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German Pages 193 Year 1992
CHRISTOPH E. PALME
Nationale Umweltpolitik in der EG
Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht llerausgegeben von Thomas Oppermann in Gemeinschaft mit lleinz-Dieter Assmann, llans v. Mangoldt Wernhard Möschel, Wolfgang Graf Vitzthum sämtlich in Tübingen
Band 27
Nationale Umweltpolitik in der EG Zur Rolle des Art.lOOa IV im Rahmen einer Europäischen Umweltgemeinschaft
Von
Dr. Christoph E. Palme
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Palme, Christoph E.:
Nationale Umweltpolitik in der EG : zur Rolle des Art. lOOa IV im Rahmen einer europäischen Umweltgemeinschaft I von Christoph E. Palme. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht ; Bd. 27) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-07488-2 NE: GT
D 21
Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: W. März, Tübingen Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0720-7654 ISBN 3-428-07488-2
Meinen Eltern
Vorwort Während meiner Beschäftigung mit den politischen und rechtlichen Möglichkeiten zur Bekämpfung des "Waldsterbens" machte ich relativ schnell die Entdeckung, daß die nationalen Möglichkeiten effektiver Umweltpolitik aufgrundeuroparechtlicher Vorgaben begrenzt sein können. Kristallisationspunkt dieser Entwicklung war die Diskussion um die Einführung des schadstoffarmen Autos in den Jahren 1987 ff. Hier meldete die EG-Kommission aus Gründen des Freien Warenverkehrs ernsthafte Bedenken gegen die verbindliche Einführung bzw. steuerliche Begünstigung strenger Abgasnormen durch die Bundesregierung an, denn sie witterte darin protektionistische Tendenzen. Da in diesem Konflikt m.E. ein Grundsatzproblem künftiger Umweltpolitik liegt, beschloß ich, dieses Thema zum Gegenstand meiner Dissertation zu machen. Ziel der Arbeit soll es sein, politische wie juristische Möglichkeiten aufzuzeigen, den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie zu entschärfen. Dabei ist es meine feste Überzeugung, daß diese beiden, gemeinhin als widerstreitend geltenden Belange sich gegenseitig ergänzen können. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. iur. Dr. h.c. Thomas Oppermann. Durch zahlreiche interessante Gespräche mit ihm und generell infolge der Möglichkeit der Mitarbeit an seinem Lehrstuhl wurde ich auf vieles hingewiesen. Darüber hinaus wird mir die freundliche und wohlwollende Betreuung meines Dissertationsvorhabens sowie deren Aufnahme in die "Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht" immer in Erinnerung bleiben. Mein Dank gilt zudem Herrn Professor Dr. iur. Wolfgang Graf Vitzthum sowohl für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens als auch für die wertvollen Vorschläge zur Abrundung der Arbeit. Weiterhin möchte ich mich besonders für die wertvolle Hilfe von Hermann Hepp-Schwab bedanken, der mir sehr gute Hinweise für die endgültige Fassung der Arbeit gab. Schließlich gilt mein Dank der freundlichen Unterstützung durch Dr. iur. Claus-Dieter Classen, Carotine Hinds, Stephan Wilske und Jochen Schumacher. Tübingen, im März 1992
Christoph Palme
Inhalt Einführung - Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
A. Umweltpolitik als internationale und europäische Aufgabe
18 18
I. Umweltschutz kennt keine Grenzen .. II. Mögliche Handlungsebenen
19
III. Interdependenzen . . . . . . .
19
B. Nationale Umweltpolitik in der EG
23
I. Umweltpolitik im Rahmen der Art. 130r ff. EWG-V
23
1. Kompetenzen der EG . . .
23
a) Art. 130s .. .. ... . .
24
aa) Der Umweltbegriff
24
bb) Räumlicher Geltungsbereich
26
cc) Ziele I Grundsätze . .
27
dd) Subsidiaritätsprinzip
........ . .
b) Abgrenzung zu Art. 100 und Art. 100a, b
27 31
aa) Das Problem . .
32
bb) Lösungsansätze
33
cc) Binnenmarktbegriff
34
dd) Produktionsnormen
38
ee) Abgrenzungsformel
42
ff) Umweltfinale Regelungen ... . .
43
2. Spielräume der Mitgliedstaaten .... . .
44
a) Bei Fehlen von sekundärem Gemeinschaftsrecht
44
b) Bei Vorliegen von sekundärem Gemeinschaftsrecht . .
45
II. Umweltpolitik im Rahmen des Art. lOOa EWG-V
48
1. Kompetenz der EG . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
10
Inhalt
48
2. Spielräume der Mitgliedstaaten a) Vor Harmohisierung .
48
b) Nach Harmonisierung
53
55
III. Umweltpolitik im Rahmen des Art. 100 EWG-V
1. Kompetenz der EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
2. Spielräume der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
a) Vor Harmonisierung .
56
b) Nach Harmonisierung
56 56
IV. Umweltpolitik im Rahmen der Außenkompetenzen
1. Art. 130r V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
a) Abschlußkompetenz der EG . . . . . . . . . ..
57
b) Abschlußkompetenz der Mitgliedstaaten . .... . .. .
58 60
2. Art. 113 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abschlußkompetenzen der EG
60
b) Abschlußkompetenzen der Mitgliedstaaten
62 64
V. Umweltpolitik innerhalb anderer Politkbereiche 1. Querschnittscharakter der Umweltpolitik
64
2. Verkehrspolitik
65
3. Landwirtschaft
68
4. Regional- I Strukturpolitik
70
5. Steuern . . . . . . .. . . . .
71
6. Freier Dienstleistungsverkehr . . . . . . . . . . . .. .. .
72
7. Gentechnik
76
8. Arbeitsumwelt
. . . .. . . . . . . . . . . .
76
.
9. Subventionen .
76
IO..Kemtechnik ..
76
C. Der nationale Alleingang nach Art. lOOa IV
78
I. Auslegungsmethoden im Europarecht (Exkurs)
78
1. Konventionelle Methoden
78
. . . . . . . . . . ..... . . . . . .
78
b) Sekundärrecht . .. . ... ... . . . . . . . .. . . . .... . .. .
