Politik und Kirche in Lateinamerika: Zur Rolle der Bischofskonferenzen im Demokratisierungsprozess Brasiliens und Chiles 9783954879724

Die vorliegende Arbeit behandelt die Leitfrage, auf welche Weise und mit welchem Erfolg die nationalen Episkopate in Bra

181 34 42MB

German Pages 515 [520] Year 2019

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INHALTSÜBERSICHT
INHALTSVERZEICHNIS
TABELLENVERZEICHNIS
VORWORT
KAPITEL I. Einleitung
KAPITEL II. Zum Wandlungspotential autoritärer Herrschaftssysteme und der katholischen Kirche in Lateinamerika
KAPITEL III. Die Rolle der Bischofskonferenzen im Liberalisierungsund Demokratisierungsprozeß Brasiliens und Chiles
KAPITEL IV. Die oppositionelle Tätigkeit der Bischofskonferenzen in Brasilien und Chile im Vergleich
LITERATURVERZEICHNIS
Personenregister
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Politik und Kirche in Lateinamerika: Zur Rolle der Bischofskonferenzen im Demokratisierungsprozess Brasiliens und Chiles
 9783954879724

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Christiano German Politik und Kirche in Lateinamerika Zur Rolle der Bischofskonferenzen im Demokratisierungsprozeß Brasiliens und Chiles

Herausgeber: Karl Kohut und Hans-Joachim König Publikationen des Zentralinstituts für LateinamerikaStudien der Katholischen Universität Eichstätt Serie B: Monographien, Studien, Essays, 9 Publicaciones del Centro de Estudios Latinoamericanos de la Universidad Católica de Eichstätt Serie B: Monografías, Estudios, Ensayos, 9 Publicagóes do Centro de Estudos Latino-Americanos da Universidade Católica de Eichstätt Série B: Monografías, Estudos, Ensaios, 9

Christiano German

Politik und Kirche in Lateinamerika Zur Rolle der Bischofskonferenzen im Demokratisierungsprozeß Brasiliens und Chiles

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main

1999

A l s Habilitationsschrift a u f E m p f e h l u n g der G e s c h i c h t s und G e s e l l s c h a f t s w i s s e n s c h a f t l i c h e n Fakultät (Politikw i s s e n s c h a f t ) der Universität Eichstätt gedruckt mit U n t e r s t ü t z u n g der D e u t s c h e n F o r s c h u n g s g e m e i n s c h a f t .

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme German, Christiano: Politik und Kirche in Lateinamerika : zur Rolle der Bischofskonferenzen im Demokratisierungsprozeß Brasiliens und Chiles / Christiano German. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1999 (Americana Eystettensia : Ser. B, Monografías, estudios, ensayos ; 9) Zugl.: Eichstätt, Kath. Univ., Habil.-Schr., 1996 ISBN 3-89354-959-5 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1999 Alle Rechte vorbehalten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany

INHALTSÜBERSICHT Inhaltsverzeichnis

7

VORWORT KAPITEL I Einleitung 1. Themenstellung, Ansatz und Aufbau der Arbeit 2. Methodische Vorgehensweise 3. Die katholische Kirche in der sozialwissenschaftlichen Literatur über Lateinamerika - ein Überblick

17 21 21 33

KAPITEL II Zum Wandlungspotential autoritärer Herrschaftssysteme und der katholischen Kirche in Lateinamerika 1. Zum Wandel autoritärer Regime in Lateinamerika 1.1 Die politikwissenschaftliche Debatte 1.2 Die Kirche als politischer Akteur 2. Zum kirchlichen Wandel in Lateinamerika 2.1 Das neue kirchliche Selbstverständnis 2.2 Grundzüge der kirchenpolitischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Brasilien und Chile

47 47 47 71 82 82 124

KAPITEL III Die Rolle der Bischofskonferenzen im Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozeß Brasiliens und Chiles 1. Fallstudie BRASILIEN (1964-1990) 1.1 Problembereich Menschenrechte 1.2 Problembereich Verfassung 1.3 Problembereich Indianer 2. Fallstudie CHILE (1973-1990) 2.1 Problembereich Menschenrechte 2.2 Problembereich Verfassung 2.3 Problembereich Indianer

185 185 186 242 265 307 308 366 388

KAPITEL IV Die oppositionelle Tätigkeit der Bischofskonferenzen in Brasilien und Chile im Vergleich Einleitender Überblick: Umfang und Auswirkung episkopalen Handelns 1. Die Bischofskonferenzen als politische Opposition 2. Zur Kohärenz der Verlautbarungen der Episkopate 3. Rolle und Bedeutung weiterer politischer Akteure im Überblick Abschließende Betrachtung

407 407 411 429 433 438

LITERATURVERZEICHNIS

441

ANHANG

493

37

INHALTSVERZEICHNIS Tabellenverzeichnis

15

VORWORT

17

KAPITEL I Einleitung 1. Themenstellung, Ansatz und Aufbau der Arbeit

21 21

2. Methodische Vorgehensweise

33

3. Die katholische Kirche in der sozialwissenschaftlichen Literatur über Lateinamerika - ein Überblick

37

KAPITEL II Zum Wandlungspotential autoritärer Herrschaftssysteme und der katholischen Kirche in Lateinamerika 1. Zum Wandel autoritärer Regime in Lateinamerika

47 47

1.1 Die politikwissenschaftliche Debatte Ausgewählte Aspekte der Autoritarismusforschung Ausgewählte Aspekte der Demokratieforschung

47 47 57

1.2 Die Kirche als politischer Akteur 71 Historische Beiträge zum sozio-politischen Wandel in Lateinamerika 71 Die Bischofskonferenzen als "Ersatzopposition ": Zur Typologie oppositioneller Akteure in autoritären Regimen 75 2. Zum kirchlichen Wandel in Lateinamerika 2 .1 Das neue kirchliche Selbstverständnis Die lateinamerikanische Kirche vor dem II. Vatikanischen Konzil Vom II. Vatikanischen Konzil zu Medellin und Puebla Grundaussagen der Bischofskonferenzen zur politischen Lage Einheit und Differenzen unter den Bischöfen Lateinamerikas 2 .2 Grundzüge der kirchenpolitischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Brasilien und Chile Wandlungsprozesse in Staat, Kirche und Gesellschaft Die Entstehung der Bischofskonferenzen Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Kirche Die Bedeutung des Katholizismus im Religionsspektrum der Länder

82 82 82 87 94 107 124 124 155 166 169

8 KAPITEL III Die Rolle der Bischofskonferenzen im Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozeß Brasiliens und Chiles 1. Fallstudie BRASILIEN (1964-1990) Einleitung 1.1 Problembereich Menschenrechte

185 185 185 186

Politische Situation 1: Der Militärputsch von 1964

186

Szenario Die Haltung des Episkopats und der Laienverbände vor dem Putsch Die Repressionswelle nach dem Putsch

186

Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenz Die Stellungnahme der Bischöfe zu den Ereignissen von April und Mai 1964 Das Engagement Dom Hélder Cámaras

192 192 193

Reaktionen der Adressaten Die Inspektionsreise Geisels Abbau der Spannungen zwischen Regierung und Episkopat

195 195 196

Politische Situation 2: Der "Ato Institucional No. 5" von 1968

197

Szenario Die Konsolidierung der Militärherrschaft Die Institutionalisierung der Repression

197 197 198

Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenz Die Stellungnahme des Episkopats zum AI-5 Kirchliche Kritik vor dem Erlaß des AI-5 Die Protesthaltung Dom Agnelo Rossis

200 201 202 203

Reaktionen der Adressaten Versuche der Diskreditierung der Kirche Verärgerung in Regierungskreisen Die Regierung in der Defensive

204 204 205 206

Politische Situation 3: Die Jahre der Repression (1969-1975)

207

Szenario Der Teufelskreis der Gewalt Die Verfolgung von Kirchenmitgliedern

207 208 212

Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenz Stellungnahmen der CNBB Die Mobilisierung der öffentlichen Meinung im Ausland Die Stellungnahmen der neuen CNBB-Führung nach 1971

215 215 218 218

186 189

9

Reaktionen der Adressaten Rechtfertigungsversuche der Regierung Die Gründung eines "Menschenrechtsrats

"

221 221 222

Politische Situation 4: Die Öffnung des autoritären Regimes (1975-1985)

222

Szenario Das Problem der Geheimdienste Die Reformen der Generäle Geisel und Figueiredo

222 223 225

Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenz Dokumente der CNBB Kirchliche Initiativen an der Basis Das Engagement von Dom Evaristo Arns

226 227 233 235

Reaktionen der Adressaten Initiativen der Generäle Golbery und Geisel Die prodemokratische Antwort im Militär Einflüsse der Menschenrechtspolitik Carters

237 237 238 239

1.2 Problembereich Verfassung Politische Situation 1: Der kirchliche Einsatz für eine demokratische Verfassungsordnung (1985-1988)

242 242

Szenario Die Wahl Jose Sarneys und sein Beitrag zur "politischen" Demokratie Konfliktstoffe zwischen Episkopat und Regierung Die Arbeitsbereiche der Verfassunggebenden Versammlung

242 243 245 246

Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenz Das kirchliche Demokratiekonzept seit 1977 Kirchliches Engagement zur Durchsetzung des Konzepts

248 248 257

Reaktionen der Adressaten 260 Die Haltung sozial konservativer und prodemokratischer Kräfte 260 Die Umsetzung kirchlicher Forderungen im Verfassungstext 261 1.3 Problembereich Indianer Einleitung

265 265

Politische Situation 1: Die Indianerproblematik während des Militärregimes (1970-1984)

268

Szenario Zur rechtlichen Stellung der Indianer Die Rolle des CIMI im Kontrast zur FUNAI Die Problematik der Umsiedlungen und Integrationspolitik

268 270 271 273

10 Die beginnende Organisation der Indianer

277

Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenz Kirchliche Stellungnahmen und Strategien in den 70er Jahren Die Verlautbarungen zu Beginn der 80er Jahre

279 279 283

Reaktionen der Adressaten Repressalien gegen die Kirche Neue Akzente in der Indianerpolitik

285 285 286

Politische Situation 2: Die Indianerfrage in der "Neuen Republik" (1985-1988) 287 Szenario Das Erschließungsprojekt "Calha Norte " Zur Demarkierung von Indianergebieten

287 287 290

Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenz Die Kritik am Projekt "Calha Norte " Kirchliche Vorstellungen einer adäquaten Indianerpolitik

294 294 295

Reaktionen der Adressaten Das Scheitern des Dialogs mit der Regierung Sarney Die Indianerfrage in der Verfassunggebenden Versammlung Die Diffamierungskampagne des Estado de Säo Paulo gegen die Kirche Die neue Rechtsstellung der Indianer in der Verfassung von 1988

298 298 299

2. Fallstudie CHILE (1973-1990) Einleitung 2.1 Problembereich Menschenrechte Politische Situation 1: Der Militärputsch von 1973

300 302 307 307 308 308

Szenario Die Haltung des Episkopats und der Laienverbände vor dem Putsch Die Repressionswelle nach dem Putsch

308

Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenz Stellungnahme zu den Ereignissen im September Erste Distanzierungen von der Junta

313 314 316

Reaktionen der Adressaten Bewußte Ignorierung eigener Zusagen Verärgerung über die Kirche

317 317 318

308 311

11

Politische Situation 2: Die ersten Jahre der Repression (1974-1977)

319

Szenario Die Konsolidierung der Militärherrschaft Die Institutionalisierung der Repression Die Verfolgung von Kirchenmitgliedern

319 319 320 326

Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenz Verlautbarungen des Episkopats zur Menschenrechtsfrage Das "Comité Pro Paz" Die Arbeit der "Vicaría de la Solidaridad"

329 329 335 337

Reaktionen der Adressaten Antworten der Junta auf die kirchlichen Erklärungen Staatliche Offensiven gegen das Komitee und das Vikariat

340 340 344

Politische Situation 3: Die "institutionalisierte Gewalt" des Militärregimes (1978-1990)

345

Szenario Die Verurteilungen Chiles durch die UNO Die "Consulta" von 1978 Der lange Weg zur Demokratisierung

345 346 347 349

Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenz Die Haltung des Episkopats gegenüber den UNO-Resolutionen und der "Volksbefragung" Verlautbarungen zur Wahrung der Menschenrechte Leistungen der "Vicaría de la Solidaridad" in den 80er Jahren

353 354 358

Reaktionen der Adressaten Phasen innenpolitischer Lockerung Angriffe gegen die Kirche in den 80er Jahren Beginn eines Wandels in der Repressionspolitik

359 359 360 362

2.2 Problembereich Verfassung

353

366

Politische Situation 1: Die Verfassung von 1980

366

Szenario Der Weg zur Verfassung von 1980 Die politische Lage vor und nach dem Plebiszit

366 367 368

Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenz Erste Stellungnahmen zur verfassungsrechtlichen Situation Die kirchliche Einschätzung des Plebiszits und des Verfassungstextes Die Haltung des Episkopats nach Annahme der Verfassung

370 370 373 374

12

Reaktionen der Adressaten Zurückweisung und Nichtbeachtung kirchlicher Forderungen Die Kampagne gegen die Kirche

375 375 376

Politische Situation 2: Der kirchliche Einsatz für demokratische Verfassungsreformen (1980-1990)

377

Szenario Das politische Vorfeld des Plebiszits von 1988 Die Verfassungsdiskussion von 1989

III 378 379

Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenz Demokratische Reformvorstellungen des Episkopats Die Haltung der Kirche gegenüber dem Plebiszit, der Verfassungsreform und den Präsidentschaftswahlen

381 381 383

Reaktionen der Adressaten Keine Änderungen des Verfassungsplans Vorwürfe wegen der Wahlniederlage von 1988 Die "leyes de amarre "

386 386 387 387

2.3 Problembereich Indianer Einleitung Politische Situation 1: Die Indianergesetzgebung der Junta (1979/1980)

388 388 391

Szenario Die Landverluste des Mapuche-Volkes Das Indianergesetz vom März 1979

391 391 392

Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenz Argumente gegen das Indianergesetz Der "Dialog " mit Pinochet

396 396 400

Reaktionen der Adressaten Änderung des Indianergesetzes im Juli 1979 Fortbestehende Benachteiligung

401 401 403

KAPITEL IV Die oppositionelle Tätigkeit der Bischofskonferenzen in Brasilien und Chile im Vergleich 407 Einleitender Überblick: Umfang und Auswirkungen episkopalen Handelns 407 1. Die Bischofskonferenzen als politische Opposition Die Phase nach der Machtübernahme durch das Militär Die "harte " Phase des Autoritarismus Der Öffhungs- bzw. Demokratisierungsprozeß Zusammenfassung

411 412 414 420 426

13

2. Zur Kohärenz der Verlautbarungen der Episkopate

429

3. Rolle und Bedeutung weiterer politischer Akteure im Überblick

433

Abschließende Betrachtung

438

LITERATURVERZEICHNIS

441

ANHANG Personenregister Ortregister Institutionenregister Sachregister

493 500 502 505

Zum Inhalt und zum Autor

517

15

TABELLENVERZEICHNIS Tab. 1 Teilnahme von Bischöfen und Experten aus Lateinamerika am II. Vatikanischen Konzil

88

Tab. 2 Die katholische Kirche in Lateinamerika 1970

89

Tab. 3 Die katholische Kirche in Lateinamerika 1988

90

Tab. 4 Verschiedene Klassifizierungen der brasilianischen Bischöfe

113

Tab. 5 Vier Einstellungsmuster von Bischöfen, Kritik- und Reformverhalten Tab. 6 Die Nationale Bischofskonferenz von Brasilien. Progressive und konservative Bischöfe Tab. 7 Die Nationale Bischofskonferenz von Chile. Progressive und konservative Bischöfe Tab. 8 Die katholische Kirche in Brasilien und Chile 1987

113

122

123

(Zum Vergleich: BR-Deutschland)

165

Tab. 9 Demographische Angaben zu Brasilien. Die Verteilung der Bevölkerung nach Religionen

173

Tab. 10 Brasilien: Pentekostale Kirchen Ende der 80er Jahre (Schätzungen)

176

Tab. 11 Chile: Verteilung der Bevölkerung nach Religionen 1987

177

Tab. 12 Chile: Religionszugehörigkeit in Groß-Santiago 1980-1985

178

Tab. 13 Opfer staatlicher Gewaltakte in Brasilien ( 1964-1979)

211

Tab. 14 Die Abgrenzung der Indianergebiete in Brasilien (Daten der staatlichen Indianerbehörde FUNAI) 1984

292

16 Tab. 15 Opfer staatlicher Gewaltakte in Chile (1973-1986) Tab. 16 Brasilien 1987: Die Bürger und die Institutionen Tab. Chile 17 1987 und 1989: Die Bürger und die Institutionen

VORWORT Zur Beantwortung der Fragen, die diese Studie aus der Politikwissenschaft stellt, mußten aufgrund vorhandener Forschungslücken auch historische, kirchengeschichtliche, juristische, (religions-) soziologische, ethnologische, missions- und religionswissenschaftliche sowie psychologische Studien herangezogen werden. An Quellenmaterial kamen die päpstlichen und bischöflichen Verlautbarungen hinzu. In diesem Zusammenhang seien für Deutschland die Bibliotheken der kirchlichen Hilfswerke Adveniat (Essen), Misereor (Aachen) und Missio (München) genannt, die über eine Vielzahl kirchlicher Dokumente aus Lateinamerika in Original und deutscher Fassung verfugen. Diese Bibliotheken sind wohl auch deswegen so reichhaltig, weil die Kirchen in Brasilien und Chile seit Jahrzehnten erhebliche finanzielle Unterstützung durch deutsche kirchliche Institutionen erhalten und damit ein besonderes Informationsinteresse verbunden ist. Für Brasilien existiert zudem die wichtige Bibliothek des "Instituts für Brasilienkunde" in Mettingen, das von engagierten Franziskanern geleitet wird. Hier danke ich besonders P. Osmar Gogolok OFM für zahlreiche Hinweise. Eine unschätzbare Hilfe wurde dem Verfasser durch die ausgezeichnet ausgestattete Bibliothek der Katholischen Universität Eichstätt (KUE), die sehr freundliche Unterstützung durch ihre Mitarbeiter und das überdurchschnittlich gut funktionierende System der Fernleihe zuteil. Genutzt wurden auch die reichhaltigen Archive der bekannten Lateinamerika-Institute in Berlin und Hamburg. In Brasilien war besonders in den beiden Bibliotheken des Kongresses (Abgeordnetenhaus und Senat) und dem Archiv der Nationalen Bischofskonferenz umfassendes Material zu finden, in Chile in den Beständen der "Vicaría de la Solidaridad", des "Centro Bellarmino", der Nationalbibliothek und der Bibliothek des (damals noch geschlossenen) Kongresses. Den Mitarbeitern all dieser deutschen, brasilianischen und chilenischen Institutionen sei hier ganz herzlich für ihre teilweise außergewöhnliche Unterstützung gedankt. Große Bedeutung kommt für diese Arbeit ferner den eigenen Studien kirchlicher Forschungsinstitute und der Berichterstattung in den weltlichen und kirchlichen Zeitungen und Zeitschriften zu. Der Verfasser konnte zudem auf kircheninterne Dokumente und auf ein vertrauliches Dossier des brasilianischen Sicherheitsrates zurückgreifen, in dem eine detaillierte Einschätzung der Kirche und ihres Engagements in einzelnen Bereichen aus der Sicht des Militär vorgenommen wurde. Im Ausland ist nur zur Menschenrechtsfrage und über die brasilianischen Indianer viel Informationsmaterial erhältlich. Im ersten Fall aufgrund der internationalen Solidarität, im zweiten wegen der Sensibilisierung der Weltöffentlichkeit für ökologische Probleme des Amazonasgebietes. Es blieben jedoch auch hier ergänzende Recherchen in beiden Ländern unabdingbar. Zum Politikfeld Verfassungsfrage sind dagegen außerhalb der Länder keine

18

detaillierten Informationen zu erhalten. Für Brasilien konnte auf Dokumente zurückgegriffen werden, die im Kongreß an die Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung verteilt wurden. Hinsichtlich der Mapuche-Indianer in Chile schließlich war es selbst vor Ort zunächst schwierig, verläßliche Quellen zu finden. Sofern in dieser Arbeit keine deutsche Quelle genannt wird, stammt die jeweilige Übersetzung vom Verfasser. Für Unterstützung und wertvolle Anregungen dankt der Verfasser Prof. Dr. Bernhard Sutor, Prof. Dr. Hans-Joachim König, Prof. Dr. Klaus Schubert, Prof. Dr. Manfred Mols und Prof. Dr. Horst Sing. Danken darf ich für wichtige Hinweise auch Prof. Dr. Rainer Greca. Während meiner Forschungsarbeiten kamen mir die Arbeitsbedingungen an der KUE und am dortigen Zentralinstitut für Lateinamerika-Studien (ZILAS) sehr zugute. Hierfür möchte ich dem langjährigen geschäftsführenden Direktor des ZILAS, Prof. Dr. Karl Kohut, meinen Dank aussprechen. Die sachkundige und konstruktive Kritik von Dr. Karl-Dieter Hoffmann, dem Geschäftsführer des ZILAS, hat mir an vielen Stellen dieser Arbeit weitergeholfen. Für die gute Zusammenarbeit danke ich auch dem Verleger Klaus Dieter Vervuert und besonders Frau Andrea Ziemer. Zur Bestätigung von besonders relevanten politischen Ereignissen, Entscheidungen oder Handlungen wurden in Brasilien und Chile Interviews und informelle Gespräche mit Bischöfen, politischen Entscheidungsträgern, Mitarbeitern der Nationalen Bischofskonferenzen und wissenschaftlicher Institute, sowie mit Journalisten und vor Ort tätigen Padres und Bürgern geführt. Verweise auf diese Quellen sind an verschiedenen Stellen der Arbeit zu finden. Der Verfasser ist allen zu großem Dank für die oft sehr engagierte Hilfe verpflichtet. Stellvertretend für viele seien hier aus Brasilien P. Dr. José Oscar Beozzo, P. Dr. Jesus Hortal SJ, die Franziskaner Dom Theodordo Leiz und P. Willy Gärtner, Prof. Dr. David V. Fleischer und der Politiker, Rechtsanwalt und Journalist Mauricio Fruet genannt. Im Falle Chiles fand ein besonders intensiver Gedankenaustausch mit den Kirchenforschern Maria Antonieta Huerta, Luis Pacheco Pastene und Cristian Parker statt, sowie P. Renato Poblete SJ, Möns. Christian Precht und Bischof Sixto Parzinger. Von der Konrad-Adenauer-Stiftung danke ich Dr. George B. Sperber in Säo Paulo und Dr. Wilhelm Hofmeister in Santiago für ihre Unterstützung. Ohne wiederholte mehrmonatige Forschungsaufenthalte in Brasilien (1987/ 1988/1991) und Chile (1988/1989) wäre die Studie nicht realisierbar gewesen. Hier gilt mein großer Dank P. Dr. Günther Schühly SJ und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst. Im Rahmen eines mehijährigen Favela-Projektes in Rio de Janeiro und zweier Gastdozenturen an der Juristischen Fakultät der Universidad de Valparaiso/Chile wurde mir ermöglicht, die notwendigen Recherchen durchzufuhren. Eine letzte Bestandsaufnahme vor Ort erfolgte im Laufe eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten

19

Kongreßaufenthaltes in Brasilien Mitte 1995 (CEHILA, Historia da Igreja na América Latina e no Caribe 1945-1995, Säo Paulo). Die DFG gewährte Anfang 1998 eine Druckbeihilfe für diese Habilitationsschrift, die meinen doppelten Dank begründet. Das Buch ist meiner Frau gewidmet.

Eichstätt, im März 1998 Christiano German

21

KAPITEL I Einleitung 1. Themenstellung, Ansatz und Aufbau der Arbeit Der lateinamerikanische Entwicklungsprozeß in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde von der nachkonziliaren katholischen Kirche zunehmend auch als Prozeß politischer und gesellschaftlicher Durchsetzung von Freiheit, Gleichheit und Partizipation verstanden. Je mehr sie in autoritären Regimen als Vermittler, Schirmherr, Initiator oder als Ersatzopposition Erfolg hatte und dadurch breitere Volksschichten ansprach, wurde sie, wie es Manfred Mols formulierte, „zum Partner, Berater und Helfer derer, die an einer demokratischen Transformation ihrer Gesellschaft in Freiheit arbeiten" 1 . Der Einsatz der katholischen Kirche in zahlreichen Militärregimen Lateinamerikas für liberale Freiheitsrechte, Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit führte dazu, daß sie ab den 70er Jahren in einigen sozialwissenschaftlich und historisch orientierten Studien als ein signifikanter politischer Akteur unter den demokratiefördernden Institutionen bezeichnet wurde 2 . Schließlich betonte Samuel P. Huntington zu Beginn der 90er Jahre die besondere Bedeutung des Katholizismus bei der weltumspannenden „dritten Welle" der Demokratisierung, deren Beginn er mit dem Sturz der portugiesischen Diktatur im Jahre 1974 datiert 3 . Ab Mitte der 60er Jahre sei die Kirche fast ausnahmslos in Opposition zu autoritären Regimen gegangen. In einigen Fällen, wie Brasilien, Chile, den Philippinen, Polen und in mittelamerikanischen Ländern, habe sie bei den Bemühungen um einen Regimewandel eine zentrale Rolle gespielt 4 . In den genannten Abhandlungen wird die Hypothese von der katholischen Kirche als einer ab den 60er Jahren bedeutsamen demokratiefördernden Institution jedoch nur formuliert, nicht aber empirisch durch eigene Fallstudien zu einem oder mehreren Ländern belegt, hinterfragt oder etwa - zumindest teil1

Mols, M. 1985a: Demokratie in Lateinamerika,

Stuttgart u.a., 113.

2

So in zeitlicher Reihenfolge bei Lodge, G.C. 1970: Engines of Change. United States Interests and Revolution in Latin America, New York, 188-212, Sanders, T.G. 1970: „The Church in Latin America", in: Foreign Affairs, Jg. 48, 2, 285-299, Vallier, I. 1970a: Catholicism, Social Control and Modernization in Latin America, Englewood Cliffs, N.Y., 76, Mols 1985a, 111-113 und König, H.-J. 1989: „La Iglesia en la época contemporánea", in: Balance de la historiografía sobre Iberoamérica (1945-1988), IV Conversaciones Internacionales de Historia, Ansoáin, 728. 3

Vgl. Huntington, S.P. 1991a: The Third Wave. Democratization in The Late Twentieth Century, Norman and London. Die Kapitel zur Religion sind ferner wiedergegeben in: Huntington, S.P. 1991b: „Religion and The Third Wave", in: The National Interest (Summer), 29-42. 4

Vgl. Huntington 1991a, 77.

22

weise - widerlegt. In den vorhandenen länderübergreifenden und länderspezifischen Kirchenstudien, auf die sich die oben genannten Arbeiten neben eigenen Interpretationen berufen, wird wiederum die Bedeutung der Kirche als besonderer Akteur im Verlaufe des Demokratisierungsprozesses bzw. als Ersatzopposition nicht gezielt untersucht. Dies gilt in besonderem Maße für die in Südamerika am meisten positiv hervorgehobenen Fälle Brasilien und Chile. Außerdem bleiben diese Studien auf jeweils historisch begrenzte Zeiträume während des Autoritarismus beschränkt5. Diese konzeptionelle und empirische Forschungslücke versucht die vorliegende Arbeit erstmalig durch eine systematische, kritisch-detaillierte und vergleichende Überprüfung der Rolle der Bischofskonferenzen in Brasilien und Chile für den gesamten Zeitraum der Militärherrschaft zu schließen. Die Leitfrage lautet, auf welche Weise und mit welchem Erfolg die nationalen Bischofskonferenzen in Brasilien und Chile als politische Kraft gewirkt haben. Zu den Erkenntniszielen gehört neben der Gewinnung neuer Informationen auch eine präzisere Bestimmung des Stellenwertes der Institution Kirche als politischer Akteur unter den komplementär zu berücksichtigenden multikausalen Faktoren und weiteren Trägern eines demokratieorientierten Wandels in autoritären Regimen Lateinamerikas. Dabei sollen am Beispiel der Episkopate ferner die Möglichkeiten und Grenzen von oppositionellem politischen Handeln aufgezeigt werden. Hilfreich ist hierbei eine erweiterbare Typologie von Juan J. Linz über Formen von Opposition im Autoritarismus. Verbunden mit dieser Arbeit ist schließlich das Anliegen, zum Abbau des besonderen Defizits an kirchenorientierter Lateinamerikaforschung beizutragen. Vom Ansatz her versteht sich die vorliegende Studie als Beitrag zur Demokratieforschung in Lateinamerika und wird dem politikwissenschaftlichen Teilbereich der Vergleichenden Analyse politischer Systeme („comparative politics") zugeordnet. Ansehen und politisches Engagement der Kirche in Lateinamerika Die Wertschätzung der nachkonziliaren katholischen Kirche als Promoter der Demokratie steht in deutlichem Kontrast zur Beurteilung ihrer traditionellen Rolle in der Politik und Gesellschaft Lateinamerikas durch eine kritische Öffentlichkeit. Im Rahmen der 1992 stattfindenden Gedenkveranstaltungen zur Entdeckung des amerikanischen Kontinents wurde immer wieder auf die moralische Rechtfertigung der grausamen Eroberung und Kolonisierung Lateinamerikas durch die Päpste hingewiesen. Zudem wird die Institution Kirche für die Unterentwicklung des Kontinents mit verantwortlich gemacht. Das durch sie bis weit in das 20. Jahrhundert mit hineingetragene Erbe des patriachalischen spanischen und portugiesischen Kolonialismus habe die Menschen träge und 5

Vgl. die im folgenden referierte Literatur aus dem deutschen, englischen, französischen, spanischen und portugiesischen Sprachraum.

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fatalistisch gestimmt, sei Mitursache für die politischen Wirren gewesen und habe einer demokratischen Entwicklung des Kontinents entgegengewirkt6. Entsprechende Aussagen finden sich auch bei selbstkritischen Kirchenvertretern. Das Negativimage der Institution Kirche als jahrhundertelangem Bündnispartner der herrschenden Eliten und Apologeten des sozialen Status quo veränderte sich ab Mitte der 60er Jahre nur langsam und bedarf einer differenzierten Betrachtungsweise. Die Zuwendung zum Volke und das Engagement für Demokratie in Lateinamerika seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) und den gemeinsamen Beschlüssen der lateinamerikanischen Episkopate in Medellin (1968) und Puebla (1979) erfolgte auch nicht überall in gleichem Maße. Betrachtet man die offizielle Haltung der Kirchenhierarchie in den autoritären Regimen Mittelamerikas, so zeigten sich die Bischöfe in Mexiko eher konfliktscheu, in Panama moderat. Dagegen unterstützten sie in Nikaragua die Sandinisten beim Sturze der Somoza-Diktatur und mußten die Abspaltung einer „Volkskirche" unter dem neuen Sozialrevolutionären Regime in Kauf nehmen. Später wurde die kirchliche Hierarchie zu einem wichtigen Vermittler bei den regionalen Bemühungen um einen Friedensplan und zwischen der Regierung und den sog. Contras bzw. der Guerilla im Falle El Salvadors. Die Bedeutung der Kirche als demokratiefördernde Kraft in Honduras und Guatemala kann inzwischen als anerkannt gelten7. In Argentinien und Uruguay wiederum reagierten die sozial konservativeren Kirchenhierarchien überwiegend unkritisch auf die regional vergleichsweise extrem repressiven Diktaturen 8 . Nach der Welle militärischer Machtübernahmen während der 60er und 70er Jahre haben sich andere Teilkirchen Südamerikas in bestimmten Bereichen engagiert, z.B. bei Menschenrechtsverlet-

6 Hierzu ausführlicher die Überlegungen von Vallier, I. 1967: „Religious Elites: Differentiations and Developments in Roman Catholicism", in: Lipset, S.M./Solari, A. (eds.): Elites in Latin America, New York, 190-232 und Wehner, F. 1970: „Historische und geistige Grundlagen des demokratischen Gedankens in Spanischamerika", in: VRÜ 3. Jg., 285-308. Femer Wiarda, H.J. (ed.) 1982: Politics and Social Change in Latin America. The Distinct Tradition, 2. ed., Massachusetts, 29ff/75ff7329ff. 1 Vgl. hierzu Ballin, M. 1990: Die politische Rolle der Kirche in Zentralamerika. Eine vergleichende Länderanalyse, Frankfurt u.a. Die Dissertation untersucht die Beteiligung der Kirche in der Politik und am Demokratisierungsprozeß in Costa Rica, Honduras und Guatemala. Die Kirche wird u.a. als „Kraft des Wandels durch Reformen" (2) bzw. als „Kraft..., die die Konfliktlösung und Demokratisierung fördert" (270) bezeichnet. Siehe ferner die Länderbeiträge in Keogh, D. (ed.) 1990: Church and Politics in Latin America, Houndmills u.a. sowie Waldmann, P./Zelinsky, U. (Hrsg.) 1982: Politisches Lexikon Lateinamerika, 2. Aufl., München. 8 Speziell zu Argentinien siehe die Schriften von Mignone, E. 1990: „Human Rights and the 'Dirty War' in Argentina", in: Keogh (ed.), 352-371 und 1988: Witness to the Truth The Complicity of Church and Dictatorship in Argentina, New York.

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zungen in Paraguay und Bolivien mehr, in Peru und Ekuador weniger9. Dagegen treten die Bischofskonferenzen in Brasilien und Chile durch ihren jahrzehntelangen und vergleichsweise umfassenden und kontinuierlichen Einsatz für demokratische Reformen hervor. Die zum Teil sehr unterschiedliche Haltung der Kirchenleitungen in den aufgezählten Ländern Lateinamerikas läßt sich aus den kirchenamtlichen Verlautbarungen nicht begründen. Die Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils, päpstliche Rundschreiben und nicht zuletzt die Dokumente von Medellin und Puebla galten für alle Teilkirchen gleichermaßen und hätten in allen Militärregimen ein ähnliches politisches und soziales Engagement der Episkopate zugelassen und gerechtfertigt. Warum nicht alle Bischofskonferenzen den Orientierungsrahmen der länderübergreifenden Kirchendokumente trotz „institutionalisierter Gewalt und Ungerechtigkeit" (Medellin/Puebla) gleichermaßen ausgeschöpft haben, beruht wohl auf kircheninternen und/oder politischinstitutionellen Gründen, denen im Rahmen dieser Studie nicht im einzelnen nachgegangen werden kann. Die Kompetenzverteilung nach dem Subsidiaritätsprinzip erlaubt den ortskirchlichen Bischöfen allerdings auch grundsätzlich eine eigene Beurteilung der jeweiligen Lage10. Es soll nur daraufhingewiesen werden, daß eine unterschiedliche Sozialisation der Bischöfe von Bedeutung sein kann. Oft stammen sie in den Ländern Lateinamerikas selbst aus der Oberschicht, und es wäre sicher an anderer Stelle interessant, die Korrelation zwischen sozialer Herkunft und politischer Haltung der Bischöfe in Ländern wie Argentinien und Uruguay mit den Fällen Brasilien und Chile zu vergleichen - falls die notwendigen Quellen zugänglich sind. Allerdings könnten dabei auch nur Tendenzen aufgezeigt, nicht aber verläßliche Parameter für voraussehbare politische Einstellungen bzw. deren Wandlungsresistenz erstellt werden. Zur Diskussion gestellt werden könnten bei einem solchen Ländervergleich weitere Aspekte, wie die bessere Besoldung des Klerus in Argentinien und Uruguay sowie die besondere Bedeutung der argentinischen Kirche mit all den Privilegien und Abhängigkeiten, die sich durch eine konfessionell an den katholischen Glauben gebundene Verfassung ergeben. In Uruguay, dem Land mit der wohl höchsten Säkularisationsrate in ganz Lateinamerika, wäre der Einfluß der Bischofskonferenz wahrscheinlich ohnehin gering gewesen. In beiden Ländern war jedoch ein aktives soziales Engagement aus den Reihen der Priesterschaft zu verzeichnen.

9

Vgl. Smith, B. 1985: „Churches and Human Rights in Latin America. Recent Trends on the Subcontinent", in: Levine, D.H. (ed.), Churches and Politics in Latin America, Beverly Hills/London, 154-193 sowie Keogh 1990 und Waldmaim/Zelinsky 1982. 10 Vgl. Ockenfels, W. 1989: „Zur sozialen und politischen Rolle der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland", in: APuZ B 49/89,1. Dezember, 3-13, 9.

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Zum Begriff „Katholische Kirche" Bei den bisherigen Ausfuhrungen wurden Begriffe wie katholische Kirche, Katholizismus und Episkopat aus der zugrundegelegten Literatur übernommen. Die am häufigsten verwendete Bezeichnung „katholische Kirche" könnte sehr weit gefaßt werden und alle Konfessionsangehörigen mit einschließen. In Kapitel III, dem Hauptteil dieser Arbeit, wird jedoch ein engerer Begriff angewandt, der sich schwerpunktmäßig auf die amtskirchlichen Organisationsformen, speziell die im Mittelpunkt stehenden Bischofskonferenzen bezieht. Das politische Profil der Kirche würde sich eher diffus darstellen, wenn man in den Länderbeispielen die oft kontroverse Haltung und unkoordinierten Aktivitäten von Priestern, der Ordensmitglieder sowie der katholischen Laien(verbände) mit einbezöge. Nur die Kirchenfuhrung kann das ganze Gewicht der Institution gegenüber der Regierung zum Ausdruck bringen und tat dies auch in den beiden untersuchten Ländern. Zu berücksichtigen ist bei der politischen Meinungsbildung innerhalb der Episkopate und der Kirche insgesamt allerdings auch der Einfluß, der von populären, zum Teil international bekannten sozial engagierten Bischöfen, Weltpriestern und Ordensmitgliedern ausging. Die Bedeutung der Kongregationen bleibt jedoch ein weitgehend unerforschtes Gebiet. Bis auf einige, in dieser Studie berücksichtigte, kürzere Beiträge fehlen zeitlich übergreifende kirchengeschichtliche Abhandlugen zu den Männerund Frauenorden in Lateinamerika bzw. einzelnen Ländern des Kontinents 11 . Im politischen System stehen die Episkopate als offizielles Repräsentationsorgan der Kirche auf institutioneller Ebene der Regierung oder den Parteien gegenüber. Huntington weist für die Fälle Brasilien und Chile darauf hin, daß der „breaking point" bei den Beziehungen zwischen Staat und Kirche in dem Moment erfolgte, als die nationalen Bischofskonferenzen die katholische Kirche explizit in Opposition zum autoritären Regime stellten12. Trotz der herausragenden politisch-institutionellen Bedeutung der Bischofkonferenzen haben sich die Sozialwissenschaftler jedoch mehr mit dem Wirken der Befreiungstheologen, einzelner Bischöfe oder den Basisgemeinschaften beschäftigt und ihren Abhandlungen einen meist diffusen Kirchenbegriff zugrundegelegt. Systematische Studien über das politische Engagement der Bischofskonferenzen sind bisher nicht erschienen. Sofern es in den Kapiteln III, IV und V an einigen Stellen um die Darlegung von offiziellen Positionen und Aktionen der „(Nationalen) Bischofskon11

Die Schwerpunkte der Kirchenforschung lagen neben der Rolle der Orden bei der Eroberung und Missionierung Lateinamerikas bei den Jesuiten-Reduktionen im 17. Jahrhundert. In der hier zugrundegelegten sozialwissenschaftlichen Literatur zum 20. Jahrhundert werden die Kongregationen bestenfalls am Rande erwähnt. Wenig Aufschluß für eine politikwissenschaftliche Analyse geben beispielsweise einschlägig klingende Titel wie Codina, V./Zevallos, N. 1991: Ordensleben, Bibliothek Theologie der Befreiung, Düsseldorf, 74ff. 12

Huntington 1991a, 80.

26 ferenz" als „Stimme der Kirche" gegenüber der Regierung oder den Parteien geht, ist der Begriff „katholische Kirche" - wie in der Tagespolitik und Umgangssprache der politischen Entscheidungsträger üblich - als Synonym zu verstehen. Im Falle einer vom Gesamtepiskopat abweichenden Meinung einzelner oder mehrerer Bischöfe wird auf die Art der Differenzen hingewiesen. Eine kontinuierliche Beschränkung auf den Begriff „Bischofskonferenz" kann dagegen in den ersten beiden Kapiteln der Arbeit nicht durchgehalten werden, da bei der zu Rate gezogenen Literatur die Definition des Kirchenbegriffes variiert bzw. nicht immer klar ist oder zum größten Teil auch gar nicht vorgenommen wird. So wird zum Beispiel im historischen Überblick des Kapitels II der jeweils vorgefundene Terminus, meist „(katholische) Kirche", übernommen. Die politischen Positionen der Bischofskonferenzen zu einzelnen Problemfeldem sind in öffentlichen Verlautbarungen als gemeinsame Beschlüsse des Episkopats und damit als offizielle Haltung der Institution Kirche dokumentiert. Diese Verlautbarungen dienen, wie lehramtliche Äußerungen, zunächst ganz allgemein dazu, „das verantwortliche Handeln der Gläubigen innerhalb der gegebenen Geseilschafts- und Wirtschaftsordnung zu orientieren und auch zur aktiven Gestaltung und Verbesserung dieser Ordnung anzuregen" 13 . Den ortskirchlichen Bischