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German Pages 462 Year 2014
Kirsten Einfeldt Moderne Kunst in Mexiko
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Kirsten Einfeldt (Dr. phil.), Kunsthistorikerin, Kuratorin und Journalistin, arbeitet am Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf moderner und zeitgenössischer Kunst.
Kirsten Einfeldt Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Material und nationale Identität
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© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Angélica Chio, Mexiko-Stadt Umschlagabbildung: Raymundo García Cardoso/Dirección General de Publicaciones, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt Lektorat: Kirsten Einfeldt Satz & Gestaltung: Angélica Chio Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1503-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Für Margrit und für Henrik
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Inhalt
Vorwort
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Einleitung
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I
Kunst und nationale Identität in Mexiko
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Cuauhtémocs Palast in Paris „Streit und Vermählung der Banane mit dem Marmor“ – Der ,nationale Stil‘ zwischen Fortschritt und Tradition Der Einfluss von Marxismus und Rassendiskurs auf die mexikanische Revolutionskunst Exkurs 1: Privatisierende und sakralisierende Tendenzen in der öffentlichen mexikanischen Revolutionsmalerei Exkurs 2: Denkmäler und nationale Identität im bürgerlichen Raum der Reformzeit Kunst in den öffentlichen Räumen des „Mexikanischen Wirtschaftswunders“ Die Debatten um die ,nationale Kunst‘ um 1950
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II Öffentliche Kunst und nationale Landschaft auf dem Campus der Universidad Nacional Autónoma de México (1946-1954) in Mexiko-Stadt Sprengungen im Lavafeld – Der Präsident trägt die Nation in den Pedregal Die Auslagerung der Universität in die Peripherie Eine programmatische Kunstachse zwischen Prometheus und Atomforschung Kunst im Versuchsfeld – Die Wandbilder der Universitätsstadt David Alfaro Siqueiros’ Rektoratsmosaiken Raum und Betrachter bei David Alfaro Siqueiros „Die vierte Dimension“: Plastizität und Polychromie Juan O’Gormans Bibliotheksmosaiken Die Entwicklung der Kultur 7
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Das Bildprogramm Natursteinmosaiken und Basaltoberflächen bei Juan O’Gorman und Diego Rivera Regionalismus und Indigenismo in Juan O’Gormans Mosaiken und Architektur ,Primitivismus‘ und Ornament in den Universitätsmosaiken ,Nützliche‘ Farbe in der mexikanischen Wandbildkunst
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Diego Riveras Wandbild Universitätswappen am Stadion Ein Stadion fürs „neue Vaterland“ Adler und Nopal in Olympia Lava und Pumas im Pedregal Biologische und mythologische Ursprungsvorstellungen bei Diego Rivera Evolution und Revolution in der mexikanischen Vulkanikonographie Industriekritik bei Diego Rivera
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III Abstrakte Skulptur im öffentlichen Raum der Peripherie
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Luis Barragáns Wohnsiedlung Los Jardines del Pedregal de San Ángel in Mexiko-Stadt und Mathias Goeritz’ Plastik Das Tier vom Pedregal „,Everyday life is becoming much too public‘“ Ein locus amoenus im Lavafeld „Abstrakte Kompositionen“ in Arkadien Mathias Goeritz’ Tier-Skulptur in der Pedregal-Siedlung Expressionismus und ,Primitivismus‘ bei Mathias Goeritz Das Tier: Wächter und Symbol von Los Jardines del Pedregal Mario Panis Ciudad Satélite und die Skulpturengruppe Die Türme von Satélite von Mathias Goeritz und Luis Barragán Eine „mexikanische Lösung“ für die problembelastete Hauptstadt Die Türme von Satélite als moderne Zeichen? „Emotionelle Architektur“ bei Mathias Goeritz Monumentalität und Spiritualität bei Mathias Goeritz 8
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Vorwor t
Die Straße der Freundschaft – Kunst im öffentlichen Raum zur Zeit der Olympischen Spiele Mexikos offizielle Olympia-Identität Versuche von Identitätsbildung an Nicht-Orten Ein Vorläufer: Otto Freundlichs Straße der menschlichen Brüderlichkeit Volkserziehung im olympischen Mexiko Das Zentrum des Skulpturraums Ein mexikanisches Earth work? Naturaufwertung, Industriekritik und nationale Identität im Zentrum des Skulpturraums IV Ephemere Kunst im öffentlichen Raum: Arbeiten der mexikanischen Gruppenbewegung Zur Ambivalenz von Kollektivarbeit in der mexikanischen Gruppenbewegung Anti-nationale und traditionsbewusste Tendenzen – Denkmäler der 1970er Jahre
262 270 272 279 282 283 289 293
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Resümee und Ausblick
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Anmerkungen
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Bibliographie
419
Bildnachweise
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Vorwort
Die Untersuchung von Kunst im öffentlichen Raum zeichnet sich durch die Berücksichtigung ikonographischer, materialikonographischer, formgenealogischer und ästhetischer Aspekte aus. Soziale, politische, ökonomische und kulturanthropologische Zusammenhänge, in denen Kunstwerke entstehen, spielen darin eine zentrale Rolle. In einer Untersuchung, die Kunst im öffentlichen Raum der Moderne Mexikos verhandelt, verdienen darüber hinaus das Öffentlichkeitsverständnis und der Raum selbst spezielle Aufmerksamkeit. Diese unterlagen in einem Land mit Kolonialvergangenheit, vor der Folie offizieller Modernitätsdiskurse und der Industrialisierung, konstanten Veränderungen und Neubestimmungen. Jürgen Habermas hat mit Strukturwandel der Öffentlichkeit bereits 1962 Fragen nach einer sich verändernden Öffentlichkeit formuliert. Er legte sein Augenmerk dabei auf die zunehmende Privatisierung der öffentlichen Sphäre in Europa. In zahlreichen lateinamerikanischen Ländern, und speziell in Mexiko, setzte dieser Prozess mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs ein und war eng mit den Fortschrittsverheißungen von Industrialisierung und Modernisierung verbunden. Im Zuge der wirtschaftsliberalen Öffnung Mexikos in der Nachkriegszeit veränderte sich das Verhältnis von Stadt und Land, von Zentrum und Peripherie und des sozialen Gefüges innerhalb der explosionsartig wachsenden Großstädte. Für die Kunst, insbesondere in der Hauptstadt des zentralistisch regierten Landes, entstanden in diesem Zusammenhang neue Räume. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatten Künstler im Auftrag der Regierung Statuen von Nationalhelden an den nach französischem Vorbild gestalteten Prachtalleen von Mexiko-Stadt errichtet. Vor dem Hintergrund der Mexikanischen Revolution 11
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
brachten die als Muralisten bekannten Wandmaler groß angelegte Geschichtspanoramen in den öffentlichen Gebäude des kolonialen Stadtzentrums an. Ab den 1940er Jahren bespielten Künstler hingegen die öffentlichen Räume der Fortschritt verheißenden Moderne. Es entstanden erstmalig in Mexiko Reliefs und großformatige abstrakte Skulpturen für den Außenraum. Mit den Auswirkungen der beschleunigten Industrialisierung auf die Lebensrealität in Mexiko während und nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr die Landschaft des Tals von Mexiko verstärkt Aufmerksamkeit. Sie war mit dem Einsetzen industrieller Prozesse bereits in den 1860er Jahren in der mexikanischen Landschaftsmalerei als „national“ definiert worden. In der Kunst im öffentlichen Raum ab 1950 avancierte die „nationale“ Landschaft darüber hinaus zur unmittelbaren visuellen Referenz und, wie die aus ihr gewonnenen Materialien, zum integralen Bestandteil der Arbeiten. In den von Landschaftsaneignung und Industrialisierung charakterisierten Räumen der mexikanischen Moderne drohten öffentliche Kunstwerke, insbesondere seit den städtebaulichen Veränderungen der 1970er Jahre, immer wieder auf Zeichen reduziert zu werden. Dies lag unter anderem an der Heterogenität des öffentlichen Raumes von Mexiko-Stadt. Zugleich stellt jedoch gerade die organische Urbanität der mexikanischen Hauptstadt bis heute den vielleicht größten Anreiz für Künstler dar, Arbeiten für den öffentlichen Raum der Mega-Metropole zu schaffen. Ein Problem bei der Beschäftigung mit außereuropäischer Kunst als europäische Kunsthistorikerin ist das der Sprecherposition. Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Material und nationale Identität ist als eine von einer Reihe Perspektiven auf die Kunst Mexikos zu verstehen. Deren kritische Revision wurde vor rund 15 Jahren vom Instituto de Investigaciones Estéticas der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM), dem Departamento de Arte der Universidad Iberoamericana sowie dem Museo Nacional de Arte und dem Museo Universitario de Ciencias y Arte der UNAM in Mexiko-Stadt aufgenommen. Das vorliegende Buch wäre ohne die Unterstützung vieler so nicht möglich gewesen. Prof. Dr. Monika Wagner hat mein Dissertationsprojekt am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg mit großem Interesse betreut und mich zur Auswahl und Präzisierung angehalten. Ihre Forschung zu Kunst im öffentlichen Raum und zur Materialikonographie hat den Anstoß für die Perspektivierung 12
Vorwor t
von Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Material und Nationale Identität gegeben. Sehr hilfreich und motivierend war das Doktorandenkolloquium, dessen Teilnehmern ich an dieser Stelle für ihre Hinweise und Gesprächsbereitschaft danken möchte. Die Dissertation und Publikation sind durch zahlreiche Gespräche, Informationen und Hinweise befördert worden. Kollegen und Künstler haben mir Einsichten in ihre Aufzeichnungen und Unterlagen gewährt, Freunde durch alle Arbeitsphasen geholfen. Ihnen allen sei herzlich gedankt: Carlos Aguirre, Francis Alÿs, Yaotzin Botello, Dante Busquets, Nicolás Carretas, Angélica Chio, Familie Coen, Katharina Dufner, Iván Edeza, Greta Einfeldt, Helen Escobedo, Arturo García Bustos, Fernando González Gortázar, Renato González Mello, Alberto Híjar, Cristina Híjar, Immo Hinrichs, Wiebke Hollersen, Peter Jiménez, Peter Krieger, Gisela Lang, Magali Lara, Rina Lazo, Teresa Margolles, Ulrike Meitzner, Erick Meyenberg, Rocío Mireles, Lourdes Morales, Victor Muñoz, Gonzalo Ortega, Jorge „Manfred“ Reynoso Pohlenz, Guillermo Santamarina, Victoria H. Scott, Bernd M. Scherer, Sebastián, Graciela Schmilchuk, Francisco Toledo, Dino R. Trescher, Pilar Villela, Edda Webels-Wolf, Patricia Weidmann, Daniela Wolf, Vera Wolff, Annika Zorn. Mein spezieller Dank gilt Cuauhtémoc Medina. Er hat die Entstehung meiner Dissertation über seine Funktion als Tutor und meine Forschungszeit am Instituto de Investigaciones Estéticas 2003/2004 hinaus mit großem Engagement, Geduld und außerordentlicher Gesprächsbereitschaft befördert, ohne Verantwortung für den Inhalt zu haben. Ferner möchte ich den Mitarbeitern des Ibero-Amerikanischen Instituts, der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen und der Staatsbibliothek zu Berlin, der Biblioteca Nacional, des Centro de Estudios sobre la Universidad (UNAM), des Instituto de Investigaciones Estéticas (UNAM), des Archivo General de la Nación, des Centro Nacional de Investigación, Documentación e Información de Artes Plásticas, des Centro Nacional de las Artes, alle Mexiko-Stadt, sowie des Archiv Mathias Goeritz am Instituto Cultural Cabañas in Guadalajara und des Museo de Arte Abstracto Manuel Felguérez in Zacatecas danken. Das Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Material und Nationale Identität zugrunde liegende Dissertationsprojekt wurde mit einem Stipendium des Mexikanischen Außenministeriums und Mitteln der Universität Hamburg gefördert. Weitere finanzielle Unterstützung kam von Margrit und Henrik Einfeldt so wie von Catharina und Walter Einfeldt. 13
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Einleitung
„[W]ir können uns nicht der Notwendigkeit entziehen, fragend uns selbst zu betrachten. Damit will ich nicht sagen, daß der Mexikaner von Natur aus kritisch ist, sondern daß er eine Zeit des Nachdenkens durchmacht. So ist es natürlich, daß er sich nach der explosiven Phase der Revolution zurückzieht, um für einen Augenblick sich selbst zu betrachten.“I
Mit seiner 1950 erschienen kulturanthropologischen Studie zur mexikanischen Identität Das Labyrinth der Einsamkeit lieferte der Schriftsteller Octavio Paz den wohl wirkungsreichsten Bestimmungsversuch einer nationalen Identität im Mexiko der Nachkriegszeit.II Das südlichste Land des nordamerikanischen Kontinents hatte sich während und nach dem Zweiten Weltkrieg nachhaltig verändert: In den 1940er Jahren war die Mexikanische Revolution von 1910 endgültig für beendet erklärt worden. Die steigenden Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt gaben den Anstoß dafür, die inländische Produktion zu intensivieren und den wirtschaftlichen Schwerpunkt vom Import auf den Export zu verlagern.III Dies brachte eine Beschleunigung der Industrialisierung Mexikos und grundlegende Veränderungen der Lebensrealität für die Bevölkerung mit sich: Großstädte wie Mexiko-Stadt, Guadalajara und Monterrey wuchsen zwischen 1940 und 1950 rasant, die Infrastruktur des Landes wurde durch öffentliche Projekte verbessert, die Verstaatlichung des Erdöls 1938 ermöglichte immer größeren Teilen der Bevöl15
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
kerung den Besitz von Privatfahrzeugen. Der Gleichheitsanspruch der Revolution blieb dennoch illusorisch: Das ländlich dominierte Land veränderte sich zu einem, in dem sich die Gegensätze zwischen armer Provinz und industrialisierten Metropolen zunehmend verschärften. Mit den strukturellen Umbrüchen erreichten Spekulationen über die mexikanische Identität, deren modellhafte Bestimmung in der Zeit der Republikbildung nach der Unabhängigwerdung 1810/1821 fußt und seither Instrument des offiziellen Machtdiskurses war, um 1950 einen Höhepunkt. Sowohl die Regierungskabinette der Partei der Institutionalisierten Revolution (1929-2000) als auch Künstler und Intellektuelle wie Paz machten das spezifisch ,Mexikanische‘ stark. Paz allerdings setzte sich von den Homogenisierungsbestrebungen der mexikanischen Regierungen ab und wollte seine Charakterstudie allein auf jenen Teil der mexikanischen Bevölkerung bezogen sehen, der sich seiner mexicanidad bewusst sei.IV Dass die Revolution als beendet galt, erschien zunächst als Risiko für den mexikanischen Nationalismus, wirkte aber tatsächlich katalysatorisch auf die Betrachtung des „Selbst“. In der bildenden Kunst in Mexiko wurde die Auseinandersetzung mit der nationalen Identität nach 1950 vornehmlich in Arbeiten im öffentlichen Raum sichtbar. Mit der Industrialisierung Mexikos war insbesondere die Hauptstadt neu geordnet worden: Aus einer kolonialen und bürgerlichen Stadt mit ärmeren Randbezirken war eine massenbevölkerte Metropole entstanden, deren große soziale Differenzen sich bis heute auch in räumlichen Segregationen abbilden. Waren seit der Reformzeit Denkmäler in der Beaux-Arts-Tradition an Prachtstrassen wie dem historisch geprägten Paseo de la Reforma errichtet worden, eignete sich die Revolutionsmalerei seit den frühen 1920er Jahren die öffentlichen Räume von Schulen und Ministerien in ehemaligen Kirchen, Klöstern und Palästen im Altstadtzentrum an. Als Folge der beschleunigten Industrialisierung in den 1930er und 1940er Jahren entstanden erstmals Vorstädte, die durch Stadtautobahnen mit dem historischen Zentrum verbunden wurden. Der Grundstein für den mexikanischen Städtebauboom der 1960er und 1970er Jahre war damit gelegt. Wie in der Revolutionszeit der Altstadtkern diente nun die Peripherie als Ort der offiziellen Identitätsprägung. Große öffentliche Gebäudekomplexe und Wohnsiedlungen wurden häufig selbst zu Identitätsträgern. Zugleich entstanden neue Räume für die Kunst, die zum 16
Einleitung
Teil von den Stadtplanern in Zusammenhang mit den neuen städtebaulichen Projekten vorgesehen, zum Teil aber auch von den Revolutionskünstlern eingefordert wurden. Mit Außenwandreliefs und Skulpturen bezogen viele von ihnen ihre Arbeiten auf die öffentlichen Gebäude und den industrialisierten Raum der motorisierten Massengesellschaft. Ihre Werke, wie auch die jüngerer Künstler, standen durch ihren Raumbezug, ihre Materialverwendung und ikonographisch im Kontext des offiziellen Diskurses zur nationalen Identität. Nach Einschnitten in der öffentlichen Kunst Mexikos, wie den Bestrebungen nach einer Entpolitisierung durch die Ruptura-Bewegung, die um 1950 einen Paradigmenwechsel von der Figuration zur Abstraktion einleitete, brachen erst in den 1970er Jahren Künstlergruppen vollständig mit dem offiziellen Diskurs. Dies wurde in der Hinwendung von der hauptsächlich eingesetzten Skulptur zu ephemeren Medien wie Performance und Aktion, sowie in Rückgriffen auf die Revolutionskunst mit Druckgrafik, besonders deutlich. Ein Problem – aber auch ein Vorteil – bei der Verhandlung von Kunst aus Mexiko in einer Publikation, die in einem europäischen Kontext verfasst wird, ist die Tatsache, dass diesseits des Atlantiks, und insbesondere in Deutschland, über die Populärgrafik, die Revolutionskunst von Vertretern wie Diego Rivera, José Clemente Orozco und David Alfaro Siqueiros sowie Frida Kahlo hinaus, relativ wenig über mexikanische Kunst bekannt ist. Dies hat sich erst in den vergangenen 15 Jahren mit der internationalen Rezeption zeitgenössischer Künstler wie Gabriel OrozcoV und Teresa MargollesVI sowie anderen Vertretern der im Kontext der Wirtschaftskrise von 1994 verstärkt herausgebildeten Konzeptkunstszene Mexikos geändert.VII Diese Wendung hing nicht zuletzt mit den Mechanismen der Globalisierung zusammen, die insbesondere für die außereuropäische Kunst folgenreich war. Die mexikanische Kunst der Nachkriegszeit hat hingegen bislang kaum Aufmerksamkeit erfahren. Dies liegt zum Teil daran, dass einige starke Einzelpositionen, die vielleicht den nahe liegendsten Zugriff auf Kunst bieten, wie Siqueiros und Rivera, über mehrere Jahrzehnte die mexikanische Kunstszene dominierten. Zugleich war die international einflussreiche Rezeption in Europa und den USA bis weit in die 1980er Jahre hinein maßgeblich mit Kunst aus den eigenen geographischen Räumen befasst. Welche Kunst im öffentlichen Raum in Mexiko in der Nachkriegszeit produziert wurde, ist so einer der Hauptgegenstände der folgenden Untersuchung. 17
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Im Kalten Krieg, der auch auf die Kulturproduktion und -rezeption maßgeblich Einfluss nahm,VIII stellte Mexiko einen Nebenschauplatz dar. Dennoch waren hier, stärker noch als in anderen lateinamerikanischen Ländern wie Chile, Argentinien, Venezuela und Brasilien, kunst- und kulturpolitische Debatten ideologisch aufgeladen. Im europäischen Zusammenhang spielte außereuropäische Kunst, speziell im Exotismus der kubistischen, expressionistischen und abstrakten Malerei und Skulptur sowie den Debatten über die Abstraktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine wichtige Rolle. Nach dem Zweiten Weltkrieg und in Folge der Blockbildung kam der Kunst außereuropäischer Länder eine neue Bedeutung zu: Insbesondere Vertreter der lateinamerikanischen Avantgarden wurden zur Untermauerung der Legitimation der Abstraktion herangezogen.IX Während sich europäische und US-amerikanische Künstler weiterhin ,primitive‘ außereuropäische Vorbilder als Inspirationsquellen aneigneten, galt die Rezeption der Abstraktion im Werk lateinamerikanischer Künstler, die zwischen den 1930er und 1950er Jahren in den Kunstzentren Paris und New York arbeiteten, als Beleg für die Universalität des Paradigmas. Werner Haftmann führte so in seiner Einleitung zur „Malerei nach 1945“ im Katalog der II. documenta (1959), mit der die Rezeption des Abstrakten Expressionismus und von dessen Hauptvertreter Jackson Pollock in Westeuropa eingeleitet wurde, den „Japaner Sugai“, den „Chilene[n] Matta“ und den „Kubaner Lam“X als Beispiele für den internationalen Erfolg der Abstraktion und deren Ausdruck einer „menschlichen Freiheit“XI und „Weltkultur“XII an. An dem mexikanischen Maler Rufino Tamayo (1899-1991), dessen Arbeit Haftmann als einflussreich für Kunst an der Schnittstelle zwischen Surrealismus und Abstraktion anführte, XIII entzündeten sich in Mexiko Ende der 1940er Jahre hingegen leidenschaftliche Debatten. Sie zeigen wie Haftmanns Text, dass das Feld der modernen Kunst um 1950 ideologisch vereinnahmt war und als Austragungsort für kulturpolitische Differenzen beansprucht wurde. Während Haftmann Tamayo als Repräsentanten der „Weltsprache“ Abstraktion stark machte, wurde letzterer gerade hierfür von Verteidigern der Revolutionskunst in Mexiko kritisiert.XIV Dieser Situation lag das Dilemma zugrunde, dass sich der zeitgenössische Modernitätsdiskurs in Mexiko – in Abgrenzung zur Revolutionszeit – einer internationalen Öffnung verschrieben hatte. Für 18
Einleitung
die öffentlich geförderte Kunst, die nun allein vordergründig in den Dienst der Mexikanischen Revolution und tatsächlich vielmehr in den der wirtschaftlichen Öffnung gestellt wurde, bedeutete dies in großen Teilen die Aufgabe realistischer Formen zugunsten der „moderne[n]“ XV Kunst, als die die Abstraktion gemeinhin galt. Einige Revolutionskünstler befanden diese dagegen für überholt. Die Debatten zwischen Verfechtern der Revolutionskunst und denen einer Internationalität verheißenden Abstraktion in Mexiko zeigen, dass die ,nationale’ Kunst erneut vor dem Problem stand, eigene, traditionsbewusste Positionen gegenüber ,internationalen‘ Kunstströmungen zu vertreten. Wie bereits im 19. Jahrhundert strebte man zudem an, in der Außenwirkung als modern wahrgenommen zu werden. Sowohl im Spätwerk der Revolutionskünstler als auch in abstrakten Arbeiten jüngerer Künstler wurde beides beansprucht: Die Wandmaler aktualisierten ihre in der frühen Revolutionskunst postulierte Apologie des Mestizentums als Träger einer besseren Zukunft Mexikos. Insbesondere Rivera rückte das Prähispanische, als ,Wiege‘ der mexikanischen Identität, in seinen Arbeiten verstärkt in den Vordergrund. Die Künstler im Umfeld der Ruptura-Bewegung schlossen im Unterschied dazu mit Bezügen auf die ,mexikanische‘ Tradition und ,internationale‘ Modernität eher an das Verständnis nationaler Identität aus dem späten 19. Jahrhundert an. Der Landschaft und dem eingesetzten Material kam in beiden Ansätzen eine tragende Rolle zu: Künstler wie Rivera und Juan O’Gorman rekurrierten auf den Einsatz von Eruptivgesteinen und Sedimenten, deren Ikonographie in Mexiko bis zur prähispanischen Skulptur und Architektur zurückreicht. Die Landschaft des Tals von Mexiko mit den sich am östlichen Horizont abzeichnenden Vulkanen Popocatépetl und Ixtaccíhuatl, auf die sich mehrere der hier besprochenen Arbeiten visuell beziehen, war in der Malerei des späten 19. Jahrhunderts zur nationalen Topographie stilisiert worden. Die Referenzen auf die ,mexikanische‘ Landschaft und der Einsatz von natürlichen und synthetischen Materialien als deren Symbolträger prägten die öffentliche Kunst der Moderne in Mexiko, insbesondere der Hauptstadt, entscheidend und sind zentraler Gegenstand der folgenden Untersuchung. Künstler und Architekten wie Rivera und O’Gorman, deren Arbeit in der Revolutionstradition steht, setzten Naturmaterialien prominent und wenig bearbeitet in Mosaiken und an Fassaden ein. In den 1970er Jahren wurden Gesteinsformationen in der öffentlichen Kunst auch 19
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
vereinzelt in ihrem Umfeld stehengelassen und mit plastischen Elementen markiert. Landschaft wurde in der Ikonologie der öffentlichen mexikanischen Kunst somit visuell und physisch integriert. Darüber hinaus avancierten die der Landschaft entstammenden Materialien von einem Gegenstand mimetischer Wiedergabe zu einem integralen Werkbestandteil, dessen Symbolgehalt auf seiner scheinbaren Unbearbeitetheit basiert. Dem Einsatz von Naturmaterialien in der öffentlichen Kunst, dem eine industriekritische Haltung zugrunde lag, stand die Bezugnahme auf den urbanen Raum mit Materialien wie Beton und Stahl, die mit diesem identifiziert werden, gegenüber. Unter den Revolutionskünstlern waren es insbesondere Arbeiten Siqueiros’ im öffentlichen Raum, die von einer Technikeuphorie zeugten, welche der Künstler in Theorien zum Werk-Betrachter-Verhältnis im industrialisierten Raum thematisierte. Während Rivera und O’Gorman für ihre Werke die motorisierte Mobilität des Betrachters voraussetzten, aber deren Bedingungen durch die Folgen der Industrialisierung nicht speziell benannten, stehen diese in Siqueiros’ Arbeiten häufig im Vordergrund. Er war es auch, der als erster Künstler in Mexiko mit industriellen Materialien wie Zellulose und Metall sowie industriellen Verfahren entlehnten Sprühtechniken experimentierte. Während auch die abstrakt arbeitenden Bildhauer Materialien wie Stahl und Beton zunächst zur Repräsentation von Modernität einsetzten, kippte diese Zuweisung in den späten 1970er Jahren zu Teilen in eine offene Industriekritik. Mit ihren fortschrittsbejahenden und industriekritischen Arbeiten stellten sich viele mexikanische Künstler in den Kontext ihrer Zeit; andere knüpften an die europäischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts an. Siqueiros’ Fortschrittsapologie war etwa von der Technikfaszination und deren Ausdruck in Geschwindigkeit der italienischen Futuristen beeinflusst. Die industriekritische Haltung von Künstlern der späten 1970er Jahre ähnelt dagegen der der US-amerikanischen Land-Art-Künstler, besonders Robert Smithsons. Während Riveras Fortschrittseuphorie aus den 1920er Jahren in der Weltkriegszeit einer zunehmenden Industriekritik wich, postulierte der deutsche, nach Mexiko ausgewanderte Künstler und Kunsthistoriker Mathias Goeritz mit abstrakten Betonskulpturen industrielle Modernität. Diese ließ er jedoch nur eingeschränkt gelten, indem er zugleich das Fehlen von Spiritualität in der fortschrittsorientierten Gesellschaft kritisierte. In den Abstraktions- und Primitivismusde20
Einleitung
batten der europäischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Spiritualität eine zentrale Rolle gespielt. Im Unterschied zu den frühen, Modernität bekräftigenden Arbeiten Goeritz’ drückte sich die Forderung nach Spiritualität bei Künstlern wie O’Gorman in einem nationalbewussten Naturkult aus. Für die Untersuchung des Aspektes der nationalen Identität in der öffentlichen Kunst Mexikos ist es daher grundlegend und aufschlussreich, von der Vielfalt der Künstleransätze auszugehen. Dies hilft auch, um zwischen normierenden Diskursen und der realen Diskursheterogenität im Mexiko der Nachkriegszeit zu differenzieren. Während es im frühen Muralismo der 1920er Jahre zu einer weitgehenden Übereinstimmung zwischen der Kunst und den Anliegen der Revolutionspolitik kam, differierten diese zunehmend, insbesondere seit dem Antritt von Präsident Miguel Alemán (19461952). Siqueiros und Rivera distanzierten sich in ihrer Kunst und in Schriften von Alemáns wirtschaftsliberaler Position. Während viele Künstler der Ruptura in Abgrenzung zu den Wandmalern eher politikfern arbeiteten, bildeten die Arbeiten der Künstlergruppen der 1970er Jahre die Vielfalt der künstlerischen Ansätze, die sich im Zuge sozialer Spannungen vergrößert hatte, und insbesondere Positionen der Gegenöffentlichkeit infolge der gesellschaftlichen Umbrüche in Mexiko um 1968 ab. Die Untersuchung öffentlicher Kunst der mexikanischen Gegenbewegung zeigt, dass sich die Diskursdiskrepanz auch räumlich abbildete. Anstelle einer Unterstreichung von nationalen Konnotationen der jungen Räume der Peripherie boykottierten der Studentenbewegung nahe stehende Künstler diese mit ikonoklastischen Eingriffen und Arbeiten, die aus Protesthaltungen entstanden. Darüber hinaus aktivierten die Künstlergruppen das Stadtzentrum, dessen Funktionen, wie Kathrin Wildner gezeigt hat, XVI in den 1970er Jahren bereits zum Großteil an die Peripherie übergegangen waren, erneut als politisch determinierten Kern Mexikos. Der Raum des kolonialen Zentrums, der historisch, religiös und national konnotiert ist, wurde von den Künstlern, korrespondierend mit den Demonstranten, mit Aktionen und Performances als Ort des Protests markiert. Das Verhältnis von Kunst im öffentlichem Raum und nationaler Identität gerierte sich in Mexiko zur Zeit der Protestbewegung damit als Opposition. Der öffentliche Raum ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten Gegenstand zahlreicher Untersuchungen insbesondere der Stadtsoziolo21
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
gie und Kulturanthropologie geworden und die Literatur bis zur Unübersichtlichkeit gewachsen. In der folgenden Untersuchung werden Ansätze und Definitionen von öffentlichem Raum und Öffentlichkeit dort herangezogen, wo es die Auseinandersetzung mit den besprochenen Kunstwerken notwendig macht und zum Erkenntnisgewinn beiträgt. Der Analyse der Kunstwerke und ihres Verhältnisses zu den Räumen, in deren Kontext sie stehen, liegen dennoch einige wegbereitende Ansätze zugrunde. Dazu zählt Edward Sojas Untersuchung der Produktionsbedingungen von Raum im Kontext von Macht, Politik und Ideologie. XVII Ferner haben Jürgen Habermas’ Überlegungen zum Wandel der Öffentlichkeit hin zu einer zunehmenden Privatisierung des öffentlichen Raumes auch im mexikanischen Kontext Gültigkeit. Die von ihm aufgeworfene Frage nach der Repräsentativität von staatlich hergestellter Öffentlichkeit hat grundlegende Impulse für die folgende Untersuchung gegeben. XVIII Der bei Pierre Bourdieu thematisierte Aspekt der Heterogenität von Öffentlichkeit XIX wird insbesondere für die Analyse der ikonoklastischen Eingriffe in den 1960er und der Kunst der Gegenöffentlichkeit der 1970er Jahre relevant, mit denen sich verschiedene Öffentlichkeiten den physischen Raum unterschiedlich aneigneten. Die zunehmende Privatisierung von öffentlichem Raum ist für die mexikanische Situation zentral. Während sich im Unterschied zu Westeuropa der dem Konsum gewidmete Raum in Mexiko-Stadt nicht kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausbildete, sondern erst in den 1960er Jahren, nachdem die Peripherie schon zu großen Teilen ausgebaut war, wurde bereits in den 1950er Jahren Kunst zur Gentrifizierung von privaten Wohnsiedlungen eingesetzt. Im Unterschied zu öffentlicher Kunst in frei zugänglichen Bereichen staatlicher Wohnsiedlungen und öffentlicher Gebäude setzten hier die privatisierenden Mechanismen „sozialer Exklusion“XX in öffentlichen Bereichen privater Areale ein. Diese intensivierten sich später mit Kunst in Einkaufszentren sowie an Promenaden und Schnellstraßen sowie in den wenigen Fußgängerzonen Mexikos. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf Kunstwerken im öffentlichen Raum in Mexiko-Stadt. Dies ist der besonders wirkungsmächtigen Präsenz des Diskurses zur nationalen Identität in der Hauptstadt des zentralistisch regierten Landes geschuldet. Die Situation und Vergleichsbeispiele in der Provinz werden allein wo augenfällig und für die Argumentation interessant herangezogen. 22
Einleitung
Zahlreiche Arbeiten bilden durch das Zusammenwirken von Kunst und Raum, unter Einbeziehung der Landschaft und ihrer Materialien, traditionsbezogene nationale Metaphern, andere durch die Verbindung von Kunst und industrialisiertem Raum sowie dessen Materialien nationale Fortschrittsmetaphern. In einigen Kunstwerken sind Überschneidungen beider Ansätze entstanden. Noch in der öffentlichen Kunst der 1980er Jahre bestanden Konflikte mit dem offiziellen Diskurs, der sich in Mexiko auf Modernität und Fortschritt bezog sowie Traditionstreue einforderte. Zunächst wird auf das Verhältnis von Kunst und nationaler Identität seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Mexiko eingegangen. Daran anschließend wird Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Material und Nationale Identität anhand von Kunstwerken im industrialisierten öffentlichen Raum und der Nutzbarmachung von Landschaft und Naturmaterialien für diese zeigen, inwieweit öffentliche Kunst in der Nachkriegssituation dieses Verhältnis spiegelt und wo es von diesem differiert.
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I Kunst und nationale Identität in Mexiko
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Cuauhtémocs Palast in Paris
Viele Besucher der Pariser Weltausstellung von 1889 kamen in die französische Hauptstadt, um eine der meist gepriesenen Ingenieursleistungen des 19. Jahrhunderts zu besichtigen, den 300 Meter hohen Stahlfachwerk-Turm Gustave Eiffels. Während die Massen zum zukünftigen Wahrzeichen der französischen Hauptstadt zogen, gelangten nur wenige Besucher in die abgelegeneren Sektionen, in denen sich die Pavillons der afrikanischen, asiatischen und amerikanischen Länder, weit weg von den großen europäischen Präsentationen, befanden. Einer der am aufwändigsten gestalteten war der mexikanische Pavillon.1 Der 70 Meter breite, massiv wirkende Azteken-Palast (Abb. 1) lag in unmittelbarer Nachbarschaft zum argentinischen Pavillon und wurde durch einen Grünstreifen aus Kakteen und Palmen von der Flaniermeile abgetrennt. Das Gebäude bestand aus einer breiten Sockelzone mit einem zentralen, vorgelagerten Aufgang aus kleinen, steilen Stufen und einem Hauptgeschoss mit zinnenartigem Dachabschluss. Der nicht nutzbare Aufgang, der Assoziationen zu prähispanischen Pyramidentreppen wachrief, wurde von zwei massiven Pfeilern flankiert, auf denen Flammenschalen angebracht waren. Das Portal selbst bestand aus zwei Pfeilern, die mit zwei bronzenen Karyatiden einen breiten, fünfgliedrigen Architrav stützten, dessen Struktur den Faszien ionischer Tempel mit Kyma-Abschluss ähnelte. Auf dem Fries über der Kyma prangte der Schriftzug „REPUBLICA MEXICANA“. Darüber befand sich, zwischen zwei Figuren und an der Stelle, an der an griechisch-römischen Tempeln das Tympanon steht, ein kreisförmiges Relief. Dieses bildete den aztekischen ,Kalenderstein‘ ab, der das astronomische Wissen der Azteken versammelt. Über dem Reliefstein als höchstem Punkt des Baus wehte die mexikanische Flagge.2 27
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
1. Antonio Peñafiel und Antonio de Anza: Palacio Azteca, 1888-1889. Stahl und Holz, 70 x 30 x 17,20 m, Weltausstellungsgelände Paris (zerstört)
Während die zeitgenössische Presse den ephemeren Ausstellungsbau des Historikers Antonio Peñafiel und des Ingenieurs Antonio de Anza größtenteils ignorierte, fühlten sich sowohl mexikanische Katholiken als auch Karikaturisten auf den Plan gerufen: Der Architekt Manuel Francisco Álvarez kritisierte am Azteken-Palast ein angeblich offen zur Schau getragenes Heidentum. Er hatte die Intention der Erbauer erfasst, eine unverfälschte Reproduktion im „reinsten aztekischen Stil“3 zu konstruieren, und las den „Palast“ als „Imitation eines teocalli, also eines Pyramidenstumpfes mit rechteckiger Basis, auf dessen Plattform Menschenopfer stattfanden“4 . Die Azteken,5 obwohl zur Zeit der spanischen Eroberung 1521 nur eine unter weit über 100 autochthonen Bevölkerungsgruppen6 auf späterem mexikanischem Boden, galten seit Mitte des 19. Jahrhundert als erste ,Mexikaner‘ und ihr mächtiges Reich als erster mexikanischer Staat. Der Historiker Vicente Riva Palacio bewertete die Eroberung der Azteken durch die Spanier in der wichtigen Landesgeschichte aus Perspektive eines Liberalen, México a través de los siglos (1884-1889),7 zwar als Grundsteinlegung einer ‚neuen Nation‘, die spanische Kolonie 28
I Kunst und nationale Identität in Mexiko
Neuspanien.8 Mit der Unabhängigwerdung Neuspaniens vom Mutterland und dem Ausrufen der Mexikanischen Republik 1810/1821 sah er aber das „wahre Mexiko“, das Aztekenreich, wiederhergestellt.9 Die Erbauer des Azteken-Palastes befanden die Kunst der Azteken zudem für höher entwickelt als die griechische und hatten damit, in den Augen ihrer politischen Auftraggeber, die Legitimation für einen Weltausstellungspavillon im „aztekischen Stil“ sicherlich sogar übertroffen. 10 Wie der Historiker Mauricio Tenorio Trillo gezeigt hat, stellten Peñafiel und de Anza im Azteken-Palast, wie es die französischen Veranstalter von den außereuropäischen Ländern gefordert hatten,11 das „Autochthone“ ihrer Nation heraus und handelten damit nach dem Selbstverständnis der mexikanischen Liberalen. Sie gingen jedoch – von Kritiker Álvarez unbemerkt – über die historischen Vorlagen, die Zeichnungen und Lithographien französischer und mexikanischer Archäologen in México a través de los siglos hinaus (Abb. 2)12: Peñafiel, selbst Archäologe und Autor historischer Dramen, und de Anza ließen sich nicht nur von der aztekischen Bauform des teocalli inspirieren. Sie kombinierten ferner prähispanische Versatzstücke miteinander, obwohl diese keineswegs, wie Peñafiel behauptete, allein „aztekisch“ waren.
2. Anonym: Pirámides de Teotihuacan, México a través de los siglos. Weitere Angaben unbekannt
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3. Antonio Peñafiel und Antonio de Anza: Palacio Azteca, 1888-1889 (Fassade, Detail). Stahl und Holz, 70 x 30 x 17,20 m, Weltausstellungsgelände Paris (zerstört)
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I Kunst und nationale Identität in Mexiko
Die Friesbänder der Treppenpfeiler und der Kyma im Portalarchitrav und Gebälk (Abb. 3) zeigten etwa Varianten von Ornamenten des mixtekischen Zeremonialzentrums Mitla (ca. 500-1521, Abb. 4); die Karyatiden, laut Peñafiel originalgetreue Nachbildungen der Atlanten von Tula (ca. 900-1150, Abb. 5)13 , wiesen im Unterschied zu ihren Vorlagen europäisierte Gesichtszüge auf und stützten das Gebälk nicht allein mit dem Kopf, wie ihre vermeintlichen Vorbilder, sondern zusätzlich mit den Händen. Die Atlanten befand Peñafiel als früheste bekannte ,mexikanische‘ und deshalb als besonders nationaltypische Pilaster, die aber tatsächlich aus der voraztekischen Tolteken-Kultur stammen. Zudem existiert nicht nur in der aztekischen, sondern auch in der Palast-Architektur der Maya der breitgezogene Gebäudetypus aus hohem Sockel und schmalem Obergeschoss mit breitem Treppenaufgang.14 Die Kombination unterschiedlicher autochthoner Stile, aber insbesondere die Einbindung greco-romanischer Elemente zeigt, dass die Architekten an keiner authentischen Darstellung interessiert waren. Der Bau sprach vielmehr für die Intention der Auftraggeber,
4. Mitla, Patio de las Grecas, Mixtekisch, ca. 500-1521. Mitla, Oaxaca
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5. Los Atlantes de Tula, Templo de Tlahuizcalpantecuhtli, Toltekisch, ca. 900-1150. Basalt, Farbe, Höhe: ca. 500 cm, Tula, Hidalgo
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I Kunst und nationale Identität in Mexiko
Mexikos Kultur, die im Azteken-Palast den seit Jahrzehnten in Europa etablierten Historismus nachspielte, auf Augenhöhe mit der europäischen Kunst des späten 19. Jahrhunderts zu etablieren. Besonders deutlich wurde dies an den französisch geprägten Bronzen des mexikanischen Bildhauers Jesús Fructuoso Contreras.15 Dieser schuf für die Fassade des Azteken-Palastes zwölf, in Teilen vollplastisch ausgestaltete Bronzefiguren prähispanischer Götter und Helden auf Platten gleichen Materials.16 Contreras stellte, von Peñafiel beraten, Güsse verschiedener Schutzpatrone sowie der Gründer der ,mexikanischen‘ Nation mit prähispanisch anmutenden Symbolen in griechisch-römischen Vorbildern entlehnten Formen her. Der letzte Azteken-Prinz Cuauhtémoc (Abb. 6), der bis heute für seinen märtyrerhaften Widerstand gegen die Spanier als Nationalheld verehrt wird, war in traditionellem Federhemd und Federarmschmuck, aber mit europäischen Gesichtszügen sowie römischem Feldherrenhelm und Toga dargestellt. Die imperiale Grußgeste und nicht zuletzt das Material der Figur verraten, dass Contreras und Peñafiel den Anschluss an die europäische Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts suchten. Die prähispanische Skulptur kannte im Unterschied zur europäischen hingegen keine Bronze, sondern wurde, insbesondere von den Olmeken und Azteken, in Basalt und porösen Tuffen geschaffen.17 Den „Fortschrittszauberern“18 der Regierung Porfirio Díaz’ konnte ein solcher, von Contreras unternommener Kompetenzbeweis der mexikanischen Kunst für den Anschluss an Europa und das von ihnen geschätzte, dort wurzelnde Kosmopolitentum nur recht sein.19 Im Innenraum des Azteken-Palastes, den der französische Designer E. Rousseau mit ,mexikanischen‘ Ornamenten unter Einfluss des französischen Orientalismus ausstattete (Abb. 7), setzte sich das
6. Jesús F. Contreras: Cuauhtémoc, 1889. Bronze, Maße unbekannt, Palacio Azteca, Weltausstellungsgelände Paris (zerstört)
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Identitätsprogramm fort.20 Wichtigster Bestandteil der Ausstellung im Pavillon waren eine Reihe mexikanischer Historien- und Landschaftsgemälde sowie dokumentarische und ethnologische Fotografien. Das berühmteste Historiengemälde, Rodrigo Gutiérrez’ (18481903) Der Senat von Tlaxcala (1875, Abb. 8), zeigt die Tlaxkalteken in einer Versammlung nach römischem Vorbild, in der diese ihre Unterstützung der spanischen Eroberer gegen die Azteken diskutieren. Die Landschaftsgemälde José María Velascos (1840-1912), der für die Ausstellung verantwortlich war,21 haben die Landschaft des Tals von Mexiko zum Motiv, die seit den 1860er Jahren maßgeblich durch sein Werk als ,mexikanisch‘ definiert wurde. In Das Tal von Mexiko vom Hügel Santa Isabel aus (1877, Abb. 9) integrierte der Maler die Wappentiere Adler und Schlange. In Gekurvte Brücke der Mexikanischen Eisenbahn in der Schlucht von Metlac (1881, Abb. 10) stellte er Mexikos industrielle Entwicklung mit der detailgenauen Darstellung einer Brücke samt Eisenbahn unter Beweis, die mit der tropischen Vegetation kontrastiert. In Landschaftsbildern wie diesem thematisierte Velasco die „bukolischen Visionen vom verlorenen Paradies“22, die die europäische Malerei seit dem Einsetzen der Industrialisierung im späten 18. Jahrhundert beschäftigten und mit denen sich die mexikanischen Künste bis ins späte 20. Jahrhundert immer wieder auseinandersetzten.23 Die Industrialisierung wurde von den europäischen Künstlern insbesondere in Gegenüberstellung zu Landschaft und Natur thematisiert.24 Der britische Maler William Turner setzte sich in seinem berühmten Gemälde Regen, Dampf und Geschwindigkeit – Die Great Western Eisenbahn (1844, Abb. 11) mit der Eisenbahn und der mit ihr einhergehenden veränderten Wahrnehmung von Geschwindigkeit als Folge von industrieller Entwicklung auseinander.25 Geschwindigkeit und die Industrialisierung selbst galten als Fortschrittsindikatoren, die auch die mexikanischen Maler Ende des 19. Jahrhunderts verbildlichten. Mexikos Landesväter unterstützten im Azteken-Palast damit Kunst, die mit national bedeutsamen Episoden und Darstellungen der ,mexikanischen‘ Landschaft zur Repräsentation des kulturellen Standes der Nation beitrug. Obwohl keine staatlichen Aufträge, schienen die Gemälde im Azteken-Palast den mehr herbeigesehnten als realen Entwicklungsstand Mexikos messbar zu machen. Sie kamen hierin den kommerziellen Interessen der staatlichen Pavilloninitiatoren entgegen:26 Gemeinsam mit einer Reihe von Auftragsfotografien, die in regionalen Land34
I Kunst und nationale Identität in Mexiko
7. Antonio Peñafiel und Antonio de Anza: Palacio Azteca (Innenraum mit José María Velasco und Begleitern auf der Treppe, links), 1888-1889. Fotografie
8. Rodrigo Gutiérrez: El Senado de Tlaxcala, 1875. Öl auf Leinwand, 191 x 232,5 cm, Museo Nacional de Arte, Mexiko-Stadt
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schaften wiedergegebene Eisenbahnen zum Motiv haben, wurden sowohl die Historien- als auch die Landschaftsmalerei dafür eingesetzt, „,die technologische Verwandlung der Wildnis zu feiern‘“27 und ihre Zugänglichkeit für Mexikoreisende unter Beweis zu stellen. Im Azteken-Palast wurden auf diese Weise erstmals bereits existierende mexikanische Kunstwerke für politische und ökonomische Zwecke in Anspruch genommen, was sich nach dem Ende der Revolution (19101940) ähnlich wiederholte. Am klarsten erkannte ein zeitgenössischer Karikaturist der Zeitschrift El Hijo de El Ahuizote die pragmatischen Intentionen der mexikanischen Auftraggeber: In der Zeichnung Unsere Fassade in Paris (1889, Abb. 12) ließ er die Flammenschalen am Eingang zum Azteken-Palast auf den Bildnissen der Politiker und maßgeblichen Organisatoren der mexikanischen Ausstellung, Manuel Díaz Mimiaga und Carlos Pacheco, ruhen. Am Fries prangen sechs Medaillons mit Porträts weiterer Politiker, Militärs und Kleriker. 28 Die angeblichen Karyatiden aus Tula sind durch zwei Darstellungen Porfirio Díaz’ selbst
9. José María Velasco: Valle de México desde el Cerro de Santa Isabel, 1877. Öl auf Leinwand, 160 x 229 cm, Museo Nacional de Arte, Mexiko-Stadt
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ersetzt. Der Präsident mit dem unverwechselbaren Schnurrbart, in Wams und Lendenschurz gekleidet, ist hier zur bauchigen Doppelsäule mit Basis und Kapitell versteinert. Deren Schriftzüge bezeugen seinen Wunsch nach Wiederwahl („REELECCIÓN“). Der Karikaturist entlarvte die eigentliche Absicht Díaz’ und seiner engsten Mitstreiter: Sie setzten sich und ihrer populistischen Identitätspolitik mit dem Azteken-Palast ein ephemeres Denkmal. Mit der Erstarrung des Präsidenten im indianischen Fantasiekostüm und dem Titel der Karikatur spielte der Zeichner ironisch auf die Selbstexotisierung Mexikos und politische Repressionen unter Porfirio Díaz an. Die Karikatur zeigt, dass die mexikanische Außenpolitik bereits im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts alle Register zur Konstruktion einer nationalen Identität zog und international einsetzte. Dieses Modell hatte Folgen: Viele der früh geprägten Images, wie die Analogisierung von Azteken- und Mexikanertum und die Festlegung der mexikanischen Kultur auf eine tropisch dominierte, während das Land tatsächlich einen großen Reichtum an unterschiedlichen Klimazonen besitzt, spielen noch in den heutigen offiziellen Repräsentationen der Nation eine wichtige Rolle. Historien- und Landschaftsmalerei sowie Architektur dienten seit dem 19. Jahrhundert auch in anderen Ländern zur Prägung von nationaler Identität. Ethnologische Fotografien, wie jene von mexikanischen Autochthonen, und Lithographien von archäologischen Stätten waren dagegen Medien zur Selbstdarstellung, auf die vornehmlich außereuropäische Länder zurückgriffen. Sie bedienten hierin Teilen am westlichen Exotismus und förderten ihn, indem sie „transportable Bild[er] des Exotischen für den nationalen und internationalen Konsum“29 schufen. Wie in anderen unabhängig gewordenen Kolonien und in Europa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde auch in Mexiko die bildende Kunst von der Politik in die Pflicht genommen. Die Entstehung der Nationalstaaten brachte Fragen nach den zu definierenden, oft in Sprache, Kultur und Ethnien vielfältigen Gemeinschaften mit sich. Sie führte dazu, dass die politischen Machthaber die Bildung eigener nationaler Identitäten in Abgrenzung zu anderen Staaten, im Fall der ehemaligen Kolonien insbesondere zu den Mutterländern, förderten.30 An die Kunst wurde die Aufgabe gestellt, einen Imagekanon mitzuprägen, der das Spezifische der eigenen Nation hervorheben und zur Homogenisierung der Gesellschaft beitragen sollte. 37
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10. José María Velasco: Puente curvo del Ferrocarril Mexicano en la cañada de Metlac, 1881. Öl auf Leinwand, 121 x 153 cm, Privatsammlung
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11. William Turner: Rain, steam and speed – The Great Western, 1844. Öl auf Leinwand, 91 x 122 cm, Tate Gallery, London
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Noch vor der Französischen Revolution und der Entstehung der europäischen Nationalstaaten hatten sich die Vereinigten Staaten von Amerika 1776 für unabhängig erklärt und begonnen, eine eigene nationale Identität zu entwickeln. Dazu gehörte, dass Künstler Nationalhelden in Historienbildern und Denkmälern verewigten. Charakteristisch für diese frühen Versuche einer nationalen Kunst in den USA waren deren neokoloniale Motive und Stile.31 Die mexikanische Kunst aus der Unabhängigkeitszeit erfuhr eine vergleichbare Entwicklung. In Mexiko orientierte man sich an den Vorbildern Frankreich und Großbritannien und setzte zu diesem Zweck zunächst Historienmalerei, später auch Landschaftsmalerei und Denkmäler für Nationalhelden ein. Die mexikanische Historienmalerei des späten 19. Jahrhunderts befasste sich, wie im Fall der im Azteken-Palast ausgestellten Gemälde, intensiv mit Episoden aus der Übergangszeit von der AztekenHerrschaft zur Kolonialzeit als zentralem Moment der mexikanischen Geschichte.32 Aus der Historie isoliert, wurden diese Bilder, die das Spezielle an Mexikos Geschichte im Aufeinandertreffen von Spaniern und Autochthonen herausstellen, zu „Legitimationsurkunden“33 der Regierungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.34
12. Anonym: Nuestra Fachada en París (Detail), aus: El Hijo de El Ahuizote, Jg. 4, Nr. 184, 4. August 1889, S. 4-5
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I Kunst und nationale Identität in Mexiko
„Streit und Vermählung der Banane mit dem Marmor“35 – Der ,nationale Stil‘ zwischen Fortschritt und Tradition
Wie für andere außereuropäische Länder im 19. Jahrhundert stellte auch für Mexiko das Streben nach Anschluss an die industrialisierte Welt ein Problem dar, weil eine internationale Öffnung grundsätzlich mit der Aufrechterhaltung und Ausprägung eines nationalen Selbstbewusstseins in Konflikt stand. Im Rahmen der Ausbildung einer eigenen Identität formulierte der einflussreiche liberale Theoretiker Ignacio Manuel Altamirano die Forderung nach einem ,nationalen Stil‘ in den mexikanischen Künsten. Altamirano, der die fehlende Originalität der mexikanischen Malerei und Skulptur und die Orientierung der 1783 gegründeten Akademie San Carlos am europäischen Klassizismus bemängelte, fragte 1874: Warum haben sich so viele junge Künstler mit wirklichen künstlerischen Qualitäten nicht der Aufgabe gestellt, eine essenziell nationale, moderne Malerei- und Bildhauerschule zu gründen, die in Harmonie mit den unvergleichlichen Fortschritten des 19. Jahrhunderts steht?36
Mit der Forderung nach einer Verbindung von Nationalismus und Fortschritt, löste Altamirano in Mexiko eine Diskussion aus, die vor dem Hintergrund der Nationalstaatenbildung und der Industrialisierung ähnlich dem europäischen Diskurs verlief. Gleichzeitig relativierte er die erwünschte Authentizität des „nationalen Stils“, indem er dessen Orientierung an der europäischen Tradition und „hellenischen Schönheit“ befürwortete.37 Spätestens der mexikanische Beitrag auf der Pariser Weltausstellung von 1900 zeigte, dass kein dauerhafter „nationaler Stil“ existiert, sondern dieser sich in Anpassung an nationale und internationale Tendenzen verändert. Im Unterschied zum eklektizistischen AztekenPalast, dessen exotisierende Erscheinungsform dem Geist und den Anforderungen der Pariser Ausstellung von 1889 an die außereuropäischen Länder entsprochen hatte, verschrieb sich der spätere Pavillon dem rehabilitierten Klassizismus. Ähnlich den Bemühungen um die Findung nationaltypischer Stile anderer Länder, war jeder ,mexikanische Stil‘, der als ,national‘ deklariert wurde, ein temporäres Ergebnis der Verhandlungen zwischen den kulturellen und politischen Eliten, die sich in der Kunst abbildeten.38 41
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Zentrale Probleme, vor denen die Begründer des ,nationalen Stils‘ standen, waren der Exotismus und der mit ihm verbundene Rassendiskurs. Insbesondere Charles Darwins 1859 erschienene Evolutionstheorie On the Origin of Species war in Ländern wie Mexiko, die ein autochthones und ein europäisches Erbe besitzen, Grundlage für die Biologisierung der Diskussionen über die nationale Identität. Darwins Theorie, nach der alle Menschen von einer einzigen Evolutionslinie abstammen, regte in Mexiko speziell Debatten über Fragen zu Rassenhierarchien an.39 Ab den 1880er Jahren diskutierten mexikanische Wissenschaftler, aber auch Maler und dilettierende Naturforscher wie Velasco in der nach Vorbild der britischen Zeitschrift Nature gegründeten Publikation La Naturaleza („Die Natur“) Evolutionsfragen und andere wissenschaftliche Themen. Mexikanische Politiker begannen sich für den Rassendiskurs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu interessieren, als der Glaube an die ,Erziehbarkeit‘ der autochthonen Bevölkerung in der liberalen Rhetorik populär wurde. Die Liberalen, die auf den Werten der Französischen Revolution basierend eine Gesellschaft von Gleichen anstrebten, griffen dieses Charakteristikum in ihrem widersprüchlichen Umgang mit dem so genannten „problema indio“ und als Indikator für das von ihnen propagierte Entwicklungspotenzial Mexikos auf. Insbesondere Riva Palacio wertete die autochthone Bevölkerung mit darwinistischen Argumenten auf, indem er anhand physiognomischer Eigenschaften deren Überlegenheit gegenüber Weißen postulierte.40 Die Auftraggeber des mexikanischen Pavillons von 1889 plädierten dagegen für die Überlegenheit der europäischen Bevölkerung gegenüber den autochthonen und mestizischen Mexikanern. Sie verwiesen auf die Tatsache, dass die herrschende Klasse weiß war. 41 Die ,Unterlegenheit‘ der Autochthonen dokumentierten sie in der Fotografieausstellung im Azteken-Palast. 42 Die Verherrlichung der prähispanischen Vergangenheit über die eklektizistische Fassade und die gleichzeitige Diskriminierung der zeitgenössischen autochthonen Bevölkerung entlarvte, wie der Karikaturist des Hijo de El Ahuizote richtig erkannt hatte, die Widersprüchlichkeit von Porfirio Díaz’ Regime. 43 Riva Palacios Idealisierung des Mestizentums als Verbindung der ,positiven Eigenschaften‘ Autochthoner und Weißer wurde von Mexikos Liberalen hingegen als erstrebenswerte Umwertung des „problema indio“ verstanden und für den ideologisch aufgeladenen Indigenismus der Revolutionskunst wegweisend. 42
I Kunst und nationale Identität in Mexiko
Der Einfluss von Marxismus und Rassendiskurs auf die mexikanische Revolutionskunst
Der politische Diskurs des späten 19. Jahrhunderts, der sich zwischen der Erfindung und Nutzbarmachung von Tradition und dem Bezeugen von Modernität und Internationalität bewegte, spiegelt sich bis heute in der Vereinnahmung von Kunst zur Repräsentation nationaler Identität. Dies ließe sich von Mexiko auf andere Nationen übertragen. Betrachtet man jedoch speziell nationalistische und kommerzielle Interessen, die meist hinter nationalen Indienstnahmen von Kunst stehen, weist der Fall Mexiko einige Besonderheiten auf. Der wichtigste Einschnitt in der mexikanischen Geschichte am Anfang des 20. Jahrhunderts war die Revolution von 1910, die tiefe gesellschaftliche und kulturelle Umbrüche herbeiführte und für die bildende Kunst neue öffentliche Räume erschloss. Für diese Entwicklung war eine Bildungskampagne ungekannten Ausmaßes in Mexiko grundlegend, die Bildungsminister José Vasconcelos (1921-1924) neben einer intensiven Alphabetisierung der Bevölkerung, dem Druck und der Verteilung kostenloser Bücher insbesondere über öffentliche Wandbilder realisierte. 44 Präsident Álvaro Obregón (1921-1924), der nach politisch unsicheren Zeiten erstmals eine stabile Regierungsphase einleitete, 45 erhöhte den Etat des Ministeriums im Zuge seiner Ankündigung, Revolutionsversprechen wie sozialen Frieden und eine strukturelle Verbesserung von Bildungsniveau und Lebensstandard in Mexiko einzulösen, 46 um mehr als das Doppelte. Dies ermöglichte Vasconcelos, ab 1921 bedeutende Künstler wie Gerardo Murillo („Dr. Atl“, 1875-1964), Roberto Montenegro (1885-1968), José Clemente Orozco (1883-1949), Diego Rivera (1886-1957) und David Alfaro Siqueiros (1898-1974) mit der Ausführung großer Bildkompositionen zu beauftragen. Ziel war es, der in großen Teilen analphabetischen Bevölkerung Mexikos die Kultur und Geschichte des Landes visuell zu vermitteln. Die Enkaustiken und Fresken erhielten durch ihre Anbringung in Regierungsgebäuden und Bildungseinrichtungen eine große öffentliche Präsenz. Neben der Geschichtsvermittlung hatten sie zur Aufgabe, die homogenisierende Revolutionsidentität in das Bewusstsein möglichst vieler Mexikaner zu tragen und die breite Bevölkerung für die Gesellschaftsutopien der Revolution zu mobilisieren. 43
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In deren Ideologie wurden, in Abgrenzung zur Identität unter Porfirio Díaz, klassenkämpferisch Arbeiter, Bauern und Militärs niedrigen Standes aufgewertet und damit die maßgeblich aus dieser Bevölkerungsschicht stammenden Autochthonen und Mestizen zu den neuen Protagonisten in Mexikos blühend imaginierter Zukunft stilisiert. Sowohl die Idee von einer egalitären Gesellschaft als auch die Legitimation durch Rassendiskurse, wie den Glauben an die Erziehbarkeit der Autochthonen, 47 setzten dagegen politische Prinzipien des späten 19. Jahrhunderts fort. 48 Vasconcelos selbst formulierte den einflussreichsten Ansatz für die mexikanische Revolutionsidentität. Sein Konzept von einer „Kosmischen Rasse“ weist dem hispanoamerikanischen Mestizentum die Rolle einer fünften Rasse zu, die die ,besten Eigenschaften‘ ihrer autochthonen, europäischen, afrikanischen und asiatischen Vorfahren und deren Kulturen und Religionen in sich vereint: Die von den Weißen eroberte Zivilisation, die von unserer Zeit organisiert wird, hat die materiale und moralische Basis für die Verbindung aller Menschen in einer fünften universalen Rasse angelegt, der Frucht aller vorherigen und Überwindung alles Geschehenen. 49
Vasconcelos spricht sich in seinem messianisch klingenden Aufsatz gegen die Nationalstaaten in Lateinamerika aus und macht über die Vermittlung eines ,Wir‘ vielmehr einen Iberoamerikanismus stark. Er unterscheidet Hispanoamerika, seine iberischen Einflüsse und die gemeinsame Sprache von den angelsächsisch geprägten USA, Teilen Kanadas und von Brasilien. Hierin greift er auf Enrique Rodós Aufsatz Ariel (1900) zurück, in dem der uruguayische Schriftsteller ganz Spanischamerika eine gemeinsame Seele und Rasse zuschreibt und den Kontinent, unter Ausschluss des lusitanischen Brasilien, als eine einzige Nation versteht.50 Eines der wichtigsten Propagandamittel zur Verbreitung der hispanoamerikanisch ausgerichteten Revolutionsidentität in einer weitgehend nicht-alphabetisierten Gesellschaft wurde der mexikanische Muralismo, dessen Voraussetzung der Revolutionstopos vom Zugang zu Bildung für alle war.51 Die Malergruppe um Rivera, Siqueiros und Orozco schuf ihre öffentlichen Arbeiten in Absprache mit Vasconcelos in Enkaustik- und Freskentechniken. Die Höfe und Treppenaufgänge der in Ministerien, Schulen und Krankenhäuser umgewandelten Kirchen, Klöster und 44
I Kunst und nationale Identität in Mexiko
Stadtpaläste aus der Kolonialzeit boten riesige Wandflächen, die die Maler für die Anbringung ihrer monumentalen Bilder nutzten. Speziell Rivera, der die italienische Renaissancemalerei zwischen 1920 und 1921 vor Ort studiert hatte, befand die Enkaustik, die für ihn den Anschluss an die Antikenmalereien repräsentierte und die er für am besten konservierbar hielt, als besonders geeignete Wandmaltechnik. In Bezug auf seine erste Enkaustik Schöpfung (1922-1923, Abb. 13) in der Nationalen Vorbereitungsschule von Mexiko-Stadt sagte er: Die Malerei wurde in Enkaustik ausgeführt, mit den gleichen reinen Elementen und dem gleichen Vorgang, der in der Antike in Griechenland und in Italien eingesetzt wurde. Diese Vorgehensweise, die der Autor [dieses Wandbildes] aus eigener Kraft dank zehnjährigem Suchen wieder eingeführt hat, ist die haltbarste Malweise außer der gebrannten Email.52
Rivera verband sein Bildthema, das auf Gesellschaftsutopien verwies, entsprechend mit einer Technik, an der ihn insbesondere deren Antikenbezug interessierte. Hierin unterscheidet sich die mexikanische
13. Diego Rivera: Creación, 1922-1923. Enkaustik, Goldblatt, 109,4 x 109,4 m, Anfiteatro Bolívar, Escuela Nacional Preparatoria, Mexiko-Stadt
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Wandmalerei von anderen revolutionsnahen Kunstbewegungen wie der russischen Avantgarde, die vielfach den Film als junges, zukunftsweisendes Medium einsetzte.53 Der Verweis auf den humanistischen Hintergrund, vor dem die italienische Renaissancekunst erblüht war, zeigt, dass die – auch „Mexikanische Renaissance“54 genannte – Revolutionsmalerei, ebenso wie die mexikanische Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts, maßgeblich über die Verbindung europäischer Tradition und Geschichte mit zeitgenössischen Utopievorstellungen legitimiert wurde. Während einige Mitglieder der Künstlergruppe bald ideologiekritisch arbeiteten,55 stellte insbesondere Diego Rivera Revolutionsutopien dar. Eines seiner berühmtesten und bedeutendsten Werke der 1930er Jahre ist das monumentale Wandbild Geschichte Mexikos (1929-1935, Abb. 14) im Treppenaufgang des kolonialen Nationalpalastes von Mexiko-Stadt. Dieser war von der Unabhängigkeitszeit bis 1935 Sitz des Präsidenten. Den meisten Mexikanern ist er als eines der wichtigsten Schulausflugsziele bekannt. Rivera entwickelte in Die aztekische Welt (1929, Abb. 15) an der Nordwand, Von der Eroberung bis
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I Kunst und nationale Identität in Mexiko
1930 (1929-1930, Ausschnitt, Abb. 16) an der Westwand und Mexiko heute und morgen (1935, Abb. 17) an der Südwand ein chronologisches Geschichtspanorama mit einer Vielzahl von Porträts, das den Betrachter schnell überfordern kann. Im ersten Stock des arkadengesäumten Hofes brachte Rivera später weitere Wandbilder zur Geschichte und Kultur Mexikos an. Die aztekische Welt, Von der Eroberung bis 1930 und Mexiko heute und morgen repräsentieren jeweils eine Epoche, womit bereits der Werkauf bau die Revolutionsideologie reflektiert. Über Zeichen und Komposition entstehen Querverweise zwischen den historischen Einheiten. Die toltekisch-aztekische Gottheit Quetzalcóatl in Die aztekische Welt steht beispielsweise in Bezug zu Karl Marx als zentraler Figur in Mexiko heute und morgen, mit der Rivera Mexikos Zukunft als marxistisch idealisierte.56 Quetzalcóatl ist in Die aztekische Welt als Priester im Gewand der „Gefiederten Schlange“57 und Gott der Azteken dargestellt. Er thront vor der schon bei Velasco national geprägten und bei Rivera synthetisierten Vulkanlandschaft des Tals von Mexiko und bildet den Mittel-
14. Diego Rivera: Historia de México, 1929-1935. Fresko, 233,08 m2 , Treppenhaus, Palacio Nacional, Mexiko-Stadt
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15. Diego Rivera: El mundo azteca, 1929. Fresko, 7,49 x 8,85 m, Nordwand, Treppenhaus, Palacio Nacional, Mexiko-Stadt
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16. Diego Rivera: De la Conquista a 1930, 1929-1930. Fresko, 8,59 x 12,87 m, Westwand, Treppenhaus, Palacio Nacional, Mexiko-Stadt
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17. Diego Rivera: México hoy y mañana, 1935. Fresko, 7,49 x 8,85 m, Südwand, Treppenhaus, Palacio Nacional, Mexiko-Stadt
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punkt aller Handlungen in der Bildkomposition. Quetzalcóatl sitzt am Fuße eines Tempels, der die abgeschrägte Stufenarchitektur der Sonnen- und der Mondpyramide im voraztekischen Teotihuacan (ca. 150 v. Chr.-750 n. Chr.) aufruft. Der toltekische Priester ist, Vasconcelos’ Interpretation folgend, als „Zivilisationsursprung“ wiedergegeben. Als „konstruierender Gott“58 leitet er seine Untertanen bei der Errichtung der prähispanischen Welt an. Zugleich thematisierte Rivera mit der Darstellung einer in Bauern, Handwerker, Wissenschaftler und Künstler differenzierten Gesellschaft die ‚Entwicklungsfähigkeit‘ der Autochthonen nach dem Vorbild der Liberalen im späten 19. Jahrhundert und der Revolution, die er mit dem Aztekenreich repräsentierte. Räumlich unmittelbar gegenüber findet die Welt der Azteken ihre Entsprechung in einer Zukunftsvision. Riveras modernes Mexiko besteht aus geballten, ungeordnet wirkenden Menschengruppen. Sie sind durch ihre Kleidung als Stellvertreter verschiedener Berufsgruppen erkennbar: Arbeiter, Bauern, Militärs und Künstler, die sich protestierend für eine gleichberechtigte Gesellschaft einsetzen und gegen Repressionen durch Politik, Militär und Kirche wehren, die Teil einer Unterdrückungsmaschine im Bildzentrum sind. Karl Marx weist einem Arbeiter, einem Militär und einem Bauern als mestizischen Vertretern der mexikanischen Nation den Weg in eine bessere Zukunft. Rote Fahnen in Demonstrationszügen verweisen auf sozialistische Solidaritätsformeln, regelmäßige Felder auf eine geordnete Landwirtschaft, Kraftwerke und Hochhausarchitektur auf den angestrebten technischen Fortschritt Mexikos nach sowjetischem Vorbild. Ein Marineschiff mit russischer Flagge referiert zusätzlich auf die Vorbildfunktion Russlands für Riveras Vorstellung vom modernen Mexiko, das dieser, wie Laurance P. Hurlburt herausstellt, in Skizzen vor 1935 noch als technisierte Bauern- und Arbeitergesellschaft ohne Marx als Koordinator erdachte.59 Die Schiffsikonographie knüpft ferner, analog zum Feuerdrachen im Wandbild zum prähispanischen Mexiko als einer seit dem 19. Jahrhundert in der britischen Grafik gängigen Karikatur der Dampfeisenbahn,60 an eine der wichtigsten Repräsentationen von gesellschaftlichen und institutionellen Ordnungen61 sowie von Industrialisierung und Fortschritt an. Bereits Turner zielte in Regen, Dampf und Geschwindigkeit auf die Darstellung von Wahrnehmungsveränderungen durch Geschwindigkeit beim Betrachter als Folge der neuen industriellen Errungen51
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
schaften ab. Sowohl Turner als auch Velasco, der in Gekurvte Brücke der Mexikanischen Eisenbahn in der Schlucht von Metlac die technischen Bildelemente, im Kontrast zur präzis botanisch gezeichneten, tropischen Natur, realistisch darstellte, interessierten neueste naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Rivera setzte sich insbesondere mit Darwins Evolutionstheorie auseinander. Bereits im Wandbild Marina (1923-1924, Abb. 18), das Teil des von Vasconcelos an Rivera vergebenen Großauftrags zur Ausmalung der Innenhöfe des Bildungsministeriums (1923-1928) ist, fügte er ein dampfendes Schiff am Horizont ein.62 Die Industrialisierungsallegorie verweist, aus einer Evolutionssituation mit Walen, Amphibien, einer in Anlehnung an Botticellis berühmtes Werk geschaffenen weißen Venus und ihrem dunkelhäutigen Pendant, in die Ferne. Vergangenheit und Zukunft Mexikos werden hier verdichtet und der industrielle Fortschritt als angestrebtes Ideal dargestellt. Wie Marina greift auch Geschichte Mexikos die liberale Theorie vom Anschluss des unabhängigen und – in der Fortsetzung – revolutionären Mexiko an die prähispanische Zeit auf. Sie wird hier, wie in Die aztekische Welt, als ein ursprünglich-mythologisches Goldenes Zeitalter präsentiert. Marx zeigt in Mexiko heute und morgen auf eine industrialisierte Welt als höchste Entwicklungsstufe eines ,unberührten‘ Mexiko, womit ein deutlicher, innerer Widerspruch verbunden ist. Die Schriftrolle in Marx’ linker Hand mit Auszügen aus dem Kommunistischen Manifest bezeugt dessen Lehrbefähigung. Der Ausblick, auf den Marx’ ausladender rechter Arm verweist, verheißt künftige Prosperität. Quetzalcóatl kehrt bei Rivera somit, im Sinne Vasconcelos’, als konstruierender Prophet und Pädagoge in der Verkörperung von Marx ins revolutionäre Mexiko zurück.63 Im Unterschied zu Die aztekische Welt ist hier dessen lehrende Rolle prominenter und vorbildhaft für spätere QuetzalcóatlDarstellungen Riveras, wie der am Universitätsstadion von 1952. Verbindungen zwischen der prähispanischen Welt und der der spanischen Eroberer entstehen mit dem Gefecht zwischen Cuauhtémoc und Hernán Cortés im zentralen Bildfeld Von der Eroberung bis 1930. Mit dem Kampf beider Zivilisationen, die hier über ihre symbolträchtigsten Protagonisten repräsentiert sind, rief Rivera formelhaft die bedeutendste aztekische Verteidigung gegen die Spanier auf.64 Auch der Anbringungsort des Bildes verweist auf das gewalttätige Aufeinandertreffen von Azteken und Spaniern: Der Nationalpalast wurde auf dem zerstörten Palast des letzten Azteken-Herrschers Moctezuma II. 52
I Kunst und nationale Identität in Mexiko
errichtet. Rivera thematisierte hier den Widerstand der Azteken gegen die Spanier, der nachträglich die Revolution als Bewegung zur Wiederherstellung des prähispanischen ,Utopia‘ legitimierte.65 Laut Revolutionspropaganda konnte dieses nur gewaltsam wiederhergestellt werden. Über der Kampfszene prangt das Nationalemblem mit dem Adler, der eine Schlange aus dem Kaktus zieht. Gemeinsam mit der Darstellung der Jungfrau von Guadalupe, in der Mitte von Mexiko heute und morgen und auf einer Längsachse mit Marx, verbindet es optisch die auf die aztekische reduzierte, prähispanische mit der modernen Welt. Rivera bediente sich damit einer ikonographischen Tradition, die Unabhängigkeitsanführer im frühen 19. Jahrhundert begründeten. Sie brachten die dunkelhäutige Jungfrau und das Nationalemblem als bürgerliche und synkretistische Kontinuitätszeichen der mexikanischen Geschichte auf ihre Banner.66 Rivera verweist über die Zeichen Adler und Schlange sowie über Quetzalcóatl und Marx auf die Pfeiler der Revolutionsidentität und machte auch die Jungfrau von Guadalupe als tradiertes katholisches Symbol für seine nationale Identitätsgeschichte nutzbar. Den Höhepunkt des Werks bildet das moderne Mexiko mit seinen drängenden Massen, mit denen Rivera das transformatorische Potenzial der Bevölkerung anschaulich machte,67 und mit deren Anleitung durch den Marxismus zur Wiederherstellung des utopisch verklärten Aztekenreichs.
18. Diego Rivera: Marina, 1923-1924. Fresko, 3,71 x 7,70 m, Treppe, Patio del Trabajo, Treppe, Secretaría de Educación Pública, Mexiko-Stadt
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Riveras Apologie des Mestizentums und sein Indigenismus wurden generisch für die mexikanische Historienmalerei der Revolutionszeit. Landesweit entwarfen Wandmaler in den 1920er und 1930er Jahren und darüber hinaus Geschichtspanoramen, die meist die Ziele der Revolution und die mestizische Bevölkerung als deren Protagonisten glorifizierten.68 Nachdem sich nach Vasconcelos’ Rücktritt 1924 die Auftragslage für die Revolutionskünstler in Mexiko-Stadt deutlich verschlechtert und Vasconcelos’ Nachfolger José Manuel Puig Casauranc bis auf Montenegro, Rivera und dessen Assistenten Xavier Guerrero alle staatlichen Wandmaler entlassen hatte,69 wurden zunehmend murales zur Regionalgeschichte in öffentlichen Gebäuden in der Provinz angebracht.70 Abgesehen von dieser kurzzeitigen örtlichen Verlagerung der Kunst, die sich auch in der Förderung von lokaler Volkskunst zeigte,71 standen die Bundesstaaten in der kulturpolitischen Realität jedoch weit hinter der Förderung von Projekten in der Hauptstadt zurück.
Exkurs 1: Privatisierende und sakralisierende Tendenzen in der öffentlichen mexikanischen Revolutionsmalerei
Auch wenn die Enkaustiken und Fresken offiziell einem möglichst breiten Publikum Mexikos Geschichte und Revolutionsinhalte vermitteln sollten, haben jüngere Studien eine innere Hermetik der frühen Wandbildikonographie, trotz der Anbringung in öffentlichen Räumen, festgemacht. Dies führte zu einer relativen Privatisierung der Bildinhalte für wenige Vorgebildete. In Riveras Fresken im Bildungsministerium, einer monumentalen Hommage an die Traditionen und soziale Auflehnung der mexikanischen Bevölkerung in 117 Bildern, befinden sich, wie der Kunsthistoriker Renato González Mello herausgestellt hat, eine Reihe esoterischer Codes. Darunter sind Darstellungen eines brennenden Akazienbusches, der auf das Grab des legendären Begründers des Freimaurertums Hiram Abiff verweist (Kaktus, 1923, Abb. 19), und von geschmolzenem Metall (Die Schmelzung – Den Tiegel leerend, 1923, Abb. 20), das in der Rosenkreuzer-Emblematik alchemistische Prozesse benennt.72 Selbst geübten Betrachtern wird es dadurch erschwert, den Bildgegenstand jenseits der vordergründigen Bedeutung zu erfassen. Dieser Effekt steht in offenem Widerspruch zu dem Ziel, das Rivera und andere Künstler im Gründungsmanifest der 1923 initiierten 54
I Kunst und nationale Identität in Mexiko 19. Diego Rivera: Cactácea, 1923. Grisaille, 140 x 50 cm, Patio del Trabajo, Secretaría de Educación Pública, Mexiko-Stadt
20. Diego Rivera: La fundición – Vaciando el crisol, 1923. Fresko, 438 x 316 cm, Patio del Trabajo, Secretaría de Educación Pública, Mexiko-Stadt
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Künstlergewerkschaft Sindicato de Obreros Técnicos, Pintores y Escultores postuliert hatten. Dieses besagte, dass Kunst allen Betrachtern zugänglich und die mexikanische Geschichte über Zeichen lesbar sein sollte.73 Während Rivera, der mit Orozco, Siqueiros und anderen die aktivistische Interessengemeinschaft aus Solidarität mit Bauern- und Arbeiterorganisationen ins Leben gerufen hatte, die Revolutionsziele offiziell aktiv unterstützte, legen seine frühen Wandbilder die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis offen. Der Widerspruch von öffentlicher, realistischer Malerei und esoterischem Bildinhalt in den frühen Wandbildern des Rosenkreuzers Rivera74 spiegelt das Verhältnis zwischen Propaganda und restaurativen politischen Tendenzen der Revolutionszeit. Dieser Zusammenhang zeigt, wie nah sich in Mexiko Kunst und Politik in dieser Zeit standen.75 Das Wandbild Geschichte Mexikos weist auf einen weiteren Widerspruch hin, der sowohl Riveras Werk als auch der offiziellen Revolutionspropaganda immanent war. Während beide offiziell die Kirche und ihren Einfluss auf die Gesellschaft bekämpften, griff der Maler im Bildauf bau auf den sakralen Typus des Triptychon zurück. Riveras Fresko über die prähispanische Zeit entspricht der Paradiestafel, die Eroberungsdarstellung auf dem zentralen Feld dem Sündenfall und das Fresko zum modernen Mexiko der Wiederherstellung des Paradieses mit der Heilsverkündung.76 Auch die von Rivera eingesetzten Techniken, Fresko und Enkaustik, ergänzt durch Vergoldungen im Fall von Schöpfung, die in der Renaissance vornehmlich zur Ausgestaltung von Kirchen und Klöstern eingesetzt wurden, sprechen für religiöse Vorbilder der Revolutionspropaganda trotz einer inhaltlichen Abwendung von der Institution Kirche.77 Ähnliches gilt für die Umwandlung von sakralen Gebäuden aus der Kolonialzeit in profane. Besonders Vasconcelos interessierte die Reduzierung ideologischer Differenzen zwischen Katholizismus und Revolutionsrhetorik über die Wandmalerei und ihre Wirkungsräume. Deren Nutzern, also potenziell jedem mexikanischen Bürger, sollte ein Zusammengehörigkeitsgefühl ähnlich Gläubigen in prähispanischen Tempeln und in Kirchen vermittelt werden.78 Der Bildungsminister setzte hier auf die Projektionskraft bestehender religiöser Muster in einer gläubigen Gesellschaft. Sein Vorgehen war dem der spanischen Missionare im 16. und 17. Jahrhundert, die die kultischen Traditionen und Sehgewohnheiten der Autochthonen für deren Bekehrung zum christlichen Glauben nutzten,79 daher nicht unähnlich. Vergleichbar der Legende 56
I Kunst und nationale Identität in Mexiko
von der Jungfrau von Guadalupe, die 1531 dem später Juan Diego genannten Azteken erschienen sein soll und maßgeblich zur Bekehrung der Autochthonen zum christlichen Glauben beitrug, setzte man in den Wandbildern und ihren Anbringungsorten auf die Überzeugung der Betrachter durch die Überlagerung von Sakralem und Profanem. Der Verdacht zeitgenössischer Kritiker, Vasconcelos wolle mit seiner Bildungspolitik eine Ersatzreligion implementieren, war insofern keinesfalls unbegründet.80
Exkurs 2: Denkmäler und nationale Identität im bürgerlichen Raum der Reformzeit
Aus heutiger stärker als aus zeitgenössischer Perspektive wird deutlich, dass die Revolutionsumwälzungen mit der Neuordnung des öffentlichen Raumes auch ein wichtiges liberales Projekt vollendeten. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts waren die mexikanischen Regierungen bestrebt, zivile Zeichen der jungen Nation im öffentlichen Raum anzubringen. Sie stießen jedoch auf mehrere Hindernisse: die Ordnung der Stadträume nach Prinzipien des katholischen Lebens mit Prozessionsachsen, Kirchhöfen und -plätzen und die Tradition der Bevölkerung, diese mit Umzügen, Andachten und Märkten nach dem katholischen Heiligenkalender zu bespielen. Dem begegnete zuerst die liberale Reformpolitik der 1860er Jahre mit einer ähnlichen Strategie wie Vasconcelos rund 60 Jahre später. Während religiöse Symbole wie die Jungfrau von Guadalupe – aufgrund des fortbestehenden großen Einflusses der katholischen Kirche – weiterhin zur Identitätsstiftung eingesetzt wurden, führte man Defilees zu Ehren der Väter der Republik auch an alten Prozessionsstrekken entlang. Einweihungen öffentlicher Gebäude finden bis heute – in Anlehnung an den katholischen Heiligenkalender – häufig an Nationalfeiertagen statt.81 Diese Tendenz zeigt sich deutlich an dem großzügig angelegten Boulevard nach Pariser Vorbild, den Kaiser Maximilian von Habsburg in seiner Regierungszeit (1864-1867) von Manuel Tolsás Reiterstandbild Carlos IV (Abb. 21) am Paseo de Bucareli bis zum westlich davon gelegenen kaiserlichen Schloss im Chapultepec-Park errichten ließ. Für die Prachtstraße, die 1873 ihren heutigen Namen Paseo de la Reforma erhielt, plante man ab 1877 Skulpturen, die auf Dekret von Präsident 57
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
21. Reiterstandbild Carlos IV, 1796/1803 (zeitgenössische Fotografie). Bronze, Stein, Höhe ca. 550 cm, Avenida Paseo de la Reforma, Mexiko-Stadt, heute: Plaza Manuel Tolsá, Mexiko-Stadt
22. Francisco M. Jiménez und Miguel Noreña: Monumento a Cuauhtémoc, 1887. Bronze, Stein, Höhe ca. 500 cm, Avenida Paseo de la Reforma, Mexiko-Stadt
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I Kunst und nationale Identität in Mexiko
Porfirio Díaz die Eroberung, die Unabhängigkeit und die zeitgenössischen Reformen Mexikos verbildlichen sollten.82 1887, dem Jahr der Aufstellung des Denkmals für den Aztekenprinzen Cuauhtémoc (Abb. 22), schrieb Entwicklungsminister Francisco Sosa als Maßnahme zur Machtzentralisierung Díaz’ einen Wettbewerb aus: Jeder Bundesstaat sollte zwei lebensgroße Statuen seiner wichtigsten Helden in Marmor oder Bronze zur Aufstellung an der wichtigsten Allee der Nation liefern. 83 Zum einen spricht Sosas Wettbewerb von einer Zentralisierung durch die Addition regionaler Heldenkulte, was in den späteren Imageprägungen nationaler Identität durch die Konzentration auf wenige Nationalhelden aufgegeben wurde. Zum anderen zeigt sich an der Enthüllung der Statuen an Nationalfeiertagen, dass auch Díaz’ Regierung die religiöse Praxis von Weihungen an Heiligentagen für ihr Bestreben nutzte, der Bevölkerung bürgerliche Inhalte durch ein „offenes Buch der Nationalgeschichte“84 zu vermitteln. Die mexikanische, am französischen Vorbild orientierte Bourgeoisie fand mit den neuen Denkmälern, die dem neokolonialen Diskurs verschrieben waren, ihre Identität im öffentlichen Raum; das Gros der Bevölkerung dagegen erst mit den nationalen Images der Revolution.
Kunst in den öffentlichen Räumen des „Mexikanischen Wirtschaftswunders“
Der Ausbau und die Revision des liberalen Kanons in der Revolutionskunst sowie die räumlichen Veränderungen der 1920er Jahre wirkten auch in der mexikanischen Kunst um 1950 nach. Der Raum der mexikanischen Revolution, im Zuge derer man viele Flächen und Plätze im Stadtzentrum erst für weltliche Kunst zugänglich gemacht hatte, wurde weiterhin von der Massenbevölkerung genutzt. Bereits ab den 1940er Jahren begann sich dieser Raum jedoch durch die nachrevolutionäre Entwicklung Mexikos, die Folgen des Zweiten Weltkriegs und die damit verbundene beschleunigte Industrialisierung in dem bis dahin nur wenig technisierten Land nachhaltig zu verändern. Mexiko hatte in den Kriegsjahren, in denen die Wirtschaft der europäischen Länder und zeitweise auch der USA weitgehend am Boden lag, seine industrielle Produktion verstärkt und zunehmend 59
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
23. Mario Pani: Unidad Habitacional Presidente Alemán, 1947-1949. Avenida Coyoacán/Félix Cuevas, Colonia del Valle, Mexiko-Stadt
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I Kunst und nationale Identität in Mexiko
exportiert. 1938 verstaatlichte Präsident Lázaro Cárdenas (1934-1940) das Erdöl, wodurch die Benzinpreise und Anschaffungskosten für Autos sanken.85 Breitere Bevölkerungsschichten hatten nun Zugang zu Privatfahrzeugen, weshalb die Verkehrsdichte in den Großstädten um ein Vielfaches zunahm. Das „Mexikanische Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit beschleunigte das Wachstum der Städte. Daraus resultierende Probleme wie das Fehlen von Wohnraum und Wasserknappheit nahmen zu, wodurch die tatsächliche Lebensqualität jenseits des Wirtschaftswachstums sank. 86 Für die öffentliche Kunst entstanden neue Projektionsräume, nachdem die Stadtplaner der Hauptstadt ab den 1940er Jahren mit dem in Mexiko neuen Massenwohnungsbau auf den Bevölkerungszustrom vom Land reagierten. 1943 gründeten der staatlich Beauftragte für öffentliche Bauten Salvador Zubirán87 und der Architekt José Villagrán García ein „Seminar für Krankenhausstudien“. Im Jahr darauf rief Bildungsminister Jaime Torres Bodet einen „Nationalen Schulplan“ ins Leben. Zahlreiche Krankenhaus- und Schulkomplexe wurden bis in die 1960er Jahre hinein in Maßstäben gebaut, die bis dahin in Mexiko unbekannt gewesen waren. Private Investoren finanzierten Vorortsiedlungen aus Einfamilienhäusern für die gehobenen Einkommensschichten. Mit zahlreichen neuen, mehrspurigen Verkehrsachsen schloss man die vor die Stadt gebrachten Wohngebiete an die Innenstadt an und stellte so Verbindungen zwischen dem Zentrum und der Peripherie her, die in den Interessensmittelpunkt von Städteplanern und Politikern, aber auch von Künstlern und Architekten rückte. Präsident Miguel Alemán erteilte dem Architekten Mario Pani (1911-1993) Ende der 1940er Jahre Aufträge für mehrere Wohnsiedlungen in der Hauptstadt: Zwischen 1947 und 1949 entstand das erste Massenwohnungsbauprojekt, die Unidad Habitacional Presidente Alemán (Abb. 23) in der Mittelschicht geprägten Colonia del Valle, mit 1000 Wohnungen in zwölf Hochhäusern; 1952 die Siedlung Multifamiliar Benito Juárez aus über 80 unterschiedlich hohen Gebäuden am Rand der Colonia Roma.88 Die durchrationalisierten Hochhausblöcke, Mehr- und Einfamilienhäuser sollten auf möglichst geringer Grundfläche eine Vielzahl von Personen unterbringen. José Clemente Orozco nutzte als einer der ersten Wandmaler die neuen Möglichkeiten für öffentliche Kunst und entwarf für die Unidad Habitacional Presidente Alemán das unvollendete und nicht erhaltene 61
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
24. Carlos Mérida: Wandreliefs, 1952. Zement, Farbe, ca. 4000 m 2 , Multifamiliar Benito Juárez, Colonia Roma, Mexiko-Stadt (1985/1986 zerstört)
Außenwandbild Der Frühling (1949).89 Der guatemaltekische Wandmaler Carlos Mérida gestaltete für die Schmalseiten der schachtelartigen Gebäude, die zahlreichen Treppenwände und Balkone des Multifamiliar Benito Juárez Außenreliefs von über 4000 Quadratmetern Gesamtfläche. Mathias Goeritz beschrieb die emblematisierenden Wandfiguren (Abb. 24) in der von Pani herausgegebenen Architekturzeitschrift Arquitectura México zugespitzt als „abstrakt“.90 Die staatlichen Auftraggeber hatten erkannt, dass die Zukunft der nationalen Kunst nicht mehr in den Wandbildern der Kolonialgebäude der historischen Zentren lag, sondern in der Anbringung an den Orten, die das moderne Mexiko definierten: Wohnblocks, neue Behördenkomplexe, öffentliche Gebäude außerhalb der Innenstädte und an Verkehrsachsen, die die Wohngebiete in Randlagen an die Zentren banden. Durch diese räumliche Verlagerung der Kunst wurde großformatige öffentliche Skulptur in Mexiko ab den späten 1940er Jahren erst möglich. Hauptvertreter der neuen Tendenz blieben zunächst die Muralisten, die statt Enkaustiken und Fresken nun Reliefs und Mosaiken 62
I Kunst und nationale Identität in Mexiko
in den Außenbereichen der neu entstandenen Gebäude anbrachten. Siqueiros reagierte auf die neuen Bedingungen und Aufgaben für öffentliche Kunst mit einer „Theorie der integralen Plastik.“91 Mit ihr rechtfertigte er seine eigenen Reliefs als der neuen Betrachtersituation angemessen. Die Möglichkeiten des Muralismo der Spätjahre bildeten sich unter anderem an Riveras Mosaiken Eine populäre Geschichte Mexikos am Teatro de los Insurgentes (1953, Abb. 25) ab, einer Bilderzählung der mexikanischen Kulturgeschichte. Siqueiros dagegen ging mit futuristisch wirkenden Außenpanelen an dem Kulturzentrum Polyforum (19661971, Abb. 26), die die Dreidimensionalität des Bildträgers miteinbeziehen, auf die veränderte Betrachtersituation ein. Seit den 1940er Jahren waren jedoch mehr und mehr Künstler mit der Situation der mexikanischen Kunst unzufrieden, in der die Wandmalerei seit über 20 Jahren dominiert hatte. Künstler, die ihre Arbeit nicht nationalen Inhalten verschrieben, wurden in der Vergabe von staatlichen Aufträgen häufig übergangen. Dies lag nicht zuletzt daran, dass Rivera, Siqueiros und Orozco Mitglieder der 1947 von Präsident Alemán ins Leben gerufenen Wandbildkommission waren, die alle Vorschläge für öffentliche Kunst begutachtete.92
25. Diego Rivera: Una historia popular de México, 1953. Mosaiken, Teatro de los Insurgentes, Mexiko-Stadt
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
26. David Alfaro Siqueiros: Poliforum Cultural, 1971. Asbest, Zement, Metall, Acryl, Pyroxylin, Maße unbekannt, Poliforum Cultural, Parque de Lama, Mexiko-Stadt
Die Debatten um die ,nationale Kunst‘ um 1950
Dass sich um 1950 neue Tendenzen in der mexikanischen Kunst durchsetzten, hing eng mit der internationalen Öffnungspolitik unter Präsident Alemán und dem Einfluss europäischer Künstler zusammen. Diese waren während des europäischen Faschismus nach Mexiko, das sich unter Präsident Cárdenas für Exilanten öffnete, emigriert. Der Austausch zwischen Vertretern der europäischen Avantgarde der 1930er Jahre wie Wolfgang Paalen, Leonora Carrington und Remedios Varo sowie dem künstlerischen Nachwuchs in Mexiko führte zum Streit mit Rivera und Siqueiros. Beide grenzten sich deutlich von den Verfechtern einer Öffnung der mexikanischen Kunst ab. Die aus dieser Situation resultierenden Auseinandersetzungen wurden insbesondere im Spannungsfeld von einem nationalbetonten Realismus und der als international rezipierten Abstraktion ausgetragen. Der Kritiker Luis Cardoza y Aragón machte sich für eine Öffnung und Ablösung des Realismus der mexikanischen Wandmaler zugunsten von Strömungen stark, die nicht als genuin mexikanisch 64
I Kunst und nationale Identität in Mexiko
galten.93 Hierfür bemühte man den in Mexiko bis dahin wenig rezipierten Künstler und Muralisten Rufino Tamayo als Vorbild. Dieser strebte laut Cardoza y Aragón die „vollendete Reinheit der Malerei“94 an und wurde auch in den USA und in Europa als avantgardistisch und der Abstraktion förderlich rezipiert.95 Der Kritiker sprach sich zugleich gegen die öffentliche Kunst der Muralisten aus und für einen Zugang zur Kunst durch Reproduktionen in Büchern, die selbst der Tafelmalerei zu öffentlichem Charakter verhelfen könnten.96 Trotz der Unterschiede zwischen Tamayo und den anderen Muralisten etablierte Cardoza y Aragón die Malerei des ersten als ,nationale Kunst‘, deren Charakteristika er im Abgleich mit deren europäischen Einflüssen herausstellte.97 Siqueiros befürchtete, obwohl bei Cardoza y Aragón nicht explizit erwähnt, hinter der Forderung nach einer Öffnung der mexikanischen Kunst ein Plädoyer für die Abstraktion, die er in mehreren Artikeln aus dem Jahr 1948 für überholt und reaktionär erklärte.98 Siqueiros argumentierte darin für einen Realismus in der Kunst und deren öffentliche Anbringung zugunsten einer weit sichtbaren Lesbarkeit. Wie es um die ,nationale Kunst‘ stand, ist an den Beiträgen Mexikos zur Biennale von Venedig 1950 ablesbar. Diese hatte sich zum Ziel gesetzt, die europäischen Tendenzen des frühen 20. Jahrhunderts zu präsentieren.99 Der mexikanische Kommissar und stellvertretende Leiter des 1948 gegründeten Nationalinstituts für Schöne Künste (Instituto Nacional de Bellas Artes), Fernando Gamboa, wählte für die zweite Teilnahme Mexikos in Venedig 59 Werke aus den 1920er Jahren bis zur Gegenwart aus: zwölf Gemälde von José Clemente Orozco, 17 Gemälde und Aquarelle von Diego Rivera, 14 Gemälde von David Alfaro Siqueiros und 16 von Rufino Tamayo.100 Gamboa stellte alle vier Maler als Vertreter einer mexikanischen Kunst vor, deren Geist er auf die Unabhängigkeitsbewegung des 19. Jahrhunderts zurückführte. Damit knüpfte er an die Tradition internationaler Präsentationen mexikanischer Kunst seit Porfirio Díaz an.101 Neben dem Rekurs auf die Utopie von einer intakten prähispanischen Welt präsentierte er Kunst aus Mexiko von der Unabhängigkeit bis zur Revolution als Ergebnis eines sukzessiven, durch den mexikanischen Nationalismus katalysierten Erkenntnisgewinns. Die Darstellung Gamboas ruft, gemeinsam mit seiner Betonung der Inspiration der Revolutionsmaler an den prähispanischen Kulturen und der italienischen Renaissance, die Revolutionsideologie unter Vasconcelos auf. 65
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Gamboa klassifizierte die realistische Malweise der Muralisten per se als ,mexikanisch‘ und als Resultat der zunehmenden Aneignung von Realität in der Kunst seit der Unabhängigkeit Mexikos. Orozco, Rivera und Siqueiros setzten Gamboa zufolge dieses Charakteristikum der mexikanischen Kunst am überzeugendsten um. Er brachte so deren Bezeichnung als die „Drei Großen“102 in Venedig in internationalen Umlauf, wodurch der Muralismo bis zu dessen Revision in den 1990er Jahren vollends auf seine drei Hauptvertreter reduziert wurde. Die Biennaleteilnahme von 1950 zeigt, dass die Malweise der Muralisten weiterhin ein willkommenes Paradigma war, um von einer selbst- und traditionsbewussten Nation Mexiko zu erzählen. Dennoch befand sich Alemáns Regierung, die die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu den USA ausbaute, in dem Dilemma, mit dem sozialismusnahen Realismus eine Kunstform zu fördern, die mit der offiziellen Sowjetkunst in Verbindung gebracht werden konnte. Die Differenzen zwischen den maßgebenden mexikanischen und USamerikanischen Kunstströmungen um 1950, die auf der Biennale prä-
27. Diego Rivera: Man at the Crossroads with Hope and High Vision to the Choosing of a New and Better Future, 1933. Fresko, zentrale Wand: 12,46 x 5,82 m, beide Seitenwände: 506 x 321 cm, Lobby des Rockefeller Center, New York (unvollendet, 1934 zerstört)
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I Kunst und nationale Identität in Mexiko
sent waren, verdeutlichen, über welche Images sich beide Nationen im beginnenden Kalten Krieg definierten:103 Die Motive von Orozcos Solidarität vermittelnden Bauerngruppen, Riveras Klassenkampfszenen, Siqueiros’ perspektivisch stark angeschnittene Eroberungsallegorien und Tamayos ,primitivisierende‘ Themen standen Jackson Pollocks Abstraktion in No. 23 (1949)104 gegenüber. Mexikos Biennalebeitrag kolportierte damit ein Revolutionsgebaren, das sich im radikalisierten Wirtschaftsliberalismus des Alemanismo meist auf die offizielle Rhetorik beschränkte. Einzig die Teilnahme Tamayos als Indikator für eine Umorientierung wies darauf hin, dass der Revolutionskanon in der mexikanischen Kunst und Kulturpolitik bröckelte. Wohl nicht zuletzt, um die von Präsident Alemán postulierte Offenheit und Modernität unter Beweis zu stellen, wurde ab 1950 auch Kunst mit offizieller Aufmerksamkeit bedacht, die sich internationalen Strömungen öffnete. Zunächst würdigte Alemán private Projekte, wie die Oberschichtsiedlung Los Jardines del Pedregal (1945-1960) des Architekten Luis Barragán (1902-1988) und die in deren öffentlichem Bereich aufgestellte, abstrahierende Plastik Das Tier vom Pedregal (1949-1950) des deutschen Bildhauers Mathias Goeritz (1915-1990). Unter Alemáns Nachfolger Adolfo Ruiz Cortines (1952-1958) wurde mit Goeritz’ und Barragáns Türmen von Satélite (1957-1958) auch erstmals abstrakte öffentliche Kunst staatlich gefördert. Wie die Kunsthistorikerin Shifra Goldman gezeigt hat, suchten jüngere Maler ab den frühen 1950er Jahren neue Positionen zunächst in der Abstraktion und Ende des Jahrzehnts in einer weniger realistischen als expressionistischen Figuration.105 Zum maßgebenden Paradigma öffentlicher Arbeiten entwickelte sich die Abstraktion, nachdem die Aufnahme Tamayos in den nationalen Kanon katalysatorisch auf die Ablösung der so genannten „Drei Großen“ gewirkt hatte. Seit der Zerstörung von Riveras Wandbild Mensch am Scheideweg (1933, Abb. 27)106 im New Yorker Rockefeller Center 1934 und zweier Werke Siqueiros’ in Los Angeles hatte sich die Auftragslage für die Muralisten in den USA, trotz ihres großen Einflusses auf die dortige junge Malergeneration, verschlechtert. Mit dem Einsetzen der antikommunistischen McCarthy-Ära (1950-1954) brach der US-Markt vollends für die mexikanischen Wandmaler zusammen.107 Rivera und Siqueiros wehrten sich gegen ihre Einflussabnahme, indem sie figurativen Malern der so genannten Nueva Presencia 108 und abstrakt im öffentlichen Raum arbeitenden Künstlern wie Goeritz an67
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
tinationale und proamerikanische Interessen unterstellten.109 Sie polemisierten gegen die Abstraktion als „Kunstpurismus“ und Dienstleister für einen „oligarchischen Markt“.110 Viele Künstler und Intellektuelle, die die Errungenschaften der Revolution in Gefahr sahen, schlossen sich ihnen an. Die mexikanische Kulturpolitik hatte sich jedoch bereits für die Öffnung entschieden. Künstler wie Goeritz und seine Schüler erhielten zunehmend staatliche Aufträge, nachdem sich die Abstraktion als Paradigma etabliert hatte. Parallel dazu existierte eine am Realismus der 1920er und 1930er Jahre orientierte öffentliche Kunst weiter. Die jüngeren Künstler reagierten auf die strukturellen Veränderungen der Städte mit großformatigen Arbeiten in industriellen Materialien wie Stahl und Beton. Hierin wurden sie von öffentlichen und privaten Auftraggebern gefördert. Für die Olympischen Spiele 1968 wurde das Projekt der Straße der Freundschaft (1967-1968), ein Nationenwettbewerb aus abstrakten Betonplastiken, von 16 internationalen Bildhauern unter Goeritz’ Leitung in Mexiko-Stadt realisiert. Zur 50-jährigen Unabhängigkeit der Nationaluniversität errichtete ein Kollektiv um Goeritz einen zweiteiligen Skulpturenpark (19781980) auf dem Universitätscampus. Auch private Investoren vergaben Aufträge für abstrakte Skulpturen an Siedlungseingängen und auf öffentlichen Plätzen. Diese dienten als Wohlstandszeichen und zur Prestigeerhöhung von Unternehmen sowie einer der frühesten gated communities.