79
a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt c) Primärrecht
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Spezifisch europarechtliche Methoden . . . . .
11
79 80
a) Die Dynamik des EG-Rechts . . . . .
80
aa) Ständige Aktualisierung . . . . . .
81
bb) Förderung der Integration . . . . .
81
cc) Berücksichtigung ,.späterer Praxis"
82
.. . . .. . . . . . . .
82
(2) Art. 31 III b) WVRK . . . . . . . .
83
(3) Übertragung von Völkerrecht auf die EG . . . . . .
84
(1) Die Methode
(4) ,.Spätere Praxis" in der Gemeinschaft . . . . . . . . b) Andere Auslegungsgrundsätze
87 90
3 . Zur Behandlung von Erklärungen und Vorbehalten der Mitgliedstaaten in der Schlußakte . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
a) Bedeutung für die Auslegung des Art. 1OOa IV . . . . . . . . . . .
91
b) Übertragung völkerrechtlicher Grundsätze auf die Gemeinschaft
92
aa) Abgabe durch Gemeinschaftsorgan . . . . . . . . . . . bb) Verfahrensakzessorietät
. . .
93 93
cc) Veröffentlichung
94
dd) Integrationskonformität ...
94
4. EG-Recht als politisches Recht ..
95
Il. Handlungsspielraum im Ralunen des Art. 100a IV .. .. . . . .. .
96
I. Anwendungsbereich des Art. lOOa IV . . ... ... .. .. .
96
a) In Betracht kommende Harmonisierungsmaßnahmen
96
b) Wirksamkeit der Maßnahme
97
c) Tatbestand des Art. IOOa I .
99
d) Zeitlicher Geltungsbereich .
99
e) Weiterentwicklung harmonisierter Vorschriften - . . . . . . . .
102
f) Durchführung von Harmonisierungsmaßnahrnen
105
g) Gleichwertigkeitserklärung . . . . . . . . . . . . .
106
h)
Im Hinblick auf den ,.Luxemburger Kompromiß"
107
aa) Rechtsnatur der Vereinbarung . . . . . . . . .
108
bb) Aufgabe des Luxemburger Kompromisses . .
108
cc) Rückschlüsse auf die Anwendung des Abs. 4
109
12
Inhalt (1) Einstimmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
110
(2) Zustinunung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
111
(3) Enthaltung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
i) Im Hinblick auf Art. lOOa V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .
114
k) Handelsverträge gern. Art. 113 .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
2. Unter Art. 100a IV fallende Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116
a) Standardfestsetzung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116
b) Steuerliche Förderung .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117
aa) Aushöhlung der EG-Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117
bb) Verstoß gegen Art. 95 .......... . . . ........ . . .. .
118
cc) Verstoß gegen Art. 92 I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
122
3. ,,Anwenden" i.S.v. Art. 100a IV ... ... . . . . . . . . . . . . . . . . . .
124
a) Die Fragestellung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .
124
. . ........... . . . ......... . . . .
126
aa) Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
126
bb) Englisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .
126
cc) Französisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
b) Wörtliche Auslegung
dd) Resurne . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
c) Systematische Interpretation . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. .
128
aa) Rückschlüsse aus Art. 100a Ill . ..... . .. . ... . ... . . .
128
bb) Bedeutung des Art. 100a V
129
cc) Bedeutung des Art. lOOb II
.. .......... .. ... . . .. .
130
dd) Bedeutung des Art. 130r II 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
130
ee) Der Grundsatz des bestmöglichen Umweltschutzes . . . . . . . .
132
(1) Herleitung .. . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .
132
(2) Modifikation im Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
132
(3) Stellenwert bei Abs. 4
.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
ff) Der Grundsatz der engen Auslegung souveränitätsbeschränkender Normen . ... . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . .
135
(1) Geltung im Völkerrecht . . . . . . .. .. . . . . . . . . . .. . .
135
(2) Modifikation im Europarecht
.. . ... . . . . . . . . . . .. .
136
gg) Bedeutung des Art. 130t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
136
(1) Wortlaut: ..ergreifen"
136
13
Inhalt (2) Das juristische Umfeld von Art. 130t und Art. 100a IV (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . .
.. . . . .
137 139
hh) Rückschlüsse aus Art. 118a III . . . . .
140
ii) Abs. 4 als Ersatz für den Luxemburger Kompromiß . . . . . . .
140
d) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
aa) Vertragsziel ,,Binnenmarkt" ..... .
141
(1) Rechtslage vor der EEA .... .
141
(2) Jetzige Rechtslage . ... . .... .
142
bb) Konsequenzen für die Auslegung des Abs. 4 . . . . . . .
147
(1) Die Struktur des Art. 100a . . . . . . . . . . . . . . . .
147
(2) Das politisch-rechtliche Umfeld des Angleichungsprozesses
148
(3) Die Funktion des Abs. 4 . . . . . . . . . . . . . .
149
(4) Abs. 4 als Ausnahmevorschrift?
151
e) Vereinbarkeil mit dem Gebot der integrationsfreundlichen Auslegung
151
aa) Ausrichtung des Binnenmarkts am Ziel der Integration
152
bb) Grundprobleme des Integrationsprozesses
152
cc) Verschiedene Integrationskonzepte
153
. . . .
dd) Art. 1OOa IV im Rahmen des Abstufungskonzeptes
155
4. Inhaltliche Voraussetzungen .....
156
a) Umweltbelange als Schutzgut
156
b) Bindung der Mitgliedstaaten .
156
c) Grundsätzliche Übernahme der Rechtsprechung zu Art 30/36
157
d) Bestimmung des Schutzniveaus .. .... .
159
e) Fehlen des wissenschaftlichen Nachweises
160
f) Verhältnismäßigkeitskontrolle . . . . . . . .
161
g) Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . .
163
5. Verfahrensrechtliche Fragen . . . . . . . .
164
a) Mitteilung . . . . . . . .. . . . . . . . .
164
aa) Mitteilungszeitpunkt
164
bb) Folgen unterbliebener Mitteilung
165
b) Bestätigung durch die Kommission
165
aa) Zeitraum .. . .
