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German Pages 34 [36] Year 1989
Kay Hailbronner Der nationale Alleingang im EG-Binnenmarkt
Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin Heft 116
w DE
G 1989
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Der nationale Alleingang im EG-Binnenmarkt
Von Kay Hailbronner
Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 17. Mai 1989
w DE
G 1989
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Dr. Kay
Hailbronner
Universitäts-Professor f ü r Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität K o n s t a n z
CIP-Titelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Hailbronner, Kay: Der nationale Alleingang im EG-Binnenmarkt : Vortrag, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 17. Mai 1989 / von Kay Hailbronner. - Berlin ; N e w York : de Gruyter, 1989 (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin ; H. 116) ISBN 3-11-012360-6 NE: Juristische Gesellschaft (Berlin, W e s t ) : Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e. V. Berlin
©
C o p y r i g h t 1989 by Walter de Gruyter 8c C o . , 1000 Berlin 30 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36 Buchbinderische Verarbeitung: Verlagsbuchbinderei Dieter Mikolai, Berlin 10
I. Die Dimension der Rechtsangleichung bei der Schaffung des Binnenmarkts Rechtsangleichung heißt das Zauberwort, mit dessen Hilfe der Gemeinsame Markt, der eigentlich schon vor 23 Jahren, nämlich zum 1.1.1970 hätte geschaffen werden sollen, inhaltlich weitgehend unverändert als Binnenmarkt bis Ende 1992 vollendet werden soll. Der Binnenmarkt wird in Art. 8 a1 als ein Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen des EWG-Vertrags gewährleistet ist, definiert. Mittels einheitlicher EG-Normen oder zumindest einer gegenseitigen Anerkennung der innerstaatlichen Standards soll direkten und indirekten Handelshemmnissen ein Ende bereitet werden. Mit der gemeinschaftseinheitlichen Regelung soll an die Stelle des nationalen ordre public im Bereich der Gesundheit, Verbraucherschutz, Umwelt usw. ein europäischer ordre public treten. Unter Berufung auf divergierende nationale Ordnungsvorstellungen soll nicht mehr länger der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr beschränkt werden können. In ihrem „Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes" 2 hat die Kommission eine Liste von 300 Rechtsangleichungsmaßnahmen angekündigt, die bis 1992 vom Rat angenommen werden sollen. Auch wenn diese Liste mittlerweile auf 279 Vorschläge geringfügig geschrumpft ist und der Rat bisher erst ca. ein Drittel der von der Kommission vorgelegten Vorschläge erlassen hat, 3 ist unverkennbar, daß mit dem Ziel der Vollendung des Binnenmarktes ein unaufhaltsamer Rechtsvereinheitlichungs-
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Art. 8 a: „Die Gemeinschaft trifft die erforderlichen Maßnahmen, um bis zum 31.12.1992 gemäß dem vorliegenden Artikel, den Artikeln 8 b, 8 c und 28, Artikel 57 Absatz 2, Artikel 59, Artikel 70 Absatz 1 und den Artikeln 84, 99, 100 a und 100 b unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrages den Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen. Der Binnenmarkt umfaßt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist." 2 K O M (85), 310 endg. v. 14.6.1985. 3 Zählt man die „gemeinsamen Standpunkte", die Phase des Kooperationsverfahrens, in dem davon ausgegangen werden kann, daß der Rat eine politische Einigung erzielt hat, hinzu, waren es bis November 1988 ca. 4 0 % (Bericht der Kommission über den Stand der Arbeiten gem. Art. 8 b EWGV v. 17.11.1988, K O M [88] 650 endg.); vgl. auch 3. Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über die Durchführung des Weißbuchs v. 23.3.1988, K O M (88) 134 endg.
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prozeß in G a n g gekommen ist. Voraussetzung hierfür war die mit der Einheitlichen Europäischen Akte eingeführte Mehrheitsentscheidung als Regelfall bei denjenigen Rechtsangleichungsmaßnahmen, die die Schaffung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben. Darunter fallen z. B. alle N o r m e n über die Zusammensetzung von Produkten, technische Spezifikationen, Verpackungsregeln oder Kennzeichnungsvorschriften. Erklärte Absicht der Vertragsstaaten war es, mit erleichterten Rechtsangleichungsverfahren die bisherigen Schwierigkeiten einer Kompromißfindung zu überwinden, die sich aus dem Einstimmigkeitsgebot für Rechtsangleichungsmaßnahmen nach Art. 100 4 und einer außervertraglichen Einstimmigkeitspraxis nach dem Luxemburger K o m promiß ergeben haben. Solange in der Praxis der gemeinschaftlichen Rechtssetzung das Einstimmigkeitserfordernis galt, konnten sich nationale Sonderinteressen in der Regel über ein Veto behaupten. Soweit mittels des Vetos eine Rechtssetzung verhindert wurde, blieb es den Mitgliedstaaten im allgemeinen unbenommen, ihre besonderen Ordrepublic-Konzepte weiterhin innerstaatlich durchzusetzen. A u s g e n o m m e n von der Möglichkeit einer Mehrheitsentscheidung sind freilich einige für die nationalen Belange besonders empfindliche Bereiche, wie etwa die Steuern, die Bestimmungen über die Freizügigkeit und die Bestimmungen über die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer. Auch in der Allgemeinen Erkärung der Mitgliedstaaten zu den Art. 13 bis 15 der Einheitlichen Europäischen A k t e k o m m e n diese Souveränitätsreserven zum Ausdruck, indem das Recht der Mitgliedstaaten bekräftigt wird, diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die sie zur Kontrolle der Einwanderung aus dritten Ländern sowie zur B e k ä m p f u n g von Terrorismus, Kriminalität, Drogenhandel und unerlaubtem Handel mit Kunstwerken und Antiquitäten für erforderlich halten. D e r „nationale Alleingang" bleibt demnach bei besonders wichtigen nationalen Interessen, zu denen auch die Einwanderungsgesetzgebung bezüglich der Angehörigen von Drittstaaten zu rechnen ist, weiter zulässig. 5 Daneben gilt das Einstimmigkeitserfordernis weiter, wenn Rechtsangleichungsmaßnahmen,
4 Art. 100: „Der Rat erläßt einstimmig auf Vorschlag der Kommission Richtlinien für die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken. Die Versammlung und der Wirtschafts- und Sozialausschuß werden zu den Richtlinien gehört, deren Durchführung in einem oder mehreren Mitgliedstaaten eine Änderung von gesetzlichen Vorschriften zur Folge hätte." 5 Vgl. dazu K. Hailbronner, Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Koordinierung des Einreise- und Asylrechts, 1989, 191 f.; EuGH v. 9.7.1987, Rs. 281/283/85, Bundesrepublik Deutschland u. a./Kommission.
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die sich u n m i t t e l b a r auf die E r r i c h t u n g o d e r das F u n k t i o n i e r e n
des
G e m e i n s a m e n M a r k t e s a u s w i r k e n , lediglich auf A r t . 100 g e s t ü t z t w e r d e n k ö n n e n , weil sie n i c h t im Sinne des A r t . 100 a A b s . I 6 die S c h a f f u n g u n d das F u n k t i o n i e r e n des B i n n e n m a r k t e s z u m G e g e n s t a n d h a b e n . E s b e s t e h t w e i t g e h e n d Einigkeit d a r ü b e r , d a ß u n t e r A r t . 100 a A b s . 1 jedenfalls die innerstaatlichen V o r s c h r i f t e n fallen, w e l c h e die H e r s t e l l u n g , d e n V e r t r i e b u n d die E i n f u h r v o n P r o d u k t e n b e t r e f f e n . 7 D a b e i geht die K o m m i s s i o n bei d e r H a r m o n i s i e r u n g d e r t e c h n i s c h e n V o r s c h r i f t e n u n d d e r N o r m u n g mit Z u s t i m m u n g des Rates seit M a i 1985 v o m G r u n d g e d a n k e n aus, d a ß sich d e r G e m e i n s c h a f t s g e s e t z g e b e r auf die Festlegung der wesentlichen
Erfordernisse beschränken
sollte.
Dazu
g e h ö r e n in d e r Regel G e s u n d h e i t u n d Sicherheit, u n t e r U m s t ä n d e n aber a u c h a n d e r e F u n k t i o n e n w i e U m w e l t - u n d V e r b r a u c h e r s c h u t z . Liegen die w e s e n t l i c h e n E r f o r d e r n i s s e fest, d a n n sollte die A u s f o r m u l i e r u n g
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der
Art. 100 a: „(1) Soweit in diesem Vertrag nichts anderes bestimmt ist, gilt in Abweichung von Artikel 100 für die Verwirklichung der Ziele des Artikels 8 a die nachstehende Regelung. Der Rat erläßt auf Vorschlag der Kommission, in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses mit qualifizierter Mehrheit die Maßnahmen zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben." (2) Absatz 1 gilt nicht für die Bestimmungen über die Steuern, die Bestimmungen über die Freizügigkeit und die Bestimmungen über die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer. (3) Die Kommission geht in ihren Vorschlägen nach Absatz 1 in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau aus. (4) Hält es ein Mitgliedstaat, wenn der Rat mit qualifizierter Mehrheit eine Harmonisierungsmaßnahme erlassen hat, für erforderlich, einzelstaatliche Bestimmungen anzuwenden, die durch wichtige Erfordernisse im Sinne des Artikels 36 oder in bezug auf den Schutz der Arbeitsumwelt oder den Umweltschutz gerechtfertigt sind, so teilt er diese Bestimmungen der Kommission mit. Die Kommission bestätigt die betreffenden Bestimmungen, nachdem sie sich vergewissert hat, daß sie kein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung und keine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. In Abweichung von dem Verfahren der Artikel 169 und 170 kann die Kommission oder ein Mitgliedstaat den Gerichtshof unmittelbar anrufen, wenn die Kommission oder der Staat der Auffassung ist, daß ein anderer Mitgliedstaat die in diesem Artikel vorgesehenen Befugnisse mißbraucht. (5) Die vorgenannten Harmonisierungsmaßnahmen sind in geeigneten Fällen mit einer Schutzklausel verbunden, die die Mitgliedstaaten ermächtigt, aus einem oder mehreren der in Artikel 36 genannten nichtwirtschaftlichen Gründen vorläufige Maßnahmen zu treffen, die einem gemeinschaftlichen Kontrollverfahren unterliegen. 7 Grabitz/Langeheine, EWG-Vertrag, Rdn. 19 zu Art. 100 a.