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II Öffentliche Kunst und nationale Landschaft auf dem Campus der Universidad Nacional Autónoma de México (1946-1954) in Mexiko-Stadt
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Wir setzen nicht einen ersten Stein des ersten Gebäudes der Universitätsstadt. Wir setzen einen weiteren Stein für die leidenschaftliche Errichtung unseres Mexiko.111 Carlos Lazo, 5. Juni 1950
In der Zeit um 1950 wurde in Mexiko eine Reihe großer städtebaulicher Projekte realisiert. Die Bauvorhaben gingen aus den benannten staatlichen Programmen zur Entwicklung urbaner Modelle für Krankenhäuser und Schulen hervor. Die öffentlichen Gebäude, die im Geiste eines ,fürsorgenden Staates‘ unter den Präsidenten Manuel Ávila Camacho (1940-1946) und Miguel Alemán realisiert wurden, brachten im Wesentlichen Folgendes mit sich: Zum einen nahmen sie unmittelbar Bezug auf die räumlichen Veränderungen in den industrialisierten mexikanischen Großstädten. Zum anderen entstanden große neue Flächen für die Wandmalerei. Deren Wirkungsfeld verlagerte sich nun von den Altstadtzentren Mexikos in das neue ,Herz der Nation‘, die Gesundheits-, Bildungs- und Wohnkomplexe in der Peripherie. Die Urbanisten nahmen insbesondere die überbevölkerte Hauptstadt in den Fokus. Mario Pani, der unter Alemán zum wichtigsten Stadtplaner Mexikos avancierte,112 entwarf für Mexiko-Stadt neben Massenwohnungsbauprojekten auch die signifikantesten Gebäude der Regierungsprogramme: die Nationale Lehrerschule (Escuela Nacional de Maestros, 1945-1947) mit großformatigen Außenwandbildern von Orozco (Abb. 28) und das größte Klinikum im Land, das Centro Médico (1942-1945). Beide verstand man beispielhaft für die Rationalisierung von Raum, Materialien und Kosten in der zeitgenössischen mexikanischen Architektur. 71
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Das herausragendste unter den mexikanischen Städtebauprojekten im Alemanismo war, hinsichtlich seiner riesigen Dimensionen, seines umfassenden wie verschieden gearteten Kunstprogramms und seiner nationalen Konnotierung, der Campus der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM, Abb. 29) südwestlich von Mexiko-Stadt. Alemán wollte mit der neuen Universitätsstadt „das Vaterland mittels einer aufrichtig gefühlten und mit allem Intellekt dargebrachten Ergebenheit für die Weisheit“113 ehren und forderte eine Universität mit gleichen Rechten für alle Studierenden egal welcher Rasse und Nationalität und welchen Glaubens. Seit Revolutionszeiten geplant, wurde der Campus 1946 im Rahmen eines Wettbewerbs von den Architekturstudenten Teodoro González de León, Armando Franco und Enrique Molinar als 200 Hektar große Stadt auf dem Reißbrett entworfen. Ihre Lehrer Pani, Enrique del Moral und Mauricio M. Campos an der Architekturfakultät überarbeiteten den Entwurf anschließend. Die Unabhängigkeit des Campus von bereits vorhandenen urbanen Kontexten führte berechtigterweise zu Vergleichen mit der brasilianischen Retortenmetropole Brasília. 114 Der Masterplan mit weit auseinanderliegenden, modulhaften Gebäuden, zwischen denen weite Grünflächen liegen, ruft die großen Sied-
28. José Clemente Orozco: Alegoría Nacional (dt. Nationale Allegorie), 1948. Ethylsilikatfarbe, Maße unbekannt. Freilufttheater, Escuela Nacional de Maestros, Mexiko-Stadt
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29. Mario Pani, Enrique del Moral und Mauricio M. Campos: Ciudad Universitaria, 1946-1954 (Luftaufnahme 1959). Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
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30. Mario Pani, Enrique del Moral und Mauricio M. Campos: Ciudad Universitaria, 1952. Blick von Osten auf den Naturwissenschaftlichen und Geisteswissenschaftlichen Campus, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
lungsprojekte Le Corbusiers auf, mit dem sowohl González de León115 als auch der Erbauer der brasilianischen Hauptstadt, Oscar Niemeyer, im Laufe ihrer Karrieren zusammenarbeiteten. Architektur und Grundriss der Universitätsstadt (Ciudad Universitaria, Abb. 30), die in rasanter Geschwindigkeit errichtet wurde, knüpfen insbesondere an die geometrischen Grundformen, die Trennung von Auto- und Fußgängerverkehr und die konzentrierten Versorgungseinheiten von Le Corbusiers Ville Radieuse (1930, Abb. 31) an. Die Stahlbetonkonstruktionen bilden geometrische Volumina. Allein durch Reihen stützender Säulen gegliederte, offene Untergeschosse verbinden den geschlossenen Raum der Gebäude mit den großen Flächen des öffentlichen Campus. 116 Pani, Moral und Campos treppten in der Überarbeitung von 1947 die Plätze zwischen den Universitätsgebäuden ab und ordneten letztere asymmetrisch an, so dass die Besucherblicke auf das Ensemble 74
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in Bewegung geraten. Viele Autoren sehen hierin einen Bruch mit europäischen Einflüssen, die man in Mexiko mit dem historischen Zentrum der Hauptstadt und speziell mit dem von Gebäuden eng umschlossenen Hauptplatz, dem Zócalo (Abb. 32) aus dem 16. Jahrhundert, verbindet. Asymmetrie und weitläufige Abtreppungen von Grundstücken werden in der mexikanischen Rezeption zunächst weniger mit den Prinzipien des ,Internationalen Stils‘117 als mit dem Auf bau prähispanischer Anlagen wie Teotihuacan und dem zapotekischen Monte Albán (ca. 300 v. Chr.-1521 n. Chr., Abb. 33) im Bundesstaat Oaxaca assoziiert.118 Im Zusammenwirken mit zahlreichen Wandbildern von Künstlern wie David Alfaro Siqueiros, Diego Rivera, Juan O’Gorman, José Chávez Morado und Francisco Eppens im Innen- und Außenraum, die bekannte ikonographische Quellen der mexikanischen Liberalen und der Revolution wie den ,Kalenderstein‘ und Quetzalcóatl neu inter-
31. Le Corbusier: Ville Radieuse, 1930. Tinte auf Papier, Maße unbekannt, Fondation Le Corbusier, Paris
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32. Zócalo (Plaza de la Constitución), ca. 1530-1575. Historisches Zentrum, Mexiko-Stadt
33. Monte Albán, Zapotekisch, 300 v. Chr.-1521 n. Chr. Monte Albán, Oaxaca
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pretierten, avancierte der Universitätscampus zum wichtigsten Identitätsprogramm im Alemanismo. Mit den Wandbildern, -reliefs und -mosaiken der Universität verlagerte sich der Schwerpunkt des mexikanischen Identitätskanons von der Apologie eines klassenkämpferischen, bäuerlichen und industriellen Mexiko auf eine Nation, die sich über Bildung und Wissenschaft definiert.119 Gleichzeitig gingen die Künstler mit ihren Werken, die meist großformatig und speziell bei Siqueiros stark reliefiert sind, auf die städtischen Veränderungen durch die industrielle Entwicklung Mexikos ein: Die von weitem sichtbaren Wandbilder richten sich nicht allein an die Campusnutzer, meist Fußgänger. Im Unterschied zu allen früheren Wandbildern in Mexiko sind die neueren Werke auch für Betrachter, die im Auto oder Bus das Universitätsgelände auf der breiten Verkehrsachse Avenida de los Insurgentes durchqueren, aus Distanzen von bis zu mehreren hundert Metern wahrnehmbar.
Sprengungen im Lavafeld – Der Präsident trägt die Nation in den Pedregal
Als Miguel Alemán am 20. November 1952, dem 42. Jahrestag der Mexikanischen Revolution, seine Widmungsansprache für den neuen Campus im Universitätsstadion hielt, befanden er und die zahlreichen Gäste des Festaktes sich auf einem riesigen Gelände, das in eine kaum bearbeitete Brache überging. Das Stadion und die Außenarbeiten an den wichtigsten Gebäuden am zentralen Campus, dem Rektorenhochhaus, der Bibliothek und der Geisteswissenschaftlichen Fakultät sowie am östlich davon gelegenen Campus für Naturwissenschaften waren weitgehend fertig gestellt. Auch das schleifenförmige Straßensystem der Universitätsstadt, das nach dem in die USA emigrierten österreichischen Architekten und Stadtplaner Hermann Herrey (1904-1968) in Einbahnstraßen ohne Kreuzungen angelegt wurde, existierte bereits.120 Viele Gebäude und die für den Campus charakteristische Bepflanzung mit Spezies der Region, die Luis Barragán entwarf, fehlten hingegen noch. Auch die meisten Wandbilder an den zentralen Gebäuden waren noch nicht fertig gestellt oder fehlten ganz.121 Den Einweihungsgästen muss die Anfahrt von Mexiko-Stadt zur Universitätsstadt wie eine Reise auf den Mond erschienen sein (Abb. 34): Der Hauptcampus selbst war bis 1952 weitgehend eingeebnet. Ent77
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34. Mario Pani, Enrique del Moral und Mauricio M. Campos: Ciudad Universitaria, ca. 1952. Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
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ferntere Teile des Geländes und die unmittelbare Umgebung prägte jedoch die dekontextualisiert und aufgerissen wirkende Landschaft des schwarzen, kaum bewachsenen Lavafeldes Pedregal (span. „steiniger Ort“). Die Straße Insurgentes war bis zur Universitätsstadt verlängert worden, der Abschnitt südlich des kolonialen Vorortes San Ángel bis zum Campus aber kaum bebaut. Westlich befinden sich mit der Siedlung Los Jardines del Pedregal, die Luis Barragán zwischen 1945 und 1960 errichtete, erst mehrere hundert Meter weit entfernt urbane Zeichen. Einige Kilometer südlich davon liegt, ebenso außer Sichtweite, das Kolonialdorf Tlalpan; östlich des Campus existierte zur Entstehungszeit keine Besiedlung. Die Universitätsstadt muss auf Ankommende aus dem Zentrum wie eine Zukunftsverheißung in der kargen Peripherie gewirkt haben. Für die Besucher, die sich der UNAM aus der südlichen, sehr ländlichen Provinz näherten, wirkte die Retortenstadt im Lavafeld wie ein moderner Vorbote der Großstadt. Spätestens an der Eröffnungszeremonie, die über ein Jahr vor der Aufnahme der Schulaktivitäten auf dem Campus datiert,122 wurde die Aufgabe der Universitätsstadt deutlich: Sechs Jahre lang war unter Präsident Alemán und des Fortschritts in Mexiko gegraben, gesprengt und gebaut worden. Die Hauptstadt hatte unter den vielen Großprojekten erstmals einen internationalen Flughafen und die erste große Schnellstraße, den Viaducto Miguel Alemán, erhalten,123 zu dessen Errichtung man den Fluss Río de la Piedad zugeschüttet hatte.124 Mit der Universitätsstadt ließ Alemán sich und seiner Politik als selbst erkorener Vater des modernen, urbanen Mexiko, ganz im Stil der „Fortschrittszauberer“ des 19. Jahrhunderts, ein Denkmal setzen, für das man weder Aufwand noch Kosten scheute. Die bis zu zwölf Meter hohen Lavaauftürmungen wurden zur Glättung der Baufläche mit Dynamit gesprengt, um das Ziel, den Campus bis zum Ende der Legislaturperiode Alemáns im Dezember 1952 fertig zu stellen, zu erreichen.125 Das Präsidentenbildnis des Bildhauers Ignacio Asúnsolo, das Alemán als maßgeblichem Betreiber des Projekts gewidmet war und zwischen dem Rektorat und der Bibliothek stand (Abb. 35), verdeutlicht dies zusätzlich. Dass die Universitätsstadt, die ein ehrgeiziges, mit eiserner Hand ausgeführtes Präsidentenprogramm abschloss, am Jahrestag der Revolution eröffnet wurde, zeigt, dass Alemán seine Politik, wie vor seinem Amtsantritt angekündigt, im Dienste einer – realiter nicht mehr existierenden – Revolutionskonsolidierung sah.126 79
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35. Ignacio Asúnsolo: Presidente Miguel Alemán, 1952 (Enthüllungszeremonie 1952). Sandstein, Maße unbekannt, Geisteswissenschaftlicher Campus, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt (zerstört und 1968 abgetragen)
Die Auslagerung der Universität in die Peripherie
Die Universität wurde als eigenständige Stadt mit Instituten, Hörsälen, Bibliotheken, Rektorat und Sportanlagen südlich des Stadtteils San Ángel inmitten des Pedregal-Lavafeldes, das durch einen Ausbruch des Vulkan Xitle im Jahr 76 entstanden war,127 zwischen 1949 und 1954 errichtet. Die mehrspurige Straße Insurgentes, die die Hauptstadt heute auf einer Länge von über 60 Kilometern von Norden nach Süden durchschneidet und sich auf Höhe der Universität in eine Stadtautobahn verbreitert, band den Campus wie einen vorgelagerten Satelliten an Mexiko-Stadt an. Die Idee, die damals über 300 Jahre alte Universität, deren Institute und Einrichtungen im historischen Stadtkern verteilt waren, an einem Ort zu konzentrieren, stammt aus den letzten Tagen des Porfiriats. Justizminister Justo Sierra, ein Schüler Ignacio Manuel Altamiranos und in dessen Nachfolge einer der einflussreichsten Intellektu80
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ellen Mexikos seiner Zeit,128 hatte die Universität nach über 40 Jahren Schließung neu gegründet. Sierra forderte die räumliche Einheit der Universität zur Konzentration der größten staatlichen Einrichtung für höhere Bildung an einem Ort. Doch erst die Architekturstudenten Mauricio M. Campos, der an der Entwurfsüberarbeitung von 1947 beteiligt war, und Marcial Gutiérrez Camarena von der Architekturfakultät der Nationaluniversität konkretisierten diese Idee mit ihrer Diplomarbeit „Ciudad Universitaria“ von 1928. Von ihnen kam der Vorschlag, die Universität südlich vor die Stadt, in die Nähe des Ortes Tlalpan, zu verlagern.129 Die Regierung Ávila Camacho, die sich der Konsolidierung einer „nationalen Einheit“130 verschrieb, griff 1943 den Studentenvorschlag im Rahmen des nationalen Schulprogramms auf. Gründe für den gewählten Zeitpunkt waren die stark gestiegene Studentenzahl auf rund 20 000 in den 1940er Jahren, das schnelle Wachstum der Hauptstadt, deren Größe sich zwischen dem Ausbruch der Revolution 1910 und den frühen 1950er Jahren annährend verzehnfachte,131 und die damit verbundene Notwendigkeit, das Stadtzentrum zu entlasten. Mit dem Ausbau der Verkehrswege vom Zentrum in den Süden der Stadt zu den dort vorgelagerten Ortschaften San Ángel und Coyoacán nahm deren Siedlungsdichte zu. Es entstanden neue Viertel,132 die schließlich zur Bildung eines neuen Zentrums südlich der Hauptstadt führten. Noch im Auftrag von Präsident Camacho erwarb der Universitätsrektor Rodulfo Brito Foucher insgesamt sechs Millionen Quadratmeter Land auf Gemeindegrundstücken im Pedregal, deren Enteignung zugunsten der Universität sein Amtsnachfolger im September 1946 durchsetzte.133 Nachdem die Regierung am 31. Dezember 1945 ein Gesetz zur Gründung und Errichtung der Universitätsstadt verabschiedet hatte, wurde eine Kommission aus Architekten und Ingenieuren gebildet, die Vertreter der Architekturfakultät aufforderte, Projektvorschläge einzureichen. Aus einem internen Wettbewerb an der Fakultät wurden Pani und del Moral ausgewählt, gemeinsam mit ihrem Kollegen Campos der Programmkommission einen Vorschlag zu unterbreiten. Dieser sollte jedoch statt auf Panis und del Morals Entwürfen auf dem der Architekturstudenten González de León, Franco und Molinar basieren, den die Jury für den gelungensten befand.134 Nach Beschwerden der Mexikanischen Architektenkammer wurde ein nationaler Wettbewerb ausgerichtet, den Pani, del Moral und Campos mit dem von ihnen überarbeiteten Studentenentwurf gewannen.135 81
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González de León, Franco und Molinar hatten für die Universitätsstadt drei große Bereiche vorgesehen: einen Campus östlich von Insurgentes mit Verwaltungsgebäuden an dessen westlichem Ende sowie Seminaren, Fakultäten und Instituten an den anderen drei Platzseiten; südlich des Campus Studentenwohnheime und Sportanlagen; westlich der Insurgentes ein Stadion, südlich davon Lehrerwohnungen. Der Autoverkehr sollte am Campus vorbeigeführt und über Verteilersysteme weitergeleitet werden. Außerdem waren breite Fußgängerwege vorgesehen.136 1947 überreichten der Rektor und sein Stellvertreter, der einflussreiche Architekt José Villagrán, die Projektleitung Pani, del Moral und Campos, der bereits 1949 starb. Die drei Architekten beaufsichtigten auch die Abstimmung der einzelnen Gebäude aufeinander, die bei Teams aus zwei bis drei Architekten in Auftrag gegeben wurden.137 Die ersten Vorarbeiten setzten im März 1948 ein.138 Die versteinerte Lava wurde auf weiten Flächen gesprengt, Brücken gebaut und Dränagen gelegt. Allein die Maßnahmen zur Einebnung des Geländes waren derart kostenintensiv, dass sich der eigentliche Baubeginn bis zum
36. Anonym: CU. Ciudad Universitaria (mit Carlos Novoa, Miguel Alemán und Carlos Lazo), ca. 1950. Fotomontage, CESU-AHUNAM, Fondo Saúl Molina Barbosa/Carlos Lazo Barreiro, ca. 1950
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Oktober 1949 verzögerte.139 Miguel Alemán, der das Präsidentenamt am 1. Dezember 1946 angetreten hatte,140 entließ noch 1948 Zubirán und löste Streiks in der Studentenschaft aus.141 Entscheidend für den letztendlichen Baubeginn war das Betreiben des Vorsitzenden der Mexikanischen Zentralbank Carlos Novoa, den Alemán kurzfristig zum Präsidenten des Universitätspatronats ernannt hatte.142 Ein weiterer Katalysator hierfür war die Einrichtung einer Bauaufsicht im April 1950, der der Architekt Carlos Lazo, ein Vertrauter Alemáns, vorstand. Pani, Wunschkandidat des Präsidenten für die Projektleitung, galt wegen seiner einschlägigen Erfahrung als dritter Garant für eine rasche Fertigstellung der Universitätsstadt.143 Solche Maßnahmen und das direkte Eingreifen des Präsidenten in das urbanistische Projekt verdeutlichen, dass es bei der Campuserrichtung um mehr ging, als den bloßen Umzug einer Bildungseinrichtung. Die Universitätsstadt war das persönliche Projekt Alemáns und als weiterer Meilenstein für die Vermittlung einer mexikanischen Identität erdacht. Diese wurde mit einer Bildrhetorik kommuniziert, die an sowjetische Machtvisualisierungen erinnert (Abb. 36). Hierauf deutet auch die Umsiedlung der Nationaluniversität nicht zuletzt angesichts der unbequemen Situation hin, dass die Hochschule, die seit ihrer Unabhängigwerdung vom mexikanischen Staat 1929 ein Politikum war, in unmittelbarer Nachbarschaft zu wichtigen staatlichen Institutionen am Zócalo im Stadtzentrum gelegen war. Jeder studentische Protest konnte sich leicht vor dem Nationalpalast als ehemaligem Regierungsgebäude und dem Rathaus entladen.144 Lang andauernde Streiks der zweitwichtigsten Einrichtung für höhere Bildung in Mexiko, der Technischen Hochschule, während des Baus der Universitätsstadt verdeutlichten die Spannungen, die die Koexistenz von universitärem Leben und Politik auf engem Raum im kolonialen Stadtzentrum mit sich brachte. Auch diese Situation war ein wichtiger Grund für die Eile, die Nationaluniversität aus dem Zentrum zu entfernen.145 Mit der Betonung der modernen Urbanität in der Peripherie wurde hingegen eine gleichberechtigte Partizipation der Bevölkerung an Bildung und städtischem Leben impliziert. Nach anfänglichen Überlegungen, die Medizinischen Institute im Stadtzentrum zu lassen, errichteten Pani und del Moral den naturwissenschaftlichen Campus im Osten der Universitätsstadt. Sie änderten auch die Leitung des Autoverkehrs, der nun hinter dem Hauptcampus verlief. Die Straßenführung zu den entfernteren Instituten und Sport83
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anlagen wurde organisch in die Topographie des Pedregal eingepasst. Der zentrale Campus im Westen lag, bis zur Errichtung des höher gelegenen Kulturzentrums der Universitätsstadt (1978-1980) an der höchsten Stelle des Geländes; die Medizinische Fakultät am östlichen Campus an der niedrigsten.146 Die Bildprogramme auf dem Campus stellen jedoch nicht mehr den Bauern der frühen Revolution, sondern den städtischen Mexikaner in den Mittelpunkt. Dieser wurde im Alemanismo nicht nur über Leben und Arbeit im industrialisierten, urbanen Raum, sondern insbesondere durch seine Verpflichtung gegenüber Bildung und Wissenschaft definiert.147 An der Architektur und den Wandbildprogrammen des Campus wird ablesbar, inwiefern sich unter Alemán die indigenistische Utopie Vasconcelos’ aus den 1920er Jahren änderte und dennoch weiterhin als rhetorische Referenz diente.
Eine programmatische Kunstachse zwischen Prometheus und Atomforschung
Der an Atomforschung interessierte Lazo legte sein Augenmerk nach seiner Ernennung zum Baukoordinator insbesondere auf das Physikinstitut der Universität und erweiterte dieses um drei Experimentallabore. Während eines der Labore einen elektrostatischen Van-derGraaf-Generator erhielt und im zweiten Forschungen zur Gravitation stattfanden, befand sich im dritten – und wohl spektakulärsten Bau auf dem Universitätsgelände – ein Labor zur Erforschung von Radioaktivität. Der so genannte Pavillon für Kosmische Strahlen (1951, Abb. 37) des spanischen Exil-Architekten Félix Candela und des Mexikaners Jorge González Reyna steht an der Nordseite des Naturwissenschaftlichen Campus und definiert trotz seiner kleinen Dimensionen den Ostcampus der Universitätsstadt auf programmatische Weise. Der Stahlbetonbau mit elliptischem Aufriss setzt sich aus einem Hauptkörper, vier schmalen, sich zum Boden verjüngenden Stützen und einer frei stehenden Treppe, ähnlich einer Raumschiffleiter zusammen. Kaum eine zeitgenössische Rezension und keine aktuelle Literatur lässt den Verweis darauf aus, dass die Stahlbetondecke des konkav gekrümmten Daches an ihrer schmalsten Stelle nur anderthalb Zentimeter misst.148 84
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Der futuristisch wirkende Bau erfüllte offensichtlich zwei Zwecke, die der Campus vermitteln sollte: die Befähigung der mexikanischen Architektur, hohen baulichen Anforderungen ambitioniert zu begegnen, und die politische Programmatik der Universität unter Beweis zu stellen, die an diesem Gebäude deutlicher wird als an allen anderen. Trotz seiner architektonischen Modernität spricht insbesondere das Labor für Radioaktivitätsforschung vom Anschluss Alemáns und der von ihm beauftragten Universitätserbauer an den Revolutionsdiskurs. Die Rückversicherung erfolgte über Vasconcelos’ Konzept der „Kosmischen Rasse“.149 Mit dem Begriff „Pavillon für Kosmische Strahlen“ als Bezeichnung für das Experimentallabor wird die inhaltliche Umgewichtung der staatlichen Propaganda vom klassenkämpferischen Mestizentum zur neuen ,Ersatzreligion‘ Wissenschaft zusätzlich verdeutlicht. Offiziell verfolgte Alemán eine Politik der Nivellierung von Rassenunterschieden, die er sogar über nationale Interessen gestellt wissen wollte. Zu diesem Zweck wies er der Universitätsstadt Kultur erhaltende Bedeutung zu: Kein Ideal scheint uns unseren Zeiten so würdig, keines so vielversprechend, die Kultur zu retten, wie dieses, dem wir diese Arbeiten widmen: die menschliche Würde, in gleichen Teilen genossen, ohne Rassen-, Glaubens- und nationale Unterschiede.150
Die offizielle Identitätsbildung in Mexiko definierte sich in den 1950er Jahren weniger über den Indigenismus der Revolution151 als über einen postulierten Anschluss an den Stand der internationalen Forschung,
37. Félix Candela: Pabellón de Rayos Cósmicos, 1951. Stahl, Beton, Naturwissenschaftlicher Campus, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
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38. Rodrigo Arenas Betancourt: Prometeo, 1950-1952. Basalt, Bronze, Beton, Höhe: 775 cm, Hof vor der Wissenschaftsfakultät, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
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an dem alle gesellschaftlichen Gruppen gleichberechtigt partizipieren können sollten. Gerade eine Spezialisierung auf die Atomforschung stellte in diesem Zusammenhang nicht allein einen Modernitätsbeweis dar, sondern bezog sich auch auf eines der brisantesten Austragungsfelder des einsetzenden Kalten Krieges.152 Alemáns Huldigung der Wissenschaft galt speziell der mexikanischen Jugend. Während er den Abgängern der Technischen Hochschule mit auf den Weg gab, zur Industrialisierung Mexikos beizutragen, sah er für die Absolventen der Nationaluniversität vor, „die Krise moralischer und intellektueller Werte“ mit „freiem Denken“, das „sich gegen alle Formen der Tyrannei stellt“, mit „Verzicht, Altruismus, Idealität und Mut“153 zu überwinden. Sein Ideal spiegelte sich in der Prometheus-Skulptur (1950-1952, Abb. 38)154 des kolumbianischen Bildhauers Rodrigo Arenas Betancourt (1919-1995). Die Arbeit wurde – nachdem die Universitätsleitung einen früheren, abstrahierenden Entwurf abgelehnt hatte – an zentralem Ort, auf der Esplanade des Naturwissenschaftlichen Campus, in einem Wasserbecken auf einem Betonsockel errichtet. Die heute entfernte Bronzeskulptur zeigte den griechischen Feuergott, der sich auf einer aufgerichteten, Quetzalcóatl repräsentierenden Schlange aus Basalt scheinbar schwebend himmelwärts streckte. „Beide Symbole verbindet die Präsenz von Göttern, die auf verschiedenen Orten des Planeten eine neue Gesellschaft gründen. Es sind zwei Mythen, die die Universalität der menschlichen Zivilisation zeigen“,155 betonte Arenas Betancourt rückblickend. Damit stellte er die Skulptur in den Kontext von Vasconcelos’ Postulat einer Fusion aller großen Zivilisationen in der iberoamerikanischen Kultur. Die als mexikanisch rezipierte, toltekisch-aztekische und die europäische Welt stehen sich in beiden Skulpturelementen ikonographisch und materialiter gegenüber. Arenas Betancourt fügte sie zu einem einzigen, den Aufstieg der mexikanischen Gesellschaft repräsentierenden Symbol zusammen. Alemáns Bildnis und die Bibliothekswandbilder auf dem Geisteswissenschaftlichen Campus, die im folgenden Teil verhandelt werden, und Prometheus auf dem Naturwissenschaftlichen Campus bildeten so eine programmatische Achse. Die repräsentierte universitäre Harmonie mit einem wohlwollenden Patriarchen und einer freien, aufstrebenden Studentenschaft wurde jedoch spätestens im darauf folgenden Jahrzehnt als Propaganda entlarvt. Sie gipfelte 1968 in der Zerstörung der Präsidentenstatue durch Studenten. Die Folgen 87
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für die öffentliche Kunst und ihre inhaltlichen und formalen Veränderungen, die aus diesem Schlüsselmoment resultieren, werden ausführlich im letzten Teil zu „Ephemerer Kunst im öffentlichen Raum“ analysiert.
Kunst im Versuchsfeld – Die Wandbilder der Universitätsstadt
Zu Beginn der Campusplanung war zunächst kein Bildprogramm vorgesehen. Dies löste Proteste unter Künstlern in Mexiko aus, die über den Kreis der Wandmaler hinausgingen, und führte nach längeren Debatten mit den Bauleitern in der von Siqueiros gegründeten Künstlerzeitung Arte público 156 dazu, dass ab 1951 einzelne Wandbilder und Skulpturen in Auftrag gegeben wurden. Unter den zahlreichen Wandbildern werden an dieser Stelle die drei wichtigsten analysiert: die durch ihre exponierte Lage weit einsehbaren Außenmosaiken von David Alfaro Siqueiros am Rektorat, Juan O’Gormans Bibliotheksmosaiken und das Stadionrelief von Diego Rivera. Berücksichtigt werden Ikonographie, Perspektiv-, Material- und Technikfragen sowie die von O’Gorman und Rivera intendierte Kontextualisierung von Landschaft und Nation.157 Auch räumliche und Betrachteraspekte sind hierfür, insbesondere hinsichtlich Siqueiros’ Bezugnahme auf den industrialisierten Raum, relevant.
David Alfaro Siqueiros’ Rektoratsmosaiken
Unter den Künstlern, die sich für eine Beteiligung an der bildnerischen Ausgestaltung der Universitätsstadt einsetzten, nahm Siqueiros eine tragende Rolle ein. Er sah in der Beteiligung der Maler eine Chance dafür, die Wandbildbewegung auf eine neue Stufe zu heben. Zu diesem Zweck gründete er gemeinsam mit Rivera, Guerrero, O’Gorman, Chávez Morado und anderen 1951 eine neue Künstlervereinigung, den Mexikanischen Maler-, Wandmaler- und Bildhauerverband.158 In einem Brief an Carlos Lazo, in dem Siqueiros den Zusammenschluss ankündigte, forderte er ein Gesamtkonzept für ein Bildprogramm auf dem Campus, an dessen Entwicklung das Künstlergremium beteiligt sein sollte: 88
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1. Man kann sich unmöglich die Errichtung der Universitätsstadt im gegenwärtigen Mexiko, im Mexiko, das im Fokus des internationalen Muralismo steht, [...] ohne die Zugabe von Malerei und [...] Skulptur vorstellen. [...] 3. Bis heute ist die mexikanische Wandmalerei in alten Gebäuden oder solchen ausgeführt worden, für die die malerische oder bildhauerische Zugabe zuvor nicht gedacht war. 4. Die Errichtung der Universitätsstadt markiert deshalb die erste wichtige historische Möglichkeit, damit die mexikanische Malerei – und mit ihr die Skulptur – ihre zweite Etappe erreichen kann. [...] 2. [sic] Diese Kommission soll, in enger Zusammenarbeit mit den Architekten, die für den Fall ernannt werden, die folgenden grundlegenden Probleme lösen: a) Die Außen- und Innenpolychromie der Universitätsstadt; b) Die Bestimmung der Bildzonen, also die Ausweisung der Gebäude, an denen die Wandmalerei und Skulptur ausgeführt werden sollen (innen und außen); c) Die der Funktion der Universitätsstadt in ihrer Gesamtheit entsprechende Thematik sowie die jedes ihrer Gebäude oder jeder Sektion.159
Die Ideen für ein aufeinander abgestimmtes Kunstkonzept in der Universitätsstadt wurden zwar nicht realisiert und die Künstler von Lazo nicht an den eingeforderten Entscheidungen beteiligt. Dennoch setzte Siqueiros zumindest in Teilen sein Postulat von einem aktualisierten Muralismo in neuen öffentlichen Räumen in den Mosaiken am Rektorengebäude um. Noch 1951 erhielt er den Auftrag, drei Wandbilder für das Universitätsrektorat (1950-1952, Abb. 39) zu schaffen. Dieses liegt am westlichen Rand des zentralen Campus und von allen Universitätsbauten am dichtesten an der Schnellstraße Insurgentes. Es ist daher am besten einsehbar. Das zweiteilige Gebäude, das die Chefplaner Pani und del Moral gemeinsam mit dem Architekten Salvador Ortega Flores entwarfen, besteht aus einem 15-stöckigen Hochhaus auf annähernd quadratischem Grundriss und einem daran anschließenden dreistöckigen Querbau. Grundriss und Fassadengestaltung sind von der den ,Internationalen Stil‘ charakterisierenden Asymmetrie geprägt. Auch materiale Heterogenität und das Spiel mit Transparenz und Opazität zwischen den Gebäudeteilen rufen die moderne europäische Architektur der 1920er Jahre auf. Durch farbliche Kontinuität in Architektur und Wandbildern versuchte man dagegen, Einheitlichkeit herzustellen. 89
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39. Mario Pani, Enrique del Moral und Mauricio M. Campos: Rectoría, 1950-1952. Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
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40. David Alfaro Siqueiros: Nuevo emblema universitario, 1952-1953. Vinylite auf Zement, 150 m2, Ostseite des Rektorats, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt, unvollendet
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Die Nord-, Ost- und Südseite des Hochhauses aus Stahlbeton, das die Verwaltung, das zentrale Sekretariat und das Rektorat der Universität beherbergt,160 sind mit durchgehenden, in sich unterschiedlich gestalteten Fensterbändern versehen. Diese sind durch vorkragende, mittelblaue Metallrahmen horizontal strukturiert. Die Betonbasen jedes Stockwerks sind bis auf die Ockergelb gestrichene unterste und oberste Etage mit schwarzen Panelen verkleidet.161 Etwas unterhalb der Gebäudemitte, im sechsten Stock, fehlt die Fassadenummantelung. Stattdessen sind die Säulen der Stahlbetonkonstruktion sichtbar gemacht. Aus der zum Campuszentrum ausgerichteten Hauptfassade bricht hier auf der Höhe von zwei Geschossen ein Quader hervor, in dem sich das Kopfstück des Sitzungssaals des Rektorats befindet. Alle fünf Außenseiten des Quaders, der den wichtigsten Raum für Entscheidungen über Belange der Universität beherbergt, stattete Siqueiros mit dem Wandbild Neues Universitätsemblem (1952-1953, Abb. 40) aus. Siqueiros’ Neuinterpretation des Universitätswappens setzt sich aus einem Kondor und einem Adler zusammen, die in ihrer Mitte ein Emblem halten. Im Unterschied zum 1921 von José Vasconcelos
41. David Alfaro Siqueiros: El derecho a la cultura, 1952. Vinylite auf Beton, 250 m2, Nordseite des Rektorats, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt, unvollendet
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als Universitätsrektor eingeführten Original162 wenden sich der Kondor und der Adler hier einander zu und halten statt einer Karte Lateinamerikas einen ockergelb ausgemalten Kreis zwischen ihren Schnäbeln. Den Nopalkaktus und die als nationaltypisch rezipierten Vulkane Popocatépetl und Ixtaccíhuatl unter den die Andenländer und Mexiko repräsentierenden Raubvögeln des Originals sparte Siqueiros aus. Durch den Abdruck, den die Holzverschalung des Betons an der Oberfläche hinterlassen hat, und das dominierende Ockergelb wirkt der Kern der Universitätsverwaltung wie eine große hölzerne Box. An der zur Schnellstraße Insurgentes ausgerichteten Westfassade aus mattem Glas, Braun gestrichenen Ziegeln und einer Verkleidung aus blassgrünen Kacheln setzt sich der asymmetrische Eindruck des Gebäudes fort.163 Hier ist, leicht rückversetzt, ein Richtung Süden verlaufender, dreistöckiger Querriegel eingepasst, in dem sich Büros und ein Auditorium für öffentliche Veranstaltungen befinden. Während die Ostfassade vom Campus aus frei einsehbar ist, führt parallel zum Erdgeschoss an der Westfassade eine breite Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. An der Nordseite schließt diese an die Plattform an, auf der sich der Haupteingang des Gebäudes befindet. Dessen Überdachung setzt sich auf Stahlpfeilern als Säulengang bis zum geisteswissenschaftlichen Trakt und zur Bibliothek fort. Als gestalterisches Element finden sich vergleichbare Säulengänge auf dem naturwissenschaftlichen Campus zwischen der Medizinfakultät und anliegenden Instituten. Sie bilden ein zentrales Charakteristikum der Universitätsarchitektur. Hinter dem Rektoratseingang wird die Gebäudekonstruktion aus frei stehenden Stahlbetonpfeilern und -säulen sichtbar. Das Eingangsstockwerk aus Glas war ursprünglich weitgehend transparent, was seit der Anbringung von Gittern in den 1990er Jahren und Zugangsrestriktionen eingeschränkt ist. Das fensterlose Obergeschoss ist dagegen verputzt und wirkt massiv. Hier brachte Siqueiros das Wandbild Das Recht auf Kultur (1952, Abb. 41) an. Wie Neues Universitätsemblem blieb auch dieses Wandbild nach Meinungsdifferenzen bezüglich der technischen Ausführung der Werke offiziell aufgrund von Etatstreichungen der Universität unvollendet.164 Die 250 Quadratmeter große, querformatige Arbeit auf Betonuntergrund, dessen vormalige Holzverschalung durch unregelmäßige Vor- und Rücksprünge an der Bildoberfläche sichtbar wird, zeigt einen sich von rechts nach links streckenden, in verschiedenen Blautö93
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nen gemalten Arm. An dessen Hand sind der Daumen, ein Teil des Handrückens und des Ballens sowie ein Bleistift dreiviertelplastisch in Beton gestaltet. Der Handballen und der Daumenknochen ragen als höchste Erhebungen über einen Meter hervor. Zwei weitere gemalte Hände in unterschiedlichen Haltungen erzeugen die Wirkung einer dynamischen Handdrehung. Links davon befinden sich zwei angeschrägte Sockel, auf denen in Schwarz die Zahlen „1520“, „1810“, „1857“, „1910“ und „19??“ in Rot stehen. Sie benennen den aztekischen Widerstand gegen die spanischen Eroberer, die Unabhängigwerdung Mexikos, die Verabschiedung der Reformgesetze, die Revolution und ein zukünftiges, unbekanntes Datum. Siqueiros verband hier den Verweis auf bedeutende und Identität stiftende Ereignisse der mexikanischen Geschichte mit der Allegorisierung von Geschwindigkeit, die seit der europäischen Landschaftsmalerei des späten 18. Jahrhunderts populär war. Im Unterschied zu Riveras Geschichtsbild im Nationalpalast konstruierte Siqueiros in Das Recht auf Kultur ein Geschichtsbild ohne Bezug auf die prähispanische Zeit. Er suggerierte vielmehr das Einsetzen der mexikanischen Geschichte mit der Eroberung des Aztekenreiches durch die Spanier. An der westlichen und östlichen Langseite des Querriegels setzt sich der Wechsel von Transluzenz und Opazität fort: Hinter einer Reihe Stahlbetonpfeilern wird im Erdgeschoss die Außenwandgestaltung aus quaderförmig geschnittenem, naturbelassenem und weiß getünchtem Basaltstein sichtbar. Die westliche Langseite spiegelt sich zudem in einem Wasserbassin, das in den Gebäudesockel aus Basalt eingelassen ist. Dieses Stilelement wiederholt sich am Haupteingang zur Universitätsbibliothek, an den Treppen zum östlichen und auf dem naturwissenschaftlichen Campus. Die oberen Geschosse der West- und Ostfassade sind mit alabasterähnlichen Platten aus tecalli-Stein verblendet. Diese opake Wandgestaltung wird allein durch Fensterbänder unterbrochen. Von außen ist das Auditorium so von Opazität bestimmt, während es innen von gelblich durchscheinendem Licht erhellt wird. Für direktes Tageslicht sorgen ferner die Fenster eines rückversetzten Backsteinobergadens. Neben seinem engen Bezug auf die veränderte Wahrnehmung der Betrachter durch die Auswirkungen der Industrialisierung referierte Siqueiros mit dem Einsatz lokaler Steinsorten auch auf regional konnotierte Materialien und speziell den von Olmeken und Azteken verwendeten Basalt. 94
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Auf der Höhe des zweiten und dritten Geschosses erstrecken sich Siqueiros’ wichtigste Universitätsmosaiken Das Volk an die Universität, die Universität an das Volk. Für eine neue humanistische Nationalkultur mit universaler Tiefe (1952-1956, Abb. 42). Zentral sind zwei Personengruppen, die in Teilen als dreiviertelplastische Betonreliefs gestaltet sind. Die größte Betonung legte Siqueiros auf die sich in Richtung der Schnellstraße Insurgentes reckenden Arme der Männer, die bisweilen übertrieben lang und massiv wirken. Die annähernd parallel zueinander ausgestreckten Arme stehen in Korrelation mit der langgezogenen Breite der Südfassade, wodurch eine sogartige Dynamik in Richtung Straße entsteht. Zusammen mit der schematisierenden Gestaltung der Protagonisten und über flächenhaft angelegte Farbfelder entsteht so eine sich zwischen Realismus und Abstraktion bewegende Bildwirkung, die es gerade vorbeifahrenden Betrachtern, die sich der Universitätsstadt von Süden nähern, ermöglicht, die konturierten Wandbildformen wahrzunehmen. Siqueiros schöpfte hier stärker als zuvor Mittel wie die Erzeugung von visueller Dynamik und die Bezugnahme auf die Betrachterbewegung im Raum aus.
42. David Alfaro Siqueiros: El pueblo a la Universidad, la Universidad al pueblo. Por una cultura nacional nuevo humanista de profundidad universal, 1952-1956. Zement und azulejo-Keramik, 304,15 m 2, Südwand, Rektoratsannex, Geisteswissenschaftlicher Campus, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
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Im Vordergrund schreitet ein junger Mann eine architektonische Struktur hinauf. In den Händen hält er eine Tafel in den mexikanischen Nationalfarben, die den hellen Schaft und die Basis einer ionischen Säule zeigt. Das schwarze, glatte Haar des Mannes, seine mandelförmigen Augen und die breite, gerade Nase verweisen, wie bei den übrigen Figuren, auf seine autochthone Herkunft. Sein Hinterkopf wird wie bei den Figuren neben ihm durch eine breite, schwarze Linie ringförmig wiederholt. Sie verleiht dem Kopf eine Helmform. Die zur Straße ausgerichtete Dynamik der Gruppe wirkt auf dem diffusen Untergrund in diesem Kontext wie der Schwebezustand von Raumfahrern im All. Ein weiterer Mann scheint die Gesamtsituation zu kontrollieren. Er steht eine Stufe niedriger als sein Vordermann, wirkt jedoch größer und kräftiger und hält seine überproportional langen Arme parallel zu denen der übrigen Personen. Es entsteht der Eindruck, dass es sich bei der dargestellten Gruppe um Studenten und Lehrer handelt: Ein Mann hält ein rotes Modellgerüst, das den Größenverhältnissen des Rektorenhochhauses entspricht, und einen Zirkel, der gemeinsam mit den Menschenmassen und den Fabriken im Hintergrund auf die sozialistische Ikonographie der frühen Revolutionskunst verweist. Neben Beschwerden der Universitätsleitung über – die Ansicht störende – Arbeitsgerüste war auch das klassenkämpferische Bildprogramm selbst höchstwahrscheinlich Grund für dessen Verhüllung während der Universitätseinweihung am 20. November 1952. Die intendierte Bilddynamik wird besonders deutlich, wenn man sich in Richtung Insurgentes bewegt. Von dort aus verwandelt sich die vertikale Teilung in der Bildmitte in die Ecke einer Plattform, auf die die fünf Hauptpersonen zu steigen scheinen. Durch die einer Aufsicht gleichenden Perspektive des Betrachters und den leicht nach hinten gekippten Eindruck des Bildes, angesichts sich nach oben scheinbar verjüngender Bildränder, wird diese Wirkung zusätzlich verstärkt. Das unvollendet gebliebene Wandbild Das Volk an die Universität, die Universität an das Volk zeigt vielleicht am deutlichsten, dass es Siqueiros bei den Universitätsmosaiken maßgeblich um deren Ausrichtung an einen sich bewegenden Betrachter ging. Darüber hinaus setzte er sich in den Arbeiten aber auch mit der Kontextualisierung von Wandbildern und Architektur mittels Materialexperimenten und dem Einsatz plastischer Elemente auseinander, um die Zweidimensionalität der Bildfläche zugunsten einer suggerierten Dreidimensionalität aufzubrechen.165 96
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Raum und Betrachter bei David Alfaro Siqueiros
Siqueiros realisierte seine Intention, stärker als im frühen Muralismo eine Verbindung zwischen Kunstwerk und Raum zu erzielen,166 mit Architekturimitationen im Bild. In anderen Fällen strebte er eine solche Verbindung mit der annähernd vollständigen Vereinnahmung des Raumes durch seine Malerei an. In Das Volk an die Universität, die Universität an das Volk übersetzte er Teile der Campusarchitektur in die Mosaiken. In dem illusionistischen Wandbild Für eine vollständige Sicherheit und für alle Mexikaner (1951-1954, Abb. 43) im Vestibül zum Auditorium des staatlichen Krankenhauses La Raza in Mexiko-Stadt lotete er hingegen die dreidimensionale Wirkung von Malerei unter bestimmten räumlichen Voraussetzungen aus. Siqueiros ließ ein großflächiges Konkav aus Holz unter der Decke und an zwei Seiten des Krankenhausvestibüls einziehen und brachte darauf das Wandbild auf einer Schicht aus Plastik und Gips in synthe-
43. David Alfaro Siqueiros: Por una seguridad completa y para todos los mexicanos, 1951-1954 (Detail). Pyroxylin und Vinylite auf Leinwand und Fiberglas, 310 m2, Vestibül, Auditorium, Hospital La Raza, Mexiko-Stadt
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tischen Farben an. Die rechte Vestibülseite ist mit schwarzen Spiegeln verblendet. In diesen wird die sozialutopische Episode reflektiert (Abb. 44), die allegorisch die Befreiung des Menschen „von den verfallenden Kräften des Imperialismus“167 repräsentiert. Während die links abgebildeten, sich nach oben stark verjüngenden Architekturen im Spiegel wie massive Tetraeder wirken, verwandeln sich die hoch aufstrebenden Türme, Pyramiden und Tempel des Deckenbildes in der Reflexion in Stalaktiten. Wer das Vestibül betritt, wird, abgesehen von der Glasfront im Rücken, Teil eines vollständig ausgemalten und dadurch höhlenhaften Raumes. Der Eindruck der Absorption verstärkt sich durch die Reflexion, die dem Wandbild räumliche Tiefe gibt. Im Unterschied zu dieser Arbeit gestaltete Siqueiros das Neue Universitätsemblem am Rektorengebäude als zweidimensionale Arbeit auf einem Korpus, der den Betrachter nicht einschließt, sondern von außen als dreidimensionales Objekt wahrgenommen wird.168
44. David Alfaro Siqueiros: Por una seguridad completa y para todos los mexicanos, 1951-1954 (Detail). Pyroxylin und Vinylite auf Leinwand und Fiberglas, 310 m2 , Vestibül, Auditorium, Hospital La Raza, Mexiko-Stadt
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45. David Alfaro Siqueiros: La Nueva Democracia, 1944 (Ausschnitt). Pyroxylin, Zellulose und Zement auf Fiberglas, 54 m2, Palacio de Bellas Artes, Mexiko-Stadt
In Das Volk an die Universität, die Universität an das Volk arbeitete Siqueiros das Problem der räumlichen Wirkung auf den Betrachter weiter aus, indem er mit der Perspektive experimentierte. Für eine vollständige Sicherheit ist von einem Betrachter in seiner ganzen Dimension erfahrbar, wenn er auf der eigenen Achse rotiert oder eine andere Position im Vestibül einnimmt. Die tiefenräumliche Wirkung von Das Volk an die Universität, die Universität an das Volk ist von einem Betrachter, der frontal oder rechts vor dem Wandbild steht, dagegen kaum wahrnehmbar. Erst in der Betrachterbewegung links des Wandbildes, also auf der Schnellstraße, wird dessen dreidimensionale Wirkung erfahrbar. Der Fluchtpunkt liegt ebenso dort, weit außerhalb des Bildes, worauf die überdimensioniert langen Arme der Personen und die nach unten stark verkürzten Körper verweisen. In den Universitätsmosaiken arbeitete Siqueiros seine Raum-Betrachter-Experimente mit Nahsicht und Spiegelungen zu Mosaiken aus, die auf große Distanzen ausgerichten sind. Er nahm damit in neuer Weise Bezug auf den stark veränderten öffentlichen Raum, in dem sich Betrachter motorisiert bewegen. 99
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Das Bildthema, das Streben der mexikanischen Gesellschaft nach Bildung und Kultur, wird erst aus der Distanz erfassbar. In der Nahsicht sind die großen Formen der Farbflächen kaum auszumachen. Details wie die Bildtafel, die der Maler in Händen hält, und das Gerüst des Ingenieurs können dagegen dem vorbeifahrenden Betrachter leicht entgehen. An Konzepten öffentlicher Kunst, die die Betrachterbewegung berücksichtigt, arbeitete Siqueiros seit 1948. Grundlegend hierfür war seine Absicht, die architektonischen und urbanen Veränderungen im Nachkriegsmexiko auch für die Wandbildgestaltung nutzbar zu machen: [Die traditionellen Technologien] werden nicht mehr den aktiven Räumen einer aktiven Architektur entsprechen, einer Architektur, in der die Konzeption der geometrischen Formen nicht mehr bewegungslos, sondern im höchsten Maße dynamisch sein wird. [...] Eine Komposition und eine Perspektive, die erreicht werden, indem sie den Betrachter nicht als Statue oder einen Automaten ansehen, der sich allein um seine eigene Achse dreht, sondern als ein Wesen, das sich in einer Topographie bewegt und in einem Verkehr, der dieser Topographie von unbegrenzter Natur entspricht. [...] Eine malerische und bildhauerische Technologie also, die sich in Kombination [...] wie szenische Brüche in architektonische Oberflächen als Mal- und Skulpturzonen einpassen wird, die zuvor angemessen innerhalb der Architekturen angebracht werden.169
Siqueiros hatte bereits zuvor auf die von ihm so genannten „aktiven Räume“ mit extremen Perspektivierungen reagiert. Diese wandte er in Arbeiten der 1940er Jahre zunächst im Innenraum an. In dem Wandbild Die Neue Demokratie (1944, Abb. 45) im Treppenhaus des Palastes für Schöne Künste von Mexiko-Stadt setzte er erstmals eine zentrale Figur ein, die perspektivisch so dargestellt ist, als wolle sie aus dem Bild heraustreten. Dieser Eindruck wird besonders stark durch die schräg nach vorn gestreckten Arme der frontal dargestellten Frau erzeugt. Siqueiros setzte zur Betonung der Hauptfigur die Zentralperspektive ein, deren Fluchtpunkt in der Demokratieallegorie liegt. Diese tradierte Weise von Räumlichkeitserzeugung spitzte er zu, indem er, ähnlich dem filmischen Close-up-Verfahren, das Gesicht und die linke Faust der Frau im Verhältnis zum restlichen Körper sehr groß darstell100
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te und mit Glanzlichtern versah.170 Der von hinten hervorgestreckte zweite Arm einer weiteren Person wiederholt und unterstreicht diesen Effekt. Dem Betrachter wird auf diese Weise Nähe zum zentralen Bildgegenstand vermittelt und dieser zugleich monumentalisiert. Im Wandbild Der Mensch, Herr und nicht Sklave der Technik (19511952, Abb. 46), das Siqueiros für das Internat der Technischen Hochschule schuf, steigerte er diese Wirkung mit einem konkaven Bildträger aus Aluminium. Auch in dieser Arbeit laufen die Fluchtlinien in der zentralen Figur zusammen, die laut Auftrag die positiven Aspekte der Industrialisierung darstellen sollte. Obwohl dieses Werk für stehende oder sich mit wenigen Schritten im Raum bewegende Betrachter konzipiert ist, entsteht durch den Einsatz eines Close-up-Effekts eine intensive Dynamik, durch die die Maschinenteile an den Extremen der Perspektivachsen aus dem Bild herauszudrängen scheinen. Wie in Die Neue Demokratie trifft auch hier die Zentralperspektive mit dem Protagonisten des Geschehens zusammen, der – in beiden Bildern mit weit geöffneten Armen dargestellt – zum Organisator der
46. David Alfaro Siqueiros: El hombre, amo y no esclavo de la técnica, 1951-1952. Pyroxylin und Vinylite auf Aluminium, 4 x 18 m, Internat des Instituto Politécnico Nacional, Mexiko-Stadt (heute: Vestibül der Escuela Nacional de Ciencias Biológicas, Instituto Politécnico Nacional, Mexiko-Stadt)
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Komposition wird. In Das Volk an die Universität, die Universität an das Volk fällt diese Rolle der am größten dargestellten Person zu, die wie die zentrale Figur in Die Neue Demokratie mit einem flammenden Helm ausgestattet ist. Im Unterschied zu früheren Werken laufen in der Hauptperson des Universitätswandbildes keine Fluchtlinien zusammen. Durch die Auslagerung des Fluchtpunktes aus dem Bild in Richtung des sich auf der Schnellstraße bewegenden Betrachters wird vielmehr dessen Integration in das Werk über eine räumliche Einbindung angestrebt. Hiermit und mit dem Einsatz von Industriematerialien wie Zement und synthetischen Farben auf Keramik schuf Siqueiros eine Neuheit in seinem Werk und in der öffentlichen Kunst Mexikos.
„Die vierte Dimension“: Plastizität und Polychromie
Der Aspekt der Kombination von Planem mit Plastischem, der Siqueiros bei der Realisierung der Universitätswandbilder beschäftigte, spielte eine entscheidende Rolle. Schon in den 1940er Jahren hatte Siqueiros jenseits von Wandfarben alternative Materialien in seine Malerei eingeführt. So ist Die Neue Demokratie im unteren Bildteil auf Zellulose und Zement ausgeführt, was für eine raue, fast reliefartige Struktur sorgt. Der Mensch, Herr und nicht Sklave der Technik brachte Siqueiros mit synthetischen Farben auf Metall. Siqueiros interessierten die Baustoffe der modernen Architektur und Materialien, die in chemischen Verfahren hergestellt werden, nicht zuletzt, um über die Affinität von Werk und Anbringungsort eine stärkere Integration von Kunst in die Architektur zu erreichen.171 Mit dem emblemartigen Wandbild Geschwindigkeit (1953, Abb. 47) über dem Eingang zur Verwaltung der mexikanischen Chrysler-Fabrik Automex realisierte Siqueiros ein teilplastisches Betonrelief. Die Arbeit besteht aus einer querrechteckigen Platte aus in Teilen glatt gestrichenem Zement, die an einigen Stellen mit Keramikbruchstücken ausgelegt ist. Darauf ist eine zweite, elliptische Platte gelegt, die unregelmäßig dick und mit Mosaiksteinen versehen ist. Auf der Ellipse befindet sich eine Kreisform, aus der das Profil einer Frau hervortritt. Siqueiros nutzte die obere Kreishälfte, um darin den nach hinten gebogenen Oberkörper und den Kopf der Frau einzupassen. Ihr langes, offenes Haar scheint durch einen starken Luftzug nach hinten zu fliegen. Beide Arme, die waagerecht und parallel zum 102
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Haar ausgestreckt sind, implizieren eine Rotation. Arme, Brust und Kopf sind, wie Teile von Das Volk an die Universität, die Universität an das Volk, dreiviertelplastisch ausgestaltet. Die Plastizität diente Siqueiros dazu, Bewegung zu suggerieren und Perspektivität herauszuarbeiten. Während sich die Hauptachse von Geschwindigkeit im fiktiven Rotationskern des Werks selbst befindet, liegt sie in Das Volk an die Universität, die Universität an das Volk im linken Bilddrittel. An der Achsenverschiebung und der – im Vergleich – geringen Größe wird deutlich, dass Geschwindigkeit für einen Betrachter geschaffen wurde, der sich in kürzerer Distanz als bei der Arbeit auf dem Universitätscampus bewegt. Die zentralachsige Anlage von Geschwindigkeit spricht für eine Ausrichtung an Betrachter, die frontal vor den Mosaiken stehen, während die nach links verschobene Achse im Universitätswandbild für Betrachter auf der über 100 Meter entfernten Straße Insurgentes eine tiefenräumliche Wirkung erzeugt. Die räumlichen Gegebenheiten von Geschwindigkeit, das an einem in
47. David Alfaro Siqueiros: Velocidad, 1953. Zement und polychromierte azulejo-Keramik, 300 x 750 cm, Fassade der Automex-Fabrik, Mexiko-Stadt (heute: Plaza Juárez, Alameda Central Sur, Mexiko-Stadt)
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eine Häuserzeile eingebundenen Verwaltungsgebäude angebracht war, aber auch die kleinere Auftragsgröße, verstärken den Eindruck, dass die Geschwindigkeitsallegorie Siqueiros als Studie für die Arbeiten auf dem Universitätscampus diente. Während bei der frühen Reliefausführung einige Vertiefungen im Zement, der offensichtlich nicht gleichmäßig geglättet werden konnte,172 auf technische Schwierigkeiten verweisen, wurde das Material in Das Volk an die Universität, die Universität an das Volk, bis auf die Reliefs und bewusst stehengelassene Verschalungsstrukturen, durchgängig eben aufgetragen. Siqueiros ließ die relativ großen, querrechteckigen Steine, die er nicht mit denen frühchristlicher Mosaiken in Verbindung sehen wollte, speziell anfertigen und erklärte deren Polychromierung zur „vierten Dimension“ in der Kunst. Hinter diesem Aspekt stand die Idee eines „Gesamtkunstwerks“ aus Architektur, Malerei, Skulptur und Farbe, mit der Siqueiros an die Vorstellung aus der Vorrenaissance von kollektiv geschaffener Kunst anzuschließen strebte. Er idealisierte diese künstlerische Arbeitsform, um auf die marxistische Gesellschaftsutopie zu verweisen: Wenn die integrale Plastik die höchste aller künstlerischen Schöpfungen über die Jahrhunderte war, kann eine [...] ,Befreiung‘ [der Künstler] nicht mehr als eine Verstümmelung sein. [...] Die neue Gesellschaft, die vor uns ersteht, wird zunehmend eine kollektivistische Gesellschaft sein und in diesem Sinne unendlich offener als die Gesellschaften der künstlerischen Vergangenheit.173
Die Grundidee der Revolution von einer optimierten nationalen Zukunft, welche auf dem Kollektiv der Gesellschaft basiert, setzte sich damit auch in Siqueiros’ Arbeiten zu Zeiten eines sich in Mexiko entwickelnden Wirtschaftsliberalismus fort. Sein Standpunkt zeichnete sich, im Unterschied zu den 1920er Jahren, durch eine beträchtliche Diskrepanz zur staatlichen Propaganda aus. Dieses Verhältnis gipfelte im Stopp der Werkausführung und der zeitweisen Verhüllung von Das Volk an die Universität, die Universität an das Volk.174 Die Perspektivund Technikexperimente Siqueiros’ verweisen darüber hinaus darauf, dass der nationale Stil Mexikos auf dem Universitätsgelände neu ausgehandelt wurde. Siqueiros ging vielleicht am radikalsten auf den neuen, motorisierten Betrachter ein, der sich in einer Raumgröße bewegte, die in Mexi104
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ko bislang ungekannte Ausmaße angenommen hatte. Die Zuspitzung von Perspektiven in den unvollendeten Universitätsmosaiken knüpfte an die Close-up-Experimente der 1940er Jahre an, machte die Arbeiten jedoch erst im industrialisierten Raum lesbar. Das Volk an die Universität, die Universität an das Volk entwickelt seine volle tiefenräumliche Wirkung sogar erst mit der Betrachterbewegung. Interessant für die Definition nationaler Identität in Mexiko um 1950 ist an diesem Befund, dass Siqueiros’ Material- und Perspektivauslotungen nach dem Wechsel von Regierung und Universitätsverwaltung im Dezember 1952 nicht mehr erwünscht waren. Sowohl das Bezeugen fehlender Mittel als auch der Streit zwischen der Bauleitung und dem Künstler über visuell störende Gerüste sprechen von einem geringen Interesse der Universität an der Vollendung des Bildprogramms. Statt Klassenkampf hatten sich Wissenschaft und ökonomischer Fortschritt als Träger der offiziellen nationalen Identität etabliert. Heute hingegen werden Siqueiros’ Materialexperimente von offizieller Seite durchaus geschätzt. Geschwindigkeit ist seit 2006 an der von der Avenida Juárez aus einsehbaren Westwand der so genannten Plaza Juárez (Abb. 48 und 49), in der sich Büros des Oberlandesgerichts und des Außenministeriums befinden, im Zentrum von Mexiko-Stadt angebracht. Dem vom Eingang des früheren Automex-
48. David Alfaro Siqueiros: Velocidad, 1953. Zement und polychromierte azulejo-Keramik, 300 x 750 cm, Plaza Juárez, Alameda Central Sur, Mexiko-Stadt
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Verwaltungsgebäudes abgenommenen Werk wird hier, durch den veränderten Zusammenhang, eine neue Bedeutung zugewiesen: Während es in den 1950er Jahren allegorisch die Produktivitätsambitionen einer Autofirma repräsentierte, dient es nun der Außenwirkung staatlicher und städtischer Institutionen. Zusammen mit dem Neubau des Architekten Ricardo Legorreta, der unter anderem mit dem Entwurf zahlreicher mexikanischer Botschaften sowie des mexikanischen EXPO-Pavillons in Hannover (2000) betraut war,175 wird Geschwindigkeit heute als Emblem für den nationalen Fortschritt eingesetzt. Weniger klassenkämpferisch und durch das kleinere Format transportabel, ist Geschwindigkeit von offizieller Seite, im Unterschied zu Siqueiros’ Universitätswandbildern, bevorzugt zur Identitätsvermittlung eingesetzt worden. Die Arbeit ist ein aufschlussreiches Beispiel für die nachträgliche Aneignung öffentlicher Kunst durch staatliche Institutionen mit dem Ziel, nationale Identität zu repräsentieren, sowie für die Verlagerung von inhaltlichen Konnotationen, die mit dem neuen räumlichen Kontext einhergeht.
49. Ricardo Legorreta: Plaza Juárez, 2005. Alameda Central Sur, Mexiko-Stadt
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Juan O’Gormans Bibliotheksmosaiken Die Entwicklung der Kultur
Das berühmteste und wohl am häufigsten publizierte Kunstwerk, das für den neuen Universitätscampus geschaffen wurde, sind die Mosaiken des Künstlers und Architekten Juan O’Gorman (1905-1982) an der Universitätsbibliothek. Die Natursteinmosaiken Die Entwicklung der Kultur (1949-1959, Abb. 50) ummanteln den zehnstöckigen, annähernd fensterlosen Auf bau der 43 Meter breiten und rund 38 Meter hohen Bibliothek durchgängig. Sie verleihen dem Gebäude einen massiven Charakter. Die auffallend kleinteiligen und vielfarbigen Mosaiken sowie die exponierte Gebäudelage am Hauptcampus, nur wenige Meter nördlich des Rektorenhochhauses, bewirkten, dass die Universitätsbibliothek schon kurz nach der Fertigstellung der Universität zu deren Wahrzeichen avancierte. Das Gebäude begrenzt den zentralen Campus für Geisteswissenschaften nach Norden und stellt mit dem von Siqueiros gestalteten Rektorat im Westen des Campus, einem Arkadengang sowie einem Wegraster aus rötlich gestrichenen Betonplatten einen räumlichen Zusammenhang her. Die Bibliothek ist vom Hauptcampus aus frei einsehbar und bindet über die nach Osten fortlaufenden Arkaden die Geisteswissenschaftliche Fakultät und nach Norden einen Parkplatz an. Von Osten nähert man sich dem Gebäude von der tiefer gelegenen Ebene zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlichem Campus, von der breite Treppen hinaufführen. Auch an der Bibliothek setzt sich die Spannung zwischen Opazität und Transluzenz als bauliches Charakteristikum des Campus fort. Das hohe, durch Glas und Licht durchlässigen tecalli-Stein leicht wirkende Erdgeschoss ist von Mauern aus grob geschnittenem, kaum geglättetem Lavabruch umschlossen, die mit archaisierenden Steinreliefs versehen sind. An der Nord- und Ostseite befinden sich Darstellungen des Wassergottes Tláloc, an der Südseite von Quetzalcóatl in Gestalt der „Gefiederten Schlange“. Im Nordwesten umschließt die hier nur hüfthohe Begrenzungsmauer ein Wasserbecken, das mehrere Meter hohe Pendant im Süden einen Garten, der vom großen, ehemals einzigen Lesesaal im Erdgeschoss aus begehbar ist. Auf dieser Seite liegt auch der Haupteingang der Bibliothek. Man erreicht ihn über eine breite Treppe, die wie jene, die vom unteren Campus hinaufführt, sowie die Gartenmauer aus dunklem Basaltbruch besteht. 107
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50. Juan O’Gorman: Evolución de la Cultura, 1949-1959. Mosaiken aus Basaltlava und -tuff, tecalli, Natursteinen und Glas, 3078 m 2 (Nord- und Südseite: je 27 x 43 m, Ost- und Westseite: je 27 x 14 m), Universitätsbibliothek, Südseite, Geisteswissenschaftlicher Campus, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
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Der zehnstöckige Gebäudeauf bau aus Armierbeton, der ursprünglich als geschlossenes Magazin für die Bibliotheksbestände diente, ist bis auf wenige Lüftungsschächte vollständig mit bunten Mosaiken verkleidet, deren Farben heute ausgeblichen sind. Allein an der Hauptseite im Süden intensivieren sich diese in der Nachmittagssonne. Die dominierenden Farben sind das Dunkelgrau der Pedregal-Lava und das Rotbraun des lokalen Vulkantuffs tezontle.176 Das Gebäudeäußere stellt so auf materieller Ebene Kontinuität zwischen Kunst, Architektur und Campusraum her.
Das Bildprogramm
Die über 3000 Quadratmeter großen Mosaiken Die Entwicklung der Kultur bestehen aus vier Teilen.177 Die Nordseite der Bibliothek zeigt Juan O’Gormans Interpretation der aztekischen Kosmogonie, die Südseite die europäische Prägung der mexikanischen Kolonialkultur durch das ptolemäische und kopernikanische Weltsystem. An der Ostund Westseite sind Darstellungen des modernen Mexiko zu sehen. Das 27 x 43 Meter messende Wandbild von 1952-1959 (Abb. 51) an der am stärksten rezipierten Südseite stellt die Kolonialkultur Mexikos und deren abendländische Einflüsse dar. Zentral sind das geozentrische Weltsystem Ptolemäus’ auf der linken und das heliozentrische System von Kopernikus auf der rechten Bildhälfte, die jeweils als Kreise dargestellt sind. Links sind dementsprechend Repräsentationen der Planeten Saturn, Jupiter, Mars, Venus und Merkur neben unterschiedlichen Sternenkonstellationen abgebildet, rechts die zwölf Sternzeichen. Aus der Ferne wirken beide Kreise wie Augen, deren Iris aus der Sonne bzw. der Erde besteht. Nicht zuletzt deshalb wurden die Mosaiken häufig als Repräsentation des Wassergottes Tláloc interpretiert, dessen Augen traditionell als Ringe dargestellt wurden.178 Gemeinsam mit dem eingesetzten Basaltstein und dem Wasserbecken am Bibliotheksbau unterstreichen die Mosaiken die von den Errichtern als prähispanisch und ,ursprungsbezogen‘ konnotierte Bild- und Materialikonographie der Campuskunst und -architektur. Beide Systeme sind von einer pyramidalen Form getrennt, an deren Fuß eine koloniale Kirche steht. Darüber sind zwei HabsburgerAdler und Banderolen mit den Daten 1521 und 1820, stellvertretend für die Eroberung und Unabhängigwerdung Mexikos, angebracht. 109
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51. Juan O’Gorman: Evolución de la Cultura, 1949-1959. Mosaiken aus Basaltlava und -tuff, tecalli, Natursteinen und Glas, 27 x 43 m, Universitätsbibliothek, Südseite, Geisteswissenschaftlicher Campus, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
52. Juan O’Gorman: Evolución de la Cultura, 1949-1951. Mosaiken aus Basaltlava und -tuff, tecalli, Natursteinen und Glas, 27 x 43 m, Universitätsbibliothek, Nordseite, Geisteswissenschaftlicher Campus, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
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In der unteren Bildhälfte steht links davon eine von einer kolonialen Kirchenarchitektur überbaute Pyramide, ferner sind Kirchenvertreter und Zerstörungsszenen dargestellt. Rechts ist der weltliche Teil der Kolonialisierung wiedergegeben. Von einer mittelalterlichen Festungsarchitektur ausgehend sind die spanische Entdeckung und Eroberung der Hautstadt des Aztekenreichs Tenochtitlan sowie die Verabschiedung der Kolonialgesetze dargestellt. Ein fallender Adler und die Abbildung der ältesten bekannten Karte von Tenochtitlan thematisieren den Untergang der Azteken. Engel und diabolisch wirkende Grotesken referieren dagegen auf die synkretistische sakrale Malerei der Kolonialzeit. Mit den Mosaiken an der Süd- und an der Nordseite konstruierte O’Gorman seine Vision des prähispanischen und kolonialen Mexiko, die sich auf antike Wissenschaft, Kolonialherrschaft und Kirchenmacht sowie auf die prähispanische Mythologie bezieht, wie die Beschreibung der Mosaiken an der Nordseite zeigen wird. Die gleichgroßen Mosaiken an der Nordseite von 1949-1951 (Abb. 52) zeigen den aztekischen Gründungsmythos vom Adler, der eine Schlange aus dem Kaktus zieht. Darüber ist eine Gottheit, schematisiert als Ellipse mit geöffnetem Mund, dargestellt. Aus der linken Hand wächst eine Maispflanze, aus der rechten strömt Blut. Darüber ist der aztekische ,Kalenderstein‘ angebracht. Ein Kanalsystem mit Muscheln, Fischen und Kanuten umgibt die zentralen Bildelemente. Der Werktitel mit dem Begriff der „Entwicklung“ (evolución), die aus dem Spanischen auch als „Evolution“ übersetzt werden kann, verweist auf darwinistische Konnotationen. Rechts vom Gründungsemblem von Tenochtitlan ist die aztekische Urgöttin Coatlicue dargestellt, deren Selbstopfer nach aztekischer Vorstellung den Erhalt der Kosmogonie garantiert und Leben und Tod repräsentiert. Links ist die gebärende Fruchtbarkeitsgöttin Tlazoteótl zu sehen. Quetzalcóatl ist am oberen Bildrand zweifach als schematisierte „Gefiederte Schlange“ präsent und verbindet die Mosaiken motivisch mit der Ikonographie der Einfriedungsmauern der Bibliothek. Neben den einzelnen Götterdarstellungen finden sich zahlreiche kleinteilige Zeichen, die die Ikonographie prähispanischer Codices aufrufen. Im Zentrum der zum Naturwissenschaftlichen Campus ausgerichteten, schmalen Ostseite (1949-1951, Abb. 53) steht die Abbildung eines Atoms, das unter einem aztekischen Adler und über klassenkämpferischen Zeichen und Lettern wie „Viva la Revolución“ („Es lebe die Revolution“) angebracht ist. Die Wandmosaiken an der westlichen 111
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53. Juan O’Gorman: Evolución de la Cultura, 1949-1951. Mosaiken aus Basaltlava und -tuff, tecalli, Natursteinen und Glas, 27 x 14 m, Universitätsbibliothek, Ostseite, Geisteswissenschaftlicher Campus, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
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Schmalseite (1949-1951, Abb. 54) zeigen das Universitätswappen unter den Initialien der Nationalbibliothek und Nationalhemerothek, die hier ursprünglich untergebracht werden sollten. In der unteren Bildhälfte stehen sich traditionell gekleidete Autochthone in einer polychromen prähispanischen Architektur und in moderner Kleidung wiedergegebene Weiße unter einem Rohbau aus Stahl und Beton gegenüber. Das Wappen brachte O’Gorman auf Drängen der Universitätsleitung an, obwohl er eigentlich eine Visualisierung von Newtons Gravitationsgesetz zur allgemeinen Erdanziehung (1666/1687) für diese Stelle geplant hatte.179 Die Mosaiken an der Nord- und Südseite mit Szenen aus der Unabhängigkeitsbewegung und Revolution Mexikos sowie die Wissenschaftsikonographie in den Mosaiken der Ost- und Westseite zeigen, dass O’Gorman die aktualisierte mexikanische Identität aus einer angeblich aus drei Phasen bestehenden Geschichte weitgehend übernahm. Er bekräftigte die nationale Identität ebenso über ikonographische Bildungs- und Wissenschaftsbezüge, die im Alemanismo po-
54. Juan O’Gorman: Evolución de la Cultura, 1949-1951. Mosaiken aus Basaltlava und -tuff, tecalli, Natursteinen und Glas, 27 x 14 m, Universitätsbibliothek, Westseite, Geisteswissenschaftlicher Campus, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
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pulär waren. Wie das Kunstwerk in Bezug auf Raum-, Betrachter- und Materialfragen in der öffentlichen Kunst in Mexiko um 1950 positioniert war, zeigt die folgende Analyse. Die Entwicklung der Kultur und Siqueiros’ Rektoratsmosaiken verdeutlichen, dass die Wandkünstler formal und mit neuen Techniken eine Revision des frühen Muralismo anstrebten und sich dabei in unterschiedlichem Maß auf Gropius’ „optischen ,Schlüssel‘“180 zur Gestaltung von Architektur und „kunstvoller Oberflächenbearbeitung“181 bezogen. Alle Arbeiten sind primär auf eine Rezeption von der Straße ausgerichtet. Die Bibliotheksmosaiken sind zu diesem Zweck als achsensymmetrische Bildkompositionen konzipiert, aber von sich bewegenden Betrachtern schwerer zu erfassen als die Kunstwerke am Rektorat. Dies liegt an der kleinteiligen Ikonographie der Bibliotheksmosaiken und daran, dass zahlreiche Figuren sehr dunkel ausgeführt sind. Während nach Gropius’ wahrnehmungspsychologischer Untersuchung helle Figuren auf dunklem Untergrund vor hellem Himmel den Eindruck von Größe erzeugen,182 ist diese Wirkung bei den dunklen Figuren der Bibliotheksmosaiken vor dem hellen, inzwischen ausgeblichenen Untergrund umgekehrt. In Das Volk an die Universität, die Universität an das Volk ermöglichen hingegen gerade die Größe der Figuren und die extreme Perspektivierung des Bildes im Kontext des weitläufigen Universitätsraumes dem vorbeifahrenden Betrachter ein rasches Erkennen der Bildaussage. Hierin greift Siqueiros Gropius’ Empfehlung von Maßstabsveränderungen auf, um „emotionales Interesse“183 beim Betrachter zu wecken. Auch an die Beziehung von Baumasse und Hohlräumen zur Erzeugung von Spannung, die Gropius in seinem Artikel „Design Topics“ hervorhob,184 schloss Siqueiros indirekt an, indem er die Bildachsen auf fahrende Betrachter ausrichtete und hierfür die große Distanz zwischen Straße und Rektorat einbezog. Dass O’Gormans Entwicklung der Kultur ebenso für eine Wahrnehmung aus großer Distanz komponiert war, zeigen die Kosmogoniedarstellungen, die in der Fernansicht das Symbol Tlálocs erzeugen, und die eingesetzten emblematisierenden Formen. Letztere sprechen dafür, dass die narrativen Enkaustiken und Fresken der 1920er und 1930er Jahre zur Wahrnehmung aus großen Distanzen in archaisierende Mosaiken übersetzt wurden, deren Ikonographie auf Zeichen und Symbolen und weniger auf Bilderzählungen basiert. 114
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Es zeigt sich jedoch, dass O’Gorman die Bedeutung von Kontrasten und Maßstäben für eine Fernwirkung von Die Entwicklung der Kultur unterschätzte. Während die Bibliotheksarchitektur aus Glasbasis und opakem Auf bau das von Gropius geforderte, schnelle Formerfassen ermöglicht, bleibt eine Strukturierung beim Annähern an das Gebäude durch die flächige Fassadengestaltung aus. Erst in der Nahsicht erfährt der Betrachter „Überraschungen“185 beim Ansehen und Deuten der komplexen Bildikonographie. Die Wandbildexperimente gelangen zu diesem frühen Zeitpunkt nur in Teilen. Sie zeigen jedoch das Anliegen der Wandmaler, Aufgaben öffentlicher Kunst, deren Bezugnahme auf den Betrachter und Wirkung im Raum durch eine Auseinandersetzung und Experimente mit Materialien, mit Maßstabs-, Farb- und Formproblemen sowie dem Phänomen der Geschwindigkeit zu überdenken. Die Anbringung naturwissenschaftlicher Formeln in Die Entwicklung der Kultur spricht von einer ideologischen Verlagerung des Diskurses zur offiziellen nationalen Identität. Vordergründig geht es, wie in den frühen Wandbildern Riveras, Montenegros, Siqueiros’ und Orozcos, um die mexikanische Kultur und Geschichte. Die Darstellung von antiken und europäischen Weltbildern spricht aber auch von der Aneignung einer universellen Wissenschaftsgeschichte zur Repräsentation nationaler Images. Hier zeigt sich einmal mehr die offizielle Identität, die sich im Alemanismo weniger über Klassenkampf definierte als über das angestrebte Image eines mit Bildungs- und Forschungsangeboten ,fürsorgenden‘ Staates. Der Arbeit Die Entwicklung der Kultur kommt in der Selbstdarstellung der Universität als Institution für Bildung und naturwissenschaftliche Forschung in einem aufstrebenden Mexiko eine zentrale Position im Kunstprogramm zu. Die Arbeit verknüpft thematisch Naturwissenschaft und nationalen Aufstieg. Diese Verbindung zeigte sich in der von Ost nach West verlaufenden Achse, vom Pavillon für Kosmische Strahlen und Arenas Betancourts Prometheus auf dem Naturwissenschaftlichen Campus bis zu Die Entwicklung der Kultur und Siqueiros’ Das Volk an die Universität, die Universität fürs Volk im Kern der Universitätsstadt. Das Atom an der Westwand der Bibliotheksmosaiken schließt die Achse am Geisteswissenschaftlichen Campus ab und wirkt zugleich wie ein Statement zur offiziellen universitären Identität aus Bildung und Wissenschaft im Dienste der Nation.
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Natursteinmosaiken und Basaltoberflächen bei Juan O’Gorman und Diego Rivera
Juan O’Gorman, der selbst an der Nationaluniversität Architektur studiert hatte, entwarf als einziger unter den in der Universitätsstadt vertretenen Wandkünstlern auch das Gebäude, an dem sein Werk angebracht wurde. 1949 nahm er an dem von Carlos Lazo ausgeschriebenen Wettbewerb für die Bibliothek teil, als dessen Gewinner er hervorging. Die Universitätsbauleitung beauftragte ihn und die zweitund drittplatzierten Architekten Gustavo Saavedra und Juan Martínez de Velasco daraufhin mit der Errichtung der Bibliothek.186 Der Entwurf des zehnstöckigen, funktionalistischen Stahlbetonbaus auf einer breit gezogenen, weit einsehbaren Basis aus Stahlbeton und Glas fand Zustimmung bei den Bauleitern und Beauftragten des Masterplans. Ein Streitpunkt war jedoch die Nutzung der Bibliothek, von der sich deren Gestaltung ableiten sollte. Während O’Gorman für eine Freihandbibliothek plädierte, setzten Pani und del Moral ihren Vor-
55. Diego Rivera in Zusammenarbeit mit Juan O’Gorman: Anahuacalli, 1944-1957. Beton, Stahl, Basaltlava und -tuff, Marmor, tecalli, weitere regionale Steine, Mexiko-Stadt
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schlag einer Magazinbibliothek mit Lesesaal durch. Sie befürchteten angesichts einer offenen Bibliothek Bestandsverluste durch Diebstahl. Der obere Gebäudekorpus wurde daraufhin geschlossen ausgeführt und eine Mosaikengestaltung der Außenwände erst möglich.187 O’Gorman, der in den 1920er Jahren als Villagrán-Schüler funktionalistisch gebaut hatte, besaß zu diesem Zeitpunkt bereits Erfahrung mit Natursteinmosaiken, die er in der Wandgestaltung eines Privathauses in Mexiko-Stadt zwischen 1947 und 1948 und von Diego Riveras Anahuacalli-Museum (1944-1957, Abb. 55) eingesetzt hatte.188 Mit den Mosaiken der Universitätsbibliothek verarbeitete O’Gorman erstmals Natursteine in einem Kunstwerk an einem öffentlichen Gebäude in Mexiko. Sie sollten gemeinsam mit dem Bildthema einer Entwicklung der Nationalkultur einen Beitrag zum ,nationalen‘ Stil der Zeit leisten: Von Projektbeginn an hatte ich die Idee, Mosaiken aus farbigen Steinen an den blinden Mauern des Archivs mit der Technik, die ich schon sehr gut beherrschte, zu machen. Mit diesen Mosaiken sollte die Bibliothek anders als der Rest der Gebäude der Universitätsstadt sein, und damit erhielt sie mexikanischen Charakter.189
Lazo, der im Budget lediglich eine Verkleidung mit vitricotta-Ziegeln vorgesehen hatte, die in Mexiko als preisgünstiges Baumaterial in den 1950er Jahren verbreitet waren, genehmigte als Probe zunächst zwei Mosaikenbänder an der Südseite. Erst später wurde der Auftrag für die Gesamtausführung erteilt und 1959 vollendet. Die Ausführung des Bibliotheksprojekts war mit zehn Jahren Dauer die langwierigste unter den Universitätswandbildern.190 In seiner Autobiografía, die er anlässlich der Auszeichnung mit dem Nationalpreis für Malerei 1973 verfasste, erläuterte O’Gorman detailliert den Herstellungsprozess der Bibliotheksmosaiken, den er 1949 gemeinsam mit einem Team aus über 50 Assistenten und Handwerkern begann. Ein mal einen Meter große Papierzeichnungen wurden als Schablonen in Gipsformen angebracht und kleine Steinstücke in zwölf verschiedenen Farben darauf als Mosaiken ausgelegt. Mit Zement als Träger und mit Armiereisen verstärkt, hängte man die Mosaikenplatten an die mit Backstein ausgefachten Bibliotheksmauern in ein schmales Eisengerüst, dessen Hohlräume mit Beton ausgegossen wurden.191 117
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Das Zusammenwirken in einer großen Künstler- und Handwerkergruppe sollte an prähispanische und mittelalterliche Arbeitsformen, ähnlich der für die Bauhausidee wichtigen Bauhütte, anknüpfen. Die Bezugnahme auf prähispanische und koloniale Ikonographien sowie die Prominenz regionaler Steinsorten spricht von den Bestrebungen des Künstlers, den Mosaiken eine ,nationaltypische‘ Wirkung zu verleihen. Das Verfahren von Mosaiken auf Betonguss hatte O’Gorman zuvor an Riveras Anahuacalli-Museum entwickelt. Die Pyramidenstümpfe aufrufende Museumsarchitektur liegt im östlichen Teil des Pedregal und beherbergt Riveras Sammlung prähispanischer Kunst aus über 5000 Objekten. Rivera engagierte O’Gorman zunächst als technischen Berater auf der Suche nach einer Lösung, die die Betonoberflächen im Innern der „Kombination aus Azteken-, Maya- und ,traditionellem Rivera‘-Stil“192 des Gebäudes anpasste. Der Bau selbst und die abgetreppte Platzanlage erinnern entfernt an den prähispanischen Bezug des eklektizistischen Azteken-Palastes. Statt in Holz und Bronze baute Rivera in Stahl und Beton und setzte Lavabruch aus der Umgebung und vom Grundstück selbst ein. Das Anahuacalli-Museum (náhuatl, „Haus am Meer“)193 ist mit schwarzem Lavabruch verkleidet und steht wie ein düsterer Palast auf einem Platz
56. Diego Rivera und Juan O’Gorman: Ohne Titel, ca. 1954-1957. Mosaik aus Marmor, tecalli, Backsteinbruch, Maße unbekannt, Anahuacalli-Museum, Mexiko-Stadt
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aus demselben Material. Auch dieser Teil des Pedregal-Lavafeldes war in den 1940er Jahren noch weitgehend unbebaut. Seine Kargheit verstärkte den archaisierenden Eindruck, den die Formen und grob bearbeiteten Materialien des Anahuacalli vermitteln. O’Gormans ersten Vorschlag, den Beton im Innenraum zu bemalen, nahm Rivera nicht an. Riveras eigene Idee, eine vollständige Steinauskleidung, verweist aber auf dessen Intention, die Materialien der Umgebung auch im Gebäudeinnern abzubilden. Die letztlich realisierten Mosaikenplatten vermitteln eine steinerne Wirkung des Innenraums. Zunächst schufen die Künstler Platten, die allein mit schwarzem Basaltstein aus Überresten des Museumsbaus versehen waren. Erst später entstanden mehrfarbige Mosaiken aus weißem Marmor und gelblichem tecalli aus dem Bundesstaat Puebla, rosafarbenem Marmor aus Zacatecas und rötlichem Backsteinbruch, die sie in den Innenräumen des zweiten und dritten Geschosses anbrachten.194 (Abb. 56) Riveras Ausführung von Mosaiken schloss an dessen Interesse für Techniken der italienischen Frührenaissance und der byzantinisch orientierten, norditalienischen Tradition an, die er schon zuvor in der Enkaustik und Freskenmalerei rezipiert hatte. In den Anahuacalli-Mosaiken, wie in seinen frühen murales, nutzte Rivera die europäischen Techniken, um gemeinsam mit einer aztekisch inspirierten Ikonographie aus Quetzalcóatl, Coatlicue und Tláloc einen „mexikanischen Stil“ zu schaffen. Hatte Rivera die italienische Formanlehnung seiner ersten Enkaustik Schöpfung (1923) nachträglich kritisiert,195 fließen im Anahuacalli abendländisches und autochthones Erbe auch auf Formebene zusammen. Hier zeichnet sich der ,nationale‘ Stil, ähnlich wie später in den Bibliotheksmosaiken, durch den Einsatz von grob zugeschnittenen Natursteinen und deren Auslegung in emblemhaften Figuren aus. Im Zusammenwirken der 574 Quadratmeter großen Steinmosaiken und der dunklen, massiven Architektur werden an dieser Arbeit nachdrücklicher als an allen anderen Werken Riveras und O’Gormans archaisierende Intentionen der Künstler deutlich. Zu diesem Effekt trägt im fast fensterlosen, höhlenartigen Erdgeschoss des Gebäudes insbesondere die alleinige Verkleidung mit dunkelgrauem Lava- und weißem Kalkbruch bei. Interessant ist, dass Rivera wie O’Gorman auf Archaismen zurückgriffen, während sich der Schwerpunkt der offiziellen nationalen 119
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Identität von der prähispanischen Vergangenheit und der Aufwertung der autochthonen Landbevölkerung auf die Mestizen im modernen Mexiko verlagerte. Nach der kurzzeitigen Kongruenz zwischen Künstlerpositionen und Politik unter Präsident Álvaro Obregón wurden an Riveras vollständig privat finanziertem Projekt die Differenzen zwischen seinem Spätwerk und staatlicher Propaganda ablesbar. Die Bibliotheksmosaiken zeigen, dass es O’Gorman, trotz des Bildthemas einer nationalen Kulturentwicklung, vornehmlich um eine Berücksichtigung des Regionalen in einem nationalen Zusammenhang ging. Dies machte er insbesondere über die Materialverwendung deutlich. Zehn verschiedene Natursteinsorten und Glas kamen in Die Entwicklung der Kultur zum Einsatz. O’Gorman argumentierte für deren Auswahl mit der Farbbeständigkeit von Naturstein in der extremen Witterung des in tropischen Breiten und über 2200 Meter hoch gelegenen Mexiko-Stadt. Auf die Bedeutung der Steinherkunft aus verschiedenen Regionen Mexikos geht O’Gorman in seiner Autobiografía zwar nicht explizit ein. Er beschreibt dort aber seine Suche nach Steinen in passenden Farben, die er, beraten von einem Ingenieur, in einer Vielzahl von Minen und Steinbrüchen in ganz Mexiko anstellte: Im Bundesstaat Guerrero fand ich die Gelb-, Rot- und Schwarztöne (die Gelb- und Rottöne sind Eisenoxyde), verschiedene Grüntöne fand ich auch in den Bundesstaaten Guerrero und Guanajuato. In dem Bundesstaat Hidalgo fand ich vulkanische Steine in violetter Farbe und zwei rosafarbene Kalke. Blaufarbigen Stein haben wir nie gefunden. [...] Schließlich wählte ich zehn Farben aus, mit denen man die Mosaiken machen konnte: ein Venezia-Rot, ein Siena-Gelb, zwei Rosa unterschiedlicher Qualität, eines fast lachsfarben und das andere mit Tendenz zur Farbe Violett, ein Grauviolett, das Dunkelgrau des Pedregal, schwarzen Obsidian und weißes Chalcedon. Es war auch möglich, weißen Marmor, zwei Grüntöne, einen hellen und den anderen dunkel, die wir besorgen konnten, einzusetzen.196
Die Bemühungen des Künstlers, möglichst jede Region mit einer Steinsorte in den Mosaiken zu repräsentieren, zeigen die große Bedeutung, die er diesem Werkaspekt beimaß. Über 150 verschiedene Steinsorten wurden zusammengetragen, von denen die zehn intensivsten Töne Verwendung fanden. Allein das fehlende Blau wurde durch Buntglas ersetzt.197 120
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Offensichtlich ging es darum, jenseits des vereinheitlichenden Bildthemas einer einzigen nationalen Kultur, die Heterogenität Mexikos über das eingesetzte Material zu postulieren. Eine solche Abwendung von einem vereinheitlichenden, nationalen Image hin zu einem Kompositum aus regionalen Charakteristika liest sich gerade vor dem Hintergrund zunehmender Diskrepanzen zwischen den Inhalten öffentlicher Kunst und der homogenisierenden Regierungspolitik als Kritik. Sie zeigt, dass auch O’Gorman sich von offiziellen zeitgenössischen Mexiko-Bildern weitgehend distanzierte. Mit den Mosaikentechniken, die nicht allein aus der italienischen, sondern auch aus der prähispanischen Tradition überliefert sind, schlossen O’Gorman und Rivera an das seit der Unabhängigkeit tradierte Verständnis vom Prähispanischen als genuin Mexikanischen an. Über diese Konnotation unterstrichen die Künstler ihre Affinität zur Mexikanischen Revolution und grenzten sich weiter vom Öffnungskurs der Alemán-Regierung ab. Die Idee, mit jeder Steinfarbe eine Region zu repräsentieren, entspricht den Prinzipien prähispanischer Kulturen, in denen jeder Stein eine Gottheit symbolisiert. Die frühesten bekannten Steinbesatze sind aus schwarzem Obsidian, einem Vulkanglas. Sie stammen aus der Tlatilco-Kultur im Hochtal von Mexiko (um 1500 v. Chr.) und von den Olmeken (1100-400 v. Chr.) in Südostmexiko, deren Kosmogonien bislang kaum erforscht sind. In der aztekischen Kultur repräsentiert Obsidian Tezcatlipoca, den Gott der Nacht. Der spanische Chronist
57. Maske, Teotihuacan, um 300 n. Chr. Mosaiken aus Türkisen, Jade, Korallen, Muscheln und Obsidian auf Basalt, Höhe: 21,6 cm, Museo Nacional de Antropología, Mexiko-Stadt
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Bernardino de Sahagún berichtete im 16. Jahrhundert auch von aztekischen Steinmetzen, die Halbedelsteine wie Amethyst, Jade und Türkis aus Felsen schlugen, mit Steinen bearbeiteten, schliffen, auf Oberflächen klebten und anschließend mit Sand polierten.198 Die Teotihuacan-Kultur und Zapoteken, die wie die Olmeken und frühen Hochlandkulturen untereinander handelten, schufen als erste kunstvolle Masken in Steinmosaiken (Abb. 57 und Abb. 58)199. Deren Herstellungsverfahren wurden noch um 900 nach Christus von den Maya eingesetzt. 200 Die Verwendung mancher Steinsorten von geographisch weit auseinanderliegenden Kulturen zeigt die Grenzen regionaler Repräsentation auf. Insbesondere Türkis existierte durch den frühen Handel über weite Teile des Kontinents von den aridoamerikanischen Kulturen im heutigen Süden der USA bis zu den Maya-Regionen in Mittelamerika. Während Sahagún den Türkisabbau bei Tenochtitlan beschreibt, wurde im 20. Jahrhundert das Vorkommen des Halbedelsteins in Minen im Bundesstaat Zacatecas in Nordmexiko nachgewiesen. 201 Der Einsatz von Steinen als Stellvertretern einzelner Regionen war somit vielmehr ein rhetorisches Konstrukt des Künstlers, der in Bezug auf ein früheres Wandbild bemerkte: „Indem ich die prähispanische Vergangenheit darstelle, hebe ich die alte Tradition Mexikos hervor, in der unsere nationalen Wurzeln liegen.“202
58. Fledermaus-Maske, Monte Albán, 200-800 v. Chr. Mosaiken aus Muscheln, Jadeiten und Textil, 17 x 15,3 x 9,3 cm, Museo Nacional de Antropología, Mexiko-Stadt
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Mit der emblemhaften Bildikonographie, den abendländisch und prähispanisch konnotierten Mosaikentechniken und den modernen Architekturformen im Zusammenwirken mit der kargen Umgebung lieferte O’Gorman seine Aktualisierung des ,nationalen Stils‘. Während Siqueiros diesen in den Rektoratsmosaiken maßgeblich über Industriematerialien, Form und extreme Perspektivierungen definierte, die sich an veränderte urbane Gefüge richteten, legte O’Gorman sein Augenmerk neben der Form verstärkt auf natürliche Materialien. Statt wie Siqueiros auf Zement und Stahl, Zellulose und synthetische Farben zurückzugreifen, schlug er, in Anlehnung an eigene Arbeiten und Riveras Anahuacalli-Museum, Naturstein als Material eines ,nationalen Stils‘ vor. Mit der repräsentativen Steinauswahl betonte O’Gorman zudem in einem fast additiven Verfahren ein Nationenbild, das sich aus regionalen Bestandteilen zu einem Kompositum zusammensetzt. Zusammen mit dem Material aus Naturstein scheint Die Entwicklung der Kultur das Prinzip dreidimensionaler Kompositdenkmäler in die Fläche zu übersetzen. Die Kultur basiert hier visuell auf der Natur und verweist gemeinsam mit dem betonten Lokalbezug auf den regionalistischen Ansatz O’Gormans Ende der 1940er Jahre. In seinem Naturbezug differierte O’Gorman maßgeblich von Siqueiros’ Industrieapologie.