165
bb) Prüfungsumfang
166
14
Inhalt
167
cc) Widerruf . . . . . . . .
6. Zeitpunkt der Anwendbarkeit
168
a) In Betracht kommende Möglichkeiten ... .. .. .
168
b) Rückschlüsse aus dem Wortlaut des Abs. 4 UA 1
169
c) Rückschlüsse aus dem Wortlaut des Abs. 4 UA 3
170
d) Die Kontrollfunktion des Prüfverfahrens
170
e) Vergleich mit Art. 93 ll, lli
171
.......
f) Vergleich mit Art. 225 . . .
7. Rechtsschutz
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . .
172
173
a) Der ausscherende Mitgliedstaat . . . . . .
174
b) Die Kommission.
174
. . . .......... .
c) Andere Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . .. .. .
175
d) Belroffene Unternehmen
175
D. Ausblick: Das Umweltargument im Welthandel
176
Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
179
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
Einführung Durch die Einheitliche Europäische Akte vom 1. Juli 1987 wurde erstmals eine Europäische Umweltpolitik explizit im Rahmen des EWG-Vertrages normiert. Die Vorschriften der Art. 130r ff., aber auch der neue Art. 1OOa sind das konkrete Ergebnis dieser Entwicklung. Normierung und Anwendung dieser l)euen Regeln lassen jedoch schon neue Konfliktfelder am Horizont erscheinen: Was darf in Zukunft die EG tun? Was dürfen (noch) die Mitgliedstaaten? Hier scheint sich ein Spannungsfeld zu entwickeln, das seiner Struktur nach nicht neu ist - die Frage der Kompetenzverteilung in der Gemeinschaft. Die aktuelle Diskussion über das Subsidiaritätsprinzip im Rahmen der Regierungskonferenzen zur Wirtschafts- und Währungsunion und zur Politischen Union zeigt jedoch, daß es hier um ein Kernproblem der Europäischen Integration geht. Die folgende Arbeit will sich mit einem Brennpunkt dieses Konflikts, nämlich der Verteilung der neu durch die EEA eingeführten Umweltkompetenzen auf die EG und die Mitgliedstaaten, befassen. Gerade in der Umweltpolitik zeichnet sich für die Bundesrepublik Deutschland neben dem klassischen Kompetenzproblem eher formaler Art ein zusätzlicher Konflikt mit der EG ab: Die Europäische Gemeinschaft scheint mit zunehmender Integration eine wirksame deutsche Umweltpolitik auf hohem Niveau zu behindern. Beispiele hierzu lassen sich in letzter Zeit etwa wie folgt anführen: der Kampf um die Abgasnormen im Rahmen der Einführung des Katalysatorautos, die Zulassung eines PCP-halligen Holzschutzmittels, das in Deutschland schon seit 1987 verboten ist. Aber auch der Streit um das Reinheitsgebot beim Bier und um deutsche Grenzkontrollen britischen Rindfleisches zeigt den Grundkonflikt auf, der sich hier manifestiert: Es ist der Widerstreit zwischen einem Binnenmarkt ohne Grenzen und einer wirksamen Umweltpolitik. Der Binnenmarkt erfordert möglichst gleiche Rechtsvorschriften in der ganzen Gemeinschaft, insbesondere für Umweltnormen. Dies zieht jedoch die Notwendigkeit einer Einigung aller Mitgliedstaaten nach sich. Naturgemäß bleibt dabei das umweltpolitisch relativ hoch entwickelte Deutschland auf der Strecke und muß sich mit vergleichsweise wenig effizienten Beschlüssen abfinden. So wird der Binnenmarktprozeß auch von manchem Umweltpolitiker mit Skepsis betrachtet. Es wäre jedoch der falsche Weg, "das Kind mit dem Bade auszuschütten" und die Wirtschaftsintegration Europas abzulehnen. Denn dies hätte mit gro-
16
Einführung
ßer Sicherheit das Ende der Europairlee überhaupt zur Folge. Schließlich war es nicht zuletzt der Binnenmarkt, der den gerade stattfindenden weiteren Integrationsschub der EG zur Wirtschafts- und Währungsunion sowie zur Politischen Union auslöste. Eine Blockade diese Prozesses kann niemand ernsthaft wollen, schon gar nicht zum jetzigen Zeitpunkt, wo sich die Ideale des freien Europa auch im Osten durchzusetzen beginnen. Die Lösung des Spannungsfeldes Binnenmarkt - Umwelt kann daher nur mit Europa, nicht gegen Europa gefunden werden. Die EG muß sich daher zur Umweltgemeinschaft weiterentwickeln. Sie muß zu einer Harmonisierung von Ökologie und Ökonomie finden. Dazu bietet sie auch eine einzigartige Chance, denn das Zusammenspiel verschiedener, mit Normsetzungsbefugnissen ausgestatteter Ebenen kann zum Vorteil des europäischen Umweltschutzes optimiert werden. Das Prinzip dabei ist einfach: es ist mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß Umwelttechnologie Zukunftstechnologie und damit von größter wirtschaftlicher Bedeutung sein wird. Wenn daher ein Mitgliedstaat schärfere Umweltstandards als die EG festlegt, werden die anderen Länder schon aus wirtschaftlichen Gründen so schnell wie möglich versuchen, auch diese Normen für ihre Unternehmen verbindlich festzuschreiben, um auf dem Zukunftsmarkt der Umwelttechnologie mit dabei zu sein. Dies zieht unweigerlich eine Erhöhung der Umweltstandards auch auf EG-Ebene nach sich. So können sich die verschiedenen nationalen und die gemeinschaftliche Umweltpolitik ergänzen. Die Einheitliche Europäische Akte mit den Artikeln 130t und lOOa IV bietet die rechtliche Grundlage für ein solches Vorgehen. Sie war ein Schritt in die richtige Richtung - der Binnenmarkt wird ökologisch-qualitativ in die Pflicht genommen.