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Normen den Normeninstituten überlassen bleiben. Verzichtet wird damit auf eine übertriebene und zumeist zeitaufwendige Harmonisierung bei Detailregelungen. Zugleich mit der Verwirklichung der Richtlinien muß aber nach Auffassung der Kommission die Erarbeitung europäischer Normen in Angriff genommen werden. Eine zentrale Funktion kommt insoweit den europäischen Normungsinstituten C E N und CENELEC zu, die von der Gemeinschaft mit der Entwicklung einheitlicher Industrienormen beauftragt sind. Außerdem beabsichtigt die Kommission den Aufbau eines europäischen Systems für die gegenseitige Anerkennung von Zulassungsprüfungen und -bescheinigungen. Als Alternative zur Harmonisierung des nationalen Rechts hat die Kommission im Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes auch die stärkere gegenseitige Anerkennung nationaler Vorschriften verlangt. Diese Konzeption ist in einigen EG-Richtlinien in der Weise verwirklicht worden, daß in einem Gemeinschaftsverfahren auch solche Normen als Grundlage für die Konformitätsbescheinigung von Erzeugnissen anerkannt werden können. Uber die Bewertung dieses Verfahrens gibt es verschiedene Auffassungen. Die Bundesregierung favorisiert die Schaffung europäischer Normen und befürwortet daher eine Rechtsharmonisierung auf möglichst hohem Niveau. Eine gegenseitige Anerkennung könne andererseits bei nationalen Regelungen, die ausschließlich die Qualität, die Zusammensetzung oder Rezeptur von Erzeugnissen beträfen, in Betracht kommen. 8 . Unabhängig von gemeinschaftsrechtlich vorgeschriebenen Anerkennungsverfahren hat freilich der EuGH in seiner Rechtsprechung den Grundsatz entwickelt, daß Waren, die in einem Mitgliedstaat ordnungsgemäß hergestellt und vertrieben werden dürfen, in der gesamten Gemeinschaft verkehrsfähig sind, auch wenn in anderen Mitgliedstaaten andere technische Vorschriften gelten, sofern im Herstellerland berechtigten Schutzinteressen in vergleichbarer Weise Rechnung getragen worden ist. Auch ohne Rechtsangleichung sind daher nationale Schutzmaßnahmen gegenüber der Einfuhr und dem Vertrieb von Produkten aus anderen Mitgliedstaaten zur Durchsetzung des nationalen ordre public nicht mehr generell zulässig. Freilich handelt es sich dabei nach der Konzeption des Vertrages eher um eine Notlösung. Prinzipiell können die Mitgliedstaaten mangels einer Gemeinschaftsregelung auf der Grundlage von Art. 36 die Einfuhr von Waren z. B. aus Gründen des Gesundheitsschutzes, Umwelt- und Verbraucherschutzes beschränken. Die Rechtsangleichung bleibt daher ein zentrales Instrument zur Schaffung
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Vgl. BT-Drucks. 11/3139 v. 19.10.1988.
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eines europäischen Rechtsraums, in dem für die Teilnehmer am Wirtschaftsprozeß im Prinzip gleiche Bedingungen in der gesamten Gemeinschaft gelten. An den Wegfall wettbewerbsverzerrender unterschiedlicher nationaler Vorschriften, zunächst im technischen Bereich, später auch im steuerlichen Bereich knüpfen sich in der Gemeinschaft hohe Erwartungen. Der Cecchini-Bericht9 sieht in den unterschiedlichen innerstaatlichen Normen, die die Unternehmen dazu zwängen, spezifische Produkte für einzelne Märkte zu entwickeln und auszuarbeiten, erhebliche Kostenbelastungen und gravierende wirtschaftliche Nachteile europäischer Anbieter gegenüber japanischen und nordamerikanischen Konkurrenten. Die Kosten abweichender Normen für die Unternehmen, Behörden und Verbraucher werden auf 4,8 Mrd. E C U veranschlagt.
II. Konfliktfelder 1. Umweltschutz
- Das Beispiel der
Abgasemissionen
Mit der Perspektive einer europäischen Rechtsgemeinschaft, in der zukünftig Produkte nach einheitlichen Normen erzeugt und vertrieben werden können, verbindet sich aber nicht nur die Erwartung einer Steigerung des Bruttosozialprodukts und einer Kostenreduzierung als Folge des europäischen Wettbewerbs. In zunehmendem Maße wird gerade bei den nicht selten unter Zeitdruck zustandegekommenen Rechtsangleichungsmaßnahmen die bange Frage gestellt, welche Qualität eigentlich der europäische Rechtssetzungsprozeß aufweist und ob nicht eine Konkurrenz gemeinschaftlicher und nationaler Rechtssetzung, vielleicht sogar verbunden mit Abstrichen an den Zielen eines schrankenlosen Binnenmarktes der Wohlfahrt der Menschen in der Gemeinschaft besser dient. Nicht zufällig kristallisiert sich gerade im Umweltschutz und insbesondere in der Frage der Abgasemissionen die Diskussion um die Qualität und den Nutzen europäischer Rechtsvereinheitlichung. Nicht nur von den Grünen wird die provozierende Frage gestellt, ob in der Europäischen Gemeinschaft nicht allzu kurzsichtig das Ziel eines unbeschränkten Binnenmarktes verfolgt wird, ohne Rücksicht darauf, welchen Nutzen die Marktfreiheiten für die Menschen mit sich bringen. Werden wir in Zukunft auf den Straßen der Gemeinschaft freie Fahrt für den freien Bürger beanspruchen können - mit einer stets griffbereiten Gasmaske auf dem Nebensitz? Alle Schätzungen gehen von einer weiteren Steigerung
' P. Cecchini,
Europa 92 - Der Vorteil des Binnenmarkts, Baden-Baden 1988.
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des Kraftfahrzeugverkehrs als Folge der Vollendung des Binnenmarktes aus. Im Zuge der Liberalisierung des Güterverkehrs bis 1992 ist eine Steigerung der gemeinschaftsweit gültigen Genehmigungen für grenzüberschreitende Transporte um jährlich 40 % und nach 1992 der Wegfall sämtlicher Beschränkungen vorgesehen. Nach einem Beschluß der Verkehrsminister vom Juni 1988 sollen daher die Beförderungskontingente im Straßengüterverkehr vollständig abgeschafft werden 1 0 . Ein europäisches Konzept einer Reduzierung des schon jetzt teilweise kaum noch erträglichen Güterkraftverkehrs in den Ballungszentren der Mitgliedstaaten mit massiven Anreizen zur Verlagerung des Gütertransports auf die Schiene ist offensichtlich nicht einmal in Ansätzen in Sicht. Statt dessen bemüht sich die EG, zaghafte Bemühungen der Anrainerstaaten Osterreich und Schweiz um eine Beschränkung des Lkw-Schwerverkehrs mit massivem wirtschaftlichen Druck zu unterbinden. Alle Bemühungen innerhalb der EG sind - soweit ersichtlich - ausschließlich auf eine Liberalisierung des Transportwesens ausgerichtet. Eine effektive Reduktion der Abgaswerte bei L k w s ist angesichts der scharfen Wettbewerbssituation und übermächtiger nationaler Interessen in einigen Mitgliedstaaten auf EG-Ebene in weiter Ferne. Freilich scheint sich insofern der Rechtssetzungsprozeß innerhalb der Gemeinschaft nicht grundsätzlich von dem auf innerstaatlicher Ebene zu unterscheiden. Auch hier ist jahrzehntelang scheinbar unberührt von Langzeitfolgen eine Politik der ungehemmten wirtschaftlichen Ausbeutung der natürlichen Umwelt betrieben worden. Erst neuerdings mehren sich - nicht zuletzt als Folge veränderter Einstellungen in der Bevölkerung - die Anzeichen für eine verstärkte Berücksichtigung langfristiger Folgen technologischer Entscheidungen. Die Erkenntnis gewinnt an Boden, daß die Eingriffe, die Wissenschaft und Technik dem Menschen in die Umwelt vorzunehmen erlauben, diese Umwelt nachhaltig, großräumig und teilweise irreversibel zu verändern drohen. 11 Auch die zur Verwirklichung des Binnenmarktes beschlossenen Rechtsangleichungsmaßnahmen bergen - wenn auch nicht in allen Einzelmaßnahmen, so doch im zugrundeliegenden Gesamtkomplex einer möglichst umfassenden Regulierung und Vereinheitlichung - die Gefahren einer Vernachlässigung der Rechte künftiger Generationen in sich. Diese Gefahr ist um so größer, weil das einer allzu weitgehenden Liberalisierung entgegenstehende öffentliche Interesse an einer wirtschafts- und sozialpolitischen Steuerung des Marktablaufs bislang erst ansatzweise mit der
10 11
Vgl. K O M (88) 650 endg. P.Saladin/Cb.A. Zenger, Rechte künftiger Generationen, 1988, S. 16ff.
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Einheitlichen Europäischen Akte in die EG-Wirtschaftsverfassung einbezogen worden ist. Jedenfalls in der jetzigen Phase der Vollendung des Binnenmarktes gilt der Grundsatz der Verwirklichung der Marktfreiheiten, während die Mitgliedstaaten im Grundsatz nach wie vor befugt sind, ihre öffentlichen Interessen und Zielvorstellungen in Bereichen zu definieren, die kraft der Gemeinschaftskompetenz nur noch in begrenztem Maße ihrem Einfluß unterliegen. Bei dieser Ausgangslage stellt sich die Frage, ob der gemeinschaftliche Rechtssetzungsprozeß nicht nahezu zwangsläufig nur unvollkommen bleiben muß. Sicherlich sind auch die Regierungen der Mitgliedstaaten in der Lage, ihre Ordre-public-Vorstellungen, ihre grundsätzlichen wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele, ihre ethischen Leitlinien in eine europäische Rechtsangleichung einzubringen. Die Frage ist allerdings, ob angesichts der materiellen Vorgaben des EWG-Vertrages und seines institutionellen Systems die Chance ausreichend groß ist, daß sich die Allgemeininteressen auf europäischer Ebene und auf der Ebene der Mitgliedstaaten in ausreichendem Maße durchsetzen lassen, oder ob es hierzu der Einwirkung spezifisch nationaler Ordrepublic-Konzepte bedarf. Das Beispiel der Abgasemissionen für Pkw spricht prima facie dafür, daß auf den „nationalen Alleingang" auch im Rahmen der E G bislang nicht verzichtet werden kann. Freilich dürfen die nachfolgend erwähnten Bereiche, in denen einzelne Mitgliedstaaten sich für eine Absicherung ihrer innerstaatlichen Standards einsetzen, nicht darüber hinwegtäuschen, daß neben der Verteidigung höherer innerstaatlicher Umwelt- und Verbraucherstandards der Kampf der E G um die Durchsetzung gemeinschaftseinheitlicher Standards gerade auch gegenüber hochindustrialisierten Mitgliedstaaten eine wesentliche Bedeutung hat. 12 Die Kommission hat z. B. angekündigt, daß sie gegenüber der Bundesrepublik Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten wird, weil diese beständig gegen die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen über die Qualität des Trinkwassers bezüglich des zulässigen Nitratgehalts und anderer Schadstoffe verstößt. Nach einem Beschluß der Umweltminister der Länder müssen alle Pkw in der Bundesrepublik Deutschland ab 1991 mit einem geregelten Dreiwegekatalysator ausgerüstet sein. Notfalls will man dafür auch einen nationalen Alleingang riskieren, d. h. entgegen den Standards einer im Jahre 1988 verabschiedeten EG-Richtlinie Neuwagen nur dann zulassen, wenn sie über die EG-Vorschriften hinaus den verschärften technischen
12 Vgl. dazu 5. Jahresbericht der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts v. 3 . 1 0 . 1 9 8 8 , K O M (88) 425 endg., S.39.