Regionalismus und Indigenismo in Juan O’Gormans Mosaiken und Architektur
Deutlicher zeigt sich die Verbindung von ,Regionalem‘ und ,Mexikanischem‘ in O’Gormans fast zeitgleich entstandenem Wohnhaus (Abb. 59). Rivera bezeichnete das zwischen 1951 und 1955 im westlichen Pedregal errichtete Haus, das 1969 zerstört wurde, als „erstes modernes Haus in rein mexikanischem Stil“ von „nationalem und regionalem Wert“203. Der „mexikanische Stil“ bestand laut Rivera in den organischen Formen, deren Kern eine mehrere Kubikmeter große Lavablase bildete, der Verblendung des Hauses mit Lavabruch und mehrfarbigen Natursteinmosaiken, die O’Gorman direkt auf der Wandoberfläche anbrachte.204 Auch der Garten mit lokaltypischen Pflanzen, die archaisierende Mosaikenikonographie und ein für die MayaArchitektur typischer, gebrochener Bogen an der Fassade (Abb. 60) 123
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beförderten eine solche Zuweisung. Im Unterschied zur funktionalistischen Bibliotheksarchitektur hob O’Gorman an seinem Privathaus regionalistische Intentionen nicht nur mit dem Einsatz lokaler Materialien und einer primitivisierenden Ikonographie, sondern auch mit organischen Bauformen hervor. Das Privathaus markiert deutlich die Abkehr des Künstlers und Architekten O’Gorman vom Funktionalismus, den er als Leiter der Bauabteilung des Bildungsministeriums (1932-1935) mit Konzepten für die rationalisierte Errichtung öffentlicher Gebäude vertreten hatte.205 Sein Interesse an regionaler Konnotierung von Architektur zeigte sich bereits in dem in geometrischen Formen ausgeführten Atelierdoppelhaus Diego Riveras und Frida Kahlos in San Ángel von 1931 (Abb. 61). Dieses ließ er in Farben, die für die mexikanische Volkskunst typisch sind, streichen und den Garten mit Agaven und Stabkakteen bepflanzen. Um 1936 wandte O’Gorman sich endgültig vom Funktionalismus mit der Begründung ab, dass dieser keine Architektur, sondern reine Ingenieursleistungen hervorbrächte. Noch wenige Jahre zuvor hatte er seine rationalistische Bauweise mit diesem Argument gerechtfertigt.206 Ein wichtiger Grund für den Wandel war, dass O’Gorman das Prinzip der Kostenrationalisierung in der ,international‘ orientierten mexikanischen Architektur durch den Einsatz von Marmor und anderen teuren Materialien für aufgehoben hielt.207 Sein Privathaus verstand O’Gorman als „ein Essay organischer Architektur“. An dieser definierte er seinen Regionalismusbegriff als „künstlerischen Ausdruck, der einen direkten Bezug zur Geographie und Geschichte des Ortes hat, an dem die organische Architektur entsteht“208 . Das Privathaus erfüllte dies mit Formen, die in weiten Teilen durch den erstarrten Lavafluss bestimmt und, so O’Gorman, an prähispanischer Architektur der Gegend orientiert waren. Aus der Forderung nach Einheit zwischen Umgebung und Architektur sprach die regionalistische Architekturauffassung Frank Lloyd Wrights, den O’Gorman als „Einstein der modernern Architektur“209 bezeichnete. Wright war mit den Taliesin-Häusern (1911-1914/1936-1938, Abb. 62 und 63) in Spring Green, Wisconsin, und Scottsdale, Arizona, in denen er die lokale Topographie und Materialien in die Architektur integrierte, zum Hauptvertreter des US-amerikanischen Regionalismus avanciert. 1954 formulierte Wright seine Theorie vom „usonischen 124
II Öf fentliche Kunst und nationale Landschaf t 59. Juan O’Gorman: Casa de Juan O’Gorman, 19511955. Mit dem Wandbild: Dioses y símbolos del México antiguo, 1955. Lava, Zement, Pigment, 200 m2, San Jerónimo, Mexiko-Stadt (zerstört)
60. Juan O’Gorman: Casa de Juan O’Gorman, 1951-1955. Gartenfassade, San Jerónimo, Mexiko-Stadt (zerstört)
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Haus“, das er in den 1930er Jahren entwickelt hatte. Dieses sei, „integriert in seine Lage, in seinen Zweck und für seinen Bewohner […] ein Heim im besten Sinn des Wortes“210: Das usonische Haus […] will eine natürliche Erfüllung sein, in die Lage, in die Umgebung, in das Leben seiner Bewohner integriert. Ein Haus, eins mit der Natur der Baustoffe – in dem Glas als Glas, Stein als Stein, Holz als Holz verwendet ist –, in dem alle Elemente der Umgebung in das Haus hinein und durch das Haus hindurchgehen.211
In Wrights Sinne von einer Verbindung der Architektur mit ihrer Umgebung ordnete O’Gorman die Architektur seines Hauses in San Jerónimo der Topographie des Ortes unter: Die Lavablase gab die Raumaufteilung vor, die Fassade wurde mit der landläufigen Lava der Gegend gestaltet. Im Fall der Universitätsbibliothek verläuft die Integration der Umgebung anders. Das Gebäude steht zwar, auf dem von Pani und del Moral entworfenen Campus, auf einer mit prähispanischen Zeremonialanlagen assoziierten Plattform. Auch der Einsatz von Vulkantuff und Basaltlava in den Mosaiken und Grundmauern spricht für regionale Konnotationen. Die Quaderform der Bibliothek, ihre tragende Stahlstruktur und Baumaterialien wie Beton stehen dagegen in der Tradition des von Pani und del Moral geforderten Funktionalismus. Während O’Gorman in dem selbst finanzierten Projekt das Haus mit großer Gestaltungsfreiheit der Natur und Topographie des Ortes anpasste,212 sprechen der Bibliotheksbau und seine Wandbilder vielmehr von der Nutzbarmachung der umgebenden Natur für die Architektur. Beide Werke zeugen von einer intensiven Suche des Künstlers nach einem spezifisch ,mexikanischen‘ Regionalismus, ähnlich wie Wright im Taliesin-Haus mit lokalen Materialien einen US-amerikanischen Stil postuliert hatte. 213 Der von O’Gorman beanspruchte prähispanische Einfluss auf die Hausproportionen und -formen bleibt dennoch diffus. Das einzige nach dem Ausbruch des Vulkans Xitle in der Nähe erhaltene Siedlungszeugnis aus prähispanischer Zeit ist eine Pyramide der Cuicuilco-Kultur (800-600 v. Chr., Abb. 64), die sich durch Mehrstufigkeit und runde Formen auszeichnet. O’Gorman schien es vielmehr darum zu gehen, über die Architektur eine Hierarchisierung des Verhält126
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nisses von Natur zu Kultur herzustellen, in der das Prähispanische mit einem ,ursprünglichen‘, unberührten Zustand assoziiert wird. Natürliche und Natürlichkeit repräsentierende Materialien wurden sowohl bei Wright als auch bei O’Gorman zu gestalterischen Elementen, die mit ihrem Einsatz in der Architektur kulturalisiert wurden. Wright befand Beton für „charakterlos“214 und wollte „den Zement und den Kies völlig [s]einem Willen untertan“215 machen. Entsprechend behandelte er das Material, beispielsweise in den baumstammähnlichen Säulen des S. C. Johnson Administration Building in Racine, Wisconsin (1936-1939, Abb. 65), als plastisches Material, um es in organische Formen zu bringen. O’Gorman setzte beim Bau des Atelierdoppelhauses für Rivera und Kahlo zwar Stahl und Beton in geometrischen Formen ein. Über ein Anknüpfen an den ,Internationalen Stil‘, in dem Beton als tragendes Element und Verblendungsmaterial eingesetzt wurde, hinaus, diente ihm Zement jedoch auch als Träger für das gebrochene Rosa und kräf-
61. Juan O’Gorman: Atelierdoppelhaus für Diego Rivera und Frida Kahlo, 1931. San Ángel, Mexiko-Stadt
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62. Frank Lloyd Wright: Taliesin-Haus, Terrasse, 1911-1914 (1959 umgebaut). Spring Green, Wisconsin
63. Frank Lloyd Wright: Taliesin-West, Kamin, 1936-1938 (1959 umgebaut). Scottsdale, Arizona
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tige Blau der Fassade. O’Gormans Interesse, einen ,mexikanischen‘ Regionalismus zu schaffen, findet sich ebenso in der spiralförmigen Treppe als organischer Form, die zum ersten und zweiten Stockwerk hinaufführt. An seinem eigenen Haus nutzte O’Gorman die Formbarkeit von Beton dagegen zur Gestaltung von Skulpturen und Reliefs. In den Bibliothekswandbildern wird Zement Träger und Binder für eine Oberfläche aus Naturstein, womit O’Gorman an Wrights Forderung nach einer natürlichen Wirkung von Wänden durch Steinverarbeitung anschloss. Wright selbst, der dieses Charakteristikum auch an der Steinbearbeitung der Maya hervorhob, hatte dieses Postulat unter anderem in der Innen- und Außengestaltung seines berühmten Edgar J. Kaufmann-Hauses (Fallingwater, 1936, Abb. 66) in lokalem Stein umgesetzt. Von einem solchen regionalistischen Credo zeugen die Oberflächen von O’Gormans Wohnhaus und der Sockel- und Gartenmauern der Universitätsbibliothek aus kaum geglättetem Lavabruch. Doch im Unterschied zu Fassaden von Tempeln und Palästen der Azteken und Maya216 verputzte und polychromierte O’Gorman die Oberflächen seines Wohnhauses und der Bibliothek nicht. Ähnlich wie Wright interessierte ihn die Sichtbarkeit des dunklen, kaum bearbeiteten Steins, der einen roh wirkenden Außenabschluss hervorruft. Die geometrisierenden Reliefs der aztekischen Gottheiten an den Garten- und Grundmauern der Bibliothek verstärken die archaische Wirkung der Steinverwendung zusätzlich. Die Lava an der Bibliothek stellt materiale Kontinuität her zwischen den raumgreifenden Campustreppen aus Basalt, den Gebäudesockeln aus Lavabruch, der umgebenden Pedregal-Landschaft und der das Tal von Mexiko nach Süden abschließenden Vulkansilhouette. Mit der Architektur und der an ihr eingesetzten Kunst münzte O’Gorman das charakteristischste lokale Naturmaterial der „aggressiven“217 Vulkanlandschaft, ähnlich wie zuvor am Anahuacalli und an seinem Privathaus, in ein Kultur schaffendes Element um. Basaltlava, die seit den Debatten zur Erdentstehung zwischen den Neptunisten und Plutonisten im ausgehenden 18. Jahrhundert als ein Material rezipiert wird, das mit dem geogenetischen Ursprung und revolutionärem Gedankengut verbunden ist,218 erhält damit in den Bibliotheksmosaiken eine zentrale ikonographische Rolle. Auch in den fast zeitgleich entstandenen Außenwandmosaiken Allegorie Mexikos (1952-1953, Abb. 67) am Ministerium für Kommunikation und Ver129
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64. Rundpyramide, Cuicuilco, 800-600 v. Chr. Tal von Mexiko, heute: Mexiko-Stadt
kehr setzte O’Gorman Basaltlava und tezontle-Tuff ein. Er verwendete die Materialien, ähnlich der Darstellung der prähispanischen Welt an der Nordwand der Universitätsbibliothek, für die Wiedergabe von Wasserläufen mit einfachen Lebewesen wie Muscheln, Seesternen, Fischen und Fröschen. In beiden Bildern verweisen diese auf die Evolutionsstufen des Lebens nach Darwin. Die ikonographische Verbindung von Lava und Wasser ist bei O’Gorman zentral. In den Basaltformationen des Pedregal sah er „Wogen, die die Bewegung der Lava formten und einen speziellen Charakter schufen, der den von Wellen im Meer ausgelösten Bewegungen gleicht.“219 Mit dem Verweis auf die Formbarkeit von Eruptivgestein referiert O’Gorman auf deren Entstehung durch die Veränderung ihres Aggregatzustandes von flüssiger Lava zu festem Gestein. Bereits vor der wissenschaftlichen Debatte zur Zeit der Französischen Revolution prägten Theorien zur Erhärtung liquiden Materials Vorstellungen vom Erdursprung. Der französische Wasserbauingenieur, Keramiker und Naturforscher Bernard Palissy (1510-1589) strebte in seinem nicht realisierten, alchemistischen Gartenentwurf vom Ende des 16. Jahrhunderts an, die Schöpfung mit zu Kristallen 130
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65. Frank Lloyd Wright: S. C. Johnson Administration Building, 1936-1939. Hauptbüro, Racine, Wisconsin
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erhärteter Flüssigkeit mimetisch wiederzugeben. 220 Ähnlich repräsentierte O’Gorman mit verfestigter Lava den ,Ursprung‘ der Landschaft, in der er das Material einsetzte, und assoziierte flüssige Lava mit Wasser als Urelement. Unterstrichen wird diese Analogisierung durch die in den Mosaiken verwendeten Basalte. Während der gelbe tecalli an den Bibliotheksfenstern, wie Rivera betonte, einen Anschluss an prähispanische Architektur impliziert,221 sprechen die geogenetisch konnotierten, basalthaltigen Materialien ein noch früheres Moment an: Sowohl O’Gorman als auch Rivera setzten die erdgeschichtlich ,ursprungskonnotierten‘ Repräsentanten Basaltlava, tezontle und Obsidianglas ein, um die ,Entwicklung‘ Mexikos von den prähispanischen Kulturen bis zur Moderne auf materialer und ikonographischer Ebene zu visualisieren.
66. Frank Lloyd Wright: Edgar J. Kaufmann Residence, 1936. Fallingwater, Bear Run, Pennsylvania
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67. Juan O’Gorman: Alegoría de México, 1952-1953 (Detail). Mosaiken aus Basaltlava, -tuff und weiteren Natursteinen, Secretaría de Comunicaciones y Transportes, Mexiko-Stadt
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
,Primitivismus‘ und Ornament in den Universitätsmosaiken
Die für den Betrachter vielleicht augenfälligste ,Primitivisierung‘ liegt in der vollständigen Polychromie der Bibliotheksmosaiken, durch die das fast fensterlose Magazin gegenüber der weitgehend transparenten Rektoratsarchitektur eine exponierte Stellung einnimmt. Kritiker der Mosaiken wie Pani und del Moral bezeichneten diese als „vier an einem Wäscheständer aufgehängte sarapes“222. Dies legte Rivera in einem Vortrag zu historischen und geographischen Einflüssen auf die mexikanische Architektur ironisch als Kompliment aus. Seine funktionalistisch bauenden Kollegen benannten als „Anhänger von Toilettenrosenkränzen“223, wie Rivera die parzellierte Rektoratsfassade bezeichnete, ein in seinen Augen positives Charakteristikum: die Ähnlichkeit mit den in bunten Farben gewebten Wolldecken der mexikanischen Bauern.224 Statt einer „[Bibliotheks]kiste“, so Rivera, war ein Gebäude mit „mexikanischer Physiognomie“225 entstanden. In einem Punkt hatten Pani und del Moral dennoch den Kern der Künstlerintention erkannt: Mit der vollständigen, fast fensterlosen Verhüllung der tragenden Struktur wurde die ,primitivisierende‘ Wirkung des Gebäudes verstärkt. Schon Gottfried Semper hatte das Gewebe unter dem Eindruck der „Karibischen Hütte“ auf der Londoner Weltausstellung von 1851 als eines der ersten Merkmale für eine Entwicklung von ephemerer ,primitiver‘ zu dauerhafter Architektur definiert und hieraus sein „Prinzip der Bekleidung“ abgeleitet. 226 Wie Kenneth Frampton hervorhebt, beeinflusste Sempers Bekleidungstheorie auch Wrights doppelwändige Fassadengestaltungen vom Alice Millard-Haus (1923)227 bis zum Prototyp des usonischen Hauses aus leichten, gewebt wirkenden Außenmaterialien.228 Die Bibliotheksmosaiken greifen als Ummantelung des Gebäudes die Assoziation einer genuinen, textilen Bekleidung auf. Über ihre ornamenthafte Ausgestaltung mit Episoden aus der Nationalgeschichte und prähispanischen Gottheiten in lokalen Steinsorten unterstreichen sie einmal mehr die Abkehr O’Gormans vom ,Internationalen Stil‘ hin zu einem ,mexikanischen‘ Regionalismus. Eine solche Wirkung entsteht ferner über die Vielfarbigkeit der Mosaiken, da sich sowohl die mexikanische Volkskunst als auch zahlreiche Kunstwerke der prähispanischen Kulturen durch Polychromie auszeichnen.229 In der prähispanischen Kunst gilt Farbe als integrales ikonographisches Mittel, wie Elizabeth Hill Boone herausstellt: 134
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Farbe funktionierte weniger als Dekoration denn als Träger für ikonographische Lesarten und symbolische Bedeutungen. Bestimmte Farben [...] konnten sich auf [...] abstrakte Phänomene und Prinzipien wie die Himmelsrichtungen, Nacht, Abstammung, Kostbarkeit und Heiligkeit beziehen. Farbe vervollständigte in vielen Fällen das Kunstwerk.230
Die abstrahierende Qualität, die Farbe in der prähispanischen Kunst besitzt, drückte sich ebenso in der Verwendung verschiedenfarbiger Sande und Lehme in der Bodengestaltung der Olmeken-Architektur wie in polychromen Wandbildern aus.231 Erst kurz vor der Entstehung der Bibliotheksmosaiken wurden die vielfarbigen Maya-Fresken von Bonampak (maya, „bemalte Wand“, um 790, Abb. 68) im Dschungel von Chiapas entdeckt. Sie rückten seit ihrer Publikation 1946 verstärkt ins öffentliche Bewusstsein. Polychrome Außenwände sind seit der prähispanischen Präklassik nachgewiesen. Polychromien, wie jene aus der klassischen Periode von Teotihuacan (350-650) aus verputzten, rot getünchten und mit mehrfarbigen Reliefs versehenen Tempeln, waren bis nach Mittelamerika verbreitet. In der Postklassik dagegen, so im toltekischen Tula, das einflussreich auf die Aztekenkultur war, nahm die Architekturpolychromie ab: Außenreliefs, Pilaster und frei stehende Skulpturen wie die Atlanten von Tula wurden polychromiert, wohingegen man viele Pyramiden- und Palastfassaden weiß tünchte. 232 Die Mosaiken der Universitätsstadt zeugen von einem Interesse der Wandbildkünstler an den Außenreliefs und Innenwandbildern der Maya- und Teotihuacan-Klassik sowie an den späteren Kombinationen einfarbiger Architektur mit polychromen Bildprogrammen. Die Kleinteiligkeit der Darstellung und die Anlehnung an die prähispanische Götterikonographie in den Bibliotheksmosaiken verweisen zudem auf O’Gormans Auseinandersetzung mit prähispanischen Codices. In den prähispanischen Kulturen waren Zuschreibungen der einzelnen Farben an Götter und Himmelsrichtungen nicht immer eindeutig. Das in den Bibliotheksmosaiken eingesetzte Rot, das aufgrund großer Eisenoxydvorkommen in Mittelamerika sehr häufig in der prähispanischen Kunst eingesetzt wurde, 233 ist in der Forschung beispielsweise mit widersprüchlichen Zuschreibungen belegt: Bei den Azteken stand es für die Himmelsrichtung Osten, aus der Quetzalcóatl ins Aztekenreich zurückkehren sollte, aber auch für Blut und die Heimat Tlálocs.234 135
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Nach John Gage kann Rot aber ebenso alle weiteren Himmelsrichtungen symbolisieren.235 Auch für die neben dunkelgrauer Lava in Die Entwicklung der Kultur eingesetzten rotbraunen tezontle, die gelben, eisenoxydhaltigen Steine aus dem Küstenstaat Guerrero und den weißen Chalcedon existieren unterschiedliche Bedeutungszuweisungen.
,Nützliche‘ Farbe in der mexikanischen Wandbildkunst
Wie der französisch-mexikanische Wandmaler Jean Charlot (18981971) befand auch O’Gorman Farbe als nutzbringend für die Kommunikation zwischen Werk und Betrachter. Für eine solche Auffassung waren frühere Erfahrungen O’Gormans relevant: In den 1920er Jahren hatte er – im Zuge der Aufwertung der mexikanischen Populärkultur – pulquerías, meist vollständig polychromierte Wirtshäuser, mit Wandbildern ausgemalt.236
68. Selbstkasteiung adliger Frauen, Maya, um 790 n. Chr. Digitalisierte Rekonstruktion des Wandgemäldes, Maße unbekannt, Struktur 1, Raum 3, Bonampak, Chiapas
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Jean Charlot hatte seit seiner Ankunft in Mexiko im Jahr 1921 Rivera als Assistent bei der Enkaustik Schöpfung und dem Wandbildzyklus im Bildungsministerium gedient.237 Innerhalb der Muralismo-Bewegung galt er als Erneuerer: Er hatte mit Das Massaker im Templo Mayor (1922-1923)238 im Treppenhaus des Westhofes der Nationalen Vorbereitungsschule das erste zeitgenössische Fresko in Mexiko ausgeführt. Zentral war Charlots Interesse an der Erforschung der prähispanischen Kunst, das andere Revolutionsmaler teilten. 239 1924 begleitete er eine Forschergruppe des Washingtoner Carnegie-Instituts nach Chichén Itzá auf der Halbinsel Yucatán. Dort fertigte er Kopien von Wandbildern des Krieger- und Chac Mool-Tempels sowie des Nonnenpalastes an, die seit ihrer Wiederentdeckung in den 1840er Jahren intensiv von Archäologen erforscht wurden. 240 Charlot, der die Wandmalerei auf mexikanischem Terrain aus unterschiedlichen Epochen und den Warten des High und Low sicherlich am intensivsten unter den Revolutionskünstlern analyiserte, bewertete die pulquería-Malerei entsprechend als authentisch ,mexikanisch‘: [S]elbst aus den Schweizer Landschaften, den Postkarten vom Grossen Krieg, und den deutschen Kitschbildern, macht der Künstler noch ein mexikanisches Werk. Und indem er deutsche Frauen mit rosafarbener Haut und Haar aus Gold mit großem Genuss malt, macht er so genuin indigene Gemälde, wie es nicht einmal die Indiodarstellungen sind, auf die ich selbst zu schaffen bestehe.241
Damit schloss er an Riveras Plädoyer für pulquerías an, die dieser als wichtiges, populäres Komplement zu den für den nationalen Diskurs nutzbar gemachten kolonialen Retabeln hervorhob. 242 Charlot konstatierte darüber hinaus einen ,nationalen‘, den mexikanischen pulquería-Malern in die Wiege gelegten Stil, der sich durch Polychromie auszeichne. Während O’Gorman an den Bibliotheksmosaiken mit Natur, Landschaft und Polychromie ein vermeintlich genuin ,mexikanisches‘ Werk konstruierte, argumentierte Charlot mit Stil und Farbigkeit. Auch wenn Charlot einen stärker klassenkämpferischen Ton anschlug, gibt es doch Analogien zwischen seinem und O’Gormans Interesse an der Farbwirkung auf den Betrachter. Nach Auffassung Charlots ist Farbe gemeinsam mit der Form mehr als das Bildmotiv selbst zur Kommunikation befähigt: 137
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Die Tatsache, dass mehr Menschen die am besten ausgemalten pulquerías zum Trinken betreten, beweist den Sinn von Kunst; eine pulquería ohne Malerei wäre aus kommerzieller Sicht absurd. Diese Attraktivität der Malerei ist nicht speziell an die dargestellten Objekte gebunden; das, was anzieht, sind vor allem die Linie und die Farbe, und deshalb ist der Besitzer daran interessiert, dass seine Wände plastisch gut bedeckt sind. (Die gute Qualität der Malerei, wie die des pulque, ist für ihn ein Erfolgselement.)243
Dass er der vollständigen Ausmalung der pulquería besondere Relevanz beimaß, demonstrierte Charlot mit der Illustration seines Artikels: Das Werk Die Weisen ohne Studium (Abb. 69) von Gabriel Fernández Ledesma (1900-1983), einem der wichtigsten Revolutionsgrafiker und Herausgeber der Zeitschrift Forma, 244 zeigt ein polychromiertes Wirtshaus. Auch O’Gorman betonte mit Hinblick auf die Bibliotheksmosaiken, dass diese die breite Bevölkerung ansprechen sollten. Polychromie und eine Ikonographie, die prähispanische Vorbilder aufrufen, archaisierende Formen, Natursteine und die Lavalandschaft sowie die weite Sichtbarkeit der Mosaiken waren für O’Gorman grundlegend für eine „Kommunikation mit dem mexikanischen Volk“245. Der Anbringungsort und die Ausführung von Die Entwicklung der Kultur sind weitgehend an die neuen Voraussetzungen für Betrachter in einem industrialisierten Raum ausgerichtet. Die Bibliothek ist sowohl vom Campus als auch von der nahe gelegenen Schnellstraße her einsehbar. Zudem sind alle vier Gebäudeseiten mit Mosaiken ausgestattet, die als Ganzes verstanden werden können, aber auch einzeln lesbar sind. Von allen Seiten kommend ist dem Betrachter ein Zugang zum Kunstwerk möglich. Andererseits wirkt Die Entwicklung der Kultur verschlüsselter als Siqueiros’ Das Volk an die Universität, die Universität an das Volk. Aus großer Distanz setzen sich die kosmogonischen Weltbilder Ptolemäus’ und Kopernikus’ an der Südseite zwar zum Tláloc-Symbol zusammen. Die kleinteilige, codexhafte Ikonographie ist im Vorbeifahren jedoch kaum zu erfassen und auch aus der Nähe nur für vorgebildete Betrachter verständlich. Ferner erzeugte O’Gorman mit den Bibliotheksmosaiken, im Unterschied zu Siqueiros’ Rektoratsreliefs, keine räumliche Tiefe, da er perspektivlose, plane Darstellungen wählte. Diese verstärken die schwebende Wirkung der Bildelemente und den Eindruck, den prähispanische Codices auf Papier erwecken. 138
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Die Codex-Anspielung erzeugt gemeinsam mit dem betonten Einsatz von Natursteinen, der Ikonographie mit prähispanischem Bezug – insbesondere in den Mosaiken der Nordseite – und den emblematisierenden Formen eine ,primitivisierende‘ Wirkung. Diese verstärkt sich im Zusammenwirken mit den in Basalt gestalteten Bereichen des Campus, den zahlreichen Gebäudesockeln und Ebenen aus demselben Material und der Vulkanlandschaft, die die meisten Blickachsen abschließt. Die Untersuchung des Lavaeinsatzes und die Einbindung und Betonung des Vulkanpanoramas in O’Gormans Universitätsmosaiken hat dessen Interesse an ,Ursprungsnähe‘ und deren Vereinnahmung für das Kunstwerk gezeigt. Inhaltlich knüpfte O’Gorman damit zunächst an die geogenetischen Debatten vom Ende des 18. Jahrhunderts an, ähnlich Rivera im Anahuacalli-Museum und in den Stadionmosaiken, wie das folgende Kapitel zeigen wird. Die vor ihrer Erhärtung formbare Lava symbolisiert in O’Gormans Werk, der in den 1930er Jahren für die Revolutionsregierung arbeitete, insbesondere den Wunsch nach einem Neuanfang für eine gerechtere Gesellschaft. Sozialutopische Ansätze hatten in der frühen Wandmalereibewegung noch die staatliche Ideologie repräsentiert. Die Kritik an den polychromen Natursteinmosaiken von Universitätsseite und die unfreiwilligen Arbeitsunterbrechungen Siqueiros’ zeigten nun, dass Künstlerpositionen und Vorstellungen der öffentlichen Auftraggeber um 1950 stark voneinander divergierten. Während sich hierdurch die Arbeitsbedingungen für die Muralisten erschwerten, setzten sich aufgrund dessen auch neue Tendenzen in Mexiko durch.
69. Gabriel Fernández Ledesma: Los sabios sin estudio, weitere Angaben unbekannt
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Diego Riveras Wandbild Universitätswappen am Stadion
Auch Diego Rivera bearbeitete in dem Außenwandbild Universitätswappen (1952, Abb. 70)246 am Stadion der Universität das Spannungsfeld von Natur und Kultur. Das Olympiastadion, dessen Form der eines gekappten Vulkankegels ähnelt, liegt westlich der Schnellstraße Insurgentes, also gegenüber des Geisteswissenschaftlichen Campus. Für Vorbeifahrende ist es schwierig, das zentrale Motiv, einen Kondor und einen Adler, die ihre Flügel über drei Personen ausbreiten, in Riveras großformatigem, emblemhaftem Relief an der Ostseite zu erfassen. Besucher, die sich der Sportstätte über eine Abfahrt von der Schnellstraße und vom Campus durch Fußgängertunnels nähern, gelangen über eine breite Esplanade und abgetreppte Rampen zum Stadion. Erst aus der Nähe erschließt sich das Bildprogramm genauer. Obwohl zur Straße ausgerichtet, ist Riveras Wandrelief, im Unterschied zum ersten Eindruck der Wandbilder am Geisteswissenschaftlichen Campus, weniger für schnell vorbeifahrende Betrachter als für Stadionbesucher lesbar, die auf den Bau zugehen. Universitätswappen ist achsensymmetrisch konzipiert. Das Zentrum bildet ein Kind mit einer weißen Taube. Es wird von einem Mann mit europäischen Gesichtszügen, gelblichem Haar und blauen Augen und einer Frau mit indianischem Profil, dunklen Augen und Haaren gehalten, die vor einem Nopalkaktus mit roten Früchten stehen. Der Mann beugt sich unter den Schwingen eines Kondors, die Frau unter denen eines Adlers über das mestizische Kind. Dieses Motiv spielt auf das Universitätswappen an, in dem beide Tiere eine Landkarte Lateinamerikas halten und vom Universitätsmotto „Der Geist wird für meine Rasse sprechen“ gerahmt werden. Links und rechts davon entzünden ein Athlet und eine Athletin das olympische Feuer. Eine „Gefiederte Schlange“, auf deren Rücken sich Maiskolben befinden, schließt die Darstellung nach unten ab. Während die vertikalen Flächen des Stadions mit kaum behauenem, dunkelgrauem Basaltstein ummantelt sind, zeichnet sich der geschrägte Bereich, an dem Rivera das Wandbild anbrachte, durch geglättete Oberflächen aus. Durch die unterschiedlichen Texturen entstehen farbliche Kontraste. Die Hochreliefs selbst sind in vertikal gesetzten Steinen und Zementbinder gefasst. Das Wandbild ist in großen Teilen mit Mosaiken ausgelegt: die zentralen Figuren mit rot-bräunlichem tezontle-Tuff, ihre Augen mit 140
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schwarzem Stein. Andere Bildteile sind in weißer und roter Farbe gestrichen. Die Bildgröße, die eine Wahrnehmung aus großer Distanz ermöglicht, und der grob bearbeitete Lavastein und Zement befördern eine archaisierende und schematische Wirkung des Reliefs. Die wenig kontrastierenden Mosaikenfarben schränken dagegen die Fernwirkung ein.
Ein Stadion fürs „neue Vaterland“
Das Stadion für 80 000 bis 110 000 Zuschauer ist oval geformt und zeichnet sich durch eine unterschiedlich hohe Sockelzone mit weitläufig gekurvter Oberkante aus. Der Westabschluss ist so mehrere Meter höher als die Ostseite. Die Architekten Augusto Pérez Palacios, Raúl Salinas Moro und Jorge Bravo Jiménez lieferten den ersten Entwurf 1950. Im Laufe des Jahres wurde er stark überarbeitet. Insgesamt dauerte die Errichtung des 28 Millionen Pesos teuren Baus 18 Mo-
70. Diego Rivera: Escudo de la Universidad, 1952. Basaltlava, -tuff, Keramik, Zement, Farbe, 637,50 m2, Olympiastadion, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
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71. Augusto Pérez Palacios: Ohne Titel, ca. 1950. Tinte auf Papier, Maße unbekannt
nate und war bis zur Universitätseinweihung am 20. November 1952, samt der reduzierten Fassung von Riveras Wandbild, weitgehend abgeschlossen. 247 Das Olympiastadion war eines der größten Stadien seiner Zeit und ist bis heute ein emblematisches Gebäude der Universitätsstadt. Der mexikanische Kunsthistoriker Justino Fernández verglich es mit dem römischen Kolosseum. Er befand es für „modern“ und zugleich von „mexikanischem Charakter“248. Bereits Frank Lloyd Wright hatte 1954 in einem von Lazo bestellten Kommentar das Stadion als „right for Mexico“249 eingeordnet. Wright sah es in der Tradition und – durch seine gleichzeitige Modernität – auf der Höhe der Bauwerke der prähispanischen Kulturen. Dass das Stadion als regionalistisches Bauwerk rezipiert wurde, hing insbesondere mit dessen Vulkankegelform zusammen, die nicht von Beginn an geplant war. Frühe Pläne zeigen, dass Pérez Palacios und seine Kollegen das Stadion zunächst als schwebend wirkende, elliptische Betonkonstruktion planten (Abb. 71). Deren Tribünenauskragungen sollten allein über Stützen mit dem Boden verbunden werden. Dieser Entwurf wurde jedoch zu einer Konstruktion überarbeitet, deren Basis aus der Erde und dem Basaltschutt besteht, die beim Aushe142
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ben des Spielfeldes und der Laufpisten abgetragen und zu einem einfassenden Ring aufgeschüttet wurden. Die Konstruktion wird durch Betonkonstruktionen und -abschlüsse, gemeinsam mit dem außen angebrachten Lavabruch, stabilisiert. Pérez Palacios dokumentierte die Entwurfsänderung in der Begleitpublikation, die die Universität erst 1963 herausbrachte, als abgesprochene Optimierung, nachdem Bodenspezialisten die Aufschüttungstechnik für eine größere Stabilität empfohlen hatten. 250 Rivera dagegen führte die Überarbeitung, die er zugunsten einer Lösung im „toltekischen Stil“ begrüßte, auf knapp werdende Mittel zurück.251 Hierfür machte er die teuren Sprengungen zur Einebnung des Geländes und Ausgaben für luxuriöse Baumaterialien wie Travertin und Dielenhölzer verantwortlich, die die Ausgaben für das Universitätsprojekt bis zum Baubeginn des Stadions ungeplant hoch ansteigen ließen. Auch das Stadion selbst benötigte mehrere kostenintensive, acht bis 60 Meter lange Tunnels als Zugänge und Evakuationswege. Aus diesen Gründen befürwortete Rivera die Entwurfsänderung und forderte, statt zusätzlichem Stahl und Beton die vor Ort vorhandene Lava und Erde zu verwenden. Ziel war eine regionaltypische Wirkung des Gebäudes. Rivera hatte sich bereits in den 1920er Jahren mit Außenwandreliefs auseinandergesetzt, als er ein Außenwandbild für das Nationalstadion252 von Mexiko-Stadt projektierte. José Villagrán, der sich in dem von Bildungsminister Vasconcelos im Jahr 1924 ausgeschriebenen Wettbewerb durchsetzte, führte das Stadion in schwerem Mauerwerk
72. Anonym: Ohne Titel, vor 1963. Farbfotografie, Maße unbekannt
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mit Rundbögen im Art Déco-Stil aus. Vasconcelos beauftragte Rivera nicht nur mit dem Wandbild, sondern zog den Künstler, der die Architektur als „Mutter aller bildenden Künste“253 verstand, auch als Ratgeber heran. Als Rivera in die Architekturausführung eingreifen wollte, lehnte Villagrán die Weiterarbeit ab, weshalb der Stadionbau nach Vasconcelos’ Ablösung noch 1924 eingestellt wurde. 254 Auch wenn die Kompetenzzuweisung an Rivera, Entscheidungen über Eingriffe in öffentliche Bauten zu treffen, unter mexikanischen Architekten umstritten war, verlieh ihm der Vertrauensbeweis des Bildungsministers genügend Autorität, sich als einer der bedeutendsten Vertreter des Muralismo auch zu Architektur zu äußern. Als Rivera fast 30 Jahre später das Olympia-Stadion kommentierte, hatte dies Gewicht und maßgeblichen Einfluss auf dessen Rezeption. Sowohl Rivera als auch Pérez Palacios prägten diese über die Hervorhebung der Vulkankegelform des Stadions und archaisierende Beschreibungen der umgebenden Natur. Pérez Palacios überhöhte den Pedregal in der Begleitpublikation in einer Farbfotografie, die einen kleinen Ausschnitt dunkelbraunen Bodens mit den für das Lavafeld charakteristischen Flechten und leuchtend roten Blüten zeigt (Abb. 72). Die schroffe Kargheit und kontrastierende Farbigkeit der Landschaft hob der Architekt ferner in einem Gedicht hervor, das er seiner Analyse voranschickte: Lavameer, Pochen aus Stein. Ruhe des Himmels, unterbrochen von der kräftigen Muskulatur der Berge. Das Licht bricht sich in ihren steinernen Falten, gewalttätige Farbflecken mit ihren pirules. Trockenheit, Herrlichkeit, Drama. Das ist das Panorama. In einem ewigen Kreislauf: Energie, Materie, Geist; Feuerwellen, aus dem Xitle geschleudert, ergossen sich über das Anáhuac, zerstörten es ganz. Viele Jahrhunderte später, mit einem Impuls aus zentrifugaler Kraft und in Licht verwandelt, wird man Mexiko überfluten, um mit dem Wissen aus den Hörsälen der Universitätsstadt ein neues Vaterland zu errichten.255
Sowohl die vormalige Existenz früher Kulturen im Tal von Mexiko an dem Errichtungsort des Stadions als auch die Zerstörungskraft des Vulkans Xitle und die Analogisierung von Lava mit Wasser klingen hier an. Gemeinsam mit der Anspielung auf das „neue Vaterland“ 144
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verdeutlichen sie, dass die Universitätsstadt im Pedregal, gemäß ihren Erbauern und deren Auftraggebern, einen nationalen Neuanfang markieren sollte. Sowohl Fernández’ Vergleich mit dem römischen Kolosseum als auch Pérez Palacios’ Verweis auf Stadionbauweisen seit dem antiken Olympia,256 sprechen für Nobilitierungsinteressen über die zitierte griechisch-römische Tradition. Diese war seit der Errichtung eines nationalen Kanons im Unterricht der Akademie San Carlos, in der Umsetzung des Azteken-Palastes und selbst für die Bibliotheksmosaiken auf formaler, materialer und technischer Ebene eine wichtige Referenz für den nationalen Diskurs in der mexikanischen Kunst. Die Achse des Kunstprogramms auf dem Universitätscampus, das eine aufstrebende, traditionsbewusste Nation repräsentieren sollte, verlief demnach über die Schnellstraße hinaus von der PrometheusSkulptur bis zum Olympiastadion und seinen Mosaiken. Neben der Wahl des Errichtungsortes und des Materials, das schon die CuicuilcoKultur im Süden des Tals von Mexiko verwendet hatte, griffen Rivera und Pérez Palacios Charakteristika der Aztekenbauweise in Wandbild
73. Templo Mayor, Aztekisch, 1325-1521. Historisches Zentrum, Mexiko-Stadt
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und Architektur auf: Der Einsatz von Basalt war besonders am Templo Mayor, dem Haupttempel der Azteken, im historischen Zentrum von Mexiko-Stadt prominent (Abb. 73). An ihm wurden tezontle und Mörtel zum Binden und Ausfachen eingesetzt. Im Unterschied zu den aztekischen Architekten beließ Pérez Palacios das Stadion unverputzt. Auch Rivera machte an den Reliefs in weiten Teilen die steinerne, als ,aztekisch‘ interpretierte Oberflächenbeschaffenheit mit tezontle und Mörtel sichtbar. Über Ort, Material und Form schließen das Stadion und Universitätsemblem an Pérez Palacios’ Postulat der Errichtung eines „neuen Vaterlandes“ an, das auf Alemáns Fortschrittsrhetorik rekurriert. Mit charakteristischen Merkmalen der aztekischen Kunst und Architektur wird zugleich ein Anschluss an die so genannte „erste mexikanische Nation“, das Aztekenreich, suggeriert.
Adler und Nopal in Olympia
Auch auf ikonographischer Ebene wird am Stadionrelief Riveras Bezug auf die aztekische Kultur deutlich. Frühe Entwurfsskizzen zeigen, dass Universitätswappen unter dem Titel Die Universität, die mexikanische Familie, der Frieden und die Sportjugend als zweigliedriges Panoramabild zur europäischen Sporttradition und rituellen prähispanischen Spielen angelegt war. Das Werk sollte demnach um das gesamte Stadion reichen. In vorbereitenden Skizzen von 1952 (Abb. 74) zeigt der Hauptfries an der Ostseite Sprinter, Hochspringer, Basketball- und Footballspieler sowie Hürdenläufer europäischer und autochthoner Herkunft, die auf die Familie im Bildzentrum zustreben. Für die Westseite waren verschiedene autochthone Gruppen aus Tänzern, Vertretern des in Mesoamerika verbreiteten, rituellen Ballspiels und Musiker vorgesehen. Diese sollten mit unterschiedlichen Trachten verschiedene Volksgruppen repräsentieren. Für das Zentrum des Frieses an der Westhälfte plante Rivera die Darstellung einer zusammengerollten „Gefiederten Schlange“ (Abb. 75). Eine nackte Frau mit einem Kind auf dem Arm, das eine Friedenstaube zu greifen versucht, bietet hier Quetzalcóatl eine Schale an, ein in ein Jaguarfell gehüllter aztekischer Krieger eine Nopalfrucht. Ein schmalerer Fries an der Sockelzone sollte auf der prähispanisch charakterisierten Westseite Gefangennahmen und Opferszenen sowie 146
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74. Diego Rivera: La Universidad, la familia mexicana, la paz y las juventudes deportivas (Detail), 1952. Bleistift auf Papier, 42 x 62 cm, Sammlung Museo Universitario de Ciencias y Arte, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
75. Diego Rivera: La Universidad, la familia mexicana, la paz y las juventudes deportivas (Detail), 1952. Bleistift auf Papier, 42 x 62 cm, Sammlung Museo Universitario de Ciencias y Arte, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
76. Diego Rivera: La Universidad, la familia mexicana, la paz y las juventudes deportivas (Detail), 1952. Bleistift auf Papier, 46 x 62 cm, Sammlung Museo Universitario de Ciencias y Arte, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität 77. Teocalli de la Guerra Sagrada, Aztekisch, ca. 1507. Basalt, 123 x 92 x 100 cm, Museo Nacional de Antropología, Mexiko-Stadt
Pumas zeigen. Für die Schauseite im Osten plante Rivera auf Höhe der Sockelzone, links und rechts von zwei bedrohlich aufgebäumten Pumas, mehrere Menschengruppen: Links werden zwei prähispanische Adlige, die sich vor den olympischen Ringen die Hände reichen, von Gruppen aus Männern, Frauen, Kindern und Universitätsabgängern in Roben und mit Medaillen gerahmt (Abb. 76)257. Rechts, in dem einzigen Abschnitt, der, frühen Wandbildern Riveras ähnlich, klassenkämpferisch konnotiert gedacht war, sollte eine Gruppe aus bäuerlich gekleideten Frauen und Männern mit Kindern auf einen Plan der Universitätsstadt weisen (Abb. 74). Diesen halten zwei Arbeiter. Ein dritter Mann, der universitär und prähispanisch, mit einer Medaillenkette und in ein Priestergewand gekleidet ist, erklärt den Plan und verweist zugleich auf einen kleinformatigen Tempelschrein. Dieser zeigt, vor einer aus früheren Wandbildern Riveras bekannten Gruppe aus einem Bauern mit Patronengurt, einem Arbeiter und einem Militär, den Nationalmythos mit Adler und Schlange. Rivera griff für Die Universität, die mexikanische Familie, der Frieden und die Sportjugend auf aztekische Vorbilder und diesen zugeschriebene Charakteristika zurück. Einige von ihnen sind in der kleiner ausgeführten Arbeit erhalten geblieben. Der Nopalkaktus als mit der Aztekenkultur verbundenes Nationalsymbol befindet sich weiterhin 148
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in Universitätswappen. Er war sowohl an der Westseite als Gabe, die Quetzalcóatl dargereicht wird, als auch als Teil des nicht ausgeführten Tempelschreins vorgesehen. Der besagte Schrein ist ein aztekisches Tempelmodell des Heiligen Krieges (ca. 1507, Abb. 77), das sich im Nationalmuseum für Anthropologie von Mexiko-Stadt befindet. Das Basaltmodell, das 1926 bei Ausgrabungen am Nationalpalast im historischen Zentrum wiederentdeckt wurde, symbolisiert die Azteken-Hauptstadt Tenochtitlan und diente vermutlich Moctezuma II. als Thron. An der Architekturminiatur sind Reliefs der Kriegsgöttin Huitzilopochtli und Moctezumas II., die den ,Kalenderstein‘ in ihrer Mitte halten, angebracht. Auf der Rückseite befindet sich eine Darstellung der aztekischen Glyphe für den Heiligen Krieg (Abb. 78) aus Nopal, Adler und einer Banderole, die letzterer im Schnabel hält. Die hier wiedergegebenen Kaktusfrüchte sind Symbole der aztekischen Menschenopfer. Sie repräsentieren Herzen, die man den Göttern zum Fortbestehen der eigenen Kosmogonie darbrachte.258 Rivera hatte das Motiv des Kriegskultes bereits in der Zentralwand von Geschichte Mexikos im Nationalpalast dargestellt. Wie Barbara Braun gezeigt hat, gab Rivera Moctezuma II. hier als anonymen Priester neben der Architekturkopie wieder. Er hielt sich damit an
78. Teocalli de la Guerra Sagrada, Aztekisch, ca. 1507 (Rückseite). Basalt, 123 x 92 x 100 cm, Museo Nacional de Antropología, Mexiko-Stadt
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die Interpretation des mexikanischen Archäologen Alfonso Caso von 1927,259 der den Aztekenherrscher zu diesem Zeitpunkt noch nicht identifiziert hatte.260 In der Skizze für das Stadionwandbild stellte Rivera die entsprechende Figur mit einer ähnlichen Kopf bedeckung und weitem Gewand dar und griff damit erneut auf Caso zurück. Rivera scheint der Verweis auf Menschenopfer besonders wichtig gewesen zu sein, da er das entsprechende Adler-Nopal-Relief an der charakteristischen Vorderseite der Tempelminiatur zeichnete. Darüber hinaus plante er oberhalb der Kriegsglyphe, abweichend vom Original, drei unregelmäßige organische Formen, die Kaktusfrüchten und Menschenherzen gleichen. Die Darstellung der Familie aus einem Europäer, einer Autochthonen und einem mestizischen Kind vor Nopalkakteen erhöht, gemeinsam mit dem Darreichen einer Kaktusfrucht an Quetzalcóatl, das Gewicht der prähispanisch konnotierten Ikonographie. Die Tatsache, dass der toltekisch-aztekische Gott Quetzalcóatl von den Azteken in der Hoffnung auf ein besseres, friedliches Leben verehrt wurde, unterstreicht diese Aussage zusätzlich. Während das Kind auf der nicht ausgeführten, prähispanisch konnotierten Reliefseite nach einer Taube griff, hält das mestizische Kind an der realisierten Ostseite die Friedenstaube im Arm. Die Friedensikonographie findet sich auch in den Mosaiken des zeitgleich entstandenen Anahuacalli-Museums. Während Rivera Tauben dort isoliert darstellte, ergänzte er mit ihnen im zentralen Emblem des Stadionreliefs die symbolhaft verbildlichte Apologie des Mestizentums nach Vasconcelos. Hier verknüpfte er das pazifistische Symbol der Taube mit der seit der Revolution ideologisierten Vorstellung von einer friedlichen prähispanischen Welt. Vor diesem Hintergrund setzt sich die gesellschaftsutopische Aufladung Quetzalcóatls und anderer aztekischer Weiser, wenn auch verschoben, fort: Der unbekannte Priester in der Reliefskizze beruft sich ähnlich Marx, der in Mexiko heute und morgen (1935, Abb. 17) die Position des von Vasconcelos als Gründer und Pädagoge der prähispanischen Welt interpretierten Quetzalcóatl einnimmt, 261 auf sein ,Manifest‘. Hierfür sah Rivera einen Entwurfsplan von der mit großen sozialpolitischen Erwartungen verbundenen Universitätsstadt vor. Der konstruierende ,Prophet‘ verweist hier nicht auf eine geordnete, industrialisierte Zukunft, sondern, mit dem Tempelmodell des Heiligen Krieges, auf die aztekische Vergangenheit und den Pakt zwischen 150
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Bauern, Arbeitern und Militär. Den verheißenden Zukunftsausblick in Mexiko heute und morgen münzte Rivera in Universitätswappen um, indem er ikonographisch die Berücksichtigung der Revolutionsziele in der neuen Universität anmahnte. Offiziell blieb Die Universität, die mexikanische Familie, der Frieden und die Sportjugend aus finanziellen Gründen unvollendet. 262 Sehr wahrscheinlich ist aber, dass die Universitätsleitung auch aus politischen Gründen die Fertigstellung des Werks unterließ. Grund hierfür war, dass die Alemán-Regierung und ihre Nachfolger nur wenig an den klassenkämpferischen Tönen der Revolution interessiert waren. Teil der offenkundig indigenistischen Ikonographie Riveras ist eine fortgesetzte Apologie der Mestizen, die sich auch in den anderen Kunstwerken auf dem Universitätscampus abbildet. Rivera plante, Darstellungen von Sportlern mit nordeuropäischem und mestizischem Aussehen an der Ost- und Autochthone an der Westseite beim Wettkampf in unterschiedlichen Disziplinen anzubringen. Dabei legte er sein Augenmerk weniger auf eine Differenzierung der einzelnen Sportarten als auf die Unterschiede zwischen den europäischen und prähispanischen Kulturen: Für die autochthone Seite sah er statt Sportwettkämpfen Darstellungen von rituellen Ballspielen, Tänzern und Musikern in seiner prähispanischen ,Olympia‘-Interpretation vor. Auch die Sportwettkämpfe westlicher Prägung an der Ostseite repräsentieren in der Skizze kein klassisches Olympia. Neben Leichtathletik sah Rivera hier mit American Football und Basketball Darstellungen von Sportarten vor, die für den US-Sport, aber, zumindest in den 1950er Jahren, nicht für Olympiaden charakteristisch waren. In dieser Intention Riveras klingt Vasconcelos’ Definition des hispanoamerikanischen Mestizentums als „Kosmischer Rasse“ an. Auch die Opposition Enrique Rodós von einem Lateinamerika, dem dieser Kultur und Tradition, und einem Angloamerika, dem er Wirtschaftsund Wissenschaftsgeist zuschrieb, tritt hier auf den Plan. 263 Bauleiter Lazo stellte in den Jahren der Campuserrichtung dagegen unermüdlich die scharnierhafte Lage der Universität zwischen Nord- und Südamerika, an der den Kontinent von Alaska bis Feuerland durchlaufenden Panamericana, heraus. Diese verwandelt sich in Mexiko-Stadt in die Schnellstraße Insurgentes und korrespondierte in Lazos Argumentation aufgrund ihrer geographischen Lage mit Mexikos zentraler Stellung im hispanoamerikanischen Indigenismo.264 151
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Lava und Pumas im Pedregal
Ähnlich O’Gorman an der Universitätsbibliothek brachte Rivera am Stadion das mit Ursprünglichkeit assoziierte Material Lava in archaisierenden Formen an. Riveras indigenistische Archaisierungen werden besonders in frühen Skizzen deutlich, in denen er Figuren, ähnlich prähispanischen Codices und den Wandbildern von Bonampak, überwiegend im Profil darstellte. Nur wenige Akteure zeichnete er frontal oder in Drehung begriffen. Außerdem sah er keinen Hintergrund vor, so dass die Figuren, wie ihre prähispanischen Vorbilder, außerhalb aller räumlichen Bezüge stehen. Über die Pumadarstellungen, die in den Vorzeichnungen wie Tempelwächter wirken, wollte Rivera eine direkte ikonographische Verbindung zwischen Bild, Topographie und Universität erreichen. Die besondere Verbindung der Raubtiere mit der Universität besteht über ihre Funktion als Wappentiere und Maskottchen der universitären Fußballmannschaft (Abb. 79 und 80), deren Hausstadion Pérez Palacios’ Bau ist. Die 1940 im Rahmen einer Identitätskampagne der mexikanischen Alma Mater gegründete und 1954 in den Profifußball auf-
79. Pumas, Wappen der Fußballmannschaft der Universidad Nacional Autónoma de México, ca. 2000
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80. Goyo, Maskottchen der Fußballmannschaft der Universidad Nacional Autónoma de México, ca. 2000
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gestiegene Mannschaft nennt sich seit 1946 Pumas. Die Namensgebung bildet den zur Hochphase der Definitionsbestrebungen einer ,mexikanischen‘ Identität um 1950 virulenten, indigentistischen Rassendiskurs auf populärer Ebene ab. Der Pumas-Trainer Roberto Méndez rechtfertigte sie mit dem „agilen und taktischen Spiel“265 seines Teams, das er mit der Motorik von Raubkatzen verglich. Zugleich grenzte er die Pumas von „körperlich und technisch überlegenen“266 US-amerikanischen Mannschaften ab. Dass zu Spielen lebende Pumajunge als Maskottchen ins Stadion mitgebracht wurden, zeugt von der Bedeutung der umgebenden Natur für das Universitätsprojekt und sein Bildprogramm. Der Pedregal, in dem zur Zeit der Campuserrichtung noch Raubtiere lebten, wurde vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1940er Jahre hinein als mal país, ein bedrohliches, archaisches Arkadien, rezipiert und gefürchtet: Überall Bedrohungen, dass uns eine Schlange angreift oder sich eine Tarantel an uns heftet; und was am entferntesten ist, noch schlimmer: die Bergkatzen und Tiger und der Tod… Überall wandernde Legenden, Geschichten von Erschienenen und Seelen in Not, die ausziehen, um diese Gebiete zu durchlaufen, sobald es dunkel wird. […] Richtung Tizapán […] Gruppen von Kühen, Hammel- und Schaf herden ohne jemanden, der sie hütet, die still in diesem primitiven Frieden leiden. 267
Auch wenn man sich von den Bergkatzen am Spielfeldrand eine Übertragung deren animalischer Kraft auf die gleichnamige Mannschaft erhoffte, stehen sie, im Unterschied zur zitierten Beschreibung, für eine kalkulierbare, durch Menschenhand gebändigte Wildnis: Die am Halsband geführten Raubtierbabies reflektieren symbolhaft die Domestizierung des Pedregal durch den auf ihm errichteten Campus und die nahe gelegene Siedlung Los Jardines del Pedregal de San Ángel von Luis Barragán. Rivera allegorisierte im Stadionrelief die Ambivalenz von Wildheit und deren Bändigung, indem er ein Pumapaar gefährlich und ein anderes gezähmt wiedergab. Auch der Einsatz von Lava in den Mosaiken ruft das Verhältnis des Menschen zu den Naturkräften auf: Der Künstler kulturalisierte tezontle und Basaltlava, indem er beide Materialien in den zentralen Relieffiguren einsetzte. Die Kraterform der Architek153
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tur verweist dagegen auf die Silhouette ausgebrochener Vulkane und damit auf vom Menschen nicht zu beeinflussende Naturphänomene. Lava ist bei Rivera ähnlich wie bei O’Gorman mit zwei zueinander in Bezug stehenden Konnotationen verbunden: Zum einen ruft das basalthaltige Material sein Potenzial auf, verschiedene Aggregatzustände anzunehmen. Zum anderen führt es die zuvor beschriebenen, daran geknüpften Assoziationen mit Vulkaneruptionen und Evolutionsvorstellungen vor Augen. Diese brachte Rivera mit sozialpolitischen Umbrüchen und Entwicklungen in Verbindung. In der Zeit um die Entstehung der Universitätsmosaiken setzte Rivera sich mit beiden Phänomenen in verschiedenen Werken auseinander. Er errichtete die Arbeiten an Orten mit engem Bezug zur Bildikonographie und thematisierte in ihnen den ,Ursprung‘ von Leben und der Nation Mexiko. In dem eindrucksvollen, steinernen Anahuacalli-Museum nutzte Rivera die wogenartig aufgetürmte Lava des Pedregal für die Fassadenummantelung und Teile der Innenauskleidung. Der Museumsname, „Haus am Meer“, greift die mit Wasserbewegungen verglichene Form der Landschaft auf. Diese kann man noch heute, von der Dachterrasse des Anahuacalli in Richtung der südwestlich gelegenen Vulkankette blickend, nachvollziehen.
81. Juan O’Gorman: Tláloc, ca. 1950. Marmor, tecalli, Backsteinbruch, Maße unbekannt, AnahuacalliMuseum, Mexiko-Stadt
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Zu Riveras indigenistischem ,Ursprungsbezug‘ tragen ferner Form und Bestimmung des Anahuacalli bei. Barbara Braun interpretiert das wie ein Mausoleum wirkende Museum als gebautes Totenreich, das in der Vorstellung der Azteken eine zentrale Rolle einnahm: Rivera verstand das Gebäude als konkrete Verkörperung der Idee des Todes, den er in den 1920er Jahren als zentrale Metapher der mexikanischen Zivilisation ausgemacht hatte, und platzierte das Museum auch deshalb auf einem toten Lavafeld.268
Insbesondere durch seine Sammlungsschwerpunkte auf den prähispanischen Westkulturen und denen des Hochtals präsentierte der Künstler hier erneut das Prähispanische als Kern des ,Mexikanischen‘. Er verband die Todessymbolik mit Darstellungen von Tláloc (Abb. 81) als Verweis auf das Urelement ,Wasser‘ und die Ikonographie von Leben und Ursprung, die in der national orientierten Kunst in Mexiko um 1950 zentral war. Schon in frühen Wandbildern wie Schöpfung (1923) und Marina (1923-1924) spielte Wasser in Verbindung mit der Genese von Leben eine wichtige Rolle bei Rivera. Doch erst während eines längeren Aufenthaltes in den USA griff er ab 1933 die Ursprungs- und Evolutionsthematik kurzzeitig im Zusammenhang mit Referenzen auf moderne Technologien auf. Diese Tendenz manifestiert sich, neben Riveras US-amerikanischen Wandbildern, den Stadionmosaiken und dem Anahuacalli-Museum, im Wandbildprogramm der Lerma-Wasserwerke im Chapultepec-Park (1951) von Mexiko-Stadt. Die aus dem Werk sprechenden Fortschrittsambitionen durch Technisierung sind zugleich an ,Ursprungsvorstellungen‘ und ein ethnisches Bewusstsein gebunden.
Biologische und mythologische Ursprungsvorstellungen bei Diego Rivera
Rivera stattete das Haupt- und das Außenbecken des Wasserwerks von Lerma, das seit dem 14. Jahrhundert Quell- in Trinkwasser für Tenochtitlan und später Mexiko-Stadt auf bereitete, mit einem Fresko und Mosaiken aus.269 Das Fresko Das Wasser in der Evolution der Arten (1951, Abb. 82) stellt Wasser als Naturkraft und Grundelement der 155
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Evolution dar. An den Wänden des Tunnels, durch den einst Wasser in den Hauptschacht floss, sind mikroskopisch wiedergegebene Amöben und einfache Krustentiere in Wasserströmen gemalt. An den Beckenwänden entwickeln sich Mikroorganismen zu Pflanzen und Amphibien.270 An den gegenüberliegenden Seitenwänden stellte Rivera ein Menschenpaar dar. Die schwangere, mestizische Frau trägt links und rechts am Kopf zwei Scheiben (Abb. 83), die denen der Wasser- und Fruchtbarkeitsgöttin Chalchiuhtlicue (Abb. 84) und dem charakteristischen Symbol Tlálocs ähneln. Die Darstellung der Mikroorganismen rekurriert auf das Wandbild Tlálocs Paradies (300-600, Abb. 85) im Tepantitla-Palast von Teotihuacan. Es zeigt die Wassergottheit umgeben von Priestern und das Jenseits als Berglandschaft, in der Kleinstlebewesen hinabströmen. Rivera griff in seinem Werk auf die Interpretation Alfonso Casos von dem kurz vor Entstehung der Lerma-Arbeiten entdeckten Fresko zurück.271 In Das Wasser in der Evolution der Arten zeigt sich, dass der Künstler neben biologischen Erklärungen der Artenentwicklung auch an mythologischen Kosmogonien interessiert war. In seiner Arbeit
82. Diego Rivera: El Agua en la Evolución de la Especie, 1951. Polyester, flüssiger Kautschuk, 224 m2, Río Lerma-Wasserwerk, Chapultepec-Park, Mexiko-Stadt
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83. Diego Rivera: El Agua en la Evolución de la Especie, 1951 (Ausschnitt). Polyester, flüssiger Kautschuk, 224 m2 , Río Lerma-Wasserwerk, Chapultepec-Park, Mexiko-Stadt
84. Chalchiuhtlicue, Teotihuacan, 300-600. Basalt, Pigment, 32 x 20 x 15 cm, Museo Nacional de Antropología, Mexiko-Stadt
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85. El Paraíso de Tlaloc, Teotihuacan, ca. 500. Fresko, genaue Maße unbekannt, Museo Nacional de Antropología, Mexiko-Stadt (Reproduktion des Tepantitla-Palastes, Teotihuacan)
86. Diego Rivera. Tláloc, 1951. Natursteinmosaiken, Durchmesser: ca. 20 m, Río Lerma-Wasserwerk, Chapultepec-Park, Mexiko-Stadt
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II Öf fentliche Kunst und nationale Landschaf t 87. Quetzalcóatl, die „Gefiederte Schlange”. Faksimile des Codex Borbonicus, Prähispanisch, frühe Kolonialzeit. Farbe und Tinte auf Papier, 39 x 44,35 cm, Original: Bibliothèque de l’Assemblée Nationale, Paris
verbrämte er diese mit Ursprungs- und Todesvorstellungen. Es ging Rivera dabei offensichtlich weniger um Authentizität als um die Konstruktion eines eigenen Weltbildes aus vitalistischen Versatzstücken. Im Außenbeckenrelief der Lerma-Wasserwerke unterstrich Rivera die prähispanische Fruchtbarkeits- und Erneuerungsthematik mit einer Darstellung Tlálocs (1951, Abb. 86). Diese ist in großformatigen Natursteinmosaiken aus dunkelgrauem Basalt, tezontle, weißen und türkisen Steinen ausgestaltet. Die flache Form der liegenden Figur ist allein aus der Vogelperspektive ganz zu erfassen. Einzig der bunte Kopf, der durch hoch aufspritzende Fontänen die Aufmerksamkeit der Betrachter auf sich lenkt, ragt dreiviertelplastisch hervor. Die weite Schrittstellung der Figur – eine Haltung, die sich in den Stadionmosaiken wiederholt – ruft Quetzalcóatl-Darstellungen im Codex Borbonicus (Abb. 87) auf. Sie dienten Rivera in dieser Zeit häufig als Inspirationsquelle.272 Der grob und schematisiert ausgeführte Tláloc bezeugt zudem in Material und Bearbeitung Riveras Interesse an Qualitäten, die aztekischer Skulptur und Architektur zugeschrieben werden. Formales Vorbild für den Kopf ist ein prominentes mixtekischaztekisches Werk, die berühmte Tláloc- oder Quetzalcóatl-Maske (ca. 1400-1521, Abb. 88), im British Museum. Rivera übernahm in seiner Arbeit die zur Nase verschlungenen Schlangen und den mehrfarbigen, 159
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität 88. Tláloc- oder QuetzalcóatlMaske, Mixtekisch-Aztekisch, ca. 1400-1521. Türkis und Perlmutt auf Holz, 17,3 x 16,7 cm, British Museum, London
kleinteiligen Mosaikenbesatz. Der Tláloc am Wasserwerk verknüpfte über solche Verweise ikonographisch, materialiter und formal einen mit moderner Technik ausgestatteten Ort mit seiner prähispanischen Tradition.273 Das Wasser in der Evolution der Arten verstärkt diese Wirkung über die Verquickung von prähispanischen Vorbildern mit Rückgriffen auf die Evolution. Mit der Verbindung von ins Jenseits strömenden Kleinstlebewesen, nach den Vorstellungen der Teotihuacan-Kultur, und dem Fruchtbarkeit repräsentierenden Wasser wird hier die Ursprungs- und Erneuerungs- mit der Todesthematik der Teotihuacan-Kultur und der Azteken verbunden. Vor dieser Folie liest sich auch das AnahuacalliMuseum nicht allein als Verbildlichung des aztekischen Totenreichs, sondern als Postulat Riveras von einem ,Ursprung‘ Mexikos in der Aztekenkultur. An diesem knüpfte seine Gesellschaftsutopie an. Wie Braun herausstellt, geht dies mit Riveras Tendenz einher, in späten Wandbildern weniger Revolution und Klassenkampf als sukzessive soziale Entwicklungen zu thematisieren: Die Wandbilder preisen noch nationale Einheit und historische Identität, aber hauptsächlich als Agenten eines sozialen Meliorismus und nicht eines Revolutionismus, was der veränderten mexikanischen und weltweiten sozialpolitischen Landschaft entsprach. 274
Braun geht dagegen nicht darauf ein, dass dieser Effekt über die Bildinhalte hinaus durch den Einsatz von evolutions- und todesbezogenen 160
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Materialien entsteht. Auch die Werkanbringung an Orten, deren Topographie, kulturelle Tradition und Nutzung in unmittelbarem Bezug zu den Wandbildern und Reliefs stehen, bleibt hier unberücksichtigt.
Evolution und Revolution in der mexikanischen Vulkanikonographie
Für die Ikonographie des Stadionreliefs sah Rivera zunächst Darstellungen von Entwicklung über Bewegungsfolgen vor. In der frühen Skizze richten sich Menschen von Sprintern über Hochspringer und Basketballspieler bis zu Fackelträgern nach und nach auf. Im Zuge der Überarbeitungen fielen diese Evolutionskonnotationen jedoch weg. Stattdessen orientiert sich die gesellschaftsutopische Aussage des Stadionwandbildes stärker an der Gebäudeform und dessen Material. Rivera übertrug die Kraterform und das geologische Phänomen von Vulkaneruptionen und ihren Produkten auf die mexikanische Revolutionsbewegung und deren Veränderungspotenzial: Das Gebäude entspringt dem Boden mit derselben kraftvollen Logik wie die Vulkankrater, die den Horizont der Landschaft bilden, in der es sich befindet. Sein offensichtlich dominierendes Material ist der Basalt, der von dem Ausbruch des nächstgelegenen der Vulkankrater […] stammt. Und seine Gesamtform ist nur mit ihnen zu vergleichen. Es ist ein architektonisierter Krater, es ist der Krater des Ausbruchs, der die agrar-demokratische, bürgerliche Revolution Mexikos war. Es ist Das Denkmal des Volkes Mexikos an seine eigene heldenhafte, fortschrittliche Anstrengung. 275
Bereits an der Akademie war Rivera von seinem Lehrer José María Velasco für die Vulkanikonographie sensibilisiert worden. Der Landschaftsmaler hatte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das Tal von Mexiko in weiten Panoramen zur nationalen Topographie monumentalisiert.276 Auch Rivera studierte die Natur intensiv in seinem Frühwerk, das in der Pinsel- und Lichtführung und im pastosen Farbauftrag den Einfluss der mexikanischen Pleinairmalerei verrät. Rivera schätzte insbesondere den Spätimpressionisten Joaquín Clausell (1866-1935) als „einen der größten Landschaftsmaler“277 und „Dichter dieses Landes“278 mit einem „unglaublichen Naturgefühl“279. 161
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89. Diego Rivera: El Barranco de Mixcoac/Casa Mixcoac, 1906. Öl auf Leinwand, 71 x 106,8 cm, Eigentum des Bundesstaates Veracruz
Die Schlucht von Mixcoac/Haus von Mixcoac (1906, Abb. 89) von Rivera zeigt eine Landschaft, deren felsige Beschaffenheit Dreiviertel des Bildes einnimmt. Ähnlich der Überhöhung in Velascos studienhaftem Gemälde Felsen des Hügels von Atzacoalco (1873, Abb. 90) ist hier das Haus als Bildthema verschwindend klein wiedergegeben. Das Hauptaugenmerk des Malers liegt vielmehr auf der Darstellung der Landschaft mit ihren unterschiedlichen Felsformen und Vegetationen. Das im Titel benannte Bildsujet, eine kleine prähispanische Siedlung außerhalb von Mexiko-Stadt, verweist dagegen auf den Einfluss von Riveras älterem Kommilitonen und späteren Förderer Gerado Murillo („Dr. Atl“). Dieser trug maßgeblich zur Rezeption von Indigenismus und Naturwissenschaften in der mexikanischen Landschaftsmalerei des frühen 20. Jahrhunderts bei. Dr. Atl beeinflusste mit Landschaftsstudien von der Umgebung der Hauptstadt das Werk der späteren Muralisten Orozco, Rivera und Siqueiros in Form und Ikonographie.280 Als erster der mexikanischen Revolution verpflichteter Maler wurde er Rivera und Siqueiros auch als Persönlichkeit zum Vorbild. 162
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Dr. Atl, der als erster aktivistischer Künstler in Mexiko gilt, 281 pflegte ein Eremitenimage: Ähnlich einem alttestamentarischen Propheten zog er sich gelegentlich für Monate in die Höhen des Vulkans Popocatépetl zurück.282 Seinen Künstlernamen, der in Náhuatl „Wasser“ bedeutet, nahm Dr. Atl während seines zweiten EuropaAufenthaltes 1911 an. 283 Dort schloss sich der Maler der Pariser Gruppe L’Action d’Art an, die sich intensiv mit dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft auseinandersetzte. 284 Vor diesem Hintergrund avancierte Dr. Atl, der einen Aufstieg in die mexikanische Politelite anstrebte, zum Leitbild, auch für spätere Avantgarden in Lateinamerika, wie der Kunsthistoriker Cuauhtémoc Medina konstatiert: Die Sorge um die Modernität von L’Action d’Art gibt uns Aufschluss über die Weise, in der die lateinamerikanische Avantgarde – und besonders die mexikanische – regelmäßig die radikalsten sozialen, politischen und erfundenen Haltungen neben einer gewissen Neigung zu klassischen ästhetischen Formen entfaltete, die formal weniger gewagt waren als die europäischen Experimente. 285
90. José María Velasco: Peñascos del cerro de Atzacoalco, 1873. Öl auf Leinwand, 29 x 43 cm, Museo Nacional de Arte, Mexiko-Stadt
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Abgesehen von einer intensiven Auseinandersetzung mit Vulkanen in Werk und Forschung und ersten Wandbildbemühungen286 bestand Dr. Atls Bedeutung für die Revolutionskünstler auch in seiner Militanz. Seine Unterstützung des konservativen Revolutionsführers Venustiano Carranza und spätere Sympathien für den deutschen Nationalsozialismus kritisierten sie dagegen.287 Dr. Atls Rezeption als moderner Künstler tat dies dennoch keinen Abbruch: „Sein Erfolg war eine Imagefrage: Er verhalf der eher konservativen Bewegung Carranzas zu einer links gerichteten Fassade, während er gleichzeitig offenkundig populistisch handelte, um die unteren Gesellschaftsklassen zu verführen.“288 Dass diese Ambivalenz für viele Wandmaler nebensächlich war, zeigt Siqueiros’ Kommentar zur Bevölkerungsmobilisierung durch zahlreiche demagogische Reden und Aktionen von Dr. Atl: „Ihm schulden wir die erste direkte politische Militanz der Künstler Mexikos in den Revolutionsreihen [...], den Anfang vom Tod des apolitischen, parasitären Bohemien.“289 Die meisten Revolutionskünstler befanden so auch die von L’Action d’Art postulierte Distanzverringerung zwischen Künstlern und Gesellschaft für erstrebenswert. Eine Annäherung von Künstlern und politisch Einflussreichen wurde ebenso durch Dr. Atls Vorbild legiti-
91. Gerardo Murillo („Dr. Atl“): Paisaje del Pedregal, 1938. Lithographie, Maße unbekannt, Stiftung Barragán, Birsfelden
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miert und damit die Grundlage für den Muralismo unter Bildungsminister José Vasconcelos geschaffen.290 Der Künstler arbeitete der Wandmalereibewegung ferner zu, indem er noch unter Diktator Porfirio Díaz, vor der Revolution, den Auftrag einforderte, anlässlich der Hundertjahrfeiern zur Unabhängigkeit Mexikos 1910 mit einem Malerkollektiv die Wände des Anfíteatro Simón Bolívar in der Nationalen Vorbereitungsschule auszumalen.291 Die Revolutionsereignisse vereitelten die Ausführung. Als Rivera an derselben Stelle 13 Jahre später sein Werk Schöpfung anbrachte, schloss er mit dem gewählten öffentlichen Ort und dem Tenor des Bildthemas, das Dr. Atl der Evolution zu widmen gedachte, an dessen Vorstellungen von öffentlicher Kunst an. Seine ,Ursprungssuche‘ setzte Dr. Atl nach dem gescheiterten Wandbildprojekt in seinem malerischen Werk und in theoretischen Auseinandersetzungen fort. Im Pedregal vermutete er das sagenumwobene Atlantis, mit dem schon Vasconcelos die Entstehung der prähispanischen Zivilisationen erklärt hatte.292 Dr. Atl sah im Pedregal die Wurzeln der Kulturen von Teotihuacan, Tula und Papantla gelegen, deren gemeinsame Sprache Náhuatl war. 293 Teil der ,Ursprungssuche‘ Dr. Atls war dessen Interesse für Vulkane, die der Künstler seit seinen Italienaufenthalten Anfang des 20. Jahrhunderts ausgiebig studierte. Er brachte mexikanische Vulkane mit dem Etna und dem Stromboli in Süditalien, mit dem japanischen Fujijama und den vulkanischen Aktivitäten vor den Sonda-Inseln in zahlreichen Publikationen in Verbindung und fertigte Gemälde, Kreiden und Aquarelle vom Pedregal an.294 Steht in Velascos Versionen des Gemäldes Tal von Mexiko die Bergsilhouette mit ihren markanten Vulkanen im Mittelpunkt, monumentalisierte Dr. Atl vor allem die Lavaschichtungen im Pedregal (Abb. 91). Diese stellte er mit den wogend aufgetürmten Versteinerungen heraus, durch die Wege geschlagen worden waren. Sowohl Orozco als auch Rivera und Siqueiros inspirierten Dr. Atls Pedregal-Bilder. Rivera richtete mit dem Anahuacalli-Bau sein Augenmerk speziell auf Lavaschichtungen. Orozco untersuchte dagegen den dynamischen Fluss von Lava (Abb. 92). Dr. Atl thematisierte in Gemälden mit Wegen und Rivera mit realer Architektur die Ordnung der Pedregal-Wildnis. In Gemälden der Lavalandschaft von Orozco, Siqueiros und Frida Kahlo (1907-1954) sind hingegen keine zivilisatorischen Eingriffe sichtbar. Siqueiros lö165
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92. José Clemente Orozco: El Pedregal, 1946. Öl auf Leinwand, 48 x 65 cm, Museo Alvar y Carmen Carrillo Gil, Mexiko-Stadt
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93. David Alfaro Siqueiros: El Pedregal, 1946. Pyroxylin auf Pressholz, 98 x 112 cm, Museo Alvar y Carmen Carrillo Gil, Mexiko-Stadt
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94. Frida Kahlo: Raíces o El Pedregal, 1943. Öl auf Metall, 30 x 50 cm, Privatsammlung
ste Formkonturierungen der dunkelbraun gekrusteten und mit weißen Farbakzenten gemalten Pedregal-Lava weitgehend auf, während diese vor der glühenden Silhouette des Vulkans Ajusco südlich des Lavafeldes lokal verortbar bleibt (1946, Abb. 93). Auch in Siqueiros’ Bild ist die Assoziation von unkontrollierbar fließender Lava mit schäumendem Wasser als Ursprungsallegorie präsent. Frida Kahlo setzte die Lavalandschaft in zahlreichen Selbstporträts, wie Wurzeln oder Der Pedregal (1943, Abb. 94), ähnlich Rivera, als Allegorie für weibliche Fruchtbarkeit ein. Die beschriebenen Werke zeigen, dass Künstler in Mexiko von der Revolutionsmalerei bis in die 1950er Jahre auf wissenschaftliche Anleihen zurückgriffen. Sie setzten ebenso Material- und Bildikonographien ein, die auf den Natur bezogenen, aztekischen Kult referieren. Während man Wissenschaft mit technischem Fortschritt assoziierte, stand die Natur für das Unberechenbare und eine Leben erhaltende und verändernde Reproduktionsfähigkeit. Diese wurde mit den sozialpolitischen Erneuerungsbestrebungen der mexikanischen Revolution in Verbindung gebracht. Die Situation war vergleichbar mit der europäischen Ende des 18. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund der Revolutionsumbrüche waren in der Romantik Vulkane ins Zentrum des geowissenschaftlichen Interesses gerückt, das sich in den Künsten insbesondere in der Druck168
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grafik abbildete. Neptunisten um den Geognostiker Abraham Gottlob Werner in Freiberg im Erzgebirge und Plutonisten um den schottischen Geologen James Hutton stritten über die Erdentstehung. Erstere leiteten diese über Kristallisierungen im Urmeer und letztere über vulkanische Prozesse und ihre „,revolutionären‘ Erdverschiebungen“295 her.296 Insbesondere im französisch- und englischsprachigen Raum wurde die vulkanische Explosionskraft analog zu den durch die Revolution eingeleiteten sozialpolitischen Veränderungen interpretiert. Sie galt ebenso als Ausdruck der Historizität von Natur.297 Speziell der Vesuv war um 1800, an Italien-Reisende gerichtet, ein beliebtes Motiv für Ölbilder und leicht transportierbare Lithographien, Kupferstiche und Gouachen. Das besondere Interesse für den süditalienischen Vulkan ging auf dessen zeitgenössische wissenschaftliche Untersuchung zurück. William Hamilton, von 1764 bis 1799 britischer Gesandter am neapolitanischen Hof, studierte den Vesuv über mehrere Jahrzehnte. Als korrespondierendes Mitglied der Londoner Royal Society veröffentlichte er seine Ergebnisse unter anderem in dem Tafelwerk Campi Phlegraei. Observations on the Volcanoes of the Two Sicilies (1776/1779). Mit seiner Publikation beabsichtigte Hamilton „eine bessere Theorie der Erde“298 zu schaffen und beteiligte sich aktiv am Neptunismus- und Plutonismusstreit. Zentraler Bestandteil von Campi Phlegraei sind die kolorierten Kupferstiche Pietro Fabris’, die Abläufe der Eruptionen von 1767 und 1779 idealisiert zeigen und Naturdarstellungen mit romantischen Vorstellungen vom Erhabenen verbinden (Abb. 95)299. Rauchsäulen, explosionsartige Eruptionen und das breite Fließen glühender Lava zeichnete Fabris meist in Verbindung mit einzelnen Naturbeobachtern und Natur- und Architekturrahmungen im Bildvordergrund (Abb. 96). Solche Darstellungen und jene zeitgenössischer Maler wie Joseph Wright of Derby (1734-1797, Abb. 97) und William Turner rücken, über die Auseinandersetzung mit erdgenetischen Prozessen hinaus, das Naturgefühl der Romantik in den Blickpunkt. Sie zeigen, dass auch in der Kunst Fragen nach der neu zu definierenden Beziehung des Menschen zur Natur angesichts der frühen Industrialisierung in den britischen Regionen Coalbrookdale, Derbyshire und Schottland verhandelt wurden. Die Darstellungen der Gestaltungskräfte der Natur verweisen ferner metaphorisch auf die gesellschaftlichen Umbrüche in Europa, die durch die Napoleonischen Kriege (1803-1814) und bürgerlichen Revolutionen ausgelöst wurden.300 Hamilton selbst betonte, 169
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95. Pietro Fabris: Frontispiz zu William Hamilton: Supplement to the Campi Phlegraei being an account of the Great Eruption of Mount Vesuvius in the month of August 1779. Communicated to the Royal Society, Neapel 1779. Gouache, Aquarell, 39 x 21,5 cm, Copy 1, British Library, London
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II Öf fentliche Kunst und nationale Landschaf t 96. Pietro Fabris: Ausbruch des Vesuv am Abend des 8. August 1779, 1779. Gouache, Aquarell, 39 x 21,5 cm, Hamilton: Campi Phlegraei, Tafel 2, copy 1, British Library, London
97. Joseph Wright of Derby: An Eruption of Vesuvius, seen from Portici, 1774-1776. Öl auf Leinwand, 101,6 x 127 cm, Tate Gallery, London
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in Bezug auf die genannten Theorien zur Erdgenese, dass „die Vulkane mehr erschaffend als zerstörend betrachtet werden müssen.“301 Analog zum europäischen Hintergrund 150 Jahre zuvor interessierten sich mexikanische Künstler wie Dr. Atl, Orozco und Rivera für die sozialpolitischen Konnotationen der Erdgenese, nachdem bereits José María Velasco Vulkanforschungen betrieben hatte. Im Werk der Revolutionskünstler führte dieses Interesse in den 1950er Jahren zu unterschiedlichen Ergebnissen: In Arbeiten wie dem Bildprogramm von Lerma nutzte Rivera die Konnotationen von Natur und Wissenschaft, um von einem traditionsbewussten, nationalen Fortschritt durch Technik und Vitalismus zu erzählen. Ähnlich Kahlos Ikonographie und O’Gormans Mosaiken nach 1950 steht das Natur und Kultur bezogene Konzept des Anahuacalli-Museum hingegen für eine unterschwellige Industriekritik. Natur wurde in den späten Werkphasen der Revolutionskünstler derweil nicht allein als archaisch bewertet: Die Rezeption aztekischer Fruchtbarkeitsgottheiten in der mexikanischen Kunst um 1950 führte auch zu einer Beanspruchung der griechisch-römischen Tradition, die seit Ende des 19. Jahrhunderts als Äquivalent der prähispanischen Kulturen, insbesondere der aztekischen, im Diskurs zur nationalen Identität herangezogen worden war. Ähnlich römischen Demokratierepräsentationen, die über bacchische und dionysische Riten auf den ägyptischen Fruchtbarkeitskult um Osiris zurückgehen,302 setzte Rivera die Ikonographie der aztekischen Fruchtbarkeitsgöttinnen Coatlicue und Tlazoteótl symbolhaft ein, um die politische Utopie der mexikanischen Revolution zu thematisieren. Dass diese Symbolik in den 1940er Jahren, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Revolution offiziell längst beendet war, erneut an Bedeutung gewann, hing nicht zuletzt mit den vulkanischen Eruptionen zusammen, aus denen 1943 im Bundesstaat Michoacán der Vulkan Paricutín entstand.303 Als der Paricutín im Februar 1943 erstmals ausbrach, führte dies zu einer wahren Euphorie unter Künstlern, Forschern und Intellektuellen, die Nährstoff für ,Ursprungtheorien‘ und soziale Utopien witterten (Abb. 98). Unter denen, die zum Vulkan zogen und vor Ort Studien betrieben, zählte erneut Dr. Atl. Dessen über 300 Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen zu dem Sujet prägten die Paricutín-Ikonographie, die sich durch die Dynamik der Rauchwolken und die Betonung der Kargheit der mit Lava überflossenen Umgebung auszeichnet. Auch Dr. Atls letzte große Studie, Có172
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mo nace y crece un volcán: El Paricutín (1950),304 deren Veröffentlichung Präsident Alemán förderte, widmet sich ausführlich der Entstehung des Vulkans. Sie lässt auf eine Analogisierung des Naturereignisses mit der zeitgenössischen politischen Situation schließen. Dr. Atl fertigte eine Chronik der Vulkanentstehung zwischen Mai und Dezember 1943 an. Dieser fügte der Künstler spätere Beobachtungen hinzu, die er während mehrerer Aufenthalte am Paricutín realisierte. Der zweite Teil beinhaltet Thesen zu den Gründen des Ausbruchs und eine Analyse der Eruptionsformen im Vergleich zu denen des italienischen Stromboli. Dem Text stellte Dr. Atl seine zeichnerischen Studien und Gemälde sowie Aufnahmen der US-amerikanischen Fotografin Mary Saint Albans gegenüber. In der Fortführung seiner Forschungen über Vulkaneruptionen und naturgeschichtliche Prozesse präsentierte Dr. Atl die Paricutín-Entstehung als einen Evolutionsprozess, an den die Entstehung von neuem Leben gebunden ist. Aufgrund der langen Ausbruchsdauer stellte er das Naturereignis auch als Geburt einer bis dahin ungekannten vulkanischen Kraft dar.305 Die gesellschaftlichen Umbrüche in Mexiko werden hier, im Bild der Vulkaneruption, zu einer einzigartigen und besonders tief grei-
98. Diego Rivera: Volcán en erupción (aus dem Album: El Paricutín), 1943. Aquarell auf Papier, 44 x 31 cm, Museo Casa Diego Rivera, Guanajuato
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fenden Revolution stilisiert. Dies erklärt die als dringlich empfundene, intensive Auseinandersetzung der mexikanischen Künstler mit dem Thema noch 40 Jahre nach dem Einsetzen der mexikanischen Revolution. Indem Rivera Lava als ‚ursprünglich‘ konnotiertes, vulkanisches Material und zugleich als Allegorie von Wasser verwendete, stellte er sein Interesse an einer mystifizierenden Schöpfungsrhetorik unter Beweis. Im Unterschied zu zahlreichen Kunstwerken um 1800, die auf die geowissenschaftlichen Debatten bezogen waren, verfolgte er weniger die Absicht, mit visuellen Mitteln auf naturwissenschaftliche Grundsätze einzugehen. In Universitätswappen und den AnahuacalliMosaiken nutzte Rivera den alten Streit vielmehr, um den Betrachtern das zum Goldenen Zeitalter verklärte Aztekenreich und die jüngere Revolutionsgeschichte nicht mehr allein ikonographisch, sondern auch materialiter vor Augen zu führen.306 Geologische Aspekte legte Rivera dabei nicht nur als klassenkämpferische, sondern auch als soziale Argumente aus. So erklärte er den Einsatz lokaler Materialien für „realitätsnah“ und auf die Gesellschaft bezogen, aus der sie stammen.307 Riveras Umgang mit basalthaltigem Gestein und dessen Ausdrucksmöglichkeiten spricht, in Anlehnung an die Rezeption aztekischer Skulptur seit dem späten 19. Jahrhundert, davon, dass diese weiterhin als Repräsentanten für die mexikanische Kultur verstanden wurden.
Industriekritik bei Diego Rivera
Mit der Revolutionsapologie über das Material Lava und dessen Bezug auf die Vulkanlandschaft ging bei Rivera, wie zuvor erwähnt, eine tief greifende Industriekritik einher. In frühen Wandbildern, wie denen im Bildungsministerium, thematisierte der Künstler neben Bauern-, Arbeiter-, Militär- und Vulkandarstellungen die herbeigesehnte technische Entwicklung Mexikos.308 In den US-amerikanischen Wandbildern der 1930er Jahre ersetzte er kämpfende Arbeiter und Bauern durch Akteure, die Technologie kontrollieren. Insbesondere im Fresko Detroit Industry (1932-1933, Abb. 99), einer Hommage an die Organisation und Produktionskraft der modernen Ford-Werke im Institute of Arts der Autostadt Detroit, feierte Rivera, der zwischen 1930 und 1934 in den USA arbeitete, die industrielle Ent174
II Öf fentliche Kunst und nationale Landschaf t
wicklung und den technischen Fortschritt.309 Hier wie auch im späteren Wandbild Pan-American Unity im City College von San Francisco (1940, Abb. 100) nutzte der Künstler die internationale Bühne, um den mexikanischen Indigenismo mit Industrieapologien zu verbinden. Maschinen, deren Formen dem Bildnis der aztekischen Fruchtbarkeitsgöttin Coatlicue (Abb. 101) im Anthropologischen Museum von Mexiko-Stadt gleichen, sind anthropomorph dargestellt 310 und verweisen gemeinsam mit Repräsentationen von Asiaten, Afrikanern, Europäern und Indianern auf die fünfte, „Kosmische Rasse.“ Ab den frühen 1940er Jahren kehrte sich Rivera jedoch, in Werken wie dem Anahuacalli, von seiner vormaligen Technikaffinität zunehmend ab. Er thematisierte nun vornehmlich soziale Entwicklungen im Sinne der Revolutionsideologie. Dabei diente ihm die Evolutionsikonographie als verbildlichte naturwissenschaftliche Entsprechung seiner Interpretation der sozialen Dimension. Auf dem späten Revolutionsdiskurs basierend, entsprang Riveras Abkehr von der Technologie auch seiner Abwehr von internationalen Einflüssen. Diese waren seit der Öffnung des Landes für europäische Exilanten seit den späten 1930er Jahren zunehmend präsent. Nach
99. David Alfaro Siqueiros: Retrato de la Burguesía, 1939-1940. Pyroxylin auf Zement, Maße unbekannt, Sindicato Mexicano de Electricistas, Mexiko-Stadt
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
100. Diego Rivera: Pan-American Unity, 1940. Fresko, 6,74 x 22,5 m, City College of San Francisco, San Francisco
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II Öf fentliche Kunst und nationale Landschaf t
101. Coatlicue, Aztekisch, ca. 1335-1521. Basalt, 350 x 130 x 130 cm, Museo Nacional de Antropología, Mexiko-Stadt
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Mexiko emigrierte Europäer wie die surrealistischen Maler Wolfgang Paalen, Leonora Carrington und Remedios Varo, der Künstler und Kunsthistoriker Mathias Goeritz und die Kritikerin Margarita Nelken prägten die dortige Kunst in steigendem Maße. Auch Rivera setzte sich mit ausländischen Standpunkten auseinander, als er mit André Breton, der das Land 1939 besuchte, und dem in Mexiko exilierten Leo Trotzki das Manifest Towards a Free Revolutionary Art aufsetzte.311 Gemeinsam mit Siqueiros, O’Gorman und anderen Revolutionskünstlern wandte sich Rivera jedoch explizit gegen Kollegen aus dem Ausland, die dem Paradigma des Realismus nicht folgten. In einigen Fällen gipfelte dies in Vorwürfen gegen Künstler und Kritiker, in Mexiko für US-amerikanische Institutionen zu spionieren.312 Diese Situation war nicht zuletzt auf das veränderte Verhältnis von Kunst und Politik in Mexiko zurückzuführen. Stimmten die Auffassungen der Wandmaler in den 1920er Jahre weitgehend mit der offiziellen Politik und insbesondere der Ideologie Vasconcelos’ überein, so divergierten die Interessen Riveras und Siqueiros’ vor dem Hintergrund des aufkommenden Kalten Krieges nicht nur untereinander. Auch von der wirtschaftsorientierten Öffnungspolitik unter Präsident Alemán und seinen Nachfolgern distanzierten sie sich in Werk und Kommentaren deutlich. Für Rivera und Siqueiros repräsentierte der Wirtschaftsliberalismus in Mexiko zunehmend den Ausverkauf des Landes an ausländische Investoren, wie die Künstler in der Gründungsurkunde der Mexikanischen Maler-, Muralisten- und Bildhauerunion zur Beteiligung an der Ausgestaltung des Universitätscampus 1951 betonten.313 Riveras Kritik an der Sprengung großer Teile des Pedregal zugunsten der Universitätserrichtung, die er als Zerstörung der „Vaterlandsphysiognomie“ auffasste,314 zeigt insofern Parallelen zur europäischen Industriekritik im 19. Jahrhundert. Wie die Identität des Vaterlandes galt es auch, die als nationaltypisch verstandene Landschaft zu schützen.
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III Abstrakte Skulptur im öffentlichen Raum der Peripherie
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Ab den 1950er Jahren wurde der Realismus als maßgebliches Paradigma der Kunst im öffentlichen Raum in Mexiko zunehmend abgelöst. Mit der Öffnung gegenüber ausländischen Künstlern und Strömungen setzten sich abstrakte und neue figurative Tendenzen durch. Im Folgenden werden signifikante öffentliche Arbeiten und deren räumliche Zusammenhänge besprochen, die den Umbruch in der mexikanischen Kunst im wirtschaftsliberalen Kontext beförderten. Relevant hierfür war die Rezeption von Regionalismus und Abstraktion in Mexiko und in den USA in den 1950er Jahren, die neben schriftlichen Zeugnissen auch über Fotografie erfolgte. Während die meisten hier untersuchten Arbeiten einen starken öffentlichen Charakter haben, zeigt das erste Beispiel, wie öffentliche Kunst und Architektur in Verbindung mit ,nationaler‘ Landschaft und deren Materialien Situationen sozialer Exklusion erzeugten. Zentral sind die Ikonographie der Pedregal-Landschaft sowie die Wirkungsmacht des europäischen ,Primitivismus’ und des Abstraktionsdiskurses vom Beginn des 20. Jahrhunderts auch in der mexikanischen Situation um 1950. Ferner sind für die Analyse der Arbeiten Betrachter- und Raumfragen von Bedeutung. Hierfür werden die unterschiedliche Ausgestaltung und Bezugnahme von Kunst und Architektur auf die neue Peripherie von Mexiko-Stadt untersucht. In allen Werkzusammenhängen werden materialikonographische Aspekte berücksichtigt, die insbesondere beim Einsatz von Lava und Beton relevant sind. Ebenso wird das Verhältnis zwischen als ,international‘ rezipierten Tendenzen und nationalen Selbstbehauptungen anhand der Materialverwendung sowie von Raum- und Landschaftsbezügen untersucht. Wie in den vorangegangenen Kapiteln geht es auch bei der Untersuchung der öffentlichen Skulptur der 1950er bis 1970er Jahre darum, Überlieferungen von nationaler Identität und deren Aktualisierungen zu analysieren. 181
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Luis Barragáns Wohnsiedlung Los Jardines del Pedregal de San Ángel in Mexiko-Stadt und Mathias Goeritz’ Plastik Das Tier vom Pedregal
Als der US-amerikanische Kritiker Clive Bamford Smith 1967 die Anthologie Builders in the Sun. Five Mexican architects 315 zur zeitgenössischen mexikanischen Architektur in New York veröffentlichte, präsentierte er darin fünf sehr unterschiedliche Positionen: Mario Pani, den Chefplaner des Universitätscampus, der für einen strengen Rationalismus stand; den spanischen Architekten Félix Candela, der im mexikanischen Exil lebte und mit dem Pavillon für Kosmische Strahlen in der Universitätsstadt und Gebäuden wie dem Sportpalast eine organische Betonbauweise vertrat; Juan O’Gormans Frühwerk und Arbeiten der 1940er Jahre, die den Wechsel vom Rationalismus zur Organik in der Architektur Mexikos stellvertretend repräsentieren. Mit Luis Barragáns Werk zeigt Smiths Publikation die wichtigste regionalistische Position im Mexiko der 1940er Jahre. Barragán arbeitete mit geometrisierenden Architekturformen im ,Internationalen Stil‘, die er in lokaltypischen Farben streichen ließ und in die Topographie des Entstehungsortes integrierte. Anhand des Werks Mathias Goeritz’, den er als Künstler und Architekten mit Skulpturen und dem Experimentalmuseum El Eco (1952-1953) präsentierte, machte Smith eine Entwicklung von expressionistischen Tendenzen zu minimalistischen Formen in der mexikanischen Kunst fest. Einen Rahmen erhielt die heterogene Anthologie durch das Vorwort José Villagráns, der als wichtigster mexikanischer Architekturtheoretiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Lehrer O’Gormans und wichtige planerische Referenz für Pani eine Autorität auf dem Gebiet darstellte. Das vielleicht aufschlussreichste Kapitel verhandelt Luis Barragáns Werk.316 Im Unterschied zu den Abschnitten über O’Gorman, Candela und Pani zeigte Smith vornehmlich Teilansichten von Barragáns Häusern, deren Gärten und Innenräumen (Abb. 102). Er zog keinen einzigen Plan oder Grundriss heran, die die Gebäudenutzung erklären könnten. Stattdessen analysierte er Barragáns Architektur mit Hilfe von Fotografien, die dieser bei dem mexikanischen Landschaftsfotografen Armando Salas Portugal (1916-1995) in Auftrag gegeben hatte.317 Die Aufnahmen erzeugen durch Untersicht aus hinter Bäumen und Sträuchern liegenden Perspektiven eine Monumentalisierung der Landschaft und der modernen Villen, auf deren Bau Barragán spezia182
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
lisiert war. Dies wird insbesondere an Salas Portugals’ Fotografien zur Bewerbung von Barragáns ambitioniertestem Projekt, der Siedlung Los Jardines del Pedregal de San Ángel (1945-1960, Abb. 103) südlich von Mexiko-Stadt, deutlich. Bereits 1944, noch vor den konkreten Siedlungsplanungen, erwarb Barragán, der sich seit längerem für den Pedregal als Bauland interessierte, eine Fotoserie Salas Portugals von der Lavalandschaft.318 In den später in Auftrag gegebenen fotografischen Kompositionen reduzierte Salas Portugal die Architektur annähernd auf eine Referenz für die von ihm inszenierte Landschaft. Ecken, Außenmauern und Schatten der Villen in Bauformen des ,Internationalen Stils‘ strukturieren darin das karge Lavafeld, auf dem Barragán, der von ihm eingestellte deutsche Architekt Max Cetto (1903-1980)319 und später andere Architekten die Siedlung errichteten. Salas Portugals fotografischer Blick auf das Projekt lieferte die wichtigsten Kriterien, unter denen Barragáns Werk bis heute rezipiert wird.320
102. Luis Barragán: Casa Luis Barragán, 1947-1948 (Dachterrasse). Calle Ramírez 14, Tacubaya, Mexiko-Stadt
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität 103. Luis Barragán und Max Cetto: Los Jardines del Pedregal de San Ángel, 1945-1960. San Ángel, Mexiko-Stadt
In der Fotografie (Abb. 104), mit der besonders intensiv für die Siedlung geworben wurde,321 stehen hoch aufgetürmte Lavabrocken mit blühenden Sukkulentenbüschen im Vordergrund. Treppenstufen führen zu einem kleinen Platz in der Bildmitte und zu rechtwinklig abschließenden Grundstücksmauern aus Lavabruch. Im Hintergrund setzt sich die Lavalandschaft – scheinbar unberührt – fort. Den Horizont begrenzt eine Bergkette, vor der Dampf aufsteigt. In den Fotografien von der Plaza de las Fuentes (Abb. 105) am Siedlungszugang im Norden stehen dagegen Steinbecken im Vordergrund, in denen Wasser kaskadenartig fällt und in Fontänen aufspritzt. Außerdem realisierte Salas Portugal Architekturaufnahmen von den Grundstücksgärten aus und exponierte auf diese Weise die versteinerte Lava und ihre eigentümliche Flora (Abb. 106). Die in Auftrag gegebenen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die Barragán gegenüber Salas Portugals Farbfotografien vom Pedregal zur Veröffentlichung bevorzugte,322 unterstreichen das Energiepotenzial der abgebildeten Natur und die Intention, diese im Bild zu archaisieren. Dieser Effekt spiegelt sich in Smiths Beschreibungen und O’Gormans 184
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie 104. Los Jardines del Pedregal, SA: Jardines del Pedregal de Sn. Ángel – El lugar ideal para vivir, ca. 1948. Zeitungsanzeige, basierend auf einer Fotografie von Armando Salas Portugal
und Riveras emblematisierenden Universitätskunstwerken. Zugleich hob Salas Portugals Aufnahmeweise – auf Barragáns Wunsch – die Linien der geometrischen Flächen und Architekturvolumina hervor, um ,abstrakte‘ Bilder mit urzeitlich wirkenden Landschaftsstimmungen und Kontrasten zu den gradlinig gebauten Villen zu schaffen.323 In den Fotografien wurden letztere durch die isolierte Darstellung zusätzlich zu exklusiven Einzelobjekten erhöht. Smith interessierte die Spannung zwischen den puristischen Formen der Architektur und der kargen Landschaft. In der Tradition der Pedregal-Rezeption des frühen 20. Jahrhunderts bezeichnete er das Lavafeld als „Ödland“ und „dramatische Natur der Wildnis, die zum Blühen gebracht wurde.“324 Das „Blühen der Wildnis“ wird in Barragáns Siedlung allerdings weniger durch den Einsatz einer belassenen Natur, sondern vielmehr über deren Ordnung und Gegenüberstellung mit Architektur erreicht. Auch die Meeresassoziation des Pedregal in der mexikanischen Literatur um 1900, in Riveras und O’Gormans Werk findet sich bei Smith wieder: Er verstand das Lavafeld als „gefrorenes Meer aus Vulkanstein“ 185
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
und betonte, dass schon die prähispanische Bevölkerung den Ort frequentiert hatte.325 Vergleichbar den Entwerfern der benachbarten öffentlichen Universitätsstadt und den Künstlern, die Werke für deren öffentlichen Raum schufen, nobilitierte Smith den Pedregal mit Verweisen auf das hohe Alter des Lavafeldes. Er definierte es als ursprünglichen Ort und Wiege der ältesten Kultur im Hochtal von Mexiko. Während Smith Implikationen des Pedregal als nationale Landschaft bestärkte, betonten frühe Kritiker vor allem die Dramatik der ,Wildnis‘ als herausragendes Charakteristikum der Siedlung.326 Cetto und Barragán ordneten die Natur, als abgrenzenden und legitimierenden Kompositionsbestandteil, hingegen mit der Architektur der Wenigen zugänglichen, exklusiven Siedlung zu einer Gesamtinszenierung. Cetto beschrieb den Entstehungsprozess folgendermaßen: [W]ir versuchten, den Garten so natürlich wie möglich zu belassen, indem wir die Felsformationen so erhielten, wie wir sie vorgefunden hatten, die Stufen derart anglichen, dass sie in die Konturen passten, und ein bereits bestehendes Loch für den kleinen Pool auf der Rückseite nutzten. […] Wir suchten also nach Möglichkeiten, Vorteile aus einer solch schwierigen Topographie zu ziehen in der Hoffnung, dass […] wir einen summenden und keinen schreienden Ausdruck der Harmonie zwischen den verschiedenen Elementen erreichen könnten.327
Die Medialisierung der ,Wildnis‘ in den Fotografien Salas Portugals verdeutlicht die Ambivalenz von Cettos und Barragáns Konzept einer Ästhetisierung und Aneignung der ungebändigt wirkenden Natur. Dieses stellte, statt der von Cetto einberaumten Harmonie, vielmehr Kontraste zwischen Natur und Architektur heraus. Entstanden war eine in Wirklichkeit ungefährlich gemachte ,Wildnis‘, deren potenzielle Gefahren durch Raubtiere und Kriminelle, die sich nach populärer Vorstellung in dem unerschlossenen Lavafeld versteckten,328 mit Siedlungsmauern ausgeschlossen wurden. Stattdessen integrierten Cetto und Barragán visuelle Reize wie Farbakzente setzende Pflanzen und verschlungene Pfade in das ästhetische Konzept. Mit der intendierten Ausgrenzung alles negativ Assoziierten, wie den Unbillen des Großstadtlebens und natürlichen Gefahren, sorgten die Architekten für zusätzliche Exklusivität, die sich neben der Haus- und Gartengestaltung auch in der angebrachten Kunst fortschrieb. 186
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
105. Luis Barragán und Max Cetto: Plaza de las Fuentes, 1945-1960. Los Jardines del Pedregal de San Ángel, San Ángel, Mexiko-Stadt
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
106. Luis Barragán und Max Cetto: Casa Fuentes 12, 1949 (Rückansicht). Los Jardines del Pedregal de San Ángel, San Ángel, Mexiko-Stadt
„,Everyday life is becoming much too public‘“329
Barragán war ein dezidierter Kritiker des modernen öffentlichen Lebens. Vor allem an der Abnahme von Rückzugsmöglichkeiten aus dem öffentlichen Raum nahm er Anstoß.330 Mit seiner Architektur strebte Barragán Lösungen für das von ihm formulierte Problem an, der öffentliche Raum verhindere jegliche Meditation. Sein erklärtes Ziel war es, kontemplative Wohnsituationen in moderner Formensprache zu schaffen. Im Pedregal-Projekt stellte sich Barragán, wie schon die Planer der Universitätsstadt, den Problemen einer wachsenden Massengesellschaft im Prozess der Industrialisierung. Sein Angebot steht jedoch konträr zu dem der Universität: Während die öffentliche Hochschule für mehr Bildungsmöglichkeiten in Mexiko entworfen wurde, schuf Barragán ein komfortables Refugium, das einigen wenigen Wohlhabenden die Möglichkeit bietet, sich dem öffentlichen Leben entziehen zu können. Barragán war 1924 erstmals nach Europa gereist und kehrte tief beeindruckt von der andalusischen Architektur nach Mexiko zurück. 188
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
Die maurischen Alhambra-Gärten in Granada mit ihrem komplexen und zugleich idyllisch angelegten Bewässerungssystem faszinierten den jungen, auf Hydraulik spezialisierten Ingenieur. Die üppig ausgestalteten Innenhöfe des Generalife inspirierten ihn dazu, in Anlehnung an die arabisch-spanische Tradition, bereits in seinen frühen Entwürfen Orte mit meditativer Atmosphäre zu schaffen.331 Als er 1926 im Büro seines Bruders Juan José Barragán in Guadalajara tätig wurde, entwarf Barragán zunächst Wohnhäuser, worauf er sich als selbstständiger Architekt in Mexiko-Stadt ab 1935 weiter spezialisierte. Die frühen Bauten im Neokolonialstil zeichnen sich durch großflächige, verputzte Fassaden aus massiv wirkenden Mauern mit wenigen, meist rückspringenden Fenstern und Patios in Anlehnung an maurische und spanisch-koloniale Stadthäuser und Paläste aus (Abb. 107). Durch Säulen, kreuzgangartige Arkaden und den reduzierten Einlass von natürlichem Licht erzielte Barragán ein sakralen Orten ähnliches Raumgefühl. Dieses entlehnte er der Atmosphäre mexikanischer Klöster der frühen Kolonialzeit, wie San Agustín de Acolman (1539-1560) im Bundesstaat Mexiko.332 Während in MexikoStadt bereits der Rationalismus des ,Internationalen Stils‘ im Werk von Architekten wie O’Gorman und Villagrán en vogue war, stießen solche Spiritualität implizierenden Elemente bei Auftraggebern im katholisch-konservativen Guadalajara auf großes Interesse.
