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German Pages 25 [32] Year 2017
H A N S PETER I P S E N Verfassungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaften
SCHRIFTENREIHE DER JURISTISCHEN GESELLSCHAFT e.V. BERLIN
H e f t 37
Berlin 1970
WALTER DE GRUYTER & CO. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J. T r ü b n e r * Veit & Comp.
Verfassungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaften Von Hans Peter Ipsen Professor an der Universität Hamburg
Vortrag gehalten vor der Berliner Juristischen Gesellschaft am 17. April 1970
Berlin 1970
WALTER DE GRUYTER & CO. vormals G. J. Göachen'eche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp.
ArAiv-Nr. 2727 70 7 Satz und Drude: $ Saladrudt, Berlin 36 Alle Rechte, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Fotokopien und Mikrofilmen» •orbehalten.
Senatspräsident Dr. Hans Pardey zugeeignet nach 21 Jahren Mitarbeit in seinem I. Senat des Hamburgischen Oberverwaltungsgeridits
Verfassungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaften Wenn mein Thema „ Ver/tf55«ng5perspekti ven", und diese in einer Zeichnung der Europäischen Gemeinschaften, für manche unter Ihnen bereits ein rechtes intellektuelles Ärgernis bedeuten sollte, weil Verfassung primär als staatsbezogen gilt, ich die Gemeinschaften aber gerade nicht-staatlich sehe, ist ein Zweck meiner provokativen Thema-Formulierung bereits erreicht. Ein weiterer Zweck wird sich, wie ich hoffe, im weiteren Gedankengang herausstellen. Vorsorglich will ich ihn aber sogleich andeuten: Ein im Europäischen Gemeinschaftsrecht weithin bekannter Jurist, der erste französische Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, Maurice Lagrange, hat i. J. 1966 bemerkt, jeder Professor sei der Versuchung ausgesetzt, Analogien oder Vergleiche in den Systemen zu suchen, die ihm vertraut seien — „parce que le role du professeur est difficile". So sehr ich von dieser Situation des Professors heute nun in der Tat überzeugt bin, werde ich bei der Behandlung meines anscheinend siiwisrechtlich determinierten Themas versuchen, vornehmlich nicht aus Analogien und Vergleichen zu argumentieren, die mir staatsrechtlich vertraut sind — obwohl gerade (aber beileibe nicht nur) deutsche Professoren dieser Versuchung tatsächlich ausgesetzt zu sein scheinen. Mein Saarbrücker Kollege Heinz Wagner hat mir zu entsprechenden literarischen Bemühungen denn auch bereits im Klartext attestiert 1 , Berufseuropäer würden mich nicht länger zu den ihren zählen. Ich lasse offen, ob mich das trifft. Da die Berufs-Grundgesetzler und Etatisten das ohnehin schon nicht mehr tun, sitze ich also offenbar zwischen allen Stühlen — le role du professeur est difficile! Nach dieser zweifachen Zweckbestimmung meiner Thematik — und um jetzt seriöser zu werden — ein Hinweis auf den gedachten Gang meiner Überlegungen: ich werde zur Grund1 In seiner Besprediung meiner Sdirift: Fusionsverfassung Europäische Gemeinschaften (1969) in: Der Staat Bd. 9 (1970) H e f t 2.
2 legung zunächst versuchen, die Europäischen Gemeinschaften in ihrer Erscheinung, Zwecksetzung und Funktionsweise kurz zu kennzeichnen. Es geht bei dieser Charakterisierung um die Platzanweisung in einem Bereich institutionalisierter Verfahren zur friedlichen Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte und zur Sicherung und Befriedigung menschlicher Daseinsansprüche außerhalb des Nationalstaates. Es geht also — wie Arnold Gehlen es jüngst formuliert hat — um diese Aufgabe außerhalb des Gebildes, dessen Sinn letzten Endes nur als rational organisierte Selbsterhaltung eines geschichtlich irgendwie zustandegekommenen Zusammenhangs von Territorium und Bevölkerung verstanden werden kann. Auf dem Hintergrund dieser Charakterisierung der Europäischen Wirtschaftsintegration nach ihren Sondermerkmalen sei dann versucht, vier — nach meiner Meinung — maßgebliche Verfassungsfragen perspektivisch zu zeichnen, die sich auf der Grundlage geltenden Gemeinschaftsrechts, aus der Lage unserer Staatlichkeit und ihrer Verfassung stellen. Ich denke dabei pro futuro an Fragen, die sich stellen, wenn wir in den üblichen europäischen Zeit- und Schrittmaßen an die nächsten (sagen wir) 12 oder 24 Jahre denken. Diese vier Verfassungsfragen sind: 1) funktionelle Integration im Zweckverband oder unvollendeter, aber zu vollendender Bundesstaat? 2) die Verfassungskategorie der Supranationalität; 3) die Frage der demokratischen Konsentierung der öffentlichen Gemeinschaftsgewalt; 4) die Frage ihrer Rechtsbindung, insbes. an Grundrechte des Einzelnen, des Marktbürgers. Zunächst also zur Grundlegung: Die mit der Montan-Union im Jahre 1951 begonnene, mit den Römischen Verträgen von 1957 fortgesetzte und nicht mehr sektoral begrenzte Wirtschaftsintegration gehört in den Umkreis der Nachkriegsbemühungen, mit friedlichen Mitteln rechtlicher Ordnung die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben zu organisieren irgendwie außerhalb oder oberhalb nationalstaatlicher Verfassung. Wer versucht, die Wirtschaftsintegration hier einzuordnen, muß ihre Besonderheit und Andersartigkeit in mindestens fünf Faktoren sehen: einmal im (zwangsläufig für die souveränen Staaten der Völkerrechtsgemeinschaft notwendigen) Einsatz des Instrumentariums völkerrechtlichen Vertragsschlusses zur Schaffung von In-
3 tegrationsverbänden und -Trägern, die ihrerseits in Organisation, Entscheidungsmechanismen und -Verfahren den bewährten Typ internationaler Kooperation durch eine Art Überhöhung hinter sich lassen. Ich meine mit dieser Überhöhung die rechtlich verfaßte, mit selbständiger öffentlicher Gewalt ausgestattete Gemeinschaftsorganisation. Ihre Organwalter vermögen im Rahmen der ihnen vertraglich zugemessenen Zuständigkeiten Einzel- und Allgemeinregelungen gegenüber den Mitgliedstaaten und gegenüber ihren Staatsangehörigen zu treffen, ohne daß es hierzu transformierender oder ihre Anwendung gestattender nationaler Inkorporierung oder Anwendungszulassung bedürfte. In welcher Weise die Mitgliedstaaten diese neue Ordnung verfassungsrechtlich ermöglichen konnten, ist hier nicht zu vertiefen. Daß bei uns das Grundgesetz mit einer Art Öffnung seiner Staatlichkeit diese Schritte durch Art. 24 I GG ermöglicht hat und verfassungsrechtlich ermöglichen durfte, sollte heute ernstlich nicht mehr bestreitbar sein. Für weitere Beitritte bleibt das problematisch. Soweit ich sehe, haben bislang weder die Brüsseler Kommission noch die amtlich Zuständigen in Groß-Britannien diese Verfassungsfrage des englischen Beitritts ausgelotet. Ein englischer Fachkollege schätzt die Zahl der Insel-Juristen, die das bisher auch nur begriffen haben, auf bis 5 bis 6 2 . Die zweite Andersartigkeit und Neuartigkeit der Wirtschaftsintegration sehe ich darin, daß sie (in unterschiedlicher Intensität, in Zeit- und Prozedurstufung) sektorale Bereiche der Wirtschaft und bestimmte Verhaltensweisen wirtschaftlicher Teilhabe am Markt in die Ordnung und Beeinflussung der Gemeinschaften und ihrer Zuständigkeiten überführt hat, und dies sicherlich in den Maßen, in denen sie bis dahin nationaler öffentlicher Ordnung und Beeinflussung unterstanden. Dieser in Stu2 Der 6. oder 7. Engländer, der das begriffen hat, wäre dann Venton Bresler, Common Market v. Common Law, in: Pundi, Febr./März 1970 S. 304: "And that staple food of the British working man: the English sausage — the «banger» — will disappear. Because it contains preservatives forbidden to be put in sausages by Continental food laws. N o politician has yet dared tell the British public that they will lose their precious «banger». In Britain's blackest year, 1940, when she stood alone and the night sky was dark with N a z i bombers, the British sausage continued — more or less — the same as throughout its long and savorous history" — armes England!
4 fen und Zeitmaßen ziel- und planbestimmte Prozeß hat bewirkt und wird weiter bewirken, daß der öffentlich-hoheitliche Einfluß auf die Wirtschaft in jenem Maße ein einheitlich-vergemeinschafteter wird, in dem die Märkte der Mitgliedsstaaten zu einem Gemeinsamen Markt binnenmarktartiger Strukturen integriert werden. Das ist für den Kohle-, Stahl- und Atomenergie-Markt von Beginn an, für den EWG-Markt während der zwölfjährigen Ubergangszeit bis heute in wesentlichen Teilen geschehen, insbes. durch Herstellung der Zollunion mit einem gemeinsamen Außenzolltarif und Beseitigung von Handelshemmnissen, durch Herstellung oder Fortentwicklung der sog. vier Freiheiten (der Freizügigkeit der Niederlassung, der Arbeitnahme, des Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs), durch die europäische Dimensionierung des Gleichheitssatzes in Art. 7 EWGV, der die Diskriminierung der Marktbürger aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet. Die dritte Besonderheit liegt in der vertragsrechtlich vorgesehenen, steigenden Einsetzbarkeit gewogener Mehrheiten für den Entscheidungsprozeß des höchsten Gemeinschaftsorgans, des Rates, damit in der Rechtschance der Veto-Uberwindung gegenüber mitgliedstaatlicher Souveränitätsbehauptung und damit zugleich in der intensivsten Entfaltung supranationaler öffentlicher Gewalt. Ich übersehe dabei keineswegs, daß die großen Krisen, die die Gemeinschaften 1963, 1965/66, im Sommer 1967 und bis Ende 1969, also in etwa zweijährigem Rhythmus, viermal erschüttert und die sie viermal überstanden haben, sämtlich mehr oder minder gerade um das Mehrheitsprinzip entstanden sind. Und ich übersehe ebensowenig, daß das sog. Luxemburger Patt vom Januar 1966 bis heute in being ist, nämlich der Praktizierung des Mehrheitsprinzips im Wege zu stehen scheint. Dies deshalb, weil das de Gaulle-Frankreich sich in vertragswidriger Weise die Selbst-Qualifikation solcher eminent politischen Nationalinteressen vorbehalten hatte, in denen es sich der Majorisierbarkeit durch Gemeinschaftsentscheidung mit dem Instrument des Vetos glaubte entziehen zu müssen. Der Vorbehalt ist in Luxemburg übrigens in Gestalt eines agreement about disagreement juristisch präziser formuliert als bislang und vor allem seit Pompidou entscheidend praktiziert worden. Das vierte Charakteristikum der Vergemeinschaftung liegt darin, daß sie die Zeichen der Zeit verstanden, jedenfalls ge-
5 nutzt hat, die unser Grundgesetz im Ansatz mit der Sozialstaatsklausel gesehen hatte und dann in den Jahren 1967/1969 mit der Änderung seines Art. 109 und dem Erlaß des Stabilitätsgesetzes fortschreitend formierte: die Tatsache nämlich, daß dem verfaßten Träger der Verantwortlichkeit für die rational organisierte Selbsterhaltung von Menschen eines Territoriums heute obliegt, gesellschaftliche Konflikte im Innern weithin durch öffentliche Wirtschafts- und Sozialpolitik auszugleichen und zu neutralisieren. Unter den Bedingungen der Industriestaatlichkeit heißt diese Aufgabe Wachstumsvorsorge durch planhafte Sicherung und Vermehrung des Sozialprodukts und Umverteilung (wie Arnold Gehlen es formuliert hat) „zur gesetzgeberischen Temperierung des Gegensatzes von arm und reich". Es ist im Rahmen meines Themas müßig und nicht meine Aufgabe, die darin gesehene Entleerung des Staatsbegriffs, seine Degradierung zum Vollstreckungsorgan wirtschaftlicher Prozesse zu beklagen. Das haben andere getan, wozu ich offen lasse, inwieweit sie dabei über das Ziel hinausgeschossen sind. Ich kann hier nur feststellen, daß die Gemeinschaftsverträge in zutreffender Einschätzung dieser Realitäten unserer Epoche durch ihre Zielbestimmungen und zeitgestuften Handlungsermächtigungen zu planhafter Wirtschafts- und Sozialpolitik den Auftrag und das Instrumentarium der Wirtschaftsintegration adaequater bestimmt und bereitgestellt haben, als das in den Mitgliedsstaaten zunächst selbst der Fall war. Und so ist es kein Zufall, sondern Konsequenz, daß eine gewisse Aufrüstung hierfür bei uns geschaffen worden ist unter maßgeblichen Anstößen und Beispielen auch des Gemeinschaftsrechts und seiner Anwendung, vor allem seit dem großen Straßburger Disput vom 20. November 1962 zwischen dem damaligen Bundeswirtschaftsminister und Hallstein um das Aktionsprogramm der Kommission für die zweite Stufe. Das letzte, fünfte Merkmal der Integration, das mir wesentlich erscheint, sehe ich in ihrem Ansatz und ihrer Selbstbeschränkung im wirtschaftlichen Bereich. Sie wissen, daß er zunächst verwendet worden ist im Grundstoffsektor von Kohle und Stahl mit der Montanunion — dort aber zweifellos weniger gezielt und sicherlich ohne Verweisung auf die soeben hervorgehobene öffentliche Verantwortung einer Wachstumsvorsorge. Die Montanunion bezweckte vorrangig die endgültige Uberwindung
6 eines saekularen außenpolitischen Rivalitäts- und Hegemonialkampfes über den Rhein hinweg und lag im deutschen Interesse des Abbaues des Ruhrstatuts. Den großen Ansatz im wirtschaftlichen Bereich haben dann erst die Römischen Verträge von 1957 genommen, und dies, nachdem der andere Ansatzversuch der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gescheitert war. Es ist ein altes Thema der sog. Berufseuropäer und berührt unmittelbar meine sogleich folgende erste Verfassungsperspektive, ob die Beschränkung der Integration auf den wirtschaftlichen Ansatz, also, wie man sagt, auf eine nur ökonomisch-funktionelle Integration, eine als soldie quasi unpolitische sei. Dieser Annahme widersprechen andere, weil Wirtschafts- und Sozialgestaltung eben auch Politik darstelle und mit ihren Sachzusammenhängen mit Außenhandel, Außenpolitik, Währungswesen, Währungspolitik usw. den Qualitätsausweis bereits partiell-politischer Integration beanspruchen könne. Es hat eine Periode gegeben (ich habe ihn etwas unhöflich am 3. Juli 1967 in der Laudatio anläßlich seiner Hamburger Ehrenpromotion 3 daran zu erinnern versucht), in der Walter Hallstein aus dieser auch politischen Qualifikation der Wirtschaftsvergemeinschaftung auf eine Vertrags immanente Automatik zur politischen Einigung aus der Gestalt der Gemeinschaften heraus geschlossen hat — also auf eine automatische Selbstverwandlung des funktionalen Zweckverbandes in eine bündische oder gar bundesstaatliche Art politischer Staatenverbindung. Sein Buchtitel von 1969 „Der unvollendete Bundesstaat" erinnert ein wenig an den Tatbestand des Rückfalls. Ich halte dieses Automatik-Argument — und nur so weit reicht meine Beurteilungs-Kompetenz — jedenfalls schon rechtlich für unbegründet und hebe gerade deshalb das letzte, hier soeben erörterte Charakteristikum der Vergemeinschaftung besonders hervor: es besteht darin, daß sie die öffentliche Verantwortung der Mitgliedstaaten für Außenpolitik, Verteidigung, innere Verwaltung, Sicherheit und Rechtsfrieden, Kultur und Wohlfahrt grundsätzlich — trotz aller Berührungspunkte und peripherer Grenzüberschreitungen — in der Substanz nicht antastet. Die Wirtschaftsvergemeinschaftung ist funktionell-be» EuR 1967 S. 193 ff.
7 grenzte Integration unter Bewahrung ecliter Staatlichkeit ihrer Mitglieder, und alle Verfassungsperspektiven werden diese summa divisio der Funktionsteilung zu respektieren haben. Zum Abschluß dieser Bemerkungen, die mir zur Grundierung meiner Perspektiven wesentlich erschienen, noch ein kurzer Blick auf die — so könnte man es nennen — wissenschaftspolitische Situation: es muß leider festgestellt werden, daß die wesentlichen Beiträge zur allgemeinen Erfassung der funktionellen überstaatlichen Integration, ihrer Eignung, Methoden, Organisation und Entscheidungsprozesse — auch (was wesentlich ist) im Verhältnis zum Nationalstaat als der historisch bis heute meist praktizierten Integrationseinrichtung — nicht von deutscher Wissenschaft erbracht werden und nicht erbracht worden sind. Das geht so weit, daß speziell auch zu den Europäischen Gemeinschaften, deren Mitbegründer und Mitglieder wir sind, die Beiträge anderer gewichtiger sind als die unsrigen, ohne daß idi die aus bundesstaatlicher Tradition gespeisten Impulse unserer Europäer der ersten Stunde damit verkleinern wollte. Die roten Zahlen, die ich hier malen muß, stehen (und das ist ein Trost für unsere Zunft) auch weniger auf dem deutschen Juristenkonto, wo schon unsere völkerrechtlichen Traditionalisten (von Scheuner bis Wengler und Münch bis Menzel) für hinreichende Aktivposten gesorgt haben (wenn auch nicht immer in der Gemeinschaftswährung, die ich für die richtige halte). Aber den amerikanischen Politologen und Soziologen von Deutsch und Etzioni bis Lindberg und Haas haben wir — mit ganz wenigen Ausnahmen — ebensowenig entgegenzusetzen wie denen des romanischen Sprachgebietes, die gerade jetzt die Referate ihres großen Kolloquiums von Lyon (1966) über den Entscheidungsprozeß (La decision) in den Gemeinschaften im Druck vorgelegt haben. Dieser Ausfall auf Seiten der deutschen Sozialwissenschaften ist höchst bedauerlich. Er ist für den deutschen Juristen ein schweres Hemmnis und für unseren Beitrag zu den Verfassungsperspektiven der Gemeinschaften ein ernstes Manko — ein wie großes, werden Sie an mir sogleich erkennen. Wir brauchten einen neuen Max Weber der europäischen Integration. Ein Hennis und Schelsky täte es sicherlich auch schon — aber sie sind intra muros befaßt und ausgelastet, und die deutsche Politologie
8 wohl auch mit anderen Sorgen beschäftigt als solchen wissenschaftlicher Gegenständlichkeit. Nach dieser Grundierung nun, wie angekündigt, die vier Verfassungsfragen, die perspektivisch angesprochen seien.
1. Zweckverband Bundesstaat?
funktioneller
Integration
oder hin zum
Um die Summe meiner Vorstellungen zu dieser Frage vorwegzunehmen: das geltende Gemeinschaftsrecht der Vertragsverfassungen gibt nichts Entscheidendes dafür her, daß die Gemeinschaften — auch nach ihrer bereits für 1972 vorgesehenen Fusionierung zu einer einzigen — aus ihrem Verfassungsvollzug heraus in einem Wandlungsprozeß die Züge bundesstaatlicher Organisation irgendeines bislang bekannten Typs annehmen könnten oder gar annehmen müßten. Und weiter: es trifft nicht zu, daß die Zielsetzungen funktioneller Integration, die jetzt die Gemeinschaften bestimmen, und diejenigen, die sich aus Konnexität zwangsläufig im Bereidi der Wirtschafts- und Sozialpolitik stellen werden und stellen müssen, — es trifft nidit zu, daß diese Zielsetzungen im Sinne von spill over- oder take off-Effekten (wie die Sozialwissenschaftler sie nennen) die hierfür notwendigen Fortentwicklungen der Gemeinschaftsverfassung unabdingbar auf den Weg irgendwie bundesstaatlicher Ordnung führen. Ob das der Fall sein wird, ist völlig offen und verfassungsrechtlich weder präjudiziert noch heute der Präjudikation bedürftig. Denn — als Antwort letztlich vorweg — : die öffentliche Verantwortung für Wirtschafts- und Sozialpolitik europäischer Staaten kann, soweit das in realistischen Zeitmaßen heute überschaubar erscheint, unter Belassung der anderen öffentlichen Aufgaben bei den Mitgliedsstaaten, also unter Scheidung großräumiger, integrierter und supranationaler Wirtschaftsordnung von überlieferter staatlicher Politik im übrigen in funktioneller Zweckverbands-Organisation wahrgenommen werden, und es ist die Wirtschaft, die in ihren modernen Strukturen (darin allein der Verteidigung vergleichbar) eine solche die Staaten übergreifende öffentliche Ordnung verlangt.
9 Und hierzu noch zur Begründung: in solcher Art der Aufgabenerfüllung in Lebensbereichen, die ihrerseits die entscheidenden Wandlungen des staatlichen Verfassungsauftrages zur Sozialgestaltung gerade hervorgerufen haben, muß Staat und Bundesstaat, müssen ihre Formen der Machtausübung, der Machtverteilung, der Konsentierung und Kontrolle nicht zwangsläufig Modell und Muster sein, können umgekehrt neue Organisationen und Formen der funktionellen Integration ihrerseits gerade Versuch und Beispiel für den staatlichen Verband abgeben. Ich bin mir hinreichend klar darüber, daß Sie — als Mitglieder einer traditionsreichen und bereditigterweise anspruchsvollen Juristengesellschaft — angesichts solcher Thesen Ihres Gastredners befürchten, an einen Futurologen einer anderen Fakultät geraten zu sein. Es ist aber keine Tageskonzession an die heute übliche Behauptung, Wissenschaft könne nur noch interfakultativ und im teamwork betrieben werden, wenn ich aus voller Überzeugung die Forderung vertrete, die Verfassungsthematik der europäischen Integration — nicht nur bei uns, bei uns aber besonders vordringlich — zu befreien aus der Enge normativ-juristischen Modell-, Analogie- und Kongruenzdenkens deutscher Bundesstaatstradition, historisch verharmlosender Erinnerungen an den deutschen Weg vom Zollverein zum Bundesstaat, aber auch zu befreien aus der Begrenztheit grundgesetz-introvertierter Perfektionsvorstellungen eines parteienstaatlichen Parlamentarismus, eines parlamentarischen Regierungssystems und einer Form von Rechtsstaatlichkeit, die sich ausschließlich nach Art des Art. 19 IV des Grundgesetzes artikulieren kann. Eine umfassendere Einbeziehung der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Versuche, die vor allem im amerikanischen und romanischen Bereich unternommen worden sind, um die hier gestellte Frage unbeschwert überhaupt erst einmal stellen zu können, und die Einsicht, daß die deutsche Rechtsdiskussion insoweit allzu beschwert und allzu begrenzt stattfindet, hat mich ermutigt. So war ich imstande, zu der Frage „Unvollendeter Bundesstaat — oder was sonst?" die eingangs formulierten Thesen auszuführen. Wer den Weg verfolgt, den die deutsche Wissenschaft vom öffentlichen Recht, die hierfür ja wohl primär zuständig ist, zu unserem Thema zurückgelegt hat, und wer ihre
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heutige Position ausmacht, wird meinen Appell vielleicht begreifen. Die deutsche Staatsrechtslehrervereinigung hat sich 1959 in Erlangen, 1964 in Kiel der Sache angenommen, dort immerhin schon unter der fortschrittlicheren Formulierung: „Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften." Dort haben Badura und Kaiser mit beachtlichen Ansätzen, indes ohne jene wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Rundum-Sicherung, die ich für erforderlich halte, auf einer Art „Kieler Welle" versucht, über jene deutschen Grenzen hinwegzureiten. Eine genau unserem Thema gewidmete Göttinger Untersuchung der Leibholz-Schule von 1967 (Sattler) ist dann radikal zurückgefallen: nach ihr ist die Vergemeinschaftung nur eine Verlustliste omnipotenter Staatlichkeit und demokratischer Konsens-Entfaltung, die — weil Staatlichkeit als Maß verbleibt — nur in demokratisch konsentierter Bundes-Staatlichkeit ihren Ausgleich fände. Also: der Nationalstaat stirbt, wenn er stirbt, nur im neuen Bundes-Staat, und deshalb könne die Perspektive eben einzig und allein die des europäischen Bundesstaates sein. Die jüngste Äußerung eines deutschen Staatsrechtlers, dabei eines der jüngeren Generation (Sie werden Rupp's GrundrechtsAufsatz in N J W 1970 Heft 9 kennen), glaubt, der Kieler Welle attestieren zu müssen, die deutsche Verfassungslehre versuche die ihm wesentlich erscheinenden Grundsatzprobleme „behend zu überspringen" — wozu anzumerken wäre, daß Rupp's Grundsatzprobleme eben nicht, wiewohl er das behauptet, die der funktionellen Integration sind, die er gar nicht kennt, sondern diejenigen, die vom Grundgesetz für einen nationalen Bundesstaat des fortgesetzten 19. Jahrhunderts gestellt worden sind. Unsere Verfassungsüberlegungen sind jedoch angewiesen auf die Erkenntnisse wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher VorForschung. Sie müssen das zu Grunde legen, was außerhalb Deutschlands bedacht und erdacht worden ist. Deshalb sprechen nach meiner Uberzeugung die besseren Gründe eindeutig dafür, sich heute und für die nächsten europäischen Integrationsschritte jeder Präjudizierung bundesstaatlicher Ordnung zu enthalten. Diese Gründe sprechen ebenso sehr dafür, daß die Teilintegration nach Funktionen im Bereich der Wirtschaftsordnung und Sozialgestaltung unter Belassung der übrigen öffentlichen Auf-
11 gaben bei den Mitgliedstaaten vollziehbar und organisierbar ist. Dabei brauchen die Verfassungsstrukturen der Mitgliedsstaaten und die Rechtspositionen ihrer Bürger als Marktbürger in ihren Konstitutionsprinzipien nicht angetastet zu werden, während andererseits die nationalen Verfassungsordnungen nach den Erfahrungen der Gemeinschaftsverfassung und ihres Vollzuges überprüfbar werden. Eine zusätzliche Begründung, die weit ausholen müßte, muß ich Ihnen hier schuldig bleiben. Zu den Perspektiven-Fragen 3) und 4) (demokratische Konsentierung, Grundrechtsschutz) werde ich auf zwei Elemente dieser meiner ersten These zurückkommen. Zunächst aber: 2. Die Verfassungskategorie der
Supranationalität
Hierzu will ich nicht mit einer Exegese und Kritik jener zahlreichen Rechtsmeinungen beginnen, die aus höchst unterschiedlichen Gründen das Prinzip der Supranationalität aus dem Verfassungsrecht der Gemeinschaften zu eskamotieren versucht haben. Es kommt auch nicht darauf an, daß der Montanvertrag sich in Art. 9 zur Kennzeichnung der Tätigkeit der Hohen Behörde dieses Prinzips bedient hatte, daß diese Passagen im Vertrag über die Fusionierung der Gemeinschaftsorgane von 1965 entfallen waren und die Römischen Verträge von 1957 es schon vorher vermieden hatten, dieses Prinzip verfassungsrechtlich in einer Aussage zu fixieren. Denn es ist schlechterdings nicht zu bezweifeln, daß das geltende Verfassungsrecht der Gemeinschaften der Sache nach von einer supranationalen Wirksamkeit der Gemeinschaften beherrscht ist, ohne daß deshalb von einem nur hintergründigen Konstitutionsprinzip gesprochen werden müßte — es wirkt höchst vordergründig. Unter Supranationalität ist dabei zu verstehen die verfassungsrechtlidie Durchsetzbarkeit öffentlicher Gemeinschaftsgewalt gegen Staatsgewalt. Der Franzose Héraud hat — aus anderer Blickrichtung — weit eleganter — weil eben französisch — so formuliert: Le «supra-national» est l'ordre des souverainetés normativent subordonnées. Auf jeden Fall muß mit dieser Definition den Wortspielereien entgegengetreten werden,
12 die — fahrlässig oder vorsätzlich — meinen, supranational bedeute schlicht überstaatlich im Sinne von mitgliedstaatlich-übergeordnet und damit — sage und schreibe — bundesstaatlich. Dies sei in der Tat fern von mir. Im Sinne dieses Rechtsverständnisses ist die vertragliche Fixierung von Gemeinschaftszielen und -Ermächtigungen und jeder Akt ihrer Vollziehung und Anwendung ein Akt der Supranationalisierung. Denn es geht um Vollzug und Anwendung nicht mehr staatlich-nationaler Ordnung und Ermächtigung, sondern um solche öffentlicher Gemeinschaftsinteressen und mit Mitteln öffentlicher Gemeinschaftsgewalt. Diese Feststellung verliert ihr Gewicht nicht, wie oft global behauptet wird, durch sabotierende oder duldende Nicht-Handhabung des Mehrheitsprinzips in Entscheidungsprozessen des Rates, für die vertragsrechtlich das Mehrheitsprinzip als maßgeblich bereits vorgesehen ist. Wie vielfach und erst jüngst, und nicht erst seit Den Haag, bestätigt worden ist, hat die Gemeinschaftspraxis selbst in Anliegen, die Mitgliedsstaaten zunächst als solche sehr wichtigen nationalen Interesses qualifiziert hatten (im Sinne des Luxemburger Patts also als Veto-Situation vindizierten), nicht wenige Gemeinschaftsentscheidungen hervorgebracht. Sie hat letztlich also Gemeinschaftsinteressen mit Gemeinschaftsakten durchgesetzt. Ob das prozedural schließlich doch durch Majorisierung oder dadurch erreicht worden ist, daß in der Technik des package-deal und in der Sache unter dem oft getadelten Zwang zur mittleren Lösung verfahren wurde, ist verfassungsrechtlich nicht ausschlaggebend. Das soll auch in der Staatspraxis vorkommen. Selbst die Einräumung einer Schutzklausel-Anwendung durch ein Gemeinschaftsorgan ist ein solcher Akt supranationalisierenden Effekts, da er vom Mitgliedstaat in der rechtlichen Einsicht in Anspruch genommen wird, autonom hierüber nicht mehr verfügen zu können. Sowohl Frankreich wie die Bundesrepublik sind noch 1969 vor Ende der Übergangszeit so verfahren. Die supranationale Wirkung der öffentlichen Gemeinschaftsgewalt erweist sich präzise und (wie die Erfahrung lehrt) für den Marktbürger und den nationalen Rechtsanwender in Exekutive und Rechtsprechung am sinnfälligsten im sog. Durchgriff unmittelbar anwendbarer Normen des primären und des sekundären Gemeinschaftsrechts. Aber darin erschöpft sie sich nicht.
13 In ähnlicher Weise, wie die COSTA/ENEL-Entscheidung des Europ. Gerichtshofs von 1964 es modelliert hat, sind nach dem Beschluß des I. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Oktober 1967 (E 22,293) insgesamt folgende Elemente der Supranationalität hervorzuheben: Die Gemeinschaften sind Träger, ihre Organe Wahrnehmer einer durch entäußernde „Übertragung" der Mitgliedstaaten entstandenen neuen, d. h. originären öffentlichen Gewalt, die gegenüber der öffentlichen Gewalt der Staaten selbständig und unabhängig ist. Ihre Organakte sind nicht Akte nationaler, sondern eben — das Gericht verwendet diesen Terminus ganz unbefangen — öffentlicher supranationaler Gemeinschaftsgewalt, und sie bedürfen weder mitgliedsstaatlidier Betätigung noch können sie — so wörtlich der Beschluß — von den Mitgliedstaaten „aufgehoben" werden. Sie haben als Einzelakte Tatbestands- und Bindungswirkung, als normative haben sie Geltung. Es fällt mir nicht schwer, diese tragenden Gründe des Karlsruher Beschlusses hier zu wiederholen. Denn sie haben auch schon vorher meiner Auffassung entsprochen. Sie haben zur Kennzeichnung der Supranationalität als einer gemeinschaftsrechtlichen Verfassungskategorie ihr Gewicht (was hier ausdrücklich angemerkt sei) ganz unbeschadet jener Testfrage, die wie sonst nur noch die Grundrechtsfrage die deutschen Juristengemüter bewegt. Sie haben ihr Gewicht nämlich unbeschadet des Rang- und Kollisionsproblems zwischen der Gemeinschaftsnorm und der nationalen lex posterior. Aber darauf ist hier — wohl zu Ihrer Beruhigung — nicht weiter einzugehen. Ich halte das Thema grundsätzlich im wesentlichen für erledigt. Perspektivisch muß, wie ich meine, mit aller Nachdrücklichkeit hervorgehoben werden, daß Supranationalität der eben definierten Gehalte ein unabdingbares Konstitutionsprinzip der Integration darstellt und weiterhin bleiben wird. Wenn es im Gemeinschaftsverfassungsrecht im Sinne eines positiven Verfassungsbegriffs, im Sinne eines ungeschriebenen Art. 79 III ein Verfassungselement unabdingbaren Charakters für die funktionelle Integration gibt, dann das der Supranationalität. An dieser Stelle liegt die Versuchung nahe, über die Rechtfertigung dieser Einsicht hinaus, die im geltenden Gemeinschaftsrecht, dem vertraglich fixierten Willen der Mitgliedstaaten, der bisherigen Durchführung und Anwendung der Ver-
14 träge und dem Gebot der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaften erkennbar ist — es liegt an dieser Stelle nahe, die Rechtfertigung des Supranationalitäts-Prinzips tiefer auszuloten in Überlegungen rechtsdogmatischer und rechtstheoretischer Art. Der Reinen Rechtslehre würde das, wie ich vermute, z. B. nicht allzu schwer fallen können. Aber sie werde ich schwerlich bemühen. Ich muß hier zwar auf solche Versuche verzichten, will indes als Surrogat (und wiederum als Hinweis auf weitere nicht-deutsche Bemühung dieser Art) verweisen auf den sehr originellen Beitrag eines jungen Amerikaners der Ohio State University, auf W. Andrew Axline, mit seiner Arbeit: „European Community Law and Organizational Development" (New York 1968). Es handelt sich um einen wohlfundierten Versuch, der in vielen Beziehungen ungewöhnlich und anregend genannt werden kann (und dies nicht nur wegen der Schlußwendung seines Vorwortes: „Finally, as in all notes of acknowledgement, I must mention my wife. Although she is nonexistent, her role in this endeavour has been indispensable. Without her it has all been possible.") Axline unternimmt es, mit den Methoden der amerikanischen soziologischen Jurisprudenz und in der Auseinandersetzung mit ihrer kontinentalen Richtung, den Geltungsanspruch und den Geltungsgrund eines supranationalen Normgebers und Normsystems gegenüber nationalen Rechtsanwendern und Rechtsunterworfenen darzutun. Er wertet dabei insbesondere die Wirkung der nationalen Rechtsprechung zum Gemeinschaftsrecht und die Rolle des Europ. Gerichtshofs in einer Weise, die übrigens vielleicht einmal eine Hilfe bieten kann, den britischen Verfassungssorgen notwendiger Suprematie des britischen Parlamentsaktes im Falle des Beitritts schrittweise abzuhelfen.
Die 3. Perspektiven-Frage zielt auf die demokratische Konsentierung der öffentlichen Gemeinschaftsgewalt Man pflegt zu sagen, sie sei von gleicher Brisanz wie die Grundrechtsfrage, die uns sogleich beschäftigen wird. Das letzte Verdikt zu diesem Thema aus der Feder des schon genannten NJW-Autors aus Mainz lautet so:
15 „Die durch das primäre Gemeinschaftsrecht begründete Herrschaft ist keine Herrschaft im Verfassungsraum . . . Sie ist nicht nur Herrschaft ohne Herrn, (sie ist) Ausübung von Hoheitsrechten ohne demokratischen Souverän. . . . Mag die mit den Regeln und Werten der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie noch einigermaßen unerfahrene Bundesrepublik demokratische Spielregeln . . . ohne größere Hemmungen zugunsten einer technokratischen Herrschaft aufzugeben bereit sein, so werden sich die anderen Mitgliedstaaten von den Vorteilen einer solchen Herrschaft auf Dauer nicht blenden lassen, und es s t e h t . . . der Bundesrepublik schlecht an, andere Länder in dieser Hinsicht zu bekehren." Das könnte von de Gaulle sein. Um den autoritären Techriokratendschungel, in den so erfahrene Demokratien wie die Niederlande und Belgien sich also nach dem Urteil unseres Mainzer Verfassungs-Pestalozzi sehenden Auges selbstmörderisch gestürzt haben, zu kennzeichnen, zunächst folgendes zum status quo des Gemeinschaftsrechts in dieser Frage: in seinem Bereich ist die maßgebende Qualifikation öffentlicher Gemeinschaftsinteressen — (in Stil und Substanz grundlegend anders als im Staaten-Verfassungsrecht, das weithin, wie Hennis es formuliert hat, sich in Mitbestimmungsregeln der staatlichen Willensbildung über den Inhalt öffentlichen Interesses erschöpft) — im Gemeinschaftsrecht ist diese Qualifikation in wesentlichen Elementen in den Ziel- und Aufgabenbestimmungen vertraglich vorab vollzogen. Die Wahrnehmung öffentlicher Gemeinschaftsgewalt zu ihrer Realisierung durch Gemeinschaftsorgane ist an diese Qualifikation gebunden — zusätzlich gesichert durch das Prinzip der compétences d'attribution, der bemessenen Kompetenzzuteilung und den Ausschluß jeder Kompetenz-Kompetenz, durch eine neuartige Ausgestaltung der Gewaltenteilung zwischen Rat und Kommission sowie durch die Kontrolle des Gerichtshofs. Kein Gemeinschaftsorgan ist zu autonomer Anreicherung oder Variation der Zielbestimmungen und Gemeinschaftsaufgaben befugt. Wenn sie jetzt — wie erwogen, (und zwar auf Initiativen von Belgien, Luxemburg!) — stufenweise mit dem Ziel einer Währungsunion binnen 8 oder 10 Jahren angestrebt wird, befindet darüber letztlich weder die Kommission noch der Ministerrat und kein autoritärer Technokrat, sondern allein der neue, ergänzende Vertrags-
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schluß der Mitgliedsstaaten, danach u. a. der ratifizierende Deutsche Bundestag — niemand sonst. Soweit solche Ziel- und Aufgabenbestimmungen vertraglich fixiert sind und ihre Verfolgung Gemeinschaftsorganen mit zugemessenen Handlungsermächtigungen überantwortet ist, stellt sich de conventione et constitutione lata bereits die Frage, ob und inwieweit in diesem Aufgabenbereich ein zusätzliches Konsentierungs- und Legitimationsbedürfnis staatsrechtlichen Demokratie-Verständnisses überhaupt noch besteht. Hierauf hat eine treffende Antwort nicht ein auf der Kieler Welle jonglierender deutscher Staatsrechtler gegeben, der sich in seiner konstitutionellen Schwäche von technokratischen Sirenen hat verführen lassen, sondern der Amerikaner Hogan in seiner Schrift „Representative Government and European Integration" von 1967, und zwar mit den Sätzen: „Power which does not exist does not need an external control in order to be consistent with «democracy». The EEC Commission is not a Louis XIV or a Charles I . . . The argument for «democratic control» over these bodies is based, not on reality, but upon the uncritical projection of an assumption from national government into transnational institutions." Indem also Ziele, Aufgaben und Handlungsermächtigungen vertraglich fixiert sind, stellt die Gemeinschaftsverfassung die integrierte Verlängerung der Staatsverfassungen oder — anders formuliert — die integrierte Verdichtung staatsrechtlich noch nicht oder nicht mehr qualifizierter öffentlicher Interessen dar. Insoweit ist es abwegig, um eine unkontrollierte Gemeinschaftsraison zu fürchten. Als advocatus diaboli will ich sogleich selbst widersprechen, und zwar mit dem populärsten und gebräuchlichsten Gegenargument der europäischen Agrarmarktordnung, dem Perfektionismus ihrer Preis- und Absatzgarantien und ihrem Effekt einer kostspieligen Überschuß-Subventionierung — Erscheinungen, die, wenn ich es recht verstehe, auch mit dem neuen Mansholt-Plan nicht mit Sicherheit ausgeräumt werden dürften. Auf dem Gebiet der Agrarpolitik hat sich erwiesen, daß nicht hinreichend konkrete Zielbestimmung in Art. 39 ff. EWGV und ihre Uberantwortung an den Rat — ähnlich, wenn auch nicht so drastisch, nach Art. 74 für die Verkehrspolitik — die eigentliche Integrationsaufgabe einem Organ, dem Rat, zuschiebt, der
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in sich insoweit alle nationalen Interessengegensätze erst noch austragen muß, die in den anderen Zielbereichen in den Vertragshandlungen selbst vor Vertragsschluß ausgetragen worden sind. Aber: was der Rat dann derart an interessenausgleichenden Entscheidungen und Lösungen zustandebringt — (es mag so unvollkommen und schlecht sein wie die Agrarmarktordnungen) —, kommt deshalb ja nicht zustande im radikal konsensfreien, technokratisch-autoritären, von jeder demokratischen Legitimation sublimierten Gewalt-Verfahren, etwa so, wie im 3. Reich im Rechtssinne Marktordnungen für den Reichsnährstand zu entstehen pflegten. Die Gleichung: „politisch schlecht und teuer = undemokratisch" geht eben nicht auf. Mein Kollege Heinz Wagner aus Saarbrücken, ein früher und hervorragender Kenner des Gemeinschaftsrechts und höchst einsichtsvoller Kritiker unserer grundgesetzlichen Ordnung und Praktiken, hat mir in seiner Rezension4 zu diesem Thema temperamentvoll vorgehalten: „Ist etwa in den Art. 36 ff. EWGV die Entscheidung zur sinnlosen landwirtschaftlichen Überproduktion fixiert? Und soll durch die Vorrangstellung ungehemmter Fonds-Verwaltungen der Milliarden-Unfug der Landwirtschaftsregelungen perpetuiert, auf andere Zweige ausgedehnt und selbst parlamentarischer Diskussion entzogen sein"? Nun, in der Tat, lieber Herr Kollege Wagner, dieser Unsinn, wie Sie ihn nennen, ist wirklich nicht im EWG-Vertrag als Ziel stipuliert, und das spricht denn auch nicht gegen den Vertrag. Aber gegen den Unsinn spricht es, wenn es nur Unsinn ist, daß der aus parlamentarisch verantwortlichen Ministern der Mitgliedstaaten bestehende Rat in einstimmiger Beschlußfassung solche Entscheidungen getroffen hat, daß die heimischen Regierungen und Parlamente, darunter der Deutsche Bundestag, diese Art der Protektionierung nicht verhindert haben, und daß die Regierungsführung — auch die deutsche — es zuläßt, daß die Agrarminister als „Totengräber der EWG" 5 am Werke sind. Sie haben dafür natürlich ihre Gründe gehabt — von wahltaktischen und innerpolitischen bis zu der Notwendigkeit, nur im gekoppelten Fortgang von Integrationsschritten zur Her4 Vgl. Anm. 1. * Götz, FAZ Nr. 85 v. 13. 4.1970, S. 13.
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Stellung der Zollunion, der deutschen industriellen Freizügigkeit im größeren gemeinsamen Markt zu gelangen. Aber, um zum Verfassungsrecht zurückzukehren: es kann schwerlich bestritten werden, daß der Rat der Gemeinschaften, wiewohl als Gemeinschaftsorgan handelnd, auch in den nicht hinreichend ziel-abgeklärten Integrationsbereichen, in denen einstimmig zu entscheiden ist, durch Mitglieder handelt, die ihrerseits in voller nationaler parlamentarischer Verantwortlichkeit und Kontrolle stehen. Es gibt keine Rezeptur der Verfassungslehre, die eine derart mediatisierte demokratische Konsentierung von Herrschaftsausübung als Nicht-Konsentierung und deshalb als undemokratische Herrschaft zu disqualifizieren vermöchte. Ist etwa der Deutsche Bundesrat kein demokratisches Organ? Und ebensowenig — (um auf den Unsinn zurückzukommen) — kann die europäische Agrarmarktpolitik schlechthin mit der Wirtschaftsintegration als solcher identifiziert werden. Ich verkenne, so sehr ich das unterstreiche, nicht, daß die Gemeinschaftsverfassungen mit weitergehenden Konsentierungsansprüchen angetreten sind. Ich verkenne nicht, daß die Straßburger Parlamentarier-Versammlung, die sich in diesem Sinne vorgreifend selbst Europäisches Parlament nennt, bis heute aber auf nicht-mitentscheidende Anhörung, Mitberatung, Mitsprache beschränkt ist, keine echten Budgetbefugnisse besitzt. Ich verkenne auch nicht, daß ihr parlamentarisches Kontrollrecht gegenüber der Kommission allenfalls repressiv, nicht konstruktiv wirken kann und bislang auch insoweit nicht effektiv geworden ist. Und doch rekurriert, was ich als abwegig bezeichnet habe,6 Art. 137 EWGV, indem er von den Völkern der in der Gemeinschaft zusammen geschlossenen Staaten handelt, auf den in den Staaten wirksamen pouvoir constituant; und indem der Vertrag in Art. 138 II auf künftige allgemeine unmittelbare Wahlen zur Versammlung in den Mitgliedstaaten abhebt, zielt er ersichtlich auf ein Europavolk als demokratischen Souverän und verbrämt er, wie Wildemann es genannt hat, in staatlich-konstitutioneller Wortgebung eine „empfindliche Lücke zwischen demokratischer Intention und Realität." Solchen Verfassungen, die geflissentlich nicht alles sagen, was sie meinen, hat Rudolf Smend einmal die Kraft politischer • In: Fusionsverfassung Europäische Gemeinschaften (1969) S. 58.
19 Selbstdarstellung abgesprochen, und anderen, die in ihren Optimalansprüchen unter Übergehung der Wirklichkeit einem erstrebten Ideal vorgreifen, kann man eine Art Verfassungsutopismus vorwerfen. Ich pflichte daher meinem Kritiker Wagner durchaus zu, wenn er in meinem Protest zu diesem Thema eine Feststellung sieht, die lange verhehlt worden ist: daß nämlich das Inaussichtstellen unmittelbarer Wahlen zu einem europäischen Parlament — jedenfalls 1957 — eine Verbeugung gegenüber dem Zeitgeist war und daß die Bestimmung des Art. 138 II nur die Glaubwürdigkeit dieses Verfassungselements beeinträchtigt. Ich habe deshalb Ende 1968 gemeint,7 eine Fusionsverfassung, die die Gemeinschaften zusammenfaßt, möge diese Verheißung allenfalls in ihre Präambel verweisen. Inzwischen haben die Mitgliedstaaten sich im Rat dahin verständigt, daß dem Parlament in der Disposition über Eigeneinnahmen aus dem Außenzolltarif schrittweise echte Budgetbefugnisse zukommen, und die Frage der unmittelbaren Europa-Wahlen ist wieder in Bewegung gekommen. So schnell kann es also gehen. Was die Verfassungsperspektive angeht, ist es mit der Feststellung solcher Antriebe oder Fortschritte indes nicht getan. Hierzu sollte grundsätzlicher überlegt werden, und zwar in drei Richtungen: (1) Mein Kritiker Wagner hat gemeint: „Glaubt man (damit meint er u. a. midi) schließlich, daß die kommende Generation sich für eine solche technokratische, jedoch demokratisch unlegitimierte Gemeinschaft engagieren wird, eine Generation, der voraussichtlich die westeuropäische Einigung nichts, Marktwirtschaft wenig, Diskussion aber alles ist, und die bereits den bestehenden Parlamentarismus für ungenügend hält?" Auch wenn ich davon absehe, daß um eine EWG-Verordnung oder Richtlinie nachgewiesenermaßen gründlicher, länger und vor allem auch öffentlicher und in der Regel sachverständiger diskutiert zu werden pflegt, und dies auch mit den Repräsentanten der betroffenen Wirtschaft, der Sozialpartner und Marktbürger, als um manches Parlamentsgesetz und erst recht um manche wirkungsgleiche deutsche Rechtsverordnung — auch wenn ich hiervon absehe, ist das verfassungspolitisdhe Ziel demokratischer 7
A. a. O. S. 57.
20 Konsenssicherung von Gemeinschaftsakten im Bereich des noch Konsens-Bedürftigen ohne allen Zweifel legitim und aller weiteren Verfassungsgestaltung aufgegeben — und dies u. U. auch in den nationalstaatlich (wenn auch verfassungsrechtlich unterschiedlich) geregelten und praktizierten Formen der parteienstaatlichen Repräsentation und des parlamentarischen Regierungssystems. Denn jedenfalls sollten diese Konsentierungsformen angestrebt werden, solange sie nicht durch neue, bessere Gestaltungen abgelöst werden können und ersetzt worden sind. Was hinter diesem Vorbehalt steht, brauche ich in diesem Kreise in seiner Relevanz, in seiner Brisanz, in seiner Aktualität nicht weiter anzudeuten. Aber (2): ich sehe in weiterer Verfassungsperspektive der Gemeinschaften eine verpflichtende Chance. Ich sehe die Chance, in ihrem Wirkungsbereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik für eine moderne Industriegesellschaft, in einem gesellschaftlichen Bezirk also, für den und in dem es gerade auch um Konflikte geht, die unsere nationalen Verfassungsstrukturen verunsichert haben, — hier also zu prüfen und zu erproben, ob es adaequatere und effektivere Methoden der Herrschaftslegitimation und -Kontrolle gibt als eben diejenigen, die uns das 19. Jahrhundert tradiert hat. Selbstverständlich ist es einfacher, diese Chance zu sehen, als Wege zu bezeichnen, auf denen sie genutzt werden könnte. Um wenigstens einige Brötchen zu geben statt nur Steine, will ich (3) einige Gesichtspunkte hierfür nennen: das Gemeinschaftsrecht und seine Handhabung lehren — (und das ist ebenso sichtbar im innerstaatlichen Entscheidungsprozeß mindestens wirtschafts- und sozialpolitischer, vielleicht auch bildungspolitischer Materien) —, daß wichtige Hoheitsakte normativer oder auch politisch-exekutiver Art nicht mehr oder nicht mehr überwiegend das Resultat von Willensbildung und Willensentscheidung sind, sondern das Produkt organisierter Wissensbildung. Das gilt insbesondere für Akte von Planungsgehalt und solche, die aus dem Sachzwang der Planung, ihrer Vorbereitung und notwendiger Datenversetzung oft weniger zur Entscheidung als zur Einsicht und Erkenntnis nötigen. Mit Recht hat Hans-Joachim Arndt dazu festgestellt, daß die Verfahren derart organisierter Wissensbildung und Erkenntnis jedenfalls
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rechtstechnisch bislang noch nicht hinreichend entwickelt sind und „noch keinesfalls die Reife der klassischen politischen Institutionen für Willensbildung und Repräsentation" erlangt haben. Eine gründliche politologische Bestandsaufnahme, an der es bei uns (wie schon bedauert) fehlt, würde zweifellos in der jahrelangen Praxis der Kommission, der Ständigen Vertreter, der Ausschuß- und Sachverständigen-Verfahren in nicht wenigen Zügen die organisierte Technik solcher Wissensbildung eruieren können. Wo aber letztlich nicht entschieden, sondern erkannt wird, herrscht die Kompetenz des Sachverstandes, nicht die Mehrheit. Im übrigen wird (ebenso wie im nationalen Verfassungsrecht und seiner Durchführung, wozu bei uns die Neufassung des Art. 109 GG und das Stabilitätsgesetz Beispiel und Ansatz liefern) der demokratische Konsens sich in den hier fraglichen Materien zunehmend konzentrieren müssen auf parlamentarische Planzielbestimmungen und Handlungsermächtigungen. Und gerade das ist ein Modellansatz, den die Gemeinschaftsverträge geliefert haben und der (zugleich zur Erprobung innerstaatlicher Fortentwicklungen) weiter verfolgt werden sollte. 4. Perspektive:
Grundrechte
Letztlich und in der 4. Perspektive zur deutschen Gretchenfrage: „Nun sag': Wie hast Du's mit dem Grundrechtsschutz?" Ich muß immer wieder gestehen, daß ich im Prozeßrecht nicht nur hinke, sondern lahme. Aber so viel glaube ich nun doch zu wissen und sollte hier auch zunächst erwogen werden: in der Frage des Grundrechtsschutzes stellt sich, prozessual formuliert, zunächst doch wohl die nach der hinreichend ernsthaften Behauptung der Betroffenheit. Dazu habe ich für den Wirkungsbereich des Gemeinschaftsrechts auf der Erlanger Staatsrechtslehrertagung 1959 gemeint, dort seien die Träger wirtschaftlicher Funktionen und potentiell Betroffene überwiegend „sociétés anonymes", keine Menschen von Fleisch und Blut. Sie seien für eine typische Grundrechtsbeeinträchtigung in aller Regel nicht „leidensfähig". Ich sah damals allenfalls den Gleich-
22 heitssatz und das Eigentum im möglichen Kollisionsbereich zwischen Gemeinschaftsgewalt und Grundrechtsschutz. Mein Kritiker Heinz Wagner hat von den Kapitalgesellschaften mit Recht gesagt8, gegenüber öffentlicher Wirtschaftslenkung seien sie grundrechtlich den Individuen nicht gleichzustellen, denn ihr personales Substrat sei eine bloße Fiktion. In Kiel habe ich 1964 wiederum gefragt: man nenne mir jene Grundrechtsbereiche, die möglicherweise durch Akte der Gemeinschaftsorgane ernsthaft berührt werden könnten, ohne daß diese Bereiche nicht einen gleichwertigen Rechtsschutz gegenüber Einwirkungen der öffentlichen Gemeinschaftsgewalt durch die Verträge selbst schon gefunden hätten? Hans Heinrich Rupp hat das in seinem zitierten NJW-Aufsatz eine „verharmlosende Methode" genannt — gehen wir also in uns. Ich werde das tun, obwohl ich im Grunde inzwischen dieser Aufgabe enthoben bin. Die beste und neueste Darstellung des Problems durch den Göttinger Gottfried Zieger (Recht und Staat 384/385) hat überzeugend nachgewiesen (und dies — was allerdings dafür nicht nur nützlich, sondern nach den Geboten wissenschaftlicher Arbeit und Sauberkeit auch notwendig ist — aus subtiler Kenntnis nicht nur des deutschen Verfassungsrechts, die in Mainz allerdings vorhanden ist, sondern auch des Gemeinschaftsrechts), — Zieger hat nachgewiesen, daß dieses Gemeinschaftsrecht eindeutig auf dem Fundament der den Mitgliedstaaten gemeinsamen rechtsstaatlichen und freiheitlichen Tradition ruht. Diese Verwurzelung hat bewirkt, daß das Gemeinschaftsrecht nicht auf eine Verkürzung, sondern gerade auf eine Erweiterung des Anwendungsraumes wichtiger Freiheitsrechte abzielt und sie im Bereich der vier Marktfreiheiten weitgehend realisiert hat. Unterstützt wird diese Liberalisierung durch die Europäisierung des Gleichheitssatzes in Art. 7 EWGV, so daß die wirtschaftlich erhebliche deutsche Grundrechtsordnung jetzt durch Rechtsangleichung auf die Marktbürger der anderen Mitgliedstaaten erstreckt worden ist und der deutsche Marktbürger 8 Dies nicht in der in Anm. 1 zitierten Besprechung, sondern (nicht ohne Widerspruch hierzu) in seinem Referat auf der Bochumer Staatsreditslehrertagung 1968; vgl. VeröffVDStRL H e f t 27 (1969) S. 74 ff., LS 20 S. 81.
23 seinerseits Besdiäftigungs-, Niederlassungs-, Dienstleistungsfreiheit in den anderen Mitgliedstaaten genießt. Diese Verwurzelung ist der Grund dafür, daß die wesentlichen Freiheitsrechte wirtschaftlich möglicher Relevanz im Gemeinschaf tsrecht selbst mindestens zweifach gesichert sind: einmal dadurch, daß die Gemeinschaftsorgane durch die Eingrenzung ihrer Handlungsbefugnisse rechtlich nicht ermächtigt sind, grundrechtswirksam zu agieren, und daß sie bei Fehlverhalten gerichtlicher Kontrolle unterliegen. Dazu bleibt allerdings eine gerichtliche Rechtsschutzlücke zu schließen — worüber sogleich; zum anderen ist das Gemeinschaftsrecht grundrechts-intensiv, weil es den Gleichheitssatz und die Koalitionsfreiheit weitgehend mit Drittwirkung ausgestattet hat. Schließlich beweist die einschlägige Rechtsprechung des EuGH, daß er — ganz im Sinne des Wortes von Fritz Werner, das Verwaltungsrecht sei die Fortsetzung des Verfassungsrechts — in Ausmünzung der den Mitgliedstaaten gemeinsamen Rechtsstaatsprinzipien die Grundsätze rechtsstaatlichen Verwaltungshandelns in einer Intensität freiheitsschützend zur Wirkung gebracht hat, die unserem grundrechtlidien Verwaltungsrechtsschutz in nichts nachsteht, ihn in manchem übertrifft (ich denke etwa an das Gebot rechtlichen Gehörs und den Begründungszwang). Allerdings: die Grundrechte wirken im Gemeinschaftsrecht nicht, wie wir es gewohnt sind, in Gestalt und Anwendung eines geschlossenen Grundrechtskatalogs nach Art der Art. 1—19 GG, sondern punktuell aus der Sachnorm, von der Quelle her durch die Kompetenzbegrenzung der Gemeinschaftsorgane, im Vollzug und Rechtsschutz in der kontrollierten Beachtung auch der allgemeinen Grundsätze rechtsstaatlichen Verwaltungshandelns. Aber soll es auf die Katalogisierung von Grundrechten nach der Aufzählung von Art. 1—19 oder auf die Sache des Grundrechtsschutzes ankommen? So kann es nicht überraschen, daß die Überprüfung aller bisher bekannt gewordenen Fälle der Grundrechtsberührung durch Gemeinsdiaftsakte, wie sie wiederholt vorgenommen worden ist, ein Ergebnis geliefert hat, das nun in der Tat nachdenklich und (wie ich meine) beruhigend wirken könnte: sämtliche Gemeinschaftseingriffe, dio genannt worden sind, wären, an den deutschen Grundrechten gemessen, in allen Fällen durdi diejeni-
24 gen Einschränkungsvorbehalte gedeckt gewesen, die das Grundgesetz seinerseits in diesen Grundrechtsbereichen zuläßt. Demgegenüber ist das ständig beschworene Postulat, mindestens müßte die Substanz der deutschen Grundrechtsgewährleistung i. S. des Art. 79 III und der Art. 1 und 20 gegenüber der Gemeinschaftsgewalt gewährleistet sein, nichts anderes als ein Rückzugsgefecht gegen Schatten: damit wäre nur eine Mindestgarantie elementarer Menschenrechtssubstanz erreicht, die aber im Gemeinschaftsrecht mit aller Selbstverständlichkeit ohnehin gesichert ist, und zwar gemeinschaftsrechtlich-immanent, ohne daß entsprechende Bindungen des allgemeinen Völkerrechts, denen die Gemeinschaften unterstehen, mobilisiert zu werden brauchten. Perspektivisch könnte sicherlich erwogen werden, den grundrechtlich wirksamen Freiheitsgehalt der Gemeinschaftsverfassung durch eine Katalogisierung und entsprechende Formulierungen ausdrücklich herauszuheben. Dazu bedürfte es lediglich verfassungsrechtlich wiederholender Deklarationen. Ich will eine solche Verfassungsoptik auch nicht unterschätzen, obwohl sie offenbar nur für deutsche Betrachter notwendig zu sein scheint. In der Sache selbst halte ich sie nicht für erforderlich. Erforderlich wäre allerdings, wie wiederholt mit Recht und von vielen gefordert, eine Erweiterung des Individualklagrechts vor dem EuGH. Empfehlenswert war auch für den EuGH selbst, seine wiederholten, zum Widerspruch reizenden früheren Formulierungen von der Nichtbeachtlichkeit nationaler Grundrechte für ihn selbst ins Positive zu wenden mit dem Hinweis auf das grundrechtlich gleichrangige Niveau des Gemeinschaftsrechts, dem auch der Gerichtshof unterworfen ist. Das ist inzwischen erfreulicherweise denn auch geschehen, und zwar in seiner Entscheidung zur Rechtssache 29/69 vom 12. November 19699, in der es um die Schutzbereiche der Art. 1 9 EuR 1970 S. 39 fi. mit Anm. von Ehlermann. Es ging um die behauptete Grundrechtsverletzung eines Empfängers von Kriegsopferfürsorge, der auf Grund von EWG-Agrarrecht berechtigt war, monatlich V2 kg Butter unter Verbilligung um D M 2,60 zu beziehen. Seine Grundrechte aus Art. 1 und 3 GG glaubte er beeinträchtigt, weil er beim Buttereinkauf Gutscheine mit Namensangabe vorzulegen hatte. Das von ihm angerufene VG Stuttgart hatte den EuGH gemäß Art. 177 EWGV gefragt, ob die Forderung nach Namensangabe mit den allgemeinen Rechtsgru udsätzen ( = Grundrechten) des Gemeinschaftsrechts vereinbar sei. Die Normauslegung durch den EuGH stellte klar, daß sie die Namensangabe nicht verlangte.
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und 3 GG ging, mit der Wendung: „Bei dieser Auslegung enthält die streitige Vorschrift (des Gemeinschaftsrechts) nichts, was die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte der Person in Frage stellen könnte." Damit bin ich mit meiner Zeichnung von Perspektiven am Ende. Kant hat in einer Fußnote seines Streites der Fakultäten von 179810 gesagt: „Es ist doch süß, sich Staatsverfassungen auszudenken, die den Forderungen der Vernunft (vornehmlich in rechtlicher Absicht) entsprechen, aber vermessen, sie vorzuschlagen." Dem bin ich nachgekommen, und deshalb eben nur Veriassungsperspektiven.
Ich habe auf der Schule bei meinem Zeichenlehrer — heute wäre er „Kunsterzieher" — gelernt, daß sich in der Perspektive die Darstellung des Gegenstandes von vorn nach hinten fortschreitend verkürzt. Sollten Sie, was ich wohl begreife, unter dem Eindruck stehen, daß meine Skizze sich ganz ebenso in ihrem Fortgang zunehmend verkürzt und verkleinert hat und so in der Tat eben nur eine Perspektive geworden ist, so bitte ich das zu entschuldigen. Mehr hatte ich Ihrer Gesellschaft mit meinem Thema allerdings auch nicht versprochen.
10 Kant, Der Streit der Fakultäten, hrsg. von Klaus Reich. Philos. Bibliothek Bd. 252 (1959) S. 92 Anm.