Gang der Darstellung Die Arbeit beschäftigt sich mit dem Spielraum der Mitgliedstaaten im Rahmen des Handlungssystems der ,.Europäischen Umweltgemeinschaft" . Dreh- und Angelpunkt ist dabei die genaue Analyse des durch die Akte neu eingefügten Art. lOOa IV mitsamt seinem Umfeld. Zuerst werden die umweltpolitischen Rahmenbedingungen und Grundkonflikte in der EG und generell in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen skizziert (Abschnitt A.). Danach erfolgt eine Zusammenstellung des Handlungssystems europäischer Umweltpolitik, in das Art. lOOa IV eingebettet ist (Abschpitt B.), jeweils aufgeschlüsselt nach EG-Kompetenzen und nationalen Spielräumen, diese wiederum unterteilt in die Situation vor und nach Inanspruchnahme einer Kompetenz durch die Gemeinschaft. Der Schwerpunkt
Einführung
17
liegt dabei in einer Analyse der umweltpolitisch besonders relevanten Art. I OOa und Art. 130s. Nach der Klärung des juristischen Umfeldes kann die Interpretation des Art. IOOa IV beginnen (Abschnitt C). Hierbei tauchen in zentralen Punkten immer wieder spezifisch europarechtliche Auslegungsprobleme auf. Im ersten Abschnitt (I) erfolgt daher die Aufbereitung und Weiterentwicklung dieser Auslegungsmethoden. Dieser ,,Exkurs" ist auch deshalb notwendig, weil der Autor versucht, die tatsächliche Weiterentwicklung der EG zur Umweltgemeinschaft juristisch-dogmatisch abzusichern und nicht nur "aus der Luft zu greifen". Eine besondere Auseinandersetzung findet dabei mit der Dynamik des EG-Rechts und den Erklärungen zur Einheitlichen Europäischen Akte statt. Als Kern der Arbeit kann jetzt die Auslotung des durch Art. 1OOa IV gewährten Handlungsspielraums erfolgen (Abschnitt II). Dabei muß zuerst der Anwendungsbereich der Norm abgesteckt werden (Kap. 1, 2), bevor der Frage nachgegangen wird, ob die Vorschrift auch die Einführung neuer Maßnahmen deckt (Kap. 3). Schließlich sind die inhaltlichen (Kap. 4) und die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen (Kap. 5), der Zeitpunkt der Anwendbarkeit (Kap. 6) sowie Fragen des Rechtsschutzes (Kap. 7) zu klären. "Innere Mitte" der Arbeit soll aber neben der dogmatischen Aufbereitung der verschiedenen Facetten umweltpolitischer Handlungsspielräume der Versuch sein, die Normen des EWG-V neu in einem umweltpolitischen, aber rechtsdogmatisch abgesicherten Licht zu interpretieren. Auf die gesamte Arbeit bezogen sei noch angemerkt, daß es nicht Ziel des Verfassers war, im Europarecht Bekanntes und Eingeführtes noch einmal breit darzustellen. Insoweit wird, soweit es nicht für das Verständnis der Gedankengänge von Bedeutung ist, auf die bereits existierende Literatur verwiesen. Vielmehr ist es der Anspruch der Arbeit, auf knappem Raum sich auf die spezifisch neuen Herausforderungen im Bereich der europäischen Umweltpolitik und des europäischen Umweltrechts zu konzentrieren.
2 Palme
A. Umweltpolitik als internationale und europäische Aufgabe I. Umweltschutz kennt keine Grenzen In den 80er Jahren wurde es allen klar vor Augen geführt - die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen sind nur noch durch internationale Kooperation zu retten: - Was nutzt Westeuropa ein hoher Sicherheitsstandard in der Kernenergie, wenn die Reaktoren der GUS oder anderer ehemaliger Ostblockstaaten gefährliche Sicherheitsmängel aufweisen? - Das Waldsterben in Mitteleuropa wird jeweils durch 50% Import-Schadstoffe verursacht. - Das Seensterben in Skandinavien ist auf die Schadstoffemissionen der Britischen Inseln zurückzuführen. - Das gleiche gilt für Kanada im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten: der US-amerikanische "acid rain" verursacht schwere Schäden an den kanadischen Wäldern. - Das Abholzen der Regenwälder findet zwar nur in den Tropenländern statt. Die fatalen Folgen - Klimakatastrophe, Überschwemmung von Küstengebieten aufgrund des Abschmelzens der Polkappen - aber treffen uns alle 1• - Der Treibhauseffekt wird maßgeblich durch C02-Produktion verursacht. Kohlendioxid wiederum wird in allen Staaten der Erde freigesetzt. - Auch die weitere Vergrößerung des Ozonlochs kann nur verhindert werden, wenn weltweit die FCKW-Produktion verboten wird 2 • Diese Liste könnte endlos fortgesetzt werden, man betrachte nur den Giftmülltourismus, den (normalen) Tourismus, wenn exzessiv betrieben, den Chemieunfall bei Sandoz, den Schutz der Antarktis3 , den Artenschutz4 , etc.
1 Zur Internationalität des Phänomens Kloepfer, Umweltrecht, § 6 m.w.N.; Staatsministerium Baden-Württemberg, Baden-Württemberg im Europäischen Binnenmarkt 1992, S. 115 ff.
Hierzu und generell zu Problemstellungen lUld LösungsariSätzen im Rahmen einer international angelegten Umweltpolitik vgl. von Weizsäcker, Erdpolitik. 2
3
Hierzu Lagoni, Antarktis, S. 102 ff.
III. Interdependenzen
19
Ein wirksamer Umweltschutz ist daher nur noch durch internationales Handeln möglich. Daher befassen sich auch Internationale Organisationen zunehmend mit UmweltpolitiJa/b relevant88 • aa) Das Problem
Diese Normen dienen der Erreichung eines durch die EEA neu aufgenommenen Ziels, nämlich der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes als ein Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist (Art. 8a). Soweit die Rechtsangleichung Materien betrifft, die nichts mit Umweltschutz zu tun haben, ist die Abgrenzung unproblematisch: Art. 100a I ist die richtige Rechtsgrundlage. Schwierig wird die Bestimmung des Verhältnisses zu Art. 130s jedoch in den Bereichen, in denen die Umweltpolitik mitspielt89 , etwa wenn im Rahmen der Harmonisierung von technischen Vorschriften 90 Umweltstandards angeglichen werden. In diesen Bereichen ist beides tangiert: der Freihandel in einem Markt ohne Binnengrenzen und die Gestaltung der Umweltpolilik.