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Anforderungen entsprechen, wie sie bereits seit einigen Jahren in den USA oder der Schweiz gelten. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich damit auf einen ähnlichen Konfliktkurs wie die Niederlande und Dänemark zum Gemeinschaftsrecht begeben. Die Niederlande haben beschlossen, die Einhaltung der US-Grenzwerte ab 1989 mit erheblich höheren Steuervergünstigungen zu prämieren als die Einhaltung der zunächst für 1992/1993 vorgesehenen Grenzwerte der EG. Entsprechende Maßnahmen waren auch in Dänemark geplant. Auch die Bundesrepublik Deutschland hat bereits mit der Smog-Verordnung nach Meinung der Kommission gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen. Nach der Smog-Verordnung dürfen bei Smogalarm nur noch Fahrzeuge am Verkehr teilnehmen, die mit einem geregelten Katalysator ausgerüstet sind, nicht aber solche, die nur den niedrigeren EG-Vorschriften entsprechen. Nach Meinung der EG-Kommission verstoßen beide Maßnahmen - steuerliche Anreize ebenso wie Fahrbeschränkungen jedweder Art - gegen das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Behinderung des freien Warenverkehrs. Beide Maßnahmen - auch die praktisch nur wenig bedeutsame Beschränkung der Nutzung von Fahrzeugen bei Smogalarm - sollen sich dahin auswirken, daß dem Gemeinschaftsrecht entsprechende Pkws, insbesondere aus Frankreich, Großbritannien und Italien in der Bundesrepublik Deutschland nicht frei abgesetzt werden könnten - weil sie nur den EG-Vorschriften entsprechen. Die Kommission hat daher zunächst Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland und die Niederlande wegen der geschilderten Maßnahmen eingeleitet, die mittlerweile zurückgezogen worden sind. Offensichtlich unter dem Druck eines „nationalen Alleingangs" haben sich die Umweltminister der EG überraschend im Juni 1989 auf neue Abgasnormen für Kleinwagen geeinigt. Danach müssen ab Ende 1992 sämtliche neuen Fahrzeuge Grenzwerte einhalten, die nach dem gegenwärtigen technischen Stand den Einbau eines geregelten Dreiwegekatalysators erfordern. Bereits vor diesem Termin dürfen mit Katalysator versehene Fahrzeuge steuerlich begünstigt werden. Diese Steuerbegünstigungen dürfen die durch den Einbau eines Katalysators bedingten Mehrkosten bis zu 85 % ausgleichen. Fahrzeuge ohne Katalysator dürfen bis zu den oben erwähnten Daten nicht von den einzelnen Märkten ausgeschlossen werden. 1 3 Es geht bei der Diskussion um den nationalen Alleingang nach der Einheitlichen Europäischen Akte freilich nicht nur um Abgasvorschriften
13
Neue Zürcher Zeitung v. 1 0 . / 1 1 . 6 . 1 9 8 9 , S.35.
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für Pkw. Probleme stellen sich auch in einer Reihe weiterer Bereiche, in denen im Vergleich zur EG in einigen Mitgliedstaaten schärfere Standards gelten.
2.
Agrarpolitik
Im Bereich der Agrarpolitik gibt es z.B. eine sich eher noch verschärfende Divergenz in den landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen vor allem beim Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, den Vorschriften für den Tierschutz und die Tierhaltung und allgemeinen Umweltschutzanforderungen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Nicht zuletzt als Reaktion auf verschiedene Skandale - erinnert sei an die Hormonspritzen für Kälber sind durch Rechtsverordnung Vorschriften über Mindestanforderungen für die Haltung von Kälbern, Schweinen, Geflügel und Pelztieren erlassen worden oder in Vorbereitung. Die soeben erlassene Kälberhaltungsverordnung stellt z. B. erheblich schärfere Anforderungen an eine intensive Kälberhaltung, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit in der Gemeinschaft nicht durchsetzen werden. 14 Soweit EG-Richtlinien bereits vorliegen - wie z. B. bei der Hühner- und Schweinehaltung - gehen die deutschen Vorschriften zumeist weit über die Mindestanforderungen der EG-Richtlinien hinaus. Im Gegensatz zu den Produktstandards der EG ist dies prinzipiell zulässig, da die einschlägigen EG-Standards insoweit lediglich Mindeststandards für die Produktion festlegen, nicht aber den freien Warenverkehr betreffen. Der deutsche Gesetzgeber bleibt danach frei, über die EG-Regelungen hinaus verschärfte Anforderungen vorzusehen. Der größere Käfig für die Henne, das Verbot bestimmter Arzneien und Pflanzenschutzmittel, die Reduzierung der Güllemengen bleiben als Option für den deutschen Gesetzgeber. Entsprechend sieht der neue Art. 130 t für die Ausübung der allgemeinen Umweltschutzkompetenzen, die der Gemeinschaft nach Art. 130 r ff.15 übertragen worden sind, ein Recht der Mitgliedstaaten vor,
14
vgl. BR-Drucks. 634/88 v. 23.12.1988. Art. 130 r-t: r: „(1) Die Umweltpolitik der Gemeinschaft hat zum Ziel, - die Umwelt zu erhalten, zu schützen und ihre Qualität zu verbessern. - zum Schutz der menschlichen Gesundheit beizutragen, - eine umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen zu gewährleisten. (2) Die Tätigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Umwelt unterliegt dem Grundsatz, Umweltbeeinträchtigungen vorzubeugen und sie nach Möglichkeit an ihrem Ursprung zu bekämpfen, sowie dem Verursacherprinzip. Die Erfordernisse des Umweltschutzes sind Bestandteil der anderen Politiken der Gemeinschaft. 15
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verstärkte Schutzmaßnahmen innerstaatlich beizubehalten oder zu ergreifen. Harmonisierungsmaßnahmen entwickeln also insoweit keine Sperrfunktion für die Mitgliedstaaten. A u c h soweit die Gemeinschaft aufgrund der neuen Kompetenzen verstärkte Schutzmaßnahmen auf dem Gebiet der Umweltpolitik ergreift, bleiben die Mitgliedstaaten zum Erlaß schärferer innerstaatlicher Standards befugt. Art. 130 t gilt allerdings nur für solche Umweltschutzmaßnahmen, die nicht in das Kapitel „Rechtsangleichungsmaßnahmen, die die Schaffung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben", gehören. Ein „nationaler Alleingang" in diesem Bereich ist ausschließlich unter den Voraussetzungen
des
Art. 100 a Abs. 4 zulässig. Art. 130 t erfaßt somit nur die nicht direkt produktbezogenen
Umweltschutzmaßnahmen
(z. B.
Gewässerschutz,
Luftreinhaltung, Abfälle usw.). Wie im Bereich der Arbeitsumwelt war auch hier den Mitgliedstaaten schon vor der Einheitlichen Europäischen Akte häufig in einschlägigen Richtlinien die Befugnis eingeräumt worden, schärfere N o r m e n als die in der Richtlinie vorgesehenen zu erlassen. 16
(3) Bei der Erarbeitung ihrer Maßnahmen im Bereich der Umwelt berücksichtigt die Gemeinschaft - die Umweltbedingungen in den einzelnen Regionen der Gemeinschaft, - die Vorteile und die Belastung aufgrund der Maßnahmen bzw. ihrer Unterlassung, - die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Gemeinschaft insgesamt sowie die ausgewogene Entwicklung ihrer Regionen. (4) Die Gemeinschaft wird im Bereich der Umwelt insoweit tätig, als die in Absatz 1 genannten Ziele besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können als auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten. Unbeschadet einiger Maßnahmen gemeinschaftlicher Art tragen die Mitgliedstaaten für die Finanzierung und Durchführung der anderen Maßnahmen Sorge. (5) Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten arbeiten im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse mit den dritten Ländern und den zuständigen internationalen Organisationen zusammen. Die Einzelheiten der Zusammenarbeit der Gemeinschaft können Gegenstand von Abkommen zwischen dieser und den betreffenden dritten Parteien sein, die gemäß Artikel 228 ausgehandelt und geschlossen werden. Unterabsatz 1 berührt nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in internationalen Gremien zu verhandeln und internationale Abkommen zu schließen." s: „Der Rat beschließt auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses einstimmig über das Tätigwerden der Gemeinschaft. Der Rat legt unter den in Absatz 1 genannten Bedingungen fest, was unter die mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden Beschlüsse fällt." t: „Die Schutzmaßnahmen, die gemeinsam aufgrund des Artikels 130 s getroffen werden, hindern die einzelnen Mitgliedstaaten nicht daran, verstärkte Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu ergreifen, die mit diesem Vertrag vereinbar sind." 16 Vgl. Grabnitz (Hrsg.), EWG-Vertrag, Rdn.32 zu Art. 130 t.
15
Diese Normen müssen allerdings mit dem E W G - V e r t r a g und insbesondere mit den Freiheiten des Vertrages vereinbar sein. Auch nicht direkt produktbezogene Umweltschutzstandards dürfen also nicht zu einem nach Art. 30/36 unzulässigen Handelshemmnis führen. Deshalb ist die Ausübung dieser Optionen mit erheblichen Risiken behaftet. Mit der gemeinschaftsrechlichen Harmonisierung, die bestimmte Standards festlegt, ist nämlich in der Regel die Berufung auf verschärfte innerstaatliche Normen ausgeschlossen, soweit es um den Vertrieb von Produkten aus anderen Mitgliedstaaten im Inland geht. Auch hormonbehandelte Kälber und mit Pflanzenschutzmitteln angereicherte Äpfel können daher, sobald sie vereinheitlichten EG-Standards genügen, in der gesamten Gemeinschaft im Prinzip frei verkauft werden. Die in der deutschen Landwirtschaft unter höheren Kosten produzierten Produkte müssen daher mit ausländischen Produkten konkurrieren, die billiger angeboten werden können, weil sie nicht den verschärften deutschen Standards unterliegen. D a ein Absinken des nationalen Niveaus wegen der hohen Sensibilisierung der deutschen Bevölkerung gerade bei Agrarprodukten politisch kaum in Frage kommt, wird der Ruf nach einem nationalen Ausgleich von Wettbewerbsnachteilen in der F o r m nationaler oder gemeinschaftlicher Ausgleichszahlungen immer stärker. Der E W G - V e r t r a g verbietet freilich im Prinzip nationale Subventionen; auf der Gemeinschaftsebene besteht wiederum kaum ein Interesse daran, höhere Standards einiger Mitgliedstaaten durch Gemeinschaftsleistungen zu kompensieren. D e r Versuch, auf Gemeinschaftsebene möglichst einen höheren innerstaatlichen Standard gemeinschaftsweit festzuschreiben, wird angesichts divergierender Konzeptionen über den Schutz der Umwelt, Tierschutz, Pflanzenschutz, Arbeitsschutz usw. kaum in allen Fällen gelingen. Es bleibt also nur die Option des nationalen Alleingangs in der schärfsten Form von Importund Vertriebsbeschränkungen, will man nicht im Interesse der einheitlichen Gemeinschaftsrechtsgeltung auf die effektive Durchsetzung nationaler Standards verzichten.
3.
Arbeitswelt
Ein ähnliches Dilemma besteht im Bereich der Arbeitsumwelt, die in der Einheitlichen
Europäischen
Akte
in Art. 118 a 1 7 eine
besondere
17 Art. 118 a: (1) D i e Mitgliedstaaten bemühen sich, die Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt zu fördern, um die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen, und setzen sich die Harmonisierung der in diesem Bereich bestehenden Bedingungen bei gleichzeitigem Fortschritt zum Ziel.
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Erwähnung gefunden hat. Der Vertrag sieht die Harmonisierung der in diesem Bereich bestehenden Bedingungen bei gleichzeitigem Fortschritt vor. Angesichts der erheblichen Niveauunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten ist aber auch hier von vornherein der Erlaß von Richtlinien als Minimalstandards vorgesehen, die schrittweise angewendet werden sollen. Der Vertrag sieht ausdrücklich vor, daß die einzelnen Mitgliedstaaten nicht daran gehindert sein sollen, Maßnahmen zum verstärkten Schutz der Arbeitsbedingungen beizubehalten oder zu ergreifen - freilich unter dem Vorbehalt, daß diese mit dem Vertrag vereinbar sein müssen. Verschärfte Standards zum Schutz der Arbeitsbedingungen dürfen also die Marktfreiheiten nicht tangieren und dürfen insbesondere den freien Warenverkehr nicht beeinträchtigen, sofern nicht die besonderen Voraussetzungen für die Schutzklausel nach Art. 100 a Abs. 4 vorliegen. Die Gewerkschaften warnen vor einem sozialen Dumping im gemeinsamen Binnenmarkt und vor einer Niveauabsenkung in den kostenintensiven Bereichen Sicherheit am Arbeitsplatz, betriebliche Sozialleistungen, Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer usw. Die Arbeiten zu einer Europäischen Sozialcharta über die sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer scheinen sich zumindest vorerst eher auf der Ebene von Programmerklärungen zu bewegen und vermögen diese Befürchtungen bislang nicht zu zerstreuen. Der wiederholte Hinweis der Bundesregierung auf die Beibehaltung der höheren deutschen Standards führt erneut zur Frage, wie lange nationale Sonderregelungen in einem freien europäischen Binnenmarkt beibehalten werden können. Mit einem verschärften europäischen Wettbewerb stellt sich die Frage der Gleichheit der Wettbewerbsbedingungen. 18 Der Hinweis auf die im Binnenmarkt mögliche Verlagerung von Produktionsstandorten in EG-Länder mit einem niedrigeren sozialen Standard kann jedenfalls nicht von vornherein als völlig irrelevant zur
(2) Als Beitrag zur Verwirklichung des Ziels gemäß Absatz 1 erläßt der Rat auf Vorschlag der Kommission, in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses unter Berücksichtigung der in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden Bedingungen und technischen Regelungen mit qualifizierter Mehrheit durch Richtlinien Mindestvorschriften, die schrittweise anzuwenden sind. Diese Richtlinien sollen keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben, die der Gründung und Entwicklung von Klein- und Mittelbetrieben entgegenstehen. (3) Die aufgrund dieses Artikels erlassenen Bestimmungen hindern die einzelnen Mitgliedstaaten nicht daran, Maßnahmen zum verstärkten Schutz der Arbeitsbedingungen beizubehalten oder zu treffen, die mit diesem Vertrag vereinbar sind." 18 Vgl. dazu Kommission der EG, Soziales Europa - Die soziale Dimension des Binnenmarktes, 1988, S. 65 f.
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Seite geschoben werden. Auch hier stellt sich also die Kompensationsfrage. Kann ein Mitgliedstaat, wenn er nicht durch nationale Maßnahmen die Produktionsverlagerung zu verhindern vermag, durch mittelbare oder unmittelbare Vorteile z. B. steuerlicher Art einen Ausgleich für höhere Standards bewirken? Hinter dem Begriff des nationalen Alleingangs verbergen sich daher unterschiedliche Fragestellungen und Interessenlagen. Gemeinsamer Grundzug ist die Abweichung von einer EG-Norm zur Durchsetzung eines wirklichen oder vermeintlichen nationalen Interesses zum Schutze wesentlicher Rechtsgüter. Damit stellt sich die Frage, ob es in der Gemeinschaft der neunziger Jahre und im europäischen Binnenmarkt überhaupt noch eine Berechtigung für einen nationalen Alleingang gibt und an welche Voraussetzungen die Geltendmachung von Schutzklauseln gebunden sein muß? Oder handelt es sich bei der Frage des nationalen Alleingangs um ein Fossil aus der Zeit der Nationalstaaten, das im Zuge der Vollendung des Binnenmarktes möglichst eingeschränkt zu handhaben ist, wenn schon nicht das Beharren auf nationalen Ordre-publicKonzepten und Sonderinteressen ganz verhindert werden kann?
4. Höhere Standards für Waren und
Dienstleistungen
Im Zentrum der nachfolgenden Überlegungen steht der nationale Alleingang in der schärfsten Form, nämlich in der Form der Behinderung des Vertriebs von Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen, die nicht den innerstaatlichen Standards entsprechen. Dabei wird es sich zumeist um solche Produkte handeln, für die entweder bereits aufgrund einer mit Mehrheit verabschiedeten Gemeinschaftsnorm EG-einheitliche Normen festgelegt worden sind. Daneben kommen aber auch Produkte in Frage, für die am Ende der Frist zur Herstellung des Binnenmarktes noch keine Rechtsangleichung erreicht worden ist, für die aber der Rat gemäß Art. 100 b EWGV beschlossen hat, daß die in einem Mitgliedstaat geltenden Vorschriften als den Vorschriften eines anderen Mitgliedstaates gleichwertig anerkannt werden müssen. Für beide Fälle hat die Einheitliche Europäische Akte mit Art. 100 a Abs. 4 eine in ihrer Reichweite und in ihren Voraussetzungen höchst umstrittene Regelung des nationalen Alleingangs getroffen. In beiden Fällen geht es um die Durchsetzung höherer Standards im Bereich des Umweltschutzes oder in bezug auf den Schutz der Arbeitsumwelt oder sonstige wichtige Allgemeininteressen auch und gerade gegenüber ausländischen Waren und Dienstleistungen, die „nur" den EG-Normen entsprechen. Darüber hinaus stellt sich aber die Frage des nationalen Alleingangs in der Zukunft auch gegenüber ausländischen Produkten und Dienstleistun-
18
gen, die aufgrund einer Ausnahmeregelung den EG-Standard unterschreiten. Art. 8 c19 der Einheitlichen Europäischen Akte ermöglicht nämlich ausdrücklich auch den nationalen Alleingang nach unten - allerdings nur in der Form einer bereits in der Richtlinie vorgesehenen Ausnahmeregelung, mit der industriell weniger fortgeschrittenen Mitgliedstaaten die Zustimmung zur Rechtsharmonisierung ermöglicht werden soll. Diese Ausnahmeregelungen müssen - wie Art. 8 c vorschreibt — vorübergehender Art sein und dürfen das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes so wenig wie möglich stören. Auch hierbei handelt es sich um eine Art nationaler Alleingang - freilich eher traditioneller Art: Für eine Übergangsphase soll nämlich die Anpassung wirtschaftlich schwächerer EGLänder an die Vollendung des Binnenmarktes erleichtert werden. Art. 8 c erlaubt Ausnahmeregelungen derart, daß ein oder mehrere Mitgliedstaaten von der Geltung bestimmter Gemeinschaftsrechtsnormen ganz oder teilweise vorübergehend ausgenommen sind. Daraus können sich z. B. längere Fristen für die Umsetzung von Gemeinschaftsrecht oder aber auch sektorale Beschränkungen für die Geltung des Gemeinschaftsrechts ergeben. 20 Geht man davon aus, daß Ermächtigungen nach Art. 8 c nur die innerstaatliche Abweichung nach unten erlauben, also im Ergebnis die anderen Mitgliedstaaten nicht verpflichten, die nicht den EG-Normen entsprechenden Produkte auch in ihren Ländern zum Vertrieb zuzulassen, so stellt sich die Frage einer Anwendung der Schutzklausel nicht. Schreibt dagegen Art. 8 c die Verkehrsfähigkeit derartiger Produkte im Gemeinsamen Markt vor, so muß auch ein Rekurs auf die allgemeine Schutzklausel nach Art. 100 a Abs. 4 möglich sein, sofern nicht bereits in der Richtlinie ein entsprechender Vorbehalt enthalten ist. Darüber hinaus bestätigt die Einheitliche Europäische Akte auch die schon bisher bestehende Möglichkeit, Harmonisierungsmaßnahmen mit einer Schutzklausel zu versehen, die die Mitgliedstaaten ermächtigt, aus Gründen der in Art. 36 genannten öffentlichen Interessen vorläufige Maßnahmen zu treffen, die im Gegensatz zur Schutzklausel nach Art. 100 a Abs. 4 einem in der Richtlinie oder Verordnung geregelten
19 Art. 8 c: „Bei der Formulierung ihrer Vorschläge zur Verwirklichung der Ziele des Artikels 8 a berücksichtigt die Kommission den Umfang der Anstrengungen, die einigen Volkswirtschaften mit unterschiedlichem Entwicklungsstand im Zuge der Errichtung des Binnenmarktes abverlangt werden, und kann geeignete Bestimmungen vorschlagen. Erhalten diese Bestimmungen die Form von Ausnahmeregelungen, so müssen sie vorübergehender Art sein und dürfen das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes so wenig wie möglich stören." 20 Vgl. Grabitz (Hrsg.), EWGV-Vertrag, Erläuterungen zu Art. 8 c; ders. (Hrsg.), Abgestufte Integration, 1984.
19
gemeinschaftlichen
Kontrollverfahren
unterliegen.
Ihr Zweck
ist
im
wesentlichen ebenfalls die vorübergehende Beibehaltung nationaler Standards - sei es auf h o h e m oder tieferem Niveau - um Anpassungsschwierigkeiten zu beseitigen. Auch hier handelt es sich um ein eher traditionelles Schutzinstrumentarium, das gegenüber dem bisherigen Rechtszustand nichts wesentlich Neues bringt.
III. Funktion und Legitimation innerstaatlicher Schutzmaßnahmen Welche Bedeutung man den neuen und alten Schutzklauseln einräumt, ist offensichtlich von einem Grundverständnis des E W G - V e r t r a g s und seiner Zielsetzungen abhängig. E i n B l i c k auf die Literatur und die Rechtssprechung zeigt eine klare T e n d e n z zur Einschränkung nationaler O r d r e p u b l i c - K o n z e p t e . Als typisch kann etwa folgende Argumentationslinie gelten: „Es mag verständlich sein, Wald und Volksgesundheit, aber auch die Tierwelt oder das Vertrauen des Verbrauchers gegen gefährliche Importe zu schützen. Soweit dies aber im Alleingang geschieht, geht es auf Kosten der Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs. Will man den echten Binnenmarkt, dann muß man versuchen, seine Vorstellungen auf Gemeinschaftsebene durchzusetzen; freilich auch, wenn das nicht gelingt, sich der Mehrheitsentscheidung zu unterwerfen. Folgerichtig hat nach dieser Auffassung im vollendeten Binnenmarkt jeder Mitgliedstaat letztlich auf nationale Alleingänge zu verzichten, auch wenn es sich um Gesundheitsfürsorge oder um die öffentliche Sicherheit und Ordnung handelt. Würde in der EG mehrheitlich der Haschisch-Handel legalisiert, könnte sich folgerichtig auch die Bundesrepublik Deutschland letztlich nicht ausschließen. Wie im Bundesstaat, so müßten auch in der EG Differenzen über den richtigen Weg demokratisch ausgetragen werden, nicht aber im Wege des Alleingangs." 21 Es besteht kein Zweifel daran, daß dieses von einem Wirtschaftsliberalismus geprägte Verständnis des Gemeinsamen Marktes
entscheidende
Fortschritte in der Gemeinschaft - zum Teil auch gegen den Widerstand der Mitgliedstaaten - bewirkt hat. Schon v o r der Einheitlichen Europäischen A k t e haben die europäischen O r g a n e , insbesondere K o m m i s s i o n und Gerichtshof konsequent das Ziel einer möglichst effektiven V e r w i r k lichung der Marktfreiheiten vorangetrieben, indem sie nationale Schutzklauseln und das P o c h e n auf Sonderinteressen - verkörpert v o r allem in A r t . 36 E W G V - eingeschränkt haben. 2 2 M i t einem eher traditionellen
21 H. R. Krämer, Rechtliche Aspekte und Probleme der Vollendung des E G Binnenmarkts, Kieler Arbeitspapiere, Dezember 1987, S. 69 ff. 22 Für einen Uberblick über die Auslegung der Schutzklausel des EWGVertrags vgl. A. Weber, Schutznormen und Wirtschaftsintegration, 1982.
