sonst unmittelbar treffen und eine nüchterne Beurteilung ihrer Schriften verhindern würde. Soweit handelt es sich tatsächlich um ein Konzept, das die auf Personen verengte Diskussion wieder zur Sache zurückführen will: Statt der Herkunft der Autoren soll wieder die Qualität des vorgelegten Textes maßgeblich für literaturkritische Einschätzungen sein. Auffällig ist allerdings, dass die Gruppe der Bremer Beiträger dieses Postulat nun nicht nur zur konzeptionellen Begründung ihrer Zeitschrift aufbaut, sondern es ins Zentrum einer umfassenden Selbstinszenierung stellt, mit der sich das Bündnis von anderen Gruppen – vor allem den Gottsched treuen Autoren – abgrenzen will. Wolfdietrich Rasch erörtert in seiner noch immer wichtigen Studie zur Freundschaftsdichtung im 18. Jahrhundert das Freundschaftsverständnis der Bremer Beiträge vornehmlich anhand von Klopstocks Beispiel 21 und geht entsprechend von einem emphatischen Freundschaftsbund aus, wobei die ‚Brüder‘ mit einem hohen „Gefühlsgehalt“ immer wieder die Verbundenheit untereinander betonen. 22 Rasch entgeht auf diese Weise aber, dass im Zentrum der Freundschaft der Bremer Beiträger ein anderes Moment steht: nämlich das gemeinsame Arbeiten an und das kritische Redigieren von literarischen Texten. Nicht nur in der programmatischen Vorrede zu den Neuen Beyträgen geht der Autorenbund auf den eigenen Polemikverzicht ein. Er wird darüber hinaus in einer Vielzahl von Freundschafts- und Widmungsgedichten immer wieder betont und als Spezifikum der Gruppe – wie ihres besonderen Freundschaftsideals – hervorgehoben. Noch viele Jahre nach Ende der gemeinsamen Leipziger Zeit finden sich lyrische Bezugnahmen der Bremer Beiträger aufeinander. Beispielsweise lohnt sich der Blick auf

21 Darauf deutet schon der Name des Kapitels wie auch Raschs These, dass sich die Bremer Beiträger zunächst nur einem Freundschaftsgefühl angenähert hätten, „das in der Begegnung mit Klopstock erst zum eigentlichen Durchbruch gelangte“. Rasch: Freundschaftskult (wie Anm. 3), S. 236. 22 Ebd. – Freilich kommt auch Rasch nicht umhin, den Unterschied zwischen Klopstock und den Beiträgern zu bemerken, konstatiert er doch eine deutliche Steigerung des Freundschaftsenthusiasmus beim Vergleich der Freundschaftsgedichte von Cramer oder Johann Adolf Schlegel mit denen Klopstocks (vgl. ebd., S. 235).

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Eberts Ode Auf meines Freundes Joh. Andreas Cramer’s Tod (1788), deren Sprecher angesichts des eigenen Scheiterns, den Verstorbenen angemessen loben zu können, auf die Neuen Beiträge zurückblickt und eine Charakteristik „jener Schaar“ 23 entwickelt, „Die von der Jugend Durst nach edlem Ruhm entbrannt, [. . . ] / Sich feierlich verschwur, der Barberey, – / Auch der gelehrten selbst, – und aller Tyranney – / Auch der Mäcenen selbst, – zu wehren“. 24 Ebert präsentiert die Zusammenarbeit mit Cramer und den anderen Beiträgern als eine Freundschaft, deren Besonderheit gerade darin besteht, dass sie zugunsten der Geschmacksentwicklung gegenseitige kritische Beurteilung einschließt – sei es in moralischen oder in dichterischen Fragen: Geneigt, die Tugenden des Bruders auszuspähen, War jeder auch den kleinsten Fehl zu sehen, Aus Liebe zum Geschmack, aus Liebe für den Freund, Scharfsichtig, wie ein bittrer Feind. Und dennoch war dem jungen reizbarn Dichter Der unerbittlich strenge Richter Der redlichste, der liebste Freund. 25

Das vermutlich von Johann Adolf Schlegel verfasste 26 Alexandrinergedicht Die Freundschaft aus dem ersten Band der Zeitschrift weist ein ähnliches Modell auf, ohne dabei explizit auf die Gruppe der Bremer Beiträger selbst Bezug zu nehmen. Das Gedicht enthält eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich wahre von falscher Freundschaft unterscheiden lässt, und führt nun genau den auch bei Ebert hervorgehobenen besonderen Umgang der Freunde mit Kritik als das wichtigste Unterscheidungskriterium ein. Falsche Freundschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass man davon Abstand nimmt, einander auf Fehler hinzuweisen. Wahre Freundschaft hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass man sowohl sich selbst als auch dem anderen gegenüber niemals den kritischen Blick verliert: Ihr Wesen zeigt sich dann, wann Herzen sich verbinden, Nur in den Tugenden ihr gröstes Glück zu finden. Ein jeder wacht alsdann, sich selbst nichts zu verzeihn, Und beyde wollen groß, und beyde Weisen seyn. Ein angenehmer Streit erreicht sich unter ihnen; Denn ieder möchte gern zu einem Beyspiel dienen. Ihr Fleiß zerstört vereint der Laster Tyranney;

23 Johann Arnold Ebert: Johann Arnold Ebert’s Episteln und vermischte Gedichte. [Nachdruck der Ausgabe 1789/1795]. Bern 1971. Bd. I, S. 313. 24 Ebd., S. 314 ff. 25 Ebd., S. 317 f. 26 Vgl. Muncker: Einleitung (wie Anm. 1), S. XX.

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Ihr herrscherischer Muth macht ihre Geister frey. Der Eifer, der sie treibt, wird nimmermehr entzündet, Und die Zufriedenheit unwandelbar gegründet. (NB I, S. 111)

Das Moment der gegenseitigen Kritik im Freundschaftskonzept der Bremer Beiträger nicht deshalb so wichtig, weil sich hier ein ‚neues Freundschaftserlebnis‘ nur vorbereiten würde, das erst bei Klopstock seine wahre Ausprägung findet. 27 Es ist vielmehr zentral für den Freundschaftsbegriff des Bündnisses. In Alternative zu der bei den Belustigungen vorherrschenden Praxis will man literarische Normen nicht durch Vorschriften, Regeln und polemische Angriffe auf den Gegner durchsetzen. Entsprechend muss bei den Bremer Beiträgern jeder Text von allen Beteiligten abgesegnet sein, bevor er in den Druck geht, was – ein besonders hohes Ideal – ihre Freundschaft nicht beeinträchtigt, sondern sogar noch verstärkt. 28 Diese Ausstellung der Toleranz in den eigenen Reihen – des Absehens von Personen und der bloßen Konzentration auf die Sache – macht nun genau das Programm des Polemikverzichts aus, wie es die Vorrede der Bremer Beyträge postuliert. Die Gruppe greift noch Jahrzehnte nach dem Ende ihrer Zusammenarbeit auf dieses Muster zurück, um ihre besonderen Eigenarten zu beschreiben. Somit lässt sich als Zwischenfazit festhalten, dass die Gruppe gerade durch ihr Konzept des Polemikverzichts Profil zu gewinnen versucht. Allerdings wird bei genauerem Hinsehen auch deutlich, dass diese Abgrenzungsversuche letztlich vor allem gegen Gottsched gerichtet sind, da die Bremer Beiträger als Obersachsen sich stärker von dem Leipziger distanzieren müssen, um noch als eigenständig wahrgenommen zu werden. Im Konzept des ‚bescheidenen Beurteilens‘ und der ästhetischen Toleranz liegt also eine versteckte subtilere polemische Tendenz verborgen, die durchaus eine Standortbestimmung des Autorenbündnisses erlaubt und notwendig macht.

2 Die Praxis der ‚leisen Polemik‘: Johann Adolf Schlegel und die Diskussion um das Schäferspiel Wie nun aber verhält sich diese Selbstdarstellung der Gruppe zu ihrer tatsächlichen literarischen Produktion bzw. zu der Beteiligung ihrer Mitglieder an literaturprogrammatischen Debatten? Ein aufschlussreiches

27 So Rasch: Freundschaftskult (wie Anm. 3), S. 222 f. 28 Vgl. auch Schröder: Die „Bremer Beiträger“ (wie Anm. 1), S. 44.

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Beispiel hierfür ist die Diskussion um die Schäferdichtung, 29 an der sich Johann Adolf Schlegel mit seiner Satire Vom Natürlichen in Schäfergedichten beteiligt hat. 30 Diese von Schlegel anonym an Bodmer gesandte und daher in Zürich publizierte Schrift 31 parodiert in Vorrede, Hauptteil und dem angehängten Musterschäferspiel Anne Dore deutlich genug die beiden von Gottsched in der Deutschen Schaubühne publizierten Stücke Atalanta und Elisie – das erste stammt von Gottsched selbst, das zweite von Adam Gottfried Uhlich. 32 Dabei kritisiert Schlegel an Gottscheds Auffassung von der Schäferdichtung vorrangig die zu starke Annäherung an das bäuerliche Leben, die durch den expliziten Bezug auf landwirtschaftliche Fragen wie eine derbe Sprache markiert wird. 33 Dieser Text Schlegels wird in der Regel als Beispiel dafür angeführt, dass sich einzelne Bremer Beiträger in individuellen Projekten nicht an das Programm der Gruppe gehalten haben. 34 Zunächst ist es vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen aber nicht mehr ganz so irritierend, dass von Seiten einzelner Beiträger Gottsched-Parodien existieren, obwohl sich die Gruppe immer wieder der Unparteilichkeit verschrieben hat. Geht man davon aus, dass diese Selbstinszenierung an sich schon einen indirekten polemischen Grundzug hat und eine Abgrenzung des Bundes von der Art von Literaturkritik darstellt, wie sie durch die Auseinandersetzung zwischen Zürich und Leipzig mit Obersachsen assoziiert wird, passt die Schrift schon wesentlich besser in das Bild der Bremer Beiträger. Darüber hinaus erweist sich die Schäfergedicht-Abhandlung aber als auch direkt in die Selbstinszenierung des Autorenkreises eingebunden, wie eine genauere Analyse zeigt. Dies betrifft zunächst den Entstehungshintergrund: Schlegel reagiert mit dem Buch auf einen polemischen Angriff der Gottschedin, deren 29 Vgl. zur deutschen Diskussion um Bukolik im 18. Jahrhundert Klaus Garber: Wege in die Moderne. Historiographische, literarische und philosophische Studien aus dem Umkreis der alteuropäischen Arkadien-Utopie. Berlin 2012. 30 [Johann Adolf Schlegel]: Vom Natürlichen in Schäfergedichten wider die Verfasser der Bremischen neuen Beyträge verfertigt vom Nisus einem Schäfer in den Kohlgärten einem Dorfe vor Leipzig. Zweyte Auf lage, besorgt und mit Anmerkungen vermehrt von Hanns Görgen gleichfalls einem Schäfer daselbst. Zürich 1746. Vgl. zu Schlegel Joyce S. Rutledge: Johann Adolph Schlegel. Bern u. a. 1974. 31 Die Briefe Schlegels an Bodmer finden sich in Bodmer: Litterarische Pamphlete (wie Anm. 19). Vgl. für Bodmers Antworten Aus G. Kestners Briefsammlung. IV. Johann Jacob Bodmer, in: Franz Schnorr von Carolsfeld: Archiv für Litteraturgeschichte. Bd. IV. Leipzig 1875, S. 289 – 299. 32 Vgl Oscar Netoliczka: Schäferdichtung und Poetik im 18. Jahrhundert, in: Vierteljahrsschrift für Litteraturgeschichte 2 (1889), S. 1 – 89, hier S. 38; Steigerwald: Die Bremer Beiträger (wie Anm. 7), S. 29. 33 Vgl. Netoliczka: Schäferdichtung (wie Anm. 32), S. 45 – 47. Dass dies Gottsched nur bedingt gerecht wird, ist ein anderes Problem. 34 Etwa von Steigerwald: Die Bremer Beiträger (wie Anm. 7), S. 29 – 31.

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Lustspiel Der Witzling (1745) „die Gründung einer Gesellschaft“ lächerlich macht, „die in ihren organisatorischen Plänen deutliche Parallelen zu den Vereinbarungen der Bremer Beiträger“ erkennen lässt. 35 Entsprechend weist der Titel die Abhandlung als vorgebliche Kritik an den Bremer Beiträgern aus, 36 die mit dem fiktiven Verfasser Nisus und seinem ebenfalls fiktiven Herausgeber Hanns Görgen die Perspektive des Gegenübers (Gottscheds) einnimmt, um diese zu ironisieren. 37 Allerdings geht der Bezug zum Konzept der Bremer Beiträger noch über den Entstehungshintergrund und den Titel hinaus. Schlegel arbeitet in die Abhandlung nämlich nicht nur eine Reihe von Gottschedzitaten ein, die die ältere Forschung detailliert dargestellt hat. 38 Er nimmt darüber hinaus auch immer wieder Bezug auf Texte, die in den Neuen Beyträgen erschienen sind, also von der eigenen Autorengruppe stammen. Die Abhandlung Vom Natürlichen in Schäfergedichten besteht so zum größten Teil aus einem Brief des Leipziger Schäfers Nisus an eine „Mamsell Phillis“, die von dem Herausgeber Hanns Görgen, der gleichfalls ein sächsischer Schäfer ist, in Fußnoten kommentiert wird. 39 Die Herkunft der beiden Schäfer verweist naturgemäß auf das Gottschedumfeld. Auch in Gottscheds Atalanta gibt es einen Schäfer namens Nisus, der insofern eine recht prägnante Rolle spielt, als er einer der beiden Kommentatoren der Handlung ist, die am Ende im Unterschied zu allen anderen Figuren keine Partnerin finden. 40 Der Name Phyllis indes wird in Gottscheds Schäferspiel nicht verwendet und weist in eine andere Richtung. Der Leser der Bremer Beyträge kann Nisus’ Brief recht schnell als Antwort auf ein Schreiben identifizieren, das im sechsten Stück des ersten Bandes der Wochenschrift erschienen ist. Dieser Brief, für den Muncker ebenfalls Schlegel als Verfasser annimmt, 41 steht allerdings nicht für sich allein. Es handelt sich vielmehr um einen Kommentar einer fiktiven Leserin der Zeitschrift, die sich über das Sterben der beiden Hauptfiguren in der Verserzählung Die mitleidige Schäferin beklagt (vgl. NB I, S. 614 ff.). Diese Verserzählung steht ihrerseits unmittelbar 35 Ebd., S. 30. 36 Vgl. ebd., S. 29. 37 Verweist Nisus bereits durch den Atalanta-Bezug auf Gottsched, wird dies im Falle Hanns Görgens vor allem auch in den Anmerkungen deutlich, wo Gottsched als „grosser Geist“ gelobt und zu den „Poeten des goldenen Weltalters“ gezählt wird. Schlegel: Vom Natürlichen in Schäfergedichten (wie Anm. 30), S. 39, Anm. 38 Vgl. Netoliczka: Schäferdichtung (wie Anm. 32), S. 48 – 53. 39 Schlegel: Vom Natürlichen in Schäfergedichten (wie Anm. 30), S. 29. 40 Vgl. Johann Christoph Gottsched: Atalanta oder Die bezwungene Sprödigkeit. Ein Schäferspiel in fünf Aufzügen, in: ders. (Hg.): Die Deutsche Schaubühne, nach den Regeln und Mustern der Alten. Vierter Theil, darinn sechs neue deutsche Stücke enthalten sind. Nebst einer Fortsetzung des Verzeichnisses deutscher Schauspiele ans Licht gestellet. Leipzig 1743, S. 369 – 442, hier S. 442. 41 Vgl. Muncker: Einleitung (wie Anm. 1), S. XXII.

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vor dem Brief (vgl. NB I, S. 611 ff.) und ist als Parodie auf die im ersten Stück von Ebert angefertigte Matthew-Prior-Nachdichtung Der verzweifelnde Schäfer angelegt (vgl. NB I, S. 97 ff.). 42 Das Buch setzt also durch seine intertextuelle Anlage eine Verweiskette fort, die die Bremer Beyträge eröffnet habe. Zeigt sich daran bereits die Kontinuität zwischen der Zeitschrift der Gruppe und Schlegels Einzelprojekt, läuft die Schäfergedichtabhandlung aber auch explizit darauf hinaus, das Profil der Bremer Beiträger als idealen kritischen Freundesbund zu schärfen. Dies gilt besonders mit Blick auf die Vorrede zur vermeintlichen zweiten Auf lage, die laut Unterschrift vom ‚Verleger‘ des Bandes stammt. Dieser ‚Verleger‘ glaubt nämlich die erneute Herausgabe rechtfertigen zu müssen, weil die Erstausgabe so viele „Zänkereyen“ ausgelöst habe: „vornehmlich aber die Herren Verfasser der Neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes“ habe er damit „sehr wider sich aufgebracht“. 43 Nun kann es eine solche Reaktion der Bremer Beiträger schon deshalb nicht gegeben haben, weil die präsentierte ‚zweite‘ Auf lage de facto die einzige Ausgabe des Buches ist und somit gar keine vorherige Publikation der Abhandlung existiert, über die sich die Autorengruppe hätte ärgern können. Liest man Vom Natürlichen in Schäfergedichten allein als Gottschedparodie, ist diese Auf lagenfiktion unnötig. Sieht man den Text demgegenüber auch als Beitrag zur Profilbildung der Bremer Beiträger selbst an, wird ihre Funktion offensichtlich. Eine Reaktion wie die beschriebene steht im krassen Gegensatz zu dem von dem Bündnis postulierten Verzicht auf Polemik, weshalb ihr der ‚Verleger‘ der Schäfergedicht-Abhandlung denn auch vorwirft, gegen ihre Vorsätze verstoßen zu haben. 44 Dieser Einwand ist aber durch das Fehlen der ersten Auf lage haltlos und genau darauf kommt es Schlegel an: Schlegel inszeniert hier bewusst einen scheinbaren Verstoß gegen das Polemikverbot, um umso deutlicher zu betonen, dass die Bremer Beiträger diese Vorgabe einhalten. Sieht man sich zudem die Publikationsdaten der zitierten Texte aus den Neuen Beyträgen an, fällt eine zeitliche Koinzidenz auf. Die Ebertparodie wie der Phyllis-Brief sind beide – wie erwähnt – im sechsten Stück des ersten Bandes erschienen und damit deutlich später als der Text, der sie angestoßen hat. Da Der verweifelnde Schäfer bereits im ersten Stück steht, hätte man unmittelbar im zweiten Stück auf diesen Text reagieren können. Es scheint deshalb eher so zu sein, dass Die mitleidige Schäferin und das

42 Den Verfasser hat Muncker ermittelt (ebd., S. XIX). 43 Schlegel: Vom Natürlichen in Schäfergedichten (wie Anm. 29), S. 3. 44 Ebd., S. 3 f.

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Schreiben der Phyllis an den Verfasser der mitleidigen Schäferin (von Schlegel?) überhaupt erst mit Blick auf die Schäfergedichtabhandlung verfasst worden sind. Dies wird umso wahrscheinlicher, als der konzeptionelle Zusammenhang nicht zu übersehen ist. Alle drei Texte zeigen sich schließlich als (scheinbare) Selbstparodien der Bremer Beiträger: Die Schäfergedichtabhandlung kritisiert vorgeblich den Verstoß der Gruppe gegen eigene Normen, Die mitleidige Schäferin parodiert eine Übersetzung von Ebert und der Phyllis-Brief ist wiederum als kritische Reaktion auf diese Parodie angelegt. Man kann dahinter recht schnell das Bestreben der Gruppe erkennen, sich selbst als kritiktolerant zu inszenieren. Offensichtlich ist es aufgrund von Luise Adelgunde Victorie Gottscheds Der Witzling notwendig geworden, nicht nur die Offenheit des Bündnisses zu thematisieren, sondern in der eigenen Zeitschrift auch Texte abzudrucken, die diese wechselseitige Kritik der Freunde explizit vorführen. Wie an diesem Beispiel deutlich wird, führt die Selbstinszenierung der Bremer Beiträger also entgegen ihrem Programm nicht zu einem Verzicht auf Polemik, aber doch zu einem komplexeren Umgang mit dem Problem. Die Methode der Bremer Beiträger läuft nämlich darauf hinaus, dafür zu sorgen, dass ihr Name ständig mit der Ablehnung von Polemik in Verbindung gebracht wird – und zwar selbst noch in Arbeiten, die ihr performativ eigentlich widersprechen. Die Bremer Beiträger präsentieren sich somit gezielt als Autorenbund, der den bisher dominierenden Streitigkeiten insbesondere von Gottschedischer Seite überlegen ist und es sich leisten kann, einen anderen Weg zu gehen. Nicht Schlegels Gottschedparodie ist deshalb mit dem Autorenkreis verbunden geblieben, sondern eben ihre einträchtige Zusammenarbeit, die die selbsternannten ‚Brüder‘ mit immer neuen Gedichten und Prosatexten als ihr Spezifikum betonen. Damit haben die Bremer Beiträger gute Karten, denn ihr Toleranzpostulat wendet sich an den vernünftigen Leser und macht die Gruppe so notwendig auch zum moralischen Vorbild. Dennoch steckt gerade darin ein polemisches Element, das gut mit Arbeiten wie Schlegels Schäfergedichtabhandlung in Einklang gebracht werden kann und also die Identität der Gruppe um Karl Christian Gärtner etwas deutlicher hervortreten lässt. Auf den ersten Blick handelt es zwar ‚nur‘ um ein Autorenbündnis im Rahmen des für das 18. Jahrhundert so typischen Freundschaftskults. Das Besondere an der Demonstration der gegenseitigen freundschaftlichen Beziehungen der Bremer Beiträger ist indes ihre literaturpolitische Funktionalisierung: Die Bremer Beiträger betreiben in Programmschriften wie in Form der hier vorgestellten ‚leisen Polemik‘ gegen Gottscheds antischweizerische Publikationen eine öffentlichkeitswirksame Kommunikation ihrer Gruppenidentität. Dies hat einerseits zur Folge, dass sich

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hier leichter als bei anderen Autorengruppen tatsächlich von einem Bündnis im engeren Sinne sprechen lässt, weil der Bündnisschluss und seine Ziele klar und für jedermann nachlesbar formuliert sind. Die Vorrede zum ersten Band der Neuen Beyträge übernimmt die Rolle eines schriftlichen ‚Vertrags‘, in dem sich die Mitglieder der Gruppe zu einer neuen Art literarischen Streitens bekennen, das sie von anderen Akteuren abgrenzt. Andererseits lässt die spezifische Natur der kommunizierten Abgrenzung auch Schlüsse darauf zu, welcher gesamtgesellschaftliche Status dem Bündnis der Bremer Beiträger zugedacht ist. Die Argumente, mit denen die Bremer Beiträger ihr Anliegen vortragen, könnten aufklärerischer nicht sein. Die Forderung nach einer Rückkehr zur ‚Sachebene‘ etabliert das Verhalten der Gruppe als Muster, dem alle anderen nachstreben können und sollen. Dieser Anspruch ist umso prägnanter, als das öffentlich bekanntgemachte Selbstverständnis mit der ‚leisen Polemik‘ dann aber eine Praxis literaturpolitischer Arbeit wählt, die eigentlich im Widerspruch zu der angestrebten Vorbildfunktion der Bremer Beiträger steht. Der Zwiespalt, in dem sich die Literaturdebatten des 18. Jahrhunderts abspielen, könnte deutlicher kaum sein: Die Rückkehr zur sachlichen polemikfreien Diskussion in der Literaturkritik kann nur über einen Bündnisschluss erfolgen, der seinerseits polemisch angelegt ist und die Angriffe gegen die Gegner von der Oberfläche der Diskussion ins Verdeckte verschiebt. In diesem Kontext kommt der Freundschaftsrhetorik die doppelte Aufgabe zu, Anschlussfähigkeit nach außen zu signalisieren (ein Freundschaftsbund ist weder zahlenmäßig noch nach Statusgruppen begrenzt) wie dafür zu sorgen, dass die Gruppe gegenüber anderen literaturkritischen Positionen ihre Distinktionskraft behält. Freundschaft ist in diesem Sinne kein Wert an sich, sondern ein Mittel zum Zweck im Rahmen aufklärerischer Bündnispolitik.

Sylke Kaufmann

Vom Vor- und Nachteil familiärer Allianzen im Literaturbetrieb Lessing und sein Bruder Karl Gotthelf

Der Beitrag beschäftigt sich mit einem Sonderfall der im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Dichterbündnisse, nämlich mit Allianzen, die sich den verwandtschaftlichen Beziehungen der beteiligten Literaten verdankten. Gotthold Ephraim Lessing erweist sich in diesem Zusammenhang als interessantes Exempel, weil er die an ihn herangetragenen familiären Erwartungshaltungen nur bedingt erfüllte. Das unabhängige, unkonventionelle Urteil, das für ihn generell charakteristisch war, bestimmte auch sein Verhalten gegenüber seinem elf Jahre jüngeren Bruder Karl Gotthelf (1740 – 1812), 1 der sich ebenfalls im Literaturbetrieb zu etablieren gedachte und dabei auf die Hilfe seines bereits arrivierten Bruders hoffte. Karl Gotthelf war das Familienmitglied, das dem Aufklärer am engsten verbunden war. Als einziger der Brüder versuchte er, Gotthold Ephraim auf publizistischem und literarischem Gebiet nachzueifern. Letztlich dürfte die dadurch gegebene geistige Nähe auch der Grund für das besonders intensive Verhältnis zwischen den beiden Brüdern gewesen sein. So war Karl Gotthelf einer der wichtigsten Briefpartner Lessings und stand ihm auch als Vertrauter seiner schriftstellerischen Arbeit nahe. Lessing hatte in jungen Jahren selbst von der Hilfe eines Verwandten profitiert, als er sich anschickte, in Berlin Fuß zu fassen: Christlob Mylius führte ihn damals in die Journalisten- und Verlegerkreise ein und

1 Eine umfassende Untersuchung zu Karl Gotthelf, die die aktuelle Forschung zum 18. Jahrhundert einbezieht, ist noch immer ein Desiderat. So bleibt nach wie vor die Studie von Eugen Wolff: Karl Gotthelf Lessing. Jena 1886 die ausführlichste Darstellung. Erste Ansätze zu einer intensiveren Beschäftigung mit Karl Gotthelf lieferten die Materialvorlagen von Alexander Altmann: Briefe Karl Gotthelf Lessings an Moses Mendelssohn, in: Lessing Yearbook. Jg. 1. München 1969, S. 9 – 59 und Claude D. Conter: Karl Gotthelf Lessing: Schauspiele in drei Bänden. Hg. von Claude D. Conter. Hannover 2007 (3. Band nicht erschienen). Darüber hinaus wird Karl Gotthelf zwar in den meisten Lessing-Biographien erwähnt, jedoch in der Regel nur als Zeitzeuge für seinen berühmten Bruder. Eine knappe Würdigung erfährt er in der aktuellen Dauerausstellung des Lessing-Museums Kamenz (Vgl. Sylke Kaufmann: Lessings Leben und Werk. Katalog zur Dauerausstellung des Lessing-Museums Kamenz. Kamenz 2011, S. 40 f.).

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verschaffte ihm Arbeit, die schnell Lessings Ruf als ebenso gefürchteter wie berühmter Kritiker begründen sollte. In seinen ersten Berliner Jahren arbeitete Lessing eng und durchaus erfolgreich mit Mylius zusammen. Allerdings hatte sich Mylius in den Berliner Parteiungen zum Missfallen Friedrichs des Großen exponiert, so dass sich dieses familiäre Bündnis für Lessing trotz aller Vorteile auch als Nachteil erweisen sollte: Durch seine Bindung an Mylius wurde er zwangsläufig als dessen Parteigänger angesehen. Dies diskreditierte ihn beim König, was sich letztlich auf seine wirtschaftliche Lage auswirken sollte, als Friedrich seine Berufung auf den Posten des königlichen Bibliothekars ablehnte. Mylius plante schließlich eine naturwissenschaftliche Forschungsreise nach Nordamerika, erwies sich aber als unzuverlässig. Das wenig ehrenhafte Gebaren, 2 das er in seinen letzten Lebensmonaten vor seinem frühen Tod 3 1754 an den Tag legte, beeinflusste Lessings Urteil über ihn, als er sich anschickte, eine Werkauswahl des Freundes herauszubringen. So ambivalent wie der Nutzen des Bündnisses mit Mylius war schließlich auch Lessings Verhalten: Zwar edierte er nach dem unerwarteten Tod des Weggefährten umgehend dessen Vermischte Schriften 4 und kam damit einer Verpflichtung nach, die in Dankbarkeit, Verbundenheit und den Gepflogenheiten der Gelehrtenrepublik gründete, doch zeichnete er in der Vorrede ein wenig schmeichelhaftes Bild von Mylius, das die Intentionen des Bündnisses ad absurdum führte. Lessings bissige Polemik wird hier bis zum Sarkasmus gesteigert – die Gedenkschrift geriet ihm unversehens, aber völlig bewusst zu einer Generalabrechnung mit dem Weggefährten, den er inzwischen, so wichtig er ihm in den ersten Berliner Jahren auch gewesen war, in geistigem Horizont und Format weit hinter sich gelassen hatte. So befindet Lessing z. B. über die moralische Wochenschrift Der Wahrsager: Die fernere Fortsetzung ward ihm [Mylius; S.K.] höheres Orts verboten, und es wäre seiner Ehre zuträglicher gewesen, wenn man ihm gleich den Anfang untersagt hätte. [. . . ] Die Schreibart ist nachlässig, die Moral gemein, die Scherze sind pöbelhaft und die Satyre ist beleidigend. [. . . ] Man schrie daher überall wider ihn, bis ihm das Handwerk gelegt ward. 5

2 Vgl. dazu und zu Lessings Reaktion darauf Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 214 – 223; jüngst Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing – Epoche und Werk. Göttingen 2018, S. 110 – 118. 3 Er starb im Alter von nur 31 Jahren. 4 Vermischte Schriften des Hrn. Christlob Mylius, gesammelt von Gotthold Ephraim Leßing. Berlin 1754. 5 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985 – 2003, im Folgenden BDK, hier BDK 3, S. 340.

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Kaum ein Aspekt von Mylius’ Werk entgeht Lessings so schillernder wie treffender Stichelei, und so versteht er es hervorragend, diesen so weit herabzusetzen, dass sich die Leser wohl verwundert gefragt haben werden, was denn nun das Ziel dieser Edition eigentlich sei. Die Demontage von Mylius’ Reputation, sollte zum Zeitpunkt seines Todes davon noch etwas übrig gewesen sein, dürfte Lessing jedenfalls zuverlässig erreicht haben. Über die Gründe dafür kann man treff lich spekulieren. Lessing schätzte die Dienste, die ihm sein Freund am Beginn seiner eigenen Karriere geleistet hatte, durchaus, hatte sich aber in der Zwischenzeit immer weiter von diesem entfernt, so dass er nun auch die Schattenseiten von Mylius’ Charakter und die Grenzen von dessen Talent wahrnahm. 6 Lessing spürte wohl zusehends, dass die enge Verbindung zu Mylius für ihn in der Berliner Gesellschaft längst nicht mehr förderlich war. So wurde seine Vorrede auch eine unwiderruf liche Verabschiedung von einem von dem Verwandten geprägten Lebensabschnitt. Möglicherweise sah er in den Gefährdungen, denen Mylius erlegen war, auch generelle Fallstricke der journalistischen und schöngeistigen Existenz, die ihn ebenfalls bedrohen konnten. Dies erklärt bis zu einem gewissen Grad auch die Heftigkeit von Lessings Aussagen. Und dies erklärt auch die Entschuldigungsversuche, in denen er die Umstände von Mylius’ Existenz für dessen Verfehlungen und mittelmäßige Leistungen verantwortlich machte – von Lessing durchaus ernst gemeint, dürften sie wohl in der Wirkung auf den Leser eher halbherzig gewesen sein, und auch dies war wohl bewusst so kalkuliert. 7 Lessing bekannte sich zwar nach wie vor dazu, mit Mylius befreundet gewesen zu sein, entsprach aber so gar nicht der Erwartung, die man gegenüber einer aus dem Nachlass herausgegebenen Werksammlung im Hinblick auf pietätvolle Bewahrung des Andenkens an den Verstorbenen und seine Leistungen hegte. Er war offensichtlich nicht bereit, seine Erkenntnisse und Urteile wie auch immer gearteten Konventionen zu unterwerfen. Seine Freunde dürften sich spätestens nach dem Erscheinen von Mylius’ Vermischten Schriften darüber im Klaren gewesen sein, dass dies auch auf sein Verhalten dem intimen Kreis der engsten Freunde und Verwandten gegenüber zutraf. Tatsächlich empfanden schon die Zeitgenossen das Ungewöhnliche der Vermischten Schriften. So heißt es in einer Rezension in den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen: „Die Vorrede ist beynahe das merkwürdigste [am gesamten Buch; S.K.]. [. . . ] Das Urtheil ist strenge und gar 6 Vgl. z. B. Lessings Darstellung von Mylius’ oberflächlich-flottem, wenig überlegtem Schaffensprozess; ebd., S. 343. 7 Diese zweite Bedeutungsebene der „Vorrede“, in der Mylius als Exempel für die Lebensumstände, Zwänge und Abhängigkeiten der Intellektuellen fungiert, kann hier nur erwähnt werden, da sie über den in diesem Beitrag vorrangig interessierenden familiären Bezug weit hinausführt.

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nicht wie man es von der gewöhnlichen Partheylichkeit eines Freundes und Herausgebers erwarten könnte.“ 8 Auch die literarischen Ambitionen seines Bruders Karl Gotthelf, der mit etlichen unterhaltenden Dramen 9 hervortrat, unterstützte Lessing nur halbherzig. Nachdem er 1765 den preußischen Militärdienst quittiert und von Breslau wieder nach Berlin übergesiedelt war, holte er Mitte des Jahres Karl Gotthelf aus Kamenz zu sich. 10 Der Bruder steckte nach seinem Studienabschluss in einer beruf lichen Sackgasse. Lessing machte Karl Gotthelf umgehend mit seinen Berliner Freunden bekannt – seine Kontakte und sein Bekanntheitsgrad erleichterten dem Jüngeren den Start in der preußischen Hauptstadt. Wie sehr Lessing alsbald zur Leitfigur für den Bruder werden sollte, belegt die Tatsache, dass Karl Gotthelf auch seinerseits intensiv die Nähe zu dessen engsten Freunden wie Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai suchte. Die verwandtschaftliche Bindung verpflichtete Lessing dazu, sich um seinen Bruder zu kümmern, so dass hier anfänglich durchaus Ansätze von Patronage auszumachen sind. Lessings Reputation, seine Kontakte und die daraus erwachsenden Möglichkeiten lassen das Verhältnis der Brüder zunächst tatsächlich als eine Beziehung zwischen Ungleichen erscheinen. Während Lessing selbst bald nach Hamburg weiterzog, lebte der Bruder schließlich bis 1779 in Berlin. Er war hier – wie sein Bruder in jungen Jahren – als Schriftsteller und Übersetzer tätig und versuchte sich als Dramatiker. Für Lessing erwies es sich als ausgesprochen günstig, dass der im Literaturbetrieb versierte Bruder anderthalb Jahrzehnte in derselben Stadt lebte wie sein bevorzugter Verleger Christian Friedrich Voß. So unterstützte Karl Gotthelf ihn zunehmend bei redaktionellen Arbeiten und der Überwachung des Drucks seiner Werke. Zwangsläufig arbeitete Karl Gotthelf nun auch eng mit Voß zusammen, so dass es nicht verwundert, dass einige seiner Werke ebenfalls in dessen Verlag herauskamen. Der durchweg in herzlichem Ton gehaltene Briefwechsel zwischen den Brüdern belegt auch darüber hinaus, dass Lessing sich häufig mit Bitten um Nachrichten, Vermittlung und zeitaufwendige Besorgungen an den Bruder wandte. Während er Karl Gotthelf beständig aufforderte, umgehend zu schreiben und Neuigkeiten mitzuteilen, war er seinerseits in der

8 Zitiert nach BDK 3 (wie Anm. 5), S. 1122. 9 Bekannt sind sieben Komödien Karl Gotthelfs und ein Possenspiel: Der stumme Plauderer (1768), Der Lotteriespieler, oder die fünf glücklichen Nummern (1769), Der Wildfang (1769), Ohne Harleckin. Ein Possenspiel in einem Aufzug (1769), Die reiche Frau (1776), Der Bankrottier (1777), Die Physiognomistinn ohne es zu wissen (1778) und Die Mätresse (1780); vgl. Lessing: Schauspiele (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 16. 10 Brief Lessings an den Vater Johann Gottfried Lessing, 04. 07. 1765; BDK 11/1 (wie Anm. 5), S. 431 f.

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Kontaktpflege sehr nachlässig. Allerdings setzte er den Bruder über seine eigenen Unternehmungen in Kenntnis, so dass dieser deutlich besser informiert war als der Rest der Familie, was für die Außenstehenden das enge Verhältnis der beiden Brüder auf für Karl Gotthelf schmeichelhafte Weise deutlich machte. So konnte er sich als Vertrauter des Bruders empfinden und hatte gewissermaßen Anteil an dessen Werk. Karl Gotthelf kam damit gleichsam auch eine Vermittlerposition zwischen der Familie und Lessing zu, dennoch belastete ihn dessen „Tintenscheu“. 11 Immer wieder versuchte Karl Gotthelf in seinen Briefen, sich mit dem Bruder über Theateraufführungen, literarische und wissenschaftliche Fragen auszutauschen. Insbesondere über seine jüngsten Lektüreerlebnisse und aufsehenerregende Neuerscheinungen berichtete er dem Bruder. Diverse Literatur betrachtete er bewusst unter dem Blickwinkel der Erwähnung und Beurteilung von Lessings Werk, um den Bruder darüber unterrichten zu können. Dazu kamen Berichte über die Aufnahme Lessing’scher Werke in Berlin und ausführliche Kritiken von Aufführungen von dessen Stücken, wobei Karl Gotthelf häufig auch seine Interpretation des Sinngehalts der Dramen und der Charaktere mit einbrachte. 12 Nur sehr selten griff Lessing in seinen Antworten den angebotenen Diskussionsstoff auf. Auffällig ist dann aber eine häufig harmonierende Meinung der Brüder, was für eine große geistige Nähe und Übereinstimmung in literarischen, theaterwissenschaftlichen und ästhetischen Fragen spricht. Insgesamt nahm Karl Gotthelf regen Anteil am Schaffen seines Bruders und war begierig, neue Werke von ihm umgehend kennenlernen zu können. In der Regel folgten der Lektüre eingehende Betrachtungen, begeisterte Urteile und Dankesworte. 13 Lessings Haltung zum literarischen Schaffen des Bruders war dagegen sehr viel ambivalenter, für den Bruder geradezu frustrierend. Mitunter forderte Lessing Karl Gotthelf zur Mitteilung seiner Dramenentwürfe und abgeschlossenen Werke auf. 14 Selbst dann aber konnte es passieren, dass Lessings Interesse am Theater unterdessen wieder erlahmte und Karl Gotthelf nach langem Stillschweigen die deprimierende Mitteilung hinnehmen musste, dass der verehrte Bruder seine literarischen Proben noch nicht einmal gelesen hatte. 15 Lessing erwies sich hier als unzuverlässig und we-

11 Vgl. Karl Gotthelfs Brief an Lessing vom 24. Juli 1772; BDK 11/2 (wie Anm. 5), S. 445. 12 Vgl. z. B. den Brief an Lessing vom 22. 03. 1768 mit einer ausführlichen Darstellung der Berliner „Minna“-Aufführung; BDK 11/1 (wie Anm. 5), S. 509 – 512. 13 Vgl. z. B. Karl Gotthelfs Stellungnahme zu Lessings Wie die Alten den Tod gebildet in seinem Brief vom 11. 11. 1769; ebd., S. 646 – 648. 14 Z. B. im Brief Lessings vom 09. 06. 1768; ebd., S. 521 f. 15 Vgl. z. B. den Brief Lessings vom 28. 10. 1768; ebd., S. 559, und sein Schreiben vom 02. 02. 1774, in dem es u. a. heißt: „Ich habe Deine Stücke eigentlich noch nicht

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nig einfühlsam dem geliebten Bruder gegenüber, dem er seinerseits ganz selbstverständlich umfangreiche Besorgungen und redaktionelle Arbeiten abforderte. Immerhin fühlte sich Lessing für den jüngeren Bruder verantwortlich. Selbst meist notorisch in Geldnöten, schickte er sich immer wieder an, den Bruder, wenn es ihm irgend möglich war, auch materiell zu unterstützen. 16 Aber letztlich musste sich Karl Gotthelf in Berlin dennoch allein durchhelfen. Da im Zusammenhang mit seiner anfänglichen Perspektivlosigkeit von einer Komödie die Rede war, die er in Arbeit hatte, dürfte die Hinwendung zur Schriftstellerei zumindest teilweise auch aus finanziellen Erwägungen erfolgt sein. 17 Dafür sprechen auch weitere brief liche Andeutungen 18 und die Tatsache, dass Karl Gotthelf einige Werke aus dem Französischen und Englischen übersetzte, was ein gewisses Einkommen versprach. Aus den Briefen ist auch ersichtlich, dass für beide Brüder das eine Zeit lang gepflegte Zusammenleben inspirierend war. Nach Lessings Weggang aus Berlin dachten sie mehrfach, aber letztlich vergeblich über eine erneute gemeinsame Wohnung nach. Insgesamt verschob sich, je mehr sich Karl Gotthelf in Berlin etablierte, das Verhältnis der beiden Brüder zu einem tatsächlichen Dichterbündnis. Beide profitierten nun zunehmend gleichermaßen voneinander. Und schließlich gelang Karl Gotthelf, der seine Urteile dem Bruder gegenüber selbstbewusst und ohne jegliche Scheu mitteilte, spätestens mit ihrem Briefwechsel zur Emilia Galotti ein Dialog auf Augenhöhe, bei dem Gotthold Ephraim sich endlich auch einmal zu ausführlichen Erklärungen bereitfand. 19 Zumindest im Diskurs emanzipierte sich Karl Gotthelf zusehends, ohne von der grundsätzlichen treuen Parteinahme für seinen Bruder abzurücken, die ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit bestimmte. Die familiäre Beziehung zwischen großem und kleinem Bruder öffnete sich nun zu einer ebenbürtigen Bündnispartnerschaft. Erleichtert wurde dies durch die große Offenheit zwischen beiden Brüdern und ihre innige

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gelesen. [. . . ] Als ich Dich um Deine Stücke bat, hatte ich wieder einen kleinen Theateranfall. Aber eben so gut, daß diese Anfälle bei mir nicht lange dauern, und gewöhnlich der äußerste Ekel gegen alles, was Theater und theatralisch ist und heißt, auf lange Zeit darauf folgt“; BDK 11/2 (wie Anm. 5), S. 616. Vgl. z. B. seinen Brief an Karl Gotthelf vom 21. 09. 1767; BDK 11/1 (wie Anm. 5), S. 476. Vgl. Karl Gotthelfs Brief an Lessing vom 20. 08. 1767; ebd., S. 473 f. Vgl. beispielsweise den Brief an Lessing vom 14. 06. 1768; ebd., S. 525. Vgl. die Briefe Karl Gotthelfs vom 03.02., 15.02., 29.02. und 12. 03. 1772 (BDK 11/2 (wie Anm. 5), S. 343 – 345, 354 f., 359 f. u. 371 – 374) sowie die Lessings vom 10.02. und 01. 03. 1772 (ebd., S. 351 – 353 und 361 – 363).

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Vertrautheit – sie kannten sich sehr genau und wussten Meinungen und Verhalten des anderen zutreffend abzuschätzen. 20 Karl Gotthelf war vor allem an einer konstruktiven Kritik des Bruders an seinen Dramen interessiert. Lessing galt bereits als erfolgreicher Bühnenautor – von seinen Kenntnissen musste Karl Gotthelf doch angesichts der engen verwandtschaftlichen Bindungen profitieren können! Immer wieder forderte er den Bruder zu einer ehrlichen Beurteilung ohne Rücksichtnahme auf. 21 Mitunter gab Lessing tatsächlich Hinweise, Ratschläge und Kritiken. Bemerkenswert ist dabei die Ehrlichkeit, mit der er seine Meinung über die Werke und Projekte Karl Gotthelfs äußerte. 22 Immer wieder versuchte er, den Bruder für mehr sprachliche Sorgfalt und Reifezeit zu sensibilisieren. 23 Am 1. Juli 1769 schrieb Karl Gotthelf an Lessing: Deine Dramaturgie habe ich gelesen, und daß ich daraus lerne, wirst Du doch nicht bezweifeln? [. . . ] Und nun zu meinen Torheiten! Ich habe Deinen Rat, nicht zu zeitig mit meinen Siebensachen herauszurücken, nicht vergessen, und bin ganz von der Wahrheit desselben überzeugt. At! at! paupertas me impulit, non scribere, sed edere. – Proh dolor! Döbbelin hat mir noch dazu die Ehre angetan, und den Lotteriespieler aufgeführt. Ob ich mich, oder die Schauspieler sich damit mehr prostituiert, das mag ich nicht wissen. [. . . ] Und doch wenn Du Zeit hast, meine Komödien zu lesen, bitte ich um Deine Meinung. Meine Selbsterkenntnis wird wachsen, und meine Eigenliebe leiden, was sie verdient. 24

Wie sich alsbald herausstellte, war seine Vermutung berechtigt. Lessing antwortete ihm bereits am 6. Juli 1769 vergleichsweise ausführlich, was zeigte, dass ihm die Angelegenheiten des Bruders doch wichtig waren: Ich danke Dir für die überschickten gedruckten Sachen. Deine Komödien kommen zwar ein wenig zu spät: denn Du kannst Dir leicht einbilden, daß sich meine Neugierde nicht so lange gedulden konnte. Ich habe sie gelesen, sobald sie hier zu haben waren. Und nun willst Du mein Urteil darüber wissen? Wohl; aber merke Dir voraus, daß es das Urteil eines aufrichtigen Bruders ist, der Dich wie sich selbst liebt. Es muß Dich nicht beleidigen, wenn es 20 Vgl. z. B. Karl Gotthelfs Brief an Lessing vom 01. 11. 1774 mit der schönen Feststellung: „Deine Unzufriedenheit mit der Welt bringt Dich zum Schreiben, und wird wenigstens die Welt mit Dir zufrieden machen“ (ebd., S. 668). 21 Vgl. z. B. seine Briefe an Lessing vom 14. 06. 1768 und vom 10. 08. 1773; BDK 11/1 (wie Anm. 5), S. 525, und BDK 11/2 (wie Anm. 5), S. 571 f. 22 Vgl. z. B. Lessings Brief an den Bruder vom 28. 04. 1776, in dem er Karl Gotthelf gut begründet rät, ein italienischen Dramen gewidmetes Editionsprojekt aufzugeben; BDK 11/2 (wie Anm. 5), S. 767 f. 23 Vgl. z. B. die Briefe Lessings vom 28. 10. 1768 und vom 14. 07. 1773; BDK 11/1 (wie Anm. 5), S. 559, und BDK 11/2 (wie Anm. 5), S. 566. 24 BDK 11/1 (wie Anm. 5), S. 614 f. Der lateinische Passus lautet in der Übersetzung der BDK: „Aber! Die Armut zwingt mich, nicht zu schreiben, sondern zu veröffentlichen. – Ach, Schmerz!“ (ebd., S. 946).

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Dich auch Anfangs ein wenig verdrießen sollte. Dein stummer Plauderer und Dein Lotterielos haben meinen Beifall gar nicht; und es ist nur gut, daß Du diese sehr mittelmäßigen Versuche ohne Deinen Namen herausgegeben hast. [. . . ] Der größte Fehler dieser Stücke ist eine platte Schwatzhaftigkeit, und der Mangel alles Interesse. Der Wildfang ist ungleich besser, und könnte schon unter den guten Stücken mit unterlaufen. Aber Du weißt, wie wenig davon Dein ist; und Du hast nicht wohl getan, daß Du Deine Quelle verschwiegen. Ich bitte Dich nochmals, meine Freimütigkeit nicht übel zu nehmen. Wenn Du die trockne Wahrheit von mir nicht hörst, wer wird Dir sie denn sagen? Ich habe Dir es schon oft mündlich gesagt, woran ich glaube, daß es Dir fehlt. Du hast zu wenig Philosophie, und arbeitest viel zu leichtsinnig. Um die Zuschauer so lachen zu machen, daß sie nicht zugleich über uns lachen, muß man auf seiner Studierstube lange sehr ernsthaft gewesen sein. Man muß nie schreiben, was einem zuerst in den Kopf kommt. Deine Sprache selbst zeugt von Deiner Ruschelei. Auf allen Seiten sind grammatische Fehler, und correkt, eigen und neu ist fast keine einzige Rede. Ich nehme wiederum den Wildfang zum größten Teile aus. – Freilich muß ich Dir zum Trost sagen, daß Deine ersten Stücke immer so gut sind, als meine ersten Stücke; und wenn Du Dir nur immer zu jedem neuen Stücke, wie ich es getan habe, vier bis sechs Jahre Zeit lässest: so kannst Du leicht etwas Besseres machen, als ich je gemacht habe, oder machen werde. Aber wenn Du fortfährst, Stücke über Stücke zu schreiben; wenn Du Dich nicht dazwischen in andren Aufsätzen übst, um in Deinen Gedanken aufzuräumen und Deinem Ausdrucke Klarheit und Nettigkeit zu verschaffen: so spreche ich Dir es schlechterdings ab, es in diesem Fache zu etwas Besonderem zu bringen; und Dein hundertstes Stück wird kein Haar besser sein, als Dein erstes. Nun genug gehofmeistert! 25

Zweifellos dürfte die hellsichtige Einschätzung der Qualität des brüderlichen kreativen Leistungsvermögens ein Grund für Lessings abweisende Haltung gewesen sein. Darüber hinaus wollte er dem Jüngeren ganz offenkundig auch die prekären materiellen Umstände einer Literatenexistenz ersparen, die er selbst nur allzu gut kannte. So enthält der Brief vom 26. April 1768 die unverhohlene Warnung vor dem Versuch, von der schriftstellerischen Tätigkeit leben zu wollen: Ich sehne mich darum doch nicht wieder nach Berlin, und wünschte sehr, daß auch Du mit guter Manier wieder heraus wärest. Ich hätte Dich gern wieder bei mir; aber ich bin jetzt weder so logiert, noch sonst in den Umständen, daß es wohl möglich ist. Gott sei Dank, bald kommt die Zeit wieder, daß ich keinen Pfennig in der Welt mein nennen kann, als den, den ich erst verdienen soll. Ich bin unglücklich, wenn es mit Schreiben geschehen muß! – Nimm meinen

25 Ebd., S. 615 f. Karl Gotthelf hatte sich für seinen Wildfang von dem Stück The constant Couple (1700) des englischen Dramatikers George Farquhar inspirieren lassen; ebd., S. 946. Die deutliche Kritik seines Bruders nahm er dankbar auf; vgl. seinen Brief an Lessing vom 10. 08. 1769; ebd., S. 619 f.

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brüderlichen Rat, und gieb den Vorsatz ja auf, vom Schreiben zu leben. [. . . ] Sieh, daß Du ein Sekretair wirst, oder in ein Collegium kommen kannst. Es ist der einzige Weg, über lang oder kurz nicht zu darben. Für mich ist es zu spät, einen andern einzuschlagen. Ich rate Dir damit nicht, zugleich alles gänzlich aufzugeben, wozu Dich Lust und Genie treiben. 26

So zutreffend die Bewertung des literarischen Könnens von Karl Gotthelf wie auch der finanziellen Möglichkeiten der Schriftstellerexistenz war, dürfte Lessing damit seinen Bruder doch weit mehr enttäuscht als willkommen beraten haben. Zweifellos war Lessing das große Vorbild für Karl Gotthelf. Er bewunderte den Bruder und versuchte, ihm nachzueifern – umso schmerzhafter mussten für ihn dessen unablässige Versuche sein, ihn von einer vergleichbaren Laufbahn abzubringen. Vor diesem Hintergrund erscheint interessant, dass sich Karl Gotthelf in seinem Lustspiel Der Lotteriespieler, oder die fünf glücklichen Nummern (1769) einer fragwürdigen Leidenschaft widmete, der sein berühmter Bruder sehr zugeneigt war. Auch wenn die uns überlieferten Hinweise auf Lessings Anteilnahme an der Zahlenlotterie erst mit dem Beginn des Briefwechsels mit Eva König 27 einsetzen, so kann man angesichts seiner lebenslangen Leidenschaft für das Glücksspiel davon ausgehen, dass er auch in der Zeit, die er gemeinsam mit seinem Bruder in Berlin verlebte, nicht frei davon war. Im Gegensatz zu ihm teilte Karl Gotthelf diese Begeisterung nicht, wie seiner Darstellung der Spielleidenschaft des Bruders in seiner Lessing-Biographie zu entnehmen ist. 28 Man ist versucht, in seinem Lustspiel auch einen indirekten Kommentar zu diesem Zeitvertreib des Bruders und damit eine verdeckte Kritik daran zu sehen. Von dieser familiären Komponente, die Karl Gotthelf gereizt haben mag, das Thema Glücksspiel dramatisch aufzugreifen, abgesehen, ist sein Stück freilich kein bemerkenswerter Beitrag zum zeitgenössischen Theater. 29 Der dramatische Konflikt erscheint konstruiert, er dreht sich weit

26 Ebd., S. 514 f. Karl Gotthelf machte in dieser Zeit selbst die Erfahrung, dass der Bruder, was den Erlös aus der schriftstellerischen Arbeit betraf, nicht übertrieb. 27 Vgl. z. B. den Brief Lessings an Eva König vom 08. 10. 1770; BDK 11/2 (wie Anm. 5), S. 46. 28 Karl Gotthelf Lessing: Gotthold Ephraim Lessings Leben. Teil I (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1793). Hildesheim / Zürich / New York 1998, S. 221 – 223 u. 225. 29 Das Drama spielt am Tag einer Ziehung der Zahlenlotterie in Berlin im Anwesen des Philidor, der sein Mündel Juliane gern mit seinem Sohn Hilar verheiraten möchte. Hilar wird allerdings als Prototyp des missratenen, nichtsnutzigen Sohnes dargestellt, der alle Welt durch seine Beleidigungen und Provokationen aus der Fassung bringt. Juliane lehnt ihn daher schroff ab. Eigentlich ist sie Leander, dem Freund des Hauses zugetan, der aber der Spielleidenschaft verfallen ist, wovon ihn sowohl Philidor als auch Juliane kurieren wollen. Hilar wiederum möchte Juliane und Leander zusammenbringen, weil er seinerseits die junge Dame auf gar keinen Fall ehelichen möchte.

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mehr um Worte, als dass er die Figuren in eine sie wirklich herausfordernde Konstellation bringen würde. Weder die Handlung noch die Redeweise der Figuren vermögen zu überzeugen: unmotivierte Wendungen, wenig Ereignis, überzogene Lotteriebegeisterung, eine teils steife Sprache, die mitunter in eine der sozialen Stellung der Akteure nicht angemessene Stilebene absinkt, und unglaubwürdige Selbstbezichtigungen Hilars, der den Typus des moralisch verkommenen Störenfrieds bedienen soll, ohne dessen nun plötzlich doch ernsthaften Einsatz aber die Komödie nicht zu einem glücklichen Schluss gelangen kann. Die Untiefen der Spielsucht, die andere Literaten zu psychologisch subtilen, hochdramatischen Darstellungen zu nutzen wussten, bleiben seltsam ausgeblendet, geradezu verniedlicht. Am Ende löst sich alles in allgemeinem Wohlgefallen auf, ohne dass der Zuschauer resp. Leser wirklich viel Gelegenheit zum Lachen gehabt hätte und ohne dass eine klare Aussage zur Spielleidenschaft getroffen wird. Ja, die anfangs erklärte Gegnerin der Lotterie versichert ihrem Zukünftigen noch, er hätte doch jederzeit auf ihr Vermögen zugreifen können! 30 Die Lotteriebillette gehen nun gar als „Kleinigkeit“ 31 durch, auf die Karl Gotthelf freilich sein ganzes Lustspiel gründete. Vom Einvernehmen der Schlussszene bleibt Philidor ausgeschlossen, dessen Maximen sich mit dem unmotivierten Schluss nicht mehr in Einklang hätten bringen lassen. Seine Feststellung „Eine Person, mit der Sie Glück und Unglück theilen will, muß kein Lotteriespieler seyn“ 32 passt so gar nicht zu den Vorzeichen, unter denen sich dann das dramatische Finale vollzieht. Man mag spekulieren, ob Lessing dieser Satz noch gegenwärtig war, als er seine Lotterieleidenschaft mit Eva König teilte. So vage das Ende des Lustspiels in der Kernaussage bleibt, so deutliche Worte findet Karl Gotthelf im Verlaufe des Stücks dafür, was die Spielsucht aus einem Menschen macht. Wenig schmeichelhaft für alle am Glücksspiel Interessierten ist die Meinung, die er Philidor in den Mund legt. Der Vormund hält Juliane vor: Wenn Sie nicht verliebt wäre, so würde Sie selbst sehn, daß er gar der vorige Leander nicht mehr ist. Er ist ein Narr, und zwar ein Narr, der es sich recht Die unterschiedlichen Absichten der Figuren werden nun gemischt mit diversen Lotteriebilletten, bei denen man schnell den Überblick verliert, wem sie nun gehören und welche Bedingungen an sie gebunden sind. Philidor bringt es schließlich so weit, dass Leander, von seinem Lotteriegewinn in der nächsten Ziehung felsenfest überzeugt, mit ihm wettet: Für den Fall, dass er in der Lotterie leer ausgehen sollte, wird er Juliane an Hilar abtreten. Ein Lotteriegewinn, wenn auch pikanterweise nicht Leanders, ermöglicht schließlich, dass mit Hilars Hilfe, aber gegen Philidors Wunsch Juliane und Leander zueinander finden. 30 3. Aufzug, 8. Auftritt; Lessing: Schauspiele (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 364. 31 3. Aufzug, 8. Auftritt; ebd., S. 364. 32 2. Aufzug, 1. Auftritt; ebd., S. 323.

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viel kosten läßt, ein Narr zu seyn [. . . ] Er weiß auch alles von der Lotterie, die geringste und nichts bedeutende Kleinigkeit; nur das Einzige nicht, daß er darüber zum Narren wird. 33

Angesichts des insgesamt wenig überzeugenden Lustspiels fällt es schwer zu entscheiden, inwieweit Karl Gotthelf den Dramen seines Bruders Anregungen für die eigenen Werke entnehmen konnte. Zumindest ein Bezug scheint aber vorzuliegen: Die Personenkonstellationen im Lotteriespieler und einzelne Grundzüge verschiedener Figuren zeigen gewisse Parallelen zu Lessings Jungem Gelehrten (Erstdruck 1754). Da Karl Gotthelf sicherlich alle vollendeten Dramen seines Bruders kannte, dürfte dies kein Zufall sein. Eine kritische Lektüre seines Lustspiels zeigt, dass Lessings wenig ermunternde Urteile über die dramatischen Versuche des Bruders auf einer zutreffenden Einschätzung von dessen Talent beruhten. Lessing ließ sich bemerkenswerterweise bei der Bewertung der Qualität von Karl Gotthelfs Stücken nicht von der tiefen Zuneigung zu seinem Bruder beeinflussen. Er war hier so unbestechlich wie bei anderen Urteilen als Kritiker. Natürlich erkannte er, dass die handwerklich soliden Stücke des Bruders dramatisches Genie vermissen ließen und nicht das Format hatten, aus der Masse der Unterhaltungsdramen herauszuragen. Die Öffentlichkeit freilich nahm Karl Gotthelf als „Lessing den Jüngeren“ wahr, was an sich schon ein nicht unerheblicher Werbeeffekt war. Das Dichterbündnis mit Lessing verhalf dem jüngeren Bruder zu einer erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit und damit auch fast zwangsläufig zu einer Verbesserung seines Status. Die intern geäußerte, teils harsche Kritik an Karl Gotthelf ließ Lessing nicht nach außen dringen, verhielt sich hier also bewusst anders als im Fall Mylius. Andererseits erfüllte auch Karl Gotthelf die an ihn gestellten Erwartungen, in dem er bei den gelehrten und literarischen Kontroversen, die Lessing ausfocht, unbeirrt die Partei des Bruders vertrat, so in dessen Streit um altertumskundliche Fragen mit dem Hallenser Professor Christian Adolph Klotz und seinen Anhängern. 34 Durch seine rege Anteilnahme wurde er zwangsläufig in die erbittert geführte Debatte hineingezogen. 1769 sah sich Lessing daher im 55. der Briefe, antiquarischen Inhalts gezwungen, öffentlich nicht nur sich, sondern auch seinen Bruder gegen unzutreffende Behauptungen von Klotz zu verteidigen. 35 33 1. Aufzug, 4. Auftritt; ebd., S. 300. 34 Vgl. z. B. den Brief Karl Gotthelfs an Lessing vom 19. 10. 1772 und Lessings Antwort darauf vom 28. 10. 1772; BDK 11/2 (wie Anm. 5), S. 457 f. u. 467 f. 35 Vgl. BDK 5/2 (wie Anm. 5), S. 569 f.; zu Lessings Kontroverse mit Klotz und seinen Anhängern jüngst Sylke Kaufmann / Max Kunze (Hg.): „Niemand kann den Mann höher schätzen als ich . . . “ Winckelmann und Lessing. Kamenz / Stendal 2018, vor allem Sylke Kaufmann: Lessings Polemik mit Christian Adolph Klotz: Die „Briefe, antiquarischen Inhalts“ (1768/69), ebd., S. 115 – 133, zu Karl Gotthelf hier S. 127.

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Und auch im brisanten Fragmentenstreit stand Karl Gotthelf wiederum fest an der Seite seines Bruders. 36 Die brüderliche Allianz erwies einmal mehr ihre Belastbarkeit – die Brüder konnten sich auch in heiklen, die Öffentlichkeit polarisierenden Debatten darauf verlassen, dass der jeweils andere zugunsten des Verwandten Partei ergreifen würde. Zwar war das aus familiärer Grundierung erwachsene Dichterbündnis nicht primär als Zusammenschluss gegen literarische oder wissenschaftliche Gegner entstanden, erfüllte aber im Bedarfsfalle auch diesen Zweck zuverlässig. In der Außenwirkung zeigte die brüderliche Allianz auch damit den typischen Charakter eines Dichterbündnisses. Letztlich erwies sich das Bündnis für beide Brüder als so anregend wie erfolgreich. Einen entscheidenden Zweck vermochte es für Karl Gotthelf freilich dennoch nicht zu erfüllen: Allmählich wurde ihm bewusst, dass er die Qualität der Dramen seines Bruders nicht erreichen würde. Auch aus dieser Einschätzung heraus versuchte er immer wieder, den Bruder zu ermuntern, weitere Stücke zu schreiben. Offensichtlich sah er – und dies ja nicht zu Unrecht – gerade in diesen Produktionen des Bruders die wirkmächtigsten seiner Werke. 37 Angesichts des qualitativen Gefälles zwischen seinen und den literarischen Arbeiten des Bruders und der generellen Schwierigkeit, mit dem Schreiben seinen Unterhalt zu verdienen, schrieb Karl Gotthelf am 15. Januar 1770 resigniert an Lessing: „Ich sehe wohl, ich habe mir gewisse Kräfte zugetrauet, die ich nicht habe, und bin auf Dinge ausgegangen, die man mit aller seiner Mühe nie erreicht, und wodurch man sich einen schlimmern Stand macht, als man ohne solche Einbildung schwerlich gehabt hätte.“ 38 Unabhängig von der Bewertung der Qualität seiner Stücke ist Karl Gotthelfs Dramenproduktion aber im Hinblick auf die zeitgenössischen Umbrüche im System der dramatischen Gattungen von Interesse. Karl Gotthelf gab mit lediglich einer Ausnahme allen seinen Dramen den Untertitel „Lustspiel“. Eine Betrachtung, inwieweit dies tatsächlich ein dezidiertes Bekenntnis seinerseits war oder nur noch der konventionellen Unterscheidung der Dramengattungen Rechnung trug, kann nicht Gegenstand dieses Beitrags sein. Daniel Fulda wies, bezogen auf Karl Gotthelfs Bankrot, 39 darauf hin, dass das Stück dem „rührenden Familienschauspiel“ bereits

36 Vgl. dazu hauptsächlich die Briefe Karl Gotthelfs vom 24.01., 07.02., 14.03., 28.03., 07.06, 07.07. und 01.08. 1778 (BDK 12 [wie Anm. 5], S. 123, 125 f., 129 – 131, 140 f., 148 – 150, 164 – 166 und 176 f.) sowie die Schreiben Lessings vom 25.03., 16.03. und 23. 07. 1778 (ebd., S. 128 f., 131 und 169 f.). 37 Vgl. z. B. Karl Gotthelfs Brief an Lessing vom 22. 03. 1768; BDK 11/1 (wie Anm. 5), S. 512. 38 Ebd., S. 669. 39 Auch erschienen unter dem in Anm. 9 erwähnten Titel Der Bankrottier.

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weit deutlicher verpflichtet war als der traditionellen Komödie. 40 Im späten 18. Jahrhundert verlor „die Gattung ihre Komik“ und wandelte „sich in die neue Gattung des ‚Schauspiels‘“. 41 Dies führte zur „Auf lösung des bisherigen Gattungssystems“ und zur „dramatischen Nobilitierung“ verschiedener Charaktere „durch Entkomisierung“. 42 Ein Reflex darauf, dass Karl Gotthelf diese aktuellen Entwicklungen sehr wohl bewusst waren und er sie mit der veränderten Erwartungshaltung des Publikums in Verbindung brachte, findet sich in einem Kommentar zu den Werken eines italienischen Lustspielautors im Brief an den Bruder vom 29. Oktober 1776: „doch wäre oft aus der Intrigue des Stücks etwas zu machen, wenn die Theaterliebhaber nur das Verkleiden und Erkennen nicht satt hätten“. 43 Karl Gotthelf schuf sich schließlich ohne brüderliche Patronage eine auskömmliche bürgerliche Stellung und dies in einer Sphäre, bei der man ihn nicht mehr verdächtigen konnte, nur seinem Bruder nachgefolgt zu sein. Auch getrieben von den brüderlichen Ermahnungen, bemühte er sich um eine einträgliche Anstellung. Lessing forderte ihn immer wieder mit deutlichen Worten dazu auf: „Freilich hättest Du schlechterdings meinem Rate und Deinem eigenen Vorsatze treuer bleiben, und Dich einer ernsthaften bürgerlichen Beschäftigung widmen sollen. Auch die glücklichste Autorschaft ist das armseligste Handwerk!“ 44 Am 17. April 1770 konnte Karl Gotthelf dem Bruder dann vermelden, dass er die Assistentenstelle beim Berliner Generalmünzdirektorium erhalten hatte. 45 Diesen Posten verdankte Karl Gotthelf der Hilfe Mendelssohns, 46 so dass er letztlich von einem weiteren Dichterbündnis seines Bruders profitieren konnte. 1776 heiratete er Maria Friederike Voß, die Tochter von Lessings und seinem Verleger. 1779 wurde er zum Münzdirektor in Breslau befördert. Mit der Übernahme dieses angesehenen Amtes und dem Wechsel von Berlin nach Schlesien endete bezeichnenderweise auch sein literarisches Schaffen. Lediglich ein weiteres Drama wurde nach 1779 veröffentlicht: Das Lustspiel Die Mätresse brachte Voß noch 1780 heraus. Die Vermutung liegt nahe, dass Karl Gotthelf auch dieses Werk noch in Berlin geschrieben bzw. zumindest begonnen hatte. So entsteht der Eindruck, dass er sich – sobald er einen einträglichen Posten bekleidete, der ihm die Ernährung seiner

40 Vgl. zur „Überlagerung der Komödie durch das Schauspiel“ Daniel Fulda: SchauSpiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing. Tübingen 2005, S. 218 – 225, zum „Bankrot“ S. 223 f. 41 Ebd., S. 173. 42 Ebd., S. 221 u. 220. 43 BDK 12 (wie Anm. 5), S. 17. 44 Brief vom 04. 01. 1770; BDK 11/1 (wie Anm. 5), S. 657. 45 Ebd., S. 685. 46 Nisbet: Lessing (wie Anm. 2), S. 847.

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Familie ermöglichte – die Nutzlosigkeit seiner literarischen Bemühungen eingestand und ganz im Sinne des Bruders davon Abstand nahm. Sollten Lessings fortwährende Ermahnungen doch Früchte getragen haben? Mehr noch scheinen die beruf lichen Belastungen der Grund für die Aufgabe der literarischen Tätigkeit gewesen zu sein. Einen Hinweis darauf gibt Karl Gotthelfs Biographie: Schon 1770, als er den Berliner Assistentenposten übernahm, brach die Veröffentlichung seiner Dramen ab, um erst sechs Jahre später, bezeichnenderweise im Jahr der Einheirat in die VerlegerFamilie Voß, wieder aufgenommen zu werden. Trotz seiner rationalen Entscheidung für einen Brotberuf bewahrte sich Karl Gotthelf seine Zuneigung zum Literarischen, denn nach Lessings Tod wurde er mit großem persönlichem Einsatz, wenn auch mit anderer Ausrichtung, in diesem Bereich wieder aktiv. Es sollte sich nun zeigen, dass es sehr wohl in Lessings Interesse war, dass der Bruder seinen Ermahnungen nur bedingt gefolgt war: Er wirkte jetzt als Nachlassverwalter, Herausgeber von Lessings Schriften und als sein erster Biograph. Damit trug er nachhaltig zum Gedenken an seinen Bruder und zur Bewahrung von dessen Schriften bei. Karl Gotthelf bewies damit, dass er bereit war, die Verpflichtungen, die aus dem familiären Dichterbündnis erwuchsen, zu erfüllen. Zunächst bemühte er sich intensiv darum, die nachgelassenen Manuskripte Lessings übereignet zu bekommen. Er erreichte dies schließlich Ende 1782 nur unter der Bedingung, dass er auch die nicht unerheblichen Schulden seines Bruders zu übernehmen hatte. Die juristischen Auseinandersetzungen, in die er dadurch hineingezogen wurde, konnten erst 1791, also ganze zehn Jahre nach Lessings Tod, beigelegt werden. 47 Es zeigte sich schnell, dass der Nachlass in keine besseren Hände hätte fallen können, denn Karl Gotthelf ging außerordentlich verantwortungsbewusst mit dem geistigen Erbe seines Bruders um: So veröffentlichte er einen großen Teil der ihm ausgehändigten Manuskripte und führte zusammen mit Lessings Freunden Friedrich Nicolai und Johann Joachim Eschenburg die von seinem Bruder begonnene Ausgabe der gesammelten Werke zu Ende. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang Karl Gotthelfs 1793 veröffentlichter Lessing-Biographie Gotthold Ephraim Lessings Leben zu. 48 Karl Gotthelf war durch seinen familiären Hintergrund, aber auch durch seine enge Zusammenarbeit mit Lessing geradezu prädestiniert, einen solchen ersten Lebensabriss des Bruders vorzulegen. So gab er wertvolle Einblicke in Lessings Persönlichkeit, seine Kindheit und Jugend, die sonst kaum überliefert worden wären, machte sich aber auch

47 Vgl. ebd., S. 846 f. 48 Lessing: Lessings Leben (wie Anm. 28).

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die Mühe, Korrespondenzen auszuwerten und mit etlichen Zeitzeugen zu sprechen, die ihm zusätzliche Informationen über spätere Lebensstationen Lessings verschafften. Auch wenn man seinen Ausführungen nicht kritiklos folgen sollte, handelt es sich nach wie vor um ein grundlegendes Werk, an dem keine der nachfolgenden Biographien Lessings vorbeikam. Zu Recht mahnte daher Hugh Barr Nisbet eine angemessene Würdigung des Einsatzes Karl Gotthelfs für seinen Bruder an, zu der er einen ersten Beitrag lieferte. 49 Auch ihm, der Karl Gotthelf ausgesprochen wohl gesonnen ist, gelang es allerdings nicht, dessen Leben und Werk ganz losgelöst vom schnell aufkommenden Verdacht des reinen Epigonentums zu betrachten: „Der Mangel an Originalität, der ihn [Karl Gotthelf; S.K.] veranlaßt hatte, sein Leben und Schreiben nach dem seines Bruders auszurichten, kam ihm dabei [bei der Abfassung seiner Lessing-Biographie; S.K.] sehr zustatten.“ 50 So naheliegend eine solche Einschätzung zumindest bei einzelnen Aspekten von Karl Gotthelfs Biographie und literarischem Schaffen ist, so ist sie doch im Hinblick auf eine Gesamtbewertung zu einseitig. Karl Gotthelfs Lebensweg zeigt stattdessen, dass es ihm trotz der Beeinflussung durch den übermächtigen Bruder und dessen großer Ausstrahlung gelang, sich in seinem bürgerlichen Leben von dessen Vorbild zu emanzipieren. Darüber hinaus belegen seine uneigennützige Hingabe an die Edition des literarischen Nachlasses des Bruders und seine Vorlage der ersten Biographie Lessings, dass er im Hinblick auf die Bewahrung des Andenkens eines ihm nahestehenden Intellektuellen einen anderen Weg beschritt als sein Bruder, wenn man an dessen Verhalten im Fall Mylius denkt. Bei aller Bewunderung für den großen Bruder und Orientierung an dessen Vorbild ist ihm ein unabhängiges Denken wohl schwerlich abzusprechen. Letztlich bedienten sowohl Mylius als auch Karl Gotthelf Lessing die Erwartungen an familiäre Allianzen, während Lessing die Vorteile der Dichterbündnisse sehr wohl nutzte, sich aber gleichzeitig auch gegenüber seiner Familie geistige Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit bewahrte. Für literarische Bündnispolitik, wie sie das Zeitalter liebte, erwies er sich damit eher als Unsicherheitsfaktor. Gerade dadurch tritt freilich deutlicher zutage, dass die familiäre Literaten-Allianz zwar als gewisser Sonderfall, aber doch als Teil der Autorenbündnisse allgemein angesehen werden kann. Solche Verbindungen liefen offensichtlich zumindest partiell nach anderen Prinzipien ab als die klassischen politischen Bündnisse und sind daher mit

49 Nisbet: Lessing (wie Anm. 2), S. 847. Vgl. auch seine abschließende Einschätzung: „Karl Lessing hat mit seiner editorischen und biographischen Arbeit mehr für Lessings Andenken getan als alle anderen, die ihn gekannt hatten“; ebd., S. 848. 50 Ebd., S. 848.

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deren Maßstäben nicht vollkommen zu erfassen. Gleichwohl finden sich auch bei den Dichterbündnissen und selbst bei ihren familiär grundierten Ausprägungen grundsätzliche Kriterien wieder, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, solche Allianzen in den Bündnisbegriff einzubeziehen, auch wenn sie zwangsläufig nicht offiziell fixiert wurden wie politische Bündnisse und auch nicht institutionalisiert wurden wie Gelehrtenvereinigungen wie Akademien und Sprachgesellschaften. Ihre tendenzielle Unverbindlichkeit wurde im Falle der familiären Dichterbündnisse freilich teilweise durch eine erhöhte Erwartungshaltung der Verwandten aufgehoben, die zwar das Prinzip der Freiwilligkeit des Zusammenschlusses nicht außer Kraft setzte, aber von Seiten der Angehörigen einen starken moralischen Druck aufbaute. Davon abgesehen unterscheiden sich die familiären Dichterbündnisse von der strategischen Zwecksetzung und dem Ziel der Statusverbesserung über die Abgrenzung gegenüber literarischen Kontrahenten bis zur interessegeleiteten potentiellen Befristung kaum von anderen informellen Zusammenschlüssen von Literaten. Letztlich sind sie ein Beleg dafür, dass Bündnisbildung im 18. Jahrhundert in vielfältiger Weise und in unterschiedlichen Lebensbereichen und Organisationsformen gepflegt wurde.

Wynfrid Kriegleder

Nicht nur literarische Zweckbündnisse Die Netzwerke der Wiener Aufklärungsliteraten

Dass Poeten Zweckbündnisse eingehen, um ihre eigene Position im Literaturbetrieb zu stärken, vor allem, wenn es kontroversiell zugeht, hat eine lange Tradition. Wenn Horaz andere Dichter verspottete, versicherte er sich der Unterstützung des Maecenas. Wir haben zwar keine Daten zu den literarischen Fehden des Mittelalters, aber es ist wahrscheinlich, dass sich in der Auseinandersetzung zwischen Walther von der Vogelweide und Reinmar dem Alten oder in der wechselseitigen Polemik zwischen Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg die Protagonisten um Bündnispartner bemühten. Die Bündnisse und Netzwerke im Zeitalter des Humanismus und der Reformation sind bekannt, ich erinnere nur an die Auseinandersetzung um die Dunkelmännerbriefe. In der Ära des Barock verknüpften die ‚Sprachgesellschaften‘ als Bündnisse literarisch interessierter Personen ästhetisches, patriotisches und standespolitisches Engagement. Und das Jahrhundert der Aufklärung wird dann überhaupt zum Saeculum der literarischen Bündnisse. Im Heiligen Römischen Reich gab es allerdings erhebliche regionale Differenzen. Im 18. Jahrhundert war das literarische Leben in der Habsburger-Monarchie in viel stärkerem Ausmaß mehrsprachig geprägt als in den anderen Territorien des Reichs. Es gab ein schrumpfendes Feld der lateinischen Literatur, ein gleichfalls schrumpfendes Feld der italienischen Literatur und ein expandierendes Feld der deutschen (in der Bedeutung von ‚deutschsprachigen‘) Literatur. Dieses Feld der deutschen Literatur war stärker mit dem übrigen deutschsprachigen Raum vernetzt, als die meisten Literaturgeschichten zeigen. Warum die Verfasser deutscher Literaturgeschichten diese Vernetzungen und den habsburgischen Literaturbetrieb oft ignorieren, ist einfach zu erklären. Das Projekt einer Geschichte der deutschen Literatur als Nationalliteratur 1, das im 19. Jahrhundert in Schwung kam, war von einer kleindeutschen, prussozentrischen Vision geprägt, entwarf entsprechende Epochenschemata (wie ‚Sturm und Drang‘ oder ‚deutsche

1 Vgl. Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichtsschreibung. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989.

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Klassik‘) und ignorierte, was nicht in dieses teleologisch bestimmte Konzept passte, so etwa die süddeutsch-katholische, vor allem habsburgische Literaturszene. 2 Die österreichische Literaturgeschichtsschreibung andererseits war von ihren Anfängen an daran interessiert, den Sonderweg der österreichischen Literatur herauszustreichen und interessierte sich wenig dafür, ob und wo sich die beiden Literaturgeschichten überschnitten. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ein als Nazi-Mitläufer verfemter Literaturhistoriker – Josef Nadler – sich am meisten Gedanken darüber machte, wie das süddeutsch-österreichische ‚Schrifttum‘ in eine gesamtdeutsche Literaturgeschichtskonstruktion einzubauen wäre. Nadlers biologistischer Ansatz, der auf deutsche ‚Stämme‘ rekurrierte, war freilich nach 1945 nicht anschlussfähig. Im 18. Jahrhundert erfolgte die Vernetzung der habsburgischen Gelehrtenrepublik mit den protestantischen Literaten Nord- und Mitteldeutschlands oft in der Form von Bündnissen. Es waren zweckgeleitete Kooperationen mit einem literatur- und kulturpolitischen Impetus. Für die sich als fortschrittlich verstehenden, allerdings in der deutschen Kleinstaaterei gefangenen bürgerlichen Aufklärungsliteraten versprachen gemeinsame Projekte mit Gesinnungsgenossen in der Haupt- und Residenzstadt Wien, aber auch in anderen Zentren des habsburgischen Staats, eine deutliche Ausweitung ihres Wirkungskreises. Die österreichischen Akteure auf dem literarischen Feld wiederum suchten sich durch die Anbindung an das höher eingeschätzte Feld der protestantischen, sächsischen und preußischen Literatur symbolisches Kapital zu erwerben. Naturgemäß trifft das alles nur für die deutschsprachige Literaturszene zu. Die wenigen der alten Latinität verhafteten Autoren orientierten sich nach wie vor innerhalb des gesamteuropäischen neulateinischen Feldes. Die italienische Literaturszene – und das waren immerhin die offiziellen Hofdichter – blickte nach Italien. Für viele der kosmopolitischen Wiener Hof intellektuellen, wie Franz Christoph von Scheyb, war der Kontakt nach Frankreich, etwa zu Voltaire, vielleicht wichtiger als sein Bündnis mit dem Leipziger Reformer Johann Christoph Gottsched. Das österreichische Netzwerk Gottscheds ist bis heute nicht systematisch erforscht. „[E]ine Monographie über Gottsched und den Gottschedianismus in Ö. [. . . ] fehlt“, notierte Josef Körner 1948 in seinem Biblio-

2 Ich möchte ausdrücklich einen jüngeren Aufsatz von Carsten Zelle als eines der wenigen Beispiele nennen, wo ein deutscher Germanist die „Unkenntnis der Germanistik gegenüber der josephinischen Aufklärungsliteratur“ moniert. Carsten Zelle: Was ist josephinische Aufklärung – in der Literatur?, in: Laurenz Lütteken / Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.): Mozarts Lebenswelten. Eine Zürcher Ringvorlesung 2006. Kassel u. a. 2008, S. 132 – 158, hier S. 133.

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graphischen Handbuch des deutschen Schrifttums. 3 Daran hat sich nichts geändert. Es ist zu hoffen, dass sich nach Abschluss der in Leipzig entstehenden großen Gottsched-Briefausgabe, 4 die die wichtigsten Materialien zur Verfügung stellen wird, einmal jemand des Themas annimmt. Ich muss mich auf einige Andeutungen beschränken. 5 Gottsched hatte in Österreich nie eine offizielle Position. Zwar gab es Bemühungen, ihn im Rahmen einer zu gründenden Akademie der Wissenschaften nach Wien zu holen, doch diese Pläne scheiterten an der konfessionellen Frage. Großen Einfluss hinter den Kulissen hatte er allerdings durch sein Bündnis mit unterschiedlichen österreichischen Gelehrten, dank deren sowohl seine Sprachreform als auch seine Literaturreform in Österreich wirksam wurden. Unter Gottscheds Briefpartnern fanden sich auch viele gelehrte Ordensgeistliche. Überhaupt spielten die katholischen Klöster bei der Durchsetzung der Aufklärung in Österreich eine wichtige Rolle – anders, als eine spätere Historiographie suggeriert. Nur ein Beispiel: Im Kloster Melk 6 war Gottscheds Briefpartner Placidus Amon (1700 – 1759), ein Benediktiner, der sich für die Literatur des Mittelalters interessierte und ein Wörterbuch plante, das einerseits dem historischen Wortbestand gerecht werden, andererseits die Gegenwartsnormen Gottscheds festigen sollte. Der Briefwechsel zeigt freilich auch Gottscheds Attitüde, seine österreichischen Kollegen sprachlich zu schulmeistern. Am 25. Mai 1752 schrieb er etwa an Amon: „Dero deutsche Schreibart in dem letzten Brief zeiget schon eine große Fähigkeit und Fertigkeit in der reinen hochdeutschen Mundart, und ich weis, was Ihnen das für Mühe gekostet haben muss“. 7 Gottscheds vermutlich wichtigster Wiener Bündnispartner war Christoph von Scheyb, ein Diplomat, der 1731 – 1737 in Rom gelebt hatte. Sein 1746 veröffentlichtes Alexandrinerepos Theresiade. Ein Ehrengedicht galt Gottsched als erster Beleg dafür, dass nun auch in Österreich die Ära der vernünftigen und normgerechten Literatur angebrochen war. 3 Josef Körner: Bibliographisches Handbuch des deutschen Schrifttums. Unveränderter Nachdruck der dritten, völlig umgearbeiteten und wesentlich vermehrten Auf lage. Bern / München 1966 [1948], S. 226. 4 https://www.saw-leipzig.de/de/projekte/edition-des-briefwechsels-von-johann-christoph - gottsched, letzter Zugriff: 24. 09. 2018. 5 Vgl. Wynfrid Kriegleder: Die deutschsprachige Literatur in Wien um 1740, in: Elisabeth Fritz-Hilscher (Hg.): Im Dienste einer Staatsidee. Künste und Künstler am Wiener Hof um 1740. Wien / Köln / Weimar 2013, S. 47 – 64. 6 Vgl. Johannes Frimmel: Literarisches Leben in Melk. Ein Kloster im 18. Jahrhundert im kulturellen Umbruch. Wien / Köln / Weimar 2005. 7 Zit. nach: Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn. Unter Mitwirkung hervorragender Fachgenossen herausgegeben von J[ohann] W[illibald] Nagl, Jakob Zeidler und Eduard Castle. Zweiter Band. Erste Abteilung. Von 1750 – 1848. Wien 1914, S. 49.

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Scheyb versuchte in Wien, die Interessen Gottscheds zu befördern, und führte einen intensiven Briefwechsel mit dem Leipziger. 108 seiner Briefe aus der Zeit von 1748 bis 1756 sind laut Hilde Haider-Pregler erhalten. 8 Scheybs oft unbekümmert plaudernde, anekdotenreiche Briefe liefern ein detailliertes Bild der zeitgenössischen Wiener Kulturszene und bieten einen guten Einblick in den von vielen persönlichen Intrigen und Eifersüchteleien geprägten Betrieb. Ich möchte mich im Folgenden aber mit einem anderen (Brief-)Bündnis zwischen einem Wiener Intellektuellen und einem deutschen Literaturpapst beschäftigen – einem Bündnis, das eine Generation später geschmiedet wurde. Es geht um Joseph von Retzer und Friedrich Nicolai. Der Berliner Friedrich Nicolai (1733 – 1811) 9 hatte sich bis in die 1770er Jahre eine erhebliche Machtposition im literarischen Feld des deutschen Sprachraums geschaffen. Er hatte als junger Kritiker Gottsched attackiert, dann gemeinsam mit Lessing und Mendelssohn die Avantgarde der Literaturkritik gebildet, 1758 den Verlag seines Vaters übernommen und 1765 mit der bis zu ihrer Einstellung im Jahr 1805 insgesamt 256 Bände umfassenden Allgemeinen deutschen Bibliothek (ADB) das wichtigste zeitgenössische Rezensionsorgan begründet. Nicolai, der keiner Kontroverse aus dem Weg ging, wurde schon seit den 1770er Jahren immer wieder von den jüngeren Literaten der Sturm-und-Drang-Generation attackiert. 1781 unternahm er eine große Deutschlandreise, die er dann bis 1795/96 in einem zwölfbändigen Reisebericht publizistisch auswertete. Der Reisebericht wurde sehr kontrovers aufgenommen, nicht nur in Wien, das Nicolai ausführlich und sehr kritisch dargestellt hatte, sondern zum Beispiel auch in Weimar, da Nicolai den Reisebericht für eine scharfe Kritik an Schillers Zeitschrift Die Horen – eigentlich muss man sagen: missbrauchte. Goethe und Schiller reagierten darauf 1797 mit zum Teil bösartigen Angriffen auf Nicolai in den Xenien, was wiederum einen Literaturskandal auslöste. Auch die jungen Romantiker hatten für Nicolai nur Spott übrig. Nicolai fand sich also am Ende seines Lebens, trotz einer nach wie vor einflussreichen Stellung, in einer ähnlichen Position wie Jahre zuvor der von ihm selbst abgeschossene Gottsched. Und auch die spätere Literaturgeschichtsschreibung ist mit ihm ähnlich ungnädig umgegangen wie mit Gottsched.

8 Viele Auszüge aus den Briefen finden sich bei Hilde Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert. Wien / München 1980, S. 276 – 306. 9 An jüngerer Literatur zu Nicolai nenne ich: Rainer Falk (Hg.): Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hannover 2008; Stefanie Stockhorst / Knut Kiesant / HansGert Roloff (Hg.): Friedrich Nicolai (1733 – 1811). Berlin 2011; Stefanie Stockhorst (Hg.): Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung. Göttingen 2013.

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Die Wiener Autoren des Josephinismus, obwohl generationsmäßig den Stürmern und Drängern zuzurechnen, standen von Anfang an auf der Seite der älteren Spätaufklärer bzw. der gleichaltrigen deutschen Kollegen, die dem etablierten Paradigma treu geblieben waren. Das zeigt sich schon an ihren Briefkontakten und daran, wen sie privat oder öffentlich lobten und tadelten. Johann Baptist von Alxinger, Aloys Blumauer, Gottlieb Leon, Joseph Franz Ratschky, um nur die bekanntesten Namen zu nennen, schätzten vor allem Christoph Martin Wieland – und auch Friedrich Nicolai stand ihnen ideologisch nahe. Nicolai war freilich ein schwierigerer Bundesgenosse als der wesentlich umgänglichere Wieland. Als überaus patriotischer Preuße und manchmal borniert-intoleranter Protestant, der von der kulturellen Vormachtstellung Berlins völlig überzeugt war, rief Nicolai wiederholt den Ärger oder zumindest den Spott der Wiener hervor. Sein öffentlich ausgefochtener Streit mit Aloys Blumauer ist da ein besonders signifikantes Beispiel. 10 Freilich gab es einen unter den Wiener Josephinern, der bedingungslos hinter Nicolai stand – eben Joseph von Retzer. 11 Retzer (1754 – 1824) hatte im josephinischen Jahrzehnt eine schnelle Beamtenkarriere gemacht und spielte als Zensor eine wichtige Rolle im Literaturbetrieb. Zwar wurde er nach dem Tod Josephs II. weitgehend kalt gestellt. Wie viele andere der josephinisch sozialisierten Beamten hielt er aber noch jahrelang die Fahne der Aufklärung in der österreichischen Bürokratie hoch. Die österreichische Aufklärung war bekanntlich eine Aufklärung von oben, die weniger mit der kantischen Befreiung des Individuums aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu tun hatte als eher damit, die Macht der katholischen Kirche zurückzudrängen und die allgemeine Unvernunft – oder was die Josephiner dafür hielten – mit Hilfe der Staatsmacht einzudämmen. Retzer war aber auch als gelehrter Schriftsteller im In- und Ausland angesehen. Er entsprach dem alten Ideal des dilettierenden poeta doctus,

10 Vgl. Norbert Christian Wolf: Konfessionalität, Nationalität und aufgeklärter Patriotismus. Zur Differenzierung kultureller Identitäten in der Kontroverse Blumauer – Nicolai, in: Wendelin Schmidt-Dengler / Johann Sonnleitner / Klaus Zeyringer (Hg.): Konflikte – Skandale – Dichterfehden in der österreichischen Literatur. Berlin 1995, S. 36 – 67. 11 Zu Retzer vgl. Eugene F. Timpe: A Viennese Acquaintance of Wieland. Joseph Friedrich Freiherr von Retzer, in: Hansjörg Schelle (Hg.): Christoph Martin Wieland. Nordamerikanische Forschungsbeiträge zur 250. Wiederkehr seines Geburtstages. Tübingen 1984, S. 317 – 328; weiters, ausführlich und faktenreich: Judith Sophie Wagner: „Allbeliebter Mann“ und „klägliches Subject“. Joseph Friedrich Freiherr von Retzer: Eine kontroverse Figur der österreichischen Aufklärung und ihr Netzwerk. [Diplomarbeit.] Wien 2011, online abrufbar unter: http://othes . univie . ac . at / 13069 / , letzter Zugriff: 24. 09. 2018.

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der als Herausgeber neulateinischer Werke, französischer Texte und englischer Lyrik oder auch als Nachlassverwalter seines geschätzten Lehrers, des angesehenen Dichters Michael Denis, zunehmend anachronistisch wirkte. Wieland und Nicolai sprachen ihm privat und öffentlich ihre Anerkennung aus. Goethe und Schiller dagegen spotteten in ihrem Briefwechsel unverblümt über Retzer, der sie 1798 in Weimar besuchte, als „klägliches Subject“. 12 Das hinderte Goethe freilich keineswegs daran, sich mehrfach der Hilfe Retzers zu bedienen, wenn er in Wien etwas brauchte. Insgesamt 51 Briefe Retzers an Nicolai sind im 60. Band des Briefwechsels im Nachlass Friedrich Nicolais an der Berliner Staatsbibliothek zu Berlin erhalten. 13 Nicolais Antwortschreiben sind, mit einer Ausnahme, verlorengegangen. Retzer verfasste seinen ersten Brief im September 1777, seinen letzten im November 1809. Aus der Zeit zwischen 1777 und 1785 gibt es keine Briefe. Im Schnitt schrieb Retzer ein bis zwei Briefe pro Jahr an seinen Partner; am intensivsten war der Austausch von 1799 bis 1803: in diesen fünf Jahren schrieb Retzer 19 Briefe. Was war der Zweck dieses Briefbündnisses? Was wollten die beiden Briefpartner voneinander? Um diese Fragen zu beantworten, sind ein paar Anmerkungen zur literarischen Situation im Wien des josephinischen Jahrzehnts nötig. Nach dem Regierungsantritt Josephs II. im Jahr 1780 setzte eine intensive Reformpolitik ein. Die Lockerung der Zensur rief blitzartig eine reiche publizistische Tätigkeit und damit das Entstehen einer großstädtischen Öffentlichkeit hervor. Die Reformpolitik wurde pro und contra diskutiert; Befürworter und Gegner gaben Broschüren in Auftrag. 14 Auch beamtete Literaten wie Retzer, die nicht auf den Markt angewiesen waren, betrachteten ihre literarische Tätigkeit als Teil der öffentlichen Auseinandersetzung um politische Fragen. Die Situation im Wien der 1780er Jahre ist daher eher mit der Situation im London Alexander Popes und Jonathan Swifts vergleichbar, wo die Schriftsteller im Dienst der politischen Parteien agierten, als mit der zeitgleichen Situation in einer der deutschen Kleinstädte. 15

12 Schiller an Goethe, 08. 05. 1798, in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 29: Briefwechsel. Schillers Briefe 1796 – 1798. Hg. von Norbert Oellers / Frithjof Stock. Weimar 1977, S. 233 f. 13 Die Briefe wurden ediert von Wynfrid Kriegleder: Joseph von Retzers Briefe an Friedrich Nicolai, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 89/90/91 (1985/86/87), S. 261 – 322. 14 Vgl. Ernst Wangermann: Die Waffen der Publizität. Zum Funktionswandel der politischen Literatur unter Joseph II. Wien / München 2004. 15 Vgl. dazu die Anmerkungen zur Londoner Szene in Hans Ulrich Seeber (Hg.): Englische Literaturgeschichte. 4., erweiterte Auf lage. Stuttgart / Weimar 2004, S. 161 f.

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Dass sich viele der Wiener Autoren mit den Literaten des englischen Augustan Age identifizierten, ist dafür ein weiterer Beleg. 16 Bundesgenossen aus dem Ausland waren für die Wiener wichtig, um die eigene Position im heimischen Feld zu stärken. Als Bundesgenossen zählten vor allem Autoren, die sich im protestantischen Literaturbetrieb bereits eine Position erobert hatten, etwa Gleim, Wieland und Nicolai. Im Fall Retzer-Nicolai ging die Initiative von dem Wiener aus. Der junge Retzer bedankt sich 1777 für eine positive Rezension seiner Gedichtsammlung in der ADB und bietet Nicolai seine Hilfe bei der Suche nach Pränumeranten für den in Nicolais Verlag erscheinenden Roman Das Leben Johann Bunkels von Thomas Armory an. Der nächste erhaltene Brief stammt aus dem Jahr 1785; aus ihm geht hervor, dass sich Retzer und Nicolai während Nicolais Wienaufenthalt nicht näher kennengelernt hatten. Da Nicolais Briefe nicht erhalten sind, lässt sich nur aus Retzers Schreiben erschließen, was Nicolai von dem Briefbündnis erwartete. Es geht immer wieder um ganz konkrete Hilfeleistungen, vor allem um Materialbeschaffung für die Ausarbeitung des Reiseberichts. Außerdem wollte Nicolai offenbar von Retzer darüber informiert werden, was in Wien auf literarischem und politischem Gebiet los war. Eine gewisse Rolle könnte auch gespielt haben, dass 1786 Nicolais bis dahin wichtigster Wiener Briefpartner, der hohe Beamte und Dramatiker Tobias Freiherr von Gebler, mit dem er seit 1771 korrespondiert hatte, starb. 17 Nicolai brauchte daher in Wien einen neuen Bundesgenossen. Unter den Josephinern war ein solcher gar nicht leicht zu finden, hatte der Berliner doch allzu viele von ihnen verärgert. 18 Was Joseph von Retzer von Friedrich Nicolai erwartet, lässt sich dagegen viel klarer beschreiben. Retzer nützt seine Bekanntschaft mit Nicolai, um seine eigene literarische Karriere voranzutreiben. Wiederholt bittet er um bibliographische Informationen bzw. um die Zusendung von in Wien nicht erhältlichen Schriften. Immer wieder ersucht er Nicolai, eines seiner

16 Ich verweise vor allem auf entsprechende Äußerungen Joseph Franz Ratschkys und auf die von Joseph von Retzer herausgegebene sechsbändige Anthologie Choice of the Best Poetical Pieces of the Most Eminent English Poets. Wien 1783 – 1786. 17 Dieser Briefwechsel ist fast vollständig erhalten. Vgl. Richard Maria Werner (Hg.): Aus dem Josephinischen Wien. Geblers und Nicolais Briefwechsel während des Jahres 1771 – 1786. Berlin 1888. 18 Ein besonders skandalöses Vorkommnis, an dem Nicolai vermutlich unschuldig war und wofür er sich auch bei seinem Briefpartner Gebler entschuldigte, war eine Randnotiz im 51. Band der ADB (1782), S. 586 f., in der ein bösartiger Angriff auf die junge Caroline Greiner, die spätere Schriftstellerin Caroline Pichler, und ihren Vater, den Hofrat Franz Sales von Greiner, geritten wurde. Der Salon Greiner war ein wichtiger Treffpunkt der Wiener Aufklärer; die Empörung über Nicolai war einhellig. Vgl. Richard Maria Werner: Briefwechsel (wie Anm. 17), S. 108 f. u. S. 152 – 156.

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Werke in der ADB anzuzeigen. Wiederholt schickt er eigene Aufsätze an Nicolai, der sie als Vermittler zum Beispiel an die Berlinische Monatsschrift zum Druck weiterleiten soll. Retzers schon von den Zeitgenossen belächelte Eitelkeit dringt immer wieder durch. Es ist ihm sehr wichtig, namentlich in der ADB genannt zu werden. Besonders stolz ist er, als 1795 sein Porträt auf dem Titelblatt des 20. Bandes der Neuen Allgemeinen Deutschen Bibliothek (NADB) erscheint, auch wenn er mit der Qualität des Bildes nicht ganz einverstanden ist, seien doch „die ganze Nase zu groß“ und „die Wangen zu voll“ geraten. 19 Die Tatsache, von Nicolai auf diese Art und Weise öffentlich anerkannt zu werden, stärkt Retzer gegen seine literarischen – und das heißt immer auch: politischen – Gegner. Seit der Krise des Josephinismus in den späten 1780er Jahren und vor allem seit der anti-aufklärerischen Revolutionshysterie der frühen 1790er Jahre bläst ihm ja der Wind ins Gesicht. Schon in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts war es zu einer konservativen Gegenbewegung gekommen, die sich nicht mehr nur aus den traditionellen katholischen Kräften rekrutierte, sondern der sich auch etliche ehemalige Josephiner anschlossen, die der Meinung waren, die Reformen, insbesondere die „erweiterte Preßfreyheit“, seien viel zu weit gegangen. Die Angst vor Geheimbünden, etwa den Illuminaten, die angeblich den Staat unterwanderten, kam noch dazu. Und als dann 1789 die Französische Revolution ausbrach, hatten die Verschwörungstheoretiker Hochkonjunktur, hatten sich ihre Warnungen doch angeblich bewahrheitet. 20 In seinen Briefen stilisiert sich Retzer als Bollwerk im Abwehrkampf gegen die Obskuranten, die er immer wieder, historisch höchst fragwürdig, mit den Jesuiten gleichsetzt. Damit läuft er bei Nicolai, über dessen irrationale „Jesuitenriecherei“ schon manche Zeitgenossen spotteten, offene Türen ein. 21 1794 berichtet Retzer über das Wiener Verbot des jüngsten Romans von Nicolai, Geschichte eines dicken Mannes, mit der Anmerkung: „Die Jesuiten ruhen nicht, und um noch leichter und gewisser zu wirken, haben sie sich auf gut jesuitisch mit der geheimen Polizey vereinigt“. 22 Der Geheimbund-Verschwörungstheorie der Anti-Josephiner wird also eine Geheimbund-Verschwörungstheorie der Josephiner entgegengesetzt.

19 Brief vom 03. 06. 1795. Kriegleder: Briefe (wie Anm. 13), S. 283. 20 Vgl. Christoph Weiß/Wolfgang Albrecht (Hg.): Von ‚Oscuranten‘ und ‚Eudämonisten‘. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert. St. Ingbert 1997. 21 Vgl. Ursula Paintner: Aufgeklärter Antijesuitismus? Zur antijesuitischen Argumentation bei Friedrich Nicolai, in: Stockhorst: Nicolai im Kontext (wie Anm. 9), S. 315 – 336. 22 Kriegleder: Briefe (wie Anm. 13), S. 278.

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Abb. 1: Retzers Porträt in der NADB. © HAB http://diglib . hab . de / ? portrait = a - 17506, letzter Zugriff: 30. 04. 2019.

Dass sich auch Nicolai in den späten 1780er Jahren als einsamer Kämpfer der Aufklärung – die er mit dem Protestantismus gleichsetzt – gegen reaktionäre Kräfte, nämlich den Geheimbund der Rosenkreuzer, sah, belegt seine umfangreiche Vorrede zum 56. Band der NADB, die von Retzer in seinem Brief vom 10. April 1801 expressis verbis gelobt wurde. 23 Nicolai hatte hier angemerkt, dass er nach dem Tod Friedrichs II., des Großen, „denjenigen, welche sich wider die Aufklärung verbündet hatten, hauptsächlich ein Dorn im Auge“ war – so wie die ADB überhaupt, die ja 23 Ebd., S. 296.

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vorübergehend in Preußen verboten war. 24 Als seine wichtigsten Gegner nennt er hier „Aloys Hofmann, Hoffstätter und Zimmermann“. Auf Hofmann und Hofstätter werden wir weiter unten noch stoßen. Wie wenig allerdings der scheinbar tolerante Josephiner Retzer von tatsächlicher Pressefreiheit hielt und wie sehr er davon überzeugt war, der Staat solle Schriften verbieten, die den Aufklärern nicht genehm waren, zeigt sich in einem Widerspruch, der ihm vermutlich gar nicht bewusst war. Im Juli 1794, als er Nicolai über das Verbot des Dicken Manns informierte, stellt er bedauernd fest, dass die „herrliche Vorschrift des verstorbenen Van Swieten, daß der Censor zwar alles auf eigene Gefahr zulassen, aber nichts verbieten darf“, nun „mißbraucht“ werde; der Censor habe bei der Entscheidung über das Verbot kein Mitspracherecht mehr, weshalb ein Buch, das er selbst zugelassen habe, unterdrückt werden könne, ohne dass er die Möglichkeit habe, das Buch zu verteidigen. Knapp zwei Jahre später, am 20. März 1796, sieht die Sache ganz anders aus – denn hier geht es um ein Buch, das Retzer gern verboten hätte. Lorenz Leopold Haschkas Ode Das gerettete Teütschland, in dem die preußische Regierung kritisiert wurde, hätte auf Wunsch des Kaisers „unterdrückt“ werden sollen, berichtet er; der Kanzler der vereinigten Hofstellen jedoch, der „Obscurantenfreünd Graf Rottenhan“, habe den Druck „wider die Meinung der Censur und der Staatskanz[ley]“ zugelassen, wofür er zu Recht „einen Verweis“ erhalten habe. 25 Es macht also einen großen Unterschied, ob ein Retzer genehmes oder ein ihm verhasstes Buch erlaubt oder verboten wird. Retzer informiert Nicolai jedenfalls über solche Vorkommnisse und regt an, sie in Berlin publizistisch zu verbreiten. „In der Berl: Monatschrift sollten Sie doch von alle diese Sächelgen Gebrauch machen.“ 26 Und gleich im nächsten Brief, am 31. März, liefert er Nicolai Material für einen Aufsatz gegen den „bitterböse[n] Exjesuit[en] Hofstätter“, einen von Retzers Wiener Hauptfeinden. Das Bündnis zwischen Friedrich Nicolai und Joseph von Retzer dient dem Wiener Schriftsteller also dazu, seine Position in Wien literaturstrategisch zu verbessern. Es dient aber auch seiner eigenen Identitätsstärkung, indem er sich im Austausch mit dem bewunderten Nicolai seiner ideologisch richtigen Position in den literarischen und politischen Auseinandersetzungen versichert. In Aussagen über Autorenkollegen und deren Werke etablierte er einen gemeinsamen Horizont mit Nicolai und schreibt sich damit in das Literatursystem der Spätaufklärung ein. Freunde und

24 http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/image/2002571_056/20/#topDocAnchor, letzter Zugriff: 24. 09. 2018. 25 Kriegleder: Briefe (wie Anm. 13), S. 284. 26 Ebd., S. 285.

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Gegner werden klar benannt. Da geht es um politische Kontrahenten – Johann August Stark 27 und Johann Georg Zimmermann 28. Da geht es aber auch um fragwürdige literarische Entwicklungen. Weimar drohe zum „litterarisch[en] Bedlam“ zu werden, merkt Retzer im November 1799 an, vergleichbar der „Menagerie von Schönbrunn, wo man den Fremden, den Minister Göthe als Elephanten, Schillern als Eisbären, Fichten als OuranOutang, die Schlegels, Geringe, Falke u:s:w: als kleine possirliche Aeffchen zeigen wird“. 29 Und im Mai 1809 berichtet er Nicolai über die in der Nachwelt berühmt gewordenen Wiener Vorlesungen Über dramatische Kunst und Literatur August Wilhelm Schlegels, ein kürzlich in der Neuen Berlinischen Monatsschrift erschienener Aufsatz Nicolais, „Pumphosen, Pluderhosen, und Streichhosen“ sei ihm lieber „als das ga[nze] auch von mir mit 25 fl bezahlte neüe aesthetische Evangelium Schlegels“. 30 Was später ‚Romantik‘ genannt werden wird, ist das neue Feindbild, das mit dem alten Feindbild (Jesuiten und Obskuranten) gleichgesetzt wird, da es den etablierten – und ein für alle Mal gültigen – Normen nicht entspricht. Die Verbindung zwischen Friedrich Nicolai und Joseph von Retzer ist ein viele Jahre währendes Bündnis, eine Allianz in ästhetischen, literaturpolitischen und weltanschaulichen Fragen – auch wenn sich diese drei Bereiche noch nicht klar differenzieren lassen. Nicolai und Retzer sind Akteure in einer konstanten Internationale der Aufklärung. Allerdings lässt sich um 1790 im österreichischen Literaturbetrieb auch ein anderes Phänomen beobachten: Ein „renversement des alliances“, eine Umstrukturierung von Allianzen als Folge des gescheiterten Josephinismus und der Revolution in Frankreich. Ehemalige Verbündete werden zu Gegnern, ehemalige Gegner finden plötzlich Gemeinsamkeiten. Auch dafür sei eine Fallstudie geboten: Die schon erwähnte anti-aufklärerische und anti-josephinische Bewegung ist in Österreich vor allem mit dem Namen Leopold Alois Hoffmann verbunden. 31 Der 1760 geborene Hoffmann war in den frühen 1780er Jahren nicht nur Freimaurer, sondern initiierte auch eines der radikalsten publizistischen Projekte des Josephinismus, die wöchentlich erscheinenden Predigtkritiken, die vermutlich von Gottfried van Swieten und Tobias Freiherr von Gebler, dem Briefpartner Nicolais, angeregt worden waren. 32 Seit

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Ebd., S. 276 f. Ebd., S. 278. Ebd., S. 293. Ebd., S. 316. Zu Hoffmann vgl. v. a. Helmut Reinalter: Gegen die „Tollwuth der Aufklärungsbarbarei“. Leopold Alois Hoffmann und der frühe Konservativismus in Österreich, in: Weiß/Albrecht: ‚Obscuranten‘ und ‚Eudämonisten‘ (wie Anm. 20), S. 221 – 244. 32 Dies vermutet Wangermann: Die Waffen der Publizität (wie Anm. 14), S. 84.

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der Mitte des Jahrzehnts machte sich Hoffmann allerdings einen Namen als heftiger Kritiker der Freimaurerei, der Berliner Aufklärung und insbesondere Friedrich Nicolais, dem er – nicht zu Unrecht – seine „Jesuitenriecherei“ vorwarf. Nach 1789 legte Hoffmann noch ein Schäuflein drauf. In seiner von Kaiser Leopold II. geförderten Wiener Zeitschrift (1792/93) wurde er zum wichtigsten Proponenten einer Verschwörungstheorie, die den Ausbruch der Revolution in Paris auf die agitatorische Tätigkeit der Berliner Aufklärung zurückführte und vor jakobinischen Geheimgesellschaften warnte, die überall im Heiligen Römischen Reich tätig seien. Dass binnen kurzem auch Revolutionsgegner über Hoffmann spotteten, nahm ihm nichts von seiner publizistischen Macht. Hoffmann arbeitete mit den führenden konservativen Publizisten Deutschlands zusammen und richtete denunziatorische Angriffe auf radikale Aufklärer wie Bahrdt, Campe und Knigge. Eine kuriose und kaum erforschte Episode in diesem Zusammenhang zeigt die Verunsicherung der Wiener Josephiner, mit wem sie sich angesichts der Entwicklung verbünden sollten. 33 Schon Anfang 1792 gab es in Wien offenbar Bestrebungen, der gegenaufklärerischen Wiener Zeitschrift Hoffmanns mit einem aufklärungsfreundlichen, dabei aber revolutionsfeindlichen Journal Paroli zu bieten. Im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv findet sich eine mit 24. Februar 1792 datierte Eingabe des Regierungsrats Friedrich Schilling an Kaiser Leopold II., in der er sich auf eine Anregung des Kaisers bezieht und die Gründung einer neuen Zeitschrift, der Wienerischen Monatsschrift, vorschlägt. Hoffmanns Name wird zwar nie genannt, es ist aber offensichtlich, dass seine Wiener Zeitschrift durch das neue Journal abgelöst werden sollte. 34 Schilling schlägt für seine Zeitschrift, welche „dem unglüklichen Freyheitswahn, der immer mehr um sich greifenden Modephilosophie, und den heimlichen Bemühungen gewißer Klubs auf eine gründliche und anständige Art entgegenarbeite[n]“ solle, 35 vier Mitarbeiter vor: Johann Pezzl, Joseph Franz Ratschky, Felix Franz Hofstätter und Lorenz Leopold Haschka.

33 Vgl. zum Folgenden ausführlich Wynfrid Kriegleder: Ein „Hoffmann elevatus ad secundam potentiam“ – Felix Franz Hofstätter, in: Weiß/Albrecht: ‚Obscuranten‘ und ‚Eudämonisten‘ (wie Anm. 20), S. 245 – 267. 34 Die Unterlagen befinden sich in den Vertraulichen Akten des Wiener Haus-, Hofund Staatsarchivs, Karton 41; hier fol. 456 r. Meine Zitate folgen buchstabengetreu der Handschrift Schillings; lediglich Geminationsstriche werden aufgelöst. Auf den Vorschlag Schillings hat meines Wissens erstmals Ingrid Fuchs: L. A. Hoffmann, 1760 – 1806. Seine Ideen und seine Bedeutung als Konfident Kaiser Leopold II. Unpubl. phil. Diss. Wien 1963, S. 187 f., hingewiesen. Vgl. auch Gerda Lettner: Das Rückzugsgefecht der Aufklärung in Wien 1790 – 1792. Frankfurt / New York 1988, S. 173. 35 Vertrauliche Akten (wie Anm. 34), 456 r.

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Pezzl, der Verfasser des seinerzeit berühmten Romans Faustin, oder das philosophische Jahrhundert, und der Lyriker Joseph Franz Ratschky, beide Beamte, galten als exponierte Vertreter des Josephinismus. Auch Lorenz Leopold Haschka hatte sich im josephinischen Jahrzehnt mit kirchen- und adelskritischer Lyrik hervorgetan. Der gelehrte Exjesuit Hofstätter hatte zwar schon seit den frühen 1780er Jahren mehrfach in Veröffentlichungen den attackierten Jesuitenorden verteidigt. Joseph von Retzer aber hatte ihn 1782 als respektablen Gelehrten gepriesen. 36 Und Johann Baptist von Alxinger nennt ihn noch im August 1791 in einem Brief an Wieland einen „brave[n] Mann“. 37 Diese vier Männer also sind vorgesehen, ein Bündnis einzugehen und eine gleichermaßen anti-revolutionäre wie pro-aufklärerische Zeitschrift zu betreiben. Das Projekt kam aus unbekannten Gründen nicht zustande. Vermutlich irritierte den Kaiser die freimaurerische Vergangenheit von drei der vier Vorgeschlagenen, nämlich Haschkas, Pezzls und Ratschkys. 38 Außerdem starb Leopold II. völlig überraschend wenige Tage später, am 28. Februar 1792. Binnen Ablauf eines Jahres sollten sich allerdings drei der genannten Männer in zwei neu gegründeten Zeitschriften engagieren – und nun standen sie in entgegengesetzten Lagern. Johann Baptist von Alxinger, ein führender Josephiner und gleichfalls langjähriger Briefpartner Wielands und Nicolais 39, gründete im Jänner 1793 die Österreichische Monathsschrift, unter deren Mitarbeitern sich auch Joseph Franz Ratschky findet. Felix Franz Hofstätter wiederum gab seit Jänner 1793 unter tatkräftiger Mithilfe Lorenz Leopold Haschkas das Magazin der Kunst und Litteratur heraus. Trotz einer vergleichbaren Ausgangslage entwickelten sich die beiden Journale völlig unterschiedlich. Alxingers Monathsschrift führt von Anfang an einen publizistischen Kampf gegen Leopold Alois Hoffmann, während Hofstätters Magazin sich immer mehr als Bundesgenosse Hoffmanns profiliert. Als Hoffmann im Juni 1793 seine Zeitschrift einstellen musste, empfahl er im Nachwort das Magazin „als ein Aequivalent für die Zeitschrift“ wärmstens. 40 Alxingers

36 Joseph von Retzer: Schreiben an Herrn D. Christian Schmid, Professor zu Gießen, über die Anweisung der vornehmsten Bücher in allen Theilen der Dichtkunst. Wien 1782. 37 Gustav Wilhelm (Hg.): Briefe des Dichters Johann Baptist von Alxinger. Wien 1898, S. 66. 38 Darauf lässt ein undatiertes zweites Schreiben Schillings in den Vertraulichen Akten schließen. 39 Vgl. Walter Obermaier: Johann Baptist von Alxinger (1755 – 1797) – Ein Regestverzeichnis der in der Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek befindlichen Briefautographen, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 84/85 (1980/81), S. 185 – 206. 40 Epilog und Beurlaubung von meinen Lesern, in: Wiener Zeitschrift (1793), H. 6.

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Monathsschrift nimmt daher bald das Magazin als Hauptgegner aufs Korn. Am 17. Juli 1793 berichtet Alxinger in einem Brief an Friedrich Nicolai über das Magazin: Der Herausgeber ist der Exjesuit Hofstäter die Mitarbeiter fast lauter Jesuiten und leider auch Haschka. Ausser dem letzten hat sich keiner genannt. Ihre Unverschämtheit gehet so weit, dass sie selbst die Inquisition einiger Maassen vertheidigen. Kurz Hofstäter erscheint als ein Hoffmann elevatus ad secundam potentiam. 41

Auch Joseph von Retzer bezeichnet, wie erwähnt, in einem Brief an Nicolai Hofstätter als „bitterböse[n] Exjesuit[en]“ 42. Wir bemerken hier also ein interessantes renversement des alliances. Die publizistische Zurückweisung der Revolution in Frankreich vereint am Beginn unterschiedliche Josephiner, die sich dann in konträre Richtungen entwickeln. Die hier entstehenden beiden Strömungen bleiben für die politische Diskussion in und über Österreich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestimmend. Der Josephinismus resultiert einerseits in einem liberalen, anti-katholischen Diskurs, der die Unterstützung durch die Staatsmacht sucht und diese als potentiellen Bündnispartner in einem weltbürgerlichen Projekt betrachtet. Er resultiert aber auch in einer reaktionären Bejahung der Staatsmacht, der, wenn auch mit Bauchweh, eine anti-liberale Politik im Interesse der Bewahrung der Ordnung zugebilligt wird. Die ambivalente Einstellung der wichtigsten österreichischen Autoren zur Revolution von 1848 – Grillparzers, Nestroys, Stifters – wird von diesem Dilemma geprägt sein. Und schon in den frühen 1790er Jahren verkörpert ein unterschätztes literarisches Werk der österreichischen Literatur dieses Dilemma: Joseph Franz Ratschkys komisches Epos Melchior Striegel, das spöttische Revolutionssatire mit einer ironischen Bejahung des status quo verbindet. 43 Ich versuche ein Fazit: Die Literaten der Wiener Aufklärung gingen unterschiedliche Bündnisse ein, um ihr letztlich staatsbewahrend-reformatorisches und liberales Projekt zu stärken. Schon die Epitheta ‚staatsbewahrend-reformatorisch‘ und ‚liberal‘ zeigen, dass sich die scheinbar literarischen Konflikte der österreichischen Aufklärung nicht auf das – noch kaum ausdifferenzierte – literarische Feld beschränken lassen. Literarische Fehden folgen im 18. Jahrhundert im katholischen Österreich anderen Regeln als in den protestantischen deutschen Ländern. Dort sind literarische Fehden wirklich literarische Fehden. Dort geht es um die Absteckung von Claims auf dem literarischen Feld, es geht um die

41 Wilhelm: Briefe Alxingers (wie Anm. 36), S. 74 f. 42 Kriegleder: Briefe (wie Anm. 13), S. 285. 43 Ritchie Robertson: Mock-Epic Poetry from Pope to Heine. Oxford 2009, S. 237 – 259.

Nicht nur literarische Zweckbündnisse

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Durchsetzung von Machtpositionen, um die Propagierung der je eigenen Vorstellung davon, was Literatur darf, kann und soll. Die Bündnisse, die im Verlauf dieser Auseinandersetzungen geschlossen werden, sind literarische Bündnisse. Gottsched gegen die Schweizer, der junge Wieland gegen Uz, Nicolai und Lessing gegen Gottsched, die Stürmer und Dränger gegen Wieland und Nicolai, Schiller gegen Bürger, Nicolai gegen die Romantiker, Goethe und Schiller im Xenienstreit gegen den Rest der Welt – im Grunde geht es immer um eine Auseinandersetzung innerhalb des literarischen Feldes, das schon einigermaßen ausdifferenziert ist und bereits eine gewisse Autonomie gegenüber anderen Feldern beansprucht. In der Habsburger Monarchie dagegen ist das literarische Feld noch lange ein Teil der politischen Sphäre. Norbert Christian Wolf hat wiederholt betont, dass im josephinischen Jahrzehnt eigentlich noch nicht von einem literarischen Feld im Sinn Pierre Bourdieus gesprochen werden könne, weil hier die Einflussnahme äußerlicher Faktoren, „insbesondere der politischen und kirchlichen Macht“, noch zu groß und die „wirtschaftliche Unabhängigkeit eines Literatur- und Kunstmarktes demgegenüber“ noch zu gering war. 44 Anders als in Deutschland muss hier nicht das Fehlen eines Staates durch die Etablierung einer literarischen Gelehrtenrepublik kompensiert werden. In Österreich existiert im 18. Jahrhundert ein Staat, der sich – à la longue vergeblich – eine neue Idee zu geben versucht. Diesem Zweck wird auch die Literatur untergeordnet. In den Worten von Werner M. Bauer: „Daß Sprachgebrauch, Zeitungen und eine junge, eben nach der Lockerung des Zensurdrucks emporgewachsene literarische Öffentlichkeit in den Dienst dieser Staatsidee gestellt wurden, versteht sich von selbst.“ 45 Entsprechend sind die literarischen Fehden und Bündnisbildungen zu bewerten. Es geht um eine Auseinandersetzung zwischen den aufklärerischen Befürwortern eines starken Zentralstaats und den föderalistischen Kräften der Bewahrung. Diese Grundkonstellation mag dann und wann von anderen Gegensätzen überschattet werden, sie bleibt aber bestimmend. Gottsched und seine Wiener Parteigänger gegen das unreformierte Theater, die Anhänger und Gegner des josephinischen Reformprogramms in der Wiener Broschürenflut der 1780er Jahre, der publizistische Streit um die Mitschuld der Aufklärer an der Französischen Revolution, der Rückzugskampf der alten Josephiner nach 1800 gegen eine katholische 44 Norbert Christian Wolf: Der Raum der Literatur im Feld der Macht. Strukturwandel im theresianischen und josephinischen Zeitalter, in: Franz M. Eybl (Hg.): Strukturwandel kultureller Praxis. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Sicht des theresianischen Zeitalters. Wien 2002, S. 45 – 70. 45 Werner M. Bauer: Fiktion und Polemik. Studien zum Roman der österreichischen Aufklärung. Wien 1978, S. 12.

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Wynfrid Kriegleder

Renaissance, als die sie die Romantik verstehen – all dies sind nicht im engeren Sinn literarische, es sind gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen. Es geht nicht darum, wohin sich die deutschsprachige Literatur Österreichs bewegen soll, es geht darum, wohin sich der österreichische Staat bewegen soll.

Norbert Christian Wolf

Eine Verbindung zweier „Geistesantipoden“ Das Goethe-Schiller-Bündnis aus kultursoziologischer und diskurshistorischer Perspektive

In Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, dem maßgeblichen deutschsprachigen Wörterbuch des ausgehenden 18. Jahrhunderts, findet sich unter dem Lemma „Bündnis“ folgende knappe Erläuterung: „Vertrag, durch welchen sich mehrere Staaten oder Personen zu einer gesellschaftlichen Absicht verbinden. [. . . ] Von Privat-Personen ist dieses Wort im gemeinen Gebrauche nicht üblich, wohl aber in der höhern Schreibart.“ 1 Wenn im Folgenden also von einem Bündnis zwischen zwei „Personen“ ohne amtliche Funktion die Rede ist, dann terminologisch entweder unhistorisch oder aber im Sinne „der höhern Schreibart“, was dem Gegenstand angemessen wäre – unabhängig davon, ob dieses aptum vom Verfasser realisiert werden kann. Die Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und die Österreichische Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts – sozusagen eine Art kultureller ‚Zweibund‘ – haben im Jahr 2014 in Regensburg ihre erste gemeinsame Tagung dem Thema „Bündnisse“ gewidmet und dieses durch den Untertitel „Politische und intellektuelle Allianzen im Jahrhundert der Aufklärung“ präzisiert. Die makro- oder mikrosoziale Institution des ‚Bündnisses‘ wird hier in den Zusammenhang eines säkularen Modernisierungsprozesses gestellt: Bündnisse beruhen auf einer Wahl: Grundsätzlich sind sie freiwillig eingegangene Beziehungen. Das unterscheidet sie von den Haushalten, Korporationen und Konfessionen als den Sozialformen, in die man sich aufgrund des eigenen Herkommens, Geschlechts, Lebensalters und Bekenntnisses, der Tätigkeit und Bildung ohne eigenes Zutun gestellt sah. [. . . ] Bündnispartner wählen zu können, eröffnete hingegen einen Freiraum. Statt vorfindlicher Gemeinschaften rückte es den einzelnen Akteur ins Zentrum, statt auf Normerfüllung wies es auf die kluge Nutzung eigener Möglichkeiten. [. . . ] Und nicht nur

1 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Mit Röm. Kais. auch K. K. u. Erzh. Österr. gnädigsten Privilegio über gesammte Erblande. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig 1793 – 1801, Erster Theil, von A – Scr., Sp. 1256 f.

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Norbert Christian Wolf

für das Handeln waren Bündnisse relevant, auch in der Reflexion gewannen sie konstitutive Bedeutung. [. . . ] In den Gesellschaftsvertragstheorien erklärte man Bündnisse sogar zur Grundlage von Sozialität überhaupt. Sämtliche Sozialbeziehungen hat man von Bündnissen abgeleitet oder an ihnen gemessen. 2

Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, erscheint im 18. Jahrhundert nicht zuletzt der Schulterschluss von Dichtern und Gelehrten als gesellschaftliche Dynamisierungsagentur innerhalb der bestehenden ständisch-korporativen Ordnung. Wenn man nach deren Funktion für das individuelle „Fortkommen[]“ und die „Statusverbesserung“ der betroffenen Autoren fragt, 3 dann wird man in der „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck) des ausgehenden 18. Jahrhunderts so fündig wie kaum in einer anderen Epoche der deutschsprachigen Literaturgeschichte. Ein hinsichtlich seiner literarischen Produktivität und auch seiner einzigartigen Wirkungsgeschichte 4 ganz besonderer Dichterbund ist sicherlich die von 1794 bis 1805 währende enge Kooperation zwischen Goethe und Schiller.

1 Bündnis oder Freundschaft? Die charakteristische Verbindung zwischen den so genannten Dioskuren Goethe und Schiller, deren genauere Beschaffenheit in der Forschung stets umstritten war, wurde im Exposé zur Tagung, die dem vorliegenden Band zugrunde liegt, nicht genannt – im Unterschied zu der diesem jetzt vorangestellten Einleitung. Dies mag daran liegen, dass die bisweilen als ‚Bündnis‘ apostrophierte Verbindung der zwei angeblichen ‚Geistesantipoden‘ doch meist eher als ‚Freundschaft‘ denn als strategische Allianz behandelt worden ist. Die beiden Deutungen standen sich häufig unversöhnlich gegenüber und markierten zugleich distinkte Positionen ihrer

2 Franz M. Eybl / Daniel Fulda / Johannes Süßmann: Bündnisse. Politische und intellektuelle Allianzen im Jahrhundert der Aufklärung. Einführung (im vorliegenden Band), S. 9. 3 Vgl. ebd., S. 18. 4 Vgl. dazu aus strukturalistisch-generativistischer Perspektive und mit Blick auf die diskurskonstitutive Kollektivsymbolik Jürgen Link: Die mythische Konvergenz Goethe-Schiller als diskurskonstitutives Prinzip deutscher Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, in: Bernard Cerquiglini / Hans Ulrich Gumbrecht unter Mitarbeit von Armin Biermann / Friederike J. Hassauer-Roos / Sabine Schirra (Hg.): Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe. Frankfurt am Main 1983, S. 225 – 242; weniger diskursanalytisch als vielmehr systemtheoretisch fundiert argumentiert Jürgen Fohrmann: „Wir besprächen uns in bequemen Stunden. . . “. Zum Goethe-Schiller Verhältnis [sic] und seiner Rezeption im 19. Jahrhundert, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposium 1990. Stuttgart 1993, S. 570 – 593, hier S. 580 – 589.

Eine Verbindung zweier „Geistesantipoden“

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Vertreter im Feld der Literaturwissenschaft. So plädierte der in der Naziund Nachkriegszeit einflussreiche Germanist Hans Pyritz 1950 gegen die im 19. Jahrhundert wirkungsmächtig etablierte Rede von der ‚Dichterfreundschaft‘ kategorisch dafür, „daß wir das Verhältnis der beiden nicht künstlich glätten, nicht harmonisieren dürfen“, und argumentierte sein Ansinnen unter Berufung auf die über zwanzig Jahre nach Schillers Tod erfolgten Bemerkungen Goethes gegenüber Eckermann, deren Quellenwert zumindest diskutabel ist: Der Bund zwischen Goethe und Schiller ist keine Freundschaft, sondern ein Akt der gegenseitigen Tathilfe, eine Wirkungsgemeinschaft. Ihren Inhalt und auch [. . . ] ihr Bindungsmittel bilden die kulturellen Aufgaben und Ziele, denen sich beide verpflichtet fühlen. Weil sich das Bündnis in dieser Funktion erfüllt und nur in ihr, sind die Xenien sein bezeichnendster Ausdruck geworden. Keinerlei Verschmelzung der beiden Lebens- und Schaffenslinien findet hier statt. Vielmehr begründen zwei Herrscher ein Condominium. Sie schließen sich in einer geschichtlichen Stunde, die ihnen gemeinsames Handeln auferlegt, die Kräfte ihrer getrennten Reiche zu einer strategischen Einheit zusammen. 5

Die unselige ideologisch-politische Diktion aus der Zeit von Pyritz’ akademischer Etablierung als linientreuer NS-Germanist klingt in diesen Worten noch durch. Doch problematisch ist nicht allein ihr Wortlaut. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Michael Böhler hat 1980 moniert, dass dabei die Beziehung zwischen Goethe und Schiller „sozusagen zu einem kultur-imperialistischen Kartell“ umfunktioniert werde. 6 Gegen diese zu einseitige Deutung setzte er in Anlehnung an die mikrosoziologische Theoriebildung insbesondere Georg Simmels sein differenzierteres Modell von „Freundschaft als Mittel sozialer Stabilisierung“ 7 und beschrieb dabei „die innere Strukturierung der Freundschaft“ zwischen Goethe und Schiller nach ihrer „Profilierung zur Zweiergruppe“ als „komplementäre Rollendifferenzierung“. 8 Helmut Brandt seinerseits handelte 1984 bereits im Untertitel seines einschlägigen Aufsatzes, den er mit dem bekannten, aus Brechts Arbeitsjournal stammenden Diktum über Goethes und Schillers „‚hochgesinnte‘ Verschwörung gegen das Publikum“ 9 über5 Hans Pyritz: Der Bund zwischen Goethe und Schiller. Zur Klärung des Problems der sogenannten Weimarer Klassik, in: ders.: Goethe-Studien. Graz / Köln 1962, S. 34 – 51, hier S. 41. 6 Michael Böhler: Die Freundschaft von Schiller und Goethe als literatursoziologisches Paradigma, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 5 (1980), S. 33 – 67, hier S. 36. 7 Ebd., S. 38 – 46. 8 Ebd., S. 54 – 67. 9 Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht u. a. Bd. 27: Journale 2. Berlin / Weimar 1995, S. 260.

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schrieb, wieder wie selbstverständlich vom „Goethe-Schiller-Bündnis“; 10 und Manfred Beetz, der Herausgeber des Goethe-Schiller-Briefwechsels in der Münchner Ausgabe, sprach 1990 unentschieden von Goethes „Zweckbündnis mit dem Freund“, 11 ohne damit aber die Vorstellung einer affektiven Beziehung zwischen den beiden in Abrede zu stellen oder die sozialen Verbindungsformen ‚Bündnis‘ und ‚Freundschaft‘ miteinander zu korrelieren. Ähnlich unentschieden operierte noch Rüdiger Safranski, der 2005 in einem Artikel stärker die ‚Freundschaft‘, in seiner einschlägigen Monographie von 2009 aber auch das ‚Bündnis‘ profilierte, 12 oder Katharina Mommsen, wie schon der Titel ihrer 2010 erschienenen Studie zeigt, der die Begriffe „Liebe“ und „Bündnis“ gleichermaßen aufweist, doch auf durchaus emphatische Weise vor allem erstere in den Blick nimmt. 13 Erst in jüngerer Vergangenheit hat hingegen Ernst Osterkamp gewichtige Argumente gegen die schon im 18. Jahrhundert ubiquitäre Verwendung des Begriffs der ‚Freundschaft‘ vorgebracht und stattdessen für ein Verständnis des „sehr viel nüchterneren“ Wortes ‚Wir‘ als „grammatische[s] Zentrum“ der einzigartigen Kooperation plädiert. 14 Die folgenden Überlegungen versuchen ihrerseits, den bisher unentschiedenen Antagonismus zwischen ‚Bündnis‘ und ‚Freundschaft‘ nicht ein weiteres Mal in der einen oder anderen Weise ‚aufzulösen‘, sondern den Gegensatz als durchaus spannungsreiche Affinität zweier unterschiedlicher, aber in mehrerer Hinsicht kompatibler und komplementärer Akteure im literarischen Feld fruchtbar zu machen. Wie diese Terminologie schon andeutet, stützt sich die Argumentation vor allem auf die Kultursoziologie Pierre Bourdieus. Aus deren Perspektive betrachtet dient die „Entstehung einer Schriftstellergruppe“, als die man selbst die Kooperation 10 Helmut Brandt: Die ‚hochgesinnte‘ Verschwörung gegen das Publikum. Anmerkungen zum Goethe-Schiller-Bündnis, in: Wilfried Barner / Eberhard Lämmert / Norbert Oellers (Hg.): Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Stuttgart 1984, S. 19 – 35, hier S. 19. 11 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. 20 Bde. in 32 Teilbdn. u. einem Registerbd. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit m. Herbert G. Göpfert / Norbert Miller / Gerhard Sauder / Edith Zehm. München 1985 – 1998 (=MA), Bd. 8/2, S. 7. 12 Vgl. Rüdiger Safranski: „daß es, dem Vortreff lichen gegenüber keine Freyheit gibt als die Liebe“. Über die Freundschaft von Schiller und Goethe, in: Goethe-Jahrbuch 122 (2005), S. 24 – 35; ders.: Goethe und Schiller. Geschichte einer Freundschaft. München 2009. 13 Vgl. Katharina Mommsen: Kein Rettungsmittel als die Liebe. Schillers und Goethes Bündnis im Spiegel ihrer Dichtungen. Mit einem Nachwort von Ute Maack. Göttingen 2010, bes. S. 18 f. 14 Ernst Osterkamp: Wir. Was Goethe und Schiller unter Freundschaft verstehen, in: Bernhard Fischer / Norbert Oellers (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Berlin 2011, S. 179 – 204, hier S. 179; vgl. auch die anderen Beiträge in diesem Schwerpunkt-Beiheft zur Zeitschrift für deutsche Philologie.

Eine Verbindung zweier „Geistesantipoden“

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nur zweier Autoren bezeichnen kann, funktional – doch nicht notwendig intentional! – zur Herausbildung eines sozialen „Instruments zur Akkumulation und Konzentrierung symbolischen Kapitals (mit allem, was dazugehört: Namengebung, Ausarbeitung von Manifesten und Programmen, Einführung von Aufnahmeritualen sowie regelmäßige Treffen)“. 15 Abgesehen von Aufnahmeritualen, als deren Platzhalter hier Schillers reichlich zeremonielle brief liche Anbahnung gelten mag, können sämtliche dieser Kriterien der Kooperation zwischen ihm und Goethe zugesprochen werden, ohne dass deshalb die Binnenwahrnehmung als ‚Freundschaft‘ in Frage gestellt erscheint: So fanden neben den gut 1000 getauschten Briefen regelmäßige Treffen statt, Manifeste und Programme wurden – teils gemeinschaftlich – erarbeitet, diskutiert und publiziert, ja sogar eine kollektive Namensgebung der Kleingruppe kann man finden, wenn man berücksichtigt, dass ihre Mitglieder zumindest gegen Ende von Schillers Leben gemeinsam mit Johann Heinrich Meyer als ‚Weimarische Kunstfreunde‘ (W. K. F.) öffentlich in Erscheinung traten 16 und somit das von jedem einzeln erworbene symbolische Kapital kollektiv zu akkumulieren suchten. Die persönliche Freundschaft und das literaturpolitische Bündnis sind – so die zentrale These der vorliegenden Ausführungen – miteinander untrennbar verflochten. Dies ist – soziologisch betrachtet – auch nicht weiter verwunderlich, befördert doch eine ähnliche soziale Interessenlage und habituelle Ausstattung generell das Entstehen freundschaftlicher Gefühle oder gar von Liebe, 17 wobei deren genauere Beschaffenheit im Fall Goethes und Schillers zu bestimmen sein wird. Jedenfalls diente auch diese Verbindung zweier Schriftsteller dazu – neben allen nicht zu vernachlässigenden persönlichen Aspekten –, im literarischen Feld „neue Prinzipien zur Geltung zu bringen und über den eigenen Kreis hinaus durchzusetzen.“ 18 Als gewichtige Einschränkung muss freilich gelten, dass 15 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main 1999, S. 424. 16 Ab 1800 spricht Goethe – mit Blick vor allem auf Schiller und Johann Heinrich Meyer – von „den Kunstfreunden in unsrem Kreise“ (Goethe an Carl Ludwig Kaaz, 30. 05. 1800, in: Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie v. Sachsen. Abt. I bis IV. Weimar 1887 – 1919 (=WA), IV. Abt., Bd. 15, S. 73), und in den Tagund Jahresheften für das folgende Jahr schreibt er erstmals von den „Weimarischen Kunstfreunden“ (MA [wie Anm. 11], S. 14 u. 82), die ab 1804 als „W.K.F.“ auch an die Öffentlichkeit traten. 17 Vgl. Pierre Bourdieu: Von den Regeln zu den Strategien, in: ders.: Rede und Antwort. Frankfurt am Main 1992, S. 79 – 98, hier S. 92; mehr dazu in ders.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982, S. 105 f., bes. aber in ders.: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main 1987, S. 111 – 114 u. 285 – 287. 18 Eybl / Fulda / Süßmann: Bündnisse (wie Anm. 2), S. 24.

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im kulturellen Bereich Bündnisse meist nur mehr oder weniger informelle Institutionen sind und nicht – wie schon von Adelung insinuiert – auf einer vertraglichen Bindung oder anderen Rechtsgrundlagen beruhen, weshalb sie auch recht abrupt beendet werden können. Doch selbst hier sind sie „grundsätzlich prospektiv angelegt“ und auf die Zukunft ausgerichtet, 19 die im gegenwärtigen Fall sogar weit über die Lebensdaten der Beteiligten hinausreicht. Das Goethe-Schiller-Bündnis wurde – wie schon angedeutet – von dem zehn Jahre jüngeren Schiller initiiert, der sich nach einigen folgenlosen früheren Begegnungen am 13. Juni 1794 schriftlich an Goethe wandte. Mit angemessener Ehrerbietung lud er den gesellschaftlich und literarisch weitaus besser etablierten Dichter zur Mitarbeit an seiner Zeitschriftengründung Die Horen ein, vermied aber zunächst peinlich jede persönliche Annäherung. Gerrit Brüning hat diesen knappen Brief minutiös analysiert; ich verweise deshalb ergänzend auf seine 2015 bei Wallstein erschienene Dissertation über den Goethe-Schiller-Briefwechsel. 20 Was aber war der spezifische ‚Zweck‘ der von Schiller erwünschten Zusammenarbeit? Der Beantwortung dieser Frage sollen die folgenden Ausführungen unter anderem dienen. Dazu ist auch ein kursorischer Blick auf die Vorgeschichte hilfreich.

2 Dichterkonkurrenz Wenige Jahre vor dieser erneuten Kontaktaufnahme, die eine über zehnjährige, literarisch erfolg- und kulturgeschichtlich folgenreiche Kooperation einleitete, hat Schiller sich in den sehr persönlichen Briefen an seinen Freund Christian Gottfried Körner noch äußerst kritisch über den zukünftigen Partner geäußert; so etwa im berühmt-berüchtigten Schreiben vom 2. Februar 1789, in dem es heißt: Oefters um Goethe zu sein, würde mich unglücklich machen: er hat auch gegen seine nächsten Freunde kein Moment der Ergießung, er ist an nichts zu fassen; ich glaube in der That, er ist ein Egoist in ungewöhnlichem Grade. Er 19 So ebd., S. 8. Differenzierend betont Daniel Ehrmann: Dichter Bund – loses Netz. Multiple Bündnisse als Unruhestifter im Literatursystem, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 92 (2018), S. 463 – 492, die diskontinuierliche Zukunftsoffenheit, mithin das ungerichtet dynamisierende Potenzial literarischer Allianzen. 20 Vgl. Gerrit Brüning: Ungleiche Gleichgesinnte. Der Beziehung zwischen Goethe und Schiller 1794 – 1798. Göttingen 2015, S. 71 – 83; zur Vorgeschichte und Anbahnung des Verhältnisses aus kultursoziologischer Perspektive vgl. auch Gesa von Essen: „eine Annäherung, die nicht erfolgte“? Die schwierigen Anfänge eines Dichterbundes, in: Goethe-Jahrbuch 122 (2005), S. 43 – 61.

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besitzt das Talent, die Menschen zu fesseln, und durch kleine sowohl als große Attentionen sich verbindlich zu machen; aber sich selbst weiß er immer frei zu behalten. Er macht seine Existenz wohlthätig kund, aber nur wie ein Gott, ohne sich selbst zu geben – dies scheint mir eine consequente und planmäßige Handlungsart, die ganz auf den höchsten Genuß der Eigenliebe calculirt ist. Ein solches Wesen sollten die Menschen nicht um sich herum aufkommen lassen. Mir ist er dadurch verhaßt, ob ich gleich seinen Geist von ganzem Herzen liebe und groß von ihm denke. Ich betrachte ihn wie eine stolze Prude, der man ein Kind machen muß, um sie vor der Welt zu demüthigen [. . . ]. 21

Diese Worte, denen man die persönliche Betroffenheit fast in jeder Silbe anmerkt, zeugen von starken, aber widersprüchlichen Affekten. Das zuletzt zitierte brachiale Gleichnis erinnert mit seinen Konnotationen an einen damals als „Nothzucht“ verharmlosten sexuellen Gewaltakt. 22 Offensichtlich führte die Zuneigung sowie das zunächst unerwiderte Werben des jüngeren Dichters zu großer Enttäuschung. Die daraus resultierende Frustration schlug wiederholt in direkte Verbalaggressionen um, wie auch folgendes Bekenntnis vor Augen führt: „[A]n meinem guten Willen liegt es nicht, wenn ich nicht einmal mit der ganzen Kraft, die ich in mir aufbieten kann, einen Streich auf ihn führe, und in einer Stelle, die ich bei ihm für die tödtlichste halte.“ 23 Eine solche martialische Gewaltmetaphorik begegnet in den frühen Mitteilungen Schillers über Goethe allenthalben und paart sich auf recht eigenwillige Weise mit einer durchaus hellsichtigen Selbstanalyse: Eine ganz sonderbare Mischung von Haß und Liebe ist es, die er in mir erweckt hat, eine Empfindung, die derjenigen nicht ganz unähnlich ist, die Brutus und Cassius gegen Caesar gehabt haben müssen; ich könnte seinen Geist umbringen und ihn wieder von Herzen lieben. Goethe hat auch viel Einfluß darauf, daß ich mein Gedicht gern recht vollendet wünsche. An seinem Urtheile liegt mir überaus viel. Die Götter Griechenlands hat er sehr günstig

21 Schillers Werke. Nationalausgabe. Weimar 1943 ff. (=NA), Bd. 25, S. 191 – 194, hier S. 193. Vgl. auch den Brief an Caroline von Beulwitz vom 05. 02. 1789: „Göthe ist noch gegen keinen Menschen, soviel ich weiß, sehe, und gehört habe, zur Ergießung gekommen – er hat sich durch seinen Geist und tausend Verbindlichkeiten Freunde, Verehrer und Vergötterung erworben, aber sich selbst hat er immer behalten, sich selbst hat er nie gegeben. Ich fürchte er hat sich aus dem höchsten Genuß der Eigenliebe ein Ideal von Glück geschaffen, bey dem er nicht glücklich ist. Dieser Karakter gefällt mir nicht – ich würde mir ihn nicht wünschen, und in der Nähe eines solchen Menschen wäre mir nicht wohl.“ (NA 25, S. 195 – 197, hier S. 196) 22 Vgl. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch (wie Anm. 1), Bd. 3, Sp. 534 f., über „Nothzucht“: „1) Eine jede Gewalt, welche man einem andern anthut und zufüget, auch der Zwang wider dessen Willen [. . . ]. 2) In der engsten und gewöhnlichsten Bedeutung, die mit angewandter Gewalt ohne Willen der andern Person mit ihr begangene Unzucht, gewaltthätiger Beyschlaf “. 23 NA 25, S. 193.

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beurtheilt; nur zu lang hat er sie gefunden, worin er auch nicht unrecht haben mag. Sein Kopf ist reif, und sein Urtheil über mich wenigstens eher gegen mich als für mich parteiisch. 24

Im freundschaftlichen Austausch mit Körner stellt Schiller seinen gekränkten Ehrgeiz offen aus. Er bedient sich in seinen Liebes- und Gewaltphantasien wiederholt auch politisch-militärischer Anklänge: So spielt er auf die seit Shakespeare geradezu mythische Verschwörung gegen bzw. den Tyrannenmord an Cäsar an, entwickelt als Stratege im Literaturkampf eine taktische Diagnose der (vermeintlich) gegnerischen Haltung Goethes und imaginiert schließlich ein veritables Spionagesystem, um dessen ‚wahre‘ An- und Absichten zu erkunden: „Weil mir nun überhaupt nur daran liegt, Wahres von mir zu hören, so ist dies gerade der Mensch unter allen die ich kenne, der mir diesen Dienst thun kann. Ich will ihn auch mit Lauschern umgeben, denn ich selbst werde ihn nie über mich befragen.“ 25 Goethe erscheint hier trotz aller auf ihn projizierten Aggressionen gleichwohl als Garant einer möglichst objektiven Einschätzung des Schiller’schen Potentials als Dichter. Insgesamt handelt es sich bei dieser merkwürdigen Form der Annäherung wohl um eine selbst im formelleren Rahmen des 18. Jahrhunderts nicht ganz übliche Art der Freundschaftsanbahnung, nämlich offenbar um ein literaturstrategisch angelegtes Projekt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch Goethes Reserve gegenüber dem zehn Jahre jüngeren Schiller literaturpolitische Hintergründe hatte, wie seine rückblickende Skizze der Lage im damaligen literarischen Feld aus der autobiographischen Erzählung Glückliches Ereignis (1817) im ersten der Hefte Zur Morphologie nahelegt. Er beklagt darin eine Spätblüte des Sturm und Drang, die ihn nach der Rückkehr aus Italien am falschen Fuß erwischt habe, und bekennt schließlich offen: [I]ch vermied Schillern der, sich in Weimar aufhaltend, in meiner Nachbarschaft wohnte. Die Erscheinung des Don Carlos war nicht geeignet mich ihm näher zu führen, alle Versuche von Personen die ihm und mir gleich nahe standen, lehnte ich ab, und so lebten wir eine Zeitlang nebeneinander fort. [. . . ] An keine Vereinigung war zu denken. [. . . ] Niemand konnte leugnen daß zwischen zwei Geistesantipoden mehr als Ein Erddiameter die Scheidung mache, da sie denn beiderseits als Pole gelten mögen, aber eben deswegen in eins nicht zusammenfallen können. 26

Goethes späterhin topische Rede von den „zwei Geistesantipoden“ macht nicht nur explizit auf die angebliche Polarität ihrer Charaktere aufmerk-

24 Ebd., S. 193 f. 25 Ebd., S. 194. 26 MA 12, S. 87.

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sam, sondern implizit auch auf das soziale und symbolische Gefälle zwischen den konkurrierenden Dichtern: dem längst arrivierten, gut vierzigjährigen Dichterfürsten und dem zehn Jahre jüngeren, ehrgeizigen Prätendenten. Aus dem genauestens wahrgenommenen Missverhältnis der Stellungen und Kräfte zog der stets taktisch denkende Schiller nun offenbar folgende Konsequenz: Wen man in einer Auseinandersetzung nicht besiegen kann, den muss man auf seine Seite ziehen. Zum ‚Bündnis‘ wurde die zunächst private Beziehung der beiden Autoren allerdings erst in dem Moment, in dem sie als aktive literaturpolitische Instanz öffentlich in Erscheinung trat. Das Goethe-Schiller-Bündnis war von Anbeginn auf eine größere, überregionale, ja gleich auf eine nationale Öffentlichkeit ausgerichtet, wie sich schon am Anlass der Kontaktaufnahme zeigt, der Gründung von Schillers Zeitschrift Die Horen. Dass selbst die scheinbar privaten Dokumente dieser Freundschaftsanbahnung aus dem historischen Abstand wie öffentliche Monumente wirken, bestätigt diesen Befund.

3 Schillers Freundschaftsgabe Ein besonders eindringliches Zeugnis dafür, dass selbst bei privatesten Anlässen stets – wie bei einer Staatsangelegenheit – die mögliche Publizität der Beziehung mit berücksichtigt wurde, ist Schillers sogenannter ‚Geburtstagsbrief ‘ vom 23. August 1794. Er nivelliert keineswegs die Spannung zwischen den beiden Dichtern, inszeniert sie jetzt aber effektvoll als Ausdruck der Überwindung einer charakterlichen, gnoseologischen und künstlerischen Polarität – und legt damit publikumswirksam den Grundstein für die spätere Mythologisierung des Dichterbundes. 27 Bezeichnend ist zunächst schon die Anredeform, die zeitlebens bei der distanziert-höflichen Adressierung in dritter Person Plural verbleibt, trotz der etwa von Osterkamp betonten „Intensität der emotionalen, seelischen und intellektuellen Beziehungen, die Goethe und Schiller in den Jahren ihres Briefwechsels miteinander verbanden“. 28 Die ‚Sie‘-Anrede unterscheidet sich auffallend vom Usus zahlreicher anderer, emotional viel weniger aufgeladener Korrespondenzen beider Autoren. Und bezeichnend ist auch Schillers merkwürdiges Ansinnen selbst; aus einem höf lichen Respektabstand und in steter Abgrenzung von sich selbst unternimmt er da nichts Geringeres als eine Gesamtwürdigung von Goethes geistiger Statur und greift sogleich ins Volle:

27 Vgl. Link: Die mythische Konvergenz Goethe-Schiller (wie Anm. 4). 28 Osterkamp: Wir (wie Anm. 14), S. 180.

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Ueber so manches, worüber ich mit mir selbst nicht recht einig werden konnte, hat die Anschauung Ihres Geistes (denn so muß ich den TotalEindruck Ihrer Ideen auf mich nennen) ein unerwartetes Licht in mir angesteckt. Mir fehlte das Objekt, der Körper, zu mehreren speculativischen Ideen, und Sie brachten mich auf die Spur davon. Ihr beobachtender Blick, der so still und rein auf den Dingen ruht, setzt Sie nie in Gefahr, auf den Abweg zu gerathen, in den sowohl die Speculation als die willkührliche und bloß sich selbst gehorchende Einbildungskraft sich so leicht verirrt. In Ihrer richtigen Intuition ligt alles und weit vollständiger, was die Analysis mühsam sucht, und nur weil es als ein Ganzes in Ihnen ligt, ist Ihnen Ihr eigener Reichthum verborgen; denn leider wißen wir nur das, was wir scheiden. Geister Ihrer Art wißen daher selten, wie weit sie gedrungen sind, und wie wenig Ursache sie haben, von der Philosophie zu borgen, die nur von Ihnen lernen kann. Diese kann bloß zergliedern, was ihr gegeben wird, aber das Geben selbst ist nicht die Sache des Analytikers sondern des Genies, welches unter dem dunkeln aber sichern Einfluß reiner Vernunft nach objektiven Gesetzen verbindet. 29

Schiller schreibt Goethe hier eine ‚intuitive‘ Erkenntnisweise der Dinge zu, die Kant als ‚intellektuelle Anschauung‘ einem möglichen „intellectus archetypus“ vorbehalten hat, den er vom üblichen menschlichen, nämlich „diskursiven, der Bilder bedürftigen Verstand[ ] (intellectus ectypus)“ kategorisch abgrenzt: Unser Verstand [. . . ] hat die Eigenschaft, daß er in seinem Erkenntnisse, z. B. der Ursache eines Produkts, vom Analytisch-Allgemeinen (von Begriffen) zum Besondern (der gegebenen empirischen Anschauung) gehen muß [. . . ]. Nun können wir uns aber auch einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom Synthetisch-Allgemeinen (der Anschauung eines Ganzen, als eines solchen), zum Besondern geht, d. i. vom Ganzen zu den Teilen; der also und dessen Vorstellung des Ganzen die Zufälligkeit der Verbindung der Teile nicht in sich enthält [. . . ]. 30

Indem Schiller Goethes Erkenntnisart als vom intellektuellen Erfassen des Ganzen zu dem der Teile fortschreitend charakterisiert, nobilitiert er sie mit Kant als gleichsam göttliches Vermögen, das nur einem Genie zukomme. Goethe hat diese generöse Zuschreibung bereitwillig aufgenommen und sie dann später ausdrücklich für sich reklamiert, wie etwa seine Worte aus dem Aufsatz Glückliches Ereignis zeigen, der aus größerem zeitlichen Abstand ja ebenfalls die Annäherung zwischen Schiller und Goethe beschreibt; so habe er jenem bei ihrer ersten längeren Diskussion nahegelegt: Wolle man der Natur wirklich entsprechen, dann sei es nötig, sie sich „nicht gesondert und vereinzelt vorzunehmen, sondern sie wirkend und 29 NA 27, S. 24 – 27, hier S. 24 f. 30 Immanuel Kant: Werkausgabe. Hg. von Wilhelm Weischedel. 12 Bde. Frankfurt am Main 1974, Bd. 10, S. 361 f.

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lebendig, aus dem Ganzen in die Teile strebend darzustellen“. 31 Bezeichnend ist daran, dass diese Erkenntnisform, deren Vorstellung sich bei Goethe auf Spinozas Begriff der ‚scientia intuitiva‘ zurückführen lässt, 32 für Menschen nach Kant ein Ding der Unmöglichkeit darstellt. 33 Gleichwohl hat Goethe die großzügige Zuschreibung Schillers, die einem prima vista uneigennützigen, also ‚echten‘ Freundschaftsdienst gleichkommt, durch ihre Inanspruchnahme für sich selbst langfristig kanonisiert. 34 Nachdem Schiller also im ersten Teil des ‚Geburtstagsbriefs‘ an Goethe die Unterschiede zwischen dessen Intuition und seiner eigenen Freude an der Spekulation herausgestrichen und nur Goethe die seltene Gabe des Genies zugesprochen hat, versucht er im zweiten Teil nun doch eine Komplementarität zwischen beiden Autoren gleichsam gnoseologisch zu fundieren – ganz im Sinne einer die Antithese aufhebenden geistigen Synthese: Was Sie aber schwerlich wißen können (weil das Genie sich immer selbst das größte Geheimniß ist) ist die schöne Uebereinstimmung Ihres philosophischen Instinktes mit den reinsten Resultaten der speculirenden Vernunft. Beym ersten Anblicke zwar scheint es, als könnte es keine größern Opposita geben, als den speculativen Geist, der von der Einheit, und den intuitiven, der von der Mannichfaltigkeit ausgeht. Sucht aber der erste mit keuschem und treuem Sinn die Erfahrung, und sucht der letzte mit selbstthätiger freier Denkkraft das Gesetz, so kann es gar nicht fehlen, daß nicht beide einander auf halbem Wege begegnen werden. Zwar hat der intuitive Geist nur mit Individuen, und der speculative nur mit Gattungen zu thun. Ist aber der intuitive genialisch und sucht er in dem empirischen den Caracter der Nothwendigkeit

31 MA 12, S. 88. 32 Vgl. Norbert Christian Wolf: Der kalte Blick – Goethes und Flauberts ästhetischer Spinozismus, in: Martin Bollacher / Thomas Kisser / Manfred Walther (Hg.): Ein neuer Blick auf die Welt. Spinoza in Literatur, Kunst und Ästhetik. Würzburg 2010, S. 29 – 56, hier S. 39 f.; forschungsgeschichtlich maßgeblich: Hans-Jürgen Schings: Natalie und die Lehre des †††. Zur Rezeption Spinozas in Wilhelm Meisters Lehrjahren, in: ders.: Zustimmung zur Welt. Goethe-Studien. Würzburg 2011, S. 155 – 208, bes. S. 195 f.; zum Kontext ders.: Philosoph des Klassischen. Spuren Spinozas in Goethes Werk, in: ebd., S. 297 – 311. 33 Vgl. seine Unterscheidung zwischen dem intellectus ectypus (menschliche Vernunft) und einem zur ‚intellektuellen Anschauung‘ fähigen intellectus archetypus (göttliche Vernunft) in der Kritik der reinen Vernunft (Kant: Werkausgabe [wie Anm. 30], Bd. 3, S. 93 u. 95) sowie in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (ebd., Bd. 5, S. 230 f.). 34 Vgl. etwa den Kurzessay Anschauende Urteilskraft (MA 12, S. 98 f.), der im zweiten Heft des ersten Bandes Zur Morphologie (1820) erschien. Das prominenteste Beispiel für diese Kanonisierung findet sich in Heines ‚Reisebild‘ Die Nordsee, wo die Zuschreibung freilich von Goethe, der ersten Zentralfigur des Textes, auf die zweite zentrale Bezugsfigur Napoleon übertragen erscheint; vgl. Heinrich Heine: Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, 6 Bde., Bd. 2, München / Wien 31995, S. 219 – 221 u. 234 f.

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auf, so wird er zwar immer Individuen aber mit dem Karakter der Gattung erzeugen; und ist der speculative Geist genialisch, und verliert er, indem er sich darüber erhebt, die Erfahrung nicht, so wird er zwar immer nur Gattungen aber mit der Möglichkeit des Lebens und mit gegründeter Beziehung auf wirkliche Objekte erzeugen. 35

Die Aufhebung dieser und weiterer Gegensatzpaare hat Schiller dann wenig später in seiner dichtungstypologischen Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96) wirkungsmächtig einer großen Öffentlichkeit vorgestellt. Der Zweck des ‚Geburtstagsbriefes‘ bestand aber vorerst – neben der eigenen Selbstversicherung als Dichter – vor allem in der dauerhaften Gewinnung Goethes als Bündnispartner.

4 Affinität und Publizität Als dies erreicht und mithin die eigene Position durch den denkbar stärksten Partner konsolidiert war, konnte Schiller in einem nächsten Schritt das Publikum in den Blick nehmen und an die Gunst der damals entstehenden öffentlichen Meinung appellieren. Er veröffentlichte am 10. Dezember 1794 im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung eine ausführliche Ankündigung der Horen, die mit einer feierlichen Verlautbarung anhebt: Zu einer Zeit, wo das nahe Geräusch des Krieges das Vaterland ängstiget, wo der Kampf politischer Meinungen und Interessen diesen Krieg beinahe in jedem Zirkel erneuert und nur allzu oft Musen und Grazien daraus verscheucht, wo weder in den Gesprächen noch in den Schriften des Tages vor diesem allverfolgenden Dämon der Staatskritik Rettung ist, möchte es ebenso gewagt als verdienstlich sein, den so sehr zerstreuten Leser zu einer Unterhaltung ganz anderer Art einzuladen. In der Tat scheinen die Zeitumstände einer Schrift wenig Glück zu versprechen, die sich über das Lieblingsthema des Tages ein strenges Stillschweigen auferlegen und ihren Ruhm darin suchen wird, durch etwas anderes zu gefallen, als wodurch jetzt alles gefällt. Aber je mehr das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüter in Spannung setzt, einengt und unterjocht, desto dringender wird das Bedürfnis, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluss der Zeiten erhaben ist, sie wieder in Freiheit zu setzen und die politische geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen. 36

Mit ihrer Stellungnahme gegen den „unreinen Parteigeist“ der aufgeheizten Jahre nach der Französischen Revolution präsentieren sich Die Horen

35 NA 27, S. 26 f. 36 NA 22, S. 106 – 109, hier S. 106.

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als längst fälliges Forum zur Diskussion von Fragen, die einen unmittelbaren Zeitbezug transzendieren. Schiller zielt von Beginn an auf die Schaffung eines autonomen publizistischen Freiraums für Poesie und theoretische Reflexionen jenseits direkter Zweckgebundenheit und politischer Instrumentalisierung, wie seine Ankündigung betont: Dies ist der Gesichtspunkt, aus welchem die Verfasser dieser Zeitschrift dieselbe betrachtet wissen möchten. Einer heitern und leidenschaftfreien Unterhaltung soll sie gewidmet sein, und dem Geist und Herzen des Lesers, den der Anblick der Zeitbegebenheiten bald entrüstet, bald niederschlägt, eine fröhliche Zerstreuung gewähren. 37

Die der Institution ‚Bündnis‘ generell zugeschriebene „Rationalität der partikularen Interessenverfolgung und des Kalküls“ präsentiert sich hier öffentlich als Inbegriff einer „gemeinwohlorientierten Wertrationalität“, 38 der sich im Einklang mit „patriotischem Vergnügen“ 39 weiß. Man kann dieses sicherlich aufrichtig gemeinte Selbstverständnis des angehenden Horen-Herausgebers Schiller als Versuch werten, anstelle der damals traditionellen, „ständisch-korporativ-konfessionellen Gemeinschaftsverpflichtungen“ vormoderner Dichter nunmehr auch symbolisch „über das persönliche Vorteilsstreben hinaus ein neues soziales Ganzes“ auf einem qualitativ neuen, humanistischen Universalismus zu begründen. 40 Eine solche vielversprechende Fundierung auf der Basis prätendierter Uneigennützigkeit und Allgemeingültigkeit impliziert aber keineswegs, dass nicht auch persönlich-affektive Motive hinter dem vorderhand mit einem öffentlichen Interesse legitimierten Bündnis standen, wie sich schon bei der Anbahnung des Dichterbundes abgezeichnet hatte.

5 Bündnissysteme und Schlachtpläne Mit der Zeitschriftengründung verband Schiller – wie übrigens auch Goethe – gewaltige Hoffnungen; so schrieb er seinem neuen Partner am 11. März 1795: „Wenn wir uns streng und mannigfaltig erhalten, so stehen wir bald oben an, denn alle übrigen Journale tragen mehr Ballast als Waare“. 41 Diese optimistische Einschätzung der Attraktivität ihrer Schriften

37 38 39 40 41

NA 22, S. 106. Eybl / Fulda / Süßmann: Bündnisse (wie Anm. 2), S. 19. NA 22, S. 108. Eybl / Fulda / Süßmann: Bündnisse (wie Anm. 2), S. 24. NA 35, S. 167 f., hier S. 167. Zuversichtlich fährt er fort: „und da uns daran gelegen ist unsre Arbeit zu weiterer eigner Ausbildung zu benutzen, so kann nur gutes dadurch entstehen und gewirkt werden“.

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beim Publikum hatte Schiller schon vorweggenommen, als er dem Verleger Cotta am 10. Juli 1794 von seinen Absichten und Erwartungen berichtete; er präsentierte dabei eine scheinbar so unvermeidliche wie aus seiner Perspektive wünschenswerte Gewinn- und Verlustrechnung jener von der neuen Allianz verursachten Nebenkosten und Kollateralschäden unter den bisherigen Bündnispartnern, die er recht gönnerhaft betrachtet: Ich werde Wieland proponieren, den deutschen Merkur eingehen zu laßen, aber ich erwarte nicht sehr viel davon. Soviel als der Merkur ihm einträgt, kann er bey uns nicht verdienen, ohne sich weit mehr anzustrengen, als er bey dem Merkur nöthig hat. Für den Merkur ist jeder schlechte Aufsatz gut genug, und für uns müßte er ganz andere Arbeit liefern, die ihm jetzt vielleicht nicht mehr möglich ist. Er ist auch sehr furchtsam, in seinen alten Tagen noch einen Wettkampf mit jungen und rüstigen Autoren zu wagen, und ich weiß es von einer andern Gelegenheit her, daß er sich vor der Vergleichung mit andern fürchtet, der er doch in den Horen ausgesetzt seyn würde. Alsdann rechne ich auch darauf, daß der Merkur nach dem ersten Jahr der Horen von selbst fallen soll, so wie alle Journale, die das Unglück haben, von ähnlichem Innhalt mit den Horen zu seyn. 42

Tatsächlich wurde der Neue Teutsche Merkur bis 1810 verlegt, während Die Horen Ende 1797 mangels Absatz eingestellt werden mussten, und auch Wieland scheint damals nicht ganz so altersschwach gewesen zu sein, wie Schiller herablassend suggeriert. Aus seinen viel zu optimistischen und nicht unbedingt sympathischen Worten spricht wohl weniger eine „idealistische Ahnungslosigkeit“, wie Friedrich Sengle vermutet hat, 43 sondern eher die geschickte Rhetorik eines versierten Taktikers. Der Verleger Cotta erhielt von seinen neu akquirierten, ehrgeizigen Autoren außer selbstbewussten Absichtserklärungen und hochambitionierten Vorhersagen ja keinerlei ökonomisch belastbare Sicherheiten. Als der prophezeite Siegeszug der Zeitschrift dann auf ernüchternde Weise ausblieb, setzte Schiller auf eine konträre Rhetorik und startete zunächst in der internen Kommunikation einen regelrechten Feldzug gegen das Publikum – etwa im Brief an Goethe vom 15. Mai 1795: [E]s ist jetzt platterdings unmöglich mit irgend einer Schrift, sie mag noch so gut oder noch so schlecht seyn, in Deutschland ein allgemeines Glück zu machen. Das Publikum hat nicht mehr die Einheit des Kinder-Geschmacks, und noch weniger die Einheit einer vollendeten Bildung. Es ist in der Mitte

42 NA 27, S. 21 f., hier S. 21. 43 Friedrich Sengle: Die ‚Xenien‘ Goethes und Schillers als Dokument eines Generationenkampfes, in: Barner / Lämmert / Oellers (Hg.): Unser Commercium (wie Anm. 10), S. 55 – 77, hier S. 63.

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zwischen beyden, und das ist für schlechte Autoren eine herrliche Zeit, aber für solche, die nicht bloß Geld verdienen wollen, desto schlechter. 44

Schiller ist sich der Überforderung einer allgemeinen Leserschaft durch seine Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, mit denen das erste Heft der Horen einsetzte, freilich mehr als bewusst; dies zeigt bereits sein vorauseilendes Eingeständnis gegenüber Goethe vom 20. Oktober 1794: Mein Debüt in den Horen ist zum wenigsten keine Captatio benevolentiae bey dem Publikum. Ich konnte es aber nicht schonender behandeln, und ich bin gewiß, daß Sie in diesem Stücke meiner Meinung sind. Ich wünschte, Sie wären es auch in den übrigen, denn ich muß gestehen, daß meine wahre ernstliche Meinung in diesen Briefen spricht. 45

Die zuletzt zitierten Sätze zeugen wiederum vom Wunsch nach einem Gleichgesinnten in aestheticis, der sich auch als Ratgeber und Bündnispartner in literaturpolitischen Auseinandersetzungen eignet, keineswegs nach einem Beichtvater oder Seelentröster – eine Funktion, die ja schon Körner erfüllte. Das eigentliche Ziel der hier von Schiller ins Auge gefassten gemeinschaftlichen Angriffe sind weniger die zeitgenössischen Leserinnen und Leser generell, sondern „die öffentlichen Sprecher“ des breiten Publikums – also konkret die eigenen Konkurrenten –, wie aus dem Brief an Goethe vom 15. Mai 1795 hervorgeht. 46 Mit Blick auf seine langjährigen Erfahrungen mit dem Literaturbetrieb antwortet Goethe bereits am folgenden Tag zunächst beschwichtigend: Lassen Sie uns nur unsern Gang unverrückt fortgehen; wir wissen was wir geben können und wen wir vor uns haben. Ich kenne das Possenspiel des deutschen Autorwesens schon zwanzig Jahre in- und auswendig; es muß nur fortgespielt werden, weiter ist dabey nichts zu sagen. 47

Doch Schiller sah sich in seiner ernüchternden Diagnose immer mehr bestätigt, wie anderthalb Jahre später aus seinem Schreiben an Goethe vom 18. November 1796 deutlich wird: Es ist zwar sehr gut, und für mich besonders, jetzt etwas Bedeutendes und Ernsthaftes ins Publicum zu bringen, aber wenn ich bedenke, daß das Gröseste und Höchste, selbst für sentimentalische Leser von Ihnen geleistet, noch ganz

44 NA 27, S. 183 f., hier S. 184. 45 NA 27, S. 67 f., hier S. 67. 46 Im Kontext: „Ich bin jetzt sehr neugierig zu hören, wie von Ihrem Meister wird geurtheilt werden, was nehmlich die öffentlichen Sprecher sagen, denn daß das Publikum darüber getheilt ist, versteht sich ja von selbst.“ (NA 27, S. 183 f.) 47 WA IV, 10, S. 258 f., hier S. 258.

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neuerdings im Meister und selbst im Almanach von Ihnen geleistet worden ist, ohne daß das Publicum seiner Empfindlichkeit über kleine Angriffe Herr werden könnte, so hoffe ich in der That kaum, es jemals, durch etwas in meiner Art Gutes und Vollendetes, zu einem beßern Willen zu bringen. Ihnen wird man Ihre Wahrheit, Ihre tiefe Natur nie verzeyhen, und mir, wenn ich hier von mir reden darf, wird der starke Gegensatz meiner Natur gegen die Zeit und gegen die Masse, das Publicum nie zum Freund machen können. 48

Der jüngere und entschieden weniger etablierte Dichter nahm trotz der Parallelisierung seiner Situation mit jener Goethes einen gewichtigen Statusunterschied wahr, ja eine bleibende soziale und symbolische Asymmetrie, wenn er feststellte: „Es ist nur gut, daß dieß auch so gar nothwendig nicht ist, um mich in Thätigkeit zu setzen und zu erhalten. Ihnen kann es vollends gleichgültig seyn“. 49 Das genannte Gefälle zwischen den beiden Autoren blieb letztlich genauso wie die ihm symbolisch entsprechende distanzierte Höf lichkeitsform der Anrede zeitlebens erhalten, was wiederum darauf schließen lässt, dass nicht die Stiftung persönlicher Intimität das ausschlaggebende Moment und der treibende Motor dieser Verbindung war, sondern ihr künstlerischer Mehrwert im Sinne einer „(Arbeits-)Freundschaft“. 50

5 Ästhetische Feldzüge Bestätigt wird dieser Eindruck durch die in zahlreichen Briefen vorherrschende kriegerische Metaphorik, die sich etwa an Schillers Erläuterungen zu seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung aus dem Brief an Goethe vom 20. Oktober 1794 veranschaulichen lässt: So verschieden die Werkzeuge auch sind, mit denen Sie und ich die Welt anfaßen, und so verschieden die offensive und devensive Waffen, die wir führen, so glaube ich doch, daß wir auf Einen Hauptpunkt zielen. Sie werden in diesen Briefen Ihr Portrait finden, worunter ich gern Ihren Nahmen geschrieben hätte, wenn ich es nicht haßte, dem Gefühl denkender Leser vorzugreifen. Keiner, deßen Urtheil für Sie Werth haben kann, wird es verkennen, denn ich weiß, daß ich es gut gefaßt und treffend genug gezeichnet habe. 51

48 NA 29, S. 8 f., hier S. 8. 49 NA 29, S. 8; Schiller fährt unmittelbar fort: „und jetzt besonders, da trotz alles Geschwätzes, der Geschmack der Beßern ganz offenbar eine solche Richtung nimmt, die zu der vollkommensten Anerkennung Ihres Verdienstes führen muß.“ 50 So Fohrmann: Zum Goethe-Schiller Verhältnis (wie Anm. 4), S. 573 u. 576. 51 NA 27, S. 67 f., hier S. 67.

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Zunächst einmal geht es Schiller um die Schließung der eigenen Reihen gegenüber dem anspruchsvollen Publikum, das er gleichsam als zu besiegenden und sodann zu vereinnahmenden Gegner wahrnimmt. In der Folge wird die militärische Metaphorik weiter ausgebaut und mit einer veritablen Strategie untermauert, etwa in seinem berühmten Schreiben an Goethe vom 1. November 1795: Wir leben jetzt recht in Zeiten der Fehde. Es ist eine wahre Ecclesia militans – die Horen meyne ich. Ausser den Völkern, die Herr Jacob in Halle commandiert und die Herr Manso in der Bibliothek der Schönen Wissenschaften hat ausrücken lassen, und außer Wolfs schwerer Cavallerie haben wir auch nächstens vom Berliner Nicolai einen derben Angriff zu erwarten. 52

Schillers emphatische Selbstwahrnehmung mit Goethe als „wahre Ecclesia militans“, mithin als einzige legitim ‚in der Welt kämpfende Kirche‘, die gleichsam einen ‚heiligen Krieg‘ zu führen habe, belegt die Höhe des Streitwerts sowie des eigenen Kunstanspruchs. Dieser versteht sich keineswegs als hegemonial, sondern als in „Opposition“ 53 gegen die im literarischen Feld herrschende Doxa stehend, und weiß sich überall von feindlichen Kräften umgeben. Kaum gemäßigter, nur ein wenig zuversichtlicher äußerte sich nun auch Goethe in einem Brief an Schiller vom 21. November 1795: Haben Sie schon die abscheuliche Vorrede Stolbergs zu seinen platonischen Gesprächen gelesen? Die Blößen, die er darinne giebt sind so abgeschmackt und unleidlich, daß ich große Lust habe drein zu fahren und ihn zu züchtigen. Es ist sehr leicht die unsinnige Unbilligkeit dieses bornirten Volks anschaulich zu machen, man hat dabey das vernünftige Publicum auf seiner Seite und es giebt eine Art Kriegserklärung gegen die Halbheit, die wir nun in allen Fächern beunruhigen müssen. Durch die geheime Fehde des Verschweigens, Verruckens und Verdruckens, die sie gegen uns führt, hat sie lange verdient daß ihrer nun auch in Ehren und zwar in der Continuation gedacht werde. 54

Der zentrale Streitwert solcher harschen Diagnosen und der daraus resultierenden strategischen Vorkehrungen ist die möglichst dauerhafte Durchsetzung einer Definition ‚legitimer‘ Literatur, die auf der Höhe der Zeit zu 52 NA 28, S. 93 f., hier S. 93; im unmittelbaren Anschluss erläutert Schiller seine Vorkehrungen gegen Nicolai, dessen publizistische Attacken ihm bisher bloß vom Hörensagen bekannt sind: „Im Xten Theil seiner Reisen soll er fast von nichts als von den Horen handeln und über die Anwendungen Kantischer Philosophie herfallen, wobey er alles unbesehen, das Gute wie das Horrible, was diese Philosophie ausgeheckt, in einen Topf werfen soll.“ 53 Vgl. den Brief Goethes an Johann Heinrich Meyer, 30. 10. 1796 (WA IV, 11, S. 246 – 250, hier S. 248 f.); dazu T[erence] J[ames] Reed: Ecclesia Militans. Weimarer Klassik als Opposition, in: Barner / Lämmert / Oellers (Hg.): Unser Commercium (wie Anm. 10), S. 37 – 53. 54 WA IV, 10, S. 333 – 337, hier S. 334.

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sein beanspruchen kann – ganz im Sinn der kultursoziologischen Regel Bourdieus: Im Mittelpunkt literarischer [. . . ] Konkurrenzkämpfe steht immer auch das Monopol literarischer Legitimität, das heißt unter anderem das Monopol darauf, aus eigener Machtvollkommenheit festzulegen, wer sich Schriftsteller [. . . ] nennen darf, oder sogar darauf, wer Schriftsteller ist und aus eigener Machtvollkommenheit darüber befinden kann, wer Schriftsteller ist; oder wenn man so will, das Monopol auf die Konsekration von Produzenten oder Produkten. Genauer gesagt: Der Kampf zwischen den Inhabern der polar einander entgegengesetzten Positionen des Feldes der Kulturproduktion dreht sich um das Monopol auf die Durchsetzung der legitimen Definition des Schriftstellers [. . . ]. 55

Genau dieser „am Gegensatz zwischen Autonomie und Heteronomie“ 56 ausgerichtete Kampf um die Durchsetzung einer ‚legitimen Definition‘ von Autorschaft sowie von Literatur generell wurde in Deutschland von niemand anderem als Schiller und Goethe inauguriert. Und wer die von ihnen als eherne Gesetze aufgestellten Kriterien ‚wahrer‘ Dichtung aus Unvermögen oder Absicht nicht erfüllte, dem drohte ihr strenges Verdammungsurteil; so äußerte sich Schiller gegenüber Goethe am 18. Juni 1796 vernichtend über die 8. Sammlung (1796) von Herders Briefen zu Beförderung der Humanität – nicht von ungefähr einem weitaus älteren Kooperationspartner und zudem auch Duzfreund Goethes: An seinen Confessionen über die deutsche Litteratur verdrießt mich, noch ausser der Kälte für das Gute, auch die sonderbare Art von Toleranz gegen das elende; es kostet ihm eben so wenig mit Achtung von einem Nicolai, Eschenburg u. a. zu reden, als von dem bedeutendsten, und auf eine seltsame Art wirft er die Stolberge und mich, Kosegarten und wie viel andere noch in Einen Brey zusammen. Seine Verehrung gegen Kleist Gerstenberg und Geßner – und überhaupt gegen alles verstorbene und vermoderte hält gleichen Schritt mit seiner Kälte gegen das Lebendige. 57

Dem stimmt Goethe am 20. Juni 1796 in einem Brief an seinen Kunstfreund Johann Heinrich Meyer uneingeschränkt zu, ja er geißelt die 8. Sammlung der Humanitätsbriefe sogar als „böses Beyspiel“ dafür, „was Willkürlichkeit im Urtheil, wenn man sie sich einmal erlaubt, bey dem größten Verstande für traurige Folgen nach sich zieht.“ 58 In seiner Totalvernichtung der neuen Schrift des alten Freundes, der ihm gegenüber

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Bourdieu: Die Regeln der Kunst (wie Anm. 15), S. 354. Ebd. NA 28, S. 227 f., hier S. 228. WA IV, 11, S. 99 – 104, hier S. 100 f.

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freilich selbst nicht immer zimperlich war, übernimmt Goethe sogar direkte Zitate aus der Polemik des jüngeren Bündnispartners: Eine Parentation kann nicht lahmer seyn als das, was über deutsche Litteratur in gedachter Schrift gesagt wird. Eine unglaubliche Duldung gegen das Mittelmäßige, eine rednerische Vermischung des Guten und des Unbedeutenden, eine Verehrung des Abgestorbenen und Vermoderten, eine Gleichgültigkeit gegen das Lebendige und Strebende, daß man den Zustand des Verfassers recht bedauern muß, aus dem eine so traurige Composition entspringen konnte. Und so schnurrt auch wieder durch das Ganze die alte, halbwahre Philisterleyer: daß die Künste das Sittengesetz anerkennen und sich ihm unterordnen sollen. 59

Deutlich wird hier der radikale Ausschließlichkeitsanspruch des in die gesellschaftliche Ausdifferenzierung weisenden ästhetischen Autonomiepostulats – ein selbstgesteckter Anspruch, der mit ebenfalls brief lich intensiv diskutierten, höchst ambitionierten künstlerischen, literaturtheoretischen und literaturpolitischen Projekten einherging, 60 aber keinen Widerspruch duldete und auch alten Freunden gegenüber nicht zu Konzilianz bereit war. Dabei scheint es unerheblich, wessen Position aus dem literaturgeschichtlichen Rückblick als „zutreffend“ erachtet wird und welche nicht. 61

6 Autonomie und Kritik Zumindest damals konnte dem gewaltigen Anspruch im Sinne des Autonomiepostulats kaum ein realer Ort dieser Welt – geschweige denn eine der

59 WA IV, 11, S. 101. Goethe argumentiert in der unmittelbaren Folge: „Das erste haben Sie [sic] immer gethan und müssen es thun, weil ihre Gesetze so gut als das Sittengesetz aus der Vernunft entspringen, thäten sie aber das zweyte, so wären sie verloren und es wäre besser daß man ihnen gleich einen Mühlstein an den Hals hinge und sie ersäufte, als daß man sie nach und nach ins nützlich-platte absterben ließe.“ 60 Vgl. Wilfried Barner: „Die Verschiedenheit unserer Naturen“. Zu Goethes und Schillers Briefwechsel über ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, in: Barner / Lämmert / Oellers (Hg.): Unser Commercium (wie Anm. 10), S. 379 – 404; Günter Saße: „Gerade seine Unvollkommenheit hat mir am meisten Mühe gemacht“. Schillers Briefwechsel mit Goethe über „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, in: Goethe-Jahrbuch 122 (2005), S. 76 – 91; Norbert Oellers: Goethes Anteil an Schillers „Wallenstein“, in: ebd., S. 107 – 116; Walter Hinderer: Kreative Gegensätze. Zum ästhetischen Diskurs zwischen Goethe und Schiller, in: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe (wie Anm. 14), S. 69 – 83; Volker C. Dörr: Über epische und dramatische Dichtung von Goethe und Schiller, in: ebd., S. 121 – 136; Rolf-Peter Janz: Kontroversen um den Dilettantismus, in: ebd., S. 137 – 148; Lesley Sharpe: Goethes und Schillers Theaterpartnerschaft. Ästhetik und Praxis im Spiegel ihres Briefwechsels, in: ebd., S. 149 – 161; besonders jetzt aber Brüning: Ungleiche Gleichgesinnte (wie Anm. 20), S. 111 – 313. 61 Vgl. dagegen Brandt: Die ‚hochgesinnte‘ Verschwörung gegen das Publikum (wie Anm. 10), S. 29.

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wenigen und kleinen deutschen Großstädte – genügen, wie Schiller seinem Partner am 17. August 1797 nachdrücklich auseinanderlegte: Die Vorstellung, welche Sie mir von Frankfurt und großen Städten überhaupt geben, ist nicht tröstlich, weder für den Poeten, noch für den Philosophen, aber ihre Wahrheit leuchtet ein, und da es einmal ein festgesetzter Punkt ist, daß man nur für sich selber philosophiert und dichtet, so ist auch nichts dagegen zu sagen; im Gegentheil, es bestärkt einen auf dem eingeschlagenen guten Weg, und schneidet jede Versuchung ab, die Poesie zu etwas äuserm zu gebrauchen. 62

Die überkommene Form ‚alteuropäischer‘ geselliger Reflexion und Dichtungspraxis erschien in der modernen Welt unwiederbringlich verloren. Stattdessen gerann die geistige Tätigkeit immer mehr zu einer einsamen Übung isolierter Genies, die um sich selber kreisten und zu Lebzeiten nicht mehr a priori mit irgendeiner Form des Zuspruchs seitens der unspezialisierten Bevölkerung rechnen durften. Im Gegenteil: Die wachsende Entfernung zwischen Künstlern und ihrem Laienpublikum führte insgesamt zu der völlig neuartigen, ja zukunftsweisenden Vorstellung notwendiger Irritation der Rezipienten durch die Kunst: Soviel ist auch mir bei meinen wenigen Erfahrungen klar geworden, daß man den Leuten, im Ganzen genommen, durch die Poesie nicht wohl, hingegen recht übel machen kann, und mir däucht, wo das eine nicht zu erreichen ist, da muß man das andere einschlagen. Man muß sie incommodieren, ihnen ihre Behaglichkeit verderben, sie in Unruhe und in Erstaunen setzen. Eins von beiden, entweder als ein Genius oder als ein Gespenst muß die Poesie ihnen gegenüber stehen. Dadurch allein lernen sie an die Existenz einer Poesie glauben und bekommen Respect vor den Poeten. 63

Die hier postulierte Erschütterung eingeschliffener Wahrnehmungskonventionen ist mittlerweile zu einem allgemein anerkannten Pensum künstlerischer und literarischer Praxis in der Moderne geworden; als ästhetische ‚Irritationsnorm‘ hat sie sich diskurshistorisch durchgesetzt. Damals aber galt sie vielen Leserinnen und Lesern noch als unerhörte Vorstellung und Provokation. In seinem bereits erwähnten Aufsatz zum Goethe-Schiller-Bündnis formuliert Helmut Brandt folgendes Fazit zur enttäuschenden Aufnahme der Horen durch das Lesepublikum: Das von Cotta so glanzvoll ausgestattete Organ, in dem die beiden damals bedeutendsten Schriftsteller Deutschlands ihr neues gemeinsames Literaturkonzept der Öffentlichkeit unterbreiteten, wandte sich mit seiner eigentlichen

62 NA 29, S. 117 – 120, hier S. 117. 63 NA 29, S. 117.

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Botschaft an ein Publikum, das noch nicht da war, und gegen ein Publikum, das da war. 64

Genau dieser soziologisch neuartige Sachverhalt entspricht jedoch der von Bourdieu nahegelegten Tendenz, wonach mit der wachsenden Autonomisierung des literarischen Feldes die avancierte Kunstproduktion zunehmend nicht mehr nachfrage-, sondern angebotsorientiert funktioniere. 65 Daraus resultiert dann aber auch die Notwendigkeit einer neuartigen Literatur- und Kunstkritik; angesichts der skizzierten Entwicklung steht eine adäquate Kritik nämlich plötzlich vor der Herausforderung, sich gewissermaßen dem Werk unterzuordnen, [. . . ] mit einer gänzlich neuen Intention schöpferischer Empfänglichkeit, in dem Bestreben, die tiefste Intention [. . . ] zutage zu fördern. Diese radikal neue Definition des Kritikers (der bislang auf die allenfalls kritische Paraphrase des [. . . ] Informationsgehaltes [. . . ] beschränkt war), fügt sich ganz logisch in den Institutionalisierungsprozeß der Anomie ein, der mit der Bildung eines Feldes einhergeht, in dem jeder künstlerisch Schaffende ermächtigt ist, seinen eigenen nomos in einem Werk zu stiften, welches das (völlig beispiellose) Prinzip seiner Wahrnehmung in sich selbst trägt. 66

Genau der Durchsetzung eines solchen auratischen Werkbegriffs, der exemplarische, allgemein erlernbare Verfertigungsregeln kategorisch ausschließt, diente die gemeinsame Literaturpolitik Schillers und Goethes. Sie sahen sich berechtigt, all jene Konkurrenten massiv zu attackieren, die ihrer ambitionierten Strategie und ihrem hohen Qualitätsanspruch im Weg standen. 67 Dafür entwickelten sie um Weihnachten 1795 das berüchtigte Xenien-Projekt, das es ihnen erlaubte, zeitgemäße persönliche Invektiven antikisierend verbrämt in polemische Distichen zu verpacken. 68 Kaum erschienen in Schillers Musenalmanach auf das Jahr 1797, lösten die Xenien einen gewaltigen Skandal aus, der in einen regelrechten Literaturkrieg mündete und zur definitiven Klärung der Fronten beitrug. 69 Erstmals di64 65 66 67

Brandt: Die ‚hochgesinnte‘ Verschwörung gegen das Publikum (wie Anm. 10), S. 25. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (wie Anm. 15), S. 344 – 347 u. 395 – 400. Ebd., S. 114. Vgl. die Fortsetzung des oben zitierten Briefes Schillers an Goethe vom 01. 11. 1795: „Es läßt sich wohl noch davon reden, ob man überal nur auf diese Plattituden antworten soll. Ich möchte noch lieber etwas ausdenken, wie man seine Gleichgültigkeit dagegen recht anschaulich zu erkennen geben kann. Nicolain sollten wir aber doch von nun an, in Text und Noten, und wo Gelegenheit sich zeigt mit einer recht insignen Geringschätzung behandeln.“ (NA 28, S. 93 f.) 68 Vgl. dazu neben dem oben bereits zitierten Aufsatz von Sengle: Die ‚Xenien‘ Goethes und Schillers als Dokument eines Generationenkampfes (wie Anm. 43) etwa Franz Schwarzbauer: Die Xenien. Studien zur Vorgeschichte der Weimarer Klassik. Stuttgart / Weimar 1993. 69 Vgl. Frieder von Ammon: Ungastliche Gaben. Die „Xenien“ Goethes und Schillers und ihre literarische Rezeption von 1796 bis in die Gegenwart. Tübingen 2005.

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stinguierten sich die Weimarer Dichter öffentlich und in bisher ungekannter Schärfe von den maßgeblichen Autoren der deutschen Spätaufklärung, die sich häufig für die Französische Revolution begeistert hatten. Auch hier scheint aber der „Gegensatz zwischen zwei Schriftstellerkategorien [. . . ] den eigentlich politischen Antagonismen zugrunde“ zu liegen, „und nicht umgekehrt“, wie Bourdieu in anderem Kontext vorführt. 70 Die von Schiller mit den Horen gemachten Erfahrungen blieben Goethe nicht erspart; sie wiederholten sich wenige Jahre später im ebenfalls ökonomisch bedingten Scheitern der klassizistischen Kunstzeitschrift Propyläen – seiner ersten eigenständigen Publikation in Cottas Verlag – nach nur drei Jahrgängen. In einem Brief an ihn vom 25. Juni 1799 reagierte Schiller auf die stets erneuerbare Frustration angesichts des schleppenden Absatzes ambitionierter Texte wiederum offen bellizistisch und zugleich zunehmend defätistisch: Da man einmal nicht viel hoffen kann zu bauen und zu pflanzen, so ist es doch etwas, wenn man auch nur überschwemmen und niederreissen kann. Das einzige Verhältniß gegen das Publicum, das einen nicht reuen kann, ist der Krieg, und ich bin sehr dafür, daß auch der Dilettantism mit allen Waffen angegriffen wird. 71

Die Rede ist hier von dem gemeinsamen polemischen Aufsatzprojekt „Über den Dilettantismus“, zu dem zahlreiche Schemata angefertigt wurden, das jedoch angesichts der Einstellung von Goethes Journal nicht mehr niedergeschrieben wurde: Eine aesthetische Einkleidung, wie etwa der Sammler [und die Seinigen, N. C. W.], würde diesem Aufsatz freilich bei einem geistreichen Publicum den größern Eingang verschaffen, aber den Deutschen muß man die Wahrheit so derb sagen als möglich, daher ich glaube, daß man wenigstens den Ernst, auch in der äusern Einkleidung, vorherrschen lassen muß. Es fänden sich vielleicht unter Swifts Satyren Formen, die hiezu passen, oder müßte man in Herders Fußtapfen treten und den Geist des Pantagruel citieren. 72

Die fortschreitende Ausdifferenzierung des literarischen Feldes führte freilich bald zu einer Vervielfältigung der Konkurrenzen und Gegnerschaften, was die Lage aus der Sicht der Betroffenen nicht einfacher machte; sie schlug sich etwa in einer zusätzlichen Frontbildung gegenüber der sich konstituierenden Frühromantik nieder. 73 70 71 72 73

Bourdieu: Die Regeln der Kunst (wie Anm. 15), S. 426. NA 30, S. 63 f., hier S. 64. NA 30, S. 64. Vgl. dazu etwa Norbert Christian Wolf: Reinheit und Mischung der Künste. Goethes ‚klassische‘ Position und die frühromantische Poetik Friedrich Schlegels, in: Albert Meier / Thorsten Valk (Hg.): Konstellationen der Künste um 1800. Reflexionen – Transformationen – Konstellationen. Göttingen 2015, S. 21 – 39.

Eine Verbindung zweier „Geistesantipoden“

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Ebenfalls als Phänomen der ‚Moderne‘ erscheint im Zusammenhang der Bündnisthematik die Möglichkeit eines unvorhersehbaren Frontenwechsels. In der politischen Theorie ist sie nach den westfälischen Friedensverträgen angesichts des Rechts freier Bündniswahl zum entscheidenden Kennzeichen von Souveränität geworden. 74 So hat sich die Habsburgermonarchie im renversement des alliances der 1750er Jahre mit dem alten Erzfeind Frankreich gegen den neuen Rivalen Preußen verbunden. Analog dazu haben Goethe und Schiller zunächst auf die Unterstützung durch Angehörige „der neuen Generation“ wie die Brüder Schlegel gesetzt, 75 um sich von diesen Bündnispartnern dann nach deren konzeptioneller Emanzipation wenig später wieder scharf abzugrenzen; deutlich wird dies aus Schillers Brief an Charlotte von Schimmelmann vom 23. November 1800, in dem es über den vielgerühmten Goethe heißt: Sie werden nun aber fragen, wie es komme, daß er bei dieser Sinnesart mit solchen Leuten wie die Schlegelischen Gebrüder sind in Verhältniß stehen könne. Dieses Verhältniß ist durchaus nur ein litterarisches und kein freundschaftliches, wie man es in der Ferne beurtheilt. Göthe schäzt alles Gute wo er es findet und so läßt er auch dem Sprach- und Vers Talent des ältern Schlegel und seiner Belesenheit in alter und in ausländischer Litteratur, und dem philosophischen Talent des jüngern Schlegel Gerechtigkeit widerfahren. Und darum, weil diese beiden Brüder und ihre Anhänger die Grundsätze der neuen Philosophie und Kunst übertreiben, auf die Spitze stellen und durch schlechte Anwendung lächerlich oder verhaßt machen, darum sind diese Grundsätze an sich selbst was sie sind, und dürfen durch ihre schlimmen Partisans nicht verlieren. An der lächerlichen Verehrung, welche die beiden Schlegels Göthen erweisen ist er selbst unschuldig, er hat sie nicht dazu aufgemuntert, er leidet vielmehr dadurch und sieht selbst recht wohl ein, daß die Quelle dieser Verehrung nicht die reinste ist; denn diese eiteln Menschen bedienen sich seines Nahmens nur als eines Paniers gegen ihre Feinde, und es ist ihnen im Grund nur um sich selbst zu thun. Dieses Urtheil, das ich Ihnen hier niederschreibe, ist aus Göthens eigenem Munde, in diesem Tone wird zwischen ihm und mir von den Herren Schlegel gesprochen. 76

74 Vgl. Eybl / Fulda / Süßmann: Bündnisse (wie Anm. 2), S. 14. 75 Vgl. Goethe an Schiller, 26. 12. 1795, über August Wilhelm Schlegel (WA IV, 10, S. 354 f., hier S. 354). Die Schlegel-Brüder gelten sogar Schiller trotz seiner sonstigen Gegnerschaft als – zumindest zeitweilige – Verbündete „der Grundsätze der neuen Philosophie und Literatur in der Auseinandersetzung mit den traditionellen Vertretern der Literatur und der Masse ihrer Anhänger“ (Brandt: Die ‚hochgesinnte‘ Verschwörung gegen das Publikum [wie Anm. 10], S. 25). 76 NA 30, S. 212 – 215, hier S. 214.

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Die temporäre Verbindung mit der nachfolgenden Generation der Frühromantiker zerbrach sehr rasch – und dauerhaft. 77 Es handelt sich bei solchem Frontenwechsel offensichtlich schon um ein charakteristisches Strukturmerkmal eines ausgebildeten literarischen Feldes: Bourdieu zufolge finden dort in der vor allem negativ – in Abgrenzung von den herrschenden Positionen – definierten Avantgarde zeitweilig, nämlich in der Phase der ursprünglichen Akkumulation symbolischen Kapitals, Schriftsteller und Künstler zusammen, deren Herkunft und Dispositionen sie stark voneinander unterscheiden und deren vorübergehend benachbarte Interessen anschließend auseinanderlaufen. 78

Auch das ist in der deutschen Literatur bereits um 1800 zu beobachten.

7 Fazit und Ausblick Stellvertretend für die ideologiekritische Germanistik der siebziger und frühen achtziger Jahre moniert Brandt an der Literaturpolitik Goethes und Schillers, dass sie „die Kunst nicht nur für autonom“ erklärten, sondern dass sie „im konkreten Falle das Prinzip der Autonomie mit ihrer Entscheidung gegen die Revolution sowie gegen die Behandlung aller politischen Fragen in der Literatur“ verbanden. 79 Dabei übersieht er freilich, dass ihre literarischen Texte – etwa die Dramen – durchaus auch politische Fragen behandelten, was die neuere Forschung verstärkt thematisiert hat. 80 Nur taten sie dies nicht aus einem ideologischen Kalkül, das die Kunst zu einem unter mehreren Instrumenten seiner Durchsetzung machte, sondern aus einem eminent ästhetischen, dessen politische Implikationen bisweilen – zumindest aus heutiger Perspektive ‚politischer Korrektheit‘ – verstörend wirken mögen. Eine Bedrohung künstlerischer Autonomie nahmen Goethe und Schiller nicht nur in der fortschreitenden Ökonomisierung des literarischen Feldes wahr, sondern auch und gerade seitens der allumfassenden Politisierung, die im Gefolge der Französischen Revolution auch in Deutschland große Teile der Gesellschaft erfasst hatte. Sie haben damit langfristig zur säkularen Herausbildung jener gesellschaftlichen Ausdifferenzierung beigetragen, die politisch und ökonomisch unabhängige Kritik 77 Vgl. dazu etwa Dirk Kemper: Goethe, Wackenroder und das ‚klosterbrudrisierende, sternbaldisierende Unwesen‘, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1993), S. 148 – 168. 78 Bourdieu: Die Regeln der Kunst (wie Anm. 15), S. 422. 79 Brandt: Die ‚hochgesinnte‘ Verschwörung gegen das Publikum (wie Anm. 10), S. 33. 80 Vgl. etwa Walter Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik. Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe. München 2009.

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strukturell erst eigentlich ermöglicht, auch wenn sie damals noch nicht so betrieben wurde: Aus heutiger Sicht ist nämlich die relative Autonomie der künstlerischen Felder eine gesellschaftliche Voraussetzung der Entstehung von kritisch-‚intellektuellen‘ Diskursen, die den Werten des literarischen Feldes entsprechend einen universalistischen Anspruch vertreten und nicht bloß als innerliterarische Verbrämung außerliterarischer Interessenlagen fungieren. 81 Insofern ist dieses charakteristische Bündnis zweier bedeutender deutscher Dichter durchaus als „Wegbereiter[ ] der bürgerlichen Gesellschaft“ im Sinne der Einleitung in den vorliegenden Band zu betrachten, 82 wenn man unter ‚bürgerlicher Gesellschaft‘ die Ausdifferenzierung unterschiedlicher und relativ autonomer sozialer Wertsphären versteht: Zum einen erweist es sich nicht allein als Begleiterscheinung der damals einsetzenden gesellschaftlichen Autonomisierung der Künste, sondern auch als deren Motor; zum anderen nahm es maßgebliche Strukturinvarianten moderner Literatursysteme vorweg bzw. etablierte relativ dauerhaft bestimmte funktionale Mechanismen des Literaturbetriebs. 83 Zahlreiche strukturelle Innovationen wurden durch Goethes und Schillers zwar kurzfristig gescheiterte, doch langfristig äußerst erfolgreiche Durchsetzung einer nicht mehr zweckgebundenen, sondern absoluten Vorstellung von ‚Dichtung‘ bewirkt. Sie sind auch diskurshistorisch von Belang: etwa im bereits angesprochenen säkularen Funktionswandel der Kunstund Literaturkritik. Darüber hinaus wurde dadurch einerseits die bereits vom Sturm und Drang betriebene Auratisierung ‚genialer‘ Autorschaft konsequent forciert, ja radikalisiert; andererseits zeichneten sich im gemeinsamen öffentlichen Auftreten beider Autoren bereits erste Tendenzen jener ‚antigenialischen‘ Vorstellung ‚kollektiver‘ Autorschaft ab, welcher Goethe gegen Ende seines Lebens dann auch zu begriff licher Existenz verhelfen sollte, 84 ohne sie im 19. Jahrhundert wirklich eta-

81 Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (wie Anm. 15), S. 210 f. 82 Eybl / Fulda / Süßmann: Bündnisse (wie Anm. 2), S. 10. 83 Vgl. Norbert Christian Wolf: Goethe als Gesetzgeber. Die struktur- und modellbildende Funktion einer literarischen Selbstbehauptung um 1800, in: Eckart Goebel / Eberhard Lämmert (Hg.): „Für viele stehen, indem man für sich steht“. Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne. Berlin 2004, S. 23 – 49; überarbeitete Neupublikation: http://www . goethezeitportal . de / fileadmin / PDF / db / wiss / goethe / wolf _ gesetzgeber . pdf, letzter Zugriff: 15. 03. 2019. 84 Vgl. Goethes berühmtes Diktum gegenüber dem französischen Übersetzer seiner botanischen Arbeiten Frédéric-Jacob Soret, das dieser zum 17. 02. 1832 überliefert hat: „Mon œuvre est celle d’un être collectif et elle porte le nom de Goethe.“ Zit. nach: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. 5 Bde. in 6 Teilbdn. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses v. Flodoard Freiherrn v. Biedermann ergänzt u. hg. v. Wolfgang Herwig. Zürich 1965 – 1987, Bd. 3/2, S. 839.

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blieren zu können – dies hat erst die Postmoderne vermocht, zumindest in ihrer Rhetorik. In der Geschichte deutschsprachiger Literatur gibt es keine andere Autorenverbindung oder Schriftstellerfreundschaft, der man eine vergleichbare historische Bedeutung zusprechen könnte wie dem Goethe-Schiller-Bündnis – und das sogar jenseits seiner bemerkenswerten künstlerischen Früchte. Seine soziale Funktion ist alles andere als deckungsgleich mit der Intention seiner Partner; sie erschöpft sich nämlich keineswegs in einem strategischen Kalkül, das aus der Binnensicht der Beteiligten oft genug gar nicht aufgegangen ist, sondern etablierte ganz neuartige Vorstellungen, Formen und Wirkungsweisen von Literatur, die einem modernen Kunstsystem den Weg bereitet haben.

Register der Personen

Abbt, Thomas 30, 160 Abraham a S. Clara 193 Adelung, Johann Christoph 158, 237 f., 321 Afflisio (Affligio), Giuseppe d’ 123 – 125, 131 – 133 Almonde, Elisabeth von 174 Alxinger, Johann Baptist von 309, 317 f. Amon, Placidus 307 Arendt, Hannah 55 f., 67 Arisz, Marcus 176 f. Arminius, Jacob 173 Armory, Thomas 311 Arndt, Ernst Moritz 30, 157, 160, 162 Aspelmayr, Franz 133, 135 Assmann, Jan 219 Aufresne (Jean Rival) 126 Augustinus 38 Bahrdt, Karl Friedrich 316 Barner, Wilfried 263 f. Batteux, Charles 277 Bauer, Werner M. 319 Beetz, Manfred 324 Bentham, Jeremy 89 Bernhard, Isaak 225 Bischof, Norbert 218 Blumauer, Aloys 309 Bode, Johann Joachim Christoph 230 Bodmer, Johann Jacob 24, 227, 254, 276, 279 f., 283, 319 Böhler, Michael 323 Bosse, Heinrich 217 Bourbon, Louise-Marie-Thérèse de, Prinzessin 137 Bourdieu, Pierre 319, 324, 338, 341 f., 344 Bourgogne, Louis de Bourbon Duc de 106 Braganza, Juan Carlos von 123 Brandt, Helmut 323, 340, 344 Bréa, Theateragent 126 Brecht, Bertolt 323 Breitinger, Johann Jacob 24, 227, 254, 276, 279, 319 Breitkopf, Immanuel 134 Brown, Bruce Alan 132 Brüning, Gerrit 326 Brutus 327 Bürger, Gottfried August 23 f., 318 Burke, Edmund 28, 37, 49 – 52

Caesar 327 f. Calker, Jan van 176 Calvin, Jean 75 Campe, Joachim Heinrich 158, 241, 316 Casanova, Giacomo 123 Cassius 327 Catull 241 – 244 Certeau, Michel de 268 f. Chevardière, La, Verleger 134 Cicero 202 f. Cochin, Augustin 205 Colbert, Jean-Baptiste 94, 108 Cotta, Johann Friedrich 334, 340, 342 Cramer, Johann Andreas 277, 281 Croll, Gerhard 126 Cromwell, Oliver 93 Crous, Ernst 175 Dacheröden, Karoline von 31, 233 – 246 David, Jacques-Louis 10, 20 Davis, Natalie Zemon 192 Defoe, Daniel 45 Deknatel, Jan 179 Deknatel, Johannes 169, 173 – 177 Denis, Michael 310 Dietrichstein, Johann Karl Graf 123, 137 Dilcher, Gerhard 190 Döbbelin, Karl Gottlieb 295 Dober, Leonhard 175 Durazzo, Giacomo 127, 131 f., 135 Durkheim, Émile 204 Ebert, Johann Arnold 277, 281, 284 – 286 Eckard, Johann Gottfried 136 Eckermann, Johann Peter 323 Ehrmann, Daniel 32 Eichhorn, Kristin 32 Eleonore von Mantua, Kaiserin 187 Elias, Norbert 100 Eschenburg, Johann Joachim 302, 338 Esterhazy, Paul Fürst 135 Eugen von Savoyen, Prinz 128 Eybl, Martin 29 f. Fagiuoli, Giovanni Battista 301 Falk, Johann Daniel 315 Favart, Charles Simon 131 f. Fénelon, François de Salignac de La Mothe 29, 105 – 109, 112, 120 Ferdinand II., Kaiser 187

348 Ferdinand III., Kaiser 187 Ferguson, Adam 203 Fichte, Johann Gottlieb 29, 76, 82 f., 208 f., 315 Filmer, Robert 41 Forster, Georg 208 Francke, August Hermann 178 Frank, Manfred 76 Fränkel, David 225 Franz II./I., Kaiser 18 Franz Stefan von Lothringen, Kaiser 126, 128, 132 Franzmann, Andreas 29 Friedrich II. von Preußen 15, 17, 160, 229, 290, 313 Friedrich Wilhelm III. 70, 78 f. Fries, Jakob Friedrich 157 Fues, Wolfram Malte 30 Fulda, Daniel 300 Gabbiadini, Guiglielmo 31 Gärtner, Karl Christian 277 – 279, 286 Gassmann, Florian Leopold 135 Gaus, Günter 55, 67 Gebler, Tobias Freiherr von 311, 315 Gellert, Christian Fürchtegott 23, 222, 232, 277 Georg II. August, König von England 128 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm 250 f., 338 Geßner, Salomon 338 Giseke, Nikolaus Dietrich 277, 279 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 23, 160, 311 Gluck, Christoph Willibald 123, 132 f. Goethe, Johann Wolfgang von 33, 234, 249 – 251, 256, 308, 310, 315, 319, 321 – 346 Goeze, Johann Melchior 223 Göschen, Georg Joachim 255 Gottfried von Straßburg 305 Gottsched, Johann Christoph 22, 227, 276 f., 279 f., 282 – 284, 306 – 308, 319 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 283, 286 Götz, Johann Nikolaus 23 Goyen, Arnold 167, 173 Grétry, André-Ernest-Modeste 133 Grillparzer, Franz 318 Grimm, Friedrich Melchior von 137 Grotius, Hugo 38 f., 42, 89, 111 Gumpertz, Aaron 225 f. Gutenberg, Johannes 230 Guttenberg, Josepha von 123 Guyon du Chesnoy, Jeanne Marie 178

Register der Personen

Haan, Galenusz Abrahams de 174 Haider-Pregler, Hilde 308 Haller, Albrecht von 105, 120 Hamon, Prinzipal 133 Haschka, Lorenz Leopold 314, 316 – 318 Haydn, Josef 134 – 137 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 26, 203, 208, 210 f. Heinrich IV. von England 111 Heinrich VIII. von England 95 Herder, Johann Gottfried 69, 156, 230 f., 244 f., 265 – 267, 271, 338, 342 Herz, Henriette 238 Heymann, Mendel 225 Hobbes, Thomas 15, 28, 37, 38 – 44, 46 f., 71 f., 202 f. Hochbrucker, Christian 136 Hochmann von Hochenau, Ernst Christoph 173 Höffe, Otfried 67 Hoffmann, Leopold Alois 314 – 318 Hofstätter, Felix Franz 314, 316 – 318 Homer 227 Hont, Istvan 40 – 42, 53 Horaz 305 Horn, Christoph 58 Hotman, François 203 Hubbard, Ron 147 Huberty, Antoine 134 f. Humboldt, Wilhelm von 31, 233 – 246 Hume, David 28, 46 f., 50 – 52, 76 Jacob, Ludwig Heinrich 337 Jacobi, Friedrich Heinrich 234 Jahn, Friedrich Ludwig 30, 154 f., 157, 161 f. Janson, Jakob 170, 180 Jesus Christus 11, 38, 167 – 170, 172, 175, 178 f., 191 Joseph II., Kaiser 123, 125, 131, 133, 194, 309 f. Jung-Stilling, Johann Heinrich 180 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 15, 29, 116 – 120, 229 Kant, Immanuel 28, 30, 55 – 68, 112, 141, 145, 202 f., 208, 210, 223, 330 Karl I. von England 94 Kaufmann, Sylke 32 Kaunitz-Rietberg, Wenzel Anton von 123 – 131, 134 – 137 Keetman, Peter 208 Kleist, Ewald von 338 Kleuker, Johann Friedrich 240 Klieber, Rupert 184, 190, 192 Klopstock, Friedrich Gottlieb 24, 255, 277, 280, 282

Register der Personen

Klotz, Christian Adolph 32, 249, 260 – 273, 299 Knigge, Adolph Freiherr von 30, 142 – 149, 316 Kohary, Johann Nepomuk von 132 f. Köhler, Sigrid G. 28 f. König, Christian M. 30 König, Eva 232, 297 f. Kopiec, Jan 185 Körner, Christian Gottfried 142, 326 – 328, 347 Körner, Josef 306 Kosegarten, Ludwig Gotthart 338 Koselleck, Reinhart 37, 322 Krause, Karl 208 f. Kriegleder, Wynfrid 32 f. Krünitz, Johann Georg 159 f. Kypselos von Korinth 119 La Roche, Carl von 233 – 235, 238 La Roche, Sophie von 233 Lange, Samuel Gotthold 20, 23 Laud, William 94 Lavater, Johann Caspar 180 Leeuw, Catharina 176 Legrand, Jean-Pierre 136 Leon, Gottlieb 309 Leopold II., Kaiser 316 f. Lessing, Gotthold Ephraim 23, 31 f., 208 – 210, 215 – 232, 249, 260 – 273, 289 – 304, 308, 319 Lessing, Johann Gottfried 222 Lessing, Justina Salome 222 Lessing, Karl Gotthelf 32, 222, 224, 232, 289 – 304 Lichtenberg, Georg Christoph 269 Liechtenstein, Josef Wenzel von 131 Linguet, Simon-Nicolas-Henri 195 Locke, John 45, 202 f. Loen, Johann Michael von 29 f., 109 – 116, 120, 154, 158 f., 161 Löff ler, Peter 185 Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt 153 Ludwig XIV. von Frankreich 13, 106 f., 109, 137 Ludwig von Anhalt-Köthen, Fürst 22 Luhmann, Niklas 215 Luise von Preußen, Herzogin zu Mecklenburg 78 Luther, Martin 238 Mack, Alexander 173 Maecenas 305 Mann, Harald Johannes 185 Manso, Johann Kaspar Friedrich 337 Markovits, Rahul 128 f., 131 Mauss, Marcel 27

349 Maximilian Joseph von PfalzZweibrücken 155 Meid, Christoph M. 29 Mencke, Johann Burckhardt 22 Mendelssohn, Moses 23, 31, 215 – 232, 292, 301, 308 Mercy d´Argenteau, Florimond Claude 126 Mesmer, Franz Anton 207 Meyer, Johann Heinrich 325, 338 Michaelis, Johann David 224 – 226 Millar, John 203 Mittner, Ladislao 234 Möllinger, Martin 178 f. Mommsen, Katharina 324 Montgelas, Maximilian von 155 Moser, Friedrich Carl von 30, 153 – 156 Mozart, Leopold 123, 125, 136 – 138 Mozart, Maria Anna 136 Mozart, Wolfgang Amadeus 123, 125, 136 – 139, 241 Muncker, Franz 284 Mylius, Christlob 32, 222, 289 – 292, 299, 303 Nadler, Josef 306 Napoleon Buonaparte 89, 100 Nestroy, Johann 318 Neuber, Caroline 222 Nicolai, Christoph Gottlieb 227 Nicolai, Friedrich 23, 31 f., 215 – 232, 263, 268, 271 f., 292, 302, 308 – 316, 318 f., 337 f. Nisbet, Hugh Barr 303 Nitschmann, David 175 Novalis 28, 69 – 84 Noverre, Jean Georges 133 Orléans, Louis-Philippe d´ 137 Osterkamp, Ernst 324, 329 Papenheim, Martin 20 Paulus 69 Payne, Thomas 203 Penn, William 111 Pezzl, Johann 316 f. Platon 240 Plautus 231 Pope, Alexander 310 Prior, Matthew 285 Psammetichus (Psamtik) von Ägypten 116 Pufendorf, Samuel 28, 42 – 44, 47, 89, 111 Pyra, Immanuel 20, 23 Pyritz, Hans 323 Rabener, Gottlieb Wilhelm 277, 279 Ramler, Karl Wilhelm 242

350 Ramsay, Andrew Michael 105 Rancière, Jacques 73 Ranke, Leopold 98 Rasch, Wolfdietrich 280 Ratschky, Joseph Franz 309, 316 f. Regnard, Jean-François 128 Reinmar der Alte 305 Resch, Claudia 31 Retzer, Joseph von 32, 308 – 315, 317 f. Ricardo, David 93 Richard II. von England 93 Riedel, Friedrich Justus 270 Ringkamp, Daniela 28 Robespierre 142 Roche, Daniel 199 Rottenhan, Heinrich Franz Reichsgraf von 314 Rousseau, Jean-Jacques 28, 47 f., 50, 71 f., 84, 203 Rüdiger, Axel 28 Rudolph, Harriet 33 Ruge, Arnold 162 Sachsen-Hildburghausen, Josef Maria Friedrich Prinz 131 Safranski, Rüdiger 324 Saint-Pierre, Abbé Charles Irénée Castel de 111 Sainville, Mme 126 Saurmann, Nathanael 278 Schachenmayr, Alkuin 190 Scheyb, Franz Christoph von 306 – 308 Schiller, Friedrich 10, 21, 33, 142, 151 f., 161, 209 f., 231, 249, 256, 308, 310, 315, 319, 321 – 346 Schilling, Friedrich 316 Schilling, Lothar 126 Schimmelmann, Charlotte von 343 Schlachta, Astrid von 30 Schlegel, August Wilhelm 277, 315, 343 Schlegel, Friedrich 79, 147, 277, 315, 343 Schlegel, Johann Adolph 32, 277, 279 – 286 Schlegel, Johann Elias 277, 279 Schleiermacher, Friedrich 209 f. Schobert, Johann 136 Schoeps, Julius H. 217 Schönborn, Gottlob Friedrich Ernst 250 Schrader, Fred E. 31 Schrattenbach, Siegmund Christoph von, Fürsterzbischof 138 Schwabe, Johann Joachim 276 f. Schwering, Markus 71 Sengle, Friedrich 334

Register der Personen

Shakespeare, William 251, 328 Sieyès, Emmanuel Joseph 28, 48, 50, 52, 203 Simmel, Georg 203 f., 323 Simons, Menno 171, 175 Skinner, Quentin 40, 47, 53 Smith, Adam 93 Sonenscher, Michael 47 f., 53 Sonnenfels, Josef von 126, 268, 271 Spangenberg, August Gottlieb 174 Spinoza, Baruch 331 Stark, Johann August 315 Starzer, Josef 133 Steffan, Joseph Anton 135 Steinhofer, Friedrich Christoph 175 Sterne, Laurence 232 Stifter, Adalbert 318 Stolberg, Christian Graf zu 338 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 337 f. Strohm, Christian 167 Sully, Maximilien de Béthune Duc de 111 Svarez, Carl Gottlieb 89 Swedenborg, Emanuel 178 Swieten, Gottfried van 314 f. Swift, Jonathan 310, 342 Szabo, Franz A. J. 126 Tell, Wilhelm 10, 151 f., 161 Terenz 231 Terrasson, Jean 105, 120 Tersteegen, Gerhard 170, 173, 178, 180 Tessé, Adrienne-Catherine Comtesse de 137 Theophrast 231 Thomalla, Erika 23 Thomasius, Christian 27, 89, 114 f., 264, 265 Uhlich, Adam Gottfried 283 Ulbrich, Franz 276 Uz, Johann Peter 23, 319 Vanhal, Johann Baptist 135 Vattel, Emer de 15 Veit, Brendel 239 Vellusig, Robert 31 Vendôme, Mme, Notenstecherin 137 Vollhardt, Friedrich 264 Voltaire 129 f., 306 Voß, Christian Friedrich 227, 292, 301 f. Voß, Maria Friederike 301 f. Wagenseil, Georg Christoph 135 f. Walch, Johann Georg 257 Walther von der Vogelweide 305 Weber, Max 29, 85 – 101, 197, 201, 204

Register der Personen

Weber, Peter 167 f., 170 – 172, 177 – 180 Weise, Christan 112 Weishaupt, Adam 18 Weiße, Christian Felix 278 Wentworth, Thomas Earl of Strafford 94 Wesley, John 175 Wieland, Christoph Martin 105, 120, 255, 309 – 311, 317, 319, 334 Winckelmann, Johann Joachim 262 Wittenberg, Albrecht 268

351 Wolf, Friedrich August 337 Wolf, Norbert Christian 33, 319 Wolff, Christian 15, 89, 111 Wolfram von Eschenbach 305 Zachariä, Friedrich Wilhelm 277 Zedler, Johann Heinrich 154, 254, 257 Zimmermann, Johann Georg 314 f. Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 174 – 177 Zöllner, Johann Friedrich 56