84 So ausdrücklich der EuGH für den Gesundheitsschutz im Horrnonurteil, Rs. 68/ 86, Slg. 1988, S. 855 ff.; bzw. im Legehennenurteil, Rs. 131/86, EuR 1988, S. 294 ff. Für den Umweltschutz dürfte insoweit nichts anderes gelten.
as Dies ist nur konsequent, da Art. 100a in weiten Bereichen Art. 100 ersetzt. So auch BarenJs, Hormones, S. 1 ff., 2, Nr. 2; Vorwerk, Umweltpolitische Kompetenzen, S. 71. 86 Auch dies folgt aus der Systematik des EWG-Vertrages, insbesondere aber aus Art. 130r II 2, denn diese Norm häue sonst keinen Sinn. Allerdings tauchen auch hier Abgrenzungsprobleme auf; vgl. hierzu Vorwerk, Umweltpolitische Kompetenzen, s. 90 ff.
87 Zu den Abgrenzungsproblemen Vorwerk, Umweltpolitische Kompetenzen, S. 69 ff., 90 ff. 88 Aktuellstes Beispiel: Rs. 300/89, Klage der Kommission gegen den Rat wegen RL 89 I 428, ABI. 1989 C 288, S. 8 ff. (fitandioxid); inzwischen vom EuGH entschieden, abgedruckt in EuZW 1991, S. 473.
89
Oppermann, Europarecht, Rn. 2025; Grabitz, in: ders., Komm., Art. 130s Rn. 19
ff. 90 Hierzu: Viertes Trierer Kolloquium zum Umwelt- und Technikrecht, UPR 1989, S. 60 f.
I. Umweltpolitik im Rahmen der Art. 130r ff. EWG-V
33
bb) Lösungsansätze
Hier müssen Kriterien für das Verhältnis von Art. 130s und Art. lOOa gefunden werden91 • Es muß klar sein, wann welche Rechtsgrundlage zu wählen ist92• Eine Lösung wäre, alles, was mit Umwelt zu tun hat, unter Art. 130s zu fassen, selbst wenn die Schaffung des Binnenmarktes tangiert ist, da die Umweltpolitik eben dort geregelt wurde93 • Diese Auffassung aber ist abzulehnen. Denn aus Art. lOOa III und IV ergibt sich, daß auch im Rahmen der Schaffung des Binnenmarktes Gesichtspunkte der Umweltpolitik zu berücksichtigen sind. Art. 130r II 2 statuiert, daß die Umweltpolitik Bestandteil der anderen Politiken und damit auch der Vollendung des Binnenmarktes sein soll. Außerdem würde die beschleunigte Vollendung des Binnenmarktes nicht erreicht, wenn in allen Bereichen mit Umweltbezug auf Art. 130s mit seiner grundsätzlichen Pflicht zur Einstimmigkeit zurückgegriffen werden müßte. Angleichungsmaßnahmen mit Umweltbezug verbleiben daher im Regclungsregime des Art. lOOa. Art. lOOa ist daher im Verhältnis zu Art. 130r als Bereichsausnahme, mithin als Iex specialis anzusehen94 • Nur diese Auslegung wird der Systematik der durch die EEA neu eingefügten Bestimmungen gerecht. Soweit Umweltregelungen also den Binnenmarkt i.S.v. Art. 8a betreffen, fallen sie unter Art. IOOa I. Andere Umweltregelungen werden von Art. 130s umfaßt, soweit keine andere Spezialregel (etwa Art. 43) vorgeht.
91 Hierzu neuerdings Jarass, Binnenmarktrichtlinien, S. 530 ff.; vgl. auch da~ Titandioxidurteil (EuZW 1991, S. 473), worin der EuGH eine Abgrenzung zwischen Art. 130s und Art. lOOa vornimmt; vgl. auch Krämer, in: von der Groeben i Thiesingl Ehlermann, Vorb. zu Art. 130r-t Rn. 82 ff. 92 Auch für die Frage nationaler Alleingänge ist dies von fundamentaler Bedeutung, denn im einen Fall wäre Art. 130t einschlägig, im anderen Art. lOOa IV ; vgl. auch Jarass, Binnenmarktrichtlinien, S. 530.
93 Diesen Lösungsweg stellen etwa RoelanJs du Vivier I Hannequart (Nouvelle strategie, S. 229) als eine Möglichkeit dar - freilich ohne sich dann dafür zu entscheiden. 94 Oppermann, Europarecht, Rn. 2025; Scheuing, Umweltschutz, S. 186; Roelants du Vivier I Hannequart, Nouvelle Strategie, S. 229; auch Zuleeg (Vorbehaltene Kompetenzen, S. 280) scheint von einer Spezialität des Art. 100a auszugehen; ebenso Grabitz I Zacker, Neue Umweltkompetenzen, S. 302; Lietzmann, Einheitliche Europäische Akte, S. 178 f.; Langeheine, in: Grabitz, Komm., Art. lOOa Rn. 94; MüllerGraff, Rechtsangleichung, S. 132; Hailbronner, Nationaler Alleingang (II), S. 104.