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völkerrechtlichen Verständnis des ordre public wäre ein Durchbruch bei der Verwirklichung der Marktfreiheiten nicht zu erreichen gewesen. Es kann bei der Einheitlichen Europäischen Akte deshalb nicht darum gehen, den bisher erreichten Integrationszustand in Frage zu stellen. Zum Verständnis der Funktion der Einheitlichen Europäischen Akte ist daher ein Blick auf die bisherige Rechtsprechung zur Geltendmachung der vertraglichen Schutzklauseln unerläßlich, zumal die Einheitliche Europäische Akte keine Einschränkung des schon bisher geltenden Rechts bewirkt, unter den Voraussetzungen des Art. 30/36 den freien Binnenhandel zum Schutz wesentlicher Rechtsgüter der Allgemeinheit zu beschränken. Art. 36 23 erlaubt den Mitgliedstaaten solche Beschränkungen des freien Warenverkehrs, die unter anderem aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen gerechtfertigt sind. Derartige Beschränkungen - so fügt Art. 36 hinzu - dürfen jedoch weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten bedeuten. Der EuGH hat in einer konsequenten Rechtsprechung unter Heranziehung des Prinzips einer bestmöglichen Verwirklichung der Vertragsziele das Gebrauchmachen von Art. 36 erheblich eingeschränkt. Zunächst mittels der Dassonville-Formel, wonach als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung jede Handelsregelung anzusehen ist, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel mittelbar oder unmittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern. 24 Diese weite Auslegung des Art. 36 ist dafür verantwortlich, daß bereits bei Maßnahmen wie z. B. dem gespaltenen Tempolimit für Pkw oder einem differenzierten Fahrverbot bei Smogalarm oder bei Kontrollen an den Binnengrenzen die Frage des nationalen Alleingangs auftaucht. Freilich bedeutet die Subsumtion unter eine derart weit gefaßte Definition noch nicht, daß jede nationale Regelung, die den Vertrieb und die Nutzung von grenzüberschreitend gehandelten Waren regelt, mit unmittelbarer Wirkung verboten ist. Nach der Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung
2 3 Art. 36: „Die Bestimmungen der Artikel 30 bis 34 stehen Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrverboten oder -beschränkungen nicht entgegen, die aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, O r d n u n g und Sicherheit, zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind. Diese Verbote oder Beschränkungen dürfen jedoch weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen." 24
E u G H Slg. 1974, 837, 852.
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des E u G H 2 5 sind solche Handelshemmnisse hinzunehmen, „die notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes" und mit denen ein im allgemeinen Interesse liegendes Ziel verfolgt wird, das den Erfordernissen des freien Warenverkehrs, der eine der Grundlagen der Gemeinschaft darstellt, vorgeht. Mit dieser Formulierung hat der E u G H die in Art. 36 ausdrücklich genannten Schutzgüter auf sonstige zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls ausgeweitet. D a z u gehören z. B. auch Umweltschutzgesichtspunkte, wie der E u G H n u n m e h r auch ausdrücklich in seinem Urteil vom 20.9.1988 zur Vereinbarkeit der dänischen Pfandflaschenregelung mit dem E W G Vertrag bestätigt hat. 26 Mit Hilfe dieser Formel hat der E u G H eine Fülle beschränkender Handelsregelungen als gemeinschaftsrechtswidrig erklärt. D e r Ausgangsfall war eine deutsche Vorschrift, wonach Fruchtsaftlikör mindestens 25 % Alkohol enthalten mußte und daher der französische „Cassis" nicht vertrieben werden durfte, weil er angeblich deutschen Verbraucherschutzinteressen und Gesundheitsschutzkonzeptionen („wer Schnaps kauft, m u ß auf einen Mindestalkoholgehalt vertrauen können") nicht entsprach. Die GiiJM-Formel gehört seither zum Standardrepertoire des Gerichtshofs. Die deutschen Vorschriften über den Vertrieb ausländischer Biere, sind an ihm ebenso gescheitert wie das mit Verbraucherschutzgründen und der Lauterkeit im Handelsverkehr gerechtfertigte deutsche Verbot von Milch-Imitatprodukten. 2 7 Grundsätzlich geht zwar der E u G H davon aus, daß es in Ermangelung einer gemeinsamen oder harmonisierten Regelung die Herstellung und Vermarktung von Erzeugnissen Sache der einzelnen Mitgliedstaaten sei, jeweils f ü r ihr Hoheitsgebiet alle die Zusammensetzung, die Herstellung und die Vermarktung dieser Erzeugnisse betreffenden Vorschriften zu erlassen. Auf Produkte aus anderen Mitgliedstaaten, die dort rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht w o r d e n sind, dürfen diese Regelungen jedoch nur angewendet werden, soweit sie notwendig sind, um den in Art. 36 aufgezählten G r ü n d e n des Gemeinwohls oder zwingenden Erfordernissen u. a. der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes gerecht zu werden. Auch bei Vorliegen solcher G r ü n d e sind handelsbeschränkende
25
E u G H Slg. 1979, 649. Rs. 302/86, Kommission/Dänemark, noch nicht veröffentlicht. 27 E u G H v. 11.5.1989, Rs.76/86; vgl. auch E u G H v. 12.3.1987, Rs. 178/84 („Bierurteil"). 26
22
Maßnahmen nur zulässig, wenn das gleiche Ziel nicht mit anderen, weniger handelsbeschränkenden Maßnahmen erreicht werden kann. Lediglich im eigenen Lande kann die Bundesrepublik Deutschland künftighin die Erzeugung von Milch-Imitatprodukten untersagen, nicht aber den Import und Vertrieb solcher Produkte im Inland verhindern. Entsprechendes gilt für den Vertrieb von Wurst und Fleisch, die aus Soja hergestellt sind. O b w o h l hier - wie in den vorher genannten Fällen - eine gemeinschaftseinheitliche Regelung noch gar nicht erlassen wurde, überprüft der E u G H , ob die einzelstaatliche Maßnahme, die sich als Behinderung des freien Warenverkehrs auswirkt, wirklich für einen wirksamen Schutz der in Art. 36 genannten nationalen Belange notwendig ist und dieses Ziel nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr weniger einschränken. In der Entscheidung des E u G H zum Verbot der Einfuhr von Fleischerzeugnissen, die nicht den deutschen Vorschriften der Fleischverordnung entsprechen, vom 2. Februar dieses Jahres hat der E u G H denn auch weder Gesundheitsschutz noch Verbraucherschutzargumente gelten lassen. 28 Zum Verbraucherschutz meint der E u G H , dieser könne mit anderen Mitteln, insbesondere einer Kennzeichnungspflicht ausreichend gewährleistet werden. Agrarpolitische Gesichtpunkte dürfen nach seiner Auffassung nicht gegen die Grundprinzipien der Gemeinschaft, im vorliegenden Falle das des freien Warenverkehrs verstoßen. Aus diesen Entscheidungen kann freilich nicht abgeleitet werden, der E u G H könne den Mitgliedstaaten vorschreiben, unter welchen Voraussetzungen sie zum Schutze der in Art. 36 genannten Rechtsgüter tätig werden dürften. D e r E u G H hat immer wieder hervorgehoben, es sei innerhalb der vom Vertrag gezogenen Grenzen Sache der Mitgliedstaaten zu bestimmen, in welchem Umfang sie den Schutz dieser Belange gewährleisten wollten. Dennoch hält sich der E u G H für befugt, die nationalen Schutzmaßnahmen daraufhin zu überprüfen, ob sie für die wirksame Wahrung der in Anspruch genommenen Schutzgüter tatsächlich notwendig und verhältnismäßig sind. Auch bei der Zulassung von Produkten, die in anderen Mitgliedstaaten ordnungsgemäß in den Verkehr gebracht worden sind, wird daher vom Grundsatz der Verkehrsfähigkeit in der gesamten Gemeinschaft ausgegangen. So heißt es z. B. im Falle eines Importverbots für Maschinen, die nicht den innerstaatlichen Sicherheitsvorschriften entsprachen, daß ein Mitgliedstaat nicht verlangen darf, daß die eingeführten Erzeugnisse den Bestimmungen und technischen Anforderungen, die für die in dem betreffenden Mitgliedstaat hergestellten
28
EuGH v. 2.2.1989, Rs. 274/87.
23
Erzeugnisse gelten, genau entsprechen, obwohl sie ein vergleichbares Schutzniveau für die Benutzer gewährleisten. 29 Bei vergleichbaren Kontrollmaßnahmen und vergleichbaren Standards in anderen Mitgliedstaaten sind daher Beschränkungen unzulässig. Der Rekurs auf nationale Ordnungsvorstellungen scheidet ferner nach ständiger Rechtsprechung aus, sofern eine spezifische Gemeinschaftsregelung auf dem betreffenden Gebiet besteht. Hat die Gemeinschaft durch eine Harmonisierungsrichtlinie das betreffende Schutzgut abschließend geregelt, so ist den Mitgliedstaaten der Rückgriff auf Art. 36 schlechterdings untersagt. Die Mitgliedstaaten sind vielmehr verpflichtet, die Gemeinschaftsregelung einzuhalten und allenfalls auf eine Abänderung der Gemeinschaftsnorm hinzuwirken. 3 0 Lediglich soweit die betreffende Regelung eine nur punktuelle Harmonisierung nach der Methode des schrittweisen Vorgehens enthält, ohne daß das in der einschlägigen Richtlinie selbst enthaltene Harmonisierungsprogramm bereits verwirklicht worden wäre, kommt noch eine Berufung auf innerstaatliche Schutzmaßnahmen in Betracht. 31 Ob eine abschließende Regelung durch den Gemeinschaftsgesetzgeber vorliegt und damit die Sperrwirkung eintritt, war freilich schon vor der Einheitlichen Europäischen Akte nur wenig geklärt. Je nach dem europapolitischen Standpunkt wurde die Frage der Reichweite der Sperrwirkung einer EG-Regelung unterschiedlich beantwortet. Zum Teil ist die Auffassung vertreten worden, den Mitgliedstaaten könne nicht die Reaktion auf neue Gefährdungen durch die einmal verabschiedete EG-Maßnahme abgeschnitten werden. Geht man davon aus, daß die Freiheit der Mitgliedstaaten zur eigenen Regelung durch eine Gemeinschaftsnorm insoweit beschränkt ist, als dies aus Sinn und Zweck der Vereinheitlichung klar hervorgeht, 52 so wäre im Zweifel von einer fortbestehenden mitgliedstaatlichen Regelungsbefugnis auszugehen. In der Praxis des Gemeinschaftsrechts hat sich indes eher ein entgegengesetzter Grundsatz durchgesetzt, wonach die mitgliedstaatlichen Ordre-public-Vorbehalte im Zweifel eng auszulegen sind. 33 Die Frage, inwieweit die Blockadefunktion auch angesichts ergänzungs- oder revisionsbedürftiger Standards reicht, hat freilich mit der Einheitlichen Europäischen Akte an Bedeutung verloren. Der durch die Einheitliche Europäische Akte eingeführte Art. 100 a Abs. 4 gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zum kontrollierten nationalen
29 30 31 32 33
E u G H v. 2 8 . 1 . 1 9 8 6 , Rs. 188/84, N J W 1986, 1 4 1 8 . E u G H Slg. 1 9 7 7 , 1555, 1 5 7 6 ; Slg. 1979, 3 3 6 9 , 3388. Vgl. E u G H Slg. 1979, 3369, 3390. G.Ress, in: 1 5 0 Jahre Landgericht Saarbrücken, 1985, S . 3 6 8 . E u G H Slg. 1 9 6 1 , 695, 720; 1968, 6 7 9 , 6 9 4 ; 1 9 8 1 , 1625, 1637.
24
Alleingang und steuert damit der Gefahr entgegen, daß ein unabweisbares Regelungsbedürfnis der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die in Art. 36 genannten Schutzgüter oder in bezug auf den Schutz der Arbeitsumwelt oder den Umweltschutz nicht mehr ausreichend befriedigt werden kann. Ob rechtspolitische Anliegen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf neue Schutzbedürfnisse dauerhaft blockiert werden können, 34 steht im Zentrum der Diskussion um den nationalen Alleingang nach dem durch die Einheitliche Europäische Akte neu eingeführten Art. 100 a Abs. 4.