107. Luis Barragán: Casa Efraín González Luna, 1929-1930. Guadalajara
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Kurz vor seiner zweiten Europareise 1931 definierte Barragán seine Architektur- und Raumauffassung, insbesondere in Abgrenzung von angelsächsischen Vorbildern, als „HOME“. Dieses entsteht, Barragán zufolge, im Zusammenwirken von Architektur und Garten, der das Ensemble aus offenem und geschlossenem Raum umschließt. Innerhalb dieser hybriden Zone hob Barragán die besonderen Qualitäten der Natur hervor: Die Häuser sollten Gärten sein und die Gärten Häuser. Die Intimität und das HOME sollen in den Gärten fortbestehen, auch wenn es nötig sein sollte, Gärten aufzuteilen. Den offenen Gärten, die sich auf den ersten Blick zeigen, muss man misstrauen. Die Betrachtung der toten und geschmacklosen ,open-gardens‘, die die Stadt Washington beschatten, […] lassen mich den Blick auf die Gärten des Generalife von Granada richten. Voll Liebe denke ich an die schönen orientalischen Gärten, von Arkaden und begrünten Mauern durchkreuzt, die bezaubernde Einfriedungen bilden, Räume aufwerten und die Natur in ein wirkliches HOME verwandeln.333
108. Mies van der Rohe: Farnsworth-Haus, 1946-1950. Fox River, Plano, Illinois
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Das Ziel, Architektur und Natur miteinander zu einem „Heim“ zu verbinden, erinnert zunächst an das Prinzip der dem ,Internationalen Stil‘ zugeschriebenen Innen-Außen-Kontinuität. So stehen in Mies van der Rohes Farnsworth-Haus (1946-1950, Abb. 108) am Fox River in Plano, Illinois, und Le Corbusiers Villa Savoie im französischen Prissy (1929-1931) ausgrenzende Opazität und offene Transluzenz zueinander in Wechselwirkung. Bei Barragán bedeutete die Herstellung von Innen-Außen-Kontinuität dagegen einen ersten Schritt zu einem expliziten Regionalismus. Wie andere regionalistische Architekten sprach auch er sich gegen Urbanität aus. Statt wie seine regionalistischen Kollegen vornehmlich auf lokaltypische Bauweisen zurückzugreifen, setzte er die eigentümliche Topographie des Pedregal jedoch in Bezug zu ,internationalen‘ Architekturformen. Barragáns Entwürfe führten seit den frühen Arbeiten in Guadalajara zu dieser Tendenz, die sich bereits in den annähernd fensterlosen Fassaden nach kolonialer Tradition abzeichnete. Doch erst in den Häusern der 1940er Jahre, bei seinem privaten Wohnhaus und speziell der Siedlung Los Jardines del Pedregal, sind, wie im kalifornischen Regionalismus Richard Neutras (1892-1970), geometrisierende Bauformen einer wild wirkenden Natur gegenübergestellt. Über die spektakulären Panoramen hinaus, vor denen Neutras berühmtes Kaufmann-Haus (1946, Abb. 109) in Palm Springs, Kalifornien, entstand,334 strebte Barragán in seinen Wohnhausprojekten ein Gleichgewicht von Architektur und Natur an. Er friedete die Grundstücke mit hohen Mauern ein und stellte der erhärteten Lava und kargen Flora Wasserbecken und Wege als Natur ordnende Gestaltungselemente gegenüber. Diese Raumdefinition Barragáns, nach der Architektur und Natur im Zusammenwirken ein „Heim“ bilden, ist von den Schriften Les Co lombières und Jardins enchantés (beide Paris, 1925) des deutschen Landschaftsarchitekten und Schriftstellers Ferdinand Bach (1859-1952) beeinflusst. Die Beschreibungen der Landschaftsgestaltung im südfranzösischen Anwesen Les Colombières (1920-1924) und mitpublizierte Zeichnungen (Abb. 110), die einen romantischen Eindruck von dem Ort bei Menton vermitteln, beeindruckten Barragán nachhaltig. Bach intendierte, in Les Colombières die Topographie den Bedürfnissen ihrer Nutzer anzupassen. Zu diesem Zweck berücksichtigte er die Eigenschaften des Geländes, ein von Klippen und Schluchten durchzogenes Küstengrundstück, in gewundenen, auf- und absteigenden Wegen. 191
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109. Richard Neutra: Kaufmann-Haus, 1946. Palm Springs, Kalifornien
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Er schuf landschaftsarchitektonische Situationen, in denen gestalterische Elemente wie Tore, Repliken antiker Skulpturen und Tonvasen die Natur in Bilder fassen, was bei Barragán auf besonderes Interesse stieß. Erst auf seiner zweiten Europareise 1931 traf Barragán Bach persönlich und sah die Gärten von Les Colombières. In einer ersten Reaktion kritisierte er sein Vorbild als rückwärtsgewandt: Als ich mit Bac [sic] sprach, verstand ich seine Angst vor den neuen Zeiten und warum er sich in den Schoß der Schönheit von gestern geflüchtet hatte. Das kann auch nicht die Lösung sein, Bac [sic] hat viele schöne Sachen gemacht, aber ohne Übereinstimmung mit dem heutigen Geist.335
In der Folge distanzierte sich Barragán von jeglicher romantisierenden Landschaftsarchitektur und schuf in seinen letzten Arbeitsjahren in Chapala und Guadalajara (1932-1935) und anfangs in Mexiko-Stadt Projekte nach den Prinzipien des ,Internationalen Stils‘. Gärten spielten bei den in dieser Zeit entstandenen Apartmenthäusern in MexikoStadt lediglich eine untergeordnete Rolle.
110. Ferdinand Bac: Les Colombières, 1920-1924. Lithographie, weitere Angaben unbekannt
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Erst als Barragán in den 1940er Jahren die Gelegenheit erhielt, an Einfamilienhäusern in der Hauptstadt selbst landschaftsgestalterisch zu arbeiten, zeigte sich Bachs Einfluss: In den Gärten der Häuser von Tacubaya (1941-1948), in dem Landstück El Cabrío an der Avenida San Jerónimo (1943-1944, Abb. 111) und in der Pedregal-Siedlung (19451960) intendierte Barragán, die Bewohner weitgehend von den Unannehmlichkeiten des Großstadtlebens abzuschirmen. Ziel war es, eine spirituelle Stimmung in den Räumen zu erwirken, wofür Cetto und Barragán, neben Innenhöfen und geschlossenen Grundstücken, die Natur mit Wasserbecken, Wegen und Terrassen ordneten. Insbesondere in diesem Punkt schloss Barragán an Bachs Ablehnung von Öffentlichkeitsherstellung an, der auf ein „ruhigeres Leben als das heutige […hoffte], das aus so bescheidenen Dingen besteht, dass ich sie kaum auszudrücken wage… Eine inspirierte Fruchtbarkeit. Ein großer Frieden am Busen der Natur.“336 Nicht nur die Gärten von Les Colombières selbst, sondern auch Bachs Lithographien prägten Barragáns und Cettos Einrichtung von Sichtachsen und Panoramen in Los Jardines del Pedregal. Ähnlich der Medialisierung der Bachschen Gärten vermarktete auch Barragán sein Projekt mit kontrollierten Bildinszenierungen, die er bei Salas Portugal in Auftrag gab. Er überhöhte die Landschaft und ihre implizierte Wildheit durch die Bezugnahme auf Architekturelemente. In
111. Luis Barragán: El Cabrío, 19431944. Avenida San Jerónimo, San Ángel, Mexiko-Stadt, Fotografie: Armando Salas Portugal, ca. 1945, Barragán Stiftung, Birsfelden
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diesem Punkt folgte Barragán Neutra, dessen Kontraste zwischen geometrischer Architektur und unberührt wirkender Natur insbesondere über die Fotografien des US-Fotografen Julius Shulman (1910-2009) rezipiert wurden.337 Ein ähnlicher Effekt, den Bachs Lithographien auf Barragán ausübten, setzte sich in der Werkrezeption des letzteren fort: Als Barragán, dessen Werk seit einer Einzelausstellung im New Yorker Museum of Modern Art 1976 verstärkt international wahrgenommen wurde,338 1980 den Pritzker-Preis erhielt, erfolgte die Auszeichnung durch die Jury ohne Kenntnis der Originale. Grundlage für die Entscheidung waren die in den USA publizierten Abbildungen von Barragáns Häusern. Diese wurden mit Hilfe von Salas Portugals Fotografien, aus Architektur- und Naturkontrasten, dramatisierender Licht- und Schattenführung und aus der Untersicht monumentalisiert zu „Architekturikonen“339 nobilitiert.340 Der renommierte Architekturpreis wurde demnach anhand von Fotografien verliehen, was für deren große Suggestionskraft und die Rezeptionsprobleme von Werken jenseits des europäischen und US-amerikanischen Kulturgeschehens noch in den 1980er Jahren spricht.
Ein locus amoenus im Lavafeld
Den Aspekt der Introspektion bei Bach im Kontext von Haus und Garten arbeitete Barragán mit Max Cetto am konsequentesten in der Privatsiedlung Los Jardines del Pedregal aus. Barragán ordnete das Gelände mit Eingriffen, die von denen Bachs in Les Colombières inspiriert waren: mit Zypressen bepflanzte Miniaturalleen, Wasserbecken, Aussichtspunkte auf weitläufige Panoramen und Keramikvasen, die die Gärten optisch strukturieren. Skulpturentorsi, die Barragán noch in den kurz zuvor entstandenen El Cabrío-Gärten kontrapunktisch einsetzte, wichen in den Gärten von Los Jardines del Pedregal anthropomorph gewachsenen Baumstämmen. Barragán verstärkte den Effekt, der bei Bach Intimität bewirkte, indem er jedes Grundstück mit hohen Mauern einfriedete. Durch Gittertore zur Trennung der Siedlung von der Außenwelt und Exklusivität ausstrahlende Architektur erzielte Barragán einen umfassenden Öffentlichkeitsausschluss. Die exklusive Pedregal-Siedlung wurde so zu einem allein Reichen vorbehaltenen, modernen locus amoenus. 195
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Barragán war seit den frühen 1940er Jahren als Makler tätig, was ihm einen solchen Wohlstand einbrachte, dass er bei privat initiierten Projekten finanziell weitgehend unabhängig war.341 1945 erwarb er ein 350 Hektar großes Bauland im Pedregal, das südlich der Avenida San Jerónimo und westlich der Schnellstraße Insurgentes in Nachbarschaft zur Universitätsstadt liegt.342 Gemeinsam mit dem Stadtplaner Carlos Contreras und dem Grundstücksmakler José Bustamante gründete er die Firma Los Jardines del Pedregal, SA. Unabhängig von den Verpflichtungen gegenüber seinen Unternehmenspartnern verfolgte Barragán die Idee, eine Siedlung nach eigenen architektonischen und landschaftsgestalterischen Vorstellungen zu errichten.343 Seit seiner Niederlassung in Mexiko-Stadt 1935 besuchte er, häufig gemeinsam mit Dr. Atl, das Lavafeld und begeisterte sich für dessen bizarre Topographie (Abb. 112).344 Dr. Atl vermittelte Barragán zum einen die mythologischen Aspekte der Landschaft.345 Zum anderen findet sich die Betonung der Versteinerung der Lava und deren Beherrschung durch Menschenhand in dessen Bildern auch in Barragáns Architektur- und Naturkonzeption wieder, die aus geordneten und Natur belassenen Elementen bestand.
112. Armando Salas Portugal: Luis Barragán und Dr. Atl mit Studentinnen im Pedregal, 1945. Barragán Stiftung, Birsfelden
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Dr. Atls Darstellung einer durch Wege geordneten Wildnis, die in die Lava geschlagen waren, übernahm Barragán in der Straßen- und Weggestaltung der Jardines del Pedregal, die er an das hügelige Terrain anpasste. Die Monumentalisierung der Lava bei Dr. Atl übertrug Barragán in die Gestaltung der Gärten. Er arbeitete sie auch in den öffentlichen Siedlungsbereichen mit der Integration von üppigen Lavaformationen in den geebneten Grundstücken aus. Den entscheidenden Impuls für Barragáns Siedlungsprojekt gab jedoch ein Text, den Diego Rivera bereits 1935 verfasst hatte.346 Rivera wies darin das Lavafeld als ideale Topographie für eine „neue Stadt“ jenseits der Hauptstadt aus.347 Rivera argumentierte in seinem Aufsatz mit statischen und ökonomischen Vorzügen und verwies auf das angeblich „maritime Klima“ des Pedregal, dessen steinige Beschaffenheit als Garant für Erdbebenfestigkeit galt. Die daraus resultierende Ersparnis aufwändiger Zementfundamente, die die Baukosten auf dem austrocknenden Seeboden im Stadtzentrum in der Regel hochtrieben, sah Rivera in seinem Artikel als zusätzlichen Gewinn.348 Auf die topographischen Vorzüge des Pedregal erneut hingewiesen, plante Barragán, in Los Jardines del Pedregal zentrale Vorschläge Riveras, der allerdings an eine Siedlung mit öffentlichem Charakter gedacht hatte, zu übernehmen.349 Wie auch bei Rivera vorgesehen, konnotierte Barragán den Pedregal maßgeblich über dessen Vegetation regional. Während Rivera Kakteenarten, die in der Unabhängigkeitsund Revolutionsikonographie als nationaltypische Flora etabliert worden waren,350 zu einer ,mexikanischen‘ Landschaft zu konzentrieren gedachte,351 setzte Barragán urwüchsige Büsche und Bäume zum selben Zweck ein. Auch im Materialeinsatz wich Barragáns Konzept von Riveras ab. Dieser hatte in der Verwendung des vor Ort abgebauten Lavasteins, in Abgrenzung zu Beton, eine Möglichkeit zur Kostenreduzierung beim Siedlungsbau gesehen. Zugleich lag Riveras Auffassung das ästhetische Prinzip einer materialen Homogenität zugrunde: Wenn das Material am selben Ort, an dem man es abbaut, eingesetzt wird, machen die Abbaukosten es zu einem weniger teuren als das gängigste Material, das derzeit für Bauten in Mexiko-Stadt eingesetzt wird. Man muss also den hauptsächlichen Einsatz des Pedregal-Steins selbst als Grundbedingung festlegen, wodurch man die
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Homogenität des architektonischen Materials erzielen wird, die es durch seine eigene Festigkeit, niedrige Kosten und Schönheit charakterisieren wird.352
Moderne Baumaterialien wie Beton, Eisen und Glas spielten hier eine untergeordnete Rolle und wurden nur nachrangig zu Holz und Stein legitimiert.353 Im Unterschied zu Riveras Vorschlägen zur Materialverwendung setzte Barragán im Pedregal Lavastein zwar für Grundstücksmauern und die Gartengestaltung, für den Hausbau selbst jedoch weniger ein. Gemeinsam mit Cetto entwickelte Barragán die charakteristische Siedlungsarchitektur an zwei Modellhäusern. Auf den weitläufigen Grundstücken entstanden horizontal gestreckte, ein- bis zweistöckige Flachdachvillen hinter Gartenmauern aus Lavabruch. Deren Größe legte Barragán – höher als Rivera – auf je mindestens 2000 Quadratmeter bei maximal einem Zehntel Bebauung fest.354 Die Häuser Avenida de las Fuentes 10 und 12 (heute 130 und 140) zeichnen sich durch in sich verschobene, geometrische Baukörper mit großflächigen, verputzten Außenmauern und wenigen Fenstern aus.355 Während die Eingangsbereiche, Wege und Terrassen eingeebnet und mit quadratisch zugeschnittenem, ungeschliffenem Basaltstein ausgelegt sind, türmt sich die versteinerte Lava in den Gärten zwischen großen Rasenflächen auf. Diese sind mit ausgewählten regionaltypischen und -fremden Pflanzen, darunter Colorín- und Jacaranda-Bäumen, bepflanzt. Deren kräftige orange- und violettfarbenen Blüten bilden zusammen mit einigen bunt gestrichenen Architektur- und Steinelementen Kontraste zu den weiß getünchten Häusern und der dunkelgrauen Lava.356 In den Eingangsbereichen sind rechteckige Wasserbecken und in den Gärten große Swimmingpools eingelassen. Der Pool des Hauses Fuentes 12 wird an einem Ende von den natürlichen Ausläufern der Lava definiert. Die Gradlinigkeit der Architektur kontrastiert so mit den organischen Formen, dem Wasser und der vulkanisch geprägten Topographie. Wie die späteren Siedlungshäuser wurden auch Fuentes 10 und 12 in Stahlbeton errichtet. Das Modellhaus Fuentes 12 besitzt an der Gartenseite große, durch Stahlrahmen strukturierte Glasfassaden. Den von Rivera favorisierten Lavastein setzten Cetto und Barragán für Verbindungen zwischen Innen und Außen ein. Im Haus Fuentes 12 198
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führte so zunächst eine Natursteinmauer vom Hauseingang durch das Wohnzimmer bis in den Garten.357 Der Zuschreibung Riveras an Basaltlava als lokales Baumaterial mit traditionellem und ,nationaltypischem‘ Charakter 358 stand Barragáns Auffassung vom modernen „Mexikanischen“ gegenüber. Barragán sah dies in Wissenschaft und Industrie sowie deren Beeinflussung der Naturwahrnehmung gelegen: [D]as Moderne gewinnt nach und nach seinen Stellenwert und der Straßenindigenismus legt sich. Das ist nicht das Nationale, unsere Vergangenheit ist kein tragischer Roman zwischen Schwarzen und Weißen. [...] Das Mark des Modernen liegt in der Wissenschaft und in der Industrie. Beide eröffnen uns neue Sichtweisen auf die Natur.359
Barragán wandte sich hier von der Revolutionsideologie ab, obwohl auch er das Verhältnis von Industrie und Natur ins Zentrum seines architektonischen Interesses rückte. Die für das industrialisierte Mexiko charakteristischen, geometrischen Bauformen der Pedregal-Siedlung, die verputzten Betonwasserbecken in Gärten und Höfen und die Blicke aus den Häusern auf die Natur bewirken deren optische Ordnung. Die „neuen Sichtweisen“ auf die Natur vollziehen sich damit auch in gerahmten Perspektiven auf die Topographie. Auch wenn Revolutionskünstler wie Rivera bis in die 1940er Jahre hinein Industrialisierung und Technik feierten und der Wissenschaft unter Präsident Alemán eine bedeutende Rolle im nationalen Diskurs zukam, hob sich Barragáns Einsatz von Fortschrittsindikatoren davon stark ab. Barragán bediente sich hauptsächlich industrieller Baumaterialien, um eine Kulturalisierung und Ästhetisierung der Natur zu erreichen und infolgedessen die Exklusivität seiner Siedlung zu erhöhen. Für die verschobenen Baukörper, deren Gegenüberstellung mit organischen Elementen und für den Landschaftsbezug der Villengärten war Cettos Einfluss entscheidend.360 Dieser hatte in Kalifornien mit Neutra Häuser in stereometrischen Volumina auf schwer zu bewältigendem, felsigem Gelände erarbeitet.361 Auch Neutras Einsatz von Stein als eines der wesentlichen Konstruktionsmaterialien seiner späteren Villenprojekte findet in der Ausführung des Hauses Prieto López (1947/1952) in Los Jardines del Pedregal Widerhall.362 Das zweite 199
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Modellhaus der Siedlung, Fuentes 10 (1950), bildet dagegen den Entwurfsdialog zwischen Cetto und Barragán ab: Cetto errichtete allein orthogonale Formen und massive Mauern in der Tradition der mexikanischen Kolonialarchitektur und strukturierte den Eingangspatio mit Treppen und Scharten.363 Formal ähneln Fuentes 10 und 12 Neutras Warren Tremaine-Haus in Montecito, Kalifornien (1948), und dem Kaufmann-Haus in Palm Springs.364 Das Kaufmann-Haus besteht aus rechtwinkligen Formen mit Flachdachabschluss und setzt sich aus ineinander verschobenen Baukörpern mit vorkragendem Dach zusammen. An der Gartenseite kontrastieren grobe Steinmauern mit großflächigen Glasfassaden. Die Hausmauern aus rauem Naturstein, Wasserreflexe des Swimmingpools und tiefe, von transparenten Glaselementen ermöglichte Einblicke in das Haus stellen einen engen Innen-Außen- und Landschaftsbezug zu den Hügeln der kalifornischen Umgebung her. Einzelne opake Elemente verbergen zugleich Teile des Hausinnern. Diese grundlegenden formalen Elemente des Kaufmann-Hauses finden sich auch in den Modellhäusern der Pedregal-Siedlung. Die Wand- und Mauergestaltung blieb bei Cetto und Barragán jedoch traditioneller:365 Schwere, tragende Betonmauern erzeugten massive Außenabschlüsse und besaßen nur wenige, meist in sich kassettierte Fenster. Vorkragende Dachterrassen und Dächer warfen tiefe Schatten. Die Häuser wirken in ihrer Opazität schwerer als Neutras Architektur. Tiefe Einsichten in Fuentes 10 und 12 sind kaum möglich. Farbaufnahmen des Hauses Fuentes 12 zeigen, dass die Rahmen der gläsernen Rückfassade anfangs leuchtend Rot und Teile der Gartenmauer Gelb gestrichen waren (Abb. 113). Dies führte zu einer weniger archaisierenden Bildwirkung als in den viel veröffentlichten SchwarzWeiß-Aufnahmen. Auch mit der bunten Steinbemalung setzten Barragán und Cetto eine breite Farbpalette ein, während Neutras Werk sich neben Weiß allein durch Naturfarben auszeichnet.366 Die Orientierung der Architekturformen am ,Internationalen Stil‘ zeigt sich in den Pedregal-Modellhäusern stärker noch als in Barragáns Werk bis Ende der 1940er Jahre. Konsequent moderne Charakteristika stehen hier einer regionalistischen Betonung durch den intensiven Einsatz und die Hervorhebung der Landschaft gegenüber. Ein Scharnierprojekt zwischen Barragáns rationalistischen Mehrfamilienhäusern und Los Jardines del Pedregal ist sein privates Wohnhaus in dem Viertel Tacubaya in Mexiko-Stadt (1947-1948, Abb. 114 200
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113. Luis Barragán: Casa Fuentes 12, 1949 (Rückansicht). Los Jardines del Pedregal de San Ángel, San Ángel, Mexiko-Stadt
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und 115). Hier stehen Architektur und Außenraum in enger Verbindung und Austausch zueinander. In den frühen 1940er Jahren erwarb Barragán einige Grundstücke in Tacubaya und entwickelte seine ersten regionalistischen Häuser mit wild wirkenden, aber sehr präzise durchgestalteten Gärten. Im Wohnhaus spiegeln sich die Prinzipien des Architekten, nachdem dieser sich durch einen Objekttausch mit der Bauherrin von seiner Auftraggeberabhängigkeit befreit hatte: geometrische Formen, schlichte Holztreppen und -deckenträger, karge, klösterlich wirkende Interieurs, hölzerne Heiligenskulpturen und rustikale Möbel (Abb. 116). Die großen Fensterflächen sind gerastert und strukturieren den Garten aus der Innensicht, der durch Büsche und belassene Steinformationen wild wirkt, tatsächlich aber durch Wege und Skulpturentorsi geordnet ist. Die optische Innen- und Außenverbindung, die Überhöhung der Natur und die Anleihen aus sakraler Architektur und Ausstattung rufen bereits hier das private Intimität und Exklusivität herstellende „HOME“-Konzept Barragáns auf.
114. Luis Barragán: Casa Luis Barragán, 1947-1948. Calle Ramírez 14, Tacubaya, Mexiko-Stadt
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115. Luis Barragán: Casa Luis Barragán, 1947-1948 (Rückansicht). Calle Ramírez 14, Tacubaya, Mexiko-Stadt
116. Luis Barragán: Casa Luis Barragán, 1947-1948 (Treppe). Calle Ramírez 14, Tacubaya, Mexiko-Stadt
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„Abstrakte Kompositionen“ in Arkadien
Die frühe mexikanische und US-amerikanische Rezeption stellte an Barragáns Privathaus und beim Siedlungsprojekt die Minimalisierung der Architekturformen heraus. Sie betonte deren Zusammenspiel und Kontraste mit der Natur. Bereits in den 1950er Jahren, als die Vermarktung der Jardines del Pedregal-Siedlung ihren ersten Höhepunkt erreichte, unterstrichen US-Medien die abstrakten Qualitäten der Architektur. Ein wichtiges Argumentationsmittel hierfür waren die Fotografien Armando Salas Portugals. Das Home Magazine der Los Angeles Times, eine Beilage für Leser aus der gehobenen Mittelschicht, stellte dessen Aufnahmen von Barragáns Privathaus und Details der Siedlung Beschreibungen gegenüber, die die abstrahierenden und regionalisierenden Tendenzen hervorheben.367 Mathias Goeritz’ Plastik Das Tier vom Pedregal (1950-1951, Abb. 117)368 vor den Siedlungstoren integriert laut Autorin Virginia Stewart die Architektur und die umgebende Berglandschaft.369 Das Dach von Barragáns kubischem Privathaus inszenierte Salas Portugal vor wolkenreichem Himmel und mit diagonal einfallenden Schatten. Stewart interpretierte das Architektenhaus so als „dramatische Studie von Form, Licht und dunkler Oberfläche“, die lang gestreckten, texturierten Betonwände als „starke abstrakte Komposition.“370 Der Streit um die Vorherrschaft des Paradigmas der Abstraktion gegenüber figurativen Tendenzen war in Lateinamerika in den 1950er Jahren durch internationale Initiativen der US-amerikanischen Kulturpolitik hochaktuell.371 Mit der Orientierung an europäischen Avantgarden wie den russischen Konstruktivisten und dem Bauhaus versuchte man in Lateinamerika neue Bezüge zwischen Kunst und Gesellschaft herzustellen. Der Abstrakte Expressionismus dagegen wurde weltweit, von den USA ausgehend, als Freiheit und Individualität repräsentierende Malereiform propagiert. Die Zuschreibung „abstrakt“ an Barragáns Werk, analog zu abstrakter Malerei im offiziellen US-amerikanischen Diskurs der McCarthy-Ära, war insofern als Aufwertung zu einer zeitgemäßen und den US-amerikanischen Bedürfnissen entgegenkommenden Architektur zu verstehen.372 Die Publikation der zusätzlich abstrahierenden, von Barragán persönlich in Auftrag gegebenen Fotografien erhöhte die Vermarktungschancen der Pedregal-Siedlung in den USA und unter der wirtschaftlich wie kulturell US-orientierten Oberschicht Mexikos. 204
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117. Mathias Goeritz: El Animal del Pedregal, 1950-1951. Armierbeton, 197 x 450 x 133 cm, Avenida San Jerónimo, Nordeingang zur Siedlung Los Jardines del Pedregal de San Ángel, Mexiko-Stadt
Hinter der Bestellung der Aufnahmen steckte auch werbestrategisches Kalkül. Es spiegelte Barragáns Wunsch, Kunstbüchern ähnliche Präsentationshefte zu publizieren, die die Vorzüge der neuen Siedlung gegenüber bereits existierenden zeigen sollten.373 Der zweite wichtige Aspekt für die Barragán-Rezeption in Mexiko und den USA ist dessen Regionalismus. Die enge Verbindung von Architektur und Landschaft musste in der US-Kritik, die durch die regionalistische Architektur Wrights, Neutras und anderer für Architektur mit Ortsbezug sensibilisiert war, auf großes Interesse stoßen. Barragán, der sich wie Wright traditionelle lokale, aber auch moderne Bauformen aneignete,374 trennte Architektur und an die Fassade gebrachtes Ornament. Hierin unterschied er sich von anderen regionalistisch arbeitenden Architekten in Mexiko wie O’Gorman und Rivera. Ähnlich Wright reduzierte er das Ornamentale auf Natursteinmauern im Innenraum.375 Hinzu kam die Färbung einiger Außenwandflächen und Lavabrocken, die die Natur als organisches und zugleich künstlich wirkendes Ornament auswiesen. 205
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Im Unterschied zu den mit Mosaiken ornamentierten Fassaden von O’Gormans Privathaus und der Universitätsbibliothek zeichnet sich der gebaute Raum bei Barragán durch wenig bearbeitete Flächigkeit aus. Ornamentales wird hier über Materialien und Farbe und nicht durch Oberflächenverkleidung vermittelt. Barragáns „HOME“-Konzept wurde bereits in den 1950er Jahren als Streben nach Kontinuität zwischen Innen- und Außenraum aufgefasst. Die Journalistin Esther McCoy bemerkte in Bezug auf das Wohnhaus des Architekten: „Der Garten ist auf moderne Weise eine Verlängerung des Hauses und hat die Privatheit eines traditionellen mexikanischen Patio-Gartens.“376 McCoy ordnete Barragáns Wohnhaus damit zum einen in die Bautradition mexikanischer Wohnhäuser seit der Kolonialzeit ein und erwähnte zugleich dessen kompakte Wirkung, die mit klar umrissenen Formen und unebenem Putz kolonialer Sakralarchitektur entlehnt ist. Dass, so Barragán, „der gute Geschmack als einzige Bremse angesichts der Katastrophe des weltlichen Geschmacks“377 zum Zuge kommen sollte, zeigt, dass der Architekt mittels einer Ästhetisierung der Haus- und Gartengestaltung eine gesteigerte Exklusivität anstrebte. Diese stand in ihrem Grundansatz konträr zum öffentlichen Universitätsprojekt, was durch Barragáns Bezugnahme auf kolonial-sakrale Stilmittel zusätzlich verstärkt wurde. Erbauung und Muße als Ergebnissen der Kontemplation kommt hier besondere Bedeutung zu, die sich besonders an der Siedlungsplanung im Pedregal abzeichnete: Die schönstmögliche Idee ist, im Sinne einer Vorbereitung für die Verschönerung durch die Zeit, sehr eng an die Idee von Innerlichkeit (gelebter Zeit) und Müßiggang (verzauberter Raum) gebunden, die beide mit der Idee von Vertiefung verbunden sind. Alles was vergeht, und nicht angemessen ist, mit dem Vergehen die Patina der Geschichte zu erhalten, steht dem entgegen, was das Leben des Menschen sein sollte.378
Um mit Verinnerlichung und Muße eine ,geschmackvolle‘ Wirkung zu erzielen, befand Barragán erneut das „HOME“ als optimale Lösung: „Ein schönes Haus mit Garten muss zum perfekten Müßiggang einladen und die poetischste und schönstmögliche Vorstellung vom Lauf der Zeit vermitteln.“379 206
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
Dieser Ansatz bedingt einen nach außen geschützten Bereich, in dem eine Siedlung als luxuriöser Wohnort bestehen kann. Das Prinzip der Ummauerung ist dafür ein wichtiges gestalterisches Element, das nicht nur aus der maurisch-spanischen Patio-Architektur stammt, sondern ebenso im mittelalterlichen Klostergarten wurzelt.380 Die Grundstücksmauern in der mexikanischen Architektur dienen nach spanischer Tradition darüber hinaus nicht nur dem Lärmschutz und als Schattenspender, sondern auch um unerwünschte Blicke zu verhindern. Die Kritikerin Margarita Nelken (1896-1968)381 hob in einer zeitgenössischen Rezension hervor, Besucher würden aufgrund der Landschaftsaneignung und der modernen Architektur der Jardines del Pedregal sofort wissen, dass sie in Mexiko seien.382 Während die Bespielung der „mexikanischen Landschaft“383 mit der modernen Bauweise der Universitätsstadt dazu diente, einen öffentlichen Zugang zur national konnotierten Topographie zu schaffen, erwirkte Barragán dagegen gezielt eine Situation sozialer Exklusion. Diese entstand maßgeblich durch die Mauern der Pedregal-Siedlung, die nicht nur die Unannehmlichkeiten des öffentlichen Lebens in der problembelasteten Stadt, sondern auch Benachteiligte ausgrenzen.384 Ein wichtiger Faktor hierfür ist die auf dem Vorplatz angebrachte Plastik, die, zusammen mit der Landschaft und den Wasserspielen, eine „spontane Symbolisierung des Sozialraums“385, der für wenige erschwinglichen Villensiedlung, erzeugt. Das Postulat einer ungezähmten Natur und die von Cetto formulierte Unterordnung der Architektur unter die Topographie des Ortes entlarven sich als Fiktion. Wilde Tiere wie Schlangen und Pumas, die einst im Pedregal vorkamen, wurden durch die Bebauung des Lavafeldes aus ihrem Lebensraum verdrängt und bleiben seitdem, wie andere vermeintliche Gefahren, vor den Siedlungs- und Grundstücksmauern. Barragáns gated community ist vielmehr ein Wohnidyll in einer erhaben wirkenden, aber ungefährlich gemachten Natur, die als exklusives, archaisches Arkadien inszeniert wird.386 Als „poetische[s] Oxymoron eines gepflegten Arkadien“387 verweisen Los Jardines del Pedregal darüber hinaus auf das bukolische Arkadien Vergils.388 Antiken Vorbildern vergleichbar ist Barragáns Siedlung ein Korrektiv der Verderbnisse und Belastungen durch das Stadtleben, des hohen Verkehrsaufkommens, des Lärms und der Wasserknappheit. Simon Schama beschreibt ein solches Verhältnis folgendermaßen: 207
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[Es] ist ein bewußtes Element der Künstlichkeit am Werk, das gleichzeitig natürliche Formen vor Augen führt, aber dafür sorgt, daß sie korrigiert werden, um das Unansehnliche oder Störende zu beseitigen.389
Das Künstliche greift bei Barragán in der Gartengestaltung und der Ummauerung zum Schutz des Eigentums, mit der die Wohnsitze als moderne villae rusticae ausgewiesen werden. Diese Charakteristika differenzieren die Pedregal-Siedlung vom arbeitsamen, georgischen Arkadien bei Vergil.390 Ähnlich Vergils bukolischem Arkadien setzt Barragáns Siedlungsprojekt die Stadt als Gegenkonzept voraus, von dem es sich abgrenzt, hier die wachsende Metropole Mexiko-Stadt. Ähnlich Plinius d. J., der die Nähe seiner Villa in Laurentinum am Meer zu Rom pries, betonte auch Barragán bei der Vermarktung der Jardines del Pedregal die schnelle Erreichbarkeit der Stadt.391 Die Anwesen im „Lavameer“ verheißen, nach dem Prinzip des antiken otium, Erholung auf dem Land nach vollbrachtem Tagwerk in der Stadt. Zugleich ist die Qualität der Erbauung in der modernen Peripherie an urbane Vorzüge gebunden und enttarnt Barragáns einseitiges Lob des Landlebens: Stadtnähe und gute Straßenanbindungen garantieren eine schnelle Erreichbarkeit des negotium im Zentrum und machen das tägliche Pendeln ins moderne ,Arkadien‘ erst möglich. Auf der gleichen Topographie wie die Universitätsstadt plante Barragán ein vollkommen anderes Konzept, das formal modern, ideell jedoch am antiken, ausgrenzenden Arkadien orientiert ist. An den zeitgleich entstandenen Projekten zeigen sich die kontrastierenden Konnotationen der national definierten Topographie, die den Pedregal, nach dem historischen Zentrum der Kolonial- und Revolutionszeit, zum neuen Ort der mexikanischen Utopievorstellungen erhoben. Ein öffentliches Projekt stand hier einem privaten Ansatz gegenüber. Gemeinsam führten sie die Ambivalenz des Alemanismo vor Augen, der den Revolutionsdiskurs aufrechterhielt und zugleich wirtschaftsliberal unterhöhlte.392 Diese gegensätzlichen Tendenzen zeigten sich auch in der Kunst: Siqueiros, O’Gorman und Rivera kritisierten die staatsnahe politische Linie der Universitätsbauleitung vehement und schufen Wandbilder mit weiter Sichtbarkeit, die die Betrachterbewegung berücksichtigen und sich an ein breites Publikum jenseits der Universitätsnutzer rich208
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ten. Mathias Goeritz’ Skulptur am Eingang zu Los Jardines del Pedregal betont dagegen die Geschlossenheit der Siedlung. Die Koexistenz beider Konzepte und deren Förderung unter Alemán zeigen, dass sich die öffentliche Kunst in Mexiko um 1950 im Umbruch befand.
Mathias Goeritz’ Tier-Skulptur in der Pedregal-Siedlung
Im Rahmen seiner Werbekampagne suchte Barragán eine Außenskulptur, die sich als Wahrzeichen für Los Jardines del Pedregal eignete. Der deutsche Künstler und Kunsthistoriker Mathias Goeritz, der mit einem Lehrauftrag an der neu gegründeten Architekturfakultät der Universität von Guadalajara 1949 von Spanien nach Mexiko ausgewandert war, stellte im Oktober 1950 in Mexiko-Stadt eine Reihe Holzskulpturen aus.393 Barragán, der mit Goeritz befreundet war, sah vermutlich die Arbeiten, die Echsentiere darstellen, in der Galerie Clardecor und erwarb bei einem Besuch in Goeritz’ Atelier in Guadalajara Ende des Jahres die kleine Skulptur Das Tier aus Tabachín-Holz (1950, Abb. 118)394. Kurz darauf gab er eine vergrößerte Betonversion für den Eingangsplatz vor der Siedlung bei Goeritz in Auftrag.395 Das Tier vom Pedregal, eine 4,50 Meter lange und fast zwei Meter hohe Skulptur aus rohem, porösem Beton, stellt eine langgezogene Echse mit weit geöffnetem Maul dar. Die abstrahierende Skulptur steht vor einer etwa doppelt so hohen, rot gestrichenen Wand, die den mit glatten Betonplatten ausgelegten Vorplatz nach Osten abschließt.
118. Mathias Goeritz: El Animal, 1950. Tabachín-Holz. Maße und Sammlung unbekannt
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität 119. Mi mano, 1952. Sadebaumholz, 39 x 32 x 17 cm, Hamburger Kunsthalle
Nach Süden wurde, zur Zeit der Skulpturaufstellung, hinter einem magentafarben gestrichenen Eisengittertor der Blick auf die bizarre Lavalandschaft frei, die heute weitgehend bebaut ist. Gegenüber der Skulptur, an der Westseite, existierte ein annähernd quadratisches Wasserbecken, über das heute die Straße Fuentes führt, die den Platz nord-südlich durchschneidet und an die Hauptstraße Avenida San Jerónimo bindet. Der zum Maler und Grafiker ausgebildete Goeritz396 arbeitete zwischen 1950 und 1952 intensiv an Skulpturen, die er aus lokalen Hölzern wie Jacaranda, Esche ( fresno) und Sadebaum (sabina),397 ähnlich denen der expressionistischen Bildhauer Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Emil Nolde, schnitzte und anschließend polierte (Abb. 119)398. Noch in Europa hatte Goeritz unter dem Eindruck der Höhlen von Altamira eine „Neue Prähistorik“ ausgerufen.399 Damals wie in seinen frühen mexikanischen Arbeiten schloss Goeritz’ ,Primitivismus‘ an die europäischen Avantgardedebatten vom Beginn des 20. Jahrhunderts und der 1940er Jahre an. Goeritz’ Argumentation vom „Impuls“ der ,Primitiven‘ zur Abstraktion verweist auf Wilhelm Worringer, der mit Alois Riegl den schöpferischen Akt als „Kunstwollen“400 interpretierte und den frühen deutschen Expressionismus durch die Gleichstellung von abstrakter 210
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und mimetischer Form legitimierte. 401 Goeritz adaptierte Worringers Verständnis vom Abstraktionsimpuls und entwickelte 1950 aus einer Reihe mehrteiliger Holzskulpturen die später von Barragán erworbene Arbeit. Diese weist bereits die längliche, auf bäumende Form der späteren Betonarbeit auf und wird von drei zwingengleichen Überformungen an Schultern, Hinterteil und Schwanzrudiment eingefasst. In dem 1951 ausgeführten Bronzemodell Das Tier vom Pedregal (Abb. 120) verstärkte Goeritz die Überformungen zusätzlich geometrisch. Das Schwanzrudiment wirkt fast kubisch und das Modell insgesamt stärker nach expressionistischen Vorbildern gestaltet. In der Betonarbeit verminderte Goeritz, der die Arbeit mit Hilfe des erfahrenen Gießers Romualdo de la Cruz anfertigte, dagegen den geometrischen Eindruck. 402 Die eckigen Ausformungen des Modells sind in der Betonarbeit abgeflacht und unregelmäßig ausgebildet. Lediglich Kopf- und Halsform sind weitgehend erhalten. Sie sorgen für eine fließendere Wirkung der Skulptur, die nicht zuletzt deshalb unter Zeitgenossen und in der jüngeren Rezeption als Schlange interpretiert wurde. Eine solche Wirkung ging aus der Holzarbeit und dem Bronzemodell hingegen nicht unmittelbar hervor. 403 Goeritz hatte sich bereits Anfang 1950 für Barragáns PedregalGestaltung begeistert und hob in einem Artikel für die Tageszeitung El Occidental deren programmatischen Charakter hervor. Er sah in dem Konzept einen „Zukunftsort, die ideale Stadt“, 404 die Barragán in einer faustischen Anstrengung dem „Lavameer“ abrang. 405 Dessen Landschaftsgestaltung verstand Goeritz als Herstellung von „absoluter Harmonie zwischen der Natur und dem menschlichen Geist.“406 Nach Barragáns Vorbild sprach auch er vom Erhalt der natürlichen Wildheit und deren gleichzeitiger Unterwerfung nach klassischem Vorbild. 407 In diesen Punkten knüpfte Goeritz an die Maximen für die Pedregal-Siedlung an, während er in anderen Aspekten über diese hinausging: Zum einen forderte er statt individuellem Arbeiten Gesamtkunstwerke, die Künstler in kollektiven, vorneuzeitlich orientierten Arbeitsformen schaffen sollten; zum anderen die Rückbesinnung auf ,Primitivität‘ in der Kunst mit Verweisen auf die ,Einheit‘ des Künstlers mit der ihn umgebenden Welt und Kindermalerei: Die Werke derjenigen, die die gotischen Kathedralen schufen, wurden auch von vielen geschaffen, aber damals herrschte eine absolute
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geistige Einheit, die heute nicht mehr herrscht. Das Problem im 20. Jahrhundert ist komplizierter, weil der Künstler von der ihn umgebenden Welt getrennt denkt, lebt und arbeitet und seine Arbeit von ihm allein geschaffen sein muss. Wir haben noch nicht die Einheit einer Neuen Vorgeschichte erreicht, obwohl einige wenige sie schon sehen und sogar versuchen, sie zu leben. An unserer Seite sind fast alle Kinder der Welt. 408
Gemeinsam mit der Forderung nach einer Trennung von Kunst und Markt arbeitete Goeritz diese Aspekte in den Folgejahren stärker aus und spitzte sie in Manifesten zu. 409 Während Nicht-Kommerzialität in der Tier-Plastik im Pedregal, die Goeritz schließlich für Barragáns Vermarktungskampagne schuf, als Kriterium nicht zutrifft, ist an den Holzskulpturen und der Betonarbeit das Bestreben des Künstlers nach ,Primitivisierung‘ abzulesen. Dieses wurzelte in Goeritz’ künstlerischer und kunsthistorischer Ausbildung und kam bereits in seinem ersten eigenen Projekt, der „Schule von Altamira“ im spanischen Santillana del Mar, zum Ausdruck.
120. Mathias Goeritz: El Animal del Pedregal, 1951. Bronze, 7,5 x 18,5 x 8,3 cm, Sammlung Francisco Slim, Mexiko-Stadt
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Expressionismus und ,Primitivismus‘ bei Mathias Goeritz
Goeritz studierte zwischen 1937 und 1939 Malerei und Grafik an der Charlottenburger Städtischen Kunstgewerbe- und Handwerkerschule. 410 Zu seiner künstlerischen Ausbildung bei den Expressionisten Max Kaus und Hans Orlowski kam ein kunsthistorisches Studium an der damaligen Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität (1934-1940), das seine ästhetischen Überzeugungen vielleicht noch stärker prägte. Einflussreich auf Goeritz war insbesondere der Expressionismusspezialist Eckart von Sydow. Von Sydow untersuchte auf eindringliche Weise den Individualismusbegriff. Die Suche der Expressionisten nach ,Ursprünglichkeit‘ in ihrem „Wille[n ] zur Primitivität“ charakterisierte er als Abgrenzung von der „Dekadenz“ als „innerste[r] Lebenskrankheit der europäischen Kultur“. 411 Die Naturvölker befand er dagegen als gemeinschaftsorientiert und begrüßte ihr kollektives Arbeiten, an dem die zeitgenössische Kultur ‚gesunden‘ sollte. 412 Die von Sydow vermittelte ,Ursprungsnähe‘ des Expressionismus beeinflusste Goeritz ebenso wie die Schriften Herbert Kühns, darunter Die Malerei der Eiszeit (1921) und Die Kunst der Primitiven (1923), die Goeritz in Vorlesungen kennenlernte. 413 Die Favorisierung von Kollektivarbeit und „anfanghafter Menschlichkeit“414 in der zeitgenössischen Abstraktion, die von Sydow in den paläolithischen Höhlenmalereien antizipiert sah, übernahm Goeritz, als er 1948 die „Schule von Altamira“ gründete. 415 Goeritz war nach der Promotion bei Wilhelm Pinder und einer Mitarbeit bei der Ausstellung „1813 bis 1815, Großdeutschlands Freiheitskampf“ (1940) von Ludwig Justi an der Berliner Nationalgalerie nach Nordafrika ausgewandert. 416 Bis 1945 arbeitete er in der Kulturabteilung des Reichskonsulats von Tanger und unterrichtete am Marianisten-Kolleg Deutsch. Diese Aspekte aus Goeritz’ Biografie sind in der Forschung bislang kaum berücksichtigt worden. 417 Der mexikanische Kunsthistoriker Francisco Reyes Palma weist darauf hin, dass Goeritz sein Leben in Europa vor 1945 verdrängte und dies zunehmend in religiöse Konnotationen seiner Arbeiten ummünzte. 418 Ohne an dieser Stelle näher auf diese wichtigen biographischen Aspekte einzugehen, bleibt festzuhalten, dass Goeritz’ Vergangenheit vor 1949 problematisch ist und zugleich eine Ausnahme unter den zahlreichen europäischen Künstlern, die ab 1937 als Faschis213
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musflüchtlinge von Mexiko aufgenommen wurden. Es passte so auch in Goeritz’ widersprüchliche Vita, dass er sich zunächst im franquistischen Madrid und 1948 in Santillana del Mar niederließ. Dort baute er mit wichtigen spanischen Avantgardevertretern der Nachkriegszeit die „Schule von Altamira“ auf. Mit den Gruppen Dau al Set in Barcelona, Pórtico in Zaragoza und Proel in Santander teilte Goeritz das Interesse an Kinderzeichnungen und der Abstraktion, das von Klees und Mirós Werken beeinflusst war. Gemeinsam mit dem Bildhauer Ángel Ferrant und dem Kritiker Sebastià Gasch verfolgte er die Idee, an die Künstlergruppen anknüpfend eine gefestigte Avantgardebewegung in Spanien zu etablieren. 419 Zur Zeit von Goeritz’ Eintreffen interessierte sich die spanische Kunstszene bereits für den ,Primitivismus‘ der Höhlenmalereien. Gasch hob 1930 die „lebendigen Dinge“ hervor, die das „Bison von Altamira“ vermittelte, und erklärte, mit Worringer wohlvertraut, die „lebendige Zeitlosigkeit“420 der Höhlenmalereien zum Hauptkriterium für ,Primitivismus‘ und Abstraktion als Paradigmen der modernen Malerei. Die vorhandenen Tendenzen und Goeritz’ Interesse an einer Erneuerung der weitgehend isolierten spanischen Kunst der 1940er Jahre gipfelten in der Gründung der „Schule von Altamira“. An dieser waren ebenso der Kunstkritiker Pablo Beltrán de Heredia, der Literaturkritiker Ricardo Gullón und Ferrant als Mitglieder der einflussreichen Madrider Academia breve de crítica beteiligt. Die Schule verstand sich als Koordinationszentrum für zeitgenössische Kunst. Ziel war es, diese über alle Nationalismen zu stellen und „expressiv[e]“ Arbeiten „für eine kontinuierliche Ewigkeit“421 zu schaffen. 422 Der unmittelbare Kontakt mit den Höhlenmalereien bei Santander bestätigte Goeritz darin, die ,primitive‘ Malerei sei „ein völlig neues Konzept“423 und Altamira „die Sixtinische Kapelle der modernen Kunst“. 424 Die Maler seiner Schule sah er als „neue Urmenschen“ (nuevos prehistóricos), die „ersten von morgen“. 425 In der „Ersten Internationalen Woche zeitgenössischer Kunst“ von 1949 setzte sich die „Schule von Altamira“ zum Ziel, „herauszufinden, welche Bedeutung den Höhlenbildern von Altamira innewohnt und welches die Bindeglieder zwischen ihnen und unserer Gegenwart sind.“426 Dennoch grenzte Goeritz das Prinzip der Schule vom bloßen Kopieren der Höhlenmalereien ab und analogisierte stattdessen den Impuls der Mitglieder mit dem der Maler aus dem Paläolithikum: 214
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Sie versammeln sich in der Nähe Altamiras, weil sie im Allertiefsten ihrer Seele dieselben Impulse fühlen wie jene Hombre-niños (KinderMenschen), die die berühmten Bisons zeichneten und malten. 427
Mit der Einordnung von Barragáns Pedregal-Projekt in den ,Primitivismus‘ der „Neuen Prähistorik“ ein Jahr später schloss Goeritz, der von Mexiko aus in schriftlichem Austausch mit seinen Kollegen in Santillana del Mar stand, an die Ideen des europäischen Abstraktionsdiskurses an. An der ersten Ausführung der Arbeit Das Tier und von anderen Holzskulpturen um 1950 zeigt sich, dass Goeritz den ,primitiven‘ „Impuls“ im „Kunstwollen“, nach Worringers Interpretation von Riegls Terminus, aufgriff. 428 Das Verständnis vom Kollektiv bei Goeritz und den Vertretern der „Altamira“-Schule erscheint zunächst widersprüchlich. Die Gruppe, die die Höhlenmalereien als Gegenkonzept einer individualisierten Kunst verstand und an die Zusammenarbeit von Künstlern und Gesellschaft appellierte, 429 knüpfte mit ihrer Haltung an die gesellschaftsutopischen Intentionen der Frühzeit des deutschen Expressionismus und der Abstraktion an. Diese waren bereits 1912 miteinander in Verbindung gebracht worden. 430 Goeritz’ Pochen auf die der Abstraktion zugeschriebenen Charakteristika der Unabhängigkeit und Freiheit, 431 die nur kurze Zeit später zur Ideologisierung des Abstrakten Expressionismus eingesetzt wurden, 432 war ebenso am Vorbild der Expressionismusrezeption ausgerichtet. Die neue Kunstströmung war bereits 1911 als Auflehnung gegen bestehende Verhältnisse gelesen worden. 433 Ganz im Sinne von Sydows Interpretation des Expressionismus als – religiöser – Revolution 434 etablierte sich Goeritz’ Kunst in Mexiko als Ausdruck eines Traditionsbruchs durch Abstrahierung statt Figuration. Der „transnationale Geist“435 des Expressionismus, den man in den 1950er Jahren in den USA und Europa auch der Abstraktion zuschrieb, und die spirituelle Ausrichtung Goeritz’ grenzten sein Werk zusätzlich von der Nationalbewusstheit und Kleruskritik der späten mexikanischen Revolutionskunst ab. Die Vorstellung von Kunst als Schauplatz der Revolution, die den Geist des Expressionismus in der Weimarer Republik, aber auch der Wandmalereibewegung in Mexiko prägte, bedeutete hingegen eine Analogie zwischen beiden Strömungen und Arbeiten wie Das Tier, die sich in späteren Werken Goeritz’ noch verstärkte. Die Intention von Vertretern der „Novembergruppe“ von 1918, die Gesellschaft nicht nur vom Nationalismus, 215
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
sondern auch vom Kapitalismus zu befreien, wurde mit der Auftragsarbeit für eine mexikanische Oberschichtsiedlung in einer als ,national‘ definierten Landschaft jedoch ad absurdum geführt. Der religiöse Anklang der Arbeit Das Tier verweist vielmehr auf eine Anlehnung an metaphysisch ausgerichtete, frühe expressionistische Werke. Die Konnotation von Abstraktion und Expressionismus mit Freiheit und gesellschaftsverändernden Kräften bei Goeritz zeigt sich deutlich in dessen Manifest der „Emotionellen Architektur“ von 1953. Hier zitierte er die Architektur, in Bezug auf die modernen und expressionistischen Bauformen des Experimentalmuseums El Eco, als „Ausdruck des freien Schöpferwillens“436. Dieser Aspekt wird im Kapitel über das Werk Die Türme von Satélite ausführlich diskutiert. Auch die direkte Konfrontation mit prähispanischen Kunstzeugnissen bestärkte die ,primitivisierende‘ Ausrichtung von Goeritz’ Werk. Er experimentierte mit Holz und Eruptivgestein, wie in der Holzskulptur Denkmal für Orozco (1951, Abb. 121), deren abstrahierende Formen und grob wirkende Oberflächenbearbeitung im konservativen Guadalajara auf Ablehnung stießen. 437 Barragán dagegen schätzte Goeritz’ expressionistische Ausdrucksformen, 438 die dieser mit dem Verweis auf die gotische Kathedrale bereits zuvor angekündigt hatte. Die Auswahl der Tier-Skulptur und der Auftrag, diese in Beton als Eingangsplastik auszuführen, war damit logische Konsequenz dieses Interesses: Das Tier vom Pedregal spiegelt auf diese Weise, in seinem gegossenen Material und den kantigen Formen, zeichenhaft die von Barragán aufwändig inszenierte Lava sowie die geometrische Siedlungsarchitektur.
121. Mathias Goeritz: Monumento a Orozco, 1951. Holz, 115 x 54 x 50 cm, Sammlung Jorge Matute y Remus, Guadalajara, Jalisco
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III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
Das Tier: Wächter und Symbol von Los Jardines del Pedregal
Goeritz’ Skulptur wurde zeitgenössisch und in der neueren Rezeption als Wächter gelesen. 439 Tatsächlich steht Das Tier vom Pedregal, ähnlich Tempelwächterskulpturen an prähispanischen Kultstätten (Abb. 122), mit abwehrender Mimik am Siedlungseingang. Zugleich repräsentiert die Ikonographie der Plastik die ausgeschlossene, ,wilde‘ Fauna des Lavafeldes. Die wiederholte Deutung der Skulptur als Schlange muss in Frage gestellt werden. Das mit Verdickungen auf Schulter-, Hüft- und Schwanzhöhe ausgestattete Tier ähnelt tatsächlich vielmehr einer Echse. Interpretationen der Tier-Skulptur als Schlange schließen dagegen an die große Präsenz und Signifikanz der Quetzalcóatl-Ikonographie in der Revolutionskunst und den Wandbildern der Universitätsstadt an. Obwohl Barragán eine explizit luxuriöse Siedlung schuf und Goeritz ein an deren Ästhetik anschließendes Symbol lieferte, operierte letzterer auch mit Metaphern der Revolutionsideologie. So bezeichnete Goeritz Barragán in Bezug auf die Pedregal-Siedlung als den „mexikanischsten Architekten“ und als „Arbeiter-Architekt“. 440 Das expressionistisch abstrahierte Tier steht inhaltlich und formal in keinem Bezug zur klassenkämpferischen Analogie zwischen Quetzalcóatl und Marx in Riveras Geschichte Mexikos. Auch vom pädagogischen Quetzalcóatl in O’Gormans Bibliotheksmosaiken und Riveras Skizzen zum Stadionrelief weicht die Gestaltung der Arbeit maßgeblich ab. Dennoch wurde Das Tier als eines der prominentesten nationalen Symbole Mexikos, die Schlangenrepräsentation des mythologischen Herrschergottes Quetzalcóatl, rezipiert. Goeritz, der sich für die prähispanischen Quetzalcóatl-Darstellungen in den archäologischen Stätten Teotihuacan und Tenayuca begeisterte, 441 entleerte seine Echse jedoch von klassenkämpferischem Inhalt. Er konnotierte das Wahrzeichen der Privatsiedlung Los Jardines del Pedregal stattdessen mit Inhalten, die konträr zu den Zielen der Revolution stehen. Die Rezeption las und liest die abstrahierenden Formen von Das Tier nichtsdestotrotz als moderne Übersetzung der tradierten Schlangenikonographie. 442 Tatsächlich zeigt die Plastik eine neue Entwicklung in der mexikanischen Kunst auf: Die expressionistische Form und die Skulpturaussage bezeugen die Öffnung Mexikos. Zugleich nutzte Barragán mit dem Einsatz von Goeritz’ Skulptur für Los Jardines del Pedregal die for217
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
male Beschaffenheit des Werks auch für eine inhaltliche Konnotation seines Projekts mit den demokratischen Werten der frühen deutschen Abstraktion. Auf diese Weise schuf Barragán auch Vertrauen gegenüber internationalem Kapital, speziell bei US-Investoren. 443 Das Tier als entleerte Schlangenhülle und die Pedregal-Siedlung besitzen als Teil von Barragáns Werbekampagne, zu der auch die Musterhäuser der Siedlung und ein Vorführgarten zählen, Programmcharakter. Zur Bewerbung wählte Barragán die Fotografien Salas Portugals von der Skulptur, der Pedregal-Landschaft und den Häusern aus, die die Dramatik des Ortes am deutlichsten suggerieren. Er folgte damit seinen 1945 geäußerten Ideen zur Projektentwicklung. 444 Von der Tier-Skulptur setzte Barragán meist zwei Aufnahmen ein: eine aus einer hinter einem Baum liegenden Perspektive am Wasserbecken der Plaza de las Fuentes und eine weitere, die Salas Portugal aus kurzer Entfernung in Untersicht realisiert hatte (Abb. 123). Insbesondere letztere wurde, auf den Kopf der Skulptur verkürzt, für Anzeigen eingesetzt, die Barragáns, Contreras und Bustamantes Unternehmen in mexikanischen und US-amerikanischen Tageszeitungen und Magazinen zwischen 1948 und 1965 schaltete. 445 Barragán, der zwischen 1946 und 1952/1953 für die Werbekampagnen maßgeblich verantwortlich war, 446 setzte zudem einen Slogan ein, der die Siedlung als perfekten Wohnort auswies: „El Pedregal – der ideale Ort, um zu leben.“447 Aus Riveras der breiten Bevölkerung zugänglichen, „neuen Stadt“ war Barragáns „idealer Ort“ geworden, ein Privatheit, Intimität und Spiritualität suggerierendes, irdisches, aber bewachtes Paradies. Der hohe finanzielle Gewinn, den die Siedlung einbrachte, der letztlich aber auch die Aufgabe des angestrebten Landschafts- und Architekturverhältnisses und den Rückzug Barragáns aus dem Projekt bedeutete, basierte maßgeblich auf der Geschlossenheit der Anlage. Diese beruhte als eine der ersten auf dem Prinzip der gated community. 448 Die Situation der öffentlichen Kunst in der Pedregal-Siedlung hätte kaum unterschiedlicher zu jener in der Universitätsstadt sein können: Während die Künstler auf dem Universitätsgelände ihre Beteiligung mit ortsspezifisch entwickelten Arbeiten zunächst gegen die Widerstände der Campusplaner erkämpften, wählte Barragán mit Goeritz’ Skulptur Das Tier ein bereits existierendes Werk aus. Siqueiros, Rivera, O’Gorman und andere Künstler intendierten, mit ihren Arbeiten Öffentlichkeit herzustellen. Sie verbildlichten hier218
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
122. Pyramide von Tenayuca mit coatepantli, Chichimekisch/Toltekisch/Aztekisch, 1224-1521. Tenayuca, Bundesstaat Mexiko
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität 123. Mathias Goeritz: El Animal del Pedregal, 1951.
zu die Universitätsanliegen Wissensvermittlung und Forschung mit der eingesetzten Ikonographie und experimentellen Werk-BetrachterSituationen. Goeritz’ Skulptur unterstreicht im Unterschied dazu den geschlossenen Charakter der Wohnsiedlung. Auch wenn Barragán das zeitgenössische Nationale, ähnlich wie die Auftraggeber der Universitätsstadt, in Wissenschaft und Industrie verankert sah, interessierten ihn speziell daraus resultierende, neue Sichtweisen auf die Natur. 449 Goeritz’ religiöse Konnotationen in Form und Ausdruck der Skulptur Das Tier waren dagegen der Industrieablehnung des spirituell ausgerichteten, frühen Expressionismus in Deutschland geschuldet. Hierin griff Goeritz auch Riveras und O’Gormans späte, industriekritische Haltungen auf. Die Projekte gerieren sich zwar grundverschieden, weisen in einigen Aspekten, wie gezeigt, jedoch Parallelen auf. Zur Vermarktung des modernen Mexiko wurden beide sogar miteinander verbrämt. Die Zeitschrift Arquitectura México montierte 1959 in einer Anzeige, unter der Herausgeberschaft von Mario Pani und 220
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dem Titel „Die kulturelle und soziale Zukunft ihrer Kinder“450, eine visuelle Einheit aus der Pedregal-Siedlung und der Universität (Abb. 124). Ein weißes Kind in Cowboyhemd, das einen Bären zeichnet, wurde per Fotomontage zwischen den Rektoratsturm mit Siqueiros’ Das Volk an die Universität, die Universität an das Volk und eine emblematische Pedregal-Villa gesetzt. Ein Jugendlicher, der die mögliche Zukunft des kleinen Jungen zu personifizieren scheint, betrachtet das Wandbild.451 Den Kindern aus wohlhabenden Familien sollte der Pedregal demnach „das distinguierteste gesellschaftliche Ambiente zum Leben und Ausbildungsmöglichkeiten an den wichtigsten Schulen“452 bieten. Offensichtlich ging es Pani darum, jene gut situierte Klientel, die ihre Kinder statt auf öffentliche vorzugsweise auf private und US-amerikanische Schulen schickt, an die Universität und den Pedregal zu binden. Zu diesem Zweck überbrückte er konzeptionelle Differenzen zwischen dem öffentlichen Bildungsprojekt und der exklusiven Siedlung mit einem beide verbindenden Kind. Kinder waren – nicht nur – im Alemanismo beliebte Identitätsträger der Fortschritts- und Modernitätsrhetorik. 453
124. Anonym: El futuro cultural y social de sus hijos, Zeitungsanzeige, Arquitectura México, Nr. 67, September 1959
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Hatte Alemán in seinem Regierungsplan von 1945 eine Verbesserung der Lebensqualität in Mexiko durch Bildung und Forschung angekündigt, 454 belegte die Anzeige in der Publikation seines Chefurbanisten, was die Präsidentenbesuche auf den Universitätsbaustellen und bei den Arbeiten an der Pedregal-Siedlung (Abb. 125) suggeriert hatten: Die Regierung suchte ein Emblem, das das „mexikanische Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre repräsentierte. Die Universitätsstadt erfüllte als Alemáns persönliches Projekt diese Aufgabe gemeinsam mit dem dort eingesetzten Kunstprogramm. Die eigentliche Repräsentation der Utopie des Alemanismo ist jedoch das inszenierte Lavafeld. Die Anzeige in Arquitectura México legte die staatliche Propaganda von der Verbesserung der Lebensverhältnisse aller durch das staatliche Massenprojekt und das Werben um Studenten aus wohlhabenden Familien und Investoren offen. Die Präsidentenbesuche auf dem Universitätscampus und in Los Jardines del Pedregal sowie die Anzeige bezeugen zentrale Aspekte der Alemánschen Unternehmungen: Ein als unbesiedelbar geltender Ort wurde zunächst bezwungen und die Peripherie in der Folge als Aushängeschild des industrialisierten Mexiko etabliert.
125. Armando Salas Portugal: Präsident Miguel Alemán und Luis Barragán im Pedregal, ca. 1948. Barragán Stiftung, Birsfelden
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III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
Mario Panis Ciudad Satélite und die Skulpturengruppe Die Türme von Satélite von Mathias Goeritz und Luis Barragán
Der Ausbau der mexikanischen Peripherie erhielt mit dem Bau der Vorstadt Ciudad Satélite (1956-1958, Abb. 126), 14 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt, eine neue Richtung und Dimension. 455 Mario Pani, der, als Leiter des Planungsbüros für Urbanismus des staatlichen Banco Internacional Inmobiliario, 1956 von Präsident Adolfo Ruiz Cortines mit dem Projekt beauftragt wurde, entwarf eine Vorstadt auf 800 Hektar Land für 150 000 bis 200 000 Einwohner, die als Wohnort für Angestellte der nördlich der Hauptstadt gelegenen Industrieanlagen gedacht war. 456 Im Unterschied zu Barragáns Los Jardines del Pedregal de San Ángel im Süden von Mexiko-Stadt war das moderne urbanistische Konzept von Ciudad Satélite nicht als Vorort mit Anbindung an das Zentrum gedacht, sondern als „neue Stadt“ mit eigener Infrastruktur. Pani entwickelte hierfür seine Großsiedlungskonzepte der Multifamiliares Miguel Alemán und Benito Juárez für die mittlere und obere Mittelschicht weiter: Während diese als Wohnanlagen innerhalb der Stadt entstanden, reagierten die Planer mit der Satellitenstadt außerhalb der Hauptstadtgrenzen auf die zugespitzten Probleme der Metropole, die seit den 1930er Jahren explosionsartig gewachsen war. Rivera hatte die kritischen Punkte bereits in seinem Traktat von 1935 zur „Neuen Stadt“ benannt: das Absinken des Wasserspiegels sowie die Erdbebengefährdung und die damit verbundenen hohen Baukosten in der Hauptstadt. 457 Mit der Beschleunigung der Industrialisierung und der daraus resultierenden Landflucht intensivierten sich die Probleme der Hauptstadt in den 1940er Jahren zusätzlich. 458 Panis Vorschlag war eine „Stadt außerhalb der Stadt“459, für die er, ähnlich dem Multifamiliar Benito Juárez, ein Mischkonzept aus Ein- und Mehrfamilienhäusern sowie Hochhäusern vorsah. Einerseits plädierte er für eine stärkere Vertikalisierung der Hauptstadt, um der grassierenden Flächenausdehnung zu begegnen. Andererseits sollte die spanische Tradition in Mexiko mit eher niedriger Bebauung respektiert werden. Panis urbanistischer Beitrag zu Mexikos Moderne ging dabei von höchst traditionellen, baulichen Voraussetzungen aus: Während beispielsweise Le Corbusier – als Leitbild Panis – für die Ville Radieuse (1937) 3000 Einwohner pro Hektar vorgesehen hatte, bewohnten in Mexiko-Stadt allein 150 Menschen die gleiche Fläche. 460 223
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
126. Mario Pani: Ciudad Satélite, 1957. Masterplan
Eine „mexikanische Lösung“ für die problembelastete Hauptstadt
Ciudad Satélite sollte Lösungen für die Wasser-, Verkehrs- und Wohnraumproblematik der Hauptstadt bieten:461 Die Millionenstadt wurde noch 1950 von einem Wassernetz versorgt, das 1913 für damals 370 000 Einwohner geschaffen worden war. Zur Planungszeit von Ciudad Satélite wurden jedoch bereits natürliche Quellen der Umgebung zur Wasserversorgung der Hauptstadt genutzt, was zu einem Absinken des Bodenniveaus in Mexiko-Stadt um bis zu 40 Zentimeter jährlich führte. Zudem war die Pumpkapazität für eine flächendeckende Wasserversorgung nicht mehr ausreichend.462 Pani stellte für Ciudad Satélite ausreichend Wasser in Aussicht – ein Versprechen, das auch das 1957 bei Barragán in Auftrag gegebene, 224
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öffentliche Kunstwerk für die Siedlung ursprünglich symbolisieren sollte. Mit der Auslagerung der Satellitenstadt und ihrer Anbindung an die westliche Umgehungsautobahn von Mexiko-Stadt, Periférico, wollte man ferner dem erhöhten Verkehrsauf kommen begegnen.463 Eine weitere Maßnahme in diesem Sinne war die Nutzungsmöglichkeit der einzelnen Sektionen von Ciudad Satélite zu Fuß. Autos sollten lediglich zur Anfahrt der Siedlung sowie zum Besuch des zentral angelegten Versorgungsnukleus’ aus Einkaufscenter, Tankstellen, Freizeitbereichen und Ärztezentrum benutzt werden. Mit dem Errichten von neuem Wohnraum plante Pani, den zu geringen staatlichen Investitionen auf diesem Gebiet Abhilfe zu verschaffen. 464 Sein Projekt war als Vorschlag für eine Reihe ähnlicher Vorstädte und als Zwischenlösung gedacht, bis die mexikanische Regierung dauerhafte Lösungen für die Migration vom Land in die Metropolen fände. 465 Die in Erwägung gezogene Übertragung von Le Corbusiers Konzept der Ville Radieuse auf die mexikanische Hauptstadt, für die Errichtung einer neuen, den zeitgenössischen Ansprüchen angemessenen Stadt die bestehende Metropole abzureißen, lehnte Pani jedoch ab. 466 Seine „Stadt außerhalb der Stadt“ steht vielmehr im Kontext des Infrastrukturausbaus und der Modernisierung Mexikos. 467 Tatsächlich wirkt die Siedlung wie ein mexikanischer Modernitätsbeweis und die Skulpturengruppe Die Türme von Satélite (19571958, Abb. 127), die Barragán und Goeritz, unter Beratung des Malers „Chucho“ Reyes (1880-1977), für den Südeingang der Siedlung schufen, als weithin sichtbares Wahrzeichen. Paradoxerweise brachte der Erfolg von Ciudad Satélite neue Probleme mit sich: Er führte dazu, dass weitere Siedlungen für die Mittelschicht, deren Vertrauen Präsident Ruiz Cortines mit dem Massenwohnungsbau zurückgewinnen wollte, 468 entlang des Periférico errichtet wurden. Die ehemalige Vorstadt Ciudad Satélite wurde so bereits nach kurzer Zeit Teil der Hauptstadt. 469 Ciudad Satélite wurde als Siedlung mit heterogener Struktur angelegt: Die zwölf bis 14 Hektar großen Siedlungsteile auf organischem Grundriss, westlich und östlich der Stadtautobahn, setzen sich aus Einfamilienhäusern mit relativ großen Grundstücken am äußeren Rand, Reihenhäusern in der mittleren Zone und mehrstöckigen Wohnblocks im Siedlungskern zusammen. 470 Seit ihrer Errichtung ist Ciudad Satélite organisch gewachsen und wurde entlang des Periférico 225
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
127. Mathias Goeritz, Luis Barragán und Jesús „Chucho“ Reyes Ferreira: Las Torres de Satélite, 1957-1958. Armierbeton, fünf gleichschenklige Hohlkörper Grundflächen: 35 x 35 x 8 m, 20 x 20 x 7 m, 18 x 18 x 8 m, 17 x 17 x 7 m und 9 x 9 x 7 m, Höhen zwischen 37 und 57 m, Ciudad Satélite, Mexiko-Stadt
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mit mehreren Einkaufscentern bebaut. Die originale Siedlungsstruktur und -architektur (Abb. 128) ist heute nur noch eingeschränkt erkennbar und heterogen durchmischt. Wenige Abschnitte waren als reine Wohnviertel ohne eigene Infrastruktur geplant. In den Zentren der meisten, gemischten Sektionen befanden sich dagegen Versorgungseinheiten mit Schulen, Verwaltung und Einkaufsmöglichkeiten für den alltäglichen Bedarf der rund 3000 Bewohner eines jeden Siedlungsabschnitts. Bereits in diesem Punkt unterscheidet sich Ciudad Satélite maßgeblich von der Villensiedlung Los Jardines del Pedregal, die ausschließlich als Wohngebiet geplant war. Der Zugang zu den Siedlungssektionen erfolgt über Umgehungsstraßen. Diese verzweigen sich vom Periférico aus ohne Kreuzungen nach dem von Herrey entwickelten Straßenprinzip, das schon in der Universitätsstadt angewandt wurde. 471 Die Reihenhäuser und Wohnblocks liegen zu einem Großteil an Sackgassen. Am Nord- und Südzugang zur Siedlung entstanden zwei Plätze, die die Durchfahrtsgeschwindigkeit der Autos zunächst reduzierten und auf derem südlichen Platz Barragán und Goeritz ihre Turm-Skulpturen errichteten. 472
128. Mario Pani: Mehrfamilienhäuser in Ciudad Satélite, 1957. Ciudad Satélite, Distrito Federal
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Mit den heterogenen Wohnformen sollte zum einen eine Mischung der sozialen Schichten erreicht werden. 473 Zum anderen setzten sich die Siedlungserbauer zum Ziel, die Organisation und den Verbandcharakter mexikanischer Kleinstädte für die Zuwanderer vom Land auch in der Peripherie der Metropole zu erhalten: Als sozialer Wert tendiert die organische Lösung, die Wohnelemente kombiniert, dazu, in der Zukunft eine Gesellschaft zu organisieren, indem sie auf dem gemeinsamen Vorsatz basiert, Probleme ohne persönliche Bevorzugungen, ohne Partikularismen und ohne Segregationen zu lösen. Damit soll versucht werden, den Verbandsgeist, der früher existierte und in vielen unserer kleineren Städte noch existiert, zu erhalten, zu bestärken und zu schützen. 474
Obwohl ein Projekt des industrialisierten Mexiko, das den wirtschaftsliberalen Kurs der Alemán-Regierung fortsetzte, klingen selbst in Panis Herauf beschwörung von Tradition und Gleichberechtigung die gesellschaftsverbessernden Intentionen der Mexikanischen Revolution an. Vorbilder für Ciudad Satélite waren verschiedene urbanistische Modelle aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Anlage der Vorstadt an einer Verkehrsschneise, die Ciudad Satélite mit dem Zentrum der Hauptstadt verbindet, lehnt sich an das Konzept der Gartenstadt Ciudad lineal an. Dieses hatte der spanische Städteplaner Arturo Soria y Mata (1844-1920) in den 1890er Jahren für die Peripherie von Madrid entworfen. 475 Industrie- und Wohneinheiten wurden hier konzentrisch um das Stadtzentrum errichtet und mit Versorgungszentren ausgestattet. Sowohl die Idee eines eigenen Gartens für einen Großteil der Bewohner als auch die Intention einer sozialen Mischung übernahm Pani von Soria y Matas Ciudad lineal. 476 In ihrer Intention, Optimierungen von Wohnraum, Verkehrsentlastung und Erholung der Großstädter zu erreichen, ähnelt Panis Ciudad Satélite Le Corbusiers Konzept der Ville Radieuse. 477 Die Anlage in nach Funktionen getrennten Sektionen und die vergleichsweise niedrigen Häuser beziehen sich dagegen auf die superblock-Anlagen der Gartenstädte von Henry Wright und Clarence Stein in den Peripherien US-amerikanischer Großstädte der 1920er Jahre. 478 Wie Le Corbusier in Paris war Pani daran interessiert, den Verkehr im Stadtzentrum zu entzerren und dort die Baudichte zu erhöhen. Mit der 228
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Errichtung der 182 Meter hohen Torre Latinoamericana (1954-1955, Abb. 129) als höchstem Gebäude Lateinamerikas wurde ein entscheidender Schritt in diese Richtung in Mexiko getan. 479 Das Vorhaben, Neubauten im Altstadtzentrum grundsätzlich stärker vertikal als horizontal auszurichten, wurde jedoch nicht realisiert. Gleichzeitig erhöhte man die Anzahl der öffentlichen Transportmittel. Die Schaffung von mehr begrünten Erholungsflächen endete dagegen in der Planungsphase. Während Le Corbusier als Errichtungsort für die Ville Radieuse Paris vorsah, das hierfür zerstört werden sollte, verlagerte Pani die „neue Stadt“ außerhalb der historischen Stadt. Für deren Realisierung berücksichtigte er im Unterschied zu Le Corbusiers Hochhausplänen für Paris die mexikanische Tradition einer niedrigen Bebauung. 480 Pani sah die Bebauung der Peripherie als – einzig mögliche – Übergangslösung an: Wir sind inzwischen viele, die glauben, dass es nur eine erfolgreiche Lösung gibt, bis die höchste staatliche Entscheidung ein Mittel für das unglaubliche Migrationsphänomen findet, in dem die Probleme der modernen Stadt liegen. Diese Lösung hat einen Namen: Die Stadt außerhalb der Stadt. 481
Im Unterschied zu Barragáns Los Jardines del Pedregal wurde Ciudad Satélite in der Tradition der griechischen polis erdacht. In der „Stadt außerhalb der Stadt“ sollte man nicht nur wohnen, sondern auch seinen Alltag verbringen: Schulbesuch, Einkäufe und Verwaltungsgänge waren im Sinne eines politischen Lebens innerhalb der Gemeinschaft geplant. Die vida política, das öffentliche Leben einer Gemeinschaft aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, das Pani in seiner Abhandlung über Ciudad Satélite skizzierte, stellte er – ganz in der Rhetorik Vasconcelos’ – als oberstes Ziel dar, gemäß den „drei historischen Stadien des menschlichen Fortschritts [...]: das Haus, die Stadt, die offene Welt.“482 Pani reihte sich damit in die urbanistischen Konstruktionsversuche eines neuen, sozialgerechten Mexiko. Diese dienten spätestens seit der unter Alemán entstandenen Universitätsstadt dazu, dem mexikanischen Wirtschaftsliberalismus ein egalitäres Antlitz zu verleihen. Mit der neuen, autark wirkenden Siedlung in der Tradition der polis schuf Pani dennoch eine Vorstadt, die die Nachteile der Peripherie, die 229
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129. Leonardo Zeevaert und Augusto H. Álvarez: Torre Latinoamericana, 1954-1955. Ecke Avenida Madero/San Juan Letrán, Mexiko-Stadt
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Isolation ihrer Bewohner jenseits des politischen Lebens im Zentrum, zu vermeiden versuchte. 483 Mit dem neuen Wohnraum und dessen Infrastruktur begegnete man in Ciudad Satélite dem Rückzug der Bewohner aus dem öffentlichen Leben, die gated communities wie die Siedlung Los Jardines del Pedregal mit sich bringen. Obwohl als Retortenstadt geplant, mischten sich in Panis urbanistischem Experiment zumindest anfänglich unterschiedliche soziale Schichten. Dennoch konnte nicht verhindert werden, dass das dortige, künstlich hergestellte öffentliche Leben isoliert von der Hauptstadt stattfand. Deren Identität stiftender Kern war und ist weiterhin die Altstadt im Zentrum, speziell der Zócalo. 484 Im Unterschied zum Pedregal war das Land, auf dem Ciudad Satélite errichtet wurde, kein national konnotiertes Terrain. Die Ortswahl, in der Nähe zahlreicher Industrieanlagen nördlich der Hauptstadt, begründete Pani mit der Lage an der Autobahn, die westlich an der Hauptstadt entlang und südöstlich aus dieser hinausführte. 485 Diese Lösung vermittelte er als spezifisch „mexikanisch“: Ohne falsche Bescheidenheit beanspruchen wir die Tatsache, dass es sich um eine mexikanische Lösung handelt, eine Lösung für Mexiko, für unser Medium gedacht, konzipiert und projektiert, von der wir jede exotische Tendenz ferngehalten haben, als Originalität von Plan und Projekt. 486
Über eine architektonische „mexikanische“ Lösung mit niedrigen Gebäudetypen hinaus wurde auch die Autobahn selbst als überregionale Verkehrsachse zum Zeichenträger einer ,nationalen Einheit‘. Der Periférico ist im Unterschied zur Insurgentes zwar keine panamerikanische Straße. Er bildet aber die Fortsetzung der Autobahn, die von der Grenze zu den USA über Monterrey, San Luis Potosí und Querétaro kommend ehemals an Mexiko-Stadt vorbeiführte und die Stadt heute durchschneidet. Ähnlich der Universitätsstadt trägt so auch die geographisch verbindende Lage von Ciudad Satélite zu einer ,nationalen Einheit‘ bei. Statt eines bereits national konnotierten Ortes wie dem Lavafeld im Pedregal wertete Ciudad Satélite allerdings einen Nicht-Ort auf, 487 der primär durch seine günstige Verkehrsanbindung ins Visier der Stadtplaner gerückt war. Die Vorstadt Ciudad Satélite und die Siedlung Los Jardines del Pedregal zeigen, wie sich die urbane Peripherie in weniger als zehn Jahren 231
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als Ort der mexikanischen Moderne etablierte. Im Pedregal erfolgte dies über die bauliche Erschließung einer als ,national‘ gehandelten Landschaft. Im Fall von Ciudad Satélite repräsentierte die Autobahn, die als Verbindung zwischen Zentrum und Vorstadt und zugleich zwischen Provinz und Hauptstadt fungierte, Modernität und nationale Einheit. Weit sichtbar verwies Barragáns und Goeritz’ Turm-Wahrzeichen auf die suburbane Modernität.
Die Türme von Satélite als moderne Zeichen?
„Pylonen“, „Obelisken“, 488 Wolkenkratzer – die Türme von Satélite sind sowohl als Emblem mit Traditionsbezug als auch als Zeichen moderner Urbanität rezipiert worden. Die hoch aufragende Turmgruppe stand bereits mehrere Monate, bevor die Satellitenstadt vollendet war, wie Fotografien in Panis Artikel von 1957 zeigen (Abb. 130): Die fünf prismatischen, zwischen 37 und 57 Meter hohen Türme ragen dort auf einer ovalen, rund 80 Meter langen Verkehrsinsel, um die der zunächst sechsspurige Periférico zur Geschwindigkeitsreduzierung geführt wurde, weithin sichtbar heraus. Die Umgebung des weitläufigen Areals, ein nach Norden ansteigendes, hügeliges Gelände, bestand zur Zeit der Werkentstehung noch aus Wiesen und Feldern. Allein spärliche Siedlungen zwischen den Industrieanlagen und der entstehenden Vorstadt unterbrachen die weite, zumeist landwirtschaftlich genutzte Fläche. Die schleifenförmige Straßenanlage nach dem Herreyschen System, die zuerst gebaut wurde, gab der Fläche eine urbane Struktur, die den Charakter von Ciudad Satélite in den Fotografien von 1957 als auf dem Reißbrett entstandene Retortenstadt unterstreicht. Mit der öffentlichen Kunst erhielt Ciudad Satélite ein Symbol von „weiter Sichtbarkeit und kommerzieller Attraktivität“. 489 Für dessen Ausführung verpflichtete man mit Barragán einen Erfolgsgaranten, dessen Pedregal-Siedlung Mitte der 1950er Jahre bereits gewinnträchtig vermarktet wurde. 490 Nach der Auftragsvergabe 1956 zog Barragán im Januar darauf Goeritz und wenig später „Chucho“ Reyes als Farbberater für die Platzgestaltung hinzu. 491 Goeritz und Barragán schufen mit den Türmen von Satélite die erste vollabstrakte öffentliche Skulptur in Mexiko, die sich bis heute als höchste architektonische Struktur über der bebauten Umgebung er232
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hebt. 492 Die fünf Türme aus Stahlbeton bestehen aus zwischen neun und 35 Meter langen, gleichschenkligen Dreiecksbasen. Diese sind mit dem spitzen Winkel nach Süden zur Stadtmitte ausgerichtet und stehen in unterschiedlichen Abständen parallel zueinander. Die rauen Oberflächen der Plastiken weisen in regelmäßigen Abständen horizontale, auskragende Strukturen auf, die nach Abnahme der für den Betonguss angebrachten Holzverschalungen stehen geblieben sind. Aus der Ferne betrachtet erinnern sie an Fensterbänder von Hochhäusern. 493 Die Türme von Satélite sind seit 1991 von Westen nach Osten blau, weiß, gelb, rot und weiß gestrichen. 494 Sie sind von einer heterogenen urbanen Struktur aus niedrigen Gebäuden, Werbetafeln und Einkaufszentren umgeben und stehen damals wie heute in keinem unmittelbaren optischen Bezug zur Siedlungsarchitektur. Die Betrachter umfahren die Turmgruppe im Bus oder Auto und nehmen sie dabei aus sich verändernden Perspektiven wahr. Die wahrgenommenen Skulpturhöhen verschieben sich beim Annähern. Auch das Verhältnis der Türme zueinander verändert sich, einschließlich ihrer Formen: Aus der Stadt nach Norden hinausfahrend wirken sie wie spitzwinklige Prismen, aus der seitlichen Perspektive wie tiefenlose Wände und beim Blick in den Rückspiegel bzw. beim Hineinfahren in die Stadt von Norden wie quaderförmige Hochhausblocks (Abb. 131). Barragán plante zunächst einen Springbrunnen für den südlichen Vorplatz von Ciudad Satélite, da sein Auftraggeber Pani ein Wahrzeichen forderte, das eine umfassende Wasserversorgung der Siedlung symbolisierte. 495 Die Idee, architektonische Strukturen in die Platzgestaltung zu integrieren, stammt dagegen von Goeritz. 496 Das in Panis frühem Artikel über Ciudad Satélite veröffentlichte Modell zeigt den ersten Entwurf vom Januar 1957 (Abb. 132). Goeritz und Barragán sahen demnach mehr als 30 Türme unterschiedlicher Höhen und Formen für den Platz vor, der durch zwei ansteigende, über Treppen verbundene Plattformen gegliedert werden sollte. 497 Die fünf höchsten Türme in prismatischer Form entsprachen der Gestalt und Relation der später realisierten Plastiken. Die kleineren Strukturen, die in Dreier- bis Neunergruppen gegliedert wurden, glichen dagegen flachen Menhiren mit unregelmäßig geformten Seiten. An der Südseite war auf der ersten Terrasse ein rechteckiges Wasserbecken vorgesehen, ein Relikt von Barragáns Springbrunnenidee. Im März 1957 reduzierten Goeritz und Barragán die Skulpturengruppe auf sieben 200 Meter und höher geplante Türme in einer Zweier233
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität 130. Mathias Goeritz, Luis Barragán und Jesús „Chucho“ Reyes Ferreira: Las Torres de Satélite, 1957 (in Errichtung). Ciudad Satélite, Distrito Federal
131. Mathias Goeritz, Luis Barragán und Jesús „Chucho“ Reyes Ferreira: Las Torres de Satélite, 1957 (Ansicht von Norden). Ciudad Satélite, Distrito Federal
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III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie 132. Mathias Goeritz, Luis Barragán und Jesús „Chucho“ Reyes Ferreira: Las Torres de Satélite, 1957 (Modell)
und einer Fünfergruppe. In dieser ersten Überarbeitung sahen sie weiterhin drei Ebenen vor. Im letztendlich realisierten Entwurf mit fünf unterschiedlich hohen Türmen, die aus Kosten- und Statikgründen insgesamt niedriger gebaut wurden, berücksichtigten sie dieses Vorhaben nicht mehr. 498 Die Türme von Satélite entstanden so ohne Terrassierung und unmittelbar sichtbaren Wasserbezug. Stattdessen wurden die Plastiken ohne Dachabschluss, zunächst als Wasserspeicher gedacht, auf dem eingeebneten, nach Norden ansteigenden Gelände errichtet. In frühen Plänen hatten Goeritz und Barragán ferner in jedem Turm eine Flöte vorgesehen, deren Erklingen durch den einfallenden Wind die Aufmerksamkeit der Passanten zusätzlich auf die Skulpturengruppe lenken sollte. 499 An der Ausführung der Türme von Satélite lässt sich Goeritz’ Faszination für die Hochhaussilhouette von Manhattan ablesen:500 Je nach Perspektive schwankt deren Wahrnehmung durch den sich im städtischen Gefüge bewegenden Betrachter von massiven Hochhäusern zu flachen, wandartigen Architekturen. Dies gilt insbesondere für das Flatiron-Building (1903, Abb. 133) auf spitzwinkligem Dreiecksgrundriss, dessen Wirkung Goeritz’ und Barragáns Turmgruppe aufruft. Goeritz interessierte sich schon vor seinem ersten New York-Besuch 1956 für Turmformen. Bereits 1952/1953 hatte er eine turmähnliche Struktur geschafffen: die Gelbe Wand (1952/53, Abb. 134), eine frei stehende Wandskulptur im Museum El Eco501 in Mexiko-Stadt.502 235
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität 133. Daniel H. Burnham: Fuller („Flatiron“) Building, 1903. Ecke Broadway/5th Av., Lower Manhattan, New York
Die zwölf Meter hohe, schmale Plastik auf trapezförmigem Grundriss befindet sich im Innenhof des von Goeritz entworfen Museums. Ursprünglich stand sie der schwarzen, abstrakten Metallskulptur Die Schlange (1952/53, Abb. 135) von Goeritz gegenüber, deren Kopie sich heute vor dem Museum für Moderne Kunst in Mexiko-Stadt befindet. Beide Skulpturen überragten die Mauer, die den Hof zur Straße abschließt; die Gelbe Wand um mehr als ein zweifaches. El Eco war als ein so genanntes „Experimentalmuseum“ für Ausstellungen, Tanz- und Theateraufführungen mit integrierter Bar geplant. Sein Auftraggeber Daniel Mont, ein mexikanischer Unternehmer, gab dem Künstler freie Hand für den Entwurf. Goeritz nutzte die Gestaltungsfreiheit, um eine Architektur in unterschiedlichen geometrischen Formen zu schaffen. Innen laufen, ähnlich expressionistischen Filmsettings, Seitenwände spitzwinklig aufeinander zu. Die Fußböden scheinen anzusteigen. Im gesamten Museum, das nach über 40-jähriger Schließung saniert und 2005 wiedereröffnet wurde,503 gibt es kaum rechte Winkel. 236
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
Am Ende des schmalen Flures im Erdgeschoss wurde einst der Blick auf eine Wandbildskizze frei, die Henry Moore für den Hauptausstellungsraum entworfen hatte. An diesen schließt der ungleichmäßig geschnittene Innenhof an, in dem bis heute die Gelbe Wand steht. Museum und Skulptur zeugen von Goeritz’ künstlerischer und theoretischer Verankerung in der europäischen Avantgarde: Die geometrische Trapezform und gelbe Farbgebung der Plastik im Hof sprechen von seinem Interesse an Elementarformen und -farben, die die Architekturlehre des Bauhauses und die niederländische De StijlBewegung vertraten. Die klaustrophobische Raumwirkung des Flures und Moores ausdrucksstarke Skizze zeugen von Goeritz’ Beeinflussung durch den deutschen Expressionismus. Im Unterschied zu frei stehenden Wänden, wie jener Mies van der Rohes aus hochwertigem Onyx im Barcelona-Pavillon (1929/1987, Abb. 136), schien Goeritz zudem das kostengünstige Material Beton zu interessieren. Während Mies die Barcelona-Wand mit parallel zueinander stehenden Seiten aus dem ornamental wirkenden Stein schuf und
134. Mathias Goeritz: El Muro amarillo, 1952/53. Armierbeton, Farbe, Höhe: 12 m, Erbengemeinschaft Musquiz, Mexiko-Stadt
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
135. Mathias Goeritz: La Serpiente, 1952/53. Stahl, Farbe, 515 x 931 x 486 cm, Museo de Arte Moderno, Mexiko-Stadt
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III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
136. Ludwig Mies van der Rohe: Barcelona-Pavillon, 1929 (Rekonstruktion von 1987, Detail). Wand: Grüner Onyx, Messegelände, Barcelona
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
sie frei vor verchromte tragende Stahlstützen stellte, erzielte Goeritz eine fast gegenteilige Wirkung. Die Gelbe Wand besteht wie die Museumsarchitektur aus dem industriell hergestellten Material Beton und bezieht ihre Exponiertheit, statt über einen Materialkontrast, über ihre Farbe und Größe sowie die selbsttragende Struktur. Obwohl wie die frei stehende Wand in Barcelona funktionslos, ist Goeritz’ Skulptur vielmehr auf den Aspekt der Industrialisierung in der Moderne bezogen, von dem Mies seine Arbeit mit dem hochwertigen natürlichen Material Onyx absetzte. Diese Tendenz arbeitete Goeritz später in den Türmen von Satélite weiter aus. Die Skulpturen am Eingang zur Vorstadt waren, wie frühe Skizzen zeigen, ebenso zuerst auf Trapezbasis geplant. Im Entwurfsprozess wurden sie jedoch zu Prismen überarbeitet (Abb. 137). Erneut wurde Goeritz’ Orientierung an expressionistischer Architektur deutlich:504 Der dreieckige Turm-Grundriss und die aus der Frontal- und Seitenansicht aufstrebenden Prismenspitzen rufen die Wirkung von Architekturutopien des frühen 20. Jahrhunderts wie Mies’ Entwurf für ein Bürogebäude an der Berliner Friedrichstraße (1921, Abb. 138) auf. Ähnlich Mies’ geplanter Ausführung ist auch an den Türmen von Satélite die Konstruktion sichtbar. Während Mies nach den Prinzipien der Gläser-
137. Mathias Goeritz: Las Torres de Satélite, 1957. Vorstudie. Weitere Daten nicht bekannt
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III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
138. Ludwig Mies van der Rohe: Entwurf für ein Bürogebäude an der Berliner Friedrichstraße, 1921 (erste Fassung). Kohle und Bleistift auf Papier, 173,5 x 122 cm, Museum of Modern Art, New York
nen Kette transparente Glasfassaden für Gebäudeeinsichten auf die tragenden Elemente plante,505 nutzten Goeritz und Barragán die Opazität des Stahlbetons, um die Konstruktion statt im Innern der Architektur an den horizontalen Verschalungskrusten ablesbar zu machen. Als Skulpturengruppe sowie durch ihre Höhe und Positionierung auf dem ansteigenden Gelände erfüllen Die Türme von Satélite die Funktion einer modernen Stadtkrone. Diese hatten bereits die Mitglieder der Gläsernen Kette in ihrem Rekurs auf die gotische Kathedrale als „Universalbeispiel“ für „alle kultischen Bauten“506 und Mittel- und höchsten Punkt der mittelalterlichen Stadt hervorgehoben. Goeritz, der sich in dem anlässlich der Eröffnung von El Eco 1953 erschienenen Manifest der Emotionellen Architektur explizit auf sakrale Architektur wie griechische Tempel und Kathedralen bezog,507 schuf mit den Türmen eine Art Tor zur „Stadt außerhalb der Stadt“. Die funktionslosen architektonischen Strukturen lösen über die Fensterbandwirkung der Verschalungsspuren jedoch ebenso Assoziationen mit den „Tempeln der Neuen Welt“508 aus, wie Le Corbusier die Wolkenkratzer New Yorks nannte. 241
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Mit der Gegenüberstellung von kleinen Strukturen und hoch aufragenden Elementen arbeitete Goeritz bereits in der modellhaften Skulpturengruppe Hier und dort (1954-1955, Abb. 139). Auf der kleinformatigen hölzernen Plattform, die Goeritz 1956 in der New Yorker Carstairs Gallery ausstellte,509 stehen sich drei aus Holz geschnitzte Turmgruppen einander gegenüber. Diese verjüngen sich nach oben und besitzen unregelmäßige Oberflächen. Die niedrigen, in zwei Gruppen gegliederten Elemente sind rosafarben polychromiert und kontrastieren mit den eng zueinander stehenden, hohen Strukturen in Grau. Dietrich Clarenbach liest die niedrigeren Formen als Stellvertreter für die mexikanische Populärarchitektur und assoziiert die hohen dagegen mit der vertikalen Urbanität US-amerikanischer Metropolen, insbesondere mit Manhattan.510 Bei den Türmen von Satélite wiederholt sich ein ähnlicher Größenkontrast zwischen der hoch aufragenden Skulpturengruppe und der niedrigen, wenn auch im Werkkontext nicht unmittelbar wahrnehmbaren Siedlungsarchitektur. Schon in einer früheren Skulpturengruppe brachte Goeritz, der in anderen, gleichzeitig enstandenen Werken grob bearbeitete, menschliche Figuren schuf, die die Form des Holzes erkennen lassen, Polychromie und hohe architekturartige Elemente zusammen. Die Arbeit Stadt der sieben Türme (1956)511 besteht aus sieben grob geschnitzten
139. Mathias Goeritz: Aquí y allá, 1954-1955. Polychromiertes Holz, 75 x 53 x 52 cm, Sammlung T. Creighton, New York
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III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
140. Mathias Goeritz: Torres de Temixco, 1957-1958. Beton, Stahl, Farbe, fünf Skulpturen auf Dreiecksbasis, Höhen: 428, 482, 363, 420 und 380 cm, eine Skulptur auf quadratischer Basis, Höhe: 469 cm; eine Skulptur auf kreisförmiger Basis, Höhe: 405 cm; Temixco, Morelos
Holzelementen, die sich nach oben unterschiedlich verjüngen. Die verschiedenfarbig bemalten Strukturen stehen in unregelmäßigen Abständen auf einer Holzbasis. Sie weisen ein Größenverhältnis in Zentimetern auf, das Goeritz und Barragán in den fünf Türmen von Satélite in Meterskala umsetzten. Auch wenn die unregelmäßigen Kanten von Hier und dort in den Türmen von Satélite in gerade Seiten und gleichschenklige Prismen übersetzt wurden, ist die Reduktion auf eine Skulpturengruppe aus hohen, polychromierten Elementen vorbildhaft für die später realisierte, öffentliche Arbeit. Parallel zur Entstehung der Türme von Satélite experimentierte Goeritz in weiteren Kunstwerken mit Höhen und Formen vertikaler Strukturen. In seinem Privathaus in Temixco im Bundesstaat Morelos errichtete er die sieben säulen- und pfeilerartigen Türme von Temixco (1957/1958, Abb. 140), die vom Betrachter umschritten werden können. Die fünf Elemente auf Dreiecksbasis, eines auf quadratischem und ein weiteres auf kreisförmigem Grundriss bestehen, ähnlich der Bestandteile von Hier und dort und Die Stadt der sieben Türme, aus unregelmäßigen Seiten. Das Material Holz wurde hier durch Stahlbeton ersetzt. Im Unterschied zu den frühen Arbeiten, deren Elemente sich meist nach oben verjüngen, schließen die zwischen 3,60 und 4,80 Meter 243
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
hohen Türme von Temixco an den oberen Seiten gerade ab. Allein ein Prisma mit schrägem Abschluss weist zur Decke und verbindet diese Arbeit mit den sich nach oben verjüngenden Elementen von Hier und dort und den Türmen von Satélite. Die Türme von Temixco zeugen bereits von Goeritz’ Interesse an einem interaktiven Verhältnis zwischen Kunstwerk und Betrachter. Dieses manifestiert sich in einem relativ kleinen Maßstab, der im Unterschied zur späteren Architekturskulptur an menschlichen Proportionen orientiert ist. Eine besondere Rolle spielt dabei die Betrachterbewegung im Raum, im Fall der Türme von Satélite auf der Autobahn, die, abhängig vom Standort und der Anfahrtsrichtung, die Wahrnehmung der Arbeit verändert. Im Unterschied zu den öffentlichen Kunstwerken der Universitätsstadt an der Schnellstraße Insurgentes ist es für die Betrachter der Türme von Satélite einfacher, deren weit sichtbaren, abstrakten Formen im Vorbeifahren zu erfassen. Im Unterschied zum emblematisierenden Realismus der Bildprogramme auf dem Universitätscampus schufen Goeritz und Barragán eine abstrakte Arbeit, die die Betrachter dazu auffordert, sich auf die mit der eigenen Bewegung scheinbar verändernden Formen einzulassen.