3 Palme
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B. Nationale Umweltpolitik in der EG cc) Binnenmarktbegriff
Um eine klare Grenze zwischen Art. 130s und Art. IOOa ziehen zu können, muß der Bereich des "Binnenmarktes" genau abgesteckt werden. Denn nur für diesen Bereich gehen Vorschriften mit Umweltbezug dem Art. 130s vor. Dies versäumte der Gerichtshof in seiner "Titandioxidentscheidung"95 , in der er eine Abgrenzung zwischen Art. 130s und Art. lOOa vomahm 96 • Die Frage der Reichweite des "Binnenmarktes" kann sinnvoll nur im Vergleich mit dem bisher im EWG-Vertrag verwendeten Begriff des "Gemeinsamen Marktes" beantwortet werden. Denn letztlich dreht sich alles darum, ob der "Binnenmarkt", verglichen mit dem "Gemeinsamen Markt97", ein Plus, ein Minus oder dasselbe darstellt. Der Begriff des "Gemeinsamen Marktes" wurde vom EuGH folgendermaßen definien: er umfaßt "die Beseitigung aller Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel mit dem Ziel der Verschmelzung der nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt, dessen Bedingungen denjenigen eines wirklichen Binnenmarktes möglichst nahe kommen98". Der "Binnenmarkt" hingegen umfaßt laut Art. 8a "einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist." Aus dem direkten Vergleich der beiden Definitionen ließe sich der Schluß ziehen, der "Binnenmarkt" sei mehr als der Gemeinsame Markt99 , denn laut Definition des EuGH kommt der "Gemeinsame Markt" dem "Binnenmarkt" nur möglichst nahe100 • Es fehh dem "Gemeinsamen Markt" also noch etwas zum "Binnenmarkt". Dieser Schluß ist aber unzutreffend. Als der EuGH diese Formel entwickelte, konnte er noch nichts von dem in der Einheitlichen Europäischen Akte verwendeten Begriff des "Binnenmarktes" wissen. Umgekehrt wollte auch die EEA nicht den Binnenmarktbegriff des EuGH aufgreifen. Vielmehr handelt es sich hier um zwei eigenständige Begriffe, für die
Rs. C-300/89, EuZW 1991, S. 473.
9s
Vgl. hierzu auch Jarass, Binnenmarktrichtlinien; Everling, Urteilsanmerkung, EuR 1991, S. 179 ff. Everling hält eine klare begriffliche Definition des Binnenmarktes für die Abgrenzung jedoch für entbehrlich. 96
97
Grundsätzlich zum Gemeinsamen Markt lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht,
s. 550. 98
Eu~H Rs. 15/81 (Gaston-Schul), Slg. 1982, S. 1409 (1431 f.).
99
So offenbar Pernice, Auswirkungen, S. 204 f.
100
So Dauses, Dimension, S. 10.
I. Umweltpolitik im Rahmen der Art. 130r ff. EWG-V
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unglücklicherweise das gleiche Wort gewählt wurde. Damit aber ist klar: der "Binnenmarkt" nach der Einheitlichen Europäischen Akte ist jedenfalls in seinem Umfang nicht mehr als der "Gemeinsame Markt". Damit bleiben noch die Möglichkeiten übrig, daß er entweder gleichviel oder weniger als der "Gemeinsame Markt" darstellt. Er könnte - zumindest im großen und ganzen - identisch mit dem "Gemeinsamen Markt" sein 101 und sich von ihm lediglich durch eine höhere Integrationsintensität und eine Beschleunigungsfunktion unterscheiden 102. Hierfür ließen sich folgende Argumente anführen: Für einen umfassenderen Ansatz als die bloße Aufhebung der Binnengrenzen spricht schon der Wortlaut des Art. 8a II, der von einem Raum ohne Binnengrenzen "gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages" spreche103 • Damit sind alle Bestimmungen des EWG-Vertrages gemeint, die schon den "Gemeinsamen Markt" zum Ziel hatten. Neben dem Abbau der Binnengrenzen umfaßt dies auch generell die Herstellung eines Gemeinsamen Wirtschaftsraumes mit unverfälschtem Wettbewerb, gleichen Wettbewerbsbedingungen, Steuerharmonisierung, gleicher Finanz- und Wirtschaftspolitik etc. Zudem sei die isolierte Verfolgung eines oder weniger Ziele eines Einheitlichen Wirtschaftsraumes, konkret also die bloße Herstellung eines Raumes ohne Binnengrenzen, ohne die anderen damit zusammenhängenden Bereiche nicht sinnvoll. So setze etwa das in Art. 3f normierte Ziel der Errichtung eines Systems ohne Wettbewerbsverfälschungen die Herstellung der Grundfreiheiten voraus, lasse sich davon also nicht trennen 104 • Auch aus Art. lOOa II ergibt sich, daß der Binnenmarkt jedenfalls nicht weniger ist als der Gemeinsame Markt, denn würde er sich auf die Herstellung der Grundfreiheiten beschränken, wäre eine Ausklammerung der Steuern nicht erforderlich gewesen 105 •
Zur Problematik ausführlich Müller-Graf!, Rechtsangleichung, S. 122 ff.; Langeheine, in: Grabitz, Komm., Art. lOOa Rn. 23; ders., Rechtsangleichung, S. 239; Ever/ing, Funktion der Rechtsangleichung, S. 237; Scharrer, Einheitliche Europäische Akte, S. 112; de Ruyt, Acte Unique Europeen, S. 150; Grabitz, in: ders. , Komm., Art. 8a Rn. 3; G/aesner, Einheitliche Europäische Akte (li) S. 17; Zacker, Binnenmarkt, S. 489; Pieper, Einführung, S. 193; Vorwerk, Umweltpolitische Kompetenzen, S. 66 ff. m.w.N. 101
102
Grabitz, in: ders., Komm., Art. 8a Rn. 4.
Müller-Graf!, Rechtsangleichung, S. 123 f.; Vorwerk, Umweltpolitische Kompetenzen, S. 66. 103
104
Mü//er-Graff, ebd., S. 124.
105
Müller-Graf!, ebd., S. 124; Eh/ermann, Interna! Market, S. 370.
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B. Nationale Umweltpolitik in der EG
Gegen ein Begreifen des Binnenmarktes als enger als der Gemeinsame Markt spreche auch die Erklärung der Mitgliedstaaten zu Art. 8a, die sich ausdrücklich auf das Weißbuch der Kommission beziehe. Das Weißbuch aber habe einen umfassenderen Ansatz als die bloße Herstellung eines Raumes ohne Binnengrenzen1()6. Schließlich folge bereits aus dem Wortlaut des Art. 8a II, daß der Binnenmarkt mehr als nur ein Raum ohne Binnengrenzen sei, denn die Norm spricht von "Umfassen". Dies bedeutet "beinhalten", ohne anderes notwendig auszuschließenun. Alle diese Argumente wollen also nahelegen, daß der Binnenmarkt nicht mehr, aber auch nicht weniger als der Gemeinsame Markt darstelle, sondern vielmehr identisch mit ihm sei. Die vorgetragenen Argumente sind aber letztlich entweder nicht stichhaltig oder zumindest widerlegbar. Auszugehen für die Definition des Umfanges des Binnenmarktziels ist vom Wortlaut der dieses Ziel beschreibenden Norm. Hier fällt sofort auf, daß in Art. 8a bewußt ein neuer Begriff gewählt wurde: "Binnenmarkt" statt "Gemeinsamer Markt". Allein das indiziert schon, daß der Binnenmarkt nicht identisch mit dem Gemeinsamen Markt sein kann. Dieser "Binnenmarkt" wird daraufhin klar definiert: Er umfaßt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem die vier Grundfreiheiten gewährleistet werden sollen. Hieraus ergibt sich, daß sich das Binnenmarktziel auf nur einen Teil der Herstellung eines Gemeinsamen Marktes bzw. Wirtschaftsraumes bezieht, nämlich auf die Abschaffung der Binnengrenzen. Wenn nach dieser Spezifizierung die Formulierung "gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages" folgt, ändert das an dem o.a. Befund nichts. Denn wäre dem so, dann läge in dem gesamten Satz in .A.bs. 2 des Art. 8a ein Widerspruch in sich. Sinnvollerweise können mit den Bestimmungen "gemäß dieses Vertrages" nur die Bestimmungen gemeint sein, die die Vollendung des "Binnenmarktes" zum Ziele haben, also vor allem die Art. lOOa/b. Bestenfalls kann man in dieser Formulierung noch eine Klarstellung der bloßen Ergänzungsfunktion 108 des "Binnenmarktes" sehen: Er soll in Teilbereichen eine Beschleunigung bringen, ohne daß das umfassendere Ziel, die Herstellung eines Gemeinsamen Wirtschaftsraumes, vernachlässigt werden soll. Auf
106 Müller-Graff, ebd., S. 124 f.; ebenso Vorwerk, Umweltpolitische Kompetenzen, S. 65. 107
Müller-Graf!. ebd., S. 125.
108 Siehe zum Begriff Müller-Graff, ebd., S. 123; auch Ehlermann, Intemal Markct, S. 369 f.; Schwartz (Rechtsangleichung, S. 366) und Sedemundl Montag (Europäisches Gemeinschaftsrecht, NJW 1987, S. 546) messen dem Binnenmarkt Ergänzungsfunktion bei; vgl. auch Pernice, Auswirkungen, S. 204 f.
I. Umweltpolitik im Rahmen der Art. 130r ff. EWG-V
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keinen Fall aber läßt sich hieraus ableiten, daß der "Binnenmarkt" den gleichen Umfang wie der "Gemeinsame Markt" aufweist. Es ist ebensowenig zutreffend, daß sich die Herstellung des "Gemeinsamen Marktes" nicht in verschiedene Teilbereiche aufspalten ließe. Richtig ist zwar, daß alle Faktoren insoweit zusammenhängen, als sie Mosaiksteine eines herzustellenden Gemeinsamen Marktes sind. Dies schließt aber nicht aus, daß man Teilbereiche davon früher, andere erst später verwirklicht. Das ergibt sich schon aus dem evolutiven Charakter des europäischen Einigungsprozesses. Auch das oben genannte Argument mit Art. IOOa II ist nicht stichhaltig, da schon im Ansatz falsch. Denn für die Frage der Zielsetzung des Binnenmarktes kann Art. lOOa II nicht von Aussagekraft sein, da es sich bei ihr um keine Zielnorm im Sinne der Systematik des EWG-Vertrages handelt. Es geht hier allein um Abstimmungsregeln. Man wollte mit dieser Norm bestimmte, besonders sensible Bereiche auf jeden Fall von der Möglichkeit der Mehrheitsentscheidung ausschließen 109 . Dies ist der Sinn der Norm. Aber selbst wenn man dem Art. lOOa prinzipiell nicht die Möglichkeit abspricht, für die Definition einer Zielnorm von Aussagekraft zu sein, läßt sich aus dessen Analyse kaum ein bestimmter Inhalt des "Binnenmarktes" ableiten. Dies ergibt sich aus der Erwähnung der Bestimmungen über die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer, die weniger dem Gemeinsamen Markt als der Sozialpolitik zuzuordnen sind. Das angeführte Argument, welches mit dem Weißbuch der Kommission operiert, auf das sich der Binnenmarkt beziehe, ist ebenfalls nicht zwingend. Denn beziehen kann sich der Binnenmarkt genauso nur auf die einzelnen konkreten Maßnahmen im Anhang des Weißbuches. Dafür spricht, daß der Rest des Weißbuches kein klares Harmonisierungsprogramm, sondern nur allgemeine Thesen zur weiteren Strategie bei der Verwirklichung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes enthält. Die im Anhang aufgeführten Maßnahmen sind jedoch ganz überwiegend nur der Herstellung der Grundfreiheiten gewidmd 10• Die Behauptung schließlich, "umfassen" bedeute "beinhalten ohne notwendig auszuschließen", ist völlig unbewiesen. Vielmehr ist es sehr wohl möglich, daß die Formulierung "umfassen" nur das Beinhalten eines Teils eines Ganzen meint. Schließlich spricht die Tatsache, daß in Art. 8c sowohl der
109
Vgl. Langeheine, in: Grabilz, Komm., Art. lOOa Rn. 25 ff.
110
Vgl. die zusammenfassende Auflistung bei Müller-Graff, Rechtsangleichung,
S.ll3ff.