IV. Der nationale Alleingang nach Art. 100 a Abs. 4 1.
Auslegungsprobleme
Art. 100 a Abs. 4 erlaubt es den Mitgliedstaaten auch dann, wenn der Rat mit qualifizierter Mehrheit eine Harmonisierungsmaßnahme zur Verwirklichung des Binnenmarktes getroffen hat, einzelstaatliche Bestimmungen anzuwenden. In Durchbrechung der bisherigen Sperrfunktion des Gemeinschaftsrechts wird also den Mitgliedstaaten eine Abweichung vom Gemeinschaftsrecht gestattet. Voraussetzung hierfür ist, daß es sich um wichtige Erfordernisse im Sinne des Art. 36 handelt. Hinzu kommen als Schutzgüter die Arbeitsumwelt und die natürliche Umwelt. Die Hervorhebung dieser beiden Schutzgüter weist auf die zentrale Bedeutung hin, die der Umweltschutz und der Schutz der Arbeitsumwelt durch die Einheitliche Europäische Akte erfahren haben; einmal durch die Kompetenzübertragung an die EG in den Artikeln 118 und 130 r ff., die zugleich neue vorrangige Ziele des Vertrages festlegen; zum anderen durch die Vorschrift, daß die Kommission bei ihren Rechtsangleichungsvorschlägen nach Art. 100 a Abs. 1 in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau auszugehen hat (vgl. Art. 100 a Abs. 3). Der in Art. 100 a Abs. 4 vorgesehene nationale Alleingang ist - soviel läßt sich aus der Entstehungsgeschichte ableiten - als Kompensation für einen Übergang zur Mehrheitsentscheidung gedacht. 35 Die Befürchtung einiger Mitgliedstaaten, insbesondere Dänemarks, der Niederlande und der Bundesrepublik Deutschland, die Rechtsangleichung per Mehrheitsentscheidung könne zu einer Harmonisierung auf niedrigem Niveau, zur „Harmonisierung mit dem Rasenmäher" führen, sollte mit der Möglich-
34 Vgl. E. Steindorff, RIW 1984, 767f.; G.Ress, in: 150 Jahre Landgericht Saarbrücken, 1985, S. 355 ff. 35 Zur Entstehungsgeschichte vgl. de Ruyt, L'Acte Unique Européen, S. 162 f.
25
keit des nationalen Alleingangs ausgeräumt werden. Dabei stand nicht zuletzt die kontroverse Diskussion u m die Abgaswerte im Hintergrund. 3 6 Wesentlich m e h r läßt sich aus der Vorgeschichte der Einheitlichen Europäischen A k t e über den nationalen Alleingang nicht ableiten. O b der unterschiedliche W o r t l a u t der Schutzklausel in A r t . 100 a A b s . 4 („anwend e n " ) im Vergleich zu Art. 130 f („beibehalten oder zu ergreifen") absichtlich gewählt wurde und welche L o g i k sich dahinter verbirgt, daß in Art. 100 a Abs. 4 neben den Rechtsgütern des A r t . 36 der U m w e l t s c h u t z und die Arbeitsumwelt besonders erwähnt wurden, während nach Abs. 5 nur Schutzmaßnahmen aus den in A r t . 36 erwähnten nichtwirtschaftlichen Gründen genannt sind, bleibt letztlich im dunkeln. Manches spricht dafür, daß hinter den eilig verabschiedeten Vorschriften der Einheitlichen Europäischen A k t e kein vollständig durchdachtes System steckt; daß es sich vielmehr u m hastig beschlossene K o m p r o m i ß f o r m e l n handelt, deren Bedeutung im einzelnen im systematischen Gesamtzusammenhang des Vertrages kaum jemandem klar war. 3 7 D i e primären Auslegungsmaximen des Gerichtshofs, den Vorschriften des Vertrages diejenige Bedeutung zu geben, bei der die Ziele des Vertrages am besten verwirklicht werden k ö n n e n , 3 8 k o m m t daher voraussichtlich auch bei den anhängigen R e c h t s streitigkeiten
um
die
Voraussetzungen
eines
nationalen
Alleingangs
wesentliche Bedeutung zu. Dabei geht es vor allem um folgende Fragen: 3 9 1.
Ermöglicht die Ausnahmevorschrift des Artikels 100 a Abs. 4 E W G V nur die weitere Anwendung bereits erlassener nationaler Vorschriften oder können die Mitgliedstaaten auch neue Vorschriften erlassen, die im Interesse des Umweltschutzes strengere Regelungen enthalten als die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften? 2. a) Muß ein Mitgliedstaat im Rat gegen eine auf Art. 100 a EWGV gestützte gemeinschaftsrechtliche Regelung gestimmt haben, wenn er von dem Vorbehalt des Artikels 100 a Abs. 4 EWGV Gebrauch machen will?
36 Steindorff, Z H R 1986, 687, 702; ders. RIW 1984, 767ff.; vgl. ferner zur Diskussion über die Abgasgrenzwerte innerhalb der EG Corcelle, R M C 1986, 125 f.; Glatz, in: Schwarze/Bieber (Hrsg.), Das europäische Wirtschaftsrecht vor den Herausforderungen der Zukunft, 1985, 161 f. 37 P. Pescatore, EuR 1986, 153, 159; vgl. auch Langeheine, EuR 1988, 235, 237; Lietzmann, in: Rengeling (Hrsg.), Europäisches Umweltrecht und europäische Umweltpolitik, 1988, 163, 181; de Ruyt, L'Acte Unique Européen, 1987, S. 168. 38 Vgl. z.B. EuGH Slg. 1973, 813, 829; U.Everling, in: Eine Ordnungspolitik für Europa, Festschrift für H. van der Groeben, 1987, 111, 126; Bleckmann, NJW 1982, 1177ff.; H. Kutscher, Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts aus der Sicht eines Richters, 1976; M. Zuleeg, EuR 1969, 92. 39 Vgl. hierzu näher Hailhronner, EuGRZ 1989, 104 ff.
26
b) Verliert er seine Rechte aus Art. 100 a Abs. 4 EWGV auch dann, wenn er einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung nur deswegen zustimmt, weil sie eine Verbesserung des bisherigen gemeinschaftsrechtlichen Schutzstandards bewirkt, dieser neue Standard nach ausdrücklich bei der Beschlußfassung im Rat zum Ausdruck gebrachter Auffassung des betreffenden Mitgliedstaates aber immer noch unzureichend ist? 3.a) Welche rechtliche Bedeutung hat die in Art. 100 a Abs. 4 EWGV vorgesehene „Bestätigung" der vom Gemeinschaftsrecht abweichenden nationalen Vorschriften durch die Kommission? b) Ist den Mitgliedstaaten - die weitere Anwendung bereits erlassener nationaler Vorschriften - bzw. der Erlaß neuer nationaler Vorschriften gemeinschaftlich verwehrt, wenn die Kommission deren „Bestätigung" versagt?
Folgt man der Auffassung der Kommission, eines großen Teils der Literatur40 und den europäischen Automobilherstellern,41 so kommt der nationale Alleingang - will man nicht die Vollendung des Binnenmarktes gefährden, nur ganz ausnahmsweise in Betracht. Insbesondere verschärfte Abgaswerte sollen im Wege des Alleingangs nicht erlassen werden können. Zum einen soll Art. 100 a Abs. 4 nur die Beibehaltung der bereits beim Inkrafttreten einer Richtlinie geltenden nationalen Vorschriften ermöglichen, nicht den Erlaß neuer verschärfter Standards. Wichtigstes Argument ist in diesem Zusammenhang neben dem Wortlaut die Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung, die nicht nachträglich zur Disposition einzelner Mitgliedstaaten gestellt werden dürfe. Außerdem soll der nationale Alleingang nur unter engen Voraussetzungen dem tatsächlich überstimmten Staat im Falle einer Mehrheitsentscheidung möglich sein, sofern keinerlei andere Alternativen zur Verfügung stehen (also z. B. Tempolimit statt Katalysator). 2. Funktion
der
Schutzklausel
Für eine enge Auffassung spricht zunächst, daß der EuGH immer wieder die Notwendigkeit betont hat, die Schutzklauseln des Vertrages im Interesse einer effektiven Verwirklichung der Vertragsziele restriktiv aus-
40 L. Krämer, in: Rengeling (Hrsg.), Europäisches Umweltrecht und europäische Umweltpolitik, S. 137, 155; Langeheine, EuR 1988, 235, 249; ders., in: Grabitz (Hrsg.), EWG-Vertrag, Rdn. 65 zu Art. 100 a; in dieser Richtung auch C. D. Ehlermann, der allerdings eine Befugnis einräumen will, beibehaltene innerstaatliche Vorschriften unter den Voraussetzungen des Art. 100 a Abs. 4 zu ändern, vgl. CMLR 1987, 361, 392. 41 C C M C , CLCA, Europe 1992, Compatible with Unique National Technical Regulations ?, Brüssel, Januar 1989.
27
zulegen; 4 2 muß da nicht in der Tat der Gesichtspunkt ausschlaggebend sein, daß längerfristig eben Mehrheitsbeschlüsse in einem Binnenmarkt ohne Grenzen - soweit irgend möglich - für alle verbindlich sein müssen? Der ausschließliche Blick auf den Binnenmarkt ohne Grenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital gewährleistet ist, läßt jedoch wesentliche Gesichtspunkte der Einheitlichen Europäischen Akte außer acht. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte wird ausdrücklich anerkannt, daß die wirtschaftlichen Freiheiten des Vertrages, so wichtig sie für die Gemeinschaft und den einzelnen auch sind, in einem Gesamtzusammenhang mit anderen Vertragszielen wie Umweltschutz und Verbesserung der Arbeitsumwelt verwirklicht werden müssen. Die entscheidende Frage lautet demnach: Kommt im Gemeinsamen Markt der Verwirklichung der Marktfreiheiten absolute Priorität zu oder sind - unter gewissen Voraussetzungen - vorübergehende oder vielleicht auch dauernde Einschränkungen der Marktfreiheiten zulässig und geboten, wenn dadurch die Grundbedingungen, unter denen wirtschaftliche Freiheiten wahrgenommen werden, im Sinne einer Wohlfahrt möglichst vieler verbessert werden? Der Vertrag selbst gibt hierauf eine Antwort. Für den Umweltschutz, aber auch für die anderen in Art. 100 a Abs. 3 genannten Bereiche gilt, daß nur derjenige freie Warenverkehr, der den Gemeinwohlbelangen ausreichend Rechnung trägt, als das vom Vertrag erstrebte Ziel angesehen werden kann. Der nationale Alleingang nach Art. 100 a Abs. 4 ist in diesem Zusammenhang auszulegen. Er ist nicht - oder zumindest nicht primär - ein Instrument zur Beförderung nationaler Sonderinteressen. Er ist vielmehr das gemeinschaftliche Instrument, mit dessen Hilfe die systemimmanente Gefahr der Rechtsangleichung nach unten kompensiert werden kann. 43 N u r mit Hilfe eines nationalen Alleingangs, der auf die Beibehaltung oder Einführung nachweislich höherer Standards gerichtet ist, kann der Gefahr einer Verkrustung der EG-Rechtsordnung, ihrer systemimmanenten Unfähigkeit, auf veränderte Gefahrenlagen zu reagieren, wirksam begegnet werden.
42 Vgl. hierzu eingehend A. Bleckmann, Studien zum europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 17, 34 f.; Everling, in: Festschrift für H . van der Groeben, 1987, S. 111, 126. 43 M.Zuleeg, N V w Z 1987, 280f.; im gleichen Sinne Gulmann, C M L R 1987, 31, 35; J.Flynn, C M L R 1987, 689, 696; Möller, E A 1987, 497, 503; D.Scheuing, Umweltschutz auf der Grundlage der Einheitlichen Europäischen Akte, E u R 1989, 152ff.; P. Ch. Müller-Graff, Die Rechtsangleichung zur Verwirklichung des Binnenmarktes, E u R 1989, 107 ff.
28
Mit dem Übergang zur Mehrheitsentscheidung ist zwar die C h a n c e gestiegen, auf einem mittleren Niveau gemeinschaftseinheitlich geltende E G - S t a n d a r d s festzulegen. In dem zwischenstaatlich strukturierten E G Rechtssetzungsprozeß wird es aber nicht immer gelingen, dem G e b o t der Stunde ausreichend R e c h n u n g zu tragen. Zwar wird durch die Einheitliche Europäische A k t e die K o m m i s s i o n auf ein hohes Schutzniveau bei ihren Vorschlägen in den Bereichen Sicherheit, Gesundheit,
Umwelt-
schutz und Verbraucherschutz verpflichtet. O b sich hieraus einklagbare Verpflichtungen ableiten lassen, ist aber fraglich. 4 4 D e r E u G H hat bislang den Gemeinschaftsorganen einen breiten wirtschaftspolitischen Beurteilungsspielraum zugebilligt. 4 5 Es ist kaum anzunehmen, daß der E u G H im H i n b l i c k auf das Schutzniveau geplanter E G - N o r m e n seine K o n t r o l l dichte erhöhen könnte. M i t dem U b e r g a n g zur Mehrheitsentscheidung ist zwar die C h a n c e gestiegen, auf einem mittleren Niveau E G - S t a n d a r d s festzulegen. E s wäre aber unrealistisch, v o m
EG-Rechtsetzungsprozeß
die C h a n c e einer Einigung auf einem höheren Schutzniveau erwarten zu wollen. Z u schwach sind hier bislang noch die Mechanismen, die auf die Durchsetzung der Interessen der anonymen Mehrheit ausgerichtet sind. Sind einmal auf dem W e g e eines meist mühsamen zwischenstaatlichen Kompromisses unter Austarierung der unterschiedlichen nationalen W i r t schaftsinteressen E G - S t a n d a r d s verabschiedet worden, dann bedeutet dies in aller Regel nur noch schwer revisible Festlegungen. 4 6 Bei den Regierungen und den Wirtschaftsverbänden, die sich auf die bestehenden N o r m e n einmal eingerichtet haben, besteht in aller Regel keine Bereitschaft mehr, auf eine Änderung einmal verabschiedeter Standards hinzuwirken. D e m innerstaatlichen politischen D r u c k kann durch den Hinweis auf die E G K o m p e t e n z e n begegnet werden. A u f E G - E b e n e ist - jedenfalls bislang - der Entscheidungsprozeß noch weitgehend zwischenstaatlich strukturiert. Das Europäische Parlament hat nach der Einheitlichen Europäischen A k t e zwar gewisse M i t w i r kungsrechte. D i e Rechtssetzungskompetenz liegt aber im wesentlichen bei den Regierungen, die - wie sich gezeigt hat - gerade im E G - E n t scheidungsverfahren unter starkem D r u c k kurzfristiger wirtschaftlicher Interessendurchsetzung stehen. D i e innerstaatlich für die Berücksichtigung langfristiger Gemeinwohlinteressen so wichtigen A n s t ö ß e außer-
4,1 Vgl. dazu L.Krämer, in: Rengeling (Hrsg.), Europäisches Umweltrecht und europäische Umweltpolitik, 1987, S. 186. 45 Vgl. für die Haftung nach Art. 215 EuGH Slg. 1978, 1209, 1229; für weitere Nachweise s. Grabitz (Hrsg.), EWG-Vertrag, Rdn. 36 ff. zu Art. 215. 46 Tomuscbat spricht treffend von der „Lethargie des Geleitzugprinzips" in: Festschrift für P. Pescatore, S. 741.
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parlamentarischer Gremien, der Öffentlichkeit und parlamentarischer Gruppierungen werden auf europäischer Ebene bislang politisch allenfalls dann fruchtbar, wenn auf der Ebene der Mitgliedstaaten noch Handlungsmöglichkeiten zur Weiterentwicklung von EG-Standards vor allem im Bereich des Umweltschutzes bestehen. Erst unter der unverhüllten Drohung des nationalen Alleingangs haben sich denn auch die Kommission und im Anschluß daran der Rat im J u n i 1989 dazu entschlossen, ihre bisherigen Vorschläge über Abgasstandards zu revidieren und ab 1993 auch für Kleinwagen die schon lange überfälligen amerikanischen Standards einzuführen, nachdem sich auch das Parlament im M ä r z 1988 für schärfere Grenzwerte ausgesprochen hat. Erst dadurch, daß den Mitgliedstaaten mit Hilfe der Schutzklausel die Beibehaltung und der Erlaß erhöhter Standards ermöglicht wird, werden auch die anderen Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftsorgane veranlaßt, eine Rechtsangleichung auf einem höheren technisch erreichbaren und ökonomisch sinnvollen Niveau anzustreben und sich nicht mit dem Erreichten auf einem unzureichenden mittleren Niveau zu begnügen. Zugleich wird durch die Bindung des Gebrauchmachens von der Schutzklausel an die Voraussetzungen des Art. 100 a Abs. 4 gesichert, daß keine übertriebenen oder verkappt protektionistischen Standards erlassen werden können. Auch liegt es im ökonomischen Eigeninteresse der betroffenen Mitgliedstaaten, nur dann z u m Mittel des nationalen Alleingangs zu greifen, wenn wirklich zwingende Gründe des Allgemeinwohls gegeben sind. Die Einführung verschärfter Standards bedeutet nämlich im Ergebnis eine Kostensteigerung für die einheimische Produktion und eine mögliche Verschlechterung ihrer Wettbewerbssituation im Vergleich zu ausländischen Produkten, die lediglich an die niedrigeren EG-Standards gebunden sind. Jedenfalls bei einer auf Export orientierten Industrieproduktion sind daher der Durchsetzung verschärfter Standards ökonomische Grenzen gesetzt. Ist es richtig, daß Art. 100 a eine wichtige Funktion zur Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts z u k o m m t , so wird man den nationalen Alleingang auch nach Erlaß b z w . Inkrafttreten einer Gemeinschaftsregelung noch für zulässig halten. 4 7 Daraus resultierende Einschränkungen des freien Warenverkehrs erweisen sich angesichts des bereits erreichten Standes als nicht so gewichtig, daß sie den Vorrang vor einem möglichst
47
M.Zuleeg,
31, 35; J.Flynn,
NVwZ 1987, 280 f.; im gleichen Sinne Gulmann,
CMLR 1987, 689, 696; Möller, EA 1987, 497, 503;
CMLR 1987,
Müller-Graff,
aaO (Fn. 43); Scheuing, aaO (Fn. 43); a. M. C. Krämer, in: Europäisches Umweltrecht und europäische Umweltpolitik, 157; Langebeine, EuR 1988, 237; Ehlermann, CMLR 1987, 360, 390.
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effektiven Schutz der in A r t . 100 a angeführten Allgemeininteressen beanspruchen k ö n n e n . Z u m einen ist zu beachten, daß der E u G H
nach
Art. 100 a Abs. 4 das G e b r a u c h m a c h e n von der Klausel in einem beschleunigten Verfahren gerichtlich überprüfen kann. Z u m anderen wird schon aus wirtschaftlichen G r ü n d e n die Schutzklausel des Art. 100 a A b s . 4 kein Einfallstor für einen neuen Protektionismus werden können.
3. Voraussetzungen
des Art. 100 a Abs. 4
Aus der F u n k t i o n des A r t . 100 a A b s . 4 als „Schutzverstärkungsklausel" 4 8 folgt auch, daß es nicht entscheidend sein kann, o b eine Entscheidung, die nach Art. 100 a Abs. 1 mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden kann, tatsächlich mehrheitlich getroffen worden ist und o b der Mitgliedstaat, der von der Schutzklausel G e b r a u c h machen m ö c h t e , im Einzelfall gegen die fragliche E G - N o r m gestimmt hat. 4 9 W ü r d e man ein Uberstimmtwerden verlangen, so würde das bedeuten, daß ein Mitgliedstaat gegen eine E G - N o r m , die er zwar für unzureichend, aber immer noch für eine Verbesserung gegenüber dem bisherigen E G - R e c h t s z u s t a n d hält, stimmen muß, u m sich die O p t i o n des nationalen Alleingangs zu erhalten - ein offenkundig unvernünftiges Ergebnis. D e r inhaltlich dissentierende Mitgliedstaat riskiert nämlich, daß wegen seiner Stimmabgabe die Beschlußfassung letztlich scheitert. Aus diesem G r u n d e spricht alles dafür, auch dem zustimmenden Mitgliedstaat den nationalen Alleingang offen zu halten, sofern er mittels eines Vorbehalts seine
inhaltliche
Nichtübereinstimmung mit der vorgeschlagenen Regelung zum Ausdruck bringt. 5 0 In dieser Weise ist auch die Bundesrepublik Deutschland verfahren, als sich die E G - U m w e l t m i n i s t e r im N o v e m b e r letzten Jahres über Abgaswerte für Kleinwagen verständigt haben. Entsprechendes gilt für das Erfordernis einer Beschlußfassung
mit
qualifizierter Mehrheit, das bei wortgetreuer Auslegung des Art. 100 a Abs. 4 Voraussetzung für einen nationalen Alleingang ist. Auch hier wäre es aber unsinnig, wollte man die Mitgliedstaaten, die eine vorgeschlagene Regelung für unzureichend halten, aber dennoch eine Beschlußfassung
Der Ausdruck stammt von Scheuing, aaO (Fn. 43). Langeheine, in: Grabitz (Hrsg.), EWG-Vertrag, Rdn.62 zu Art. 100 a; Jacqué, Revue Trimestrielle de Droit Européen 1986, 575, 600; G. Meier, NJW 1987, 537, 540; Ehlermann, C M L R 1987, 361, 389; L.Krämer, in: Rengeling (Hrsg.), Europäisches Umweltrecht und europäische Umweltpolitik, 137, 154 f. 50 Lietzmann, in: Rengeling (Hrsg.), Europäisches Umweltrecht und europäische Umweltpolitik, S. 182; ebenso Glaesner, in: Rengeling (Hrsg.), Europäisches Umweltrecht und europäische Umweltpolitik, S. 182; Müller-Graff, aaO (Fn. 43); Montag, RIW 1987, 935, 942. 48 49
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ermöglichen wollen, zwingen, durch vorherige Absprache innerhalb des Rates sicherzustellen, daß keine einstimmige Entscheidung im Rat gefällt wird. 5 1 Darüber hinaus ist auch zu beachten, daß im Rahmen des K o o p e rationsverfahrens
unter
Umständen
nur
bei
Einstimmigkeit
eine
Beschlußfassung möglich ist. Dies ist z. B. bei Beschlüssen nach Art. 100 a A b s . 1 der Fall, wenn das Parlament den gemeinsamen Standpunkt des Rates insgesamt ablehnt oder wenn der Rat in der zweiten Lesung von einem geänderten Kommissionsvorschlag abweichen will. D e r Gefahr, daß die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts und der Marktfreiheiten in unvertretbarer Weise in Frage gestellt werden kann, wird durch die materiellen und verfahrensmäßigen Voraussetzungen eines nationalen Alleingangs nach Art. 100 a wirksam begegnet. N u r bei Vorliegen wichtiger Erfordernisse ist die Abweichung gestattet. Insoweit kann auf eine umfangreiche Rechtsprechung des E u G H zum Begriff der „zwingenden Erfordernisse" für die Geltendmachung der Schutzklausel des Art. 36 verwiesen werden. 5 2 D a s v o m E u G H hierzu entwickelte Instrumentarium hat es in der Vergangenheit durchweg ermöglicht, offenem und verkapptem Protektionismus der Mitgliedstaaten wirksam zu begegnen. E s liegen keine Anzeichen dafür vor, warum das bei der Schutzklausel des Art. 100 a A b s . 4, die nur die Abweichung nach oben, die Anwendung verschärfter - nicht etwa andersartiger -
Standards
gestattet, anders sein sollte. Unverändert gilt deshalb auch der Grundsatz, daß eine einmal in der Gemeinschaft in den Verkehr gebrachte Ware grundsätzlich im gesamten Gemeinschaftsgebiet verkehrsfähig ist, sofern nicht ein Mitgliedstaat objektiv nachprüfbare wichtige Erfordernisse für die Wahrung von Allgemeinwohlinteressen vorbringt. Allerdings steht die Heranziehung der zu Art. 30/36
entwickelten
Grundsätze unter dem Vorbehalt, daß das Schutzinteresse in Art. 100 a A b s . 4 nicht unter Hinweis auf den gemeinschaftseinheitlich bereits definierten Schutzstandard bestritten werden kann. D i e Schutzklausel beruht ja gerade darauf, daß abweichend von einem gemeinschaftseinheitlich von der Mehrheit für ausreichend gehaltenen Standard von einzelnen Mitgliedstaaten eine Erhöhung für unabdingbar angesehen wird. D a s bedeutet kein einseitiges Bestimmungsrecht des Mitgliedstaates, der von der Klausel Gebrauch macht. Vielmehr ist das Vorliegen der Voraussetzung der Schutzklausel nach gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen überprüf-
51
Vgl. Gulmann, CMLR 1987, 31, 37; Scheuing, aaO (Fn.437); a.M. Jacqué,
Revue Trimestrielle de Droit Européen 1986, 575, 600; L.Krämer, in: Rengeling (Hrsg.), Europäisches Umweltrecht und europäische Umweltpolitik, S. 155. 52 E u G H Slg. 1979, 649, 662; Slg. 1980, 2071, 2078.
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bar. M a n wird dem Mitgliedstaat aber eine Einschätzungsprärogative in der Frage zubilligen k ö n n e n , für welches Schutzkonzept er sich angesichts einer nachweisbaren Gefährdung eines in A r t . 100 a genannten Rechtsgutes entscheidet. 5 3 D e r Bundesrepublik Deutschland kann daher z. B . nicht die Einführung eines allgemeinen Tempolimits aufoktroyiert werden, um damit zu begründen, daß die Einführung eines Katalysators überflüssig ist. Allerdings müssen für das Vorliegen wichtiger Erfordernisse objektiv überprüfbare G r ü n d e nachgewiesen werden. 5 4 Insoweit k o m m t auch den Stellungnahmen des Europäischen Parlaments eine erhebliche Bedeutung zu, ist es doch in besonderer Weise dazu berufen, die durch A r t . 100 a A b s . 4 herausgehobenen Allgemeininteressen zur Geltung zu bringen.. Schließlich ist auch durch die Notifizierungspflicht an die K o m m i s s i o n nach A r t . 100 a Abs. 4 eine zusätzliche K o n t r o l l e gegeben. O b der Bestätigung der nach A r t . 100 a A b s . 4 ergriffenen Schutzmaßnahmen durch die K o m m i s s i o n allerdings konstitutive W i r k u n g z u k o m m t , eine Ablehnung der Bestätigung durch die K o m m i s s i o n somit Suspensiveffekt entfaltet, ist freilich eher zweifelhaft. Hiergegen spricht, daß an anderen Stellen des Vertrages der K o m m i s s i o n ausdrücklich Suspendierungsbefugnisse eingeräumt werden, wie z . B . in Art. 93 A b s . 2 und 3 bei innerstaatlichen Beihilfen. Dagegen spricht auch das in Art. 100 a Abs. 4 vorgesehene abgekürzte gerichtliche Verfahren. Es wäre letztlich entbehrlich, hätte es die K o m m i s s i o n in der H a n d , den nationalen Alleingang bis zur gerichtlichen Entscheidung zu verbieten. 5 5 Auch aus der Richtlinie 8 3 / 1 8 9 vom 2 8 . 3 . 1 9 8 3 über ein Informationsverfahren auf dem G e b i e t der N o r m e n und technischen Vorschriften 5 6 ergeben sich keine weitergehenden Informations- und
Kooperations-
pflichten der Mitgliedstaaten im Falle eines „nationalen Alleingangs" nach Art. 100 a A b s . 4. D i e Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, die K o m m i s s i o n regelmäßig über geplante Normungstätigkeiten zu unterrichten
und
gegebenenfalls
den
Erlaß
technischer
Normen
bis
zu
53 Weitergehend Flynn, C M L R 1987, 689, der die subjektiven Gründe eines Staates für nicht überprüfbar hält; a. M. die überwiegende Literatur; vgl. z. B. Langeheine, EuR 1988, 235, 253 f. 54 EuGH Slg. 1979, 649; vgl. Matthies, in: Grabitz (Hrsg.), EWG-Vertrag, Rdn. 18 f. zu Art. 30; Langeheine, aaO (Fn. 53). 55 Gulmann, C M L R 1987, 31, 39; Montag, RIW 1987, 935, 942; ebenso offenbar auch Pescatore, EuR 1986, 161; in diesem Sinne auch Glaesner, der allerdings aus der Verweigerung der Bestätigung die Pflicht ableitet, die Maßnahmen zurückzunehmen, i n : } . Schwarze (Hrsg.), Der Gemeinsame Markt, 1987, 9, 28; ders., EuR 1986, 119f. 56 AB1EG 1983 Nr. L109/8; vgl. dazu Langeheine, in: Grabitz (Hrsg.), EWG-Vertrag, Rdn. 56 zu Art. 100.
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6 Monaten aufzuschieben, falls die Kommission oder ein Mitgliedstaat binnen 3 Monaten nach der Mitteilung eine detaillierte Stellungnahme abgibt, wonach die beabsichtigte Normung geändert werden sollte, um Handelshemmnisse zu verhindern oder einzuschränken. Teilt die Kommission ihre Absicht mit, eine entsprechende Harmonisierungsmaßnahme vorzuschlagen, so sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, für einen Zeitraum von bis zu 12 Monaten ihre beabsichtigten Normierungsmaßnahmen auszusetzen. Die Richtlinie bezieht sich ihrem Inhalt und Zweck nach auf den Bereich der noch nicht gemeinschaftseinheitlich geregelten technischen Normung. Ihre wesentliche Funktion liegt in der Veranlassung einer gemeinschaftseinheitlichen Normgebung, um auf diese Weise divergierende innerstaatliche technische Vorschriften auszuschalten. Sie unterscheidet sich daher deutlich vom Anwendungsbereich der Schutzklausel nach Art. 100 a Abs. 4. Wegen dieser unterschiedlichen Sachlage können auch die in der Richtlinie 83/189 enthaltenen Stillhaltepflichten nicht auf den Erlaß von Schutzmaßnahmen nach Art. 100 a Abs. 4 entsprechend angewendet werden.
4. Abschließende
Überlegungen
Ist nicht in einem wirklichen Binnenmarkt für nationale Alleingänge ebensowenig Platz wie in einem föderalistischen Staat? Muß man nicht akzeptieren, daß nicht nur über Abgaswerte, sondern auch über den Einsatz von Kernenergie verbindlich von spanisch-irisch-französischitalienischen Mehrheiten entschieden wird? Ist eine Entscheidung auf europäischer Ebene für die Beteiligten wirklich schlimmer als die Entscheidung einer andersgläubigen Mehrheit im Bundestag? Natürlich nicht - scheint die einzig mögliche Antwort, jedenfalls dann, wenn man das Ziel einer weitergehenden politischen Union für richtig hält. Aber die Frage geht am Kern des Problems vorbei: es geht nicht oder jedenfalls nicht primär darum, ob man bereit ist, sich von einer Mehrheit in Europa überstimmen zu lassen. Es geht vielmehr darum, wie in der Europäischen Gemeinschaft heute und in der nächsten Zukunft der Rechtssetzungsprozeß so gestaltet werden kann, daß Innovationen und Anpassungen an eine rapide voranschreitende Umweltveränderung möglich bleiben. Der europäische Rechtssetzungsprozeß muß eine Sicherheit dafür bieten, daß keine Erstarrung auf dem „Niveau des Geleitzugsprinzips" stattfindet. 57 Dafür sind derzeit weder institutionell noch materiell-
57
Vgl. dazu Tomuschat (Fn. 46).
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rechtlich hinreichende Garantien vorhanden. Institutionell ist der gemeinschaftliche Rechtssetzungsprozeß bisher noch zu sehr als zwischenstaatlicher Interessenausgleich, als Zwang zum Kompromiß ausgelegt, bei dem im „package deal" versucht wird, den Mitgliedstaaten gegen Gegenleistungen auf anderen Gebieten Konzessionen abzuringen. Im gegenwärtigen Stadium der Gemeinschaft ist dieses Verfahren sicherlich unverzichtbar. Die großen wirtschaftlichen Erfolge der E G dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit dem fortschreitenden Souveränitätsverlust bei den Mitgliedstaaten und einem korrespondierenden Kompetenzzuwachs der E G in Bereichen, die herkömmlich dem ordre public der Mitgliedstaaten zugerechnet werden, neue Gefahren und Probleme erwachsen. Sie ergeben sich daraus, daß Verfahrensweisen zur Herausbildung eines europäischen ordre public bislang noch nicht hinreichend ausgebildet sind. Möglicherweise fehlt es hierzu bislang auch noch an den Integrationsvoraussetzungen.
Eine Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen,
die
Kernfragen des nationalen ordre public berühren, setzt ein beträchtliches Maß an politischer, wirtschaftlicher und sozialer Integration voraus. Durch eine Rechtsangleichung mit forciertem Kompetenzübergang auf die Gemeinschaft kann das erforderliche Maß an Integration allein noch nicht erreicht werden. Eine unerläßliche Voraussetzung für die Herausbildung integrationsfördernder Strukturen ist u. a. auch der bislang von der Gemeinschaft nicht hinreichend beachtete Aspekt des Föderalismus und der gegenseitigen Rücksichtnahme auf nationale und regionale Besonderheiten und Strukturen. Das Konzept einer prinzipiellen Antiquiertheit aller innerstaatlichen Maßnahmen, die in irgendeiner Weise den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital behindern, wird der Weiterentwicklung der Gemeinschaft nicht gerecht. Die Frage nach der Legitimität nationaler Alleingänge läßt sich daher auch nicht allein unter Heranziehung von Prinzipien entscheiden, die in der Anfangsphase der Gemeinschaft durchaus ihren Sinn hatten. Der Binnenmarkt ist in der Verwirklichung der Marktfreiheiten bereits erheblich fortgeschritten. Bis 1992 werden - von kleineren Teilbereichen abgesehen - die Freiheiten des Warenverkehrs,
der
Personenfreizügigkeit,
der Niederlassungs-
und
Dienstleistungsfreiheit weitgehend verwirklicht sein. Das Augenmerk hat sich in der nächsten Phase der Gemeinschaft daher auf die Frage zu konzentrieren, auf welche Weise die öffentlichen Interessen an der Erhaltung der natürlichen Umwelt, dem Schutz der Arbeitsumwelt und der Sicherheit und Gesundheit der Bevölkerung auch in einem liberalisierten Binnenmarkt
effektiv
durchgesetzt
werden
können.
Angesichts
der
gegenwärtigen institutionellen Strukturen in der Gemeinschaft kann dabei auf den nationalen Alleingang als Antrieb für die Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts noch nicht verzichtet werden.