„Emotionelle Architektur“ bei Mathias Goeritz
Bereits mit der Gelben Wand in El Eco setzte Goeritz funktionslose Architekturskulptur in äußerer Anlehnung an funktionalistische Architektur ein. Den Begriff „Architektur-Skulptur“ führte der französische Architekturtheoretiker Michel Ragon für Bauten wie Luciano Baldessaris Dynamischen Pavillon (1952) auf der Internationalen Messe von Mailand, Le Corbusiers Kapelle von Ronchamp (1955) und Goeritz Museum’ El Eco (1952) ein, „die mehr unter plastischen oder skulpturellen Gesichtspunkten erdacht worden waren als unter funktionalistischen.“512 Im Unterschied dazu schuf Goeritz mit der Gelben Wand eine Skulptur in architektonisch wirkender Form und stieß damit an die Grenzen des Skulpturverständnisses seiner Zeit. Die „ständigen Attacken gegen die moderne Kunst“513 waren vorhersehbar und traten prompt ein. Goeritz, der von Rivera und Siqueiros angesichts seiner Vergangenheit und seiner Rolle in der Durchsetzung der Abstraktion 244
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
in Mexiko öffentlich angegriffen wurde,514 verteidigte das El Eco-Museum samt der frei stehenden „Architektur-Skulptur“ als „Emotionelle Architektur“. Diese setzte er auch in späteren Projekten wie den Türmen von Satélite und dem Saltiel Community Center (1973-1980) in Jerusalem um. In dem kurz nach der Museumseröffnung im September 1953 entstandenen Manifest der Emotionellen Architektur legte Goeritz seine spirituell beeinflussten, ästhetischen Überzeugungen dar: Der Mensch von heute, ob Schöpfer oder Konsument, strebt nach mehr als nur nach einem netten, passenden Häuschen. Er verlangt von der Architektur, von ihren modernen Mitteln und Materialien, eine geistige Erhebung oder, einfacher gesagt, eine Emotion, wie er sie durch die Architektur der Pyramide, des griechischen Tempels, der romanischen oder gothischen [sic] Kathedrale oder des barocken Palastes erlebt hat. Einfach dadurch, daß die Architektur wahrhaftige Emotionen in ihm hervorruft, wird der Mensch sie wieder als Kunst anerkennen.515
Betrachteremotion und Individualismuskritik waren bei Goeritz stark mit religiösen Gefühlen und Werten verbunden, die er in vorneuzeitlichen kultischen Bauten impliziert sah. Darüber hinaus schließt das Konzept der „Emotionellen Architektur“ auch an die ,Primitivismus‘Apologie der „Schule von Altamira“ und deren Bezugnahme auf die Avantgardediskurse in Deutschland zwischen 1911 und der Weimarer Republik an. Den „Impuls der Hombre-niños“516, den Goeritz in den Höhlenmalereien von Altamira sah, übersetzte er in El Eco in das Konzept der beim Betrachter durch das Werk ausgelösten Emotion. Goeritz knüpfte damit erneut an die Assoziation des „Impulses“ mit ,Ursprungsnähe‘ in der Expressionismus-Rezeption an, die Künstler bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein beschäftigte. Henry Moore sah so in seinem 1941 erschienenen Aufsatz zur „Primitiven Kunst“517 die außereuropäische Kunst als aus „einem unmittelbaren, starken Gefühl“518 entstanden, das für im Verband lebende Gesellschaften wie die prähispanische charakteristisch gewesen sei. So wie Moore die ,primitive‘ Kunst einer Kollektivgesellschaft als Beschäftigung mit dem „Elementaren“519 verstand, befand Goeritz „Emotionelle Architektur“ für ein Gesamtkunstwerk, an dessen Realisierung eine Vielzahl von Menschen, aber niemand namentlich 245
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
bekannt, beteiligt ist. Beide hoben die sozialen Qualitäten von vorneuzeitlicher und ,primitiver’ Kunst gegenüber einer dem l’art pour l’art verschriebenen Moderne hervor. In diesem Punkt widersprach Goeritz seinem Ansatz zur Künstlerfreiheit, den er angesichts der nordspanischen Höhlenmalereien formuliert hatte. Während er den Mitgliedern der Schule von Altamira noch Freiheit und Unabhängigkeit bescheinigt hatte,520 kritisierte er in dem späteren Manifest die Tendenz zur Individualisierung, die die Unabhängigkeit vom sozialen Verband mit sich bringt: [E]s entsteht manchmal der Eindruck, als ob es der Architekt von heute, individualisiert und intellektuell, übertreibt – vielleicht, weil er den Kontakt zur Gemeinschaft verloren hat –, wenn er den rationalen Teil der Architektur so sehr hervorhebt.521
Auch in Bezug auf El Eco wurden Widersprüche zwischen Freiheitsund Kollektivforderungen deutlich: Trotz der Ablehnung jeder individuell geschaffenen Kunst verstand Goeritz sein Museum als „Ausdruck des freien Schöpferwillens“.522 Indem Goeritz sich mit dem Manifest der Emotionellen Architektur gegen die Beanspruchung abstrakter Kunst für die Idee einer individuellen Freiheit wandte, bestätigt er einmal mehr seine Bezugnahme auf die europäische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts. Mehr noch als El Eco verdeutlichen die Türme von Satélite eine Orientierung an den sozialen Utopien des frühen Expressionismus, der russischen Avantgarde der 1910er und 1920er Jahre und des im Kontext der deutschen Reformbewegung gegründeten Bauhaus. Ähnlich Wladimir Tatlins Entwurf für ein Monument der III. Internationale (1919, Abb. 141), der in seiner aufstrebenden Spiralform die Auf bruchstimmung der internationalen kommunistischen Gemeinschaft repräsentierte, richtet sich Goeritz’ und Barragáns Skulpturengruppe an die Gemeinschaft aller Mexikaner. Sie steht symbolhaft für das moderne Mexiko. Goeritz griff mit dem Verweis auf den „freien Schöpferwillen“ auf ein Argument zurück, das die Verfechter der US-amerikanischen Abstraktion in den 1950er Jahren zu deren Legitimation und Verbreitung einsetzten.523 Diese ist jedoch weniger als unmittelbares Vorbild denn als paralleles Phänomen zu Goeritz’ Rückgriff auf die frühe deutsche Avantgarde zu verstehen. 246
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie 141. Wladimir Tatlin: Entwurf für ein Monument der III. Internationale, 1919
Wichtige Förderer der US-amerikanischen Abstraktion und panamerikanische Kulturinstitutionen waren in den 1950er Jahren hingegen durchaus an einer Bestärkung abstrakter Tendenzen in Mexiko und Südamerika interessiert. Mit Stipendienprogrammen und Kunstsalons förderte man eine neu erstarkende, apolitische Figuration in der mexikanischen Malerei.524 Institutionen wie die Biennale von São Paulo, die erstmals in Südamerika die klassische Moderne und darauf folgend vornehmlich abstrakte Positionen zeigte, wurden speziell unterstützt. Die lateinamerikanische Abstraktion schloss jedoch vielmehr an die europäischen Diskurse vor und zwischen den Weltkriegen an als an die von McCarthy instrumentalisierte, US-amerikanische Abstraktion. Dies zeigen insbesondere Arbeiten neokonkreter Künstler, die angesichts der Erfahrung sozialer Neuordnungen Werke aus Modulen und betrachterpartizipative Environments schufen (Abb. 142). Auch Goeritz, der ab 1953 an der Architekturfakultät der Universidad Nacional Autónoma de México in Mexiko-Stadt neue, an den Bauhausvorkursen orientierte Einführungen gab,525 arbeitete in dieser Tradition, die Interaktionen zwischen Objekt und Betrachter anstrebte. Im Unterschied zur russischen Avantgarde spricht Goeritz’ Individualismuskritik auch von einer Fortschrittsskepsis, die sich am stärksten in seinem Manifest Please stop! 526 ausdrückte. In dem im 247
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
142. Gertrud Goldschmidt („Gego“): Reticulárea, 1969. Ephemeres Environment, Eisendraht, 540 x 350 x 500 cm, Sammlung Galería de Arte Nacional, Caracas
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III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
März 1960 vor dem New Yorker Museum of Modern Art verteilten Text kritisierte Goeritz Jean Tinguelys gleichzeitige Ausstellung Hommage to New York. Tinguelys Self-destructive sculpture, eine von dem Schweizer Künstler gebaute Maschine, fasste er gar als „egozentrische Kunst“527 auf. Die Maschine als Inkunabel von Fortschritt und Industrialisierung schien Goeritz, der Tinguelys Arbeit als nicht ernsthaft genug abmahnte und sich hierin kaum von Riveras später Industriekritik unterschied, zu provozieren. Differenzen manifestieren sich erneut in den unterschiedlichen Geisteshaltungen beider Künstler: Während Riveras Industriekritik in dessen befreiungstheoretischen und indigenistischen Positionen wurzelte, knüpfte Goeritz’ Wunsch nach einer Rückkehr zu den Traditionen an die spirituellen Werte einer „religiösen Revolution“ im deutschen Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts an.
Monumentalität und Spiritualität bei Mathias Goeritz
Am eindrücklichsten zeigen sich die religiösen Konnotationen von Goeritz’ Kunstauffassung in den Türmen von Satélite, die er als „plastisches Gebet“528 verstand: „Die Türme sollen zum Himmel aufstreben und sich weder im Boden noch im Wasser spiegeln. Nichts soll nach unten gehen, alles nach oben, zu Gott.“529 Goeritz stellte das Kunstwerk damit in den Dienst einer „universalen Spiritualität“, zu der er im Manifest der Emotionellen Architektur aufgerufen hatte. In diesem Punkt knüpfte Goeritz an Constantin Brancusis Auffassung vom Künstler als religiösem Diener an.530 Brancusi verstand seine fast 30 Meter hohe Skulptur Die unendliche Säule (1937-1938, Abb. 143) in religiösem Sinne als eine „Treppe, die zum Himmel führt.“531 Ähnlich wie bei den Türmen von Satélite 20 Jahre später wurde auch hier mit der Höhe der Arbeit eine spirituelle Dimension impliziert. Die Unendliche Säule ist in ihrer Zusammensetzung aus rhombusförmigen Eisenmodulen532 allerdings stärker rhythmisch strukturiert als Die Türme von Satélite, die horizontale Verschalungsspuren aufweisen. Jenseits der Referenz auf moderne Skulptur werden auch vorantike Bezüge sichtbar. Bereits ägyptische Osiris-Stelen symbolisierten Fruchtbarkeit.533 In der Azteken-Kultur wurde Fruchtbarkeit über 249
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität 143. Constantin Brancusi: Die Unendliche Säule, 1937-1938. Gusseisen, 29,35 m x 90 cm x 90 cm, Tîrgu Jiu, Rumänien
Stelen der Göttermutter Huitzilopochtli und die Wassergottheiten Tláloc und Chalchiuhtlicue repräsentiert. Mit der zunächst geplanten Funktion der Türme als Auffangbehälter für Regenwasser, die Ciudad Satélites Wasserreichtum belegen sollten, konnotierten Goeritz und Barragán die Arbeit indirekt mit der Fruchtbarkeitssymbolik. Dieser Aspekt wurde im Lauf der Werkentwicklung jedoch aus technischen Gründen aufgegeben. Die Türme von Satélite zeugen ferner von Goeritz’ Auseinandersetzung mit dem Begriff der ,Monumentalität‘. Während Goeritz diesen bei seiner Ankunft in Mexiko noch vom Kriterium der „inneren Größe“534 aus der europäischen Antikenrezeption herleitete, revidierte er sein Verständnis dieser Skulpturqualität nach der Begegnung mit prähispanischer Kunst: Ich hatte in der Archäologie gelernt, daß es einen Wert gibt, der sich ,Monumentalität‘ nennt. Monumentalität steckt in jeder griechischen Statue, und sei sie noch so klein, aber sie ist monumental. [...] Zum ersten Mal verstand ich, daß die Größe auch wichtig ist.535
Maßgebliche Einflüsse auf Goeritz’ Interpretation waren die Schriften zur prähispanischen Kunst des deutschen Kunsthistorikers Paul Westheim (1886-1963), der seit 1941 in Mexiko im Exil lebte. In Die 250
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
Kunst Alt-Mexikos536, das 1950 in Mexiko-Stadt erschien, bescheinigte Westheim prähispanischen Pyramidalanlagen wie Teotihuacan „innerliche Monumentalität“537 (Abb. 144). Die monumentale Wirkung aztekischer Kunst führte Westheim dennoch ebenso auf physische Größe zurück.538 An diesem Beispiel zeigt sich, dass Goeritz’ Verständnis von ,Monumentalität‘ nicht allein auf seine Begegnung mit den Zeugnissen der prähispanischen Kulturen, sondern auch auf seine Beschäftigung mit deren Rezeption zurückgeht. Dies führte im Laufe der 1950er Jahren zu einer Steigerung der Größenskala in Goeritz’ Werk, die sich zunehmend von der Bezugnahme auf den menschlichen Körper entfernte. Von dieser Tendenz zeugen insbesondere Die Türme von Satélite. Westheim widmete die stilpsychologische Untersuchung Die Kunst Alt-Mexikos seinem Lehrer Wilhelm Worringer. Mit den Schwerpunktthemen „Die Konzeption der Welt“, „Die Expression“ und „Das schöpferische Wollen“ knüpfte er an dessen Thesen in Abstraktion und Einfühlung (1908) an. Worringer hatte in seinem bahnbrechenden Werk die Abstraktion als ,ursprüngliche‘, durch „Natureinfühlung“, zeitlich vor mimetischen Formen liegende Kunst erklärt539 und die Entwicklung des Expressionismus hieraus hergeleitet. Westheim machte abstrahierende Tendenzen in der prähispanischen Kunst an Masken der Teotihuacan-Kultur fest. Er hob, ganz im Kontext der europäischen Avantgarde-Diskurse, insbesondere deren auf eine zurückgedrängte „kubische Entfaltung“ zurückgehende „Flächenhaftigkeit“540 und Tendenzen, das „Menschliche auf ein Minimum“541 zu reduzieren, hervor.
144. Pirámide de la Luna, Calzada de los Muertos, Teotihuacan, ca. 150 v. Chr.-800 n. Chr.
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Westheims Ausführungen im ersten Kapitel zum Weltbild der prähispanischen Kulturen sind wiederum an Worringers problematischen Typisierungen der Menschheit in „primitive“, „klassische“ und „orientalische“ Menschen orientiert.542 An Worringers Stilpsychologie angelehnt setzte Westheim sich zum Ziel, „künstlerische Phänomene von ihren geistigen und psychischen Grundlagen“ und „von dem Mythos, der Religion, der Naturanschauung der altmexikanischen Völker“543 ausgehend zu untersuchen.544 Das prähispanische „Kunstwollen“ sah Westheim im „Formausdruck einer Weltanschauung geäußert, die im Dualismus wurzelt“545. Hierin bezog er sich auf den von Worringer eingesetzten und auf Riegl basierenden Begriff.546 Westheims Untersuchung der prähispanischen Kunst nach Leitfragen, die aus dem europäischen Abstraktionsdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts stammen, wirkte nachträglich legitimierend für Goeritz’ Konzept der „Schule von Altamira“. Auch Westheims Apologie der „Kollektivkunst“,547 dem zentralen Kriterium gemeinschaftlich und interdisziplinär geschaffener Werke, das außereuropäischen und prähistorischen Kulturen seit dem frühen 20. Jahrhundert zugeschrieben wurde, bekräftigte Goeritz’ Schulansatz. Ebenso steht das Manifest der Emotionellen Architektur in seiner Forderung nach Gesamtkunstwerken insbesondere unter dem Einfluss von Westheims Sicht auf die kultische prähispanische Kunst und Architektur. Westheim analogisierte diese mit der byzantinischen und gotischen Kunst, die nicht „mit ,interesselosem Wohlgefallen‘ angeschaut“ würde: „Das aus religiöser Inspiration entstandene Werk ist Inkarnation des Göttlichen.“548 Zugleich existierte in der prähispanischen Mythologie nach Westheim eine Abmachung zwischen Göttern und Menschen, die Religiosität nicht als zusätzliche spirituelle Dimension, sondern als Lebensprinzip definierte: Die Götter schaffen den Menschen, damit er sie anbete, sie erhalte, sie ernähre, auf daß sie bei Kräften bleiben. […] Die Religion ist nicht metaphysischer Überbau oberhalb eines profanen, zivilen Lebens. Privates Leben, das nicht Dienst an den Göttern ist, gibt es nicht […].549
Prähispanische, von Architekten, Bildhauern und Malern geschaffene Kunst verstand Westheim entsprechend als Werk einer Gemeinschaft für kultische Zwecke: 252
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
Das Kunstwerk ist eins der Kultmittel. Es wird gebraucht. Es ist […] soziale Notwendigkeit, innerhalb einer Gemeinschaft, deren eigentlicher Lebensinhalt der Glaube, der Dienst an den Göttern ist. […] Der Künstler hat dieses Gottesbild zu gestalten. Nicht nur als Schmuck des Tempels, nicht als Luxus. Diese Kunst ist im eigentlichen Sinne des Wortes Gebrauchskunst, Zweckkunst, im Dienste eines außerkünstlerischen Zweckes: der Aufrechterhaltung der Gemeinschaft.550
Diese sozialutopische Interpretation und eine mitschwingende Industriekritik, die Westheim darüber hinaus lieferte,551 bildeten die Grundlage für Goeritz’ „Emotionelle Architektur“, auch wenn dieser jene nicht in den Dienst einer konkreten Religion stellte. Dennoch stützte sich Goeritz’ zunehmend radikalisierte Abkehr vom l’art pour l’art insbesondere auf die sozialen Implikationen von Kunstwerken nach Westheim.552 In der Beschreibung der Türme von Satélite als „plastisches Gebet“, also als gemeinschaftliches kultisches Symbol, kommt diese Haltung deutlich zum Tragen. Wichtige Einflüsse sowohl auf Westheim als auch auf Goeritz gingen von der zeitgenössischen mexikanischen Archäologie aus. Nur wenige Jahre bevor Westheim und Goeritz nach Mexiko kamen, hatte Jorge R. Acosta bei Grabungen in Tula im Bundesstaat Hidalgo den Tempel des Morgenstern und darunter Fragmente von Atlanten (ca. 900-1150, Abb. 5) freigelegt, die ehemals das Tempeldach gestützt hatten.553 Diese sowie eine Reihe Schlangenskulpturen wurden kurz darauf rekonstruiert.554 Goeritz besichtigte die rund fünf Meter hohen Atlanten bald nach seiner Ankunft in Mexiko und machte speziell an ihrer Größe und ehemals kultischen Funktion seine Auffassung von physischer ,Monumentalität‘ fest. Architekturskulpturen sollten nach Goeritz Betrachteremotionen auch über ihre Farbgebung auslösen. Auch hier griff er auf das prähispanische Vorbild Tula zurück. Nachdem man die Türme von Satélite zunächst in Weiß geplant hatte, plädierte Goeritz für ein Farbspektrum aus Orange- und Rottönen, das er an kleinen Modellen ausprobierte.555 Stattdessen wurde jedoch „Chucho“ Reyes’ Konzept aus drei weiß, einem gelb und einem orange gestrichenen Turm angewandt.556 Erst 1967 setzte man Goeritz’ eingangs geplante Farbgebung in unterschiedlichen Gelb- und Orangetönen um.557 Mit der Farbgebung rekurrierte Goeritz auf Westheims Verweise auf die teilweise Polychromie Tulas.558 Diese kann ferner als entschei253
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145. Robert Smithson: Spiral Jetty, 1970. Basalt, Kalkstein, Erde, Salz, 467 x 4,5 m, Great Salt Lake, Utah
dendes Kriterium dafür angesehen werden, dass weder Die Türme von Satélite noch die Gelbe Wand, entgegen der Einschätzung eines Großteils der Rezeption,559 Vorläufer der späteren US-amerikanischen Minimal Art sind. An Arbeiten wie Schlange, Gelbe Wand und Die Türme von Satélite setzte Goeritz sich – ähnlich Minimal-Bildhauern in den USA der 1960er Jahre – mit den ästhetischen Kategorien „Raum“ und „Größe“ auseinander. Diese hatte Robert Morris 1966 als grundlegende Charakteristika definiert.560 Auch die von Michael Fried kritisierte Theatralik der Werk-Betrachter-Situation in der Minimal Art561 entsteht ähnlich beim Umfahren von Goeritz’ und Barragáns Skulpturengruppe in Ciudad Satélite. Mit deren Farbgebung und jener der Gelben Wand schlossen letztere jedoch, auf Worringer und Westheim auf bauend, vielmehr an den frühen europäischen Diskurs zum ,Impuls der Primitiven‘ an. Morris hingegen verstand Farbe als überflüssigen Zusatz,562 und viele Minimal-Vertreter strebten einen Bruch mit der europäischen Tradition an.563 Morris’ und Donald Judds serielle Arbeiten erzeugen weniger Emotionen, Monumentalität und ein Gefühl von Zeitlosigkeit, wie von Goeritz eingefordert, als eine Entmonumentalisierung von Skulptur.564 Diese Tendenz drückt sich am augenfälligsten in den entro254
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pischen Prozessen ausgesetzten Land-Art-Arbeiten der späten 1960er Jahre von Robert Smithson (Abb. 145), Michael Heizer und Nancy Holt aus.565 Zwei Gründe waren für die Farbänderungen an den Türmen von Satélite 1967 entscheidend: Goeritz wurde unter dem Vorsitz des einflussreichen Architekten Pedro Ramírez Vázquez (geboren 1919) zum künstlerischen Berater des Olympischen Organisationskomitees ernannt. In diesem Zusammenhang erhielt er den Auftrag, das großangelegte Skulpturenprojekt Die Straße der Freundschaft entlang des neu gebauten, südlichen Abschnitts der Schnellstraße Periférico zu koordinieren. Mit seinen neuen Aufgaben stieg Goeritz’ Einfluss in den Stadtplanungsgremien von Mexiko-Stadt. Die Entscheidung, die Farbgebung der Skulpturengruppe zu diesem Zeitpunkt zu verändern, hing ferner mit Aspekten zusammen, die für die Außenwirkung Mexikos seit dem späten 19. Jahrhundert relevant waren. Es ist anzunehmen, dass dem Farbkonzept, das der inzwischen einflussreiche Goeritz eingangs geplant hatte, nun Beachtung geschenkt wurde, zumal zur Olympiade mit großer internationaler Aufmerksamkeit gerechnet wurde.566 Hatte sich Mexiko auf der Pariser Weltausstellung von 1889 mit dem Azteken-Palast offiziell mit exotisierend-eklektizistischen Beaux-Arts-Referenzen präsentiert, setzte man auch mit den Türmen auf ein Zeichen, das die patria als moderne Nation präsentierte. Man gab sich zeitgemäß und – über die tropisch glühende Farbgebung in Rot- und Orangetönen – exotisch. Mexiko setzte damit auch zur Olympiade 1968 auf ein Nationalimage aus Modernität und Traditionsbewusstheit. Die internationale Presse reagierte prompt: Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel montierte auf einem seiner ersten Titel im Olympiajahr 1968 Die Türme von Satélite in Gegenüberstellung zum aztekischen ,Kalenderstein‘ (Abb. 146). Das neue, offiziell als solches gehandelte Symbol war zu diesem Zeitpunkt bereits das Wahrzeichen des modernen Mexiko, als das es bis heute gilt. Gleichzeitig wurde das als ,mexikanisch‘ rezipierte, aztekische Relief weiterhin als nationales Zeichen gehandelt. Die Türme von Satélite symbolisieren jedoch eine vertikale Urbanität, die in Mexiko kaum existiert. Bis in die 1990er Jahre hinein blieb die Torre Latinoamericana das bei weitem höchste Gebäude der Stadt. Ein Geschäfts-Downtown nach US-amerikanischem Vorbild wurde nie realisiert. Im Feld des Wohnungsbaus entstanden zwar mit Panis 255
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Siedlung Nonoalco-Tlatelolco (1960-1964) Hochhauskomplexe. Sie bildeten aber eine Ausnahme in der Architektur der horizontal geprägten mexikanischen Großstädte. Models, die in der Modezeitschrift Vogue vom Januar 1966 vor den Türmen von Satélite exklusive Lagerfeld-Kleider vorführten (Abb. 147), nobilitierten die Skulpturengruppe zusätzlich. Die Modenschau vor Avantgardekulisse beschwörte geradezu jene urbane Illusion von Fortschritt und Wohlstand, auf die ab 1985 eine gesellschaftsübergreifende Desillusionierung folgte, als sich ein schweres Erdbeben mit verheerenden Zerstörungen in der Hauptstadt ereignete. Insbesondere die zu Vorzeigeprojekten einer sozialgerechten Moderne stilisierten, durch die schweren Erdstöße aber stark beschädigten Neubausiedlungen entlarvten die Fortschrittsrhetorik der 1950er Jahre als Fiktion.567 Die „mexikanische Lösung“ zugunsten sozialpolitischer Modernität und ökonomischer Prosperität, die Ciudad Satélite, das Multifamiliar Presidente Benito Juárez und andere Siedlungskonzepte als gebaute Moderne symbolhaft repräsentiert hatten, war damit und durch einsetzende hohe Inflationen seit den 1980er Jahren schwer angeschlagen.
146. Olympia-Land Mexiko, 1968. Titelblatt, Der Spiegel, 22. Jg., Nr. 2, 8.1.1968
256
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie 147. Norman Parkinson: Las Torres de Satélite, in: Vogue, Januar 1966
Über die identifikatorische Wirkung hinaus waren Die Türme von Satélite für Goeritz und Barragán auch kommerziell ein Erfolg, nicht zuletzt da beide zahlreiche Folgeaufträge erhielten. Goeritz führte so 1963, gemeinsam mit dem Architekten Ricardo Legoretta, für die mexikanische General Motors-Vertretung die Automex-Türme (19631964, Abb. 148)568 aus. Die zwei unterschiedlich großen, konischen Betonvolumina sind auf der weiten Fläche des Werksgeländes vor einer Bergkette als gekappte Vulkankegel inszeniert. Für Goeritz’ Beitrag anlässlich der Olympischen Spiele 1968, Der große Bär (1967/68, Abb. 149)569, waren ebenfalls die Turmform-Experimente der 1950er Jahre Vorbild. Für diese Arbeit schuf Goeritz eine Gruppe aus sieben vertikalen, kannelierten und in Gelb- und Orangetönen gestrichenen Stahlbetonstrukturen, die das Sternenbild des Großen Wagen darstellen. Selbst die spitze Pyramidalform der Stahlskulptur Die Krone von Bambi (1979-1980, Abb. 150)570, die Goeritz anlässlich des 50. Jahrestages der Unabhängigwerdung der Universität für deren Skulpturenpark schuf, ist vom Turm-Thema abgeleitet. Das Projekt, das Goeritz am stärksten an den Türmen von Satélite anlehnte, war sein Vorschlag für das deutsche Olympische Komitee in München 257
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
148. Mathias Goeritz und Ricardo Legoretta: Las Torres de Automex, 1963-1964. Armierbeton, Höhen: 45 und 25 m, Werksgelände Automex, Toluca, Bundesstaat Mexiko
149. Mathias Goeritz: La Osa Mayor, 1967/1968. Höhe: 15 m, Armierbeton, Palacio de los Deportes, Mexiko-Stadt
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III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
150. Mathias Goeritz: La corona de Bambi (auch: Corona del Pedregal), 1979-1980. Stahl, 12 x 6 x 4 Meter, Espacio Escultórico, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
151. Mathias Goeritz (mit Dietrich Clarenbach und Jürgen Claus): Modell für das Olympische Komitee, München, 1971. Bemalter Karton, Höhe: 45 cm (nicht realisierte Arbeit)
von 1971 (Abb. 151). Die Arbeit sollte aus fünf verschieden hohen prismatischen Türmen bestehen und entlang einer Autobahn aufgestellt werden.571 Sie wurde jedoch nicht realisiert. Barragán schuf fast 30 Jahre nach den Türmen von Satélite den Handelsleuchtturm (1984, Abb. 152)572 im Zentrum der Stadt Monterrey im nordmexikanischen Bundesstaat Nuevo León, eine hoch aufragende Arbeit zwischen Turm und flacher Wand. Die rund 45 Meter hohe Skulptur aus Armierbeton, deren Holzverschalung wie bei den Türmen von Satélite an Auskragungsspuren im Beton sichtbar ist, führt die kommerziellen Interessen der Auftraggeber deutlich vor Augen. Im Unterschied zum staatlichen Auftrag der Türme von Satélite geht der Entwurf des Handelsleuchtturms auf die Initiative des wichtigsten Unternehmerverbandes von Monterrey zurück, das in den 1980er Jahren besonders stark von den Wirtschaftskrisen betroffen war. In der Grenzstadt zu den USA, die im 19. Jahrhundert als wichtigster Ort für Metallverarbeitung auf dem amerikanischen Kontinent zu Wohlstand gelangt war, pflegt man im Unterschied zum Zentralismus in der mexikanischen Hauptstadt eine regionale Identität. Die Wirtschaftskrisen waren Anlass, diese trotzig mit einem Wohlstandssymbol zu affirmieren. Die Nähe zu den nur wenige Kilometer entfernten USA spiegelt sich zudem in einer wirtschaftlichen, aber auch kulturellen und urbanistischen Orientierung an US-Vorbildern. Der leuchtend orange ge260
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
strichene Handelsleuchtturm, der seinen Standort – die im Stadtkern liegende Macroplaza mit historischen und modernen Gebäuden – weit überragt, hebt auf diese Weise die transnationale Anbindung des Ortes hervor und bestärkt sie zusätzlich. Während die Türme von Satélite das offizielle Bild von Mexiko als moderner Nation unterstreichen, verbildlicht der Handelsleuchtturm das Regionalbewusstsein einer Reihe von Kaufleuten. Die Arbeit zeigt, dass die Aufträge für Kunst im öffentlichen Raum in Mexiko, ausgehend von der Arbeit Das Tier vom Pedregal vor Barragáns Siedlung, in den 1980er Jahren zu großen Teilen von der öffentlichen Hand an Privatpersonen übergegangen war. Im Unterschied zu der Skulpturengruppe Die Türme von Satélite, die einen „Nicht-Ort“573 an einer Stadtautobahn aufgewertet hat, dient der Handelsleuchtturm dazu, dem öffentlichen Stadtzentrum einer regionalen Metropole eine neue Identität zu verleihen, die zuvor von einer Reihe Privatpersonen als regionaltypisch definiert wurde.
152. Luis Barragán: Faro del Comercio, 1984. Höhe: 45 m, Armierbeton, Macroplaza, Monterrey, Nuevo León
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Die Straße der Freundschaft – Kunst im öffentlichen Raum zur Zeit der Olympischen Spiele
[N]iemand würde merken, dass die Monumente, die an der Straße der Freundschaft stehen, etwas mit der Freundschaft zu tun haben, wenn die Straße, an der sie aufgestellt wurden, nicht so hieße. Aber so heißt sie, und folglich sind diese Monumente Monumente für die Freundschaft.574 Jorge Ibargüengoitia Stadtplanung ohne Macht ist bloß ein Hobby.575 José Luis Cuevas nach Pedro Ramírez Vázquez
„Mexiko […] ist in der Welt berühmt für seine Verwendung von Beton. […] Dieses Symposium soll diese mexikanische Gewohnheit hervorheben.“576 Mit diesen Worten resümierte Mathias Goeritz, der das Kunstprogramm der XIX. Olympischen Spiele in Mexiko koordinierte, das Ziel des Internationalen Bildhauersymposiums, das wenige Monate später im Juni 1968 in Mexiko-Stadt stattfand. Eines der Ergebnisse der Tagung, an der Künstler aus 16 Ländern teilnahmen,577 war der Beschluss, das als „mexikanische Gewohnheit“ beanspruchte Material für alle Auftragsarbeiten des olympischen Skulpturenprogramms Die Straße der Freundschaft (1967/1968)578 zur Bedingung zu machen. Neben den nationaltypischen Zuschreibungen an Beton waren weitere Faktoren für den Einsatz des industriellen Baustoffs entscheidend: Das Mexikanische Olympische Komitee hatte bereits zuvor die heimische Zement- und Stahlindustrie als Hauptsponsoren für die Spiele von 1968 gewonnen579 und diese als besonders „billige Olympiade“580 in Mexiko vermarktet. Wie zu Zeiten der großen Weltausstellungen im späten 19. Jahrhundert und in den 1950er Jahren wurden nationale Imageprägung und Bestrebungen nach einem Wirtschaftsaufschwung in Mexiko auch zu den Olympischen Spielen miteinander verbunden. Noch deutlicher und mit mehr öffentlicher Präsenz als zuvor griffen zu diesem Zeitpunkt die Interessen der mexikanischen Wirtschaft und Politik ineinander. Während die Olympiade der Wirtschaft eine 262
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
153. Mathias Goeritz: La Ruta de la Amistad, 1968. Piktogramm
Serie von Großaufträgen garantierte, bemühte sich die Regierung Díaz Ordaz (1964-1970), durch Studenten- und Gewerkschaftsunruhen unter politischem Druck, die Spiele samt der neu errichteten Sportstätten und Kunst als günstig und sozialverträglich zu rechtfertigen.581 Die die Sportwettkämpfe begleitende „Kulturolympiade“, deren bleibendes und in der Stadt am stärksten sichtbares Ergebnis die 18 Skulpturen der Straße der Freundschaft sind, bildete das Kernstück der olympischen Identitätskampagne. Diese spielte mit dem offiziellen Selbstbewusstsein eines Staates, in dem, erstmals in einem spanischsprachigen Land, eine Olympiade stattfand, und nutzte die große internationale Aufmerksamkeit zur Darstellung Mexikos als moderne, weltoffene Nation. Speziell an der Straße der Freundschaft zeigt sich, wie sich Mexiko Ende der 1960er Jahre offiziell definierte und an welchen Parametern man die eigene Identität maß. Die Straße der Freundschaft (Abb. 153) zieht sich entlang eines 17 Kilometer langen Abschnitts des Periférico.582 Die Stadtautobahn wurde anlässlich der Olympiade vom Südwesten der Hauptstadt ausgehend südöstlich verlängert und verbindet den Großteil der olympischen Sportstätten miteinander. Diese reichen von der Kreuzung mit der Avenida San Jerónimo, an der die Siedlung Los Jardines del Pedregal von Luis Barragán liegt, bis zu den für Ruder- und Kanuwettbewerbe neu errichteten Wasserkanälen von Cuemanco. 263
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Die großformatigen, abstrakten Skulpturen aus Armierbeton standen ursprünglich am Rand der Stadtautobahn. Durch deren Ausbau im Zuge des seit den 1970er Jahren steigenden Verkehrsaufkommens befinden sich die Arbeiten heute jedoch in vielen Fällen auf schmalen Geländestreifen zwischen der Fahrbahn und später hinzugefügten Seitenspuren. Die meisten Skulpturen markieren Abfahrten zu olympischen Stätten. Der durchbrochene, grüne Kreis mit Betonsockel (Abb. 154) von Jacques Moeschal aus Belgien, das Kompositum aus schräg zueinander stehenden, konisch gewölbten Scheiben des US-Amerikaners Todd Williams (Abb. 155) und die architektonische Struktur aus geometrischen Volumina und organischen Elementen Constantino Nivolas aus Italien (Abb. 156) befinden sich beispielsweise an der Zufahrt zum Olympischen Dorf. Andere, wie die Arbeit der Mexikanerin Ángela Gurría aus schwarzen und weißen, formidentischen Strukturen (Abb. 157) und die auf zwei säulenartigen Stützen ruhende, organisch fließende Skulptur des Franzosen Pierre Székely (Abb. 158), besitzen dagegen keinen ausgewiesenen urbanen Bezug. Heute wirken die meisten Werke dekontextualisiert, zumal die fortschreitende Bebauung der Umgebung die Ansicht der Skulpturen, insbesondere im Vorbeifahren, einschränkt. Ramírez Vázquez ernannte als Vorsitzender des Mexikanischen Olympischen Komitees Goeritz bereits 1966 zum künstlerischen Berater der „Kulturolympiade“. Dieser war unter anderem damit beauftragt, Kulturdelegationen aller an den Spielen teilnehmenden Länder in das ganzjährige Programm zu integrieren.583 Angesichts dieser Aufgabe forderte Goeritz noch 1966 die Vertreter aller 112 Nationen auf, Vorschläge für Skulpturen einzureichen, die das eigene Land repräsentieren sollten. Unter den Einreichungen wurden 18 Arbeiten nach ihrer Realisierbarkeit in Armierbeton ausgewählt, um in einer Größe zwischen fünf und 18 Metern entlang der Straße der Freundschaft realisiert zu werden.584 Trotz der strikten Materialauflage und den genauen Größenvorstellungen der Veranstalter wurden die Arbeiten sehr heterogen ausgeführt. Eine Gruppierung erscheint, gerade in Bezug auf die Raumwirkung, am ehesten nach Einzelplastiken und mehrteiligen Werken sinnvoll.585 Moeschals Arbeit ist einer der wenigen Beiträge, die aus einer einzigen Plastik bestehen. Hierzu zählen auch Herbert Bayers kinetisch wirkende Arbeit (Abb. 159), die als österreichischer Beitrag registriert 264
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
154. Jacques Moeschal: Ohne Titel, Nr. 8, 1968. Beton, Farbe, Maße unbekannt, Ruta de la Amistad, Anillo Periférico, Mexiko-Stadt
155. Tod Williams: Ohne Titel, Nr. 9, 1968. Beton, Farbe, Maße unbekannt, Ruta de la Amistad, Anillo Periférico, Mexiko-Stadt
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität 156. Constantino Nivola: Ohne Titel, Nr. 7, 1968. Beton, Farbe, Maße unbekannt, Ruta de la Amistad, Anillo Periférico, Mexiko-Stadt (zerstört)
157. Ángela Gurría: Ohne Titel, Nr. 1, 1968. Beton, Farbe, Maße unbekannt, Ruta de la Amistad, Anillo Periférico, Mexiko-Stadt
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III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie 158. Pierre Székely: Ohne Titel, Nr. 5, 1968. Beton, Farbe, Maße unbekannt, Ruta de la Amistad, Anillo Periférico, Mexiko-Stadt
159. Herbert Bayer: Ohne Titel, Nr. 12, 1968. Beton, Farbe, Maße unbekannt, Ruta de la Amistad, Anillo Periférico, Mexiko-Stadt
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
160. Mohamed Melehi: Ohne Titel, Nr. 16, 1968. Beton, Farbe, Maße unbekannt, Ruta de la Amistad, Anillo Periférico, Mexiko-Stadt
161. Gonzalo Fonseca: Ohne Titel, Nr. 6, 1968. Beton, Farbe, Maße unbekannt, Ruta de la Amistad, Anillo Periférico, Mexiko-Stadt
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III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
wurde, und die geschwungene, weiße Vertikale von Mohamed Melehi aus Marokko (Abb. 160). Die einzige, begehbare Architekturskulptur, der Turm der Winde, stammt von dem Uruguayer Gonzalo Fonseca (Abb. 161). Ihr Hauptkorpus besteht aus drei übereinandergesetzten konischen Formen und weiteren funktionslosen, geometrischen Strukturen. Die Farbgebung in Weiß, Primärfarben und klaren Tönen wurde von Goeritz bestimmt und spricht für dessen Intention einer weiten Sichtbarkeit der Plastiken für sich bewegende Betrachter. Dass sich dieser Effekt kaum einstellte, hängt, neben den urbanen Veränderungen zu Ungunsten der Werkwahrnehmung, mit den meist geometrischen, häufig aber nur schwer zu differenzierenden Teilen der Skulpturengruppen selbst zusammen. Auch die kaum übersehbaren Farben der Werke können dieses Manko nur in wenigen Fällen kompensieren, da die inzwischen heterogene Bebauung am Straßenrand häufig ein optisches Hervortreten verhindert. Während die Teilnehmer des Internationalen Bildhauersymposiums die Skulpturenmodelle in Eisen, Aluminium, Silber, Gips, Holz, Terrakotta und Karton anfertigten, war die Werkausführung selbst in Beton verpflichtend. Über die Heterogenität in der Anzahl der Kompositionselemente, der Raumwirkung, Farbe, Form und Größe hinaus setzten sich die Künstler auch auf unterschiedliche Weise mit dem plastischen Material auseinander. Melehi lotete in einer geschwungenen Vertikalen vielleicht am stärksten die Formbarkeit von Beton aus, durch die sich seine Plastik als pastoser Pinselstrich geriert. Die Eignung von Beton für Module führte Bayer, fast gegensätzlich dazu, in seinem Beitrag aus 33 versetzt angebrachten Quadern vor.586 Hier wurde das gegossene Material vergleichbar Stein oder Holz eingesetzt und löst durch seine Anbringung in helixartigen Windungen unter schwankendem Lichteinfall kinetische Vexiereffekte aus. Als sich die 18 teilnehmenden Künstler am 1. Juni 1968 in MexikoStadt versammelten, waren die wichtigsten Entscheidungen zur Umsetzung der eingereichten Modelle bereits gefallen: Goeritz hatte die Aufstellungsorte der Arbeiten festgelegt und Sockel anbringen lassen. Zudem wurden die Dimensionen der meisten Werke verändert: Allein neun Plastiken wurden in den von den Künstlern vorgeschlagenen Maßstäben realisiert, sechs verkleinert und die Größe dreier Werke zum Teil mehr als verdoppelt.587 269
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Mexikos offizielle Olympia-Identität
Die mexikanische „Kulturolympiade“ setzte sich offiziell zum Ziel, den Stand der Künste der 1960er Jahre wiederzugeben.588 Das Versprechen, ein universell gültiges Bild von der zeitgenössischen Kunst abzugeben, sollte neben formalen und Materialvorgaben auch über vermeintlich nationale Charakteristika mit den Arbeiten der teilnehmenden Länder eingelöst werden. Über die Benennung des Künstlers und der vertretenen Nation auf kleinen, beigefügten Betonkugeln und -tafeln hinaus589 können die Betrachter jedoch kaum Rückschlüsse auf die Herkunft der Werke an der Straße der Freundschaft ziehen.590 Hinter den Länderrepräsentationen im Rahmen der „Kulturolympiade“ stand vielmehr Präsident Díaz Ordaz’ Ansatz, jenseits des internationalen Kräftemessens im Sport und entgegen dem ökonomischen Gefälle der teilnehmenden Nationen, deren kulturelle Ebenbürtigkeit unter Beweis zu stellen.591 Eine nationale Selbstaufwertung auf internationaler Bühne ging für die offiziellen Vertreter Mexikos damit wie selbstverständlich einher. Für die seit knapp 40 Jahren ununterbrochen herrschende Regierungspartei der Institutionalisierten Revolution (PRI) wurde die Olympiade auf diese Weise zu einem wichtigen Wirkungsfeld, an das die Organisatoren der „Kulturolympiade“ anknüpften. Hatte der Azteken-Palast Mexiko auf der Pariser Weltausstellung von 1889 im eklektizistischen Beaux-Arts-Stil repräsentiert und das mexikanische Komitee beabsichtigt, mit der dort ausgestellten heimischen Landschaftsmalerei an den französischen Realismus anzuknüpfen, wurden mit der Straße der Freundschaft Abstraktion und Beton offiziell zu länderübergreifenden Charakteristika zeitgenössischer Skulptur stilisiert. Zugleich konnotierte die mexikanische Rezeption Beton als national. Der Einsatz des Materials für Plastiken internationaler Herkunft war nicht nur relativ kostengünstig, sondern nobilitierte so zudem ein ,mexikanisches‘ Material, das in Mexiko für industriellen Fortschritt und Modernität stand. In dieser Konnotation unterschied sich die Zuschreibung an Beton in Mexiko von jener in den USA und in Europa Ende der 1960er Jahre, wo das Material in der Land Art und der deutschen Naturkunst industriekritisch eingesetzt wurde.592 Mit dem Ziel, das Nationalbewusstsein zu aktualisieren, wurden erneut volkserzieherische Ansätze ins Spiel gebracht, mit denen Mexikos Politik bereits Ende des 19. Jahrhunderts die heterogene Bevöl270
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
kerung zu homogenisieren angestrebt,593 in der Revolution mobilisiert und im Alemanismo zu Bildung und Wissenschaft angehalten hatte.594 Ein wichtiger Beitrag hierfür war das Informationsmaterial auf Spanisch, Englisch und Französisch, das das mexikanische OlympiaKomitee über die Spiele und deren Zusatzprogramm herausbrachte. Die visuelle Einleitung zu dem in der offiziellen Broschüre des Kulturprogramms abgedruckten Präsidentenbericht vom 1. September 1967 besteht aus einer Fotografie des Mexica-Saales im Nationalmuseum für Anthropologie von Mexiko-Stadt, das Ramírez Vázquez 1964 entworfen hatte.595 Der ,Kalenderstein‘ der Azteken und die Urmutter der aztekischen Götterwelt, Coatlicue, sind dort prominent abgebildet und verweisen, wie auch Exkursionsankündigungen zu den archäologischen Stätten Teotihuacan und Xochicalco,596 auf das in der mexikanischen Archäologie seit dem späten 19. Jahrhundert vertretene Postulat einer prähispanischen ,Antike‘, die der griechisch-römischen ebenbürtig ist. Die berühmten, als nationaltypisch rezipierten Kunstwerke und die Besichtigung Xochicalcos durch die Olympia-Sportler, von dessen Architektur man schon die des Pariser Azteken-Palastes entlehnt hatte, sprechen gemeinsam mit den Betonskulpturen der Straße der Freundschaft von dem kulturellen Spannungsfeld, in dem sich Mexiko anlässlich der Olympiade präsentierte. Hatte man 1889 die mexikanische Landschaftsmalerei als nationaltypische Avantgarde ausgestellt, um Mexiko über eine Verarbeitung kosmopolitischer Einflüsse als moderne Nation zu etablieren, wurde nun die Modernität des Olympia-Landes mit dem als spezifisch ,mexikanisch‘ deklarierten Beton und internationalen Künstlern unter Beweis gestellt. Zugleich zeigten sich die Olympia-Ausrichter mit ihrem Bezug auf die ,mexikanische Antike‘ traditionsbewusst und aktivierten damit die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Mexiko und anderen ehemaligen Kolonialländern angewandten Mechanismen zur Identitätsprojektion. Der Präsidentenbericht selbst, der sich auf die bevorstehende Olympiade bezog, war in der Revolutionsrhetorik gehalten und stellte, wie jene und die Rhetorik Alemáns, insbesondere Jugendliche als Identitätsträger heraus: [Die] Jugend aller Länder [ …] wird in der Lage sein, aus Mexiko die feste Überzeugung mitzunehmen, dass alle, absolut alle Völker in der Lage sind, einen positiven Beitrag zur Menschheit zu leisten.597
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Insbesondere das Diktum von der Gleichheit aller teilnehmenden Nationen, die eine Emanzipation von Schwellenländern wie Mexiko voraussetzte, erhielt den Charakter eines politischen Statements: „,Es wird und darf natürlich keine Konkurrenz betonten Beurteilungen bei der Kultur-Olympiade geben. […] Keine Nationalkultur kann als anderen überlegen erachtet werden.‘“598 Diese offizielle Ablehnung hegemonialer Tendenzen auf kulturellem Terrain weitete Díaz Ordaz, wie zuvor Alemán, auf die Wissenschaften als Teil des mexikanischen Modernitätsdiskurses aus und kündigte Ausstellungen zum Stand der Raum- und Erbgutforschung während der Olympiade an.599 Mit einer Dokumentation zum Einsatz von Nuklearenergie „zum Wohle der Menschheit“600 knüpfte Díaz Ordaz an das Postulat Carlos Lazos aus der Zeit der Universitätserrichtung von einer mexikanischen Atomforschung für zivile Zwecke an.601 Indem Díaz Ordaz die „olympischen Ideale der Freundschaft und Brüderlichkeit“602 einforderte, bemühte er einmal mehr die Ziele der Revolution, während die blutige Niederschlagung der Studentenbewegung im Oktober 1968 die politische Realität Mexikos entlarvte. Die Skulpturen der Straße der Freundschaft zeugen damit auch von den Widersprüchen zwischen Rhetorik und Wirklichkeit der mexikanischen Politik zur Zeit der Olympischen Spiele.
Versuche von Identitätsbildung an Nicht-Orten
Urbanität, die der Periférico als Stadtautobahn in der Peripherie repräsentiert, galt auch zur Entstehungszeit der Straße der Freundschaft als maßgebender Faktor für Modernität. Seit den Städtebauprojekten der 1930er Jahre und dem ehrgeizigen Ausbau der Infrastruktur unter Präsident Alemán konstituierte sich die Peripherie Mexikos über die Auslagerung zahlreicher Stadtfunktionen. Die Straße der Freundschaft wurde an der Südverlängerung des Periférico als einem aus dieser Entwicklung und im Rahmen der Olympiade entstandenen, neuen Raum errichtet. Der Autobahnabschnitt wurde hierfür sehr bewusst gewählt: Deren Südteil ist im Unterschied zum Nordabschnitt positiv belegt, da der Südwesten von Mexiko-Stadt – durch die erhaltene koloniale Bausubstanz und Barragáns exklusive Pedregal-Siedlung – als „gut angebundene Wohngegend“ mit einer „angenehmen Stadtlandschaft“ gilt.603 272
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
Während im als „verschmutzt“, „industriell“ und „arbeitergeprägt“604 konnotierten Zentrum und Osten der Stadt nur wenige olympische Stätten angesiedelt wurden, ziehen sich die meisten Sportanlagen vom Platz für Bogenschießen im Nordosten bis zum Kanal von Cuemanco im Südosten entlang des Südteils des „Olympia-Bogens“.605 Der Norden und Osten der Hauptstadt erfuhren so kaum bauliche Veränderungen durch die Olympiade. Der Südausbau ging zum einen auf bereits vorhandene, infrastrukturelle Vorteile zurück, die man ausweitete; zum anderen sollte Die Straße der Freundschaft die bereits als gehoben geltende Stadtzone zusätzlich aufwerten. Goeritz bewarb das Projekt dagegen als an die Siedlungen der ärmeren Bevölkerungsschichten gerichtet: Die Idee ist, die Kunst in die Vororte zu bringen, in die Zonen der breiten Bevölkerung in der Nähe der Fabriken. Die Familien, die in Las Lomas leben, besitzen genügend Kauf kraft, um ihre eigene Kunst zu besitzen.606
Diese Aussage Goeritz’ führt einmal mehr die Widersprüche zwischen der offiziellen Rhetorik, die in Revolutionsmanier sozial Benachteiligte zu berücksichtigen gedachte, und der tatsächlichen Umsetzung vor Augen, da in der Gegend, in der Die Straße der Freundschaft errichtet wurde, vor allem die mexikanische Mittel- und Oberschicht leben. Trotz aller Bestrebungen avancierte der Südabschnitt des Periférico, selbst mit Unterstützung durch die Kunst, zu keinem Identität stiftenden Ort. Die Skulpturen verstärken vielmehr bis heute die Wirkung der Stadtautobahn als „Nicht-Ort“, während andere Kunstwerke wie Die Türme von Satélite und das von Alexander Calder für den Vorplatz des Azteken-Stadions entworfene Stabile Rote Sonne (1967-1968, Abb. 162)607 als Wahrzeichen des olympischen Mexiko rezipiert worden sind. Entscheidend für die missglückte Aufwertung sind die räumlichen Charakteristika des Autobahnabschnitts. Während Dr. Atl, Rivera und Barragán, an Velasco anknüpfend, das Lavafeld des Pedregal zur „Vaterlandsphysiognomie“ erhoben, indem sie dessen Topographie und kulturhistorische Tradition für ihre Stadt- und Raumutopien beanspruchten,608 sollte der Südteil des Periférico mit einer ,olympischen‘ Identität artifiziell überformt werden und einen neuen nationaltypischen Raum bilden. Die Kunstwerke und die eigens verlängerte 273
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Autobahn nehmen jedoch keinen Bezug auf kulturhistorische und Identität stiftende Elemente, die mit der Rundpyramide von Cuicuilco, den umliegenden Vulkanen und den Materialien ihrer Eruptionen 20 Jahre zuvor grundlegend für eine Ausweisung der Universitätsstadt und der Siedlung Los Jardines del Pedregal als ,nationale‘ Orte gewesen waren.609 Die Straße der Freundschaft ist vielmehr ein „Nicht-Ort“ nach Michel de Certeau.610 Ein kollektives Erleben, das die Wahrzeichenfolge am Paseo de la Reforma, die öffentliche Revolutionskunst und selbst die Außenwandbilder der Universitätsstadt charakterisiert, bleibt bei der Straße der Freundschaft aus. Dass dennoch der „abstrakte Raum […] mit der Zeit auf seltsame Weise vertraut wird“,611 fördert im Fall der Straße der Freundschaft der hohe Wiedererkennungseffekt einzelner Werke. Identifikatorische Prozesse durch kollektiv erfahrene, historische Bezüge finden jedoch nicht statt.
162. Alexander Calder: Sol rojo, 1967-1968. Stahl, Höhe: 24 m, Azteken-Stadion, Anillo Periférico, Mexiko-Stadt
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III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
Der Empfang der von Díaz Ordaz zum wichtigsten olympischen Identitätsmultiplikator ernannten Sportjugend fand bezeichnenderweise nicht an einem Ort der neu definierten mexikanischen Moderne statt, sondern im historischen Stadtkern, auf dem denkmalfreien Zócalo.612 Im Unterschied zur identitätslosen Stadtautobahn in der urbanen Peripherie besitzt der Zócalo als anthropologischer Ort,613 an dem sich große Achsen kreuzen, Handel getrieben wird und sich das politische und religiöse Zentrum befindet, Qualitäten eines „heiligen“ Raumes nach Émile Durkheim.614 Die Veranstalter der mexikanischen Olympiade agierten auf diese Weise ähnlich den Säkularisierern Mexikos im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die die für kirchliche Prozessionen und Feste genutzten öffentlichen Räume mit Märkten und Umzügen zu Nationalfeiertagen zivil überformten. Mit der Ausrichtung des Empfangs der Olympia-Jugend auf dem Zócalo als historisch und sakral konnotiertem Ort verhalf das Mexikanische Olympische Komitee der Sportveranstaltung so zu einer Aura, die die noch junge urbane Peripherie nicht bot. Die fehlende Identitätsstiftung der Straße der Freundschaft führte Goeritz darauf zurück, dass zahlreiche Beiträge weniger für die Wahrnehmung im Fahren als zur Aufstellung in traditionellen Skulpturenparks geeignet waren.615 Ferner kritisierte er den dekorativen Charakter einiger Arbeiten, der sich mit dem ausufernden Wachstum der urbanen Umgebung im Laufe der Jahre verstärkt hat, sowie den fehlenden Gesellschaftsbezug einiger teilnehmender Künstler: Muß nicht in einer neuen ÖFFENTLICHEN KUNST das moralische, ethische Prinzip wieder in den Vordergrund treten und das Aesthetische [sic] überschatten? Muß nicht, da es heutzutage keine allgemeingültige Ethik gibt, der Künstler bei sich selbst anfangen (d.h. bei seiner Einstellung zur Kunst) und versuchen, vielleicht im Sinne Tatlin’s zu ,dienen‘?616
In diesem Sinne hatte auch Ramírez Vázquez die Erwartungen der Regierung nur unzureichend erfüllt. Als Gestalter der mexikanischen Pavillons auf den Weltausstellungen in Brüssel (1958), Seattle (1962) und New York (1964) sowie weiterer öffentlicher Gebäude war er ein ausgewiesener Experte für nationale Identität auf dem Gebiet der Architektur.617 Seine Ernennung zum Präsidenten des nationalen 275
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Olympischen Komitees galt als Garantie für die Schaffung einer olympischen Identität, die Die Straße der Freundschaft jedoch nicht einlöst. Erfolgreicher unter den für die Olympiade in Auftrag gegebenen Kunstwerken war dagegen Calders Skulptur Rote Sonne vor dem ebenfalls von Ramírez Vázquez realisierten Azteken-Stadion (1963-1966).618 Obwohl das Stabile ebenso am Periférico steht, verleihen ihm bereits seine auf den ,Kalenderstein‘ anspielende Namensgebung und die Benennung des zweitgrößten Fußballstadions der Welt nach den ersten ,Mexikanern‘619 Wahrzeichencharakter mit Traditionsbezug. Wie Goeritz’ für das Olympische Kulturprogramm entworfene Skulptur Großer Bär vor Candelas Sportpalast steht auch Rote Sonne in unmittelbarem optischem Bezug zur Architektur. Dieser – aber in noch stärkerem Maß der historische Bezug von Rote Sonne und der Sportarchitektur – definieren beide olympische Stätten als Orte. Sowohl das AztekenStadion als auch der Sportpalast sind bis heute viel frequentierte Orte für Sport- und Kulturveranstaltungen. Im Unterschied zu den isoliert stehenden Skulpturen der Straße der Freundschaft ist hier eine identifikatorische Wirkung entstanden. Bereits vor der Straße der Freundschaft, im August 1966, hatte Goeritz ein anderes Projekt als olympisches Skulpturenprogramm vorgeschlagen.620 Die Autobahn der Kunst 621 zeigt, dass hier stärker identifikatorische, ortsbildende Aspekte berücksichtigt wurden. Ein erklärtes Ziel war es, die monotonen Nord-Süd- und Ost-West-Autobahnen, die sich in der Hauptstadt kreuzen, mit großformatigen Betonskulpturen interessanter zu gestalten. Entlang der Autobahnen von der US-Grenze bis Guatemala und vom Golf von Mexiko bis Acapulco sollte so die Entwicklung neuer urbaner Zentren stimuliert werden: Ziel des Projektes war es nicht, neue Touristenorte zu errichten, sondern die Entwicklung neuer Städte und einer lokalen Industrie anzuregen. Ausgangspunkt sollte das Kunstwerk sein, um welches herum der Urbanismus harmonisch entworfen werden sollte.622
Stärker noch als bei den Türmen von Satélite räumte Goeritz der Kunst hier den Stellenwert ein, auf die Hauptstadt, das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes, zu verweisen und zugleich Impuls gebend für urbane Neuentwicklungen zu sein. Die Skulpturen der Autobahn der Kunst sollten nicht allein Zugänge zu Vorstädten wie Ciudad Satélite, jenseits der Metropolen, markieren, sondern eigene 276
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
Stadtentwicklungen stimulieren sowie Industrie und Wirtschaft an die neuen Städte binden. Die Idee, das Zentrum Mexikos symbolhaft zu thematisieren, hatte man zuvor in einem sakralen Kunstwerk aufgegriffen. Die Statue Cristo Rey (1944-1950, Abb. 163) von Nicolás Mariscal (1875-1964) in Silao, Guanajuato, befindet sich, im Unterschied zur geplanten Kreuzung der Autobahn der Kunst, im geographischen Zentrum Mexikos. Die Monumentalskulptur mit integrierter Wallfahrtskappelle wurde von der katholischen Kirche als homogenisierendes, religiöses Symbol den Homogenisierungsbestrebungen der Revolutionsregierungen entgegengesetzt.623 Während Cristo Rey an einem weltlichen Ort, als Christusfigur im ,Herzen‘ der Republik, nationale Einheit mittels religiöser Identität suggeriert,624 sollte der symbolische Knotenpunkt der Autobahn der Kunst in der Hauptstadt vielmehr die offizielle mexikanische Identität bestärken.625
163. Nicolás Mariscal und Fidias Elizondo: Cristo Rey, 1944-1950. Stein, Beton, Metall, Glas, Höhe: 20 m, Silao, Guanajuato
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Goeritz’ Entwurf einer Autobahn der Kunst knüpfte an dezentralisierende, urbanistische Änderungsvorschläge für die problembelastete Hauptstadt an, die in Plänen des Stadtplaners Carlos Contreras von 1933 und 1935 und Riveras Vorschlag einer Idealstadt südlich von Mexiko-Stadt (1935) wurzelten.626 Seit den 1940er Jahren wurden diese in Mexiko, in der Auseinandersetzung mit Le Corbusiers Ville Radieuse, als Stadtutopie und möglicher Ersatz für die bestehende Hauptstadt, die den Bedürfnissen des modernen Lebens nicht mehr entsprach, neu diskutiert. Riveras regionalistischem Bebauungsvorschlag für den Pedregal und Barragáns realisierter Pedregal-Siedlung standen der an unterschiedliche Bevölkerungsschichten gerichtete Vorschlag Panis und Mauricio Gómez Mayorgas Konzept einer Tabula Rasa in allen sozial und urbanistisch spannungsreichen Bezirken gegenüber.627 Die konzentrierten Massenwohnsiedlungen der 1950er und 1960er Jahre und Ciudad Satélite als „Stadt außerhalb der Stadt“,628 mit denen Pani die Probleme der Hauptstadt zu lösen versuchte, stellten die bestehende Metropole nicht grundsätzlich in Frage.629 Gómez Mayorga forderte dagegen den Abriss von Mexiko-Stadt.630 Er plante ernsthaft den Abtrag der Hauptstadt bis auf die gepflegten Wohngegenden am Chapultepec-Park, in San Ángel und Coyoacán, den Paseo de la Reforma und die Universitätsstadt. Auf diese Weise sollten die gravierendsten Probleme der Stadt beseitigt und auf ihren Trümmern eine neue errichtet werden.631 Ein solcher urbanistischer Ansatz schloss zwar in seiner Radikalität an Le Corbusiers geplanten Abriss und Neuauf bau von Paris an. Le Corbusiers Haltung, mit einer neuen Stadt brisanten sozialen Zuständen oder gar gesamtgesellschaftlichen Problemen zu begegnen, teilte Gómez Mayorga jedoch nicht. Die mexikanische Regierung schien sich an Gómez Mayorgas Einstellung zu orientieren und ging über die Stadt und ihre Bewohner als mögliche Ausgangsbasis für eine olympische Utopie hinweg.632 Goeritz’ Projektvorschlag, der durch eine Dezentralisierung zur Entzerrung der Probleme von Mexiko-Stadt hätte führen können, wurde aufgrund von hohen Kosten abgelehnt.633 Das geringe Interesse der mexikanischen Regierung und des Bürgermeisters von Mexiko-Stadt Ernesto Peralta Uruchurtu (1952-1966), die Olympiade als Anlass für entscheidende Verbesserungen der urbanen Struktur zu nehmen, waren ebenso Gründe für die Ablehnung des Projektes.634 278
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
Ein Vorläufer: Otto Freundlichs Straße der menschlichen Brüderlichkeit
Mit dem Interesse an Kunst, die soziale Prozesse initiiert, schloss Goeritz an seine zuvor formulierte Forderung nach einer lebensnahen Kunst mit identifikatorischer Wirkung, wie im Fall der Türme von Satélite, an: Sinn und Zweck der Kunst von heute bestehen in ihrem direkten und indirekten Einfluß auf das Leben, die Architektur, die Industrie, die Wissenschaften, die Philosophie und auf die Magie der unmittelbaren und fernen Zukunft.635
Goeritz’ gesellschaftsutopische Intentionen verweisen auf die Pläne für eine Straße der menschlichen Brüderlichkeit (1936) von Otto Freundlich (1878-1943).636 Der 1925 nach Frankreich emigrierte, deutsche Bildhauer637 plante als Hommage an Vincent van Gogh eine den europäischen Kontinent durchkreuzende Skulpturenstraße. Diese sollte von Norden nach Süden, ausgehend von van Goghs Geburtsort Groot-Zunert bei Breda, bis Aix-en-Provence am Mittelmeer verlaufen. Die West-OstStrecke sollte Belgien mit Deutschland, Polen und Russland verbinden. Ähnlich wie später Goeritz plante Freundlich eine Kreuzung der Straßen an einem identifikatorisch konnotierten, zentralen Punkt, van Goghs Begräbnisort Auvers-sur-Oise bei Paris. Hierfür entwarf er die Architekturskulptur Leuchtturm der sieben Künste (Abb. 164). Die so genannten Gebirgsskulpturen der Straße der menschlichen Brüderlichkeit waren von dem expressionistisch und abstrakt arbeitenden Freundlich, der zwischen 1918 und 1921 der „Novembergruppe“ angehörte,638 als 20 bis 30 Meter hohe, abstrakte Plastiken geplant. Sie sollten sich optisch der umgebenden Landschaft anpassen.639 Insbesondere Freundlichs Idee eines Gesamtkunstwerkes, das Künstler und Handwerker in gemeinschaftlicher Arbeit errichten, und die Intention, mit den Skulpturen soziale Prozesse wie die Verringerung von Arbeitslosigkeit aktiv anzustoßen,640 knüpfte an die Geisteshaltung der Expressionisten und des Bauhauses an. Ein Kollektivbewusstsein unter Künstlern hatten bereits der expressionistische Lyriker Paul Scheerbart und die Berliner Utopisten der Gläsernen Kette Bruno Taut und Walter Gropius zwischen 1919 und 1920 eingefordert,641 mit denen Freundlich in Austausch stand.642 279
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Sie wie auch Freundlich, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein Atelier im Nordturm der Kathedrale von Chartres bezog, verstanden die Kathedrale als höchsten Ausdruck gemeinschaftlicher Arbeit,643 worauf die Bauhausgründer in ihrem Programm von 1919 ebenfalls rekurrierten.644 An das Reform orientierte, sozialutopische Weltbild Freundlichs war das Ideal eines „sozialistische[n] Weltkollektiv[s]“ der Novemberrevolutionäre geknüpft.645 Diese gedachten, wie Rose Carole Washton Long gezeigt hat, ihr Ideal mit der Umsetzung politischer und kultureller Utopien in Deutschland in den frühen Jahren der Weimarer Republik zu realisieren.646 Freundlich, wie später Goeritz, leitete aus dieser Haltung Arbeitsformen ab, die den Künstler, als seit der frühen Neuzeit meist individuell Schaffenden, zurück in die Arbeit im Verband führen sollten.647 Goeritz, der im Manifest der Emotionellen Architektur gegen Individualismus in der Kunst plädierte,648 unterstrich in seiner Rede zur Eröffnung des Bildhauersymposiums in Mexiko-Stadt 1968 diese Forderung, indem er neben interdisziplinärer Arbeit auch die Bedeutung der Nähe von öffentlicher Kunst zur Bevölkerung hervorhob: Die Integration der Kunst von der Konzeption eines urbanen Komplexes an, ist für die heutige Zeit von enormer Bedeutung. Das
164. Otto Freundlich: Leuchtturm der sieben Künste, um 1936. Gipsmodell nach Karton, 35,5 x 37 x 46,5 cm, Donation Freundlich, Pontoise
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III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
Kunstwerk käme aus der Atmosphäre der ,l’art pour l’art‘ heraus und stellte den Kontakt mit den Massen durch die geplanten Komplexe her [...].649
Auch hier knüpft Goeritz an Freundlich und dessen reformnahe Haltung an. Goeritz’ Aufgreifen von Avantgardediskursen aus der Zeit vor und zwischen den Weltkriegen, noch Ende der 1960er Jahre, spricht von den zeitgenössischen Interessen von Künstlern im lateinamerikanischen Kontext.650 Mit dem Aspekt einer spirituellen Erfüllung durch Kunst, die in den okkultistischen und esoterischen Interessen von Expressionisten wie Kandinsky und Itten wurzelt,651 schloss Goeritz, der, so der Künstler, von Freundlichs Werk erst 1969 erfahren hat,652 bei jenem an. Die „Emotion“ bei Goeritz entspricht der „energetischen Funktion“, die der mit anthroposophischen Ansätzen vertraute Freundlich653 der Kunst zuwies: Die neue Skulptur hat die Bedeutung notwendiger tiefer Schatten begriffen, um den hellen Volumina der Skulptur im skulpturalen Ensemble des Hell und Dunkel ihre energetische Funktion zu geben. [...] Man könnte sie moderne Menhire nennen.654
„Moderne Menhire“, mit denen man auch die Türme von Satélite verglich, erzeugten nach Vorstellungen Freundlichs und Goeritz’ über eine abstrakte Formensprache Gemütsregungen bei den Betrachtern. Goeritz wies abstrakter öffentlicher Skulptur, wie zuvor dargelegt, darüber hinaus die Aufgabe einer spirituellen Erfüllung des Betrachters als „plastisches Gebet“ zu.655 Damit bezog er sich stärker noch als Freundlich, der 1921 mit der „Novembergruppe“ brach,656 auf von Sydows Interpretation des deutschen Expressionismus als religiöse Revolution.657 Ferner führte Goeritz in den Türmen von Satélite und mit den Auftragsanforderungen an die Skulpturen der Straße der Freundschaft zentrale Ideen des Expressionismus, wie eine abstrahierende Formensprache als Ausdruck universaler Spiritualität und den Kollektivgedanken, fort. Während eine Integration der Kunstwerke in den modernen Stadtraum im Fall der Türme von Satélite weitgehend gelungen ist, entsteht bei der Straße der Freundschaft kaum Kommunikation zwischen Werken und Betrachtern. Die angestrebte Lösung eines der größten Probleme, der fehlenden Identifikation der Bewohner mit der neu entstandenen Peripherie der Hauptstadt, blieb so aus. 281
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Volkserziehung im olympischen Mexiko
Goeritz’ sozialpolitischer Ansatz erhielt mit der Genehmigung des Projektes der Straße der Freundschaft durch das Mexikanische Olympische Komitee ein öffentliches Forum mit internationaler Projektionsfläche. Volkserzieherische Maßnahmen, wie das in öffentlichen Vorträgen und über Werbung verbreitete, offizielle Motto „Benimm dich, Mexikaner, die Olympiade kommt!“658, dienten ferner bereits ab 1965 zur mentalen Vorbereitung der Bevölkerung auf die Olympischen Spiele. Sie erinnern an die pädagogischen Intentionen der Liberalen in Mexiko Ende des 19. Jahrhunderts.659 Die Straße der Freundschaft geriert sich davor wie ein aktualisierter nationaler Lehrpfad, der durch neue Medialisierungsmöglichkeiten bis über die Grenzen der Republik hinaus wirkte. Dieser Eindruck verstärkt sich angesichts der Änderung des Mottos 1968 in „Alles ist möglich im Frieden“660, das heute angesichts der gewalttätigen innenpolitischen Repressionen noch vor Beginn der Spiele zynisch klingt. Unter dem Namen Straße der Freundschaft wurden so auch die von Präsident Díaz Ordaz ausgerufenen, und später als doppelbödig entlarvten olympischen Ideale, verbildlicht.661 Mit den Skulpturen von Künstlern aus verschiedenen an der Olympiade teilnehmenden Ländern machte das mexikanische Olympische Komitee, mit bis dahin ungekannter Konzentration und großem finanziellem Aufwand, Hochkunst aus aller Welt in Mexiko zugänglich. Zugleich wurden dem mexikanischen wie dem internationalen Publikum strukturelle Offenheit und Modernität der Nation suggeriert. Hatte man Ende des 19. Jahrhunderts ein mexikanisches Kosmopolitentum über Skulpturprogramme mit Heldenstatuen im BeauxArts-Stil unter Beweis stellen wollen, sollten nun eine internationale Künstlerauswahl und abstrakte Betonskulpturen den Status quo der Nation repräsentieren. Obwohl sich die Paradigmen geändert hatten, versuchte man, ähnlich dem Paseo de la Reforma, mit der Straße der Freundschaft eine viel frequentierte Verkehrsachse zu nobilitieren. Vor dem Hintergrund der Spaltung der Weltpolitik in Blöcke und einer Selbstdarstellung als für das Wohl der Menschheit Atom- und Erbgutforschung betreibenden Nation befand man nun eine als systemübergreifend postulierte Brüderlichkeit für repräsentativ. Diese drückte sich bildnerisch in der mit dem europäischen Expressionismus und dem Bauhaus identifizierten Abstraktion aus. 282
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Weder Die Straße der Freundschaft noch die innenpolitische Realität Mexikos konnten allerdings ihre Versprechen erfüllen. Das Studentenmassaker auf dem „Platz der Drei Kulturen“ von Tlatelolco vom 2. Oktober 1968 zeigte das Unvermögen der mexikanischen Regierung, das Land sozial zu befrieden, und rief den künstlerischen Ausdruck der mexikanischen Gegenöffentlichkeit auf den Plan. Die Formierung von Künstlerkollektiven nach Vorbildern der Revolutionskunst stellt eines der interessantesten Phänomene der öffentlichen Kunst in Mexiko dar, das eine Reihe ephemerer Werke und ikonoklastischer Anschläge gegen Denkmäler hervorbrachte. Die Kunst der so genannten „Gruppen“ (Los Grupos) wird im Teil „Ephemere Kunst im öffentlichen Raum: Arbeiten der mexikanischen Gruppenbewegung“ verhandelt.
Das Zentrum des Skulpturraums
Eines der eindrücklichsten Kunstwerke im öffentlichen Raum von Mexiko ist Das Zentrum des Skulpturraums (1978-1979, Abb. 165), das ein sechsköpfiges Künstlerkollektiv für das Kulturzentrum des Universitätscampus schuf. Der monumental wirkende Kreis mit 64 großformatigen Betonmodulen entstand 1979, anlässlich des 50. Jahrestages der Unabhängigwerdung der Universität, auf dem bis dahin unerschlossenen, südlichen Universitätsabschnitt. Räumlich zugeordnet entwarfen dieselben Künstler – Helen Escobedo, Manuel Felguérez, Mathias Goeritz, „Hersúa“, „Sebastián“ und Federico Silva – wenig später Einzelarbeiten für einen Skulpturenpark, der im Kontext zu den brutalistisch gestalteten Konzert- und Theatersälen und der Nationalbibliothek des Kulturzentrums steht. Dieses bildet den Kern des für das Universitätsjubiläum erschlossenen Terrains.662 Universitätsrektor Guillermo Soberón beauftragte 1977 den Koordinator der Geisteswissenschaftlichen Fakultät, Jorge Carpizo, damit, Künstler und Konzepte für ein Kunstprogramm im öffentlichen Raum vorzuschlagen. Carpizo wählte mit den sechs genannten Künstlern Bildhauer aus, die an der Kunstfakultät der Universität, der Escuela Nacional de Artes Plásticas (ENAP) und Nachfolge-Institution der Akademie San Carlos, unterrichteten. Ihnen war gemeinsam, dass sie sich den analytisch-abstrakten Formen des so genannten Geometrismo, der sich in Mexiko in den 1970er Jahren herausgebildet hatte, verschrieben hatten. Der mit nationalen Zuweisungen erfahrene Museograph 283
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Fernando Gamboa hatte diese bildhauerische Richtung 1976 mit einer Ausstellung abstrakter Skulptur im Museum für Moderne Kunst in Mexiko-Stadt als spezifisch ,mexikanisch‘ ausgewiesen und damit zum neuen nationalen Stil erhoben.663 Carpizo begründete seinen Vorschlag vor der Universitätsleitung, daran anknüpfend, mit zwei Argumenten: der Ebenbürtigkeit des Geometrismo gegenüber dem Muralismo als Kunstform, die über eine Verbindung von Avantgardeimpuls mit Tradition offiziell dem Fortschritt Mexikos dienen sollte, und dem Anknüpfen ersterer an die Anbringung der mexikanischen Wandmalerei im öffentlichen Raum. Dies wurde im Ausstellungskatalog über den Skulpturraum auch visuell nahe gelegt: Carpizo stellte hier eine Genealogie der von der Universität in Auftrag gegebenen öffentlichen Kunst her. Diese reichte von Riveras Enkaustik Schöpfung bis zu Hersúas Skulptur zur Erinnerung an die 50-jährige Unabhängigkeit (1979, Abb. 166) vor der Nationalbibliothek, die im Katalog O’Gormans Bibilotheksmosaiken gegenübersteht.664
165. Helen Escobedo, Manuel Felguérez, Mathias Goeritz, „Hersúa“, „Sebastián“ und Federico Silva: El Centro del Espacio Escultórico, 1978-1979. Basaltlava, Kiesschotter, vulkanisches Tuffsteingranulat (tezontle), Zement, Stahl, Durchmesser: 120 m, max. Höhe: 14 m, Centro Cultural, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma deMéxico, Mexiko-Stadt
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III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie 166. Hersúa: Escultura conmemorativa de los 50 años de la Autonomía, 1979. Beton, Stahl, Maße unbekannt, Centro Cultural, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt
Das Zentrum des Skulpturraums befindet sich auf einem Lavaabschnitt, der von Höhendifferenzen bis zu zehn Metern charakterisiert ist und speziell zum Jubiläum der Universitätsunabhängigkeit an einer der großen Ringstraßen des Campus erschlossen wurde. Das Kunstwerk liegt mehrere hundert Meter vom Campuszentrum entfernt außerhalb der Sichtweite der Architektur des Kulturzentrums. Der von ihm umschlossene Raum und seine Umgebung sind durch die buschige Sukkulentenbewachsung des Pedregal charakterisiert, der an dieser Stelle als Naturreservat ausgewiesen ist. Um die Arbeit zu erreichen, fährt man auf der Schnellstraße Insurgentes vom Universitätskern aus südlich, vorbei an dem mehrere Hektar großen Reservat auf beiden Straßenseiten. Dieses hinterlässt beim Betrachter den Eindruck, die Stadt bereits verlassen zu haben, bevor die Architektur des Kulturzentrums in Sichtweite kommt. Das Zentrum des Skulpturraums erschließt sich dem Betrachter erst nach kurzem Fußweg durch die urtümliche Vegetation, die in der Regenzeit von Juni bis Oktober üppig und in der Trockenzeit von November bis Mai äußerst karg ist (Abb. 167)665. Zunächst nimmt der 285
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
167. Helen Escobedo, Manuel Felguérez, Mathias Goeritz, Hersúa, Sebastián und Federico Silva: El Centro del Espacio Escultórico, 1978-1979 (Detailansicht)
Betrachter die mehr als doppelt menschhohen Betonmodule wahr, die auf einem 13 Meter breiten Umgang aus Lavabruch angebracht sind. Dieser ist mit Mörtel befestigt und mit Kiesschotter gefüllt (Abb. 168). Blickt man an den Modulen des 120 Meter durchmessenden, kreisförmigen Zentrum des Skulpturraums vorbei, öffnet sich ein großer Lavaausschnitt. Dessen erstarrtes Magma ist an dieser Stelle besonders wogenreich und ruft die seit dem späten 19. Jahrhundert in der mexikanischen Kunst und Literatur herangezogene Meeresmetaphorik auf. Die Oberfläche des Umgangs aus rot-braunem tezontle-Granulat bildet einen farblichen Kontrast zum Grau des Beton und zur dunklen, in Teilen mit blassgrünen Flechten bewachsenen Lava. Die 64 prismatischen Module sind rau verputzt. Sie basieren jeweils auf einer neun mal drei Meter großen Stahlbetonplatte und werden von innen durch vorgegossene Betonelemente und Zementfüllungen gestützt.666 Auf jedes 16. Element folgt ein verbreiterter Eingang, der zur Kreismitte über drei und zum Rand hin fast fünf Meter misst. Auf diese Weise entsteht eine gleichmäßige Vierteilung des Kreises.667 Besucher können Das Zentrum des Skulpturraums nicht nur vom Weg aus und aus dem Kreisinnern heraus betrachten. Sie können die 286
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168. Helen Escobedo, Manuel Felguérez, Mathias Goeritz, Hersúa, Sebastián und Federico Silva: El Centro del Espacio Escultórico, 1978-1979 (Detailansicht)
Betonmodule auch hinauflaufen und von der erhöhten Perspektive aus weit in das Tal von Mexiko hineinblicken. Im Norden liegen dem Betrachter der Kern der Universitätsstadt, im Süden die viel zitierte Rundpyramide von Cuicuilco und im Osten, an smogfreien Tagen, die großen Vulkane zu Füßen. Diese Komponenten verweisen auf die nationale Konnotation der Landschaft seit José María Velascos Landschaftsgemälden und der Ordnung der Landschaft durch die Universitätsarchitektur. Indem die Künstler den Betrachtern die Folgen des Stadtwachstums aus der erhöhten Perspektive vor Augen führen, stellen sie noch deutlicher als zum Beispiel Rivera in den Mosaiken am Universitätsstadion, eine industriekritische Haltung unter Beweis. Die Möglichkeit, sich visuellen und akustischen Beinträchtigungen zu entziehen, indem man in die Trichterform des Kunstwerks hinabsteigt, verstärkt diesen Eindruck. Südlich der campusinternen Ringstraße, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, befindet sich der in den folgenden zwei Jahren entstandene zweite Teil des Skulpturraums. Im Unterschied zum früheren liegt letzterer in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kulturzentrum und setzt sich aus sechs Einzelarbeiten zusammen, die in 287
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Stahl und Beton ausgeführt wurden. Die Kunstwerke tragen zum Großteil Namen in Náhuatl und repräsentieren abstrahierte Tiere, die in der aztekischen Mythologie zentrale Bedeutung haben.668 Mit den Gebäuden des Kulturzentrums wurden führende mexikanische Architekten beauftragt, nicht zuletzt um den Stand der zeitgenössischen Architektur in Mexiko abzubilden. Orso Núñez Etal, Arcadio Artis und Arturo Treviño errichteten das Kulturzentrum in drei Etappen: 1976 entstand zunächst ein Konzertsaal für 2300 Besucher, die Sala Nezahualcóyotl, anschließend Büros für die Kulturvermittlung an der Universität, zwei Theater und ein Museum. Erst in der dritten Bauphase wurde die Nationalbibliothek errichtet, die bis dahin im ehemaligen Templo de San Agustín in der Altstadt untergebracht war. Insbesondere mit der Verlagerung der wichtigsten Bibliothek Mexikos aus der Kirche San Agustín im Altstadtkern, die während der Revolution in staatliches Eigentum übergegangen war, auf den Campus wurde letzterer als Zentrum des Wissens in Mexiko bestärkt. Einerseits betonte man damit den Charakter der Nationaluniversität als laizistische Bildungsstätte, anderseits das Alemánsche Credo, nationale Identität über Bildung und Wissenschaft zu definieren. Deren neues Zentrum wurde damit einmal mehr in der Peripherie der Hauptstadt als Ort der mexikanischen Moderne bestätigt. An die Künstler stellte die Universitätsleitung die Aufgabe, mit ihren Arbeiten den nationalen Fortschritt zu unterstützen.669 Das Künstlerkollektiv nahm diese Bedingung an und stellte sich darüber hinaus in den Kontext der öffentlichen Kunst seit der Revolution.670 „Tradition“ und „Avantgarde“671 wurden im Zentrum des Skulpturraums erneut als Konstanten in die Pflicht genommen, mit denen die Bildhauer öffentliche ,mexikanische‘ Kunst zu gestalten anstrebten: Sie führten das Kunstwerk in bislang in Mexiko unbekannten Dimensionen aus und schufen zudem unkonventionelle Werk-Betrachter-Situationen. Über Material und Ortswahl schlossen sie auch an die in der Revolutionskunst eingeforderte Verknüpfung staatlich beauftragter Kunst mit der Geschichte ihrer Nutzer an, die ebenso in den öffentlichen Campus-Kunstwerken der 1950er Jahre virulent ist.672 Der Kunsthistoriker Juan Acha ging im Katalog der dokumentarischen Ausstellung zur Entstehung des Kulturzentrums im Universitätsmuseum davon aus, dass Das Zentrum des Skulpturraums dem Pedregal erstmals eine Identität verlieh.673 Wie zuvor gezeigt, war das Lavafeld jedoch bereits seit dem späten 19. Jahrhundert ein Topos in 288
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der mexikanischen Literatur und seit der späten Revolutionskunst Teil der ,mexikanischen‘ Ikonographie. Zudem wurde es Ende der 1940er Jahre Schauplatz divergierender sozialer und architektonischer Utopien: Die öffentliche Massenuniversität implizierte per se soziale Gerechtigkeit, Barragáns luxuriöse gated community dagegen die Konservierung eines ,ursprünglichen‘ Arkadien für Wohlhabende. Indem regierungsnahe Persönlichkeiten aus der Kultur, wie Mario Pani in der Zeitschrift Arquitectura Mexico, die konträr zueinander stehenden Utopien in Werbekampagnen zu einer gemeinsamen offiziellen Identität verbrämten, wurde die Glaubwürdigkeit amtierender Politiker, die die Herstellung eines ,gerechten‘ Mexiko behaupteten, in Frage gestellt. Parallel dazu wurde der Pedregal aber seit 1950 intensiv für die Repräsentation einer nationalen Identität des modernen Mexiko instrumentalisiert. Neu an der Wahrnehmung der „Vaterlandsphysiognomie“674 um 1980 war die wissenschaftliche Untersuchung des Lavaausschnitts, der in Das Zentrum des Skulpturraums integriert ist. Ziel war es, ein „Gesamtkunstwerk“ zu schaffen, das, über die Gattung Skulptur und die Teamarbeit hinaus, mit der Erforschung von Flora, Fauna und Geologie des bespielten Raumes auch ökologische Aspekte berücksichtigt.675 Während Siqueiros die Wissenschaftsikonographie zur Repräsentation von Modernität und Fortschritt heranzog und O’Gorman sowie Rivera mit dem Einsatz von Basalt auf die Vulkanikonographie referierten, waren die Künstler des Zentrum des Skulpturraums vielmehr daran interessiert, die ökologische Einzigartigkeit des Lavafeldes hervorzuheben. Vor diesem Hintergrund liest sich Achas Assoziation des Pedregal als vermeintliche Unbeschriebenheit des Lavafeldes, die in den 1970er Jahren jedoch tatsächlich längst überholt war.
Ein mexikanisches Earth work?
Die Skulpturen im Skulpturraum richten sich an eine breite Öffentlichkeit und wiederholen in diesem Aspekt eine der Voraussetzungen der Campus-Wandbilder der 1950er Jahre. Im Unterschied zu den frühen Arbeiten sind die Skulpturen jedoch nicht von der Straße aus einsehbar, sondern erfordern das gezielte Aufsuchen durch den Betrachter. In diesem Punkt entzogen die Künstler Das Zentrum des Skulpturraums Werk-Betrachter-Experimenten wie jenen Siqueiros’, 289
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die auf Wahrnehmungsbedingungen von mobilen Betrachtern in einer industrialisierten Umgebung Bezug nehmen.676 Stattdessen forderten die Künstler den Rückzug des Betrachters aus der Alltagswelt, um seine Aufmerksamkeit ganz auf das Kunstwerk und die in dieses integrierte Natur zu richten. Die Einzelarbeiten sind dagegen sowohl von der Straße als auch von den Veranstaltungssälen des Kulturzentrums aus weitgehend einsehbar. Um ihre Dreidimensionalität und den Raum, für den sie geschaffen wurden, vollständig zu erfassen, muss der Betrachter allerdings einen Pfad durch das Gelände abschreiten. Hierdurch entsteht, wie auch in der Betrachterwahrnehmung des Zentrum des Skulpturraums aus der tiefer gelegenen Skulpturmitte, ein Gefühl von Intimität. Die Lava-Topographie, in Goeritz’ Tier vom Pedregal noch Umraum, wird in dem ausufernden Modulring zum integralen Werkbestandteil, der die Skulptur rahmt, von dieser aber auch eingefasst wird. Trotz der Forderung nach Ruhe und Introversion ist, im Unterschied zu Barragáns Rechtfertigung der Siedlung Los Jardines del Pedregal, gerade der öffentliche Zugang für Das Zentrum des Skulpturraums charakteristisch.677 Der Philosoph Joaquín Sánchez Macgrégor sah in diesem Punkt Analogien zur Massenwirkung des frühen Kunstprogramms auf dem Universitätsgelände, aber auch zu prähispanischer Zeremonialarchitektur: Soziale Ansätze sind hier grundlegend: Wir sprechen nicht von einer Kommission, die einen privaten Salon dekoriert. Das Zentrum des Skulpturraums richtet sich an alle, Bürger und Ausländer, so wie der emblematische Turm der Bibliothek in der Universitätsstadt. Kunst für die große Zahl, wie die Pyramiden, Glasmalerei oder Wandbild [sic].678
Mit dem Verweis auf den öffentlichen und kollektiven Charakter des Zentrum des Skulpturraums, in dem die sechs Künstler, laut Sánchez Macgrégor, ihre Arbeitskraft, statt in individuellen Werken, in einer Gemeinschaftsskulptur bündelten, griff er die Debatte zwischen Siqueiros und Cardoza y Aragón aus den 1940er Jahren auf. Ähnlich wie Siqueiros sah auch Sánchez Macgrégor Öffentlichkeit und Kollektivismus als Leistungen der mexikanischen Kunst, die er von Werken einzelner Künstler für den Privatbesitz, den Cardoza y Aragón verteidigte,679 abgrenzte.680 290
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Wie die Künstler selbst681 reihte auch Sánchez Macgrégor Das Zentrum des Skulpturraums über Argumente in die Tradition öffentlicher Kunst in Mexiko ein, die sowohl der Muralismo als auch Goeritz in seiner ,Primitivismus‘-Rezeption herangezogen hatten. Insbesondere die Gleichsetzung von öffentlich, kollektiv und ,mexikanisch‘ bei Sánchez Macgrégor ruft Riveras und Siqueiros’ Rhetorik aus den Frühjahren des Kalten Kriegs auf. Vor diesem Hintergrund erhält, ähnlich den frühen Campus-Bildprogrammen, auch Das Zentrum des Skulpturraums volkserzieherischen Charakter. Durch seine großen Dimensionen, den abgelegenen Entstehungsort und die Konfrontation der industriell hergestellten Materialien Beton und Stahl mit Natur und Landschaft weckt Das Zentrum des Skulpturraums Assoziationen zu Werken der Land Art. Diese hatten Künstler wie Robert Smithson, Michael Heizer und Walter de Maria ab 1968 in den Wüsten im Süden der USA geschaffen. Während Sánchez Macgrégor die großformatige Arbeit auf dem Campus von einer „falschen Avantgarde“ abgrenzte und als einen neuen „Stil und [neue] Botschaft“682 proklamierte, wies Acha berechtigterweise auf Parallelen zur Land Art hin.683
169. Nancy Holt: Sun Tunnels, 1973-1976. Vier perforierte Betonröhren, je 6 x 3 m, Great Basin-Wüste, Utah
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Ähnlich den US-amerikanischen Earth works markiert die mexikanische Arbeit Natur mit Kulturelementen und knüpft damit an Barragáns Ansatz an, Architektur und Skulptur zur Ordnung von Natur und Landschaft einzusetzen. Im Unterschied zu Barragáns Architektur geht es in der Monumentalskulptur jedoch darum, das Lavafeld als einen Ort zu markieren, der durch die Spätfolgen der Industrialisierung ökologisch bedroht ist. Die Natur ist als Ausgangsbasis der Kunst, nicht als exklusives Arkadien inszeniert. Die Künstler setzten sich zudem zum Ziel, eine „Harmonisierung“684 der urtümlichen Lavapetrifikation und des geometrischen Raumes zu erreichen, während Barragán insbesondere den Kontrast der Natur zur geometrischen Architektur betonte. Beim Durchschreiten der Arbeit auf dem kreisförmigen Umgang und innerhalb des eingefassten Lavastücks entsteht eine intensive Zeitbewusstheit beim Betrachter. Diese wird ähnlich bei Nancy Holts Gruppe aus vier groß dimensionierten Betonskulpturen Sun Tunnels (1973-1976, Abb. 169) und Walter De Marias Lightning Field (1977) aus 400 Stahlstäben spürbar. Der eingesetzte Beton, der durch Erosion langfristig wieder in den Naturkreislauf eingeht, ruft den Formzerfall des natürlichen Materialkomposits und damit die entropische Dimension von Land Art auf.685 Die nach Jahreszeiten unterschiedliche Vegetation und die Kreisform des Zentrum des Skulpturraums sind hingegen Verweise auf das Zyklische der Natur und deren Befähigung zur Erneuerung. Der Kreis, wie das Universitätsstadion, knüpfen an die Form von Vulkankratern sowie an die nahe gelegene Rundpyramide von Cuicuilco an. Auch darüber hinaus ließ sich das Künstlerkollektiv, wie einige Land-Art-Vertreter, von kulturellen Zeugnissen vergangener Kulturen inspirieren.686 Smithson, der sich mit den bis heute nicht vollständig entschlüsselten Wüstenzeichnungen der Nazca in Peru687 und der Maya-Kultur auseinandersetzte, und die Künstler des Skulpturraums thematisierten Vorstellungen von kulturellen ,Ursprüngen‘. Während Land-Art-Vertreter wie Heizer, Smithson und de Maria ihre Kunst in die Wüste trugen, markierten die mexikanischen Bildhauer mit dem Zentrum des Skulpturraums ein Stück verbliebener Natur in einer der größten Metropolen der Welt. Beide brachten, entgegen den üblichen industriellen Verwertungsmechanismen von Natur, Beton als Zivilisationsprodukt zurück in unberührt wirkende, natürliche Umgebungen, deren Intaktheit jedoch auf unterschiedliche Weise 292
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bedroht war:688 Viele Land-Art-Arbeiten in den Wüsten von New Mexiko und Nevada entstanden so in der Nähe von US-amerikanischen Weltraum- und Rüstungstestgebieten und konterkarierten die industrielle und technologische Erschließung der Natur.689 Das Lavastück, auf dem der Skulpturraum entstand, ist dagegen Teil des letzten Naturreservats im Pedregal, der durch das rasante Wachstum der Hauptstadt inzwischen annähernd vollständig bebaut ist. Im Zentrum des Skulpturraums wie in den Land-Art-Werken steht die durch Kulturelemente als besonders kostbar konnotierte Natur ,kontaminiertem‘ Raum gegenüber. In diesem Aspekt ist Das Zentrum des Skulpturraums als eine mexikanische Variante der US-amerikanischen Land Art interpretierbar, die von der Wüste zurück in die Stadt überführt wird. Die mexikanischen Künstler verstanden ihr Werk, obwohl ein öffentlicher Auftrag, als eine Arbeit jenseits politischer und wirtschaftlicher Interessen und setzten sich zum Ziel, Kunst im Sinne ihrer Betrachter zu schaffen. Die meiste öffentliche Kunst der Hauptstadt fassten sie hingegen als Aggression gegen die mexikanische Metropole und ihre Bewohner auf.690 Sie stellten damit, neben einer Orientierung an den ,Ursprüngen‘ von Kultur, Teile der öffentlichen Kunst in Mexiko in Frage.
Naturaufwertung, Industriekritik und nationale Identität im Zentrum des Skulpturraums
Die Industriekritik, die die Künstler des Skulpturraums in ihrem Manifest äußerten, weist auf die Ambivalenz ihres Werks hin: Einerseits erklärten sie sich – wie von Carpizo gefordert – damit einverstanden, Kunst zu schaffen, die einen Beitrag zur Modernisierung Mexikos liefern sollte. Andererseits kritisierten sie die Folgen der für diese grundlegenden Industrialisierung, die Ende der 1970er Jahre einen neuen Höhepunkt erreicht hatte: Unter Präsident José López Portillo (1976-1982) hatten große Ölfunde im Süden des Landes, angesichts steigender Ölpreise auf dem Weltmarkt, zu einer starken Außenverschuldung Mexikos zugunsten inländischer Investitionen geführt. In Mexiko-Stadt wurde beispielsweise das Schnellstraßennetz in dieser Zeit um insgesamt rund 200 Kilometer erweitert, was zu einem entsprechenden Verlust an Bäumen und einer Steigerung der Abgasemissionen führte.691 Angesichts solcher gravierender Eingriffe in die Um293
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
welt sahen die Künstler des Skulpturraums es als dringlich an, die Erde und den geometrischen Raum miteinander metaphorisch in Einklang zu bringen.692 Statt diesem Effekt erreichten sie mit der Gegenüberstellung von Lavafeld und Betonmodulen vielmehr eine Konfrontation: Die an das Stadtwachstum ,verlorene‘ Natur wurde mit Beton, dem wohl charakteristischsten Material des industrialisierten Raumes,693 markiert. Die ,Kostbarkeit‘ der Natur wurde darüber zusätzlich hervorgehoben. Zugleich knüpften die Künstler an Smithsons kulturpessimistisches Verständnis von der Erdzerstörung durch Rohstoffausbeutung als destruktiven geologischen Prozess an, die dieser in Arbeiten wie The Sand-Box-Monument (1967) thematisierte.694 Während Beton in Europa, durch dessen intensiven Einsatz zum Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, seit den späten 1960er Jahren als entscheidender Faktor für die „Unwirtlichkeit unserer Städte“ kritisiert wurde,695 erfuhr das Material in Mexiko, neben industriekritischen Rezeptionsansätzen, auch positive Konnotationen. Als Material der mexikanischen Moderne symbolisierte es, wie die Untersuchung des Olympiaprojekts der Straße der Freundschaft gezeigt hat, nationalen Fortschritt, dessen Bestärkung die Künstler des Skulpturraums beim Erhalt des Auftrags für ihr Werk zustimmten. Beton wurde im Zentrum des Skulpturraums so nicht allein industriekritisch, sondern, gemeinsam mit Basaltlava und dem Pyroklastikum tezontle, auch repräsentativ für das seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertretene Nationalverständnis Mexikos als Konstrukt aus drei Kulturen eingesetzt: Eruptivgesteine, insbesondere Basalt, wurden, wie zuvor ausgeführt, bereits von den Olmeken, der ältesten bekannten Kultur auf heutigem mexikanischem Terrain, und von den maßgeblich mit dem prähispanischen Mexiko identifizierten Azteken als bildnerisches Material verwendet.696 Diese verputzten darüber hinaus Skulptur und Architektur mit Zement, bevor sie sie polychromierten.697 Tezontle dagegen prägt das Bild der meisten mexikanischen Altstadtzentren und speziell der Hauptstadt. Ein Großteil der Stadtpaläste im historischen Zentrum wurde mit diesem Material verblendet. Der mexikanische Schriftsteller Octavio Paz verglich dessen Farbe mit „getrocknetem Blut“698 und spielte damit auf die gewaltreiche Konquista im 16. Jahrhundert an. Während man den Umgang des Zentrum des Skulpturraums mit tezontle-Granulat auslegte, wurde die Lava als ,ursprungsnahes‘ Mate294
III Abstrakte Skulptur im öf fentlichen Raum der Per ipher ie
rial bis auf eine Reinigung mit Salz weitgehend natürlich belassen. Sie steht den Betonmodulen als minimalistisch wirkenden, ordnenden Elementen gegenüber. Ähnlich wie Riveras Geschichte Mexikos und der Platz der Drei Kulturen in Tlatelolco mit freigelegten Tempelresten aus der Aztekenzeit, einer Kolonialkirche und Panis Massensiedlung das tradierte mexikanische Geschichtsbild visualisieren, greifen auch die Künstler des Zentrum des Skulpturraums in Material und Form auf das Konzept der Dreiteilung zurück. Die prähispanische, speziell die aztekische, Vergangenheit wird im Kulturzentrum der Universität so nicht allein mit der Namensgebung des größten Konzertsaals Mexikos nach dem aztekischen Dichterfürsten Nezahualcóyotl699 als Ausgangspunkt für die mexikanische Kultur und Geschichte übernommen. Sie wird ebenso über Material und Form in die wichtigste Skulptur des Ensembles übertragen. Dass die Künstler Das Zentrum des Skulpturraums im Kollektiv realisierten, hing maßgeblich mit Goeritz’ Einfluss zusammen.700 Goeritz, der über die visuellen Ergebnisse der Straße der Freundschaft enttäuscht war,701 sah im Zentrum des Skulpturraums eine neue Möglich-
170. GUCADIGOSE: Sin título, 1975-1976. Erde, Backsteinziegel, Zement, Maße unbekannt, Tabasco, Villahermosa (zerstört)
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
keit, „kollektive“ Kunst zu schaffen. Bereits 1975 hatte er gemeinsam mit Ángela Gurría, Alexander Calder, Juan Luis Díaz, und Sebastián die Gruppe GUCADIGOSE gegründet702 und eine Serie von heute zerstörten Skulpturen aus Backstein und Zement entlang der Stadtautobahn von Villahermosa im Bundesstaat Tabasco geschaffen (Ohne Titel, 1975-1976, Abb. 170). Im Unterschied zum Olympiaprojekt und den Werken in Tabasco war Goeritz und den anderen teilnehmenden Künstlern beim Zentrum des Skulpturraums, als einer Arbeit, die auf dem Universitätscampus errichtet wurde, neben Interdisziplinarität auch die Integration wissenschaftlicher Methoden wichtig.703 Obwohl die von Juan O’Gorman gestaltete Bibliothek samt Mosaiken bis heute als Wahrzeichen der Universität gilt, wird auch Das Zentrum des Skulpturraums häufig mit der Universität identifiziert. Ein Kunstwerk und einen Raum zu schaffen, die die Betrachter bis heute aus dem bisweilen hektischen Alltag der Mega-Stadt Mexiko in die Ruhe des Naturreservats hineinziehen, ist den Künstlern des Zentrum des Skulpturraums tatsächlich gelungen. Die Forderungen der Wandmaler und der universitären Auftraggeber nach öffentlicher Sichtbarkeit und Nutzung sowie die von Barragán angestrebten Rückzugsmöglichkeiten aus den visuellen, akustischen und olfaktorischen Reizen der Großstadt wurden damit in einem neuen Ansatz verbunden.
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IV Ephemere Kunst im öffentlichen Raum: Arbeiten der mexikanischen Gruppenbewegung
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Betrachtet man die Kunst im öffentlichen Raum in Mexiko nach 1950, gingen, gerade mit Hinblick auf gegenwärtige Tendenzen, die vielleicht interessantesten Impulse von der mexikanischen Gruppenbewegung der 1970er Jahre aus, die ephemere Arbeiten im öffentlichen Raum schuf. Während die Ablösung der Muralisten mit der internationalen Öffnung der mexikanischen Kunst in den 1950er Jahren einhergegegangen war, bezogen sich Gruppen wie Proceso Pentágono, Suma, Taller de Arte e Ideología und Tepito Arte Acá – in ihrer Existenzform und bisweilen auch inhaltlich und formal – erneut auf die frühe Revolutionskunst. Zahlreiche Gruppen bildeten sich im Kontext der mexikanischen 68er-Bewegung und schlossen sich 1978 zur Mexikanischen Front der Kulturarbeitergruppen (FMGTC)704 zusammen. Ähnlich wie die vormalige Gewerkschaft der Revolutionskünstler und der Zusammenschluss von Populärgrafikern im Taller de Gráfica Popular (1937) strebten viele der Gruppen einen direkten Gesellschaftsbezug an. Während die Wandbilder der Künstlergewerkschaft als öffentliche Aufträge in der Revolutionszeit entstanden waren, richteten sich die meisten Arbeiten der Künstlergruppen der 1970er Jahre gegen staatliche Repressionen und die Ineffizienz der mexikanischen Kulturinstitutionen. Statt utopischer Gesellschaftspanoramen schufen Gruppen wie Março und Taller de Investigación Plástica (TIP) Textcollagen (Abb. 171) und Wandbilder im öffentlichen Raum (Abb. 172), in deren Entstehungsprozess die Betrachter einbezogen wurden. Tradierte Verhältnisse von Produktion und Rezeption, die der frühe mexikanische Muralismo und die öffentliche Skulptur in Mexiko vertreten hatten, wurden mit der Aufforderung des Betrachters zur aktiven Teilnahme aufgehoben.705 Gruppen wie Mira, Germinal und der an der Philosophie-Fakultät der Universidad Nacional Autónoma de México gegründete Theorieworkshop Taller de Arte e Ideología (TAI) schufen – meist heliographisch vervielfältigte – Druckgrafik und Banner. Diese zeigten institutionskritische Karikaturen, Embleme und Texte und wurden 299
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
insbesondere auf Demonstrationen eingesetzt. Stärker noch als die Muralisten, deren Werke in der Regel von einer Vielzahl von Mitarbeitern umgesetzte Einzelpositionen und selten Gemeinschaftsentwürfe waren, betonten die Gruppen zudem das Kollektiv als Arbeitsform. Allein die Gruppe Tetraedro schlug, ähnlich den Kollektiven GUCADIGOSE und des Skulpturraums, die sich aus abstrakt arbeitenden Bildhauern formiert hatten, geometrische Skulptur für den öffentlichen Raum vor. Andere Gruppen traten hingegen in Opposition hierzu und schufen statt Monumentalskulptur ephemere Werke. Den Anspruch von Dauerhaftigkeit, den Bildhauer wie Rivera und Asúnsolo, aber auch Goeritz und andere abstrakt arbeitende Künstler erhoben hatten, lehnten sie ab.706 Während die meisten Gruppen die Images der offiziellen nationalen Identität ablehnten, zeigten einige unter ihnen ein großes Traditionsbewusstsein. Hierin unterschieden sie sich von Künstlergruppen der europäischen Protestbewegung wie der Londoner Artistic Placement Group (1965-1989), dem Collectif d’Art Sociologique (1974-1980) und dem Groupe Untel (1974-1978) in Paris707. Einige traditionsorientierte mexikanische Gruppen setzten nun Götter der toltekisch-aztekischen Mythologie wie Quetzalcóatl und Tezcatlipoca sowie die Jungfrau von Guadalupe in ihren Arbeiten ein und überlagerten sie mit Populärikonographien und Bildern von dokumentierten Menschenrechtsver-
171. Março: Poema Urbano, 1981. Polaroid-Fotografie der Aktion im Zentrum von Mexiko-Stadt, Archiv Mauricio Guerrero, Mexiko-Stadt
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IV Ephemere Kunst im öf fentlichen Raum
letzungen. Die Künstler kombinierten alltägliche Gebrauchs- und Industriematerialien wie Sperrholz, Pappe und Plastik mit Abfällen und fotokopierten Zeitungsausschnitten. Die Olympiade von 1968 und die sich zeitgleich ereignenden Vorgänge gegen die Studentenbewegung wirkten katalysatorisch auf die Entwicklung typographischer Schriften und die Produktion von Dokumentarfilmen. Diese entstanden in Abgrenzung von der offiziellen visuellen Identitätskampagne anlässlich der XIX. Olympischen Spiele. Typographie und Film zählten zu den wichtigsten Medien der mexikanischen Protestbewegung, in der auch einige Mitglieder der späteren Künstlergruppen aktiv waren.708 Im Kern bildeten sich die Künstlergruppen in der Atmosphäre der 68er-Bewegung an den großen Universitäten von Mexiko-Stadt heraus. An der Escuela Nacional de Artes Plásticas sowie der Kunsthochschule La Esmeralda wurden studentische Workshops eingerichtet, um soziale und politische Theorien zu diskutieren und Banner und Flugblätter für Demonstrationen herzustellen. Mit diesen setzten sich die Studenten für die Freilassung politischer Gefangener ein. Sie richteten sich auch gegen die mexikanische Regierung, die mit militärischen Interventionen gegen die Unruhen an den Universitäten vorging. Insbesondere das Schaffen von Kunst in Auseinandersetzung mit philosophischen und soziologischen Diskursen sowie mit konkreter sozialer Bestimmung war für viele Workshopteilnehmer grundlegend und prägend für ihre spätere Arbeit in Künstlergruppen. Die vielleicht frühesten Vorboten für eine Bildung von Künstlergruppen waren ikonoklastische Eingriffe durch Studenten der Universidad Nacional Autónoma de México an öffentlichen, staatlich beauftragten Monumentalskulpturen. Bereits 1960, zu einem Zeitpunkt großer Spannungen zwischen der Universitätsleitung und der Studentenschaft, richtete sich der Zorn der Studenten gegen Ignacio Asúnsolos Alemán-Statue vor dem Rektorat auf dem Campus. Sie brachten Farbe auf das Bildnis des geistigen Errichters der Universitätsstadt und versuchten, es zu kippen und zu sprengen. Die beschädigte Skulptur wurde nach dem Ereignis im Auftrag der Universitätsleitung restauriert und überarbeitet. Nach einem zweiten Sprengungsversuch 1965 beließ die Universitätsleitung die Statue hingegen im zerstörten Zustand und zäunte sie mit Wellblech ein.709 Mit der zunehmenden Einflussnahme der mexikanischen Politik unter der Regierung Díaz Ordaz auf Belange der größten Universität Mexikos verstärkte sich der Zorn der Studentenschaft. Auf dem Höhe301
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punkt der Auseinandersetzungen brachten Künstler des ersten Salón Independiente, einer Gegenausstellung zum jährlichen Kunstsalon des Nationalinstituts für Schöne Künste,710 im Sommer 1968 ein Ephemeres Wandbild (Abb. 173) mit Protestsymbolen auf dem Metallzaun an, der um die Alemán-Statue errichtet worden war.711 Einige der Maler des Ephemeren Wandbildes zählten ab Mitte der 1970er Jahre zu den Gründern der Künstlergruppen, weshalb das Bild berechtigterweise als Ausgangspunkt für die öffentliche Protestkunst in Mexiko gilt.712 Das von der Regierung Díaz Ordaz nur kurz darauf, am 2. Oktober 1968, unter demonstrierenden Studenten angerichtete Massaker von Tlatelolco bestärkte die Entwicklung einer differenzierten Protestkunst in Mexiko zusätzlich. Zahlreiche Künstler schlossen sich Mitte der 1970er Jahre, zum Teil bereits früher, zu Gruppen zusammen. Deren offizielle Anerkennung erfolgte 1976, als die Künstlerin und Leiterin des Universitätsmuseums für Wissenschaften und Kunst Helen Escobedo die Ausschreibung für die Teilnahme Mexikos an der X Biennale für Junge Künstler in Paris speziell an Kollektive richtete. Ausgewählt wurden Proceso Pentágono, Suma und Tetraedro, die sich für eine Teilnahme an der Biennale gebildet hatten, und der Theorie- und Aktionsworkshop Taller de Arte e Ideología. Alle vier Gruppen vertraten Mexiko 1977 in Paris,713 nachdem im Vorfeld die politische Ausrichtung der lateinamerikanischen Sektion in Kritik geraten war. Deren Kommissar, der uruguayische Kurator und heutige Direktor des Nationalmuseums für Visuelle Künste in Montevideo Ángel Kalenberg, stand unter dem Verdacht der Diktaturnähe. Die mexikanischen Teilnehmer forderten darauf hin die Präsentation ihrer Arbeiten räumlich getrennt von denen der anderen lateinamerikanischen Länder, was nach längeren Diskussionen umgesetzt wurde. Die Biennale für Junge Künstler in Paris von 1977 wird in der mexikanischen Literatur – berechtigterweise – als zweites Schlüsselmoment der Gruppenbewegung rezipiert.714 In Vorfeld und Nachwirken gab die Biennale den Impuls für zahlreiche Gruppengründungen wie Mira, El Colectivo, Germinal, Peyote y la Compañía, Março und No Grupo. Ferner verhalf die Pariser Kunstschau den Gruppen als Vertretern der mexikanischen Gegenöffentlichkeit und zugleich ausgewählten Repräsentanten Mexikos erstmals zu einer internationalen Präsentationsmöglichkeit. Die offizielle Anerkennung neuer Kunstformen in Mexiko markierte dennoch auch den Beginn von deren Institutionali302
IV Ephemere Kunst im öf fentlichen Raum
172. Publizierte Aktionsdokumentationen von Taller de Investigación Plástica, 1979
173. José Luis Cuevas, Manuel Felguérez, Ricardo Rocha, Francisco Icaza, Benito Messeguer u.a.: Mural efímero, 1968 (Ansicht der Süd- und Westseite). Farbe auf Metall, Maße unbekannt, Geisteswissenschaftlicher Campus, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt (zerstört)
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sierung, die in der Subsumierung unter ,alternative Kunst‘ (arte alternativo) Anfang der 1980er Jahre mündete.715 Die mexikanischen Gruppen machten sich, neben Ausstellungen wie der Pariser Biennale und dem experimentellen Ableger des vom Nationalinstitut für Schöne Künste veranstalteten Salons 1979, vornehmlich den öffentlichen Raum der Hauptstadt, seltener der Provinz, zu eigen.716 Mira und Germinal intervenierten mit Flugblättern und Demonstrationsbannern (Abb. 174), Suma mit Wandbildern an Außenwänden von populären Marktgebäuden, viel frequentierten UBahn-Stationen und großen Verkehrsachsen, bis mit der Auflösung des politischen Flügels der Gruppen im FMGTC 1984 auch die Aktivitäten der meisten Künstlerzusammenschlüsse endeten. Im folgenden Kapitel wird der Einschnitt in die mexikanische Kunst durch die Gruppenbewegung untersucht, die sich während der kurzen Dauer ihrer Existenz von den 1970er Jahren bis 1984 zum Ziel setzte, die mexikanische Kunst in neue Bahnen zu lenken.717 Im Fokus steht dabei, wie öffentliche Arbeiten der Künstlergruppen mit Positionen brechen, die die Bildung und Projektion von nationaler Identität bestärken, aber auch an solche Positionen und die frühe Wandmalerei anschließen. Grundlegend hierfür ist das Spannungsfeld der Räume, in dem die ephemeren öffentlichen Arbeiten angebracht wurden. Als die Künstlergruppe Março 1981 Passanten im historischen Zentrum von Mexiko-Stadt zur Teilnahme an einem Urbanen Gedicht (Abb. 171) einlud, löste sie heftige Reaktionen aus. Ein Gruppenmitglied von Março verteilte auf kleine Papptafeln gebrachte Wörter wie „espacio“ (Raum), „arma“ (Waffe), „palabra“ (Wort) und „canto“ (Gesang) unter Schaulustigen. Die meisten Angesprochenen brachten sich interessiert ein. Ein anwesender Polizist fühlte sich hingegen provoziert, als er das Wort „cárcel“ (Gefängnis) erhielt. Doch statt seine Teilnahme umgehend zu verweigern, gab er, wie die Filmdokumentation der Aktion zeigt, zu, im Strafvollzug willkürlich seine Staatsgewalt missbraucht zu haben. Auf die Frage der Aktionsleiterin, ob er das Wort „cárcel“ an sie zurückgebe, weil er meine, sie gehöre dorthin, antwortete er: „Nicht ihr, sondern wir gehören ins Gefängnis“, und ging. Die Aktion Urbanes Gedicht und deren visuelle Dokumentation führen die Auseinandersetzung der Künstlergruppen mit sozialen und politischen Spannungen in Mexiko nach 1968 auf eindringliche Weise vor. Alle drei Grundsätze der 1979 im Umfeld der Studentenbewegung gegründeten Março-Gruppe, vom Wort ausgehend im Kol304
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174. Mira: Comunicado gráfico, 1978. Grafik, Maße unbekannt, Archiv Arnulfo Aquino, Mexiko-Stadt
lektiv Kommunikation zu erzeugen,718 fließen in der dokumentierten Reaktion des seine Gewalttätigkeit zugebenden Ordnungshüters zusammen. Zugleich führt Urbanes Gedicht das Kernanliegen der mexikanischen Kollektive der 1970er und 1980er Jahre vor Augen, Kunst aus der Perspektive der Gegenöffentlichkeit zu schaffen, die der aktiven Teilnahme des Betrachters bedarf.719 Die Arbeiten der mexikanischen Künstlergruppen im öffentlichen Raum entstanden, analog zu den wichtigsten Aktionsplätzen der Studentenbewegung, vornehmlich auf den Geländen der Universidad Nacional Autónoma de México, der in den 1970er Jahren gegründeten Universidad Autónoma Metropolitana und des Instituto Politécnico Nacional am Stadtrand und in deren Umgebung. In Anknüpfung an die Wandmalerei der 1920er Jahre wurde auch das historischen Zentrum von Mexiko-Stadt erneut zum Ort für zeitgenössische Kunst im öffentlichen Raum. Die Gruppe Suma (1976-1982) schuf nur kurzzeitig existierende und bald übermalte Wandbilder an der U-Bahn-Station Taxqueña in der Nähe der Universidad Nacional Autónoma de México 305
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im Süden von Mexiko-Stadt (Abb. 175).720 Das Taller de Arte e Ideología arbeitete dagegen auf dem Campus selbst und entwickelte vornehmlich Theorien über öffentliche Kunst.721 Gruppen wie Março und Mira (ab 1977), die vor allem Grafik für Flugblätter und Publikationen der 68er-Bewegung schuf, konzentrierten sich, wie das Kollektiv Germinal,722 auf das Altstadtzentrum als Wirkungsort. Zentral für die Entstehung der mexikanischen Gruppenbewegung in den 1970er Jahren waren die Ereignisse um den ersten Salón Independiente im Oktober 1968. Dieser wurde als Protestausstellung gegen die staatliche Olympia-Kunstausstellung Exposición Solar von Künstlern wie Rufino Tamayo, Leonora Carrington, Alberto Gironella und José Luis Cuevas organisiert. Obwohl von der Kulturabteilung der UNAM unterstützt, fand der Salón nicht auf dem am 17. September vom Militär besetzten Campus statt, sondern im Kulturzentrum Centro Cultural Isidro Fabela in San Ángel.723 Die Künstler richteten sich mit der Bildung des Salón Independiente gegen die Veranstalter vom Nationalinstitut für Schöne Künste, die vier Gattungen zur Teilnahme an der Exposición Solar ausgeschrieben hatten, darunter jedoch neben Malerei, Skulptur und Grafik ebenso eine Technik, Aquarellmalerei, verstanden. Neben der mangelnden fachlichen Kenntnis der Veranstalter sahen die Künstler auch in den Preisen der nationalen Salons keinen Nutzen für die Kunst in Mexiko, sondern allein für den Kunstmarkt und forderten eine Überarbeitung der Salonausschreibung.724 Nach dürftigen Reaktionen von offizieller Seite 725 veranstalteten die Künstler parallel zur Olympiade einen Salon mit über 30 Teilnehmern. Die ausgestellten Werke reichten von Carringtons surrealistischem Ansatz, über die ,neue Figuration‘ der 1960er Jahre in der Malerei von Gironella und Rafael Coronel bis zu den abstrakten Formen des Malers und Bildhauers Manuel Felguérez. Explizit wurden auch ausländische, in Mexiko lebende Künstler eingeladen, während die Exposición Solar einen Aufenthalt der Teilnehmer im Land von mindestens fünf Jahren voraussetzte.726 In dieser angespannten Stimmung, die sich nach erneuten Repressionen gegen die Studentschaft Ende Juli 1968 zuspitzte, reagierte die mexikanische Kunstszene teils mit Bildverweigerungen, teils mit der Produktion von Bildern zur Unterstützung der Studentenbewegung. In der Gruppenschau Obra 68, einer Nebenausstellung des offiziellen Kunstsalons, der vom August bis September 1968 stattfand, wand306
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ten so einige Künstler die Vorderseiten ihrer bereits fertig gestellten Gemälde vom Publikum ab und brachten auf den Rückseiten Protestund Solidaritätsbekundungen an. Der Maler Gilberto Aceves Navarro schrieb: „Dort, wo es Repressionen gibt, kann ich mich nicht ausdrücken. Wenn es Aggression gibt, kann ich nicht schweigen.“727 Die Malerin Fanny Rabel zitierte Präsident Díaz Ordaz: „Die Kultur ist die wunderbare Frucht der Freiheit“, und fügte hinzu: „Wir unterstützen die gerechten Forderungen der Studenten.“ 728 Einige Vertreter des Salón Independiente, darunter Felguérez, Cuevas, Lilia Carrillo, Francisco Icaza und Benito Messeguer, schufen dagegen neue Bilder im öffentlichen Raum des Universitätscampus zur Unterstützung der Protestbewegung. Das von ihnen geschaffene und wenig später zerstörte Ephemere Wandbild glich einer collagehaften Anklagewand, die sich, mit behelmten Totenköpfen, US-Flaggen und Gefängnisszenen bemalt, gegen die von der Wellblechwand verborgene Präsidentenstatue als Symbol staatlicher Macht richtete (Abb. 176).729 Ein Gorilla an der Südseite rief die zeitgenössische Ikonographie aus Karikaturen von mexikanischen Politikern auf, die sowohl in der 68er-Druckgrafik (Abb. 177) als auch in der Malerei präsent
175. Grupo Suma: Estación Metro Taxqueña, 2.10.1976. Fotografie des temporären Wandbildes, Maße unbekannt, Archiv Grupo Suma/Mario Rangel Faz, Mexiko-Stadt
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176. José Luis Cuevas, Manuel Felguérez, Ricardo Rocha, Francisco Icaza, Benito Messeguer u.a.: Mural efímero, 1968 (Ansicht der Südseite). Farbe auf Metall, Maße nicht bekannt, Geisteswissenschaftlicher Campus, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt (zerstört)
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waren.730 Zugleich rekurrierten Elemente des Ephemeren Wandbildes auf tradierte Vorbilder der Anti-Kriegs-Ikonographie, so der Kopf eines sich auf bäumenden Pferdes an der Nordseite (Abb. 178), der Assoziationen mit Picassos Guernica (1937) herstellt. Die Malweise der USFlagge und Schriftzüge im Stil zeitgenössischer Typographien, wie der offiziellen Olympiaschrift, knüpften dagegen an Ausdrucksformen der Pop Art an. Während das Ephemere Wandbild aus einer spontanen Gruppenbildung entstand, weckte der dritte Salón Independiente von 1970 unter jungen Künstlern, die mit der geringen Dynamik im Kunstgeschehen in Mexiko unzufrieden waren, verstärkt Interesse an dieser Arbeitsform. Bis zum dritten Salón Independiente, der am 3. Dezember 1970 unter dem Titel Eine arme Kunst aus luxuriösem Konzeptmaterial 731 im Universitätsmuseum für Wissenschaften und Kunst eröffnete, arbeitete ein Großteil der teilnehmenden Künstler über einen Monat lang mit dem Auftrag im Museum, gemeinsam großformatige, ephemere Arbeiten zu schaffen. Sie experimentierten mit der in den vorangegangenen Salones Independientes traditionell gehaltenen Raumaufteilung, indem sie diese nach geometrischen Prinzipien variierten. Darüber hinaus beabsichtigten sie, die Betrachter an ihren Arbeiten partizipieren zu lassen. Die wenig später gegründeten Künstlergruppen gingen so auch auf die Erfahrungen der Teilnehmer des letzten Salón Independiente mit Gemeinschaftsarbeit – vor dessen Auflösung im Oktober 1971 – zurück. Die frühen Gruppenarbeiten bewegten sich, ähnlich dem Ephemeren Wandbild, im Spannungsfeld von klassenkämpferischer Ikonographie in der Tradition der Revolutionskunst und von zeitgenössischen internationalen Strömungen. Das erste Künstlerkollektiv der Gruppenbewegung der 1970er Jahre, Tepito Arte Acá, das seit 1973 existierte, schuf Außenwandbilder in dem konfliktreichen Händlerviertel Tepito in Mexiko-Stadt. An Fassaden, Zäunen und Patios brachten die Künstler von Tepito Arte Acá, Daniel Manrique, Francisco Zenteno Bujáidar, Francisco Marmata, Julián Ceballos Casco und der Schriftsteller Amando Ramírez, klassenkämpferische Szenen an. Deren Ausführungen, wie in den Wandbildern der Straße Libertad von 1974, knüpften an die monumentalisierenden Formen und Perspektiven der späten Revolutionsmalerei an (Abb. 179). Ebenfalls ähnlich den späten Außenwandbildern von Siqueiros und Rivera auf dem Universitätscampus sprachen sie die Massengesellschaft an. Tepito Arte Acá 309
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brachte seine Arbeiten im Unterschied zu den muralistas jedoch nicht in öffentlichen Räumen an, die historisch und national konnotiert waren, sondern in einem ärmlichen, als kriminell stigmatisierten Wohnviertel. Die Künstlergruppe brach auf diese Weise mit der Tradition einer Bespielung von Orten, die, wie der Universitätscampus, von ihren staatlichen Auftraggebern zur Bestärkung des nationalen Diskurses errichtet worden waren. Stattdessen brachten sie Kunst an populäre Alltagsorte der einkommensschwachen Bevölkerungsschichten. Generell waren die Gruppen, wie José Luis Barrios resümiert, weniger an der Achtung ihrer Arbeiten als an deren Potenzial, Kommunikation anzuregen, interessiert.732 In diesem Punkt besteht eine Parallele zur französischen Künstlergruppe Collectif d’Art Sociologique. Die Gruppe um den Soziologen Hervé Fischer formulierte mit Umfragen, Interviews und Anzeigen im öffentlichen Raum zwischen 1974 und 1980 eine scharfe Medienkritik. Sie wurde mit Teilnahmen an den Biennalen von Venedig und São Paulo sowie an der documenta 6 1976 international bekannt.733 Fischer organisierte 1984 auf Einladung der Leiterin Helen Escobedo am Museum für Moderne Kunst in Mexiko-Stadt auch die Ausstellung La calle ¿adónde llega?,734 im Rahmen derer zahlreiche lokale Künstlergruppen betrachterpartizipative Arbeiten im öffentlichen Raum realisierten.
177. Anonym: El derecho a ser libres no se mendiga, se toma!, ca. 1968. Weitere Angaben unbekannt, CESU-AHUNAM, Fondo Inventario de la Colección de Impresos Esther Montero, Nr. 21
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178. José Luis Cuevas, Manuel Felguérez, Ricardo Rocha, Francisco Icaza, Benito Messeguer u.a.: Mural efímero, 1968 (Ansicht der Nordseite). Farbe auf Metall, Maße nicht bekannt, Geisteswissenschaftlicher Campus, Ciudad Universitaria, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt (zerstört)
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179. Publizierte Wandbild-Dokumentationen von Tepito Arte Acá in der calle Libertad, Mexiko-Stadt, 1974
Die Arbeitsweisen der mexikanischen Gruppen, insbesondere von Março, und dem Collectif d’Art Sociologique weisen im Einbeziehen der Betrachter Ähnlichkeiten auf. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die mexikanischen Teilnehmer, das Collectif d’Art Sociologique und die ebenfalls teilnehmende Groupe Untel, die mit Flugblättern und Performances im öffentlichen Raum von Paris intervenierte, auf der X Biennale für Junge Künstler in Paris 1977 kennenlernten und untereinander austauschten.735 Die Orte, an denen die mexikanischen Gruppen ihre Arbeiten ausführten, um in Interaktion mit den Betrachtern zu treten, differierten voneinander stark. Während das Ephemere Wandbild mit der Rektoratsesplanade an einem bereits vorgeprägten Ort der staatlichen Machtrepräsentation und der Studentenbewegung entstand, wählten neben Tepito Arte Acá auch Gruppen wie Suma und Mira U-Bahnstationen und populäre Viertel wie die Colonia Portales in Mexiko-Stadt als Ausführungs- und Präsentationsorte für ihre Wandbilder und Grafikarbeiten. 312
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Suma brachte kurz nach seinem Zusammenschluss zum Jahrestag des Massakers von Tlatelolco am 2. Oktober 1976 ein Wandbild an der populären U-Bahnstation Taxqueña an, in dessen Kassettierungen jedes Mitglied einen Beitrag mit Motiven zu den Themen Gewalt und Zerstörung malte. Mit Arbeiten wie Tania, die Vermisste (1978)736 schuf Suma mit Hilfe von Schablonen, die die Gruppe nach Zeitungsfotografien von einer vermissten Person anfertigte, emblemhafte Graffiti an Mauern einer der meist befahrenen Kreuzungen im Zentrum von Mexiko-Stadt. Mira stellte so genannte Grafische Comuniqués (1978, Abb. 180) in populären Vierteln auf. In diesen forderte die Gruppe eine Rückkehr zu den Grundprinzipien des Ersten Mai ein, wies auf soziale Probleme hin und thematisierte mit wirkungsmächtigen Symbolen wie Hakenkreuzen, der US-Flagge sowie Hammer und Sichel die Instrumentalisierung von Macht.737 Mit der Wahl von Orten, die fest im Alltag vieler Hauptstädter verankert sind, aufgrund ihres populären Charakters aber nicht für politische Machtrepräsentationen genutzt werden, lenkten Suma und Mira mit ihren Werken das öffentliche Interesse auf Gegenden der Stadt, die im nationalen Diskurs nicht verortet oder negativ belegt sind. Darüber hinaus bemühten sie damit den Gleichheitsanspruch der Gegenbewegung auch auf Raumebene.
180. Mira: Comunicado gráfico, 1978. Grafik, Archiv Arnulfo Aquino, Mexiko-Stadt
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181. Grupo Germinal, in: Ivonne Ramírez (Hg.): Exposición Arte Luchas Populares en México, Museo Universitario de Ciencias y Arte, Universidad Nacional Autónoma de México Mexiko-Stadt 1979, S. 14-17 (Ausschnitt)
Arbeiten wie das eingangs beschriebene Urbane Gedicht von Março und die von Gruppen wie Germinal für Demonstrationen geschaffenen Plakate und Banner kehrten hingegen mit dem Altstadtzentrum von Mexiko-Stadt und insbesondere dem Zócalo in das Zentrum der Macht und den lange Zeit wichtigsten Aktionsort der mexikanischen Gegenbewegung zurück. Im Unterschied zu den in den 1920er und 1930er Jahren in anliegenden Kirchen und Palästen angebrachten Enkaustiken und Fresken der Revolutionskünstler richteten sich die Karikaturen und Schriftzüge von Germinal (Abb. 181) gegen die aktuelle Regierung. Die Gruppe forderte, wie Março, zur Partizipation von Demonstrationsteilnehmern und Passanten an der sozialen Bewegung und an Kunstaktionen auf. Die häufig über Text oder Text-Bild-Kombinationen hergestellten Diskurse der ephemeren öffentlichen Arbeiten sprechen von einer Gegenreaktion auf die staatlichen Werbe- und Volkserziehungskampagnen anlässlich der Olympiade von 1968 in Mexiko. Die für diese entwickelte Schrifttype, die für das offizielle Logo „México 1968“ (Abb. 182) 314
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eingesetzt wurde, und im öffentlichen Raum angebrachte Korrektivmotti wie „Benimm dich, Mexikaner, die Olympiade kommt!“ 738 hatten starke öffentliche Projektionskraft. Mitglieder späterer Künstlergruppen wie Rebecca Hidalgo, Melecio Galván, Arnulfo Aquino und Jorge Perezvega, die sich 1977 zur Mira-Gruppe zusammengeschlossen hatten, schufen hingegen als Mitglieder der so genannten Studentenbrigaden Grafik, die offizielle Slogans und Schrifttypen parodierte.739 Die Protestgrafik von Gruppen wie Mira und Germinal zeigt, dass die Studentenbewegung, wie die von ihnen kritisierten politischen Machthaber, das Potenzial der Bevölkerungsmasse als Betrachter verstand und zu nutzen wusste. Die Bestrebungen der Regierungen Gustavo Díaz Ordaz und Luis Echeverría (1970-1976), im politisch determinierten öffentlichen Raum pronationale Diskurse zur eigenen Legitimierung stark zu machen, wurden etwa mit Aktionen sowie emblematischen Schriftzügen und Bildern konterkariert. Während die Skulpturen im öffentlichen Raum der Peripherie von Mexiko-Stadt wie Die Türme von Satélite und Die Straße der Freundschaft sich maßgeblich über plastische Elemente an die Betrachter richteten, knüpften die Gruppen auch im Einsatz von Schrift an die frühe Revolutionskunst an. Sowohl die frühen Innenwandbilder als auch die Außenmosaiken Siqueiros’, Riveras und O’Gormans der 1950er Jahre beinhalten klassenkämpferische Slogans und historische Daten aus der Unabhängigkeits- und Revolutionszeit. Vor allem aber hatte die Druckgrafik der 1920er Jahre durch ihre Verbreitung in Zeitschriften wie Machete, dem Organ der kommunistischen Partei Mexikos, eine wichtige Rolle in der Verbreitung von Revolutionspropaganda gespielt. Druckgrafik wurde auch über das offizielle Ende der Revolution in den 1940er Jahren hinaus von Künstlerzusammenschlüssen wie dem Taller de Gráfica Popular eingesetzt. In den 1970er Jahren nutzte man Schrift vor verändertem Hinter-
182. Mexico 68. Offizielles Logo der XIX. Olympischen Spiele in Mexiko-Stadt 1968
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grund: Mexiko war eine Massengesellschaft, und insbesondere die Hauptstadt ein dicht besiedelter Raum, in dem Demonstrationen im Stadtzentrum direkte Auswirkungen auf Alltag und Fortbewegung der meisten Bewohner hatten. Die medialen Möglichkeiten der Zeit, insbesondere Fernsehaufnahmen von Demonstrationszügen und Aktionen, garantierten den prägnanten Schriftzügen, Bildern und Zeichen ein um ein Vielfaches größeres Publikum als noch den öffentlichen Wandbildern der 1920er Jahre. Besonders prägnant war in diesem Kontext das Interesse von Gruppen wie Março an der Partizipation von Betrachtern und an Fragen nach der Definition von Öffentlichkeit. Suma thematisierte diese in der Arbeit Fußgänger (1978)740, einer Reihe von Plakaten, die vor einem Veranstaltungsort auf den Boden gebracht wurden und die untere Körperhälfte zweier Personen als Stellvertretern der Massengesellschaft zeigten. In diesem Aspekt knüpfte die mexikanische Gruppenbewegung an die sozialutopischen Dimensionen der Künstlerbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts an.
Zur Ambivalenz von Kollektivarbeit in der mexikanischen Gruppenbewegung
Über die Überarbeitung des Künstler-Betrachter-Verhältnisses hinaus wurde auch in den mexikanischen Künstlergruppen der 1970er Jahre erneut der Kollektivgedanke zentral. Dieser hatte, wie zuvor beschrieben, bereits die Künstlergewerkschaft um Rivera und Siqueiros in den 1920er Jahren sowie Goeritz und sein Umfeld in den 1950er Jahren und danach beschäftigt. Wie die Untersuchung von Goeritz’ Vorstellungen von Kollektivarbeit gezeigt hat, wurzelten diese in den Ideen des ,Primitivismus‘, die den Debatten der europäischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts zur Abstraktion zu Grunde lagen. Ferner bezog Goeritz sich auf Idealvorstellungen vom ,Gesamtkunstwerk‘, die er, ähnlich dem Bauhaus, in Rekursen auf mittelalterliche Arbeitsweisen formulierte. Gemein sind den Kollektivkonzepten der mexikanischen Revolution, Goeritz’ und der Künstlergruppen der 1970er Jahre sozialutopische Ansätze. Während diese bei Goeritz auf den Vorstellungen der europäischen Avantgarden vom Beginn des 20. Jahrhunderts fußten,741 bezogen sich die Künstler der Revolutionszeit und der Protestbewegung auf die zeitgenössischen sozialen Umstände. Hierin schlossen sie eher an Dr. Atls Künstleraktivismus, also ein 316
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lateinamerikanisches Avantgardevorbild, als an europäische Konzepte wie im Fall von Goeritz an. Die Revolutions- und Protestkunst differierte in ihren starken politischen Bezügen insofern ganz deutlich von Goeritz’ Suche nach einem Ausdruck von Spiritualität durch Formerneuerung, die im Paradigma der Abstraktion mündet. Die mexikanischen Künstlergruppen schufen ihre Arbeiten nicht nur aus einer offenen Protesthaltung heraus, sondern richteten sich in Teilen auch gegen Anliegen, die die Generation um Tamayo, Gerzso und Goeritz durchgesetzt hatte. Während in den 1950er Jahren die Forderung nach einem Kunstmarkt und individuellen Künstlerkarrieren in Mexiko ein Politikum war, plädierten die Gruppen der 1970er Jahre, radikaler als zuvor Goeritz, für die Marktferne von Kunst. Felipe Ehrenberg befragte mit einem Wandbild in doppelter Briefgröße (1977, Abb. 183) konkret das Verhältnis von Kunst zum Markt und zu staatlicher Propaganda, indem er einen zwei Brief blatt großen Wandbildentwurf von mexikanischen Schildermalern mehrfach auf Leinwänden nachmalen ließ. Während des jährlichen Cervantino-Kul-
183. Felipe Ehrenberg: Mural tamaño doble carta, 1977. Weitere Angaben und Verbleib unbekannt
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184. Felipe Ehrenberg: Mural tamaño doble carta, 1977 (Kopie). Installationsansicht, Guanajuato, 1977, weitere Angaben und Verbleib unbekannt
turfestivals in Guanajuato stellte er vier der Kopien an verschiedenen, viel frequentierten öffentlichen Räumen aus und bot sie zu Preisen an, die die Schildermaler zuvor festgelegt hatten (Abb. 184). Ehrenberg ging damit der Frage nach dem Wert von Kunstwerken und deren Beeinflussung durch staatliche Interessen nach: Die Idee ist, die Arbeitskraft der Kunsthandwerker zu nutzen, um bildnerische Kreationen je nach Nachfrage zu verteilen, während gleichzeitig der Mythos vom Original verworfen und die Wandbildproduktion von den Auflagen getrennt wird, die offizielle und zentralistische Etats vorgeben.742
Die Kopien des Wandbild in doppelter Briefgröße, deren Ausführung auf mobilen Bildträgern an die Protestbanner der Studentenbewegung anknüpfen, greifen den Diskurs der Gruppenbewegung gegen die Kommerzialisierung von Kunst auf. Mit der Distanzierung vom Kunstmarkt und von Auftraggebern näherten viele Künstler, die der Gruppenbewegung zwischen Mitte der 1970er Jahre und 1984 angehörten, ihre Arbeiten damit ein Stück weit den Zielen der Revolutionskunst an. Ähnlich der Auflösung des Salón Independiente 1971 kehrten 318
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viele Künstler auch Mitte der 1980er Jahre hingegen verstärkt zur individuellen Arbeit und zur Teilnahme an internationalen Ausstellungen zurück, um ihr persönliches Werk voranzubringen. Dieses Interesse speziell junger Künstler und von Gemeinschaftsarbeiten, wie dem Wandbild von Suma an der U-Bahnstation Taxqueña, das aus der Summe verschiedener Beiträge der teilnehmenden Künstler bestand, weist erneut auf die Ambivalenz von Kollektiven hin. Utopisch konnotierte Ansätze, Gemeinschafts- und ,Gesamtkunstwerke‘ zu schaffen, standen so auch dem Wunsch nach individueller Entfaltung von Künstlern entgegen. Dies führte letztlich zur Auflösung der Gruppen, die am ersten Salón de Experimentación 1979 teilgenommen hatten.743
Anti-nationale und traditionsbewusste Tendenzen – Denkmäler der 1970er Jahre
Während sich Künstler sowohl für den dritten Salón Independiente 1970 als auch für die meisten Kunstwerke, die im Rahmen der Gruppenbewegung entstanden, Ephemerität als Indikator von Marktferne zum Ziel setzten, gab es auch Tendenzen, dauerhafte Arbeiten zu schaffen. Neben den geometrischen Skulpturentwürfen für den öffentlichen Raum der Gruppe Tetraedro suchte Proceso Pentágono nach neuen Ausdrucksformen für Denkmäler. Statt Skulpturen von Staatsmännern und Nationalhelden zu entwerfen, die sich, wie die AlemánStatue Ignacio Asúnsolos auf dem Universitätscampus, in den offiziellen Diskurs nationaler Identität einschrieben, verfolgten sie visuelle Strategien, um an Opfer staatlicher Gewalt zu erinnern. In einem Denkmalwettbewerb vom Mai 1988 zum Gedenken der Opfer des Massakers von Tlatelolco vom 2. Oktober 1968 auf dem „Platz der Drei Kulturen“ lieferte Proceso Pentágono einen Beitrag, der unterirdisch als Spalte im Boden realisiert werden sollte. Statt weithin sichtbarer Monumentalität, die Denkmäler im Geist der Mexikanischen Revolution wie das Denkmal an die Mutter (1944-1949)744 und die Alemán-Statue mit Sockeln in architektonischen Dimensionen, aber auch die Skulpturen der „Geometristen“ charakterisierte, schuf Proceso Pentágono mit dem Denkmalprojekt Spalte 745 einen Entwurf für ein Anti-Monument. Die Erinnerungsfunktion sollte vielmehr dem beklemmenden Raumgefühl entspringen, das sich in der Enge eines schmalen Tunnels in drei Metern Tiefe einstellen sollte, in dem 319
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man zeitgenössische Postkarten, die das Studentenmassaker von 1968 thematisieren, auszustellen gedachte.746 Auf Goeritz’ Verständnis von Monumentalität als auf antiker und prähispanischer Skulptur basierender physischer Größe gingen die Künstler nicht ein. Statt auf Konstanten von bestehenden nationalen und Avantgardediskursen zurückzugreifen, visualisierten sie ihr inhaltliches Anliegen, der Opfer staatlicher Gewalt zu gedenken, vielmehr über einen formalen Bruch. Statt wie die mexikanische Denkmaltradition und zahlreiche Vertreter der öffentlichen Skulptur in monumentalisierenden Dimensionen zu arbeiten, forderte Proceso Pentágono mit dem unterirdischen Tunnel auch in der visuellen Umsetzung des Wettbewerbsbeitrags zur Introspektion auf. Sowohl der soziale Realismus als auch die Abstraktion waren, wie gezeigt, für offizielle Machtdiskurse und die Bestärkung nationaler Identität nutzbar gemacht worden. An einem Denkmal für Opfer aus der mexikanischen Gegenöffentlichkeit eingesetzt, wären solche Effekte kontraproduktiv für das Anliegen seiner mit der Studentenbewegung sympathisierenden Urheber gewesen. Der Bruch war in diesem Kontext grundlegend für das Gedenken von Opfern staatlicher Gewalt. Neben der Planung von Anti-Monumenten durch Künstlergruppen in den 1980er Jahren entstanden auch weiterhin offizielle Denkmäler mit monumentalen Ausmaßen für den öffentlichen Raum in Mexiko-Stadt. Diese entsprachen, wie im Fall des Juárez-Kopf (1972, Abb. 185) von David Alfaro Siqueiros, Luis Arenal und Lorenzo Carrasco, durchaus auch den Anliegen einiger Künstlergruppen. In der 1972 vom Verkehrs- und Kommunikationsministerium anlässlich des 100. Todestages von Präsident Benito Juárez (1806-1872) bei Siqueiros beauftragten Architekturskulptur werden Ähnlichkeiten der Intentionen von Künstlergruppen und Siqueiros’ im späten Muralismo, nämlich interdisziplinäre und sozial integrative Gemeinschaftswerke zu schaffen, offenbar. Die Arbeitsstrategien differierten hingegen grundlegend. Das Denkmal wurde von Siqueiros in architektonischen Ausmaßen entworfen und von dem Bildhauer und Mitgründer des Taller de Gráfica Popular Arenal unter Mithilfe des Ingenieurs Carrasco fertig gestellt. Es besteht aus einem zwölf Meter hohen, quaderförmigen Stahlbetonkörper mit einem fünf Meter hohen und mehr als neun Meter breiten Durchbruch. Die Arbeit befindet sich isoliert auf der heutigen Alameda Benito Juárez inmitten der ärmlichen Wohnsiedlungen 320
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185. David Alfaro Siqueiros, Luis Arenal und Lorenzo Carrasco: La cabeza de Juárez, 1972-1976. Stahl, Beton, Acrylfarbe, 23,78 x 15,95 x 6,09 m, Avenida Guelatao/Alameda Benito Juárez, Iztapalapa, Mexiko-Stadt
Ejército de Oriente und División del Norte im Bezirk Iztapalapa im Osten von Mexiko-Stadt. Der Platz liegt am Südende der nach Juárez’ Geburtsort benannten Avenida Guelatao, die von der Calzada Ignacio Zaragoza abgeht. Diese Hauptverkehrsachse verwandelt sich am Stadtrand in eine Autobahn und führt in den südöstlich von Mexiko-Stadt gelegenen Heimatstaat Juárez’ Oaxaca. Schon von der Abfahrtbrücke an der Calzada Zaragoza wird das tiefer gelegene Denkmal sichtbar. Der auf der massiven, mit gelben bis grün-braunen Diagonalen bemalten Basis sitzende, 11,50 Meter hohe Kopf aus Stahlbeton wirkt auf die große Distanz formelhaft. Die sechs Tonnen schwere Plastik gibt die Gesichtszüge aus scharf hervortretenden Wangenknochen und markanter Nase schematisiert wieder, die durch zahlreiche Bildnisse des Präsidenten zu dessen Charakteristika geworden waren. Der Künstler Santiago Hernández hatte in der Satirezeitschrift La Orquesta in den 1860er Jahren erstmals das Porträt Benito Juárez’ in einer Karikatur auf einen großformatigen Kopf (Abb. 186) reduziert, 321
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das für die Juárez-Ikonographie generisch wurde. Hernández zeigte Juárez’ Haupt auf einem hohen Behälter, während sich der Präsidentenkopf bei einer Drehung um 180 Grad in die Karikatur des Kopfes von Dubois de Saligny verwandelt, der als Minister den Krieg Frankreichs gegen Mexiko (1839-1842) unterzeichnet hatte.747 Während der Befreiungspräsident autochthoner Herkunft in staatlich beauftragten Arbeiten des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts meist als Ganzkörperporträt im neoklassischen Stil zu sehen ist (Abb. 187), erfreute sich die Kopfdarstellung insbesondere in populären Porträts großer Beliebtheit (Abb. 188)748. Mit dem Rückgriff auf die Kopf-Ikonographie und deren Umsetzung in monumentalen Dimensionen verdeutlichte Siqueiros sein Ziel, die „vierte Etappe“749 des mexikanischen Muralismo voranzubringen. Unter dieser verstand er öffentliche Plastik, die in engem Zusammenhang mit Architektur, auf die sie sich bezieht oder deren Teil sie ist, entworfen und als interdisziplinäres Gemeinschaftsprojekt ausgeführt wird. Der Juárez-Kopf, wie das ebenfalls von Siqueiros entworfene Poliforum Siqueiros (1966-1971), die zusammen mit ihrem
186. Santiago Hernández: ¿Quién gobierna a México?, 1847. Weitere Angaben unbekannt
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IV Ephemere Kunst im öf fentlichen Raum
187. Guillermo Heredia und Dante Lazzaroni: Hemiciclo a Juárez, 1810. Marmor, Höhe: ca. 12 m, Alameda Central, Mexiko-Stadt
architektonischen Kontext geplant und ausgeführt wurden, differieren in diesem Punkt von der frühen Wandmalerei in kolonialen Innenräumen, der Außenwandmalerei und den Hochreliefs an Gebäuden, die nachträglich in die Architektur gefügt wurden. Künstler, Architekten, Ingenieure und Arbeiter sollten nach Siqueiros, der mit seinem Anliegen, mit den Universitätsreliefs „integrale Plastik“ 750 zu schaffen, noch gescheitert war, von Planungsbeginn an zusammenarbeiten. Hintergrund für Siqueiros’ Ansatz war auch die Idee, eine stärkere soziale Integration herzustellen, um, wie im Fall des Juárez-Kopf, mit der polychromierten und bespielbaren Architektur-Skulptur die Lebensqualität in dem ärmlichen Bezirk Iztapalapa zu verbessern. Wie die Arbeiten einiger Künstlergruppen, darunter Suma und Mira, wurde auch der Juárez-Kopf an einem Ort für sozial Benachteiligte errichtet. Im Unterschied zu den von den Künstlergruppen der Gegenbewegung ausgewählten Anbringungsorten handelt es sich im Fall des Juárez-Kopfes um einen Ort, der mit den Überlagerungsmechanismen von nationaler Identität und Stadtraum aus der Reformzeit korrespon323
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität 188. Anonym: Benito Juárez, Entstehungsjahr unbekannt. Beton, Höhe unbekannt, Mexicali, Baja California
diert. Wie im urbanistischen Reformprojekt im Zentrum von MexikoStadt zu Juárez’ Regierungszeit selbst, wurden auch die Straßen und Siedlungen in dem frisch errichteten Stadtteil nach wichtigen Daten, Orten und Schlachten aus dem Leben des Präsidenten bennant. Das Ziel von Juárez’ Reformpolitik der 1860er und 1870er Jahre, den katholisch geprägten Stadtraum mit bürgerlich-liberalen Symbolen und Identität vermittelnden Ortsbezeichnungen zu überformen, wird an der Juárez-Skulptur und seiner Umgebung bestätigt. Kunstwerk und Ort suggerieren, weithin sichtbar, nationale Einheit. Die Arbeiten der Künstlergruppen der 1970er Jahre wandten sich hingegen vielmehr gegen den Machtdiskurs, der hinter den Homogenisierungsbestrebungen der zeitgenössischen mexikanischen Regierung unter Präsident Echeverría stand. Statt einer Einbeziehung der Betrachter für die Werkentstehung, wie im Poema urbano von Março, findet das Massenpublikum in Siqueiros’ und Arenals Kunstwerk allein mit der Nutzung der Arbeit Berücksichtigung. Der Durchbruch in der Skulpturbasis dient als Veranstaltungsbühne; die Partizipation der Nachbarschaft an der Entstehung des dauerhaft bleibenden Werks war hingegen nicht möglich. 324
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Der Juárez-Kopf bleibt in seiner Monumentalität und mit seinem Anspruch auf Dauerhaftigkeit, trotz der integrativen Absichten seiner Errichter, dem offiziellen Diskurs zur Bestärkung von nationaler Identität verhaftet. Das Museum mit Paraphernalia Juárez’ und zu Wandmalereitechniken im Querriegel der Monumentalskulptur, das das bis heute existierende Taller de Arte e Ideología nach Sanierungsarbeiten im Jahr 2000 einrichtete, verstärkt diesen Eindruck durch seinen eher traditionellen Zugriff auf Memorabilia zusätzlich. Der Juárez-Kopf und die ephemeren Aktionen der Künstlergruppen bilden insofern zwei Extreme zwischen Affirmation und Bruch im Einsatz von tradierten und neuen Kunstformen im öffentlichen Raum Mexikos der 1970er Jahre. Während sich das Spektrum an Kunstformen, nach der Dominanz von abstrakter Betonskulptur im öffentlichen Raum, in den 1970er Jahren mit Aktionen, Performances und grafischen Medien vergrößerte, blieben weiterhin klassenkämpferische und national konnotierte Skulpturen sowie Wandbilder, gerade von älteren Künstlern, stark präsent. Für heutige konzeptionelle Arbeiten im öffentlichen Raum war der endgültige Bruch von Künstlern, die der Studentenbewegung nahe standen, mit staatlich geförderter Kunst in den 1970er Jahren entscheidend.
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Material und nationale Identität hat neben Umbrüchen und Veränderungen in der mexikanischen Kunst seit 1950 einige, insbesondere ikonographische und materialikonographische, Tendenzen, die sich bis in die öffentliche Kunst der 1970er Jahre fortsetzten, aufgespürt und herausgestellt. Charakteristische Symbolträger der aztekischen Mythologie und mexikanischen Geschichte blieben in der Kunst im öffentlichen Raum vom späten 19. bis weit ins 20. Jahrhundert als Repräsentanten nationaler Identität erhalten. In der Zeit der Ablösung der mexikanischen Revolutionskünstler um 1950 wurde das Paradigma des Realismus in der bildenden Kunst, der als ,nationaler Stil’ rezipiert worden war, im Werk jüngerer Künstler zunehmend von abstrahierenden Formen ersetzt. In Abgrenzung zu den Forderungen der Revolutionskünstler, und bestärkt durch die nationalen und internationalen kulturpolitischen Voraussetzungen, wurde die Abstraktion in Mexiko im Laufe der 1950er Jahre zum maßgeblichen, als avantgardistisch rezipierten Paradigma in der öffentlichen Kunst. In den 1970er Jahren schrieb sich der ideologisierte Einsatz von Quetzalcóatl und Symbolen wie dem aztekischen ,Kalenderstein‘ im nationalen Diskurs fort und führte dazu, dass Künstler aus dem Umfeld der Studentenbewegung mit der nationalen Ikonographie brachen. Andere bezogen sich weiterhin auf diese, indem sie kosmogonische Aspekte der aztekischen Mythologie stärker als nationale Bezüge herausstellten. David Alfaro Siqueiros setzte den nationalen Diskurs mit der Juárez-Ikonographie fort. Sein monumentales Bildnis von Präsident Juárez definierte einen bis dahin national unbeschriebenen Ort, löste aber, vor allem durch seine großen Dimensionen, Siqueiros’ eigenen Anspruch, integrativ auf die Betrachter zu wirken, nicht ein. Im Streit um den Paradigmenwechsel in der mexikanischen Kunst um 1950 wurde die Abstraktion von Vertretern des mexikanischen 329
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Muralismo wie Siqueiros und Diego Rivera als Paradigma identifiziert, das mit Zuschreibungen von Freiheit und Individualität für die ideologisierte US-amerikanische Kulturpolitik stand. Es wurde von den Muralisten als nachteilig für die ,nationale‘ Kunst Mexikos eingeschätzt. Die Künstlerdebatten in Mexiko nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen, dass der ,nationale Stil‘ zu diesem Zeitpunkt über die Paradigmenopposition zwischen dem Realismus der Revolutionskunst und der Abstraktion ausgehandelt wurde, wofür erneut ästhetische und kulturpolitische Entwicklungen im Ausland relevant waren. Das Aushandeln einer ,nationalen‘ Position zwischen ,mexikanischer‘ Tradition und ,internationaler‘ Modernität zieht sich durch die Kunst Mexikos vom 19. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts. Zu letzterem Zeitpunkt begannen Gruppen junger Künstler mit nationalen Bildinhalten zu brechen. Die Verweise auf das Verhältnis von Tradition und Moderne gestalteten sich unterschiedlich: Die Wandmaler machten, insbesondere nach langen, konfliktreichen Arbeitsaufenthalten in den USA in den 1930er und 1940er Jahren, das ,Mexikanische‘ gegenüber ausländischen Einflüssen stark. Dies setzten sie mit Bezügen auf prähispanische Symbolträger, Materialien, die als nationaltypisch verstanden wurden, sowie der Ikonographie des Unabhängigkeitsdiskurses und der Revolution um. In Werken wie Anahuacalli (1944-1957) und Universitätsemblem (1952) wich Riveras Fortschrittseuphorie einer zunehmenden Industriekritik. Er setzte das Material Lava und die umgebende Vulkanlandschaft in Beziehung zur mexikanischen Revolution und knüpfte darin an die Historisierung von Natur in der Frühromantik an. Wie die europäische Grafik und Landschaftsmalerei des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts schrieb Rivera der Natur das Potenzial zu, Abbild der zeitgenössischen politischen und sozialen Realität zu sein. Landschaft, Natur und ihre Materialien wurden über ihre Verwendung und als Bezugspunkte in den Arbeiten Universitätsemblem und Anahuacalli auf diese Weise bei Rivera kulturalisiert. Zugleich wurden das Anahuacalli sowie Juan O’Gormans privates Wohnhaus und seine Mosaiken an der Universitätsbibliothek mit dem Einsatz von regionalen Natursteinen symbolisch ins Naturhafte rücküberführt. Die Einbettung in die Landschaft und lokale Flora sowie die Einbindung von Wasser in die Ensembles verstärkten die Naturidealisierung zusätzlich, in der im Unterschied zur Frühromantik Naturstoffe als Primärmaterialien Verwendung fanden. 330
Resümee und Ausblick
Luis Barragán stellte in seiner Privatsiedlung im Pedregal die Wildheit der vulkanischen Natur heraus. Statt diese zu kulturalisieren, nahm er ihr alle Bedrohlichkeit durch Eingrenzungen mit Kulturelementen wie Gartenmauern und Architektur. Die Folge war die Inszenierung eines zeitgenössischen ,Arkadien‘. Wie Rivera rief auch Barragán das Naturverständnis der europäischen Romantik auf, historisierte die Natur aber nicht. Stattdessen konstruierte er Settings aus Natur und Architektur, die den Eindruck von gebannter Gefahr vermitteln und damit die Mechanismen des ,Erhabenen‘ aktivieren. Barragán konstruierte, wie Rivera und O’Gorman, das ,Mexikanische‘ über die lokale Natur und Topographie sowie ,internationale‘ Bauformen. Riveras inhaltliche Verknüpfung der Vulkane mit der Revolution übertrug Barragán jedoch in eine Naturüberhöhung zugunsten sozialer Exklusivität. Es zeigt sich, dass beim Einsatz der verwendeten Naturmaterialien und Landschaft keine vereinheitlichende ikonologische Deutung gültig ist. Diese verhält sich vielmehr relational zum Kunstwerk und seinem Kontext. Abstrakt arbeitende Bildhauer wie Mathias Goeritz, Helen Escobedo, Manuel Felguérez, Hersúa, Sebastián und Federico Silva knüpften zum Teil sowohl an die Revolutionskunst als auch an die modernistische Architektur Barragáns an. Sie bezogen sich ebenso anderweitig auf den Modernitätsdiskurs und national konnotierte Materialien. In Arbeiten wie den Türmen von Satélite und dem Zentrum des Skulpturraums postulierten die Bildhauer mit abstrakten Formen und Beton als Material ,internationaler‘ Architektur Modernität. Zugleich schufen sie mit Zement als Verblendungsmaterial aztekischer Basaltskulptur Verweise auf die ,mexikanische‘ Tradition. ,International‘ konnotierte, ästhetische Bezugspunkte der abstrakt arbeitenden Bildhauer waren das Bauhaus und der russische Konstruktivismus sowie, im Fall des Zentrum des Skulpturraums, der USamerikanische Minimalismus und Land Art. Ihre gleichzeitige Traditionsbewusstheit verdeutlichten die mexikanischen Bildhauer mit der prähispanischen Konnotation von Zement, dem Einsatz mexikanisch konnotierter Basaltlava und -tuffe sowie dem räumlichen Bezug auf die umgebende Vulkanlandschaft. Die Untersuchung der Revolutionsmalerei und der abstrakten Skulptur der 1960er und 1970er Jahre hat gezeigt, dass beiden weiterhin das dreiteilige Geschichtsbild Mexikos zugrunde lag, das seit der Unabhängigwerdung im 19. Jahrhundert immer wieder herangezogen 331
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und angepasst wurde. Während die frühe Wandmalerei Szenen aus der prähispanischen Zeit und Mythologie, aus der Kolonialherrschaft und Revolution figürlich zeigte, setzten Rivera und O’Gorman in den 1940er Jahren Materialien wie Basaltlava, tezontle und Beton als historisierende Repräsentanten des prähispanischen, kolonialen und modernen Mexiko ein. Auch Goeritz und die Künstler des Skulpturraums bedienten sich später dieser Materialien. Als Schauplätze dienten ihnen Orte wie das Pedregal-Lavafeld, die das prähispanische, und „Nicht-Orte“ wie Stadtautobahnen, die das moderne Mexiko repräsentierten. Die Überlagerung von Raum, Kunst und Geschichtsrepräsentationen rückten die öffentlichen Arbeiten in den offiziellen Modernitätsdiskurs ihrer Zeit. Erst die Künstlergruppen der 1970er Jahre emanzipierten die öffentliche Kunst Mexikos vom nationalen Diskurs mit Werken, die endgültig mit der Fortschrittsrhetorik brachen. Die Künstler des Ephemeren Wandbildes entsagten der Dichotomie von traditionellen und als modern rezipierten ,internationalen‘ Bezügen, indem sie nicht nur das gewaltsame Vorgehen der Regierung kritisierten. Sie richteten sich mit ihrem kurzlebigen Wandbild auch gegen Ansprüche auf Monumentalität und Dauerhaftigkeit in der bisherigen öffentlichen Kunst. Zugleich waren internationale Strömungen wie Pop Art und Aktionen selbstverständliche Bezüge für ihr Schaffen. Künstlergruppen wie Suma, Março und Proceso Pentágono lehnten sich mit sozialpolitischen Anliegen an den frühen Muralismo an. Sie verschrieben ihre Aktionen, Performances und Druckgrafik im Unterschied zu diesem aber meist der Ephemerisierung von Kunst im öffentlichen Raum. Ihre regierungskritische Haltung ähnelte hierin vielmehr jener der Künstlergruppen der europäischen Protestbewegungen der 1970er Jahre. Das aus dem späten 19. Jahrhundert stammende Bestreben, nationale Identität mit Bildsprachen zu visualisieren, die als europäisch, und anderen, die als US-amerikanisch verstanden wurden, lehnten die meisten Gruppenkünstler ab. Die Politisierung der mexikanischen Kunst, die sie in intensiven Auseinandersetzungen mit der sozialen Realität und dem Öffentlichkeitsbegriff betrieben, entlarvte den offiziellen Modernitätsdiskurs der 1970er Jahre als Illusion. Diese Entwicklung bildete den Grundstein für eine zeitgenössische Kunst im öffentlichen Raum in Mexiko, die sich von nationalen Bildinhalten emanzipiert oder auf diese allenfalls kritisch oder ironisch eingeht. 332
Resümee und Ausblick
Der öffentliche Raum von Mexiko-Stadt hat sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs drastisch verändert: Mit der beschleunigten Industrialisierung Mexikos in den 1940er Jahren verlagerten sich die Hauptplätze für öffentliche Kunst von den Altstadtzentren in die Peripherie. Diese fungierte als neuer Projektionsraum der offiziellen mexikanischen Utopie. Mit der Protestbewegung und der in ihrem Kontext entstandenen Kunst wurde dieser maßgeblich von staatlich geförderten Kunstwerken geprägte Raum kurzzeitig von der Gegenöffentlichkeit definiert. Zugleich wurde die Kunst mit der Protestbewegung zurück in den öffentlichen Raum des politisch determinierten Altstadtzentrums der Hauptstadt und erstmals in ärmere Viertel getragen, die weder historisch noch national konnotiert waren. Während die Wandbilder der 1920er und 1930er Jahre die Revolutionsforderung nach Egalität ikonographisch aufrufen, aber – häufig privatisierend codiert – in öffentlichen Räumen staatlicher Gebäude angebracht wurden, visualisierten Künstlergruppen der 1970er Jahre wie Tepito Arte Acá, Mira und Suma den Gleichheitsanspruch auch mit der Wahl des Raumes. Charakteristisch für ihre Arbeiten war die Bespielung von Wohngegenden sozial Benachteiligter und die Anbringung von Protestkunst im politisch wirkungsmächtigen Raum des Zentrums. Die Künstlergruppen machten sich hierfür Strategien ähnlich denen der von ihnen kritisierten Regierungen zu eigen: Sie setzten mit den von ihnen gewählten Orten, mit Arbeitsformen wie Performance und Aktion, mit Film, Grafik und Schrift auf die größtmögliche Rezeption in der mexikanischen Massengesellschaft. Die Gruppen waren sich dabei der Relevanz des öffentlichen Raumes und der Mediatisierung von Kunst in einer der weltgrößten Städte bewusst, deren Bewohner sich zur Bewältigung der räumlichen Distanzen in der Regel lange Zeit im öffentlichen Raum aufhalten. Bezüglich der Wirkung hatten die Revolutionskünstler und die abstrakt arbeitenden Bildhauer durchaus ähnliche Ziele verfolgt. Mit ihren Arbeiten in Innenräumen beziehungsweise an Schnellstraßen, die Menschen ohne Auto zum Teil nur schwer erreichen, erzielten sie jedoch eine geringere Präsenz als die – wenn auch kurzlebigen – Arbeiten der Gruppenkünstler in von Passanten viel frequentierten Bereichen. Die Beziehungen zwischen dem Künstler, seinem Werk und dessen Betrachtern im öffentlichen Raum in Mexiko sind komplex und im Zuge der beschriebenen urbanen Entwicklungen sicherlich noch komplexer geworden. Die Muralisten arbeiteten den Entwurf eines 333
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Künstlers mit einem Team von Malern aus. Die abstrakten Bildhauer arbeiteten bis in die 1970er Jahre fast durchgängig allein, die Künstlergruppen fügten neben Gemeinschaftsentwürfen häufig auch Einzelarbeiten zu einem Gemeinschaftswerk zusammen. Nach kurzzeitigem Interesse an einer ,Kollektivarbeit‘ lösten letztere aber gerade aufgrund des Interesses, ihre individuellen Karrieren wieder aufzunehmen, schon nach wenigen Jahren die meisten Gruppen wieder auf. War das Verhältnis zwischen Werk und Betrachter in der frühen Wandmalerei ein rein rezeptives, kann Siqueiros’ Ansatz einer „integrativen Plastik“ 751 als Vorbild für das Einbeziehen des Betrachters in der Werkentstehung von Arbeiten wie Urbanes Gedicht von Março gelten. Die engagierte Idee von einem Zugang der meist armen Betrachter zu Kunstwerken in dem von ihnen täglich frequentierten Raum korreliert mit dem Schritt, ephemere Kunst im öffentlichen Raum von Mexiko-Stadt einzusetzen. Die Hoheit des Kunstwerks, die im Muralismo und bei den abstrakten Skulpturen der 1960er und 1970er Jahre galt, wurde damit in Frage gestellt. Interessant ist, dass, wie nach 1968, die Radikalisierung der öffentlichen Kunst in den 1990er Jahren ebenfalls mit sozialpolitischen Unruhen wie dem Aufstand der Zapatisten unter Subcomandante Marcos im chiapanekischen Dschungel von 1994 und der bevorstehenden Ablösung der von 1929 bis 2000 regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution einherging. Die Konzeptkünstlerin Minerva Cuevas (geboren 1975) beispielsweise knüpft mit aktivistischen Arbeiten, wie dem Projekt Mejor Vida Corp. (1999-) und Safety Pills (1997, Abb. 189)752, an die Haltung von Março und Suma, aber auch von Dr. Atl an.
189. Minerva Cuevas: Safety Pills, 1998. Plastik, Papier, Arznei, Maße unbekannt, Sammlung der Künstlerin
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Resümee und Ausblick
190. Teresa Margolles: Adiós te dice la fea, la asquerosa que siempre odiaste. 33 años, 2006 (aus der Serie: Recados póstumos). Fotografie, Maße unbekannt, Galerie Peter Kilchmann, Zürich
Mejor Vida Corp. bietet so ,Dienstleistungen‘ wie eigenmächtige Preisreduzierungen von Supermarktprodukten und Studentenausweise an. Gegen ungewolltes Einschlafen in der U-Bahn verteilte Cuevas Safety Pills, Koffeintabletten, mit denen sie direkt in das öffentliche Leben eingriff. Im Unterschied zu Dr. Atl setzt sie ihre Aktionen jedoch selbst, ähnlich den betrachterpartizipativen Arbeiten von Março und Suma, als ästhetische Strategie und kritische Reflektion zugleich ein. Die Konzeptkünstlerin Teresa Margolles (geboren 1963), die zwischen 1990 und 2000 dem Kollektiv SEMEFO753 angehörte, trägt ihre Ästhetik des Todes mit formalen Anleihen aus dem Minimalismus in den öffentlichen Raum. In Posthume Nachrichten (2006, Abb. 190) brachte sie Abschiedsbriefe, die Selbstmörder für Angehörige hinterlassen haben, in Auszügen anonym an Anzeigetafeln von Kinofassaden in Guadalajara und Mexiko-Stadt. Die Künstlerin kritisierte mit diesen öffentlich sichtbaren Botschaften gleichsam den Zustand der sie lesenden Gesellschaft als potenzielle Mitwisser.754 335
Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
Neben den Ansätzen von mexikanischen Künstlern spielten in den 1990er Jahren erneut Positionen ausländischer Künstler – nicht nur – in der öffentlichen Kunst eine zentrale Rolle. Der spanische Bildhauer Santiago Sierra (geboren 1966), der seit 1996 in Mexiko-Stadt lebt, hat einen Teil seiner Entlohnungs-Arbeiten im öffentlichen Raum ausgeführt. Sierra hat dabei immer wieder den von sozialen, politischen und natürlichen Krisen geprägten urbanen Raum von Mexiko-Stadt inszeniert. In Beleuchtetes Gebäude (2003, Abb. 191) strahlte er ein Hochhaus im Altstadtkern von Mexiko-Stadt, das nach dem Erdbeben von 1985 als Ruine stehen geblieben war und heute von Obdachlosen bewohnt wird, mit zwei leistungsstarken Scheinwerfern an. Sierras minimalistische Arbeit in Anlehnung an Sol LeWitts Modularbeiten knüpft mit Licht als Inszenierungsmaterial an die Ephemeritätsstrategien der Gruppen der 1970er Jahre an. Mit Beleuchtetes Gebäude befragte er zugleich kritisch die Aufgabe und den Einsatz von Denkmälern. Sierra thematisiert, wie auch Francis Alÿs, die Repräsentanz der Gesellschaft im öffentlichen Raum jenseits des offiziellen Diskurses. Während Sierra dies über die Infragestellung traditioneller Gedenkformen erreicht, bringt Alÿs mit Performances wie Patriotische Mär-
191. Santiago Sierra: Edificio iluminado, 2003. Fotografie, Maße unbekannt, Galerie Peter Kilchmann, Zürich
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Resümee und Ausblick
192. Francis Alÿs (in Zusammenarbeit mit Rafael Ortega): Cuentos Patrióticos, 1997 (Videostill). Video, 14 min 40 sec, Stadtplan, Aufzeichnungen und Fotografien, Lisson Gallery, London/Galerie Peter Kilchmann, Zürich
chen (1997, Abb. 192) die Handlungen der Bevölkerung über den Arbeitsprozess ins Spiel. In Patriotische Märchen führte er eine wachsende Schafherde um die gigantisch große mexikanische Flagge in der Mitte des Zócalo. Alÿs bezog sich damit auf den Widerstand einer Gruppe Beamter im Jahr 1968 auf ebendiesem Platz. Diese wandten sich mit der Imitation von Schaf blöken von den sprechenden Regierungsvertretern auf dem Balkon des Präsidentenpalastes ab.755 Indem Alÿs die besagte Episode aufgriff und am Ort von deren Geschehen interpretierte, verwies er doppelt auf die mexikanische Öffentlichkeit. Er stellte den Zócalo als wichtigsten Ort für Demonstrationskundgebungen der mexikanischen Gegenöffentlichkeit im politischen Zentrum von Mexiko in den Fokus seiner Arbeit. Mit dem Marsch der Schafe um den Fahnenmast, dem Alÿs’ Erkenntnis und Arbeitsgrundlage, die lateinamerikanischen Gesellschaften erfahren keinen linearen Fortschritt,756 zugrunde liegt, entlarvte er die Propaganda von einer konstanten Entwicklung Mexikos als Illusion. Die zeitgenössischen Positionen zeigen, dass der Bruch mit nationalen Stereotypen und Fortschrittssuggestionen durch Künstlergruppen der 1970er Jahre notwendig war, um kritische Auseinandersetzungen in der bildenden Kunst Mexikos mit diesen Themen überhaupt erst möglich zu machen. 337
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Anmerkungen Einleitung
I Octavio Paz: Das Labyrinth der Einsamkeit. Essay (1950), Frankfurt/ M. 19887, S. 21-22. II Bis weit in die 1980er Jahre hinein wurde Paz’ homogenisierende Definition der mexicanidad weitgehend ungebrochen rezipiert. Der mexikanische Kulturanthropologe Roger Bartra hat die erste und bislang einflussreichste Dekonstruktion der von Paz etablierten Stereotypen geliefert, vgl. Roger Bartra: La jaula de la melancolía. Identidad y metamorfosis del mexicano, Mexiko-Stadt 1987. III Vgl. Gustavo Cabrera und José Luis Lezama: Die mexikanische Bevölkerung im 20. Jahrhundert, in: Dietrich Briesemeister und Klaus Zimmermann (Hg.): Mexiko heute. Politik – Wirtschaft – Kultur, Frankfurt/M. 1996, S. 241-251, besonders S. 243/244 und 250. IV Vgl. Paz (1950) 19887, S. 22. Der häufige, meist verkürzende Bezug auf Paz im offiziellen Identitätsdiskurs zeigt hingegen, wie einflussreich auch nach 1950 Homogenisierungstendenzen auf diesen waren. Dass Paz seinen Essay mehrfach überarbeitete und die zunächst herausgestellten Leistungen der Revolution nach dem brutalen Studentenmassaker von 1968 in einem systemkritischen Ergänzungskapitel relativierte, fand im Diskurs zur nationalen Identität kaum Berücksichtigung, vgl. Octavio Paz: Gesellschafts- und Opferpyramiden, in: Paz (1950) 19887, S. 206-220, besonders S. 206-209. Dieses Kapitel verfasste Paz 1969 für die deutsche Neuausgabe des Labyrinth der Einsamkeit. V Vgl. u. a. Ausst.-Kat. Gabriel Orozco, The Kanaal Art Foundation Kortrijk, Borrelen Broeitoren 1993; Gabriel Orozco, Serpentine Gallery London, Köln 2004. VI Vgl. u. a. Ausst.-Kat. Teresa Margolles: Kunsthalle Wien project space, Kunsthalle Wien project space u. a. 2003; Ausst.-Kat. Teresa Margolles: Muerte sin fin, Museum für Moderne Kunst Frankfurt/M. 2004. VII Während man in Mexiko die jüngere Kunstgeschichte seit den frühen 1990er Jahren kritisch aufarbeitet, fand eine europäische und US-amerikanische Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst aus Mexiko in breiter Form erst Anfang des 21. Jahrhunderts statt, vgl. Ausst.-Kat. Mexico City: An Exhibition about the Exchange Rates of Bodies and Values, P.S.1 Contemporary Art Center New York u. a. 2002. Die bislang umfassendste und fundierteste Recherche über zeitgenössische Kunst in Mexiko, die die
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
kunst- und kulturhistorischen Entwicklungen seit den 1960er Jahren berücksichtigt, wurde jüngst von Kunsthistorikern und Filmwissenschaftlern der Universidad Nacional Autónoma de México realisiert und im Universitätsmuseum für Wissenschaften und Kunst von Mexiko-Stadt gezeigt, vgl. Ausst.-Kat. La era de la discrepancia. Arte y cultura visual en México 19681994, Museo Universitario de Ciencias y Arte, MUCA Campus, Universidad Nacional Autónoma de México Mexiko-Stadt 2007. VIII Vgl. insbesondere Serge Guilbaut: How New York Stole the Idea of Modern Art, Chicago, London 1983. IX Werner Haftmann: Malerei nach 1945, in: Ausst.-Kat. II. documenta. Kunst nach 1945 – internationale Ausstellung. Malerei, Skulptur, Druckgrafik, Museum Fridericianum, Orangerie, Bellevueschloss Kassel, Köln 1959, S. 13-20. X Haftmann 1959, hier S. 16. XI Haftmann 1959, hier S. 14. XII Haftmann 1959, hier S. 16. Eine intensive, der Arbeit zuträgliche Auseinandersetzung mit Haftmanns Text fand auf dem 2. Hamburger Graduiertenforum am 12.11.2007 im Warburg-Haus zum Thema „Kunst als ,Weltsprache‘?“ statt. XIII Vgl. Haftmann 1959, hier S. 19. XIV Noch in den 1990er Jahren stellte man bei Tamayo speziell die indianischen Einflüsse seiner zapotekischen Herkunft und das Unpolitische seiner Kunst heraus, das Kritiker an abstrahierenden Tendenzen im Unterschied zum Realismus in den späten 1940er Jahren festgemacht hatten, vgl. Xavier Moyssén: Rufino Tamayo, in: The Dictionary of Art, hg. von Jane Turner, 34 Bde., Bd. 30, London, New York 1996, S. 281-283. XV Haftmann 1959, hier S. 14. XVI Vgl. Kathrin Wildner: Zocalo – Die Mitte der Stadt Mexiko. Ethnographie eines Platzes (= Diss., Universität Hamburg 2001), Berlin 2003, besonders S. 173. XVII Vgl. Edward Soja: History: Geography: Modernity, in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume, Frankfurt/M. 1991, S. 73-91. XVIII Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962), Frankfurt/M. 1990; Ders.: Öffentlichkeit, in: Fischer Lexikon Staat und Politik, Frankfurt/M. 1964, S. 220-226, abgedruckt in: Ders.: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt/M. 1977, S. 61-69. XIX Vgl. Pierre Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume, Frankfurt/M. 1991, S. 26-34.
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Anmerkungen
XX Vgl. Monika Wagner: Die Plazas von Manhattan. Privatisierung von Kunst und Natur im öffentlichen Raum, in: kritische berichte, Jg. 19, Nr. 4, 1991, S. 38-51 (= Wagner 1991a), hier S. 42.
I
Kunst und nationale Identität in Mexiko
1 Der mexikanische Staat gab rund 700 000 Pesos, circa 700 000 USDollar, für den Pavillonbau aus. Das waren 1,7 % der Staatsausgaben im Jahr 1889. Der Pavillon war damit der teuerste Mexikos seit der ersten Teilnahme an einer Weltausstellung in New Orleans 1884 bis zum Zweiten Weltkrieg, vgl. Mauricio Tenorio Trillo: Artilugio de la nación moderna. México en las exposiciones universales, 1880-1930, Mexiko-Stadt 1998, S. 346-349. 2 Eine ausführliche und eindringliche Darstellung des Pavillonprojekts vom Wettbewerbsentwurf über die Realisierung bis zur Rezeption liefert Tenorio Trillo 1998, besonders S. 103-172. 3 „[S]egún el estilo azteca más puro“, Antonio Peñafiel, zit. n. Ders.: Explication de l’édifice mexicain à l’Exposition Internationale de Paris en 1889, Barcelona 1889, S. 54. Alle Übersetzungen ins Deutsche stammen von der Autorin. 4 „,[S]e reducía a la imitación de un teocalli, es decir de una pirámide truncada de base rectangular, sobre cuya plataforma superior se hacían sacrificios humanos‘“, Manuel Francisco Álvarez: Las ruinas de Mitla y la arquitectura, Mexiko-Stadt 1900, S. 258, zit. n. Tenorio Trillo 1998, S. 145. Im Unterschied zu Álvarez’ Definition werden in der prähispanischen Sprache Náhuatl alle Tempel als teocalli bezeichnet, nicht allein jene in Pyramidalform. 5 Der Begriff „Azteken“ (span. aztecas) bezieht sich auf die autochthone Gruppe, die vom mythischen Ursprungsort Aztlan im Süden der heutigen USA zum Tal von Mexiko (Anahuac) gezogen sein soll und sich in ihrer eigenen Sprache Náhuatl als mexica bezeichnete, vgl. Rémi Siméon: Diccionario de la Lengua Nahuatl o Mexicana (1885), Mexiko-Stadt 1977, S. 51 und 271. Erst im 18. Jahrhundert wurde die Bezeichnung „Azteken“ eingeführt, vgl. Francisco Xavier Clavigero: Historia Antigua de México (1780), Mexiko-Stadt 2003, S. 104. 6 Auch wenn die Begriffe „Indigene/r“ (span. indígena) und „Indio“ (span. indio/a) für die autochthone Bevölkerung Mexikos sowohl im spanischen als auch im deutschen Sprachgebrauch geläufig sind, wurde hier „Autochthone“ als am wenigsten hierarchisierend und irreführend gewählt,
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vgl. die Definitionen von Joan Corominas und José A. Pascual: Diccionario Crítico Etimológico Castellano e Hispánico, 6 Bde., Bd. 1, Madrid 1980, S. 415, sowie Bd. 2, S. 623; Real Academia Española: Diccionario de la Lengua Española, Madrid 2001, S. 858-859; Brockhaus. Die Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, Bd. 10, Leipzig, Mannheim 199720, S. 468, 470 und 859; Martín Alonso: Dicciconario Medieval Español. Desde las Glosas Emilianenses y Silenses (s. X) hasta el siglo XV, Salamanca 1986, S. 1256. 7 Vicente Riva Palacio, Alfredo Chavero et al.: México a través de los siglos, 5 Bde., Mexiko-Stadt 1884-1889. Kurz vor der Pariser Weltausstellung wurden die Bände zur prähispanischen und Kolonialzeit veröffentlicht. 8 Vgl. Palacio, Chavero et al. 1884-1889, Bd. 2, S. 471. 9 Diese Interpretation kursierte seit der Publikation des Standardwerks von dem konservativ-monarchischen Historiker Lucas Alamán, vgl. Lucas Alamán: Historia de Méjico, 5 Bde., Mexiko-Stadt 1849-1852; vgl. ferner: Enrique Florescano: La bandera mexicana. Breve historia de su formación y simbolismo, Mexiko-Stadt 2001, S. 157. Vgl. auch die Unabhängigkeitserklärung von 1821, die historische Kontinuität zwischen dem Aztekenreich und der Mexikanischen Republik implizierte, David A. Brading: Nationalism and State-Buildung in Latin-American History, in: IberoAmerikanisches Archiv, Jg. 20, Nr. 1-2, 1994, S. 83-108; ferner: Ders.: The First America. The Spanish monarchy, Creole patriots, and the Liberal state, 1492-1867, Cambridge 1991, S. 561-602. 10 Vgl. Peñafiel 1889, S. 56. Im Zusammenhang mit den Ausgrabungen und Restaurierungsarbeiten an den Pyramiden von Teotihuacan nördlich von Mexiko-Stadt wurde Mexiko auf dem XVII. Amerikanisten-Kongress in Mexiko-Stadt 1910 zum „amerikanischen Ägypten“ erklärt. Dies ist nur ein Beispiel für die Nobilitierung der prähispanischen Kulturdenkmäler, die die mexikanische Archäologie um 1900 und später betrieb, vgl. Mauricio Tenorio Trillo: 1910 Mexico City: Space and Nation in the City of the Centenario, in: Journal of Latin American Studies, Jg. 28, Bd. 1, Februar 1996, S. 75104, hier S. 100. 11 Vgl. Tenorio Trillo 1998, S. 117. 12 México a través de los siglos war mit zahlreichen Abbildungen illustriert, unter anderem Lithographien und Drucken von F. Fuste und R. Canto, Reproduktionen von Gemälden des mexikanischen Künstlers José María Velasco sowie Zeichnungen und Fotografien von nationalen und internationalen Forschern wie dem französischen Archäologen Desiré de Charnay (1828-1915). Charnay erhielt 1857 von der mexikanischen Regierung die Erlaubnis, gemeinsam mit anderen französischen Wissenschaftlern
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Anmerkungen
Maya-Stätten zu untersuchen und zu dokumentieren. Die Reproduktionen prägten das Mexiko-Bild weltweit nicht nur über die Publikation, sondern auch über deren Rezeption in mexikanischen Weltausstellungspavillons des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. 13 Vgl. Peñafiel 1889, S. 55. 14 Beispiele hierfür sind unter anderem das „Nonnenkloster“ und der „Gouverneurspalast“ (frühes 10. Jh.) in Uxmal, Yucatán, vgl. Annegrete Hohmann-Vogrin: Die Einheit von Raum und Zeit – Die Architektur der Maya, in: Nikolai Grube (Hg.): Maya – Gottkönige im Regenwald, Köln 2000, S. 194-215, besonders S. 210. 15 Jesús Fructuoso Contreras (1866-1902) studierte in den 1880er Jahren, mit einem staatlichen Stipendium ausgestattet, Bildhauerei in Paris. Für die Bronzeskulptur Malgré tout (1900) erhielt er auf der Pariser Weltausstellung 1900 den Großen Preis. Zurück in Mexiko gründete Contreras 1890 eine eigene Bronzegießerei, die Fundición Artística Mexicana S. A., die einen Großteil der national aufgeladenen Statuen, Salonbronzen und Imitationen europäischer und japanischer Werke in Mexiko um die Jahrhundertwende herstellte, vgl. Tenorio Trillo 1998, S. 157. 16 Contreras stellte nicht nur aztekische, sondern auch andere prähispanische Gottheiten dar, so den Gott Camaxtli. Camaxtli, hier als Azteke rezipiert, war der Jagdgott der Tlaxkalteken, der Bevölkerungsgruppe, die mit dem spanischen Konquistador Hernán Cortés bei der Eroberung der Azteken kooperierte. 17 Vgl. Oliver Andrews: Living Materials. A Sculptor’s Handbook, Berkeley, Los Angeles, London 1983, S. 89 und 93. 18 „los magos del progreso“, Tenorio Trillo 1998, S. 80. 19 Zur Situation Mexikos um 1890, vgl. Luis González: El liberalismo triunfante, in: Historia general de México, hg. vom Colegio de México, Mexiko-Stadt 2000, S. 633-705, hier S. 662-666. 20 Vgl. Tenorio Trillo 1998, S. 116-120. 21 Vgl. Ausst.-Kat. Homenaje Nacional. José María Velasco (1840-1912), 2 Bde., Museo Nacional de Arte Mexiko-Stadt 1993. 22 „visiones bucólicas de un paraíso perdido“, Tenorio Trillo 1998, S. 161. 23 Zur Thematisierung der Industrialisierung in der englischen Landschaftsmalerei, vgl. Monika Wagner: Die Industrielandschaft in der englischen Malerei und Grafik, 1770-1830, Frankfurt/M., Bern, Las Vegas 1979. Zur mexikanischen Situation, vgl. insbesondere die Kapitel „Luis Barragáns Wohnsiedlung Los Jardines del Pedregal de San Ángel in Mexiko-
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Stadt und Mathias Goeritz’ Plastik Das Tier vom Pedregal“ und „Das Zentrum des Skulpturraums“. 24 Vgl. Wagner 1979, besonders S. 13-14 und 19-21. 25 Vgl. Monika Wagner: Wirklichkeitserfahrung und Bilderfindung. William Turner, in: Dies. (Hg.): Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, 2 Bde., Bd. 1, Reinbek 1991 (= Wagner 1991b), S. 115-134, besonders S. 116-118 und 126-127. 26 Die mexikanische Regierung kaufte Der Senat von Tlaxcala neben anderen Historienbildern in den 1880er Jahren an, um sie unter anderem auf Weltausstellungen auszustellen. Zum Prestige der Historienmalerei unter mexikanischen Amerikanisten, vgl. Anonym: Academia de Bellas Artes, in: El Siglo XIX, 21.10.1895, S. 3, abgedruckt in: Ida Rodríguez Prampolini: La crítica del arte en México en el siglo XIX, 3 Bde.(=Rodríguez Prampolini 1997a), Bd. 3, Mexiko-Stadt 19972, S. 381. 27 „,[C]elebrar la transformación tecnológica del medio salvaje‘“, Peter Hales: William Henry Jackson and the Transformation of the American Landscape, Philadelphia 1988, S. 175, zit. n. Tenorio Trillo 1998, S. 163. Auf der Pariser Weltausstellung 1889 stellte das Ministerium für Entwicklung so eine Fotoserie von Eisenbahnstrecken zwischen Mexiko-Stadt und der Hafenstadt Veracruz aus. Das staatliche Eisenbahnunternehmen Ferrocarril Nacional Mexicano zeigte zudem 34 in Auftrag gegebene Aufnahmen mexikanischer Landschaften, unter anderem des US-amerikanischen Fotografen William Henry Jackson, der mit seinen romantisierenden Aufnahmen des US-Westens die dortige nationale Identität entscheidend prägte. 28 Die Medaillons zeigen von links nach rechts: den katholischen Priester Antonio Plancarte, Außenminister Ignacio Mariscal, General Francisco Z. Mena, Finanzminister Manuel Durán, Justizminister Joaquín Baranda und General Pedro Hinojosa. 29 „[U]na imagen portátil de lo exótico para el consumo nacional e internacional“, Tenorio Trillo 1998, S. 164. 30 Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/M., New York 1988. 31 Einige der frühesten Historiengemälde der unabhängig gewordenen USA, wie Benjamin Wests Gemälde The Death of General Wolfe (1777 in London ausgestellt) und John Trumbulls Gemäldeserie für den Kongress in Washington, The Death of General Warren (1786), sollten etwa von „universeller Heldenhaftigkeit“ in Verbindung mit dem Speziellen der USamerikanischen Geschichte zeugen. Insbesondere Wests Bild, das von der Stärkung der britischen Macht auf dem nordamerikanischen Kontinent han-
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Anmerkungen
delt, war in seiner Ausführung jedoch stark neokolonial geprägt. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts standen seine und Trumbulls Werke hingegen als zu sehr der britischen Kultur verhaftet in der Kritik, vgl. Barbara S. Groseclose: Nineteenth-Century American Art, Oxford, New York 2000, S. 2 und 13-15. 32 Vgl. Thomas F. Reese und Carol McMichael Reese: Revolutionary Urban Legacies: Porfirio Díaz’s Celebrations of the Centennial of Mexican Independence in 1910, in: Arte, historia e identidad en América: Visiones comparativas, XVII Coloquio Internacional de Historia del Arte, 4 Bde., Bd. 2, Mexiko-Stadt 1994, S. 361-373, besonders S. 371-373; Tenorio Trillo 1996, besonders S. 98. Im Unterschied zu den USA, die, so Alexis de Tocqueville 1831, eine gemeinsame Identität der „aus allen Nationen der Welt“ Eingewanderten bildeten, aber die stark dezimierte autochthone Bevölkerung nicht berücksichtigten, setzte sich die Regierung Porfirio Díaz zum Ziel, den über 100 autochthonen Gruppen, Mestizen und in Mexiko geborenen spanischen Kreolen eine gemeinsame Identität zu verleihen. Autochthone wurden dabei lediglich durch Rückgriffe auf aztekische Helden in die mexikanische Identität integriert. 33 „[A]ctas de legitimación“, Carlos Monsiváis: La hora cívica – de monumentos cívicos y sus espectadores, in: Ders.: Los rituales del caos, Mexiko-Stadt 20012, S. 135-153, hier S. 138. 34 Die beglaubigende Wirkung der Historienmalerei in den jungen Nationen westlich des Atlantiks ging sowohl von einer stilistischen Rückanbindung an die europäischen Akademien als auch an deren griechisch-römische Motivtraditionen aus. Die Akademie San Carlos in Mexiko-Stadt etwa brachte zahlreiche Künstler hervor, die ihre Arbeiten in den Dienst des unabhängigen Mexiko stellten, vgl. unter anderem Esther Acevedo, Jaime Cuadriello, Fausto Ramírez und Angélica Velázquez Guadarrama: Catálogo comentado del acervo del Museo Nacional de Arte. Escultura. Siglo XIX, 2 Bde., Bd. 1, Mexiko-Stadt 2000, S. 151-163; zur Situation in den USA, vgl. Groseclose 2000, besonders S. 8-10. Zur Identitätsstiftung durch nationale Symbole in anderen ehemaligen Kolonien vgl. Anderson 1988, S. 86 und 103-115. 35 „[L]os pleitos [...] y las bodas [...] entre el plátano y el mármol“, Luis Miguel Aguilar: La democracia de los muertos, Mexiko-Stadt 1988, S. 106. 36 „[¿P]or qué tantos jóvenes, poseyendo un verdadero conjunto de cualidades artísticas, no han acometido la empresa de crear una escuela pictórica y escultórica esencialmente nacional, moderna y en armonía con los progresos incontrastables del siglo XIX?“ Ignacio Manuel Altamirano: La
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pintura histórica en México, in: El Artista, Bd. 1, Mexiko-Stadt 1874, S. 8, abgedruckt in: Rodríguez Prampolini 1997a, Bd. 2, S. 196-199, hier S. 197. 37 „Auch wenn sie jeden Tag mehr zur ewigen und ruhigen hellenischen Schönheit als dem essenziellen Objekt – als dem einzigen Perfektionsideal – tendiert, kann sie sich nichtsdestotrotz mit neuen Formen wappnen [...] und einen nationalen Charakter annehmen, der uns gehört oder zumindest Amerika gehört.“/„Tendiendo cada día más y más a la eterna y serena belleza helénica, como el objeto esencial, como el único ideal de perfeccionamiento puede sin embargo revestir nuevas formas [...] y asumir un carácter nacional que nos pertenezca o al menos que pertenezca a la América.“ Altamirano (1874) 1997a, hier S. 197. 38 Vgl. Tenorio Trillo 1998, S. 143-150. 39 Während sich die europäischen Naturwissenschaftler einig waren, dass die weiße die überlegene Rasse sei, stellte die Übernahme dieser Auffassung im mestizischen Mexiko ein spezielles Problem dar. Man beauftragte institutionell geförderte Untersuchungen zur Lebenswelt der prähispanischen Autochthonen, deren erste Ergebnisse ab den 1860er Jahren in den Museen der Hauptstadt präsentiert wurden. Dieser Zeitpunkt war nicht zufällig. Bereits zuvor hatten ausländische Wissenschaftler prähispanische Zeugnisse Mexikos dokumentiert. Schon 1860 und erneut 1880 bis 1882 forschte de Charnay in Mexiko. Er fertigte einige der ersten Fotografien prähispanischer Stätten an, die nach ihrer Veröffentlichung 1863 für die Rezeption des Alten Mexiko in Europa und in Mexiko prägend wurden. In den 1840er Jahren hatte der britische Zeichner und Architekt Frederick Catherwood (1799-1854), der den Schriftsteller John Lloyd Stephens auf dessen Reise durch Zentralamerika begleitete, mehrere Maya-Stätten gezeichnet, deren Publikation als Illustrationen zu Stephens’ Reisebericht das Mexikobild nachhaltig beeinflussten, vgl. John Lloyd Stephens: Incidents of Travel in Central America, Chiapas and Yucatan, New York 1841. Das Interesse für die eigene Geschichte in Mexiko wurde durch den Blick von außen gestärkt, wofür nicht zuletzt erneut autoexotisierende Mechanismen eine Rolle spielten. Auf diese Geisteshaltung sind auch die Gründung der mexikanischen Denkmalschutzbehörde (1885) und die der archäologischen Abteilung im Nationalmuseum (1887) zurückzuführen. 40 Nachweise dafür waren nach Riva Palacio das Fehlen von Körperbehaarung und Weisheitszähnen bei den Autochthonen, vgl. México a través de los siglos 1887-1889, Bd. 2, S. 474-481. 41 Vgl. Antonio García Cubas: Étude geographique, statistique, descriptive et historique des États Unis Mexicains, Mexiko-Stadt 1889, S. 17-20.
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Anmerkungen
42 Vgl. Tenorio Trillo 1998, S. 129-132. 43 Dies änderte sich bis zur Revolutionszeit nicht. Noch in der Visualisierung des porfirianischen Geschichtsbildes im Defilee zur Hundertjahrfeier der mexikanischen Unabhängigkeit 1910 in Mexiko-Stadt wurde das Einsetzen der mexikanischen Geschichte mit dem Treffen von Cortés und Moctezuma II. markiert und die verschiedenen autochthonen Gruppen unter „Azteken“ subsumiert. Die lebende autochthone Bevölkerung wurde dagegen nicht repräsentiert, vgl. Reese, McMichael Reese 1994, S. 361-373. 44 Vgl. Desmond Rochfort: Mexican Muralists: Orozco, Rivera, Siqueiros, London 1993, S. 21. 45 Wie blutig die Revolution ablief, zeigte sich unter anderem daran, dass bis 1920 eine Million Menschen, jeder 15. Mexikaner, in der Revolution gestorben waren, vgl. Leonard Folgarait: Mural Painting and Social Revolution in Mexico, 1920-1940. Art of the New Order, Cambridge, New York, Melbourne 1998, S. 4. 46 Vgl. ebd., S. 6. 47 Vgl. Tenorio Trillo 1998, S. 132. 48 Die Theoretiker der Revolutionszeit nutzten hierfür Schlussfolgerungen zur Entwicklungsfähigkeit der Autochthonen im späten 19. Jahrhundert und die Aufwertung des Mestizentums in wissenschaftlichen Kreisen, die erstmals auf einem Amerikanistenkongress 1874 in Mexiko-Stadt formuliert wurden, vgl. Tenorio Trillo 1996, S. 75-104, hier S. 99-101; Alan Knight: Racism, Revolution, and Indigenismo: México, 1910-1940, in: Richard Graham (Hg.): The Idea of Race in Latin America, 1870-1940, Austin, Texas, 1990, S. 71-113. Der Jurist und Revolutionär Andrés Molina Enríquez, der sich mit zentralen Fragen zu Gesellschaft und Agrarreformen beschäftigte, sprach den Mestizen beispielsweise eine große Fähigkeit zur Anpassung an die amerikanische Umgebung zu und erklärte sie deshalb für besonders überlebensfähig, vgl. Andrés Molina Enríquez: Los grandes problemas nacionales, Mexiko-Stadt 1909, S. 196-269, besonders S. 262-268. 49 „La civilización conquistada por los blancos, organizada por nuestra época, ha puesto las bases materiales y morales para la unión de todos los hombres en una quinta raza universal, fruto de las anteriores y superación de todo lo pasado.“ José Vasconcelos: La raza cósmica: misión de la raza iberoamericana (1925), in: Ders.: Obras completas, 4 Bde., Bd. 2, MexikoStadt 1958, S. 903-1067, hier S. 909. Vasconcelos lehnte sich an Riva Palacios’ Argumentation für die Mestizen als Ausdruck einer Verbindung der ‚besten‘ Charakteristika von Autochthonen und Europäern an, vgl. México a través de los siglos 1887-1889, Bd. 2, S. 474-481.
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50 Vgl. José Enrique Rodó: Ariel, Liberalismo y Jacobinismo, Montevideo 1900. Sowohl Rodó als auch Vasconcelos distanzierten sich zugleich vom Nationenbegriff des französischen Historikers Ernest Renan, der in seinem grundlegenden Vortrag zum Thema die Gleichsetzung von Rasse und Nation in Frage stellte. Renans Definition der Nation als Erbe gemeinsamer Erinnerungen und Willen, diese in der Gegenwart und Zukunft zu pflegen, fand in Mexiko dagegen, wie in den meisten Nationen, durchaus ihre Entsprechung, vgl. Ernest Renan: Qu’est-ce qu’une nation? Conférence faite en Sorbonne, le 11 Mars 1882, Paris 1882, besonders S. 13-19 und 26-27. 51 Auch wenn sich die staatliche Propaganda in neuen Parametern artikulierte, blieben die Grundzüge der Politik im Porfiriat – keine konsequenten Agrarreformen und der weitgehende Erhalt der Besitztümer in den bislang herrschenden Klassen – in weiten Teilen bestehen, vgl. Folgarait 1998, S. 4-6. In anderen Aspekten verbesserte sich die Situation der unteren Bevölkerungsschichten: Ein gesetzlicher Mindestlohn und Festpreise für Grundnahrungsmittel wurden eingeführt, das Gesundheitssystem wurde ausgebaut und die Selbstorganisation in Gewerkschaften zugelassen. 52 „La pintura ha sido ejecutada a la encaústica, con los mismos elementos puros y el mismo proceso empleado en Grecia y en Italia en la antigüedad, este procedimiento que el autor restauró por su propio esfuerzo, gracias a búsquedas hechas durante unos diez años, es el más sólido de los procedimientos de pintura, salvo el esmalte a fuego.“ Diego Rivera: Las pinturas decorativas del Anfiteatro de la Preparatoria, in: Boletín de la S.E.P., Bd. 1, Nr. 3, 18.1.1923, abgedruckt in: Diego Rivera. Textos de Arte, hg. von Xavier Moyssen, Mexiko-Stadt 1986, S. 45-49, hier S. 49. 53 Vgl. Hubertus Gaßner und Michael Nungesser: Entwürfe einer neuen Gesellschaft. Sowjetische Revolutionskunst, revolutionäre Kunst in Mexiko, in: Wagner 1991b, Bd. 2, S. 372-400, besonders S. 386. Das vielleicht nahe liegendste Beispiel hierfür ist der in Mexiko entstandene Film Que viva México (1931) von dem russischen Regisseur Sergej Eisenstein, dessen montagehafte Komposition Riveras Bildaufbau von Geschichte Mexikos (19291935) und anderen, späteren Werken wie Traum an einem Sonntagnachmittag in der Alameda Central (Sueño de una tarde dominical en la Alameda Central, 1947-1948) im Hotel del Prado (heute: Museo de la Alameda) in Mexiko-Stadt beeinflusste. 54 Den Begriff führte der Künstleraktivist „Dr. Atl” in der Frühzeit der mexikanischen Wandmalereibewegung ein, vgl. Dr. Atl: ¿Renacimiento artístico?, in: El Universal, 13.7.1923, o. S. 55 Orozco stand dem mexikanischen Nationalismus von Beginn an skep-
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Anmerkungen
tisch gegenüber, vgl. Jean Charlot: The Mexican Mural Renaissance, New York 1979, S. 227, und kritisierte unter anderem in dem Wandbild Der Karneval der Ideologien (El carnaval de las ideologías) im Regierungspalast des Bundesstaates Jalisco, Guadalajara, nicht nur den Faschismus, sondern auch den Kommunismus, vgl. Renato González Mello: El régimen visual y el fin de la revolución, in: Hacia otra historia del arte en México, 4 Bde., Bd. 3: La fabricación del arte nacional a debate (1920-1950), hg. von Esther Acevedo, Mexiko-Stadt 2002, S. 275-309 (= González Mello 2002a), hier S. 280. 56 Rivera sympathisierte seit den 1920er Jahren mit dem sowjetischen Stalinismus, eine Haltung, die sich nach zensorischen Eingriffen der Rockefeller-Familie in Riveras Auftragsarbeit für das New Yorker Rockefeller Center von 1933 intensivierte, vgl. Ausst.-Kat. Diego Rivera. A Retrospective, Detroit Institute of Arts u. a., New York, London 1986. 57 quetzal, náhuatl = heiliger Vogel der Azteken; cóatl, náhuatl = Schlange. 58 „[E]l principio de la civilización, el dios constructor“, José Vasconcelos: Discurso pronunciado el Día del Maestro, 15.5.1924, in: Boletín de la SEP, Jg. 2, Nr. 5-6, 1924, S. 859-865, zit. n. Claude Fell: José Vasconcelos: Los años del águila, 1920-1925. Educación, cultura e iberoamericanismo en el México postrevolucionario, Mexiko-Stadt 1989, S. 131. 59 Vgl. Laurance P. Hurlburt: Diego Rivera (1986-1957): A Chronology of His Art, Life and Times, in: Ausst.-Kat. Rivera 1986, S. 22-115, besonders S. 89-90. 60 Vgl. James Taylor: Representation of Railway Enterprise in the Satirical Press in Britain 1845-1870, in: Past & Present, Nr. 189, November 2005, S. 111-145. 61 Vgl. Vera Wolff: Schiff, in: Martin Warnke, Uwe Fleckner, Hendrik Ziegler (Hg.): Bildhandbuch zur Politischen Ikonographie, München (im Druck). 62 Die Beispiele für Industrialisierungsmetaphern in den Bildern der Wandmaler sind zahlreich, bei Rivera am frühesten in den Fresken des Bildungsministeriums und der Universität von Chapingo im Bundesstaat Mexiko (1923-1928) sowie bei Orozco in der Nationalen Vorbereitungsschule (1926), vgl. Renato González Mello: Diego Rivera entre la transparencia y el secreto, in: Hacia otra historia del arte, Bd. 3, S. 39-64 (= González Mello 2002b). 63 Vgl. Gaßner und Nungesser 1991, S. 394. 64 Vgl. Rochfort 1997, S. 87. 65 Ähnlich dem liberalen Geschichtsbild fand hier eine Reduktion der
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Historie auf ein Ereignis statt. Der Schwerpunkt wurde aber von der friedlichen ersten Begegnung Moctezumas II. und Cortés’ im liberalen Bild, mit der feindliche Auseinandersetzungen weitgehend ausgeblendet wurden, auf die Kampfhandlungen zwischen Moctezumas Sohn Cuauhtémoc und dem spanischen Eroberer Cortés verlagert. 66 Vgl. Claudio Lomnitz-Adler: Exits from the Labyrinth. Culture and Ideology in the Mexican Nation Space, Berkeley 1992, S. 312; Tenorio Trillo 1998, S. 327-328; Jacques Lafaye: Quetzalcóatl et Guadalupe: la formation de la conscience nationale au Mexique (1531-1813), Paris 1974 (= Diss., Université de Lille III 1971). Die Jungfrau von Guadalupe wurde bereits 1764 zur gemeinsamen Patronin aller neuspanischen Diözesen erklärt und als identitätstiftendes Symbol zu kirchenpolitischen Zwecken eingesetzt, vgl. Brading 1994, S. 92. 67 „[Die Wandmalerei] hat dazu gedient, die Ideen der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit herauszustellen, mit denen die heraufziehende Mexikanische Revolution zum Wohle der Menschheit beiträgt.“/„[La pintura mural] ha servido para exaltar las ideas de libertad y justicia social con que la Revolución Mexicana, en marcha, contribuye para beneficio de la humanidad entera.“ Carlos Pellicer zit. n. González Mello 2002a, hier S. 276-277. Vgl. dazu Rochfort 1997, S. 85; Folgarait 1998, S. 6. 68 Siqueiros schuf noch zwischen 1957 und 1965 sein großformatiges Geschichtsbild Von der Diktatur Porfirio Díaz’ zur Revolution (De la Dictadura de Porfirio Díaz a la Revolución) in der Eingangshalle des Nationalmuseums für Geschichte im Schloss von Chapultepec in Mexiko-Stadt. Auf Orozcos ideologiekritische Position wurde bereits an anderer Stelle eingegangen. 69 Vgl. Emily Edwards: Painted Walls of Mexico. From Prehistoric Times until Today, Austin, Texas, London 1966, S. 172. 70 Vgl. Gaßner und Nungesser 1991, hier S. 396. 71 Maßgeblich hierfür waren Initiativen und Kunsthandwerksausstellungen, die von den Künstlern Dr. Atl, Roberto Montenegro und Gabriel Fernández Ledesma ausgingen, vgl. Fell 1989, S. 449-456. 72 Vgl. González Mello 2002b, besonders S. 54-55, 59 und 64. 73 Vgl. David Alfaro Siqueiros, Diego Rivera, Xavier Guerrero, Fermín Revueltas, José Clemente Orozco, Ramón Alva Guadarrama, Germán Cueto und Carlos Mérida: Manifiesto del Sindicato de Obreros Técnicos, Pintores y Escultores (9.12.1923), in: El Machete, Nr. 7, Mexiko-Stadt, Juni 1924, abgedruckt in: Raquel Tibol (Hg.): Palabras de Siqueiros, Mexiko-Stadt 1996, S. 23-26, hier S. 24, „[U]nser fundamentales Ziel liegt darin, künstlerische Zeugnisse zu sozialisieren, indem wir das vollständige Verschwinden des
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Anmerkungen
bürgerlichen Individualismus anstreben. [W]ir loben Zeugnisse monumentaler Kunst, da sie von öffentlichem Nutzen sind.“/„[N]uestro objetivo fundamental radica en socializar las manifestaciones artísticas tendiendo hacia la desaparición absoluta del individualismo por burgués. [E]xaltamos las manifestaciones de arte monumental por ser de utilidad pública.“ 74 Vgl. González Mello 2002b, besonders S. 54. 75 Vgl. Folgarait 1998, S. 4. 76 Vgl. auch Gaßner und Nungesser 1991, hier S. 395 und 398-399. 77 Das Manifest der Künstlergewerkschaft, als ein Beispiel unter vielen, prägt ein fast religiöser Ton. Es ist dort die Rede von einer angestrebten Reinigung der Kunst und Gesellschaft von individuellen Interessen zu beider Läuterung, vgl. Siqueiros, Rivera, Guerrero et al. (1923/1924) 1996, besonders S. 25. 78 Vgl. González Mello 2002a, hier S. 280-281 und 288-289. González Mello verweist unter anderem auf die zeitgenössische Studie: Anita Brenner: Idols behind the Altars, New York 1929, S. 41-42. 79 Neben den katholisch geprägten Innenräumen, die die Wandmaler ausgestalteten, setzte Vasconcelos im Rahmen seiner Bildungskampagne auch Lehrer ähnlich säkularisierten ,Missionaren‘ ein, vgl. Fell 1989, S. 219-238. 80 „Mit dem Eintritt Vaconcelos’ in das Bildungsministerium erlangt diese neue klerikale Politik ihre Bewusstheit. Seitdem erfüllt die Schule die platonische Aufgabe, einen perfekten Staat hervorzubringen, [...] dessen Ideal auch den nicht zu leugnenden Vorteil besitzt, die Schule und die Bildungsminister vergessen zu machen, die Schule zu verbessern [...]. Landschulen, kulturelle Missionen, die Universität fürs Volk, die universitäre Ideologie von der Revolution, die Propagandakunst, die zivilisierende Funktion der Kunst, die Unterwerfung der Indios, ,Der Geist wird für meine Rasse sprechen‘, etcetera. All diese Schlagwörter Vasconcelos’ beinhalten nur religiöse Bestrebungen.“/„Es en el paso de Vasconcelos por la Secretaría de Educación Pública cuando alcanza su plena conciencia de sí misma esta nueva política clerical; desde entonces asume la escuela la función platónica de dar nacimiento a un Estado perfecto, [...] cuyo ideal tiene también la innegable ventaja, [...] de hacer olvidar a la escuela y a los secretarios de Educación el compromiso [...] de convertirla en una mejor escuela [...]. Escuelas rurales, misiones culturales, la Universidad para el pueblo, la ideología universitaria de la Revolución, el arte-propaganda, la función civilizadora del arte, la redención de los indios, ‚Por mi Raza Hablará el Espíritu‘, etcétera; todas estas nociones vasconcelistas no
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contienen sino aspiraciones religiosas [...].“ Jorge Cuesta (1933) zit. n. González Mello 2002a, hier S. 282-283. 81 Der öffentliche Raum wurde erst mit der beginnenden Enteignung der katholischen Kirche nach einem Regierungsbeschluss von 1855 in Teilen profanisiert. Einige Kirchen und Klöster wurden abgerissen, andere zivil genutzt. Eines der signifikantesten Beispiele im Zentrum von MexikoStadt ist die Kolonialkirche San Agustín, in die unter Präsident Benito Juárez 1867 die Nationalbibliothek zog und die dort bis zu ihrem Umzug in ein eigenes Gebäude in der Universitätsstadt Anfang der 1980er Jahre blieb. Andere klerikale Gebäude wurden dagegen schon nach der beginnenden Vertreibung der spanischen Missionare ab den 1760er Jahren von weltlichen Institutionen genutzt. Die Königliche Universität von Guadalajara war beispielsweise seit ihrer Gründung 1793 bis 1827 und nach einer zwischenzeitlichen Nutzung als Justizpalast von 1853 bis zur Revolution in der Kirche Santo Tomás untergebracht. Im Zuge der Auswirkungen von Vasconcelos’ Bildungskampagne wurde die Kirche 1925 erneut an die Universität zurückgegeben und mit Wandbildern ausgestattet, vgl. Raquel Tibol: Los Murales de Siqueiros, Mexiko-Stadt 1998, S. 83. Öffentliche Plätze stattete man zunehmend mit bürgerlichen Denkmälern, aber in Anlehnung an religiöse Vorbilder aus. Trotz neu geschaffener Räume für Denkmäler im bürgerlichen Raum existierten in den ersten Jahren nach dem Beschluss allein Entwürfe, die die vielzähligen ephemeren Kunstwerke der ersten vier Jahrzehnte der mexikanischen Unabhängigkeit ersetzen sollten. Erst mit der Errichtung des Paseo de la Reforma und dem Beschluss von 1877, dort einen liberalen Geschichtsparcours anzubringen, wurden die ersten Projekte in die Tat umgesetzt. In weiten Teilen blieb der öffentliche Raum dennoch religiös determiniert, vgl. Annick Lempérière: La Ciudad de México, 1780-1860: Del Espacio Barroco al Espacio Republicano, in: Esther Acevedo (Hg.): Hacia otra historia del arte en México, 4 Bde., Bd. 1: De la estructuración colonial a la exigencia nacional (1780-1860), Mexiko-Stadt 2001, S. 149-164; Angélica Velázquez Guadarrama: La historia patria en el Paseo de la Reforma. La propuesta de Francisco Sosa y la consolidación del Estado en el Porfiriato, in: Arte, historia e identidad 1994-1999, Bd. 2, S. 333-344. Vgl. auch die Situation der Legitimation von Denkmälern in Frankreich im 19. Jahrhundert bei Neil McWilliam: Monuments, Martyrdom, and the Politics of Religion in the French Third Republic, in: The Art Bulletin, Juni 1995, Jg. 77, Nr. 2, S. 186-206. 82 Vgl. Velázquez Guadarrama 1994-1999, S. 334. 83 Vgl. El Partido Liberal, México, 2.9.1887, S. 1.
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Anmerkungen
84 Velázquez Guadarrama 1994-1999, hier S. 341-342. 85 Vgl. Bernd M. Scherer: Agua-Wasser, in: Ausst.-Kat. Agua-Wasser. Goethe-Institut Mexiko, Museo Universitario de Ciencias y Arte, Universidad Nacional Autónoma de México Mexiko-Stadt 2003, S. 14-27, besonders S. 16-17. 86 Vgl. Cabrera und Lezama 1996. 87 Nach diesem Posten unter Präsident Manuel Ávila Camacho war Zubirán zwischen 1946 und 1948 Rektor der Nationaluniversität. 88 Die Benennung der einen Siedlung nach dem einzigen Präsidenten Mexikos autochthoner Abstammung und der anderen nach dem amtierenden Präsidenten kann durchaus als Untermauerung der Revolutionspropaganda von einem für die Bevölkerung sorgenden Staat gelesen werden. Die JuárezSiedlung musste nach dem schweren Erdbeben von 1985 in Teilen abgerissen werden, vgl. Ausst.-Kat. Ciudad de México. Arquitectura: 1921-1970, Convento de Nuestra Señora de los Reyes Mexiko-Stadt 2001, S. 245 und 250. Mitte der 1960er Jahre schuf Pani zudem die Wohnstadt Nonoalco-Tlatelolco nördlich des Altstadtkerns, die jahrzehntelang als Prestigeobjekt der mexikanischen Regierungen galt, bis sie von dem schweren Erdbeben von 1985 ebenfalls stark beschädigt wurde, vgl. Louise Noelle: Mario Pani, in: Fernando González Gortázar (Hg.): La Arquitectura Mexicana del Siglo XX, Mexiko-Stadt 1996, S. 166-167. 89 José Clemente Orozco: La Primavera, 1949. Silikon, Farbe, Zement, 170 x 331 cm, Unidad Habitacional Presidente Alemán, Mexiko-Stadt (zerstört). Das Wandbild blieb nach Orozcos Tod 1949 unvollendet, vgl. Jorge Alberto Manrique: El futuro radiante: La Ciudad Universitaria, in: González Gortázar 1996, S. 195-221, hier S. 200; Ausst.-Kat. Ciudad de México 2001, S. 250. 90 Vgl. Mathias Goeritz: La integración plástica en el C.U. „Presidente Juárez“, in: Arquitectura México, Nr. 40, Dezember 1952, S. 419-425. Goeritz arbeitete bereits kurz nach seiner Ankunft in Mexiko 1949 mit den Herausgebern von Arquitectura México zusammen und gründete und leitete später deren Kunstrubrik. 91 Vgl. David Alfaro Siqueiros: Hacia una nueva plástica integral, in: Espacios, Nr. 1, September 1948, abgedruckt in: Tibol 1996, S. 287-292 (=Siqueiros (1948a) 1996). 92 Vgl. Francisco Reyes Palma: Trasterrados, migrantes y guerra fría en la disolución de una escuela nacional de pintura, in: Issa María Benítez Dueñas (Hg.): Hacia otra historia del arte en México, 4 Bde., Bd. 4: Disolvencias (1960-2000), Mexiko-Stadt 2004, S. 183-215, besonders S. 188189.
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93 Vgl. Luis Cardoza y Aragón: Rufino Tamayo, in: Cuadernos Americanos, Jg. 7, Nr. 4, Juli-August 1948, S. 250-260, besonders S. 260 (= Cardoza y Aragón 1948a). 94 „Tamayo va [...] hacia la más acabada pureza de la pintura“, Cardoza y Aragón 1948a, S. 250-251. Vgl. auch Luis Cardoza y Aragón: Nuevas Notas sobre Alfaro Siqueiros, in: México en el Arte, Nr. 4, Oktober 1948, o. S. (= Cardoza y Aragón 1948b). 95 Vgl. Haftmann 1959. 96 Vgl. Cardoza y Aragón 1948b, o. S. 97 Vgl. Cardoza y Aragón 1948a, S. 257. 98 Vgl. u. a. David Alfaro Siqueiros: La crítica de arte como pretexto literario, in: México en el arte, Nr. 4, Oktober 1948, o. S., abgedruckt in: Tibol 1996, S. 293-307 (=Siqueiros (1948b) 1996); Siqueiros (1948a) 1996, S. 287-292. 99 Vgl. Giovanni Ponti: Prefazione, in: Ausst.-Kat. XXV. Biennale di Venezia. Catalogo, Venedig 1950, S. VII-IX, besonders S. VIII. 100 Vgl. Ausst.-Kat. Biennale Venedig 1950, S. 350-361. 101 Gamboa wandte hier den liberalen Mythos von der Wiederherstellung der prähispanischen Welt mit der Unabhängigkeit und der Revolution auf die Kunst an, indem er von einer Rückgewinnung des „eigenen bildnerischen Ausdrucks“ sprach. Im Zuge der Ausbildung eines „nationalen Geistes“ in Mexiko schufen die Künstler, so Gamboa, eine eigene Ästhetik, die äußere Einflüsse nur integrierte, wenn diese mit deren Erneuerungsidealen vereinbart waren, vgl. Ausst.-Kat. Biennale Venedig 1950, S. 350-361. 102 „Los tres Grandes“, vgl. Ausst.-Kat. Biennale Venedig 1950, S. 350. 103 Zur Instrumentalisierung des Abstrakten Expressionismus in der USAußenpolitik während der ersten Jahre des Kalten Kriegs vgl. Guilbaut 1983. 104 Jackson Pollock: No. 23, 1949. Öl und Lack auf Leinwand auf Holz, 67,3 x 30,7 cm, Sammlung Mrs. John D. Rockefeller III. Nicht nur Pollocks Bild, sondern auch auf der Biennale gezeigte Werke Willem de Koonings, die aus der Sammlung Nelson A. Rockefeller stammten, vgl. Ausst.-Kat. Biennale Venedig 1950, gehörten der einflussreichen New Yorker Familie, die in dem Eklat um eines der wichtigsten Wandbilder Riveras eine entscheidende Rolle gespielt hatte, vgl. auch Fußnote 56 und 106. 105 Vgl. Shifra Goldman: Contemporary Mexican Painting in a Time of Change (= Diss., University of California, Los Angeles, 1977), Austin, Texas, London 1981, besonders S. 35-37. 106 Rivera malte eine reduzierte und überarbeitete Fassung des Wandbildes nach seiner Rückkehr nach Mexiko 1934 im Treppenhaus des Palastes
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Anmerkungen
der Schönen Künste im Zentrum von Mexiko-Stadt. Zum Wandbild im Rockefeller Center und seiner Zerstörung, vgl. Pascale Lange: Das Wandbild Diego Riveras im Rockefeller Center von 1933: Stellung im Leben und Werk, unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Hamburg 1996; Ausst.-Kat. Rivera 1986, S. 294-297 und 302-304. 107 Vgl. Goldman 1981, besonders S. 5. 108 Zur Bewegung der Nueva Presencia zählten unter anderen die Maler Rafael Coronel, Benito Messeguer und Francisco Corzas. José Luis Cuevas war der wichtigste Vertreter des so genannten Interiorismo. 109 Die Behauptungen beruhten auf den kulturpolitischen Umständen, unter denen in den 1950er und 1960er Jahren US-Kulturinstitutionen wie die Pan American Union über Künstlerstipendien und Salons in Lateinamerika Einfluss auf die lokale Kunstentwicklung nahmen. Rivera, Siqueiros und ihnen folgende Künstler und Kritiker bewerteten die US-Kunstförderung in Lateinamerika als weiteren Wirkungsbereich des Kalten Kriegs. Sie fürchteten, dass die US-Kulturpolitik den von ihr als genuin amerikanisch aufgebauten und künstlerische Freiheit repräsentierenden Abstrakten Expressionismus auf dem gesamten Kontinent und kulturelle Strömungen, die in der Mexikanischen Revolution wurzelten, allem voran die Wandmalerei, zu schwächen intendierte, vgl. Goldman 1981. Zur Kulturpolitik der USA im frühen Kalten Krieg vgl. Guilbaut 1983. 110 Die Äußerungen Riveras und Siqueiros’ zu dem Thema sind zahlreich, vgl. u. a. Diego Rivera: ¿Hay crisis en la pintura mexicana?, in: Así, 6.1.1945, o. S., abgedruckt in: Rivera 1986, S. 314-319; Siqueiros (1948a) 1996.
II Öffentliche Kunst und nationale Landschaft auf dem Campus der Universidad Nacional Autónoma de México (1946-1954) in Mexiko-Stadt
111 „No estamos poniendo una primera piedra en el primer edificio de la Ciudad Universitaria; estamos poniendo una piedra más en la fervorosa construcción de nuestro México.“ Dem Architekten Carlos Lazo unterstand die Bauaufsicht der Universitätsstadt ab April 1950. Das Zitat entstammt seiner Rede anlässlich der Grundsteinlegung des Campus, vgl. Enrique X. de Anda Alanís: Ciudad Universitaria: 50 años. 1952-2002, Mexiko-Stadt 2002, S. 45. 112 Pani entwarf unter anderem als Leiter des wichtigsten mexikanischen Stadtplanungsprojekts, dem Taller de Urbanismo, zwischen 1951
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und 1963 die Masterpläne der mexikanischen Großstädte Acapulco, Mérida, Culiacán und Ciudad Juárez, vgl. Noelle 1996, S. 166-167. 113 „[M]ediante una devoción por la sabiduría, sentida sinceramente y servida con todo intelecto […] se honrará a la Patria en esta Ciudad Universitaria.“ Miguel Alemán: El Presidente Alemán dice…, in: Arquitectura México, Nr. 39, September 1952, S. 195. 114 Vgl. Anda Alanís 2002, S. 45. 115 Teodoro González de León (geboren 1926) arbeitete 1947, kurz nach der Abgabe des Campusentwurfs, für mehrere Monate in Le Corbusiers Pariser Büro und hat, von dessen plastischer Architekturauffassung beeinflusst, mehr als jeder andere zeitgenössische Architekt das Bild der mexikanischen Metropolen seit den 1960er Jahren geprägt. Seine Arbeiten, zu denen viele öffentliche Gebäude und neben anderen die Mexikanischen Botschaften in Brasília (1972-1976), Guatemala-Stadt (1994-2003) und Berlin (1997-2000) zählen, charakterisieren sich durch monumental wirkende Querriegel an den Fassaden und riesige Patios. Beide sind häufig mit breiten Verbindungsstreben ausgestattet, wodurch intensive Licht- und Schatteneffekte entstehen. Im Unterschied zu Le Corbusier lässt González de León die Betonoberflächen seiner Bauten oft per Hand behauen, so dass in den Beton gemischte Materialien wie Marmorgranulat und roter Vulkantuff (tezontle) sichtbar werden. Es entstehen raue, nicht bearbeitet scheinende Oberflächenabschlüsse, ähnlich denen von Naturstein, vgl. Miquel Adriá: Teodoro González de León. Obra completa/Complete Works, Mexiko-Stadt 2004. Die mit Beton als industriellem Baumaterial verbundenen Konnotationen ,Rationalisierung‘ und ,Ökonomisierung‘ werden durch diese kostenund zeitintensive Oberflächenbearbeitung zugunsten einer rauen Wirkung der Gebäude aufgegeben. 116 Vgl. Anda Alanís 2002, S. 94-95; Juan B. Artigas: La Ciudad Universitaria de 1954. Un recorrido a cuarenta años de su inauguración, MexikoStadt 1994, S. 14. 117 Mit dem Begriff ,Internationaler Stil‘ werden seit der gleichnamigen Architekturausstellung von Philip Johnson und Henry-Russell Hitchcock im New Yorker Museum of Modern Art 1932 funktionalistische Tendenzen in der Architektur bezeichnet, die sich in der europäischen Moderne der 1920er und 1930er Jahre herausbildeten. Nach Johnson und Hitchcock zeichnen sich diese durch international einsetzbare, von regionalen Gegebenheiten unabhängige Charakteristika wie Modularität und Asymmetrie aus, vgl. Ausst.-Kat. The International Style: Architecture Since 1922, Museum of Modern Art New York 1932. Die Stichhaltigkeit des eher homogenisierenden
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Anmerkungen
als differenzierenden Begriffs ist von Vertretern des ,Internationalen Stils‘ selbst und in der jüngeren Architekturtheorie relativiert worden. Walter Gropius kommentierte 1948: „Wollen wir überall in unserem Land ein Hühnchen à la King mit einer Eisenbetonsoße oder eine regionale Küche für jedermann? Der internationale Stil ist weder international noch ein Stil. Der tatsächliche internationale Stil besteht aus jenen geborgten griechischen Gebäuden […] in der ganzen Welt von Leningrad bis Washington, jedoch die Idee des sogenannten internationalen Stiles war regional im Charakter, wie er aus den umgebenden Bedingungen erwuchs.“ Vgl. Walter Gropius: Zur Verteidigung der modernen Architektur, in: Walter Gropius: Werkverzeichnis (1985-1988), hg. von Wolfgang Probst und Christian Schädlich, 3 Bde., Bd. 3: Ausgewählte Schriften, Berlin 1988, S. 172-174, hier S. 174. 118 Vgl. Anda Alanís 2002, S. 94-96; Artigas zieht ferner Vergleiche mit offenen Kappellen, die die christlichen Orden zur Taufe der autochthonen Bevölkerung an zahlreichen Kirchen aus der Kolonialzeit errichten ließen, vgl. Artigas 1994, S. 30. 119 Vgl. Anda Alanís 2002, S. 49-50. 120 Das Straßenführungsprinzip Hermann Herreys, der unter dem Namen Herman Zweigenthal 1904 in Wien geboren wurde und im Londoner Exil 1935 den Nachnamen „Herrey“ annahm, wurde 1944 in Mexiko eingeführt und neben dem Universitätscampus auch in der von Mario Pani geplanten Ciudad Satélite eingesetzt, worauf im Kapitel „Mario Panis Ciudad Satélite und die Skulpturengruppe Die Türme von Satélite von Mathias Goeritz und Luis Barragán“ näher eingegangen wird, vgl. Peter Krieger: Hermann Zweigenthal – Hermann Herrey. Memoria y actualidad de un arquitecto austriaco-alemán exiliado, in: Anales del Instituto de Investigaciones Estéticas, Nr. 85, Mexiko-Stadt 2004 (= Krieger 2004a), S. 7-30. Zur mexikanischen Rezeption Herreys vgl. Domingo García Ramos: Iniciación al urbanismo (1961), Mexiko-Stadt 19833, S. 325; Hermann Herrey: Comprehensive Planning for the City: Market and Dwelling Place: Part I – Planning for Traffic, in: Pencil Points. The Magazine of Architecture, April 1944, S. 81-90. 121 Die Mosaiken Juan O’Gormans an der Universitätsbibliothek waren bis zu dem Zeitpunkt allein an der Südseite fertiggestellt, vor der vom 18. bis 20. November 1952 Eröffnungsfeierlichkeiten des neuen Universitätscampus stattfanden. Siqueiros hatte erst mit den Vorzeichnungen an den Rektoratswänden begonnen, die teilplastische Ausführung fehlte zur Zeit der Campuseinweihung noch. 122 Diese setzten offiziell am 22.3.1954 ein, vgl. Anda Alanís 2002, S. 67. 123 Vgl. Anda Alanís 2002, S. 58.
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124 Zu den Überbauungen von Flüssen und der Errichtung von Verkehrsschneisen durch alte, gewachsene Stadtviertel in Mexiko-Stadt und deren ökologischen und sozialen Folgen vgl. Peter Krieger: Construcción visual de la megalópolis México, in: Hacia otra historia del arte, Bd. 4, S. 111-139 (= Krieger 2004b). 125 Dies ging durchaus zu Lasten der Bauausführung. Diego Rivera berichtet beispielsweise davon, dass das Universitätsstadion nicht, wie vom Architekten Pérez Palacios geplant, mit Beton ummantelt werden konnte, da hierfür laut Carlos Novoa, der die Baumittel verwaltete, kein Budget mehr zur Verfügung stand. Stattdessen mussten die Architekten, von Rivera durchaus begrüßt, auf den Lavabruch zurückgreifen, der durch die Steinsprengungen, die die meisten Gelder beanspruchten, entstanden war, vgl. Diego Rivera: La huella de la historia y la geografía en la arquitectura mexicana, Vortrag vom 25.6.1954, Palacio de Bellas Artes, Mexiko-Stadt, abgedruckt in: Rivera 1986, S. 377-417. 126 Vgl. Miguel Alemán: Programa de Gobierno, Mexiko-Stadt 1945, S. 7. Alemán stellte das Universitätsprojekt damit auch in die Tradition der Widmungen öffentlicher Projekte, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Anknüpfung an die katholischen Weihungen nach dem Heiligenkalender an Nationalfeiertagen stattfanden. 127 Zum Ausbruch des Xitle und der geologischen und botanischen Beschaffenheit des Pedregal-Lavafeldes, vgl. Esperanza Yarza de la Torre: Volcanes de México (1948), Mexiko-Stadt 1992, besonders S. 159. 128 Justo Sierra (1848-1912) war Anwalt und richtete als Justizminister (1905-1911) erstmals ein öffentliches Bildungssystem in Mexiko ein. Er veröffentlichte u. a. eine Anthologie über die Hundertjahrfeiern der Mexikanischen Unabhängigkeit von 1910, vgl. Justo Sierra: Antología del Centenario, Mexiko-Stadt 1910. 129 Vgl. Ausst.-Kat. Ciudad de México 2001, S. 238; Artigas 1994, S. 7-8; Clementina Díaz y de Ovando in: La Ciudad Universitaria de México. Reseña Histórica, 1929-1955, Mexiko-Stadt 1979, S. 21; Manrique 1996, besonders S. 202-205 und 211. 130 Vgl. Anda Alanís 2002, S. 51. 131 1910 lebten in der mexikanischen Hauptstadt noch 471 000 Menschen, vgl. Rafael López Rangel (Hg.): Las ciudades latinoamericanas, Mexiko-Stadt 1989, S. 28. 1953 waren es bereits 3 480 000, vgl. Scherer 2003, hier S. 17. 132 Vgl. Artigas 1994, S. 9.
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Anmerkungen
133 Vgl. Manrique 1996, hier S. 211; Artigas 1994, S. 11; Anda Alanís 2002, S. 58-59. 134 Der Großteil der Literatur spricht von einer Favorisierung des Studentenentwurfs nach hitzigen Debatten im schulinternen Wettbewerb, vgl. Manrique 1996, hier S. 210; Adriá 2004, S. 35. Andere dagegen behaupten, dass aus dem internen Wettbewerb die Projekte Panis und del Morals als Sieger hervorgingen und das Studentenprojekt erst in der Ausarbeitung für den späteren nationalen Wettbewerb relevant wurde, vgl. Anda Alanís 2002, S. 58-59; Louise Noelle: Mario Pani. Arquitecto de su época, MexikoStadt 1985, S. 68-69. 135 Vgl. Ausst.-Kat. Ciudad de México 2001, S. 238; Anda Alanís 2002, S. 58-59 und 159-160. 136 Vgl. Manrique 1996, hier S. 210. 137 Vgl. Artigas 1994, S. 11-12; Teilnehmerliste nach: Construcción Moderna, Bd. 2, Nr. 24-25, November-Dezember 1951, abgedruckt in: Anda Alanís 2002, S. 165-169. 138 Vgl. Anda Alanís 2002, S. 61. 139 Vgl. Ausst.-Kat. Ciudad de México 2001, S. 238. 140 Vgl. Alemán 1945, S. 80-81. 141 Der neu eingesetzte Rektor Luis Garrido konnte die Probleme, die zu weiteren Baubehinderungen führten, erst Anfang 1949 lösen, als er die technische Leitung neu organisierte. 142 Vgl. Manrique 1996, hier S. 208-209. 143 Vgl. Anda Alanís 2002, S. 61-65; Artigas 1994, S. 13. 144 Vgl. Artigas 1994, S. 9. 145 Vgl. Manrique 1996, hier S. 204-207. Ein weiteres Indiz für eine solche Argumentation ist die Tatsache, dass der Bau von Studentenwohnheimen in der Universitätsstadt zunächst hinten angestellt und letztlich ganz aufgegeben wurde, nachdem die Streiks im Instituto Politécnico Nacional von einem schuleigenen Internat ausgegangen waren. 146 Während die Gebäude an den zwei zentralen Plätzen, die Sportanlagen und Verkehrsanbindungen bis 1954 weitgehend fertiggestellt waren, kamen viele von Pani und del Moral geplante Instituts- und Fakultätsbauten erst im Verlauf der folgenden Jahrzehnte hinzu. Das Centro Cultural, das anlässlich der 50-jährigen Unabhängigkeit der Universität im Südteil des Campus errichtet wurde, war beispielsweise ein Entwurf aus den 1970er Jahren, vgl. Manrique 1996, hier S. 210-214; Artigas 1994, S. 14. 147 Vgl. Anda Alanís 2002, S. 49-51. 148 Vgl. u. a. Anda Alanís 2002, S. 76; Artigas 2004, S. 42.
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149 Vgl. Vasconcelos (1925) 1958, besonders S. 942. Vgl. auch den Teil „Kunst und Nationale Identität in Mexiko“. 150 „Ningun [sic] ideal nos parece tan digno de nuestros tiempos, y ninguno tan prometedor de salvación para la cultura, como este a que dedicamos estas obras materiales: la dignidad del genero [sic] humano parejamente disfrutada sin distingos de raza, de creencias ni de origen nacional.“ Miguel Alemán zit. n. Arquitectura México, Nr. 39, September-Dezember 1952, S. 195-196. 151 Nichtsdestotrotz wird beispielsweise das Universitätsmotto, das während Vasconcelos’ Rektorat von 1920 bis 1921 eingeführt wurde, „Der Geist wird für meine Rasse sprechen“ (Por mi raza hablará el espíritu), bis heute verwendet. 152 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fanden in speziellen Militärgebieten der südlichen USA die ersten Atomtests statt. Mit dem ersten unterirdischen Nukleartest auf der Nevada Test Site erreichten die US-amerikanischen Atomversuche eine neue Stufe. Die Sowjetunion rüstete entsprechend nach, was drei Jahre später zu einem Atompatt zwischen beiden Nuklearmächten führte. 153 „[A la juventud universitaria le corresponde] vencer la crisis de los valores morales e intelectuales […]. [El espíritu universitario es universal y eterno; mantiene] la libertad del pensamiento, se opone a todas las formas de la tiranía; renunciación, altruismo, idealidad, virtud.“ Alemán 1945, S. 85. 154 Die inzwischen entfernte Skulptur geht auf ein Gipsmodell Arenas Betancourts von 1949 zurück, das dieser gemeinsam mit dem Architekten Raúl Cacho anfertigte und das sich heute in der Sammlung Ernesto Gutiérrez Arango, Manizales, in Kolumbien befindet, vgl. María Cristina Laverde Toscano: Rodrigo Arenas Betancourt: El sueño de la libertad, pasos de una vida en la muerte, Bogotá 1988, S. 141. 155 „Los dos símbolos tienen en común la presencia de dioses que, en lugares diversos del planeta, inician una nueva sociedad. Dos mitos que demuestran la universalidad de la civilización humana“, Rodrigo Arenas Betancourt zit. n. Laverde Toscano 1988, S. 92. 156 Arte público erschien unregelmäßig zwischen 1952 und 1954 in insgesamt vier Ausgaben. Neben Siqueiros äußerten sich Rivera, O’Gorman und Bildhauer wie Siqueiros’ Mitarbeiter Luis Arenal, vgl. Arte público. Tribuna de pintores muralistas, escultores, grabadores y artistas de la estampa en general, Jg. 1, Nr. 1, Oktober-November 1952; Jg. 1, Extra-Nr. 1, Dezember 1952; Jg. 1, Folleto 1, Februar 1953; Jg. 2, Nr. 2, November 1954-Februar 1955.
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Anmerkungen
157 Weitere wichtige Wandbilder auf dem Naturwissenschaftlichen Campus: José Chávez Morado: Die Eroberung der Energie (La conquista de la energía), 1953-1954. Glasmosaiken, 171 m2, Wissenschaftsauditorium; José Chávez Morado: Die Rückkehr Quetzalcóatls (El retorno de Quetzalcóatl), 1953-1954. Glasmosaiken, 54 m2, Wissenschaftsauditorium; Francisco Eppens: Das Leben, der Tod und die vier Elemente (La Vida, la Muerte y los cuatro elementos), 1952-1953. Glasmosaiken, 360 m2, Medizinische Fakultät, Westaußenwand, alle Universidad Nacional Autónoma de México, MexikoStadt. 158 Vgl. Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros, Xavier Guerrero et al.: Acta constitutiva de la Unión Mexicana de Pintores, Muralistas y Escultores, abgedruckt in: Arte público. Tribuna de pintores muralistas, escultores, grabadores y artistas de la estampa en general. Jg. 1, Nr. 1, Oktober-November 1952, o. S. 159 Vgl. „1. Es imposible imaginar la construcción de una Ciudad Universitaria en el México del presente, en el México foco del muralismo internacional moderno, [...] sin el agregado de la pintura y [...] de la escultura. [...] 3. Hasta ahora la pintura mural mexicana se ha ejecutado en edificios viejos o bien en edificios en los cuales no fue concebido previamente el agregado pictórico o escultórico. 4. La construcción de la Ciudad Universitaria, por lo tanto, marca la primera oportunidad histórica importante para que la pintura mexicana – y con ella la escultura – alcance su segunda etapa. [...] 2. [sic] Esta comisión, en estrecha colaboración con los arquitectos que se designen para el caso, deberá resolver [...] los problemas esenciales siguientes: a) La policromía exterior e interior de la Ciudad Universitaria; b) La localización de las zonas pictóricas propiamente dichas, esto es, el señalamiento de los edificios donde deberá ejecutarse la pintura mural y escultura (en el interior o en el exterior); c) La temática correspondiente a la función de la Ciudad Universitaria en su conjunto, lo mismo que la correspondiente a cada uno de sus edificios o secciones.“ David Alfaro Siqueiros an Carlos Lazo, 20.2.1951, abgedruckt in: Arte público, Jg. 1, Nr. 1, Oktober-November 1952, o. S. 160 Vgl. Ausst.-Kat. Ciudad de México 2001, S. 257. 161 Am gegenüberliegenden Hochhaus für Naturwissenschaften ist die Organisation der Fensterbänder ähnlich. Da diese sich aber nicht von der breiten Hauptfassade bis zu den Gebäudeschmalseiten durchziehen, wirkt das Hochhaus für Naturwissenschaften massiver und weniger transparent als das Rektorat.
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162 Das Wappen mit dem Motto „Der Geist wird für meine Rasse sprechen“ führte José Vasconcelos 1921 als Universitätsrektor ein, vgl. José Vasconcelos: El Nuevo Escudo de la Univerisdad Nacional, 27.4.1921, in: Vasconcelos Obras, Bd. 2, S. 777. 163 Das Universitätsemblem aus Kondor und Adler, die über einem Nopalkaktus und den großen Vulkanen eine Karte Mittel- und Südamerikas zwischen sich halten und über denen der Schriftzug „POR MI RAZA HABLARÁ EL ESPÍRITU“ prangt, wurde erst später auf Höhe des zwölften und 13. Stockwerks an der Ostfassade angebracht. 164 Siqueiros richtete sowohl an Alemáns Nachfolger Adolfo Ruiz Cortines als auch an Carlos Lazo als Bauleiter der Universität mehrere Briefe, in denen er die Freistellung von Mitteln zur Beendigung der Außenwandreliefs am Rektorat einforderte und seinen Eindruck, aufgrund experimenteller Techniken diskriminiert zu werden, formulierte, vgl. David Alfaro Siqueiros: Memorándum [sic] al Presidente de la República, Señor Adolfo Ruiz Cortines, sobre la pintura mural en la Ciudad Universitaria, 25.2.1953, abgedruckt in: Tibol 1996, S. 365-366; David Alfaro Siqueiros: Memorial al Señor Arquitecto Carlos Lazo, Gerente General de las obras en la Ciudad Universitaria. Sobre el problema de mis murales en la Rectoría y en la Facultad de Ciencias Químicas, 9.8.1953, abgedruckt in: Tibol 1996, S. 367-370. 165 Bereits in den 1930er Jahren hatte Siqueiros in Los Angeles erste Erfahrungen mit Außenwandbildern gesammelt, die wie Riveras mural im Rockefeller Center jedoch teilweise zerstört wurden. Vgl. David Alfaro Siqueiros: Ein Arbeitertreffen (Un mitín obrero), 1932. Fresko, 6 x 9 m, Chouinard School of Art, Los Angeles, zerstört; Tropical America, 1932. Fresko, 5,18 x 12,9 m, Hauswand, Olvera Street, heute: The Plaza Art Center, Los Angeles, schwer beschädigt; Portray of Mexico, 1932. Fresko, 38 m2, Privathaus, Santa Monica, vgl. Raquel Tibol, Shifra Goldman und Agustín Arteaga: Los murales de Siqueiros, Mexiko-Stadt 1998. Das wohl erste Außenwandrelief in Mexiko, nach Riveras gescheiterten Plänen für das unvollendet gebliebene Nationalstadion von 1924, schuf der US-japanische Künstler Isamu Noguchi 1935 an der Fassade des überdachten Marktes Abelardo L. Rodríguez im Stadtzentrum, vgl. Ausst.-Kat. Rivera 1986, S. 89-92. 166 Siqueiros (1948a) 1996, besonders S. 288. 167 „las fuerzas caducas del imperialismo“, Jorge Juan Crespo de la Serna: Siqueiros: Mural en el Hospital La Raza, in: Revista Universidad de México, Jg. 9, Nr. 10-11, Juli 1955, abgedruckt in: Tibol, Goldman und Arteaga 1998, S. 229. 168 Dieser Eindruck wäre durch die geplante, aber unvollendet geblie-
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Anmerkungen
bene Ausgestaltung von Neues Universitätsemblem mit Basreliefs noch verstärkt worden. 169 „[Las tecnologías tradicionales] no corresponderán ya a los espacios activos de una arquitectura activa, de una arquitectura en que la concepción de las formas geométricas ya no será inerte, sino dinámica en un grado máximo. [...] Una composición y una perspectiva que se realizan considerando al espectador no como una estatua, o como un autómata que gira sólo en su eje fijo, sino como un ser que se mueve en una topografía y en un tránsito correspondiente a esa topografía, de naturaleza infinita. Una tecnología pictórica y escultórica, en suma, que se va a agregar a superficies arquitectónicas [...], de combinación [...], como rompimientos escénicos en zonas pictóricas y escultóricas previa y adecuadamente ubicadas dentro de las arquitecturas.“ Siqueiros (1948a) 1996, hier S. 291. 170 Zu filmischen Verfahren in Siqueiros’ Werk vgl. unter anderem David Alfaro Siqueiros: Hacia la transformación de las artes plásticas, März 1934, abgedruckt in: Tibol 1996, S. 124-128. 171 Siqueiros (1948a) 1996, besonders S. 290. 172 Vgl. Tibol, Goldman und Arteaga 1998, S. 224. 173 „Si la plástica integral fue la más alta manifestación de la creación artística a través de los siglos, tal ,liberación‘ no puede ser más que mutilación [...] La sociedad nueva, la que surge delante de nosotros, será cada vez más una sociedad colectivista, infinitamente más amplia, en ese sentido, que lo que fueron las sociedades engendradoras del pasado artístico [...].“ Siqueiros (1948a) 1996, hier S. 289. 174 Vgl. David Alfaro Siqueiros: Curiosa pérdida de la memoria. Por lo visto, en la construcción de la Ciudad Universitaria colaboraron todos… menos los pintores muralistas y los escultores, in: Arte público. Jg. 1, Extra-Nr. 1, Dezember 1952, o. S. Trotz vermeintlich großem Interesse an der Vollendung der Werkausführungen erschwerte die Bauleitung der Universität Siqueiros’ Arbeit nachhaltig, indem sie lediglich die Finanzierung einiger Probereliefs in Aussicht stellte und kurzfristige Ausführungstermine ansetzte. Bauleiter Gustavo García Travesí begründete diese Maßnahmen insbesondere mit der Dringlichkeit der Gerüstentfernung vom Rektorat, das als universitätspolitisch wichtigstes Gebäude im besonderen Fokus des öffentlichen Interesses steht, vgl. Gustavo García Travesí an David Alfaro Siqueiros, CESU-AHUNAM, Fondo Dirección General de Obras, Serie Correspondencias, Schuber 483, Akte 15697, 8.6.1953. 175 Vgl. Kirsten Einfeldt: Mathias Goeritz’ öffentliche Skulptur in Mexiko-Stadt, unveröffentlichte Magisterarbeit, Hamburg 2001, S. 80.
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176 Zur Zusammenstellung der Natursteine in den Bibliotheksmosaiken und dem Gebäude vgl. Artigas 1994, S. 33. 177 Die Literatur beziffert die Mosaikengröße auf 4 000 Quadratmeter, darunter O’Gorman selbst, vgl. Juan O’Gorman: Autobiografía, in: Antonio Luna Arroyo: Juan O’Gorman. Autobiografía, Antología, Juicios Críticos y documentación exhaustiva sobre su obra, Mexiko-Stadt 1973, S. 147; Ausst.-Kat. O’Gorman, hg. von Grupo Financiero Bital, Mexiko-Stadt 1999, S. 233. Angesichts der Maße der Hauptflächen der Mosaiken von 2 x 27 x 43 m und 2 x 27 x 14 m (insgegsamt 3078 Quadratmeter) ist diese Angabe jedoch zu hoch angesetzt. Auch zusammen mit den fünf kleineren Bildflächen ist eine Angabe von 4 000 Quadratmetern als Gesamtgröße unrealistisch. Die in der Rezeption verbreitete Behauptung, Die Entwicklung der Kultur seien die größten Natursteinmosaiken weltweit, ist deshalb mit Vorsicht zu betrachten. 178 Vgl. Juan Coronel Rivera: Piedra enredadera, in: O’Gorman 1999, S. 208-247, hier S. 238. 179 Vgl. Entrevista, Olga Sáenz entrevista a Juan O’Gorman. MexikoStadt, San Ángel, 15. und 20. Juli, 2., 8., 12. und 15. August 1970, abgedruckt in: La Palabra de Juan O’Gorman (Selección de textos), hg. von Ida Rodríguez Prampolini, Olga Sáenz und Elizabeth Fuentes Rojas, MexikoStadt 1983, S. 10-36, hier S. 25. 180 Walter Gropius: Gibt es eine Wissenschaft der Gestaltung? (= Design Topics), in: Magazine of Art, Dezember 1947, abgedruckt in: Walter Gropius: Architektur. Wege zu einer optischen Kultur, Frankfurt/M., Hamburg 1956, S. 26-39, hier S. 39. 181 ebd., hier S. 34. 182 ebd., besonders S. 31. 183 ebd., hier S. 33. 184 ebd., besonders S. 35-37. 185 ebd. 1956, hier S. 34. 186 Vgl. Sáenz (1970) 1983, hier S. 24-25; O’Gorman 1973, S. 147. 187 Vgl. O’Gorman 1973, S. 146; Sáenz (1970) 1983, hier S. 24. Die Entscheidung über die Bibliotheksnutzung wurde später rückgängig gemacht, so dass heutige Leser in den oberen, für den öffentlichen Gebrauch frei gegebenen Geschossen in einem fensterlosen Magazin arbeiten. 188 In dem Wohnhaus Conlon Nancarrow (1947-1948) in der Colonia Las Águilas gestaltete O’Gorman Teile des Flurs und der Gartenmauern und -treppen mit Natursteinmosaiken aus, die er direkt auf den Wänden anbrachte. Für das Anahuacalli entwickelte er ab 1947 eine Technik, in der Natursteine per Betonguss auf Platten befestigt und zur Verkleidung
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Anmerkungen
an die Wände gebracht wurden, vgl. Interview mit der Rivera-Schülerin Rina Lazo und dem Frida Kahlo-Schüler Arturo García Bustos, der O’Gorman und Rivera bei der Ausgestaltung des Anahuacalli-Museums assistierte, 23.2.2007, Mexiko-Stadt. 189 „Desde el principio del proyecto, tuve la idea de hacer mosaicos de piedras de colores en los muros ciegos de los acervos, con la técnica que ya tenía muy bien experimentada. Con estos mosaicos la biblioteca sería diferente al resto de los edificios de la Ciudad Universitaria y con esto le dio carácter mexicano.“ O’Gorman 1973, S. 147. 190 Die Planung und Ausführung des Projekts war durch zahlreiche Hindernisse und Unterbrechungen geprägt. Unter anderem beklagte O’Gorman die schlechte Bezahlung, vgl. O’Gorman 1973, S. 146 und 147. 191 Vgl. O’Gorman 1973, S. 147-150. 192 „[U]na combinación de estilos azteca, maya y ,Rivera tradicional‘“, Diego Rivera zit. n. Gladys March: Diego Rivera. Mi arte, mi vida, MexikoStadt 1963, S. 195, abgedruckt in: Coronel Rivera 1999, hier S. 222. 193 Anahuac, náhuatl = „am Meer, aus dem Meer“, bezieht sich in der aztekischen Sprache auf das wasserreiche Tal von Mexiko; calli, náhuatl = „Haus, Zimmer“, vgl. Siméon (1885) 1977, S. 24 und 53. 194 Vgl. O’Gorman 1973, S. 142. Die Mosaiken des dritten Geschosses sind in insgesamt acht verschiedenen Steintypen geschaffen, vgl. Coronel Rivera 1999, hier S. 223. 195 Vgl. Diego Rivera: Datos auto-biográficos, in: El Arquitecto, Serie II, Nr. 8, März-April 1926, S. 3, abgedruckt in: Rivera 1986, S. 99-100, hier S. 100: „[E]r [Rivera] schafft kein unabhängiges Werk, und die Einflüsse Italiens sind extrem sichtbar.“/„[N]o logra hacer una obra autónoma y las influencias de Italia son extremadamente visibles.“ 196 „En el estado de Guerrero encontré los amarillos, los rojos y los negros (los amarillos y los rojos son óxidos de fierro), varios colores verdes también los encontré en los estados de Guerrero y de Guanajuato. En el estado de Hidalgo encontré piedras volcánicas de color violeta y dos calcedonias de color rosa. Nunca logramos encontrar piedra de color azul. [...] Finalmente, seleccioné diez colores con los cuales podían hacerse los mosaicos: un rojo venecia, un amarillo siena, dos rosas de diferente calidad, una casi de color salmón y la otra con tendencia al color violeta, un color gris violáceo, el gris oscuro del Pedregal, obsidiana negra y calcedonia blanca. También fue posible emplear el mármol blanco, dos tonos de verdes, uno claro y el otro oscuro que se lograron conseguir.“ O’Gorman 1973, S. 143. 197 Vgl. O’Gorman 1973, S. 143.
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198 Vgl. Coronel Rivera 1999, besonders S. 214-215. 199 Die Masken dienten häufig als Grabbeigaben. Die berühmte, mit Türkisen, Jade, Korallen, Muscheln und Obsidian besetzte Maske von Teotihuacan (um 300 n. Chr., Höhe: 21,6 cm) befindet sich heute im Nationalmuseum für Anthropologie in Mexiko-Stadt, ebenso eine der berühmtesten zapotekischen Masken, die so genannte Fledermaus-Maske aus Monte Albán, mit einem Besatz aus Muscheln und Jadeiten (200-800 v. Chr., 17 x 15,3 x 9,3 cm), vgl. Ausst.-Kat. Museo Nacional de Antropolgía, México. Libro guía, 2004, Mexiko-Stadt, Barcelona, Madrid 2004. Es ist anzunehmen, dass dem Archäologie interessierten O’Gorman die öffentlichen Sammlungen prähispanischer Mosaiken in Mexiko bekannt waren. 200 Zum Einsatz von Mosaiken aus Halbedelsteinen und von Pigmenten in der prähispanischen Kunst, vgl. John Gage: „Color colorado“: Estudios culturales comparados en la América prehispánica, in: Georges Roque (Hg.): El color en el arte mexicano, Mexiko-Stadt 2003, S. 97-116, besonders S. 104. 201 Vgl. Coronel Rivera 1999, besonders S. 215-216. 202 „Al representar el pasado prehispánico, lo que exalto es la tradición antigua de México, donde se encuentran nuestras raíces nacionales.“ O’Gorman sagte dies in Bezug auf sein Wandbild Geschichte von Michoacán (Historia de Michoacán), 1941-1942. Fresko, 14 x 12 m, Bibliothek Gertrudis Bocanegra, Pátzcuaro, Michoacán, in: Sáenz (1970) 1983, hier S. 22-23. 203 „[L]a primera casa moderna de estilo netamente mexicano“, „[U]na arquitectura de valor nacional y regional“, Diego Rivera zit. n. O’Gorman 1973, S. 188. 204 Diese Mosaikentechnik setzte O’Gorman später verschiedentlich ein, so in den Wandbildern Unser Herr Cuauhtémoc (Nuestro Señor Cuauhtémoc, 1955-1956) an der Gartenmauer des Hotel Posada de la Misión, Taxco, Guerrero, und Die Brüderlichkeit der indoamerikanischen Völker (La fraternidad de los pueblos indoamericanos, 1964-1967) im Park San Cristóbal, Tupahue, bei Santiago de Chile. Beide verhandeln indigenistische Themen, die erstgenannten Mosaiken ein regionales – der letzte Azteken-Prinz Cuauhtémoc soll in Guerrero begraben sein –, die zweiten analogisieren die Nationalhelden Chiles und Mexikos, Cuaupolicán und Cuauhtémoc, in der Gegenüberstellung, vgl. Sáenz (1970) 1983, hier S. 30; Ida Rodríguez Prampolini: Juan O’Gorman. Arquitecto y pintor, Mexiko-Stadt 1982, S. 61; Coronel Rivera 1999, besonders S. 243-245. 205 O’Gorman gründete zudem 1932 eine Schule für funktionalistische Architektur, vgl. Sáenz (1970) 1983, hier S. 13; Ida Rodríguez Prampolini:
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Anmerkungen
El creador, el pensador, el hombre, in: O’Gorman 1999, S. 20-43, hier S. 2526. 206 „[Die neue Architektur] unterdrückt das Wort ästhetisch und ersetzt es durch einen als wissenschaftlich zu bezeichnenden Funktionalismus, der allein auf Nützlichkeit und Mitteleinsparung basiert und damit die Kunst in Gebäudeingenieurstechnik und nicht in Architektur verwandelt.“/„[La nueva arquitectura] suprime la palabra estética y la sustituye por un funcionalismo que denominará científico, basado, exclusivamente, en la utilidad y la economía de medios, convirtiendo el arte en ingeniería de edificios, no en arquitectura.“ Juan O’Gorman, zit. n. O’Gorman 1999, S. 25. Vgl. auch Juan O’Gorman: Plan para primarias, in: Las escuelas primarias de Educación Pública, hg. von der Secretaria de Educación Pública, Mexiko-Stadt 1934; zum Wandel von O’Gormans Architekturprinzipien, vgl. Sáenz (1970) 1983, besonders S. 13-14. 207 Vgl. Sáenz (1970) 1983, besonders S. 13-14. Seitdem konzentrierte sich O’Gorman vornehmlich auf die Porträtmalerei und die Gestaltung öffentlicher Wandbilder, die den Aufbruch der Revolutionsnation und deren Wurzeln thematisieren, vgl. Sáenz (1970) 1983, besonders S. 17-23; Rodríguez Prampolini 1999. 208 „[U]n ensayo de arquitectura orgánica“ und „La arquitectura orgánica la puedo definir como la manifestación artística que tiene una relación directa con la geografía y la historia del lugar donde se realiza“, Sáenz (1970) 1983, hier S. 27. 209 „Einstein de la arquitectura moderna“ Sáenz (1970) 1983, hier S. 28. 210 Frank Lloyd Wright: Integrität (1954), in: Ders.: Schriften und Bauten, hg. von Edgar Kaufmann und Ben Roeburn, Berlin 1997, S. 234-238, hier S. 234. 211 Wright (1954) 1997, hier S. 235-236. 212 Vgl. Keith Eggener: Contrasting Images of Identity in the Post-War Mexican Architecture of Luis Barragán and Juan O’Gorman, in: Journal of Latin American Cultural Studies, Nr. 9, März 2000, S. 27-45, hier S. 32. 213 „[T]he lines of the hills were the lines of the roofs, the slopes of the hills their slopes, the plastered surfaces of the light wood-walls […] were like the flat stretches of sand in the river below and the same color, for that is where the material that covered them came from.“ Frank Lloyd Wright: An Autobiography, New York 19432, S. 171. Vgl. auch: Narciso Menocal (Hg.): Wright Studies I: Taliesin, 1911-1914, Carbondale, Edwardsville, Ill., 1992.
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214 Frank Lloyd Wright: Die Natur der Baustoffe: Beton, in: The Architectural Record, August 1928, abgedruckt in: Wright 1997, S. 169. 215 Frank Lloyd Wright: Die Natur der Baustoffe, in: The Architectural Record, April 1928, abgedruckt in: Wright 1997, S. 166-168, hier S. 166. 216 Vgl. Elizabeth Hill Boone: The Color of Mesoamerican Architecture and Sculpture, in: Dies. (Hg.): Painted architecture and polychrome monumental sculpture in Mesoamerica, Washington, D. C., 1985, S. 173-186. 217 „[U]n paisaje agresivo formado por rocas de múltiples formas“, Juan O’Gorman zit. n. Sáenz (1970) 1983, hier S. 27. 218 In der modernen europäischen Kunst fand Basalt erst mit der abstrakten Skulptur nach 1960 Verwendung, während er zuvor neben den prähispanischen Kulturen auch in Ägypten, im Vorderen Orient, Indien und Rom bearbeitet wurde. Die Konnotation des Basalt als „Zeichen für gesellschaftliche Umwälzungen“ nutzte insbesondere Joseph Beuys. In der Aktion 7 000 Eichen (Kassel, documenta 7, 1982) bildete er Paare aus je einem Baum und einer verwitterten Basaltsäule, deren Verhältnis zueinander sich mit dem Wachsen des Baumes verändert, vgl. Anne Hoormann: Land Art. Kunstprojekte zwischen Landschaft und öffentlichem Raum (= Diss., Universität Hamburg 1993), Berlin 1996, besonders S. 156-160; Vera Wolff: Basalt, in: Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, hg. von Monika Wagner, Dietmar Rübel und Sebastian Hackenschmidt, München 2002, S. 29-34, besonders S. 29-31. Zur Ikonologie von Basalt vgl. ferner Johann Wolfgang von Goethe: VergleichsVorschläge, die Vulkanier und Neptunier über die Entstehung des Basalt zu vereinigen (1789/1790), in: Gesamtausgabe der Werke und Schriften, 22 Bde., Bd. 20, hg. von Helmut Hölder und Eugen Wolf, Stuttgart 1960, S. 421-423; Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001, S. 179-184. 219 „[O]ndulaciones que formaron los movimientos de la lava, creando un carácter peculiar similar a los movimientos […] provocados por las olas en el mar“, Juan O’Gorman zit. n. Sáenz (1970) 1983, hier S. 27. 220 Vgl. Simon Schama: Der Traum von der Wildnis: Natur als Imagination, München 1996, S. 573-574. 221 „[D]er ,tecalli‘ ist eine schöne Sache. ,Tecalli‘ heißt: Hausstein; […] er wurde in der Nähe des Daches eingesetzt; deshalb wird er noch immer so genannt, um in Übereinstimmung mit der Feinheit des gesamten Lebens im Alten Mexiko ein diffuses goldenes, wunderbares Licht zu geben.“/„[E]l ,tecalli‘ es una bella cosa. ,Tecalli‘ quiere decir: piedra casa; […] se empleaba cerca del techo; por eso se llama así todavía, para dar una luz dorada
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Anmerkungen
difusa, magnífica, de acuerdo con el refinamiento de todo el resto de la vida del antiguo México.“ Rivera (1954) 1986, hier S. 392. 222 „[C]uatro sarapes puestos en un tendedero“, Diego Rivera (1954) 1986, hier S. 403. 223 „[P]artidarios de los rosarios de excusados“, ebd. 224 Die sarapes fanden über die ausschnitthafte Darstellung ihrer bunt gestreiften, geometrischen Muster in Riveras kubistischen Tafelbildern Zapatistische Landschaft – Der Guerrillero (1915, Öl auf Leinwand, 144 x 123 cm, Museo Nacional de Arte, Mexiko-Stadt) und Porträt Martín Luís Guzmán (1915, Öl auf Leinwand, 72,3 x 59,3 cm, Fudación Cultural Televisa, MexikoStadt) Eingang in die mexikanische Hochkunst. Über die Adaption der Revolutionskultur im Werk von Künstlern und Schriftstellern der 1920er und 1930er Jahre wurde der traditionelle mexikanische Umhang auch international rezipiert, vgl. unter anderem D. H. Lawrence: Quetzalcóatl (1923), New York 1998, und das fotografische Werk Edward Westons und Tina Modottis, vgl. Amy Conger: Edward Weston in Mexico 1923-1926, Albuquerque, New Mexico, 1983; Margaret Hooks: Tina Modotti, London 2002; Ausst.Kat. Tina Modotti & Edward Weston: The Mexico years, Barbican Art Gallery London 2004. 225 „[C]aja“, „[F]isonomía mexicana“, Diego Rivera (1954) 1986, hier S. 402 und 403. 226 Vgl. Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, 2 Bde., Bd. 1: Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst, Frankfurt/M. 1860, besonders S. 28-29, 217 und 227-231. 227 Frank Lloyd Wright: Alice Millard-Haus („La Miniatura“), 1923. Pasadena, Kalifornien. 228 Vgl. Kenneth Frampton: Frank Lloyd Wright and the Text-Tile Tectonic, in: Ders.: Studies in Tectonic Culture: The Poetics of Construction in Nineteenth and Twentieth Century Architecture, Chicago, Cambridge, Mass., London 1995, S. 93-120. 229 Die Öffentlichkeit nahm die mesoamerikanische Polychromie ab dem 19. Jahrhundert zunehmend wahr, als zahlreiche prähispanische, insbesondere Maya-Städte und -Zeremonialzentren wiederentdeckt wurden. Noch im 16. Jahrhundert hatten die spanischen Chronisten Bernal Díaz del Castillo, Fray Bernardino de Sahagún und Mexikos Konquistador Hernán Cortés in seinem an Karl V gerichteten Eroberungsbericht Carta de relación (1520) verschiedene – widersprüchliche – Polychromierungsmuster der Azteken
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dargestellt. Auch aus den Codices Borbonicus, Mendoza und Telleriano-Remensis ist die Polychromierung von aztekischer Architektur und Skulptur überliefert, vgl. Hill Boone 1985, besonders S. 178; Gage 2003, besonders S. 107. Bereits 1786 entdeckte man die Maya-Stadt Palenque in Chiapas wieder, woraufhin zahlreiche Expeditionen in das Gebiet aufbrachen, vgl. Fußnote 65. 230 „[C]olor functioned less as decoration than as a vehicle for iconographic readings and symbolic meanings. Specific colors […] could refer broadly to [...] abstract phenomena and principles such as the cardinal directions, night, lineage, preciousness, and sacredness. Color, in many cases, completed the work of art.“ Hill Boone 1985, hier S. 173. 231 Verschiedenfarbige Sand- und Lehmböden finden sich beispielsweise in der olmekischen Zeremonialstätte La Venta, Tabasco. Einige Böden sind dort auch mit zerstoßenem Serpentin ausgelegt. Polychrome Wandbilder im olmekischen Stil befinden sich in Juxtlahuaca und Oxtotitlan, Guerrero, vgl. Hill Boone 1985, besonders S. 174-175. 232 Vgl. Hill Boone 1985, S. 180. 233 Blaue und gelbe Steine sind dagegen selten zu finden und galten in verschiedenen prähispanischen Kulturen als heilig, vgl. Hill Boone 1985, besonders S. 181. 234 Vgl. Hill Boone 1985, besonders S. 181-182. 235 Vgl. Gage 2003, besonders S. 110-111. Gage beschreibt die Herkunft, Verarbeitung und kulturellen Konnotationen roter Farbe auf dem amerikanischen Kontinent und in Europa, vgl. ebd., S. 111-116. 236 Vgl. O’Gorman (1970) 1983, besonders S. 10-11. 237 Zu Jean Charlot vgl. Ausst.-Kat. México en la obra de Jean Charlot, Colegio de San Ildefonso Mexiko-Stadt u. a. 1994. 238 Jean Charlot: La Masacre en el Templo Mayor, 1922-1923. Fresko, 40,61 m2, Westhof, Escuela Nacional Preparatoria, San Ildefonso, MexikoStadt. Im August desselben Jahres führte Charlot unter anderem auch in den Höfen des Bildungsministeriums eigene Fresken aus. Zu Charlots Rolle in der mexikanischen Wandmalereibewegung vgl. Edwards 1966, S. 173-189, die den mexikanischen Muralismo in die Geschichte der Wandmalerei in Mexiko von den prähistorischen Höhlenmalereien auf der Baja California bis zur auslaufenden Wandbildbewegung in den 1960er Jahren einbettet. 239 „Die präcortesianische Kunst beeinflusste Charlot so sehr, dass seine Malerei noch immer von ihr saturiert ist.“/„El arte precortesiano influenció a Charlot de tal manera que su pintura está todavía saturada de él.“ José Clemente Orozco: Autobiografía (1945), Mexiko-Stadt 1970, S. 60. Nach
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Anmerkungen
Edwards 1966, S. 189, galt Charlot Orozco als am meisten prähispanisch beeinflusster Wandmaler. 240 Stephens hatte Chichén Itzá und andere mesoamerikanische Städte 1843 und in den Folgejahren wiederentdeckt. 1900 beschrieb der österreichische Archäologe Teobert Maler die Fresken des Nonnenpalastes, Theodore Willard fotografierte sie wenig später und fertigte Kopien für das Peabody Museum der Universität Yale, New Haven, Connecticut, an. Charlot ging 1927 in die USA und prägte die dortige Wandmalereibewegung auch über Publikationen zur Wandmalerei der Maya, vgl. Edwards 1966, S. 200. 241 „[H]asta con los paisajes suizos, las postales de la gran guerra, y los cromos germánicos, el artista hace obra mexicana, y pintando con deleite mujeres alemanas de tez color de rosa y cabellos de oro, hace pinturas tan genuinamente indígenas, como no lo son las representaciones de indios, que yo mismo me obstino en crear.“ Jean Charlot: Pinturas murales mexicanas, in: Forma. Revista de Artes Plásticas, Jg. 1, Bd. 1, Oktober 1926, S. 10-11, hier S. 11. 242 Vgl. Diego Rivera: La Pintura de las pulquerías, in: Mexican Folkways, Bd. 2, Nr. 7, Juni-Juli 1926, S. 6-15, abgedruckt in: Rivera 1986, S. 100-104, besonders S. 100-101. 243 „El hecho de que más gente entra a beber en las pulquerías mejor pintadas, prueba lo útil del arte; una pulquería sin pintar sería comercialmente, un absurdo. Esta atracción de la pintura no está especialmente ligada a los objetos representados; lo que atrae es ante todo, la línea y el color, y por esto le importa al dueño que sus paredes estén plásticamente bien cubiertas. (La buena calidad de la pintura, como la del pulque, es para él un elemento de éxito.)“, Charlot 1926, hier S. 11. 244 Zu Gabriel Fernández Ledesma vgl. Judith Alanís: Gabriel Fernández Ledesma, Mexiko-Stadt 1985. 245 Juan O’Gorman zit. n. Sáenz (1970) 1983, hier S. 21. 246 Der Titel des geplanten, aber unvollendet gebliebenen Gesamtwerks ist: Die Universität, die mexikanische Familie, der Frieden und die Sportjugend (La Universidad, la familia mexicana, la paz y las juventudes deportivas). Skizzen davon befinden sich im Besitz des Museo Universitario de Ciencias y Arte, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt. 247 Vgl. zum Olympiastadion Augusto Pérez Palacios: Estadio Olímpico, Ciudad Universitaria, México, Mexiko-Stadt 1963; Pedro Rojas: La Ciudad Universitaria a la época de su construcción, Mexiko-Stadt 1979. 248 „[V]iene a la mente – con todas las diferencias – el Coliseo romano“, „[A]demás de su modernidad, tiene carácter mexicano producido na-
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turalmente por […] los materiales“, Justino Fernández: Prefacio, in: Pérez Palacios 1963, S. 6. 249 „The University of Mexico Stadium is right for Mexico. […] Here is to be seen the great ancient traditions of Mexico coming to honor in modern times. But this structure is not imitative. It is creative in true sense and will take its place among the great Works of Architecture of today and tomorrow.“ Frank Lloyd Wright an Carlos Lazo, 15.3.1954, abgedruckt in: Pérez Palacios 1963, S. 322. 250 Vgl. Pérez Palacios 1963, besonders S. 21-22 und 111. 251 „[D]er Grund dafür, dass das Stadion so gemacht wurde, wie es ist, ist nicht der, ein Gebäude in toltekischem Stil zu machen, wie einige sagten, – ,Idioten‘, die glaubten, es zu beleidigen, und ihm das beste Lob erteilten, das sie ihm hätten machen können – sondern der Umstand oder die Spur der Geschichte, weil die Gebäude, die wir Aristokratie der Universitätsstadt nennen könnten, die Millionen und das Material verschlungen haben.“/„[L]a razón de haber hecho el estadio tal como es, no es el hacer un edificio de estilo tolteca como algunos dijeron, – ,imbéciles‘, creyendo insultarlo le hicieron el mejor elogio que podía haberle hecho – sino la circunstancia o sea la huella de la historia, porque los edificios de los que podíamos llamar aristocracia de la Ciudad Universitaria, absorbían los millones y el material.“ Rivera (1954) 1986, hier S. 412-413. 252 José Villagrán García und Federico Méndez Rivas: Estadio Nacional, 1924. Colonia Roma, Mexiko-Stadt (unvollendet, 1950 zerstört). 253 „La madre de todas las artes plásticas“, Rivera 1986, S. 18-19, 254 Der Eklat mit Villagrán löste eine Debatte zwischen dem Architekturkritiker Juan Galindo und Rivera aus, in der es um die Auffassung des Künstlers als Maler und Bildhauer auf der einen Seite und als Universalkünstler auf der anderen Seite ging. Während Galindo argumentierte, die Meinung eines Malers über Architektur sei irrelevant (vgl. Juan Galindo in: Excélsior, 24.4.1924, o. S.), verteidigte Rivera den Architekten als bildenden Künstler: „Die Architektur ist eine Kunst, die mit Form und Farbe in Volumen gearbeitet wird, also eine vollständigere und komplexere, bildende Kunst, und der Architekt ist ein Herr, der die Begabungen eines Malers und eines Bildhauers in sich vereinen muss. Ansonsten ist er kein Architekt.“/„La arquitectura es un arte que se trabaja con formas y color en volumen, es decir, un arte plástico más completo y más complejo, y el arquitecto es un señor que tiene que reunir en sí mismo las dotes de un pintor y un escultor, si no, no es arquitecto.“ Aus: Diego Rivera: Sobre arquitectura, El Universal, 28.4.1924, o. S., abgedruckt in: Diego Rivera.
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Anmerkungen
Obras, hg. von El Colegio Nacional, 4 Bde., Bd. 1: Textos de Arte, MexikoStadt 1996, S. 49-55, hier S. 50. Auf dem Gelände des Nationalstadions an der Straße Orizaba in der Colonia Roma errichtete Mario Pani in den 1950er Jahren das Multifamiliar Presidente Benito Juárez. Vgl. zum Nationalstadion von 1924 Angelika Zorilla Rodríguez: José Villagrán García: Architekt und Theoretiker. Seine Bedeutung für die zeitgenössische mexikanische Architektur, unveröffentlichte Diss., Universität Hamburg 1985, S. 203-204; Pérez Palacios 1963, S. 57-63. 255 Pérez Palacios 1963, S. 45, „Mar de lava, palpitar de piedra./Tranquilidad del cielo recortado por la vigorosa musculatura de las montañas. La luz quebrándose en sus repliegues pétreos, manchas violentas de color son sus pirules./Sequedad, majestuosidad, drama. Tal es el panorama./En un ciclo eterno: energía, materia, espíritu; olas de fuego arrojadas por el Xitle avanzaron sobre Anáhuac, destruyéndolo todo. Muchos siglos después, con impulso de fuerza centrífuga y transformadas en luz, inundarán a México, para construir con el saber emanado de las aulas de Ciudad Universitaria una nueva patria.“ 256 Vgl. Pérez Palacios 1963, S. 57-63. 257 Ebd. 258 Vgl. Barbara Braun: Diego Rivera: Heritage and Politics, in: Dies.: Pre-Columbian Art and the post-Columbian World. Ancient American Sources of Modern Art, New York 1993, S. 184-249, besonders S. 209-214. 259 Vgl. Braun 1993, besonders S. 209-214. 260 Alfonso Caso: El Teocalli de la Guerra Sagrada, Mexiko-Stadt 1927. 261 Vgl. Vasconcelos 1924, nach: Fell 1989, S. 131. 262 Zu den Mittelkürzungen der Universitätswandbilder vgl. Siqueiros (1953) 1996, S. 365-366, und das Kapitel „David Alfaro Siqueiros’ Rektoratsmosaiken“. 263 Vgl. Rodó 1900. 264 „Und damit die Lokalisierung der Universitätsstadt ein anderes einzigartiges Charakteristikum erhält, ist ihre Achse das Grenzland zweier Rassen und Kulturen, eine Wegkreuzung und Völkersynthese[.]“/„Y para que la localización de la Ciudad Universitaria tuviera otra característica singular, su eje es el país frontera de dos razas y de dos culturas, crucero de caminos y síntesis de pueblos[.]“ Carlos Lazo: Discurso pronunciado en la colocación de la primera piedra de la Ciudad Universitaria, 5.6.1950, abgedruckt in: Ders.: Pensamiento y destino de la Ciudad Universitaria de México, Mexiko-Stadt 1952, S. 9-11, hier S. 9-10; vgl. auch Ders.: Plática sostenida en la Escuela de Minería, gehalten am 22.08.1952, abgedruckt
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in: Lazo 1952, S. 199-225, hier S. 200; Ders.: Presencia, misión y destino de la Ciudad Universitaria de México, Conferencia sustentada en el Anfiteatro Bolívar de México vor der Sociedad Cultural „Justo Sierra“, 29.8.1950, abgedruckt in: Lazo 1952, S. 31-45, hier S. 40. 265 Vgl. Francisco Barón Torres: Pumas. Historia del futbol profesional en la UNAM, Mexiko-Stadt 2001, S. 40. 266 Ebd. 267 „Por dondequiera […] amenazas de que una víbora nos asalte o una tarántula se nos prenda; y lo que es más lejos, algo peor: los gatos monteses y los tigres y la muerte… Por dondequiera leyendas erráticas, historias de aparecidos y de almas en pena que salen a recorrer esos dominios, en cuanto la luz se mete. […] Hacia Tizapán […] partidas de vacas, hatos de carneros y de ovejas sin persona que se cuide de ellos, paciendo tranquilos dentro de esa paz primitiva.“ Aus: Federico Gamboa: Chimalistac, El Pedregal, San Ángel (1903), abgedruckt in: La ciudad de México en la novela, hg. von Antonio Acevedo Escobedo, Mexiko-Stadt 1973, S. 33-47, hier S. 44. 268 „Rivera meant the building to be a concrete embodiment of the idea of death that he had located as the central metaphor of Mexican civilization in the 1920s, even down to situating the museum on a dead lava bed.” Aus: Braun 1993, hier S. 240. 269 Vgl. Braun 1993, besonders S. 220. 270 Vgl. Olav Münzberg und Michael Nungesser: Diego Rivera als Wandmaler (III), in: Ausst.-Kat. Diego Rivera (1886-1957). Retrospektive, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst e. V. (NGBK) und Staatliche Kunsthalle Berlin 1987, S. 155-172, besonders S. 165. 271 Vgl. Alfonso Caso: El paraíso terrenal en Teotihuacán, in: Cuadernos americanos, Bd. 1, Nr. 6, 1942, o. S. Zur Rezeption prähispanischer Vorbilder bei Rivera, vgl. Braun 1993. 272 In einer ähnlichen, aber fragmentierten Haltung ist auch die aztekische Mondgöttin Coyolxauhqui in dem berühmten Kolossalrelief (Aztekisch, 1325-1521. Basalt, Durchmesser: ca. 300 cm, Museo del Templo Mayor, Mexiko-Stadt) dargestellt, das allerdings erst in den 1970er Jahren am ehemaligen Templo Mayor von Tenochtitlan wiedergefunden wurde. 273 Lerma war den Azteken, als eine ihrer ältesten Siedlungen und natürliche Wasserquelle, heilig, zum Ort Lerma vgl. Braun 1993, besonders S. 224; Peter Krieger: Schloss, Wald und See von Chapultepec/Castillo, Bosque y Lago de Chapultepec, in: Ausst.-Kat. Agua-Wasser 2002, S. 50-51. 274 „The murals still promote national unity and historic identity but mainly as agents of a social meliorism, rather than revolutionism, which
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Anmerkungen
corresponds with the altered Mexican and worldwide sociopolitical landscape.“ Aus: Braun 1993, hier S. 220. 275 „El edificio nace del terreno con la misma lógica potente que los conos volcánicos que forman el horizonte del paisaje […]. Su material aparente dominante es el basalto, procedente de la erupción del más próximo de esos conos volcánicos que lo rodean, y su forma total sólo es comparable a ellos; es un cráter arquitectonizado, es el cráter de la erupción que fue la revolución agrario-democrático burguesa de México. Es, pues, El Monumento del pueblo de México a su propio esfuerzo heroico progresivo.“ (Hervorhebungen im Original) Aus: Diego Rivera: Diego Rivera opina, in: Pérez Palacios 1963, S. 123. Mit der Verbindung von Gesellschaft, Revolution und Fortschritt im Einsatz von Lava lieferte Rivera selbst eine nachträgliche Interpretation für die Vulkanikonographie, die sein Werk von seiner Studienzeit über die Wandbilder im Bildungsministerium bis zu denen im Nationalpalast und in den USA der 1930er und 1940er Jahre durchzieht, vgl. Ausst.-Kat. Rivera 1987. 276 Vgl. das Kapitel „Cuauhtémocs Palast in Paris“. 277 „[U]no de los más enormes paisajistas“, Diego Rivera: Papel de la Escuela al Aire Libre, in: Así, Mexiko-Stadt, 27.1.1945, abgedruckt in: Rivera 1986, S. 320-325, hier S. 324. 278 „[E]l poeta de este país“, Diego Rivera: Con Joaquín Clausell, in: Azulejos, Bd. 1, Nr. 6, Mexiko-Stadt, Februar 1922, S. 32-33, abgedruckt in: Rivera 1986, S. 41-45, hier S. 44. 279 „[I]ncreíble sentimiento de naturaleza“, Rivera (1922) 1986, hier S. 42. 280 Vgl. Luis-Martín Lozano: Mexican Modern Art: Rendezvous with the Avant-garde, in: Ausst.-Kat. Mexican Modern Art, 1900-1950, National Gallery of Canada Ottawa u. a. 1999, S. 11-27, besonders S. 15-16. 281 Zur Rezeption von Dr. Atl vgl. Cuauhtémoc Medina González: Una ciudad ideal: El sueño del Doctor Atl, unveröffentlichte Tesis de Licenciatura, Facultad de Filosofía y Letras, Colegio de Historia, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt 1991; Ders.: El Dr. Atl y la artistocracia: monto de una deuda vanguardista, in: Ausst.-Kat. Heterotopías. Medio siglo sin-lugar: 1918-1968, hg. von Mari Carmen Ramírez und Héctor Olea, Museo Nacional Centro de Arte Reína Sofía Madrid 2001, S. 76-83. 282 Vgl. Medina González 1991, S. 14-15. 283 Bereits von 1899 bis 1903 hatte Dr. Atl – noch unter dem Namen Gerardo Murillo – in Paris gelebt und war nach Ausbruch der Revolution in Mexiko aus politischen Gründen dorthin zurückgekehrt. Teil seines selbst
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aufgebauten Mythos war die Legende von einer monatelangen Wanderung von Europa bis in den Fernen Osten, auf die er – zurück in Mexiko – häufig verwies, vgl. Medina González 1991, S. 14-15. 284 Vgl. Medina González 1991, S. 22-24; Medina González 2001, besonders S. 78. 285 „[E]l resquemor por la modernidad de L’Action d’Art nos ilumina acerca del modo en que la vanguardia latinoamericana – y sobre todo la mexicana – frecuentemente desplegó las actitudes sociales, políticas e imaginarias más radicales al lado de un cierto apego a moldes estéticos clásicos, formalmente menos audaces que los experimentos europeos.“ Medina González 2001, besonders S. 79-80. 286 Vgl. zu Dr. Atls frühem Wandbildprojekt von 1910 Ausst.-Kat. 1910: El arte en un año decisivo. La exposición de artistas mexicanos, Museo Nacional de Arte Mexiko-Stadt 1991. 287 Vgl. Medina González 1991, S. 24; Medina González 2001, besonders S. 81. 288 „Su éxito fue una cuestión de imagen: le fabricó una fachada izquierdista al movimiento más bien conservador de Carranza, al tiempo que realizaba actos eminentemente populistas para seducir a las clases bajas.“ Medina González 2001, hier S. 81. 289 „Se le debe la primera militancia política directa de los artistas de México en las filas de la Revolución [...] el principio de la muerte del parasitario bohemio apolítico.“ David Alfaro Siqueiros: Atl, el precursor teórico y político, in: No hay más Ruta que la Nuestra, unveröffentlichtes Manuskript, Mexiko-Stadt 1978, S. 22-23, zit. n. Medina 2001, S. 78. 290 Vgl. Medina González 2001, S. 76-83. 291 Vgl. Ausst.-Kat. 1910: un año decisivo 1991, S. 84. 292 Vgl. Vasconcelos (1925) 1958. 293 Vgl. Dr. Atl: Un grito en la Atlántida, Mexiko 1947. Dr. Atl war von seiner Atlantis-Theorie derart besessen, dass er sich für eine groß angelegte Untersuchung von der Atlantikküste in Veracruz bis zum Bundesstaat Morelos stark machte und hierfür Unterstützung bei mehreren mexikanischen Präsidenten anforderte. Zur Atlantis-Forschung Dr. Atls vgl. Antonio Luna Arroyo: Dr. Atl, Mexiko-Stadt 1992, besonders S. 93-96 und 118. 294 Vgl. Luna Arroyo 1992, besonders S. 98. 295 Hoormann 1996, S. 163. 296 Diese These wurde 1802/1809 widerlegt, vgl. Hoormann 1996, S. 162-163, und Otfried Wagenbret: Die Entwicklung des geologischen Welt-
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Anmerkungen
bildes in den letzten 200 Jahren, in: Forschungen und Fortschritte, Jg. 41, Nr. 12, 1967, S. 365-371, hier besonders S. 368. 297 Ebd. 298 William Hamilton: Des Ritter Hamilton’s Bericht vom gegenwärtigen Zustande des Vesuvs, Dresden 1787, S. 23. 299 Zur Vulkanikonographie um 1800 in der europäischen Grafik und Hamiltons Forschungen vgl. Dieter Richter: Der Vesuv. Geschichte eines Berges, Berlin 2007, besonders S. 133-137. Vgl. auch: Der Vulkan im Wörlitzer Park, hg. vom Verband der Kulturstiftung Dessau Wörlitz, Berlin 2005. 300 Vgl. Joanna Geyer-Kordesch: Vulkane und Industrie. Die „Feuer-Assoziationen“ im Gartenreich, in: Vulkan Wörlitzer Park 2005, S. 34-55, besonders S. 36-38 und 45. 301 Hamilton 1787, S. 23. 302 Vgl. Schama 1996, S. 277-278. Schama bezieht sich auf Joel Barlow: Genealogy of the Liberty Tree, Barlow-Nachlass, Houghton Library, Harvard University. 303 Der Vulkan (3170 m) selbst ist 424 Meter hoch und liegt auf einem Hochplateau von über 2700 Metern. 304 Vgl. Dr. Atl: Cómo nace y crece un volcán: El Paricutín, Mexiko-Stadt 1950. 305 Vgl. Atl 1950, besonders S. 12, 91-93, 98-103. 306 Auch Barragán stellte in seiner Pedregal-Siedlung einen ähnlichen Vergangenheitsbezug her, wie im folgenden Kapitel näher erläutert wird, vgl. auch Keith Eggener: Expressionism and emotional architecture in Mexico: Luis Barragán’s collaborations with Max Cetto and Mathias Goeritz, in: architectura. Zeitschrift für Geschichte der Baukunst, Bd. 25, Nr. 1, 1995, S. 77-95, besonders S. 92. 307 Vgl. Rafael López Rangel: Diego Rivera y la arquitectura mexicana, Mexiko-Stadt 1986, S. 124. 308 Insbesondere die Grisaillen an der Nordwand im zweiten Stock des Arbeitshofes (Claustro del Trabajo) sind in technologiebezogener Ikonographie gestaltet, vgl. Stanton L. Catlin: Mural Census, in: Ausst-Kat. Rivera 1986, S. 235-332, besonders S. 244-245; vgl. ferner Lozano 1999, besonders S. 26-27. 309 Kritisiert wurde häufig die Realitätsferne Riveras wie beispielsweise im Fall der Detroiter Wandbilder, während deren Entstehung massive Arbeiterstreiks stattfanden und – von Rivera ignoriert – blutig niedergeschlagen wurden, vgl. Braun 1993. 310 Vgl. Braun 1993, besonders S. 215-219.
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311 André Breton und Diego Rivera: Manifiesto: Towards a Free Revolutionary Art (25.7.1938), in: Partisan Review, Jg. 6, Nr. 1, Herbst 1938, S. 49-53. Leo Trotzki, der sich in der folgenden Ausgabe der Partisan Review darüber ironisch äußerte, wurde an dieser Stelle nicht als Autor erwähnt. 312 Vgl. u. a. Anonym: Washington ¿y sus agentes especializados en México?, in: Arte público, Jg. 1, Nr. 1, Oktober-November 1952, S. 16. 313 Vgl. Rivera, Siqueiros, Guerrero et al. 1952, S. 16. 314 „Sie schafften es, einen beträchtlichen Teil einer der schönsten Landschaften der Vaterlandsphysiognomie zu zerstören.“/„Entonces lograron destruir, en una parte considerable, uno de los más bellos paisajes que integran la fisonomía de la patria.“ Rivera (1954) 1986, hier S. 401.
III Abstrakte Skulptur im öffentlichen Raum der Peripherie
315 Clive Bamford Smith: Builders in the Sun. Five Mexican architects, New York 1967. 316 Vgl. Smith 1967, S. 51-92. 317 Zu Salas Portugals Aufnahmen von Barragáns architektonischem Werk vgl. Ausst.-Kat. Armando Salas Portugal: El Pedregal de San Ángel. Una exposición fotográfica, Dirección General de Divulgación de la Ciencia, Instituto de Investigaciones Estéticas, Universidad Nacional Autónoma de México Mexiko-Stadt 2000; Isabelle Bleecker und Andrea E. Monfried (Hg.): Barragán: Armando Salas Portugal photographs of the architecture of Luis Barragán, New York 1992, darin besonders: Ernest H. Brooks: The Villages of Yesteryear, S. 8-9. Barragán beauftragte Salas Portugal bis zu seinem Tod 1988 immer wieder mit Aufnahmen seiner Architektur. 318 Vgl. Armando Salas Portugal: Luis Barragán: His Work Concepts, Reflections, and Personal Experiences, in: Bleecker und Monfried 1992, S. 10-12. Salas Portugal lieferte, im Rückblick, auch eine der detailliertesten Beschreibungen der Pedregal-Siedlung zu deren Entstehungszeit. 319 Der Poelzig-Schüler Max Cetto emigrierte 1931 zunächst in die USA und reiste als Verehrer von Frank Lloyd Wrights Architektur unmittelbar nach Taliesin in Spring Green, Wisconsin. Von Wright als wichtigstem Regionalismusvertreter in den USA erhielt er eine Empfehlung, mit der der österreichischstämmige Architekt Richard Neutra Cetto in Los Angeles einstellte. 1939 zog Cetto nach Mexiko und trat, auf Rat Wrights und Neutras und motiviert durch Hinweise in der US-Zeitschrift Architectural Record, die 1937 der mexikanischen Avantgarde eine Ausgabe widmete, mit José Vil-
378
Anmerkungen
lagrán und Luis Barragán in Kontakt, vgl. Susanne Dussel-Peters: Max Cetto, 1903-1980: Arquitecto Mexicano-Alemán, Mexiko-Stadt 1995, besonders S. 107 und 111-112. 320 Vgl. u. a. Danièle Pauly: Barragán. Raum und Schatten, Mauer und Farbe, Basel 2002. 321 Vgl. u. a. die Rückseite des Einbandes von Arquitectura México, Nr. 40, Dezember 1952. 322 Vgl. Keith Eggener: Luis Barragáns Gardens of El Pedregal, Princeton 2001, S. 71. 323 Vgl. ebd. 324 „wasteland“, „dramatic nature of the wilderness that was to be made to flower“ Smith 1967, S. 66. Zur Pedregal-Rezeption um 1900 vgl. das Kapitel „Diego Riveras Wandbild Universitätswappen am Stadion“, besonders Fußnote 322. 325 „frozen sea of volcanic rock“, aus: Smith 1967, S. 55. Dort ferner: „Toltecs and Aztecs quarried its rock for their cities, but through the centuries of Spanish rule it remained a desolate haunt of snakes, scorpions and coyotes.“ 326 „Das naive Rosa der Rosen schmiegt sich an die Wand […], und der riesige Zylinder, welch hochmoderner, schmaler Turm, versucht, den Geysir, der unablässlich aus dem Zentrum des großen Beckens aufspritzt, an Höhe zu dominieren.“/„El rosado cándido de las rosas está untado en la pared […], y en el enorme cilindro que, cual torre augustana modernísima, trata de dominar en altura al ,geyser‘ que incesantemente salta del centro de un gran estanque.“ Jorge J. Crespo de la Serna: Jardines en el Pedregal, in: Arquitectura México, Nr. 37, März 1952, S. 110-114, hier S. 114. 327 „[W]e tried to leave the garden as natural as possible, preserving the formation of rocks almost as we found them, adapting the stairs where they would fit into the contours and using an existing hole for the little pool in back. […] So we rather looked [at] how to take advantage of such a tricky topography, hoping that […] we might achieve a humming, but not shouting, expression of harmony between the various elements.“ Aus: Max Cetto an Esther McCoy, 5.6.1951, zit. n. Eggener 1995, hier S. 85. 328 Vgl. Gamboa (1903) 1973, S. 33-47. 329 Luis Barragán, zit. n. Smith 1967, S. 60. 330 „When can people meditate, living so much in public as they do? The public way of life actively prevents one from finding the peace, the serenity, that should be experienced every day.“ Luis Barragán, zit. n. Smith 1967, S. 64.
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331 Vgl. Pauly 2002, besonders S. 46. 332 Zur Inspiration Barragáns an der kolonialen Klosterarchitektur Mexikos und den italienischen Renaissancekirchen, vgl. Pauly 2002, besonders S. 40-42. 333 „Hay que buscar que las casas sean jardines, y los jardines sean casas. La intimidad y el HOME deben subsistir en los jardines, aun cuando sea necesario formar jardines a compartimentos. Hay que desconfiar de los jardines abiertos que se descubren a primera vista. La contemplación de los muertos e insípidos ,open-gardens‘ que cubren la ciudad de Washington […] me hacen volver los ojos hacia los jardines del Generalife en Granada. Pienso con amor en los bellos jardines orientales cruzados por arcadas y murallas de verdura, las cuales forman recintos encantadores, dando valor a los espacios y convirtiendo la naturaleza en un verdadero HOME.“ Luis Barragán: Apuntes de Nueva York. Ideas sobre Jardines, Hotel St. Moritz, New York, Juni 1931, sechsseitiges Manuskript, Blatt V und VI, abgedruckt in: Antonio Riggen Martínez (Hg.): Luis Barragán. Escritos y conversaciones, Madrid 2000, S. 15-16, hier S. 15. 334 Vgl. Eggener 2001, S. 118-119. 335 „Cuando platiqué con Bac [sic] entendí su miedo a los tiempos nuevos y porqué se refugió en el regazo de la belleza de ayer. Esa tampoco ha de ser la solución, Bac [sic] hizo cosas muy bellas pero sin armonía con el espíritu de hoy.“ Luis Barragán: Sobre Ferdinand Bac y Guadalajara, dreiseitiges Manuskript, Guadalajara 12.9.1932, abgedruckt in: Barragán 2000, S. 18-19, hier S. 18. 336 Ferdinand Bach: Les Colombières, Paris 1925, S. 98. 337 Vgl. Peter Gössel (Hg.): Julius Shulman. Architektur und Fotografie, Köln 1998; Julius Shulman: Modernism rediscovered, 3 Bde., Hong Kong 2007. 338 Vgl. Ausst.-Kat. The Architecture of Luis Barragán, hg. von Emilio Ambasz, Museum of Modern Art New York 1976. 339 „architectural icons“, vgl. Massimo Vignelli: Architecture and Photography. A Life’s Collaboration, in: Bleecker und Monfried 1992, S. 18. Als Salas Portugal-Rezipient aus US-amerikanischer Warte spricht Vignelli, ähnlich der zeitgenössischen Literatur über Barragáns Architektur, auch von abstrakten Kompositionen in Bezug auf die Fotografie und Architektur: „The powerful composition of his photography is abstract to the same extent that the architecture is abstract and in that respect, is absolutely integral to it.“ Ebd. 340 Vgl. Eggener 2001, S. 90.
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Anmerkungen
341 Vgl. Barragán 2000, S. 10. 342 Vgl. Eggener 1995, besonders S. 77 und 81. 343 Barragán trennte sich bereits 1952 von dem Unternehmen, als die rasante Kommerzialisierung des Projekts seine Grundideen von Raum, Natur und Architektur obsolet machte, vgl. Antonio Riggen Martínez in: Barragán 2000, S. 10. 344 Zum Einfluss von Dr. Atl auf Barragáns Siedlungskonzept vgl. Antonio Riggen Martínez: Luis Barragán. Mexico’s Modern Master, 1902-1988, Mailand, New York 1996, besonders S. 60-61. 345 Vgl. Riggen Martínez 1996, S. 61. 346 Diego Rivera: Requisitos para la organización de „El Pedregal“, Kalifornien 1935, abgedruckt in: Barragán 2000, S. 24-26. 347 Stadtutopien hatten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gerade in Verbindung mit der Vulkanlandschaft, in Mexiko Konjunktur. Dr. Atl entwickelte zwischen 1903 und 1963 Pläne für die Idealstadt Olinka, deren Errichtungsort er zwischen den Vulkanen Ixtaccíhuatl und Popocatépetl vorsah. Dr. Atl ideierte Olinka jedoch weniger als Lösung für die infrastrukturellen Probleme von Mexiko-Stadt denn vielmehr – in der Radikalisierung seines frühen Aktivismus im Umfeld der Pariser artistocracia – als einen geschützten, Kultur und Kunst gewidmeten Raum. Die bildnerische Umsetzung seines Projekts, das aus einer pronazistischen Haltung entstand, ging jedoch nicht über Skizzen hinaus, vgl. Medina González 1991, besonders S. 5, 65-67 und 95 ff.: „Hitler war für Atl ,die außergewöhnlichste Potenz des Intellekts und des Weitblicks […]. Sein Künstlergeist hat Deutschland zu den phänomenalsten Siegen der Gegenwart und der Zukunft geführt.‘“/ „Hitler era, para Atl, ,la más extraordinaria potencia del intelecto y de la clarevidencia‘ [ …]. ,Su espíritu de artista ha llevado a Alemania a las fenomenales victorias del presente y del porvenir.‘“ Hier S. 58. 348 Vgl. Rivera (1935) 2000. 349 „[D]ie beste Wohngegend der Stadt kann, mit großen Vorteilen, in den Pedregal verlegt werden, und dasselbe sollte man mit den Kultur- und Sportzentren tun, ohne aus irgendeinem Grund alle anderen öffentlichen Dienstleistungen und eine gewisse andere Art von Unternehmen mit hoher Qualität auszuschließen.“/„[P]uede, prácticamente, trasladarse con gran ventaja la zona residencial de primera categoría de la ciudad de México al Pedregal, y debería hacerse lo propio con los centros culturales y deportivos, sin que haya ninguna razón para excluir toda otra clase de servicios públicos y cierto otro carácter de empresas comerciales de alta calidad.“ Vgl. Rivera (1935) 2000, hier S. 24.
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350 Zur Rolle von Kakteen in der späten mexikanischen Revolutionsikonographie vgl. Nasheli Jiménez del Val: El henequén, de Fernando Castro Pacheco, y Cruz junto a un maguey, de Nacho López, in: Ausst.-Kat. Los pinceles de la historia. La arqueología del régimen, 1910-1955, Museo Nacional de Arte Mexiko-Stadt 2003, S. 105-107. 351 Vgl. Rivera (1935) 2000, S. 26. 352 „El costo de la extracción del material, si se emplea éste en el lugar mismo donde se extrae, lo hace ser de un costo menor que el material más corriente que actualmente se emplea en las construcciones de la ciudad de México. Se debe pues establecer como condición primordial el mayor uso de la piedra de El Pedregal mismo, con lo cual se obtendrá la homogeneidad del material de la arquitectura, que lo caracterizará por su misma solidez, bajo costo y belleza.“ Rivera (1935) 2000, hier S. 25. 353 Vgl. ebd. 354 Vgl. Eggener 1995, S. 82. Rivera hatte für die „neue Stadt“ im Pedregal insgesamt nur 10 000 Quadratmeter vorgesehen, die zu einem Sechstel bebaut werden sollte, vgl. Rivera (1935) 2000, besonders S. 24. 355 Eine aktive Beteiligung Luis Barragáns ist am Haus Fuentes 10 belegt, während Haus Fuentes 12 und die weiteren frühen Siedlungshäuser von Cetto geschaffen wurden, der als Entlohnung ein Grundstück in der Siedlung zur Errichtung seines Privatwohnhauses erhielt, vgl. Eggener 1995, S. 85, und Eggener 2001, S. 118. 356 Vgl. Eggener 1995, S. 82. 357 Vgl. ebd. Diese sowie alle weiteren in Stein vorgesehenen Mauern wurden jedoch schon vor dem Hausverkauf durch die Siedlungsfirma entfernt, vgl. Dussel-Peters 1995, S. 197-199. 358 Vgl. Rivera (1935) 2000, besonders S. 25. 359 „[L]o moderno se está ganando su puesto y el indigenismo populachero se está calmando. Eso no es lo nacional, nuestro ayer no es una novela trágica de blancos y negros. […] La médula de lo moderno está en la ciencia y en la industria. Ambas nos desvelan visiones nuevas sobre la naturaleza.“ Barragán (1932) 2000, hier S. 18. 360 Vgl. Dussel-Peters 1995, S. 106-107 und 177-182. 361 Cetto war zwischen 1932 und 1939 unter anderem an dem Projekt des Kahn-Hauses (San Francisco, 1939) beteiligt, das wie seine meisten späteren Werke in Mexiko von seinem speziellen Interesse spricht, Architektur in schwierigen Topographien zu realisieren. Für Villagrán beaufsichtigte Cetto die Bauarbeiten des Kinderkrankenhauses des Centro Médico und unterstützte Barragán bei der Realisierung des Pedregal-Projekts, vgl. Dus-
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Anmerkungen
sel-Peters 1995, S. 107 und 111-112. Barragán und Neutra kannten sich seit 1938 und reisten gemeinsam durch Mexiko. Neutras Werk erfuhr zu der Zeit eine intensive Rezeption in Mexiko, die über Barragáns Interesse hinausging. Ende der 1940er Jahre existierten spanische Übersetzungen seiner Werke, mexikanische Architekturzeitschriften wie Arquitectura México und Espacios besprachen seine Häuser und illustrierten die Artikel mit Shulmans Fotografien, vgl. Anonym: Casa junto al mar, Richard J. Neutra, Arq., in: Arquitectura México, Nr. 38, Juni 1952, S. 157-162; Eggener 2001, S. 117-118. Barragán sagte über Neutra: „Ich mag sehr, was R. Neutra macht und worüber wir gesprochen haben. Ich habe viel von ihm gelernt, obwohl ich bezüglich der menschlichen Aspekte meine Differenzen habe.“/„Me gusta mucho lo que R. Neutra está haciendo y lo que hemos platicado. Le he aprendido mucho, aunque tengo mis diferencias hacia los aspectos humanos.“ Luis Barragán: Reflexiones sobre la arquitectura moderna en México, DF y EEUU, dreiseitiger handschriftlicher Text, Mexiko-Stadt, September 1938, abgedruckt in: Barragán 2000, S. 24-26, hier S. 26. 362 Obwohl das Haus Prieto López in der Literatur meist Barragán zugeschrieben wird, geht der Entwurf auf Cettos Vorschlag von 1947 zurück, vgl. Dussel-Peters 1995, S. 179. 363 Vgl. Dussel-Peters 1995, S. 193. 364 Letzteres wurde in Mexiko auch in exklusiven Landhäusern und Villen anderer Architekten wie de la Mora, del Moral, Pani und Francisco Artigas im Pedregal und in Villen mit outdoor living-Qualitäten in Ferienorten wie Cuernavaca im Bundesstaat Morelos rezipiert. 365 Vgl. Eggener 2001, S. 119. 366 Auch Wrights Kaufmann-Haus in Pennsylvania wird Barragán bei der Pedregal-Entstehung, nicht zuletzt durch den Hinweis auf dieses Vorbild für die Bebauung der „neuen Stadt“ nach Rivera, präsent gewesen sein. In Anzeigen wurde so auch mit einem imaginierten Haus am Boulevard Paseo del Pedregal in enger formaler Anlehnung an Fallingwater für die Siedlung geworben, vgl. Excélsior, 8. Juli 1951. Das Haus stand zwischen der typischen buschigen Flora der Lavalandschaft hinter Steinmauern. Überhängende, schmale Terrassen an Wrights Kaufmann-Haus dienten als Vorbild für die Siedlungsarchitektur, vgl. Keith Eggener 2001, S. 119-120. 367 Virginia Stewart: Contrasts that span centuries, in: Los Angeles Times. Home Magazine, 4.8.1957, S. 8-9. 368 Vgl. auch Goeritz’ Eintrag vom 29.3.1951: „El Animal del Pedregal (1951), concreto ,largo: ca. 450 ctms.‘ ,Auf der Plaza de las Fuentes, Fraccionamiento ,Jardines del Pedregal de San Ángel‘, ca. 5.000.-‘ ,(realizado
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en colaboración con el viejo Maestro Chucho)‘“ (Hervorhbg. im Orig.) vgl. Archiv Mathias Goeritz, Instituto Cultural Cabañas, Guadalajara, S-47-901 AG 1951. 369 „An integration of sculpture, architectural design and nature“, Stewart 1957, hier S. 8. 370 „dramatic study in form, light and dark surface“, „strong abstract composition“, ebd. 371 Zur Ablösung der realistischen durch die abstrakte und neue figurative Malerei in Mexiko um 1950 vgl. Goldman 1981. In Südamerika fand in den 1950er Jahren eine Ablösung der Figuration durch neokonkrete Strömungen statt. Eine wichtige Rolle spielte hierfür die seit 1951 existierende Biennale von São Paulo, die neben historischen Rückblicken insbesondere abstrakte Positionen in den Vordergrund stellte. 1951 gewann etwa der Schweizer Vertreter der Konkreten Kunst Max Bill den Biennale-Preis, 1953 der japanischstämmige Brasilianer Manabu Mabe als „orientalischer Vertreter“ der Abstraktion, vgl. Maria Alice Milliet: Bienal: percursos e percalcos, in: „Cinqüenta anos de Bienal internacional de São Paulo“, Revista USP, Nr. 52, Dezember-Februar, 2001-2002, S. 92-99, hier S. 95. 372 Zur Rezeption der Abstraktion in den USA der 1950er Jahre vgl. Guilbaut 1983. 373 Vgl. Luis Barragán: Algunas ideas para el desarrollo de „El Parque Residencial de El Pedregal de San Angel“, Manuskript Juni 1944, abgedruckt in: Barragán 2000, S. 22-23. 374 „Mexico, like the United States, finds in its native building the inspiration for some of its most modern work. Such indigenous work as Pennsylvania barns and Northwest farmhouses have influenced our work, while south of the Rio Grande Mexican architects also re-evaluate their architectural past. Contemporary as the design appears, the studio-residence of Architect Luis Barragán actually owes more to the century-old village houses and convents of Mexico than to any modern school.“ Vgl. Esther McCoy: Barragan’s House, in: Los Angeles Times, 19.10.1952, S. 9 und 16, hier S. 9. McCoys Kommentar legt die exotisierende Rezeption Barragáns als mexikanischer Regionalist offen. 375 Vgl. Wright (1954) 1997, hier S. 234-236; Ders.: Taliesin (1911-1916), in: Wright 1997, S. 116-117. 376 „The garden is an extension of the house in the modern manner and has the privacy of the traditional Mexican patio-garden.“ Aus: McCoy 1952, hier S. 9. 377 „El buen gusto es el único freno a la catástrofe del espíritu laico.“
384
Anmerkungen
Luis Barragán: Reflexiones sobre los ,Pensamientos dados por el Señor D. Eduardo Rendón a la Revista Arquitectura, con motivo de la publicación de sus jardines‘, August 1945, Manuskript, abgedruckt in: Barragán 2000, S. 27-29, hier S. 28. 378 „La idea más bella posible, en el sentido de preparación para el embellecimiento por el tiempo, está íntimamente ligada a la idea de interioridad (tiempo vivido) y de Ociosidad (espacio encantado) ambos relacionados con la idea de profundidad./Todo lo que se deteriora, y no es propio para recibir con ese deterioro la pátina de la historia, está contra lo que debe ser la vida del hombre.“ Barragán (1945) 2000, hier S. 29. 379 „Una casa bella con su jardín debe convidar al Ocio más perfecto y dar la idea más poética y bella posible del paso del tiempo.“ Barragán (1945) 2000, hier S. 29. 380 Zum ,Paradiesgarten‘ im mittelalterlichen, christlichen Kloster, vgl. Schama 1996, S. 570-571. 381 Die Politikerin und Schriftstellerin Margarita Nelken, Tochter deutsch-jüdischer Eltern, emigrierte 1939 aus Spanien nach Mexiko und prägte dort das kulturelle Leben als Kunstkritikerin vor allem in der Durchsetzung zeitgenössischer plastischer Tendenzen. 382 „Das Entscheidende […] in Mexiko ist die Umsetzung eines Ensembles moderner Bauten und Landschaftsaneignungen, das in Bezug auf die mexicanidad so gut gelöst ist, dass es dem Besucher in jeder Hinsicht zuruft: Du bist in Mexiko.“/„Lo esencial […] es la realización, en México, de un conjunto de construcciones modernas y adaptación del paisaje, tan perfectamente resuelto en punto a mexicanidad que, desde cualquiera de sus aspectos, le grite al visitante: estás en México.“ In: Margarita Nelken: Arte. El Arquitecto y paisajista Luis Barragán, in: Hoy, Nr. 791, 26.4.1952, hier S. 44-45, hier S. 45. 383 „Paisaje mexicano“, ebd. 384 Zur sozialen Exklusion im öffentlichen Raum vgl. Wagner 1991a. 385 Pierre Bourdieu: Ortseffekte, in: Ders. et al.: Das Elend der Welt, Konstanz 2005, S. 117-123, hier S. 120. 386 Seit Barragáns Trennung vom Pedregal-Projekt wurde der Natur in der Siedlung ein wesentlich geringerer Stellenwert eingeräumt. 387 Vgl. Schama 1996, S. 566. 388 Vgl. Vergil: Bucolica – Hirtengedichte, in: Ders.: Bucolica, Georgica, Aeneis, Darmstadt 1967, S. 5-36. 389 Schama 1996, S. 567.
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390 Vgl. Vergil: Georgica – Gedicht vom Landbau, in: Vergil, S. 37-103. Zu Schönheit und Muße, vgl. Barragán (1945) 2000, hier S. 29. 391 Die Siedlungsbetreiber betonten die multiple Anbindung über große Verkehrsachsen wie Avenida Coyoacán und Insurgentes, mit denen auch für die Erreichbarkeit der Universitätsstadt geworben wurde. Hinzu kamen weitere Schnellstraßen wie Avenida Tlalpan, Dr. Vertiz und Cuauhtémoc, vgl. u. a. die Anzeige „Ocho grandes avenidas conducen a ,Jardines del Pedregal‘“, Excélsior, 1.11.1953, S. 6 A. 392 Vgl. Lorenzo Meyer: De la estabilidad al cambio, in: Historia general de México, hg. vom Colegio de México, Mexiko-Stadt 2002, S. 881-943, besonders S. 901-902. 393 Vgl. Emilia Terragni: El arte en la arquitectura, in: Ausst.-Kat. Luis Barragán – La Revolución callada, hg. von Federica Zanco, Vitra Museum Weil am Rhein u. a., Mailand 2001, S. 236-251, hier S. 244. 394 Goeritz verzeichnete in einer Werkliste in seiner Agenda von 1951 unter dem Datum des 26.3.: „El tercer Animal, 1950, tabachín, largo: 109 ctms.“ „Prop.: Arq. Luis Barragán, México, D.F. (Jardines del Pedregal, S.A.)“. (Hervorhbg. im Orig.) Unter dem 1.1.1952 notierte er „El 3er animal 500.-“, vgl. Archiv Mathias Goeritz, Instituto Cultural Cabañas, Guadalajara, Jal., S-47-901 AG 1951. 395 Vgl. Lily Kassner: Mathias Goeritz. Una biografía. 1915-1990, 2 Bde., Bd. 1, Mexiko-Stadt 1998, S. 64. 396 Zu Goeritz’ künstlerischer und kunsthistorischer Ausbildung vgl. J. A. Schmoll gen. Eisenwerth: Mathias Goeritz – Persönlichkeit und Werk. Erinnerungen, in: Ausst.-Kat. Mathias Goeritz. El Eco. Bilder, Skulpturen, Modelle, Akademie der Künste Berlin 1992, S. 25-50, besonders S. 27-32. 397 Vgl. Archiv Mathias Goeritz, Instituto Cultural Cabañas, Guadalajara, Jal., S-47-901 AG 1951. 398 Zu expressionistischen Vorbildern für Goeritz’ Holzskulpturen vgl. Einfeldt 2001, S. 14-16 und 27. Die von ihm verwendeten Holzarten erwähnte Goeritz in seiner Agenda von 1951, vgl. Archiv Mathias Goeritz, Instituto Cultural Cabañas, Guadalajara, Jal., S-47-901 AG 1951. 399 Vgl. Goeritz im Interview mit Sebastiá Gasch, in: Destino, Nr. 616, 28.5.1949, zit. n. Javier Arnaldo: Mathias Goeritz: ein ungewöhnlicher Mittler zwischen kulturellen Positionen im Nachkriegsspanien, in: kritische berichte, Nr. 3, 1994, S. 73-87, hier S. 75. 400 Vgl. Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie, Wien 1901. 401 Vgl. Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (= Diss., Universität Bern 1907, Ersterscheinung: Mün-
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Anmerkungen
chen 1908), Amsterdam 1996. An diesen Punkt schloss auch der 1950 an die von Goeritz gegründete „Schule von Altamira“ eingeladene deutsche Maler Willi Baumeister an, indem er die „Natur des Menschen […] zwischen Kreation und Imitation“ ansiedelte, auch wenn er der abstrakten Kunst, die allein „auf dem schöpferischen Formwillen“ basiere, die „größte Kraft“ zugestand, vgl. Willi Baumeister: Perspectivas del arte contemporáneo, in: Segunda Semana de arte en Santillana del Mar, del 20 al 26 de sept. 1950, Santander 1951, S. 115, zit. n. Birigit Kiepe: Anmerkungen zur ,Schule von Altamira‘, in: Ausst.-Kat. Goeritz 1992, S. 72-86, hier S. 79-80. 402 Am Ende der Werkauflistung, unter dem Datum des 1.1.1952, führt Goeritz „Romualdo“ und „Chucho“ auf, sehr wahrscheinlich den Maler Jesús „Chucho“ Reyes (1880-1977), der auch Barragán im Farbkonzept von Los Jardines del Pedregal beriet, vgl. Archiv Mathias Goeritz, Instituto Cultural Cabañas, Guadalajara, Jal., S-47-901 AG 1951. 403 Vgl. Anonym: El Pedregal de San Angel: Un Jardín de Lava, in: Novedades, Seccion Ilustrada semanal, 15.3.1953, o. S.; Terragni 2002, besonders S. 245; María Leonor Cuahonte de Rodríguez: Mathias Goeritz (19151990). L’art comme prière plastique (= Diss., Université de Paris-Sorbonne, Paris IV, 2000), Paris 2003, S. 169. 404 „Allí se está construyendo el pueblo del futuro, la ciudad ideal.“ Mathias Goeritz: El Arte en el Pedregal, in: El Occidental, Guadalajara, 19.2.1950, abgedruckt in: Barragán 2000, S. 194-196, hier S. 194. 405 „Zum Abschluss seines Lebens rang Goethes Faust dem Meer neues Land ab. Das war die letzte, die größtmögliche Schöpfung des Menschen. Hier ist es ein Meer aus Stein, aus Lava, aus wildem Gestrüpp, und ein faustischer Typ hat sich zur Aufgabe gemacht, es in ein menschliches Kunstwerk zu verwandeln.“/„Como conclusión de su vida, el Fausto de Goethe conquistó nueva tierra al mar. Fue la última, la mayor creación posible para el ser humano. Aquí es un mar de piedra, de lava, de matorral salvaje, y un tipo fáustico se ha puesto el problema de convertirlo en una obra artística humana.“ Goeritz (1950) 2000, hier S. 195. 406 „Armonía absoluta entre la naturaleza y el espíritu humano.“ Ebd. 407 „Die Natur wird weder vergewaltigt noch umgebracht. Ihr wird geholfen, sie wird auf neue Wege gebracht. Die wilde Schönheit der Felsen, der Pflanzen wird belassen, sie wird durch Kontraste, durch Unterbrechungen aus großen Rasenflächen und riesigen, einfachen Mauern erhöht. Man intendiert die Koordination durch die Hand des menschlichen Werks mit jenem kosmischen Panorama, in einem freien Sinn, aber voll tiefem Geist. So wie es die Griechen in den besten Zeiten der Kunst taten, die
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wir heute ,Klassik‘ nennen.“/„No se viola la naturaleza ni se la mata. Se la ayuda, se la dirige hacia nuevos caminos. Se deja la belleza salvaje de las rocas, de las plantas, se la aumenta por medio de contrastes, por interrupciones de grandes llanos de prado y muros sencillos gigantescos. Se busca la coordinación de la mano de obra humana con aquel panorama cósmico, en un sentido libre, pero lleno de profundo espíritu. Como lo hicieron los griegos en las mejores épocas del arte que hoy llamamos ,clásico‘.“ Ebd. 408 „Las obras de quienes construyeron las catedrales góticas eran también realizadas por muchos, pero reinaba entonces una absoluta unidad de espíritu que hoy no reina. En el siglo XX el problema es más difícil, porque el artista piensa, vive y trabaja separado del mundo que le rodea, y su trabajo tiene que estar hecho por él solo. Todavía no hemos llegado a la unidad de una Nueva Prehistoria, aunque algunos pocos ya estamos viéndola, incluso intentando vivirla. Tenemos a nuestros lado [sic] a casi todos los niños del mundo.“ Goeritz (1950) 2000, hier S. 196. Goeritz plädierte an gleicher Stelle für eine strikte Trennung von Kunst und Markt. 409 Zur Kollektivforderung bei Goeritz vgl. Mathias Goeritz: Manifest der Emotionellen Architektur (1953), abgedruckt in: Ausst.-Kat. Goeritz 1992, S. 177-179; Ders.: Estoy harto – Ich hab’s satt (1960), abgedruckt in: Ebd., S. 181-182 (= Goeritz (1960) 1992); Ders.: L’Art Prière contre l’Art Merde (1960), verteilt während Goeritz’ Ausstellung in der Galerie Iris Clert, Paris, Mai 1960, abgedruckt in: Cuahonte 2003, S. 326-327. 410 Goeritz lernte in dieser Zeit auch Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Käthe Kollwitz kennen, deren Werk ihn nachhaltig prägte, vgl. Michael Nungesser: Mathias Goeritz – Berlin/Marokko/Spanien, in: Ausst.-Kat. Goeritz 1992, S. 51-71, besonders S. 52; Schmoll gen. Eisenwerth 1992, S. 28-29. 411 Eckart von Sydow: Die deutsche expressionistische Kultur und Malerei, Berlin 1920, S. 12. 412 Sydow 1920, S. 21 und 27. 413 Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1992, besonders S. 29. 414 Sydow 1920, S. 18. 415 Wilhelm Worringer zog dagegen Ansätze, die die Kontinuität des ,Primitivismus‘ von den Höhlenmalereien bis zur abstrakten Malerei des frühen 20. Jahrhunderts postulierten, in Zweifel, vgl. Worringer (1907/1908) 1996, S. 91-94, und ebd.: Vorwort zur Neuausgabe 1948, S. 7-33, auch wenn er zwischen Abstraktion und ,Primitivität‘ Gesetzmäßigkeiten fand, vgl. ebd., S. 51-53. 416 Goeritz arbeitete im Auftrag des Spezialisten für Kunst des 19. Jahrhunderts an der Berliner Nationalgalerie Paul Ortwin Rave und erstellte
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Anmerkungen
u.a. das Werkverzeichnis für die Ausstellung, vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1992, S. 30-31; Nungesser 1992, S. 67; Cuahonte 2003, S. 26. Kurz vor seiner Abreise nach Nordafrika veröffentlichte Goeritz seine Dissertation, vgl. Mathias Goeritz: Ferdinand von Rayski und die Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 1942. 417 Vgl. u.a. Arnaldo 1994, besonders S. 74. 418 Vgl. Reyes Palma 2004, besonders S. 187. 419 Vgl. Arnaldo 1994, besonders S. 84. 420 Sebastià Gasch: Cosas vivas, in: La Gaceta Literaria, 1.2.1930, abgedruckt in: Arnaldo 1994, hier S. 82/83. 421 Ricardo Gullón: Conclusiones, in: Primera Semana de arte en Santillana del Mar, del 19 al 25 de sept. de 1949, Santander 1950, S. 135, zit. n. Kiepe 1992, hier S. 76. 422 Der Mitgliederkern aus Goeritz, Gullón und Ferrant verbreitete die Ziele der „Altamira“-Schule auch in Madrid. Gasch und der Herausgeber der Avantgarde-Zeitschrift Cobalto, Rafael Santos Torroella, repräsentierten sie in Barcelona, der Kunsthistoriker und erste Goeritz-Biograph Eduardo Westerdahl, der als mit den Surrealisten in der Vorkriegszeit verbundener Theoretiker über internationale Kontakte zu Architekten und Künstlern wie Alberto Sartorius und Willi Baumeister verfügte, auf den kanarischen Inseln, vgl. Kiepe 1992, S. 74-75. Der Austausch mit wichtigen Kunstvertretern in Europa ermöglichte den „Altamira“-Gründern, ihre Inhalte nicht nur in Spanien, sondern über zwei Symposien 1949 und 1950 international bekannt zu machen, zu denen Goeritz schon nicht mehr anwesend war, vgl. die von der „Schule von Altamira“ veröffentlichten Publikationen: Primera Semana de arte en Santillana del Mar, del 19 al 25 de sept. de 1949, Santander 1950, und Segunda Semana de arte en Santillana del Mar, del 20 al 26 de sept. 1950, Santander 1951. Alberto Sartorius leitete das erste Symposium 1949, Willi Baumeister das zweite 1950, vgl. Kiepe 1992, S. 73. Bis zu seiner Ausreise nach Mexiko 1949 betrieb Goeritz ferner eine Künstlerwerkstatt im Palast des Marqués de Santillana, in der Schüler wie Alejandro Rangel und Ida Rodríguez Prampolini aus Mexiko arbeiteten. Über sie kam auch der Kontakt zu Ignacio Díaz Morales, dem Leiter der Architekturfakultät an der Universität in Guadalajara, zustande, an die Goeritz 1949 einen Ruf erhielt, vgl. Arnaldo 1994, besonders S. 75. 423 Mathias Goeritz zit. n. Elke Werry (Hg.): Mathias Goeritz. Ein deutscher Künstler in Mexiko, Marburg 1987, S. 17. 424 Mathias Goeritz, in: Ricardo Gullón: De Goya al arte abstracto, Madrid 19632, S. 172, zit. n. Kiepe 1992, S. 81.
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425 Goeritz (1949), zit. n. Arnaldo 1994, S. 74. 426 Ricardo Gullón in: Algunas ideas sobre Altamira y el arte moderno, in: Primera Semana 1950, S. 20-21, zit. n. Kiepe 1992, S. 72. 427 Goeritz (1949), zit. n. Arnaldo 1994, S. 75. 428 Vgl. Worringer (1907/1908) 1996. 429 „Kunst stützt sich auf Menschen aller beruflichen Aktivitäten und nimmt sich vor – durch die Zusammenarbeit aller –, einen Charakter zu bilden, der der Epoche den Stil gibt.“ Gullón 1950, S. 135-136, zit. n. Kiepe 1992, S. 77. 430 Vgl. Rose Carole Washton Long: Expressionism, Abstraction, and the Search for Utopia in Germany, in: Ausst.-Kat. The Spiritual in Art: Abstract Painting, 1890-1985, hg. von Maurice Tuchman und Judi Freeman, Los Angeles County Museum of Art u. a., Los Angeles, New York 1986, S. 200-217, besonders S. 201-202. 431 „[Die nuevos prehistóricos] gehen wie jene [Hombre-niños] vom Nichts aus und besitzen dieselbe Reinheit. Sie fühlen sich frei und unabhängig.“ Goeritz (1949) zit. n. Arnaldo 1994, S. 75. 432 Vgl. Guilbaut 1983; zur europäischen Rezeption des Abstrakten Expressionismus in den 1950er Jahren vgl. Haftmann 1959. 433 Vgl. Washton Long 1986, besonders S. 201-202. 434 Vgl. Eckart von Sydow: Das religiöse Bewusstsein des Expressionismus, in: Neue Blätter für Kunst und Dichtung, Jg. 1, Nr. 8, 1918/1919, S. 193-199. 435 Vgl. ebd. 436 Goeritz (1953) 1992, hier S. 179. 437 Die Debatte um die Skulptur bestärkte Goeritz in seinem Entschluss, in die weltoffenere Hauptstadt umzuziehen, vgl. Ana María Torres: La escultura de Mathias Goeritz, in: Ausst.-Kat. Los Ecos de Mathias Goeritz, 2 Bde., Bd. 2, Antiguo Colegio de San Ildefonso Mexiko-Stadt 1997, S. 70; Elke Werry: Mathias Goeritz. 1915-1990. Monographie mit Werkverzeichnis (= Diss., Universität Heidelberg 1992), München 1994, S. 47. 438 Vgl. Terragni 2002, besonders S. 245. 439 Vgl. u. a. „,El Animal‘, de cemento, de Mathias Goeritz, monta guardia a la entrada del Pedregal“, Nelken 1952, hier S. 44; „[S]ubstitut des traditionellen Cave Canem aus römischen Mosaiken im Türsturz der Villen von Pompeji.“/„[S]ustituto del tradicional ,Cave Canem‘ forjado en mosaicos romanos en el dintel de las villas pompeyanas.“ In: Crespo de la Serna 1952, hier S. 114; „Installé devant l’unique accés de la zone résidentielle, L’Animal du Pedregal devient son gardien.“ In: Cuahonte 2003, S. 170.
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Anmerkungen
440 „[A]rquitecto, a mi opinión el más auténtico, el más sencillo, el menos amanerado, quizá el más mexicano que hasta ahora he anotado en este país. Un hombre, que dentro de su obra, es como un labrador, un arquitecto-obrero [...].“ Goeritz (1950) 2000, hier S. 195. 441 Vgl. u. a. Ida Rodríguez Prampolini: Lo mexicano en la obra de Mathias Goeritz, in: Ausst.-Kat. Goeritz 1997, Bd. 1, S. 182-193, besonders S. 191. 442 Vgl. u. a. „Serpiente Emplumada“/„Gefiederte Schlange“, Anonym 1953, o. S.; Cuahonte 2003, S. 169. 443 Vgl. Encyclopedia of Mexico. History, Society and Culture, hg. von Michael S. Werner, 2 Bde., Bd. 1, Chicago, London 1997, S. 37/38; José Antonio Terán Bonilla: Arquitectura y urbanismo en México, Granada 1993, S. 87; Einfeldt 2001, S. 10 und 27-28. 444 Vgl. Barragán (1944) 2000, besonders S. 23. 445 Zur Vermarktung der Pedregal-Siedlung vgl. Eggener 2001, S. 82-87. 446 Vgl. Eggener 2001, S. 83. 447 „El Pedregal – El Lugar Ideal Para Vivir“, vgl. Eggener 2001, S. 84. 448 Hierin unterscheidet sich die Siedlung von dem Villenviertel Lomas de Chapultepec, das der Architekt und Stadtplaner José Luis Cuevas in den 1920er Jahren westlich des Zentrums als ein mexikanisches Beverly Hills errichtete und das bis in die 1940er Jahre hinein das exklusivste Wohngebiet der Hauptstadt war, vgl. Alberto González Pozo: Las Ciudades: El Futuro y el Olvido, in: Fernando González Gortázar: La Arquitectura Mexicana del Siglo XX, Mexiko-Stadt 1996, S. 301-329, hier S. 304-305; ferner: Seminario de Urbanismo de la Escuela Nacional de Arquitectura: Historia del urbanismo en México y su ciudad capital, in: Escuela Nacional de Arquitectura: arquitectura y urbanismo en México, Mexiko-Stadt 1961, S. 173. Beide Viertel sind so angelegt, dass man sich idealerweise von Haus zu Haus im Auto bewegt. Fußgänger sind dagegen kaum zu treffen. Das Konzept der Pedregal-Siedlung schloss ursprünglich jeden öffentlichen Durchgangsverkehr aus. 449 Vgl. Barragán (1932) 2000, besonders S. 18. 450 „El futuro cultural y social de sus hijos“, vgl. Arquitectura México, Nr. 67, September 1959, Rückseite. 451 Vgl. Renato González Mello: La cólera que viviremos, in: Curare. Espacio crítico para las Artes, Nr. 15, Juli-Dezember 1999, S. 13-29, hier S. 13. 452 „[E]l más distinguido ambiente de sociedad para vivir y la oportuni-
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dad de educarse en los importantes colegios“, Arquitectura México, Nr. 67, September 1959, Rückseite. 453 Zugleich ist bemerkenswert, dass Pani und sein Team kein BarragánHaus, sondern mit einem Entwurf Gustavo Artigas’ eines der Siedlungshäuser auswählten, das als gläsern ummantelte Quaderform auf Stahlbetonbasis kaum regionalistisch konnotiert ist. 454 Vgl. Alemán 1945. 455 Zu Ciudad Satélite, vgl. Mario Pani: México. Un problema – una solución, Vortrag, Sociedad de Arquitectos Mexicanos, Mexiko-Stadt, 12.9.1957, abgedruckt in: Arquitectura México, Nr. 60, Dezember 1957, S. 198-226. Die Grenze von 200 000 Einwohnern wollte Pani nie überschritten sehen, ebenso wenig die Flächenausdehnung von 800 Hektar, vgl. ebd., S. 225/226, was beides schon nach wenigen Jahren Realität wurde. 456 Vgl. Terán Bonilla 1993, S. 87. 457 Vgl. das Kapitel „Luis Barragáns Wohnsiedlung Los Jardines del Pedregal de San Ángel in Mexiko-Stadt und Mathias Goeritz’ Plastik Das Tier vom Pedregal“. 458 Nicht nur Mexiko-Stadt, auch andere mexikanische Industriestädte wie Guadalajara und Monterrey wuchsen seit den 1930er Jahren sprunghaft. Aber während sich beispielsweise Guadalajara zwischen 1940 und 1950 alle zwei Monate um 5 000 Einwohner vergrößerte, wuchs die Hauptstadt 14-tägig um dieselbe Menschenmasse, was maßgeblich auf den Zuzug vom Land zurückzuführen war, vgl. Pani 1957, S. 203. Die Einwohnerzahl in der Hauptstadt verzehnfachte sich so von 1900 bis 1950 annähernd (1900: 500 000; 1920: 900 000; 1950: vier Millionen Einwohner, von denen jeder zweite außerhalb geboren worden war). Das Bevölkerungswachstum in der Stadt betrug zwischen 1940 und 1950 72,5 Prozent. Zwischen 1950 und 1957 erhöhte sich die Einwohnerzahl von Mexiko-Stadt um sieben Prozent jährlich. Für 1967 rechnete Pani acht Millionen, für 1977 16 Millionen Einwohner aus, vgl. Pani 1957, S. 204 und 213. Die tatsächlichen Zahlen gingen weit über Panis Erwartungen hinaus. 459 Pani 1957, S. 211. 460 Vgl. Pani 1957, S. 212. In den 1950er Jahren hatten Wohnhäuser in Mexiko durchschnittlich lediglich 1,8 Stockwerke, und auch bis heute ist die mexikanische Hauptstadt weniger durch Vertikalität, die mit westlicher Modernität von Städten wie New York und São Paulo verbunden wird, als horizontal geprägt. 461 Aspekte der Umweltbelastung durch die Überbevölkerung der Stadt wie Luftverschmutzung spielten bei Pani keine Rolle.
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Anmerkungen
462 Im Vergleich zu 2,2 Kubikmetern/sek und 350 l/Einwohner am Tag im Jahr 1920 wurden 1957 bereits 18,6 Kubikmeter/sek abgepumpt, die Hälfte davon aus städtischen und privaten Brunnen. Die Pumpkapazität erhöhte sich um 7,8 Kubikmeter/sek aus den Wasserquellen von Chiconautla, Lerma und dem Kanalnetz von Xochimilco. Angesichts des steigenden Bedarfs gab es dabei immer noch große Defizite, vgl. Pani 1957, S. 213. 463 Während 1930 noch 28 500 Autos, LKWs und Busse (1:40 Einwohner) in der Hauptstadt zirkulierten, waren es 1950 bereits 74 300 (1:35 Einwohner). Bereits sieben Jahre später gab es 161 500 motorisierte Verkehrsmittel (1:24 Einwohner), vgl. ebd. 464 Angesichts des Wachstums von 1957 hätte man 50 000 neue Wohnungen pro Jahr benötigt. Bei minimalen Kosten von 20 000 Pesos pro Wohnung hätte man eine Milliarde Pesos pro Jahr für den Wohnungsbau benötigt. Zwischen 1930 und 1950 sah der Banco de México hierfür aber lediglich eine Investition von durchschnittlich 300 Millionen Pesos pro Jahr vor, vgl. ebd. 465 Diese wurden jedoch nie umfassend und tief greifend entwickelt, vgl. Pani 1957, S. 211 und 226. 466 Vgl. Pani 1957, S. 209. Mauricio Gómez Mayorga schlug vor, MexikoStadt aufgrund ihrer schwerwiegenden infrastrukturellen Probleme bis auf historische Kerne wie den Zócalo, Tacubaya, Mixcoac und Coyoacán neu zu errichten, indem man um besagte Zentren für die Stadtbewohner bequeme Infrastrukturen mit relativ kurzen Distanzen errichtete, vgl. Mauricio Gómez Mayorga: ¿Qué hacer por la ciudad de México? Ensayo, Mexiko-Stadt 1948?, besonders S. 113-117. 467 Vgl. Encyclopedia of Mexico 1997, Bd. 2, S. 1290. 468 Zur Politik Ruiz Cortines’ vgl. Encyclopedia of Mexico 1997, Bd. 2, S. 1290. 469 Nördlich der Stadt entstanden dabei nicht nur Wohnräume für die Mittelschicht, sondern auch exklusive Siedlungen wie Lomas Verdes und nordwestlich ab den 1980er Jahren Bosques de las Lomas, vgl. Terán Bonilla 1993, S. 87. 470 Die Supermanzana sollte 1 600 m Durchmesser haben, die bei 50 km/ h in maximal zwei Minuten mit dem Auto durchfahrbar sein sollte. Vom Zentrum zu den Siedlungsseiten sollten maximal 300 m Strecke zu bewältigen sein, pro Hektar waren rund 200 Einwohner vorgesehen, vgl. Pani 1957, S. 218. 471 Zum Verkehrssystem nach Hermann Herrey (Hermann Zweigenthal) in der Ciudad Universitaria und in Ciudad Satélite, vgl. Krieger 2004a.
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472 Vgl. Pani 1957, S. 222-225. 473 „Es ist ein fruchtbarer sozialer Sinn, zu schützen, dass Familien unterschiedlicher finanzieller Möglichkeiten ohne Segregationen in einem gemeinsamen Raum zusammenleben.“/„Es un fecundo propósito social fomentar que convivan sin segregaciones, en un espacio común, familias de distintas capacidades económicas.“ Vgl. Pani 1957, hier S. 219. 474 „Como valor social, la solución orgánica y combinada de los elementos de habitación tiende a organizar una sociedad en el futuro, mediante el propósito común de resolver problemas sin personalismos, sin particularismos y sin segregaciones. Se pretende con ello conservar, reforzar y fomentar el espíritu de asociación que existía, y aún existe, en muchas de nuestras ciudades menores.“ Pani 1957, hier S. 218. Genau diese mexikanische Tradition, die lange Zeit auch für viele Viertel im Stadtbereich wie die Colonias del Valle, Narvarte und Mixcoac galt, wurde mit der ausgedehnten Errichtung großer Schnellstraßen in Mexiko-Stadt Anfang der 1980er Jahre endgültig zerstört, vgl. Krieger 2004b. Die einzigen Viertel der Hauptstadt, die in weiten Teilen ihren traditionellen, dörflichen Charakter erhalten haben und ein an ebendiese Tradition gebundenes Gemeinschaftsleben ermöglichen, sind die Viertel San Ángel, Coyoacán und Tlalpan im Süden der Stadt. 475 Vgl. George R. Collins und Carlos Flores (Hg.): Arturo Soria y la ciudad lineal, Madrid 1968. 476 Vgl. Arturo Soria y Mata: Breve Descripción de la Ciudad lineal y propósito de la Compañía madrileña de urbanización, in: Compañía madrileña de urbanización: La Ciudad Lineal, Broschüre, 1894, abgedruckt in: Collins, Flores 1968, S. 258-261. Auch Vorstädte wie Becontree bei London und Wythenshawe bei Manchester, die heute zum Stadtgebiet zählen, waren Vorbilder für die Unabhängigkeit von Ciudad Satélite als infrastrukturell voll ausgestattete und zugleich an das Stadtzentrum gebundene Vorstadt, vgl. Pani 1957, S. 206. 477 Le Corbusier: La Ville Radieuse, Paris 1937. 478 Henry Wright und Clarence Stein entwickelten die fußgängerfreundlichen green belt-Gartenstädte ab Mitte der 1920er Jahre mit den Sunnyside Gardens in New York und setzten das Konzept wenig später unter anderem in der unvollendet gebliebenen Radburn-Siedlung in Fair Lawn, New Jersey, ein. 479 Vgl. Leonardo Zeevaert und Augusto H. Álvarez: Un edificio comercial, in: Arquitectura México, Nr. 60, Dezember 1957, S. 227-232. 480 Vgl. Pani 1957, S. 209.
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Anmerkungen
481 „Somos ya muchos los que pensamos que, mientras la decisión suprema del estadista encuentra remedio al formidable fenómeno migratorio que los origina, los problemas de la ciudad moderna no tienen más que una solución capaz de enfrentarlos con éxito. Esa solución lleva un nombre: la ciudad fuera de la ciudad.“ Pani 1957, S. 211. 482 „He aquí esbozado los tres estadios históricos del progreso humano: la casa, la ciudad, el mundo abierto.“ Pani 1957, S. 202. 483 Vgl. u. a. Georg Simmel: Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft (1908), in: Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 19836, S. 460-526, besonders S. 496. 484 Auch für die Studentenbewegungen war neben dem öffentlichen Raum der Universitätsstadt insbesondere der Zócalo weiterhin ein emblematischer Ort, der erstmals am 27. August 1968, während der größten Studentendemonstration der mexikanischen 68er-Bewegung, eingenommen wurde. Die Studentenbewegung von 1986 setzte ferner die Demonstrationsroute vom „Platz der Drei Kulturen“ im Stadtteil Tlatelolco, auf dem am 2. Oktober 1968 ein schweres Massaker mit mehr als 300 Toten angerichtet wurde, zum Zócalo durch. Spätestens seit den dort stattfindenden studentischen Demonstrationen hat sich der Hauptplatz der Stadt als Ort der kritischen Gegenöffentlichkeit und modernen vida política etabliert, vgl. Wildner 2003, S. 160-161. 485 Vgl. Pani 1957, S. 216. Durch das Wachstum der Metropole sind die ehemaligen Umgehungsstraßen längst Teil des urbanen Teppichs geworden und fungieren als Stadtautobahnen. Da hier Fern- und Stadtverkehr aufeinandertreffen, entsteht auf dem Periférico alltäglich ein Verkehrschaos, das konträr zu den eigentlichen Intentionen der Verkehrsentzerrung Panis steht. 486 „Sin falsa modestia, reclamamos como originalidad de plan y de proyecto el hecho de que se trata de una solución mexicana, de una solución para México, pensada, concebida y proyectada para nuestro medio, de la que hemos desterrado toda tendencia exótica.“ Pani 1957, S. 215. 487 Zum Begriff des Nicht-Ortes vgl. Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt/M. 1994, und das Kapitel „Die Straße der Freundschaft – Kunst im öffentlichen Raum zur Zeit der Olympischen Spiele“. 488 Vgl. Frederick Kiesler, zit. n. Clive Bamford Smith 1967, S. 132. 489 „[D]e gran visibilidad y atractivo comercial“, Kassner 1998, Bd. 1, S. 101. 490 Vgl. das Kapitel „Luis Barragáns Wohnsiedlung Los Jardines del Pe-
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dregal de San Ángel in Mexiko-Stadt und Mathias Goeritz’ Plastik Das Tier vom Pedregal“. 491 Vgl. hierzu Riggen Martínez 1996; Kassner 1998, Bd. 1, S. 102. Die Bauausführung der Türme zwischen Mai und November 1957 besorgte der Ingenieur Bernardo Quintana, vgl. Werry 1994, S. 84. 492 Die vermutlich erste abstrakte Skulptur in Mexiko mit öffentlicher Bestimmung schuf Juan O’Gorman mit dem Grabdenkmal für den im mexikanischen Exil ermordeten Leo Trotzki, in dem dessen Asche und seit 1963 auch die seiner Witwe aufbewahrt werden. Die abstrakte Grabskulptur aus Beton mit Inschrift und einem Relief aus Hammer und Sichel befindet sich jedoch im Garten von Trotzkis Wohnhaus in Coyoacán, das erst seit 1976 öffentlich zugänglich ist. 493 Kassner 1998, Bd. 1, S. 101; Werry 1994, S. 84. 494 Vgl. Markus Stegmann: Architektonische Skulptur im 20. Jahrhundert. Historische Aspekte und Werkstrukturen (= Diss., Universität Basel 1993), Tübingen, Berlin 1995, S. 108. Die aktuellen Farben knüpfen an die veränderte Farbgebung von 1960 an (Stand: Februar 2007). 495 Vgl. Kassner 1998, Bd. 1, S. 101 und 105; Cuahonte 2003, S. 181; Werry 1994, S. 82. 496 Um die Autorenschaft der Türme von Satélite entbrannte ein Streit zwischen Goeritz und Barragán 1968, der erst 1987 nach der Vermittlung durch den Architekten Ignacio Díaz Morales, Goeritz’ Mentor in Guadalajara und Freund Barragáns, beigelegt werden konnte, vgl. die Darstellung bei Kassner 1998, Bd. 1, S. 101-121, und Einfeldt 2001, S. 37-38. Goeritz und Barragán unterschrieben eine Erklärung, in der sie die gemeinsame Urheberschaft anerkannten. „Chucho“ Reyes’ Anteil an der Farbgestaltung und dem zunächst eingeplanten Wasserbecken wurde dagegen in der Urkunde nicht berücksichtigt. 497 Elke Werry spricht von 15-20 Türmen, doch das 1957 bei Pani abgebildete Modell zeigt deutlich mehr als 20 Türme unterschiedlicher Höhe, vgl. Werry 1994, S. 83. 498 Vgl. Werry 1994, S. 84. Barragán soll den sechsten und siebten Turm noch vor dem Projektbesuch von Präsident Alemán entfernt sowie ein Wasserbecken als Spiegel der Türme vorgeschlagen haben. Goeritz lehnte letzteres hingegen ab und fand sich nur notgedrungen mit der Reduktion der Turmzahl von der kabbalistischen Zahl sieben auf fünf ab, vgl. Ida Rodríguez Prampolini: Mathias Goeritz: Von der Materie zu Gott (span. Original in: El Nacional Dominical, Jg. 1, Nr. 16, 9.9.1990, S. 4-7), abgedruckt in: Ausst.-Kat. Goeritz 1992, S. 413-424, besonders S. 419.
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Anmerkungen
499 Vgl. Smith 1967, S. 136. 500 „Und dann, wenn Sie um New York herumfahren, und Sie sehen, wie sich diese Türme verschieben – für ihr Auge ... die hinteren bewegen sich langsamer als die vorderen, vorne liegenden ... das ist furchtbar aufregend! Und daraus kam auch die Idee der Türme.“ Mathias Goeritz zit. n. Werry 1987, S. 70. 501 Mathias Goeritz: El Eco, 1952-1953, Sullivan 43, Colonia San Rafael, Mexiko-Stadt. 502 Dies ist insbesondere mit Hinblick auf Goeritz’ Anteil an Entwicklungen in der modernen mexikanischen Architektur relevant: Durch ihren Einsatz in Barragáns Bauten wurden frei stehende, farbig gestrichene Wände als Skulpturelemente kurze Zeit später für dessen Regionalismus charakteristisch. Mit der Korrektur des Baubeginns von Barragáns Capilla de las Capuchinas in Mexiko-Stadt von 1952 auf 1953, in dem Barragán erstmals eine keilförmige, skulpturale Wand einsetzte, erhält Goeritz’ Gelbe Wand in El Eco von 1952/53 einen zusätzlichen Stellenwert: Sie wurde zum unmittelbaren Vorbild eines der prägnantesten Elemente des mexikanischen Regionalismus, vgl. Eggener 1995, S. 90-91. 503 El Eco existierte nur kurze Zeit als Experimentalmuseum, wurde 1958 auf Beschwerden der Nachbarschaft über den Barbetrieb im Museum geschlossen und 1960 von Mont verkauft. Die Universidad Nacional Autónoma de México mietete ab diesem Zeitpunkt bis in die 1970er Jahre hinein das Grundstück und nutzte El Eco als Studententheater, das 1997 geschlossen wurde. Danach verfiel das Gebäude und entsprach kaum mehr Goeritz’ Entwurf. Zwischen 2004 und 2005 ließ die Universitätsleitung El Eco auf Initiative der damaligen Leiterin des Museo Nacional de Arte in Mexiko-Stadt, Graciela de la Torre, sanieren und eröffnete es neu am 7. September 2005, am 52. Jahrestag der Ersteröffnung, unter Leitung des Kurators Guillermo Santamarina. Außer der Gelben Wand und einem konkreten Gedicht Goeritz’ am Eingang zum Hauptsaal ist keines der Originalkunstwerke vor Ort erhalten, Interview mit Guillermo Santamarina, 22.2.2007, Mexiko-Stadt. 504 Expressionistische Architektur war noch Ende der 1950er Jahre ein wichtiger Einfluss auf Goeritz’ Werk, vgl. Rodríguez Prampolini 1997b, S. 192. Auch Werry deutet die Entwurfsänderung an den Türmen von Satélite als Ausdruck von Goeritz’ und Barragáns Interesse an mehr Vertikalität, vgl. Werry 1994, S. 83. 505 Zur Bedeutung des Materials Glas in der expressionistischen Architektur und speziell in der Gläsernen Kette vgl. Paul Scheerbart: Glasarchitektur, Berlin 1914.
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506 Kenneth Frampton: Die Architektur der Moderne – Eine kritische Baugeschichte, erweiterte Fassung der Originalausgabe, Stuttgart 19955, S. 103. 507 Vgl. Goeritz (1953) 1992, S. 177. 508 Le Corbusier in: Ders.: Quand les Cathédrales étaient blanches. Voyage au pays des timides (1937), Paris 1977, S. 210. 509 Vgl. Cuahonte 2003, S. 181. 510 Vgl. Dietrich Clarenbach: Grenzfälle. Architektonische Skulptur – Skulpturale Architektur, in: Ausst.-Kat. Goeritz 1992, S. 315-327, besonders S. 317. 511 Mathias Goeritz: La ciudad de las 7 torres, aus der Serie „Emotionelle Architektur“ (Arquitectura emocional), 1956. Polychromiertes Holz, Höhe: 37 bis 57 cm, Holzsockel: 46 x 32 x 5 cm, Aufbewahrungsort unbekannt. 512 Michel Ragon: Ästhetik der zeitgenössischen Architektur, Neuchâtel 1968, S. 91. Den Begriff „Architektur-Skulptur“ („architecture-sculpture“) führte Ragon bereits 1963 ein, vgl. Michel Ragon: Où vivrons-nous demain? Paris 1963, S. 114/115. Zum Begriff der „architektonischen Skulptur“, mit dem Markus Stegmann die „Architektur-Skulptur“ definiert, vgl. Stegmann 1995, besonders S. 7-42. 513 „,El nombre de ,El Eco‘ le fue dado por ser eco de las posibilidades artísticas actuales, y por ser resonancia contra los constantes ataques al arte moderno.‘“ Mauricio Gómez Mayorga: Libertad de creación, in: Arquitectura México, Nr. 45, März 1954, S. 38-45, hier S. 41. 514 Rivera und Siqueiros sprachen in einem Protestschreiben gegen Goeritz’ Ernennung zum Museographen des Universitätsmuseums kurz nach der Errichtung von El Eco von einer „Beschmutzung“ der nationalen Kunst durch Goeritz’ Kontakt mit der nationalsozialistischen Bürokratie in den 1940er Jahren. Universitätsrektor Nabor Carrillo kündigte Goeritz’ Vertrag daraufhin umgehend, vgl. Excélsior, 15.6.1954, zit. n. Reyes Palma 2004, hier S. 200; vgl. auch Nuevo San Carlos, o. Jg., o. Nr., 15.7.1954, o. S. 515 Goeritz (1953) 1992, S. 177. 516 Goeritz (1949), zit. n. Arnaldo 1994, S. 75. 517 Henry Moore: Primitive Kunst (1941), in: Werner Hofmann: Henry Moore. Schriften und Skulpturen, Frankfurt/M. 1959, S. 49-52. 518 Moore (1941) 1959, hier S. 49. 519 Ebd. 520 Vgl. Goeritz (1949), zit. n. Arnaldo 1994, S. 75, vgl. auch das Kapitel
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Anmerkungen
„Luis Barragáns Wohnsiedlung Los Jardines del Pedregal de San Ángel in Mexiko-Stadt und Mathias Goeritz’ Plastik Das Tier vom Pedregal“. 521 Goeritz (1953) 1992, S. 177. 522 Ebd., S. 179. 523 Vgl. Guilbaut 1983. 524 Vgl. Goldman 1981. 525 Vgl. Ausst.-Kat. Goeritz 1992, S. 467/468. 526 Mathias Goeritz: Please stop!, New York, März 1960, abgedruckt in: Ausst.-Kat. Goeritz 1992, S. 180-181. 527 Ausst.-Kat. Goeritz 1992, S. 180. Battcock führte das Manifest und Goeritz’ daraus sprechende Geisteshaltung als Argument dafür an, dass Goeritz mit Arbeiten wie der Gelben Wand und Schlange in El Eco sowie den Türmen von Satélite kein Vorreiter des US-amerikanischen Minimalismus gewesen sei, vgl. Gregory Battcock (Hg.): Minimal Art. A Critical Anthology (1968), Berkeley, Los Angeles, London 1995, S. 19/20. 528 „[O]ración plástica“, Mathias Goeritz zit. n. Olivia Zúñiga: Mathias Goeritz, Mexiko-Stadt 1963, S. 38. 529 „Las torres deben ascender al cielo, no reflejarse en la tierra, ni en el agua. Nada hacia abajo; todo hacia arriba, hacia Dios“, Mathias Goeritz zit. n. Ida Rodríguez Prampolini: Mi encuentro con Mathias Goeritz, in: Artes Plásticas. Revista de la Escuela Nacional de Artes Plásticas, Jg. 3, Nr. 13/14, Winter 1991/92, S. 68. 530 „Den Impuls zu schaffen erhalten wir nicht aus uns selbst. Der Mensch ist [nur] das Mittel, nicht der Schöpfer“, Constantin Brancusi zit. n. Russell W. Howe: The Man who doesn’t like Michelangelo, in: Apollo, Nr. 49, Mai 1949, S. 124, zit. n. Friedrich Teja Bach: Constantin Brancusi: Metamorphosen plastischer Form (= Diss., Technische Hochschule Aachen 1982), Köln 1987, S. 146. 531 Vgl. Barbu Brezianu: Brâncusi în România, Bukarest 1976, S. 134, nach: Bach 1987, S. 200. 532 Vgl. Bach 1987, S. 79; Sidney Geist: Le devenir de La Colonne sans fin, in: Ausst.-Kat. La Colonne sans fin. Les carnets de l’Atelier de Brancusi. La série et l’œuvre unique, hg. von Marielle Tabart, Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou Paris 1998, S. 13-29, besonders S. 16. 533 Vgl. Schama 1996, S. 277-278. 534 Vgl. hierzu Rodríguez Prampolini 1997b, S. 185. 535 „En la arqueología había yo aprendido que hay un valor que se llama monumentalidad, la monumentalidad está en cada estatua griega, puede ser tan chica como sea, pero tiene monumentalidad. [...] Por primera vez
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comprendía que el tamaño también importa.“ Goeritz im Interview mit TV UNAM anlässlich der Verleihung des Kunstpreises der Nationaluniversität, Mexiko-Stadt, 1986, zit. n. Kassner 1998, Bd. 1, S. 68. 536 Vgl. Paul Westheim: Die Kunst Alt-Mexikos (1950), Köln 1966. 537 Ebd., S. 88. 538 „Die aztekische Kunst kann nicht verzichten auf äußerliche Mittel, um monumentale Wirkung zu erreichen.“ Ebd., S. 88. 539 Vgl. Worringer (1908) 1996, besonders S. 19-20. 540 Westheim (1950) 1966, S. 138. 541 Ebd. S. 139. 542 Vgl. Wilhelm Worringer: Formprobleme der Gotik (1911), in: Ders.: Schriften, hg. v. Hannes Böhringer, Helga Grebing und Beate Söntgen, 2 Bde., Bd. 1, München 2004, S. 151-300. 543 Westheim (1950) 1966, S. 9. 544 Westheims Referenzen waren Studien zur prähispanischen Kunst des frühen 20. Jahrhunderts wie Eduard Selers Das Tonalamatl der Aubin’schen Sammlung (1900) und von Selers Schüler Walter Lehmann, Altmexikanische Kunstgeschichte (1922) und Aus den Pyramidenstädten in Alt-Mexiko (1933), aber auch Stilprobleme, die man an der antiken Kunst festmachte, wie Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (1915), vgl. Westheim (1950) 1966, besonders S. 140-141. 545 Ebd., S. 139. 546 Zum „Kunstwollen“ bei Worringer, vgl. Fußnote 400 und 415. 547 „Die mexikanische Pyramide […] ist eine der imposantesten Dokumentationen menschlichen Kollektivgeistes und menschlichen Kollektivwollens.“ Westheim (1950) 1966, S. 93. 548 Ebd., S. 57. 549 Ebd., S. 40. 550 Ebd., S. 45-46. Westheim zieht hinsichtlich der Gemeinschaftlichkeit, wie später Goeritz im Manifest der Emotionellen Architektur, an gleicher Stelle Parallelen zur Kunst der Frührenaissance und Byzanz’. 551 Vgl. Westheim (1950) 1966, S. 45. 552 Vgl. Goeritz (1960) 1992. 553 Vgl. Jorge R. Acosta: Exploraciones en Tula, Hidalgo, 1940, Konferenz vor der Sociedad Mexicana de Antropología, 5.12.1940, abgedruckt in: Revista Mexicana de Estudios Antropológicos, Jg. 4, Nr. 3, September-Dezember 1940, S. 172-194. Eine der ersten Benennungen von Tula erfolgte bei Antonio García Cubas (Ruinas de la antigua Tollan, 1873). Der Archäologe Désiré Charnay stellte in Les anciennes villes du Nouveau Monde (Paris
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Anmerkungen
1885) erstmals Ähnlichkeiten zwischen der Architektur von Tula und Chichén Itzá fest, die durch die Abwanderung der Tolteken auf die südöstlich gelegene Halbinsel Yucatán im 13. Jahrhundert existieren. Anhand von Acostas Funden und der Forschungsergebnisse des Ethnohistorikers Wigberto Jiménez Moreno wurde das in Quellen erwähnte „Tula“ auf den heute unter diesem Namen bekannten Ort in Hidalgo festgelegt. Zuvor war es in der Forschung immer wieder zu Verwechslungen mit Teotihuacan gekommen, vgl. Wigberto Jiménez Moreno: Tula y los Toltecas Según las Fuentes Históricas, in: Revista Estudios Antropológicos, Jg. 5, Nr. 2-3, Mai-Dezember 1941, S. 79-83; Westheim (1950) 1966, S. 143. 554 Vgl. auch Jorge R. Acosta: Los Últimos Descubrimientos Arqueológicos en Tula, Hidalgo, 1941, in: Revista Estudios Antropológicos, Jg. 5, Nr. 2-3, Mai-Dezember 1941, S. 239-248. 555 Vgl. Werry 1994, S. 84. 556 1960 wurde ein weißer Turm blau gestrichen, vgl. Zúñiga 1963, S. 38; Riggen Martínez 1996, S. 223; Werry 1994, S. 84. 557 Vgl. Werry 1994, S. 85. 558 Zu Hinweisen auf die Polychromie Tulas vgl. Westheim (1950) 1966, S. 145; speziell der Atlanten vgl. Hill Boone 1985, besonders S. 175-180. 559 Vgl. u.a. Werry 1994, S. 71-73; Cuahonte 2003, S. 184. 560 Vgl. Robert Morris: Notes on Sculpture (1966), abgedruckt in: Battcock (1968) 1995, S. 222-235, besonders S. 225 und 231-233. 561 Vgl. Michael Fried: Art and Objecthood (1967), abgedruckt in: Battcock (1968) 1995, S. 116-147. 562 Vgl. Morris (1966/1968) 1995, besonders S. 225. 563 Vgl. Battcock (1968) 1995. 564 Vgl. ebd., besonders S. 20 und 25. 565 Vgl. Patrick Werkner: Land Art USA. Von den Ursprüngen zu den Großraumprojekten in der Wüste, München 1992; Hoorman 1996. 566 Ausdruck eines solchen Bewusstseins war in extremer Form auch die gewaltsame Unterdrückung der Studentenbewegung mit dem Massaker auf dem „Platz der Drei Kulturen“ in Mexiko-Stadt am 2. Oktober 1968, nur wenige Tage vor Beginn der Olympiade. 567 Insbesondere die Siedlungen Multifamiliar Benito Juárez und Nonoalco-Tlatelolco wurden in großen Teilen zerstört und tausende Menschen unter ihnen begraben. 568 Vgl. Christian Schneegass: El Eco – Hommage à Mathias Goeritz. Künstler-Architekt und Streiter für die Kunst. Ein Deutscher in Mexiko, in:
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Ausst.-Kat. Goeritz 1992, S. 344-396, besonders S. 351; Cuahonte 2003, S. 189. 569 Vgl. Schneegass 1992, besonders S. 351. 570 Vgl. ebd., besonders S. 351-352. 571 Auch für einen Ableger der Universidad Nacional Autónoma de México im Bundesstaat Mexiko (1981-1982) und die Kulturstiftung Miguel Alemán (1987-1988) entwarf Goeritz an Turmformen orientierte Skulpturen, vgl. Mathias Goeritz: La corona, 1981-1982. Armierbeton, 20 x 10 x 10 Meter, ENEP-Aragón, Universidad Nacional Autónoma de México, Bundesstaat Mexiko, und Mathias Goeritz: Torre, 1987-1988. Beton, Eisen und Aluminium, Höhe: 175 m, Fundación Cultural Miguel Alemán, Mexiko-Stadt, vgl. Schneegass 1992, besonders S. 351-352. Werry macht ferner einen Einfluss der Türme von Satélite auf Bradford S. Tilneys und William S. Pedersons Roosevelt Memorial-Entwurf für die Stadt Washington von 1960, eine hoch aufragende, menhirhafte und unregelmäßig ausgestaltete Skulpturengruppe, geltend, vgl. Werry 1994, S. 90. 572 Weitere Skulpturprojekte mit turmartigen Strukturen waren der nicht realisierte Wasserspeicher für die Jardines del Pedregal auf der Plaza del Cigarro (1956) und der Turm El Palomar für die gleichnamige Siedlung in Guadalajara (1968-1974), vgl. Kenneth Frampton: A propósito de Barragán: Formación, crítica, influencia, in: Ausst.-Kat. Barragán 2001, S. 14-27, besonders S. 19-22. 573 Vgl. Augé 1994, S. 93. 574 „[N]adie se daría cuenta de que los monumentos que están en la Ruta de la Amistad tuvieran algo que ver con la amistad si la avenida en donde han sido colocados no se llamara así. Pero así se llama, y, por consiguiente, esos monumentos son los monumentos a la amistad.“ Jorge Ibargüengoitia: El lenguaje de las piedras, in: Ders.: Viajes en la América Ignota (1972), Mexiko-Stadt 1992, S. 9-16, hier S. 16. 575 „,El urbanismo sin el poder es sólo un hobby.‘“ Dieses Zitat wird dem einflussreichen Architekten und Stadtplaner José Luis Cuevas zugeschrieben, vgl. Ariel Rodríguez Kuri: Hacia México 68. Pedro Ramírez Vázquez y el proyecto olímpico, in: Secuencia. Revista de historia y ciencias sociales, Nr. 56, Mai-August 2003, S. 37-73, hier S. 40. Cuevas führte unter anderem 1931 Stadtplanung in den Lehrplan der Architekturfakultät der Universidad Nacional Autónoma de México ein und unterrichtete selbst das Fach bis 1952, vgl. Gerardo G. Sánchez Ruiz: Planificación y Urbanismo de la Revolución Mexicana. Los sustentos de una nueva modernidad en la Ciudad de México, 1917-1940, Mexiko-Stadt 2002, besonders S. 135.
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Anmerkungen
576 „México […] es famoso en el mundo por su uso del concreto. […] Este Simposio será, pues, como para remarcar esta costumbre mexicana.“ Mathias Goeritz zit. n. Eduardo Deschamps Rosas: Se construirá aquí la carretera de las Artes. De San Jerónimo a Xochimilco, con 14 esculturas monumentales, in: Excélsior, 14.1.1968, o. S. 577 Vgl. Werry 1994, S. 108. 578 Verschiedene Künstler unter Leitung Mathias Goeritz’: La Ruta de la Amistad, 1967-1968. 18 Skulpturen aus Armierbeton auf 17 Kilometern Strecke angebracht, Südabschnitt Periférico, Mexiko-Stadt. 579 Vgl. Deschamps Rosas 1968, o. S.; José Revueltas: La Ruta de la Amistad, en la Ciudad de México, in: En la Ruta de la Amistad. México 68 – Programa cultural de la XIX Olimpiada, hg. von Beatrice Trueblood/Comité Organizador de los Juegos de la XIX Olimpiada, Mexiko-Stadt 1968, o. S.; Werry 1994, S. 108-109; Cuahonte 2003, S. 306. 580 Die Olympischen Spiele in Mexiko-Stadt waren, nach denen in Rom 1960, mit 502 873 000 US-Dollar Gesamtausgaben tatsächlich die kostengünstigsten im Zeitraum von 1960 bis 1988, nachdem die XVIII. Olympischen Spiele 1964 in Tokio mit über 6,5 Milliarden US-Dollar Gesamtausgaben bis 1988 die teuersten waren. In den Ausgaben pro Athlet war die mexikanische „Olimpiada barata“ mit 90 919 US-Dollar nach den Spielen in Los Angeles 1984 die zweitgünstigste im selben Zeitraum, vgl. Rodríguez Kuri 2003, besonders S. 61 und 70. 581 Zur Legitimation der Ausgaben für die olympische Infrastruktur betonte Präsident Gustavo Díaz Ordaz wiederholt: „[M]ögen [die olympischen Stätten] einen ständigen sozialen Nutzen haben und nicht allein dem Leuchten unserer Hauptstadt für einige Tage dienen.“/„[T]engan una utilidad social permanente y no sirvan exclusivamente de motivo de lucimiento para nuestra capital unos cuantos días.“ Zit. n. Rodríguez Kuri 2003, hier S. 61. 582 Zur Straße der Freundschaft vgl. Werry 1994, S. 106-114; Cuahonte 2003, S. 301-312. 583 Verantwortlich für das gesamte Olympische Kulturprogramm war der Architekt und Leiter der Abteilung für bildende Künste des Instituto Nacional de Bellas Artes Oscar Urrutia, vgl. Rodríguez Kuri 2003, S. 40-41, 53 und 56. 584 Vgl. Revueltas 1968, o. S.; Werry 1994, S. 109. 585 Cuahonte ordnet die Arbeiten in ihrer Dissertation nach „informeller“ und geometrischer Abstraktion, vgl. Cuahonte 2003, S. 307-309. Tatsächlich besitzen Arbeiten wie die Herbert Bayers und Gonzalo Fonsecas geometrische Formen im Unterschied zu jener Pierre Székelys. Eine Kate-
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
gorisierung nach geometrischer und organischer Abstraktion, ein Begriff, der vielleicht präziser greift als „informell“, wurde auch für die vorliegende Arbeit in Erwägung gezogen, jedoch zugunsten von Raumfragen nachrangig behandelt. 586 Vgl. Cuahonte 2003, S. 307. 587 Vgl. Werry 1994, S. 109-110; Cuahonte 2003, S. 308. 588 Vgl. Rodríguez Kuri 2003, S. 53. 589 Die meisten Tafeln sind heute nicht mehr vorhanden. 590 Ein aufschlussreicher Fall ist die Arbeit des Bauhaus-Vertreters Herbert Bayer, die auf streng geometrischen Modulen basiert. Bayer repräsentierte als Emigrant jedoch weder seine Heimat Österreich noch Deutschland als Land der Bauhausgründung, sondern die USA, wo er lebte. Gonzalo Fonsecas Turm der Winde stand dagegen in der Tradition der 1934 von Joaquín Torres-García in Montevideo gegründeten Schule des Südens (Escuela del Sur). Die Arbeit zeugt von dem Interesse Fonsecas, der sich dem neokonkreten Kreis um Torres-García von 1941 bis 1949 anschloss, prähispanische Architekturformen in Skulptur und Malerei zu übersetzen, vgl. Karl Katz: Introduction, in: Ausst.-Kat. Gonzalo Fonseca. Recent Works, The Jewish Museum New York 1970, S. 1-2; Cuahonte 2003, S. 308. 591 Vgl. Rodríguez Kuri 2003, S. 53-55. 592 Vgl. Hoormann 1996. 593 Vgl. Tenorio Trillo 1998, S. 132. 594 Vgl. Alemán 1945; Anda Alanís 2002, S. 49-51, und den Teil „Kunst im Versuchsfeld – Die Wandbilder der Universitätsstadt“. 595 Ramírez Vázquez leitete das staatliche Projekt der Museumsneubauten im Park von Chapultepec, die Unidad Cultural, von 1953 bis 1965 und entwarf neben dem Nationalmuseum für Anthropologie auch das Museum für Moderne Kunst, vgl. Rodríguez Kuri 2003, S. 45-47. 596 Vgl. Beatrice Trueblood (Hg.): Artistic and cultural program of the games of the XIX Olympiad, Mexiko-Stadt (1968?), S. 6 und 22. 597 „[The] youth of all countries [ …] will be able to take away with them from Mexico the firm conviction that all, absolutely all, peoples are capable of making a positive contribution to mankind.“ Aus: Trueblood (1968?), S. 4. 598 „,There will be and can be, of course, no competitive judgments in the Cultural Olympics. […] No national culture can be considered superior to others.‘“ Pedro Ramírez Vázquez zit. n. Wolf von Eckardt: Arranging Artful Olympics, in: The Washington Post, 21.4.1968, S. B-5. 599 Vgl. Trueblood (1968?), S. 69-72.
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Anmerkungen
600 Vgl. ebd., S. 67. 601 Vgl. Lazo 1952, S. 27-28. 602 „[T]he Olympic ideals of friendship and fraternity“, Díaz Ordaz zit. n. Trueblood (1968?), S. 3. 603 „[R]esidencial, bien comunicada“, „[P]aisaje urbano agradable“, vgl. Rodríguez Kuri 2003, S. 70. 604 „[C]omercial y congestionada“, „[I]ndustrial, obrera“, ebd. 605 Vgl. ebd., S. 65-70. 606 „La idea es llevar el arte a los suburbios, a las zonas pulares [sic], cerca de las fábricas. Las familias que viven en Las Lomas tienen suficiente capacidad adquisitiva para tener su arte particular [sic] “, Mathias Goeritz zit. n. Deschamps Rosas 1968, o. S. 607 Calder gab am 8. November 1967 Anweisungen an Goeritz zur Umsetzung von Rote Sonne. Ende Dezember desselben Jahres beaufsichtigte er die Arbeiten an einem provisorischen Modell in Mexiko-Stadt, vgl. Ausst.Kat. Alexander Calder, 1898-1976, National Gallery of Art Washington u. a. 1998, S. 293, Kat.-Nr. A10649 und A07373. 608 Zu ethnologischen Verfahren zur ,Erfindung‘ von Orten vgl. Augé 1994, besonders S. 54. 609 Zur Definition anthropologischer Orte durch identifikatorische, relationale und historische Charakteristika vgl. Augé 1994, besonders S. 64. 610 Vgl. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988. 611 Augé 1994, S. 115. 612 Vgl. Trueblood (1968?), S. 15. 613 Zum anthropologischen Ort vgl. Augé 1994, S. 64; ferner Wildner 2003. 614 Zur „Heiligkeit“ sakraler wie profaner Räume vgl. Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1981. 615 „Le projet a été réduit à une décoration, plus ou moins fortunée, d’un troncon presque vide du boulevard périphérique.“ Mathias Goeritz zit. n. Cuahonte 2003, S. 306. 616 Mathias Goeritz an Jürgen Claus, 10.2.1969, abgedruckt in: Ausst.Kat. Goeritz 1992, S. 217-219, hier S. 218. 617 Vgl. Rodríguez Kuri 2003, S. 45-47. 618 Vgl. Cuahonte 2003, S. 309. Das Azteken-Stadtion hat 105 000 Sitzplätze, was seinerzeit nur vom Maracanã-Stadion (Estádio Jornalista Mario Filho, 1948-1950) in Rio de Janeiro überboten wurde. Bis zu seinem Umbau 1998 hatte dies 120 000 Zuschauerplätzen, heute 103 000.
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619 Vgl. Brading 1994, besonders S. 92/93; Brading 1991, sowie den Teil „Kunst und nationale Identität in Mexiko“. 620 Vgl. Cuahonte 2003, S. 303. 621 Vgl. Werry 1994, S. 107, von der „Autobahn der Kunst“ existiert kein Bildmaterial. 622 „Le but de ce projet n’était pas de créer de [sic] villages touristiques, mais d’encourager le développement de nouvelles villes et d’une industrie locale. Le point de départ serait l’oeuvre artistique, autour de laquelle l’urbanisme serait conçu harmonieusement.“ Mathias Goeritz zit. n. Cuahonte 2003, S. 303; zu Goeritz’ Projekt der „Autobahn der Kunst“ vgl. auch Werry 1994, S. 106-107. 623 Vgl. Citlali Salazar: Monumento a Cristo Rey, de Nicolás Mariscal, in: Ausst.-Kat. Los pinceles 1910-1955, S. 82-86, besonders S. 85-86; Renato González Mello: Los pinceles del siglo XX. Arqueología del régimen, in: Ausst.-Kat. Los pinceles 1910-1955, S. 17-36, besonders S. 26. 624 Cristo Rey ist bis heute ein wichtiges Wallfahrtsziel in Mexiko und ist, ähnlich den Großsiedlungen, die unter der Regierung Miguel Alemáns enstanden, für große Massen konzipiert, vgl. hierzu González Mello 2003, besonders S. 26-27. Sowohl die Wallfahrtsstätte als auch die nach den Präsidenten benannten Siedlungen wurden nicht zuletzt vor dem Ziel errichtet, sich mit der Nation Mexiko zu identifizieren. 625 Die möglichen Gründe für die Ablehnung des Projekts durch Ramírez Vázquez als offiziellen Vertreter der mexikanischen Regierung zeigen sich insbesondere an der Untersuchung der sozialgeographischen Aspekte von Goeritz’ Vorschlag. 626 Vgl. Rivera (1935) 2000, und das Kapitel „Luis Barragáns Wohnsiedlung Los Jardines del Pedregal de San Ángel in Mexiko-Stadt und Mathias Goeritz’ Plastik Das Tier vom Pedregal“. Bereits vor Contreras, seit den frühen 1920er Jahren, gab es ausgereifte urbanistische Pläne für strukturelle Veränderungen von Mexiko-Stadt, unter anderem von dem Ingenieur Modesto C. Rolland und den Architekten José Luis Cuevas und Alfono Pallares. Diese hatten jedoch vorsichtigere Pläne für die Peripherie. So schlug Cuevas Gartenstädte wie Las Lomas (1922) und Hipódromo Condesa (1926) für wohlsituierte Hauptstädter vor, vgl. Sánchez Ruiz 2002, besonders S. 115148. Contreras plante dagegen, u. a. mit dem Plano Regulador del Valle de México (1933) und dem Plan de Desarrollo de la Ciudad de México (1935), den Erhalt des Historischen Zentrums mitsamt einer Regulierung des Straßenverkehrs und Wohngegenden für unterschiedliche Einkommensschichten. Ferner sah er die Auslagerung der landwirtschaftlichen Produktionszentren
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Anmerkungen
an den Ost- und Südostrand der Stadt und der Industrie nach Nordwesten sowie ein Naturschutzgebiet südöstlich der Stadt bis zur Kleinstadt Amecameca im Bundesstaat Puebla vor, vgl. Sánchez Ruiz 2002, S. 148-165; Rafael López Rangel: La Planificación y la Ciudad de México 1900-1940, Mexiko-Stadt 1993, S. 91-95. 627 Vgl. Gómez Mayorga 1957. 628 Pani 1957, S. 211. 629 Vgl. Pani 1957, S. 209. 630 Vgl. Gómez Mayorga 1957. 631 „[Wir sollten] Tabula Rasa mit der Vergangenheit machen, alle sozialen, politischen, stadtplanerischen und architektonischen Verdichtungen in Staub verwandeln und einfach auf den Resten der alten eine neue Stadt errichten“/„[Deberíamos] hacer tabla rasa del pasado, convertir en polvo todas las densidades sociales, políticas, urbanísticas y arquitectónicas, y erigir, simplemente, otra ciudad sobre los escombros de la antigua.“ Vgl. Rodríguez Kuri 2003, S. 58. 632 Vgl. Rodríguez Kuri 2003, S. 57-59. 633 Allein die erste Phase, die Errichtung der Plastiken mit einer minimalen Infrastruktur, hätte 250 Millionen US-Dollar gekostet, vgl. Werry 1994, S. 107-108. 634 Im Vergleich zu anderen Olympiastädten wie Rom, Tokio und später Barcelona gab es anlässlich der mexikanischen Olympiade nur geringfügige Eingriffe in die urbane Struktur von Mexiko-Stadt, vgl. Rodríguez Kuri 2003, S. 58-59. Bürgermeister Uruchurtu, der am 12.9.1966 von der Bundesregierung abgesetzt wurde, hatte sich zudem gegen den Bau einer U-Bahn entschieden, die das hohe Verkehrsaufkommen in der Hauptstadt entlasten sollte. Nach Uruchurtus Entlassung setzte der U-Bahnbau im Frühjahr 1968 ein. Die erste Linie wurde jedoch erst nach der Olympiade 1969 eröffnet, vgl. Diane E. Davis: Urban Leviathan: Mexico City in the Twentieth Century, Philadelphia 1994, S. 171-172. 635 Mathias Goeritz: Die Dünnen gegen die Dicken (span. Original: Advertencia, in: Arquitectura México, Nr. 65, März 1959, S. 50), abgedruckt in: Ausst.-Kat. Goeritz 1992, S. 179-180, hier S. 180. 636 Vgl. Otto Freundlich: Sculptures-Montagnes (1936), in: Joachim Heusinger von Waldegg: Otto Freundlich (1878-1943). Monographie mit Dokumentation und Werkverzeichnis (= Ausst.-Kat. Retrospektive. Rheinisches Landesmuseum Bonn u. a.), Köln, Bonn 1978, S. 261. 1960 hatte bereits der belgische Künstler Jacques Moeschal, mit dem Goeritz in Kontakt stand und der eine Arbeit für die Straße der Freundschaft realisierte, eine Straße
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
der Menschen aus Skulpturen geplant, die der französisch-ungarische Bildhauer Pierre Székely, den Goeritz ebenfalls nach Mexiko einlud, 1961/1962 in Royaumont zu einem Weg der Künste erweitern wollte, vgl. Rena Karaoulis: Die Straße der Skulpturen. Vom Bildhauersymposium St. Wendel zur Straße des Friedens in Europa, Saarlouis 2005, S. 58-67. Cuahonte 2003, S. 114, nennt dagegen 1965 als Datum für Székelys Weiterentwicklung des Projekts in Royaumont. Zu diesem Zeitpunkt fand dort ein Internationales Bildhauertreffen statt, an dem auch Goeritz auf Einladung des niederländischen Bildhauers Joop J. Beljon teilnahm, der 1968 ebenfalls eine Arbeit für die mexikanische Straße der Freundschaft schuf. Goeritz stand insofern zumindest in engem Austausch mit anderen Künstlern, die Projekte entwickelten, die seiner Autobahn der Kunst ähnelten. Aus zwei Bildhauersymposien 1971 und 1972 im saarländischen St. Wendel ist auf Initiative des Bildhauers Leo Kornbrust und der Lyrikerin Felicitas Frischmuth eine Straße der Skulpturen (1971-2003) mit großformatigen Arbeiten in Stein entstanden, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann, vgl. Karaoulis 2005. 637 1937 wurden Freundlichs Werke in deutschen Museumssammlungen beschlagnahmt und 14 Arbeiten zerstört. Seine Skulptur Der neue Mensch (1912) war auf dem Katalog der von den Nationalsozialisten zur Diffamierung der europäischen Avantgarde organisierten Ausstellung Entartete Kunst abgebildet. Freundlich wurde am 9. März 1943 in Lublin-Majdanek ermordet, vgl. Joël Mettay: Die verlorene Spur. Auf der Suche nach Otto Freundlich, Göttingen 2005, S. 81-86. 638 Vgl. Mettay 2005, S. 81-86. 639 Vgl. Freundlich (1936) 1978. 640 Vgl. ebd. 641 Vgl. Frampton 19955, S. 103-104. 642 Gropius bemühte sich 1920 darum, Freundlich einen Lehrauftrag am Bauhaus in Weimar zu verschaffen, was am Widerstand der Fakultät scheiterte, vgl. Mettay 2005, S. 81-86. 643 Vgl. Joachim Heusinger von Waldegg: Otto Freundlich. Ascension. Anweisung zur Utopie, Frankfurt/M. 1987, S. 72-81. 644 Lyonel Feininger fasste in seinem Holzschnitt für das erste Bauhausprogramm Gropius’ Aufruf zur Rückkehr zur mittelalterlichen Solidargemeinschaft der Bauhütte als „Kathedrale des Sozialismus“, das „großer Bau“ genannte Ideal der Revolutionszeit, überhöhend zusammen, vgl. Karin Wilhelm: Das Bauhaus. Architektur und Design, in: Wagner 1991b, Bd. 2, S. 424-442, besonders S. 438-439. 645 Otto Freundlich: Bekenntnisse eines revolutionären Malers (1935),
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Anmerkungen
in: Otto Freundlich. Schriften: Ein Wegbereiter der gegenstandslosen Kunst, hg. von Uli Bohnen, Köln 1982, S. 197-202, hier S. 202. 646 Zur Rezeption der politischen Ereignisse um 1918 unter den Expressionisten vgl. Washton Long 1986, besonders S. 207-209. Herbert Kühn stellte einen unmittelbaren Vergleich zwischen Expressionisten und Sozialisten an: „Der Expressionismus ist – wie der Sozialismus – der gleiche Aufschrei gegen die Materie, gegen den Ungeist, gegen Maschine, gegen Zentralisation für den Geist, für Gott, für den Menschen im Menschen.“ Herbert Kühn: Expressionismus und Sozialismus, in: Neue Blätter, Jg. 2, Nr. 2, Mai 1919, S. 28-30, hier S. 29. 647 Vgl. Freundlich (1935) 1982. 648 Vgl. Goeritz (1953) 1992. 649 Mathias Goeritz: Botschaft zur Eröffnungsveranstaltung des Internationalen Bildhauertreffens in Mexiko-Stadt, in: Excélsior, 18.6.1968, abgedruckt in: Ausst.-Kat. Goeritz 1992, S. 183. 650 Ausst.-Kat. The Experimental Exercise of Freedom: Lygia Clark, Gego, Mathias Goeritz, Hélio Oiticica and Mira Schendel, The Geffen Contemporary at MOCA Los Angeles 1999. 651 Vgl. Washton Long 1986, besonders S. 202 und 211-215. 652 Goeritz besuchte im Juni 1969 das Museum von Pontoise, wo sich der Nachlass Freundlichs befand, vgl. Werry 1994, S. 113. 653 Vgl. Mettay 2005, S. 81-86. 654 „C’est la nouvelle sculpture qui a compris l’importance des ombres profondes nécessaires pour donner aux masses claires de la sculpture leurs fonctions énergiques dans l’ensemble sculptural du clair et de l’obscur. [...] On pourrait les nommer: menhirs modernes.“ Aus: Freundlich (1936) 1978. 655 Vgl. das Kapitel „Mario Panis Ciudad Satélite und die Skulpturengruppe Die Türme von Satélite von Mathias Goeritz und Luis Barragán“. 656 Vgl. Mettay 2005, S. 81-86. 657 Vgl. Sydow 1918/1919. 658 „Pórtate bien mexicano, porque va a venir la Olimpiada“, vgl. Rodríguez Kuri 2003, S. 51. 659 Vgl. Tenorio Trillo 1998, S. 132. 660 „Todo es posible en la paz“, vgl. Rodríguez Kuri 2003, S. 52. 661 Die volkserzieherische Wirkung von körperlicher Betätigung hatte bereits Pierre de Coubertin erkannt und als unterstützendes Element für die politischen und erzieherischen Ziele der Dritten Französischen Republik unter der breiten Bevölkerung eingefordert, vgl. John J. MacAloon: This
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Great Symbol. Pierre de Coubertin and the Origins of the Modern Olympic Games, Chicago, London 1981. 662 Das Kulturzentrum ist später weiter bebaut worden. Im Dezember 2008 wurde das jüngste Gebäude, das von Teodoro González de León entworfene Universitätsmuseum für Zeitgenössische Kunst, Museo Universitario de Arte Contemporáneo, eröffnet. 663 Ausst.-Kat. El geometrismo mexicano. Una tendencia actual, Museo de Arte Moderno Mexiko-Stadt 1977. 664 Vgl. Ausst.-Kat. El Espacio Escultórico, Museo Universitario de Ciencias y Arte Mexiko-Stadt 1980, S. 10-19. 665 Die Abbildung zeigt einen eher üppig bewachsenen Zustand der Flora im November 2000. In der Regenzeit kann man die größte Anzahl an Pflanzen beobachten, die sich zwischen November und Januar wieder stark verringert. In der Trockenzeit sind fast ausschließlich Sukkulenten, wie der für den Pedregal charakteristische palo loco (Senecio praecox), ein Busch mit hoher Wasserspeicherkapazität und sehr kurzen Wurzeln, die auch in flachen Erdschichten gedeihen, und andere Buscharten präsent, nach denen die Flora der Pedregal-Region auch als Senecionetum praecocis bezeichnet wird. Auch der im 16. Jahrhundert aus Peru in Mexiko eingeführte pirúBaum (Schi n us molle) ist für die Pedregal-Vegetation typisch. Er fällt hier aufgrund der dünnen, fruchtbaren Erdschicht jedoch kleiner als üblich aus. An nach Norden ausgerichteten Steinoberflächen wachsen vor allem Flechten. In der Regenzeit blühen unter anderem Calliandra grandiflora, Milla biflora, Spiranthes aurantiaca und Dahlia coccinea in unterschiedlichen Farben. Ganzjährig kann man oreja de burro (Echeveria gibbiflora) beobachten, vgl. Ausst.-Kat. Espacio Escultórico 1980, besonders S. 33-34. 666 Vgl. Ausst.-Kat. Espacio Escultórico 1980, S. 27. 667 Vgl. Werry 1994, S. 118. 668 Vgl. Helen Escobedo: Cóatl, 1980. Stahl, 15 x 4 x 3 m; Manuel Felguérez: Variante de la Llave de Kepler, 1979. Stahl, Maße unbekannt; Mathias Goeritz: La corona del Pedregal, 1980. Stahl, 12 x 6 x 4 m; Hersúa: Ave Dos, 1979. Armierbeton, Maße unbekannt; Sebastián: Arco Macla, 1979. Stahl, Maße unbekannt; Federico Silva: 4 Ocehuitli, 1979, Armierbeton, Maße unbekannt. 669 Vgl. Planteamiento del Licenciado Jorge Carpizo, Coordinador de Humanidades, al Señor Rector doctor Guillermo Soberón, sobre la posibilidad de la creación del Centro del Espacio Escultórico, in: Centro del Espacio Escultórico, hg. von Coordinación de Humanidades, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt 1978, o. S.
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Anmerkungen
670 Aceptación del proyecto por los escultores, in: Centro del Espacio Escultórico 1978, o. S. 671 Vgl. Planteamiento Carpizo 1978. 672 Eggener 1995, S. 93. 673 „[D]ie Distanzen und Richtungen, die der biologischen Nutzung des Raumes innewohnen, sind in diesem Werk mit einem Raum verbunden, der bislang weder soziologisch noch künstlerisch Bedeutung hatte.“/„[L]as distancias y direcciones, inherentes a la utilización biológica del espacio, van unidas en esta obra con un espacio que aún no ha significado ni sociológica ni artísticamente.“ Juan Acha: Otra escultura transitable en México, in: Ausst.-Kat. Espacio Escultórico 1980, o. S. 674 Rivera (1954) 1986, hier S. 401. 675 Vgl. Ausst.-Kat. Espacio Escultórico 1980, o. S. 676 Vgl. Siqueiros (1948a) 1996, besonders S. 291. 677 Der freie Zugang ist heute allerdings durch einen Zaun an der Ringstraße eingeschränkt, den die Universitätsleitung anbringen ließ und dessen Eingangstor abends geschlossen wird. 678 „Social projection is crucial here: we are not speaking of a commission to decorate a private salon. The center of sculptural space addresses itself to all, citizens and foreigners, as does the emblemic tower of the library at University city. Art for multitudes, like the pyramids, stainedglass window or mural [sic].“ Aus: Joaquín Sánchez Macgrégor: Center of sculptural space (13.12.1977), in: Centro del Espacio Escultórico 1978, o. S. 679 Vgl. Cardoza y Aragón 1948b, o. S. 680 Vgl. Sánchez Macgrégor (1977) 1978, o. S. Zu Siqueiros’ Standpunkt vgl. Siqueiros (1948a) 1996. 681 Vgl. Aceptación proyecto 1978. 682 Sánchez Macgrégor (1977) 1978, o. S. 683 Vgl. Acha 1980, o. S. 684 Aceptación proyecto 1978, o. S. 685 Vgl. Hoormann 1996, besonders S. 70-81; Wagner 2001, besonders S. 163. 686 Vgl. Werkner 1992, S. 45-46; Hoormann 1996, S. 13. 687 Ebd. 688 Zu Beton als industriell konnotiertem Material in Gegenüberstellung zu Natur vgl. Hoormann 1996, besonders S. 10; Wagner 2001, besonders S. 163. 689 Vgl. Wagner 2001, S. 162-163. 690 Vgl. Helen Escobedo, Manuel Felguérez, Mathias Goeritz, Hersúa, Se-
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bastián und Federico Silva: Manifiesto del Espacio Escultórico, in: Ausst.Kat. Espacio Escultórico 1980, o. S. 691 Vgl. Krieger 2004b, besonders S. 137. 692 Vgl. Aceptación proyecto 1978, o. S. 693 Zur Ikonographie von Beton als industriell hergestelltem Werkstoff vgl. Monika Wagner: Industriemüll in der zeitgenössischen Kunst, in: Arbeit und Industrie in der bildenden Kunst. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums, Stuttgart 1997, S. 131-140; Wagner 2001, besonders S. 163; Christian Fuhrmeister: Beton – Klinker – Granit. Material – Macht – Politik. Eine Materialikonographie (= Diss., Universität Hamburg 1998), Berlin 2001, besonders S. 112-116; Christian Fuhrmeister: Beton, in: Lexikon des künstlerischen Materials 2002, S. 36-40. 694 Vgl. Hoormann 1996, besonders S. 69-96. 695 Vgl. Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt/M. 1965. 696 Vgl. Andrews 1983, S. 89 und 93. 697 Vgl. Hill Boone 1985, besonders S. 178-179. 698 „[M]uros color de sangre seca“, in: Octavio Paz: 1930: Vistas fijas, in: Ders.: Una grandeza caída, in: Artes de México, Nr. 1, Winter 1993, S. 6-15, hier S. 14/15. 699 Nezahualcóyotl (1402-1472) war Dichter und Herrscher von Texcoco, dem östlichen Nachbarreich von Tenochtitlan. Sein Vater war Ixtlilxochitl I, Herrscher von Texcoco, seine Mutter Matlalcíhuatl, eine Tochter Huitzilíhuitls, dem zweiten Herrscher von Mexico-Tenochtitlan. Nezahualcóyotl war berühmt für sein Interesse an öffentlichen Bauten und für seine Dichtungen und Kompositionen. Ihm werden einige Texte der in der Kolonialzeit zu Cantares mexicanos und Romances de los señores de la Nueva España komponierten Liedern zugeschrieben. Er ist in Mexiko in zahlreichen Denkmälern als Herrscher und Dichter verewigt worden, vgl. The Oxford Encyclopedia of Mesoamerican Cultures. The Civilizations of Mexico and Central America, hg. von David Carrasco, 3 Bde., Bd. 2, New York 2001, S. 368-369. 700 Vgl. Manifiesto del Espacio Escultórico, o. S. 701 Vgl. Goeritz (1969) 1992, besonders S. 217-218. 702 Bei Cuahonte 2003 wird die Gruppe unter dem Namen CADIGOGUSE erwähnt, vgl. S. 312-315. 703 Vgl. Manifiesto del Espacio Escultórico, o. S.
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Anmerkungen
IV Ephemere Kunst im öffentlichen Raum: Arbeiten der mexikanischen Gruppenbewegung
704 Der Frente Mexicano de Grupos Trabajadores de la Cultura wurde 1978 gegründet und 1984 nach Differenzen der Künstler untereinander wieder aufgelöst, vgl. Álvaro Vázquez Mantecón: Los Grupos: Una reconsideración, in: Ausst.-Kat. Discrepancia 2007, S. 194-196 (= Vázquez Mantecón 2007a), besonders S. 195. 705 Vgl. Março, in: Ausst.-Kat. Discrepancia 2007, S. 230-232. 706 Eine Ausnahme stellt der Entwurf der Gruppe Proceso Pentágono von 1988 für ein Mahnmal des Massakers von Tlatelolco dar, das das Gedenken, statt durch Monumentalität an der Oberfläche, über eine durchschreitbare Schneise unter dem Platz der Drei Kulturen in Mexiko-Stadt visualisieren sollte. Der Entwurf wird Gegenstand des Kapitels „Antinationale und traditionsbewusste Tendenzen – Denkmäler der 1970er Jahre“ sein. 707 Vgl. Christoph Wilhelmi: Künstlergruppen in West- und Nordeuropa einschließlich Spanien und Portugal seit 1900: ein Handbuch (1996-2006), 3 Bde., Bd. 3, Stuttgart 2006, S. 42-43, 46-47 und 591-592. 708 Vgl. Álvaro Vázquez Mantecón: La visualidad del 68, in: Ausst.-Kat. Discrepancia 2007, S. 34-36. (= Vázquez Mantecón 2007b) 709 Der erste registrierte Angriff fand in der Nacht zum 4. August 1960 statt, vgl. Política. Quince días de México y del Mundo, Jg. 1, Nr. 8, 15.8.1960, S. 3-25, besonders S. 3; Política, Jg. 1, Nr. 9, 1.9.1960, S. 11-14; Raquel Tibol beschreibt die Geschichte der Zerstörung von Asúnsolos Alemán-Statue im Zusammenhang mit der Entstehung des Mural efímero von 1968, vgl. Raquel Tibol: 1968 y el Salón Independiente, in: Dies.: Confrontaciones, Mexiko-Stadt 1992, S. 150-166, besonders S. 152-154. 710 Eine umfassende Aufarbeitung der Rolle der insgesamt drei Salones Independientes zwischen 1968 und 1970 für die Entwicklung neuer künstlerischer Strategien in Mexiko liefert Pilar García de Germenos: Salón Independiente: una relectura, in: Ausst.-Kat. Discrepancia 2007, S. 40-48. 711 Zur Entstehung des Mural efímero, vgl. Siempre!, Nr. 796, 25.9.1968, Suplemento La Cultura en México, Nr. 345, o. S.; Tibol 1992, besonders S. 152-153. 712 Der Maler Ricardo Rocha gründete beispielsweise 1976 gemeinsam mit Armandina Lozano, Ernesto Molina, Gabriel Macotela, Mario Rangel, Jesús Reyes, Oliverio Hinojosa, Paloma Díaz, René Freire, Santiago Rebolledo und Patricia Salas die Gruppe Suma, die zwischen 1976 und 1982 Wandbilder an viel frequentierten, populären Orten im öffentlichen Raum schuf.
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Álvaro Vázquez Mantecón hält jedoch fest, dass viele Gruppenmitglieder erst Ende der 1940er Jahre und in den 1950er Jahren geboren wurden und so nicht zur 68er-Generation gehörten. Sie prägte vielmehr die politisierte Atmosphäre der 1970er Jahre in der Folge der Geschehnisse um 1968, vgl. Vázquez Mantecón 2007a, besonders S. 194. 713 El Colectivo und Códice waren zunächst ebenso für die Pariser Biennale vorgesehen, präsentierten ihre Beiträge aufgrund interner Differenzen und verspäteter Lieferung jedoch nicht, vgl. Alberto Híjar: Cuatro grupos a París, in: Plural, Nr. 73, Oktober 1977, S. 51-58. 714 Vgl. Vázquez Mantecón 2007a, besonders S. 194/195. 715 José Luis Barrios: Los descentramientos del arte contemporáneo: de los espacios alternativos a las nuevas capitales (Monterrey, Guadalajara, Oaxaca, Puebla y Tijuana), in: Hacia otra historia del arte, Bd. 4, S. 141179, besonders S. 157. 716 Allein die Mitglieder des Taller de Investigación Plástica, das um das Künstlerpaar José Luis Campos und Isabel Estela Campos zwischen 1968 und 1978 aktiv war, realisierten auch Aktionen in den Bundesstaaten Michoacán, Nayarit und Hidalgo, vgl. Taller de Investigación Plástica, in: Ausst.-Kat. Discrepancia 2007, S. 232. 717 Dieses Themengebiet der mexikanischen Kunstgeschichte ist bislang nicht systematisch aufgearbeitet. Neben wenigen zeitgenössischen Katalogen und reflektierenden Texten sowie der Überblicksschau Los Grupos im Museo Carrillo Gil 1985 hat mit der Ausstellung La era de la discrepancia 2007 im Museo Universitario de Ciencias y Arte in Mexiko-Stadt erstmals eine Ausstellung die mexikanische Kunst zwischen 1968 und 1997, und somit auch der Gruppenbewegung, umfassend und kritisch aufgearbeitet, vgl. Ausst.-Kat. Discrepancia 2007. Trotz der großen Materialfülle, die hier zusammengetragen und analysiert wurde, ist auch die groß angelegte Revision nicht vollständig. Eine umfassende Bestandsaufnahme und Analyse der ephemeren öffentlichen Kunst der 1970er und 1980er Jahre in Mexiko steht weiterhin aus. 718 Vgl. Março 2007. 719 Mit dem zweiten Ausführungsort der öffentlichen Aktion im populären Chapultepec-Park unterstrich Março zusätzlich sein Interesse an der Partizipation der breiten Bevölkerung. 720 Vgl. Suma, in: Ausst.-Kat. Discrepancia 2007, S. 218-219. 721 Vgl. Taller de Arte e Ideología (TAI), in: Ausst.-Kat. Discrepancia 2007, S. 222. 722 Vgl. Terminal, in: Ausst.-Kat. Discrepancia 2007, S. 223.
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Anmerkungen
723 Vgl. García de Germenos 2007, besonders S. 40-41. 724 Rufino Tamayo, Carlos Mérida, Jesús „Chucho“ Reyes, Gunther Gerzso, Leonora Carrington, José Luis Cuevas, Alberto Gironella, Rafael Coronel, Manuel Felguérez, Lilia Carrillo, Luis Buñuel und Felipe Ehrenberg u.a. richteten ihren Protest in einem offenen Brief an das Instituto Nacional de Bellas Artes, abgedruckt in: Tibol 1992, hier 154-156. 725 Das Nationale Institut für Schöne Künste kam den Forderungen der Künstler allein mit einer Erhöhung der Preisanzahl nach, was mit mehr Anwerbungen verbunden wurde. 726 Vgl. García de Germenos 2007, besonders S. 41-42. 727 „Donde hay represión no me puedo expresar. Cuando hay agresión no me puedo callar.“ Gilberto Aceves Navarro, zit. n. Tibol 1992, hier S. 151. 728 „La cultura es el fruto magnífico de la libertad.“, „Apoyamos las demandas justas de los estudiantes.“ Fanny Rabel, zit. n. ebd. 729 Ein gleichnamiger Super-8-Film, der zwischen 1968 und 1971 entstand, dokumentiert, wie die Künstler während mehrerer Wochenendveranstaltungen Protestbilder auf die Metallverblendung der Präsidentenstatue brachten, vgl. Raúl Kamffer: Mural efímero, 1968-1971. 16 mm, Filmoteca, Universidad Nacional Autónoma de México. 730 Vgl. Tibol 1992, S. 151. 731 Un arte pobre de material lujoso en el concepto, zum dritten Salón Independiente von 1970 vgl. García de Germenos 2007, besonders S. 43. 732 Vgl. Barrios 2004, besonders S. 150. 733 Zum Collectif d’Art Sociologique vgl. Wilhelmi 2006, S. 42-43. 734 Ausst.-Kat. La calle ¿adónde llega? Monografía de un evento social imaginario, hg. von Hervé Fischer, Museo de Arte Moderno Mexiko-Stadt 1984. 735 Vgl. Wilhelmi 2006, S. 591-592. 736 Suma: Tania, la desaparecida, 1978. Fotografie der Graffiti-Aktion auf der Avenida Insurgentes /calle Nizza, Mexiko-Stadt, Archiv Grupo Suma/Mario Rangel Faz. 737 Vgl. Mira, in: Ausst.-Kat. Discrepancia 2007, S. 224-225. 738 „Pórtate bien mexicano, porque va a venir la Olimpiada“, vgl. Rodríguez Kuri 2003, S. 51. 739 Vgl. Mira 2007. 740 Suma: Peatones, 1978. Serigraphie auf Papier, Fotografie der Aktion, Palacio de los Deportes, Mexiko-Stadt, Archiv Grupo Suma/Mario Rangel Faz. 741 Für Goeritz waren in diesem Fall die Expressionismus- und Abstrak-
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tionsdebatten in Deutschland und Österreich ausschlaggebend, für die Wandmaler stärker der italienische Futurismus. 742 „La idea es utilizar la mano de obra artesanal para difundir creaciones plásticas sobre demanda, al tiempo que se descarta el mito de la pieza única original y se divorcia la producción muralista de las imposiciones establecidas por presupuestos oficiales y centralistas.“ Felipe Ehrenberg: El nuevo mural mexicano es tamaño doble carta. Propuesta de Felipe Ehremberg [sic], in: Plural, Jg. 6, Nr. 72, September 1977, S. 51-55, hier S. 55. 743 Die Gruppe TAI existiert hingegen bis heute weiter. Einige Mitglieder der Gruppe Mira haben sich 2007 für neue Aktivitäten im Zentrum von Mexiko-Stadt zusammengeschlossen, vgl. Reforma, 24.10.2007, o. S. 744 Luis Ortiz Monasterio: Monumento a la Madre, 1944-1949. Sandstein, Mexiko-Stadt. 745 Proceso Pentágono: La Grieta, 1988. Beton, Licht, Papier, 300 x 50 cm (Länge nicht bekannt), Plaza de las Tres Culturas, Tlatelolco, MexikoStadt (Projekt, nicht realisiert). 746 Vgl. Interview mit dem Proceso Pentágono-Mitglied Víctor Muñoz, 21.05.2004. 747 Vgl. Alberto Híjar: Juárez: símbolo, ícono, señal de la patria, in: Juárez – Señal de la Patria, hg. von Gobierno del Distrito Federal, Delegación Iztapalapa, Grupo Quart, Taller de Arte e Ideología, Mexiko-Stadt 2000, S. 33-93, hier S. 44. 748 Zur Juárez-Ikonographie in mexikanischen Denkmälern vgl. Helen Escobedo (Hg.): Monumentos Mexicanos. De las estatuas de sal y de piedra, Mexiko-Stadt 1992. 749 Vgl. David Alfaro Siqueiros: Esculto-Pintura: cuarta etapa del muralismo en México, Mexiko-Stadt 1968. 750 Siqueiros (1948a) 1996, hier S. 289.
Resümee und Ausblick
751 Siqueiros (1948a) 1996, hier S. 289. 752 Vgl. zum Werk Minerva Cuevas’ Magali Arriola: Ciudad de México: Activisme incidentel et détournements spontanés d’un urbanisme manqué, in: Parachute, Nr. 104, Oktober-Dezember 2001, S. 62-73, besonders S. 71/72. 753 SEMEFO ist die Abkürzung für Servicio Médico Forense, den mexikanischen gerichtsmedizinischen Dienst, dessen Schauhäuser der Gruppe und später Margolles als Arbeitsplatz dienten, vgl. Lourdes Morales: De la oscu-
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Anmerkungen
ridad a la metonimia: Un ensayo sobre SEMEFO y Teresa Margolles, unveröffentlichte Masterarbeit, Instituto de Investigaciones Estéticas, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt 2006; Kirsten Einfeldt: Reste des Lebens, in: art – Das Kunstmagazin, Nr. 9, September 2006, S. 54-63. 754 Vgl. Ausst.-Kat. Teresa Margolles. Muerte sin fin, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, Köln 2006, S. 190-194. 755 Vgl. Cuauhtémoc Medina: Patriotic Tales/Cuentos patrióticos, 1997, in: Ausst.-Kat. Diez Cuadras alrededor del estudio/Walking distance from the studio: Francis Alÿs, Antiguo Colegio de San Ildefonso Mexiko-Stadt 2006, S. 54-57. 756 Vgl. Kirsten Einfeldt: Ich will ein Zeichen setzen, Interview: Warum Francis Alÿs Straßenkinder unterstützt, in: art – Das Kunstmagazin, Nr. 11, November 2004, S. 203.
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Bibliographie Ausstellungskataloge
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Abkürzungen CESU-AHUNAM
Hervorhebung im Original
Centro de Estudios sobre la Universidad, Archivo Histórico de la Universidad Nacional Autónoma de México, Mexiko-Stadt Hervorhbg. im Orig. 460
Bildnachweise
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Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Mater ial und nationale Identität
mond Rochfort 43, 47; © Armando Salas Portugal/Barragán Foundation, Birsfelden 102, 103, 105, 106, 111, 112, 113, 114, 116, 118, 123, 125, 126; © Bob Schalkwijk, Mexiko-Stadt 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 28; © Christian Schneegass, Berlin 122; © Nachlass Julius Shulman 109; © Tate Gallery, London 97; © Michel Zabé 120, 140 Leider war es nicht in allen Fällen möglich, die Rechteinhaber zu ermitteln. Es wird deshalb gegebenenfalls um Mitteilung gebeten.
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