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B. Nationale Umweltpolitik in der EG
Begriff des Binnenmarktes als auch der des Gemeinsamen Marktes benutzt wird, gegen eine Identität der zwei Begriffe111 • Nach alledem ist festzuhalten: Der "Binnenmarkt" betrifft lediglich einen Teil des umfassenderen "Gemeinsamen Marktes"112, nämlich den Abbau der Binnengrenzen. Es soll freier Verkehr zwischen den Mitgliedstaaten herrschen. Dieses Teilziel soll beschleunigt erreicht werden 113 • Insofern läßt sich der Binnenmarkt als Ergänzung auf einem Teilgebiet des Gemeinsamen Marktes auffassen 114 • dd) Produktionsnormen
Für die Abgrenzung zu Art. l30s ergibt sich daraus: unter Art. IOOa fallen alle produktbezogenen Umweltnormenm, denn nur bei verschiedenen Standards für Waren und Produkte in den jeweiligen Mitgliedstaaten wird der Markt ohne Binnengrenzen - also die freie Zirkulation von Waren im Binnenmarkt - tangiert. Zu einem anderen Ergebnis kommt freilich der EuGH in seinem TitandioxidurteiL Er stellt lapidar fest: immer wenn in irgendeiner Weise die Wettbewerbsbedingungen tangiert sind, sei Art. lOOa die richtige Rechtsgrundlage. Er faßt daher auch andere als Produktnormen - hier Anlagennormen - unter Art. lOOa. Hier rächt sich das begrifflich unsaubere Vorgehen des EuGH. Hätte er den Binnenmarkt sauber definiert, so wäre eine klare Abgrenzung zu Art. 130s möglich gewesen. So aber muß sich der EuGH auf eine unklare Abgrenzungsformel zurückziehen, denn welche Norm der EG hat nicht - unmittelbar oder mittelbar - etwas mit Wettbewerb zu tun? Die EG verdankt ihre gesamte Existenz dem Streben nach einem Raum mit gleichen Wettbewerbsbedingungen. Ginge es nach dem Gerichtshof, so müßten in Zukunft praktisch alle Umweltrechtsakte der EG auf Art. lOOa gestützt werden, denn es ist kaum ein Fall denkbar, in dem eine Umweltmaßnahme nicht auch die Wettbewerbsbedingungen tangiert. Weite Bereiche des
111
So Zacker, Binnenmarkt, S. 89.
112
Forwood!Clough, Single European Act, S. 385; Zacker, Binnenmarkt, S. 490.
113
Ähnli~h Vorwerk, Umweltpolitische Kompetenzen, S. 67 .
114 Die Möglichkeit, den Binnenmarkt auf einen noch engeren Bereich, nämlich allein auf die Maßnahmen, die die Kommission in ihrem Weißbuch erwähnt hat, zu beschränken, erwähnt Vandermeersch, Single European Act, S. 418. Letztlich lehnt er dies allerdings als zu eng ab. 115 So· etwa Langeheine, in: Grabitz, Komm., Art. lOOa Rn. 94; einen Überblick über das produktbezogene Umweltsekundärrecht bietet Becker, Gestaltungsspielraum, S.Il9ff.
I. Umweltpolitik im Rahmen der Art. 130r ff. EWG-V
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bisher auf Art. 130s gestützten Europäischen Umweltrechts wären daher ginge es nach dem EuGH - als nichtig anzusehen, da sie nicht auf Art. IOOa gestützt wurden. Darunter fallen etwa so wichtige Nonnen wie die Richtlinie zur Begrenzung von Schadstoffemissionen bei Großfeuerungsanlagen116 oder die Richtlinie über die Anwendung genetisch veränderter Mikroorganismen in geschlossenen Systemen 117• Denn selbstverständlich haben beide Richtlinien auch den Zweck, gleiche Wettbewerbsbedingungen herzustellen. Der EuGH versucht seine Lösung mit dem Hinweis auf Art. 130r II 2 zu stützen, indem er sagt, die Umweltpolitik sei auch Bestandteil der anderen Politiken. Dies darf jedoch nicht so weit führen, daß sie nur noch Bestandteil anderer Politiken ist. Das extra durch die EEA eingeführte neue Kapitel über die Umwelt könnte man dann im Grunde streichen118 • Es ist daher daran festzuhalten, daß nur Produktnonnen unter Art. lOOa fallen. Andere Umweltnormen, die etwa Vorschriften für die Produktions- und Verfahrenstechniken regeln, sowie Anlagennonnen 119 betreffen hingegen nicht den Abbau der Binnengrenzen. Denn sie zielen auf ortsfeste Anlagen ab, welche als solche nicht an der Zirkulation der Waren teilnehmen 11!l. Sie unterfallen daher konsequenterweise nicht dem Binnenmarkt i.S.v. Art. 8a und damit auch nicht Art. 100a121 • Zwar können auch durch die Festsetzung unterschiedlicher Produktionsnormen teilweise sogar ganz erhebliche Wettbewerbsverzerrungen entstehen und dadurch ohne weiteres das Ziel des Einheitlichen Wirtschaftsraums gefährdet werden122• Dennoch kann dies allein nicht ausreichen, Produktions-, Verfahrens- und Anlagennormen unter Art. 1OOa zu fassen, wenn die Vorschrift sich ausdrücklich auf den Raum ohne Binnengrenzen beschränkt. Sachlich fallen diese Regelungen in den 116
ABI. L 1988, 336/1 ff.
117
ABI. L 1990,117/1 ff.
Vgl. auch die Ausführungen von Jarass und Everling zum Titandioxidurteil des EuGH. 118
119 Zum Problem Produktnormen und Produktionsnormen Reich, Schutzpolitik, S. 32; Krämer, Single European Act, S. 686; Vorwerk, Umweltpolitische Kompetenzen, S. 68 f.
Vgl. zur Abgrenzung von Produkt- und Produktionsnormen Becker, Gestaltungsspielraum, S. 29. 120
121 A.A. Müller-Graf!, Rechtsangleichung, S. 133; Krämer, Single European Act, S. 686; Pernice, Kompetenzordnung, S. 18; ders., UPR 1989, S. 60; vgl. auch Grabitz I Zacker, Neue Umweltkompetenzen, S. 301. 122 Auf dieses Argument stützen sich alle diejenigen, welche auch bei Anlagennormen den Art. 100a anwenden wollen: Müller-Graf!, Rechtsangleichung, S. 133; Pernice, Kompetenzordnung, S. 20 ff.
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B. Nationale Umweltpolitik in der EG
umfassenderen Gemeinsamen Markt, denn dieser enthält auch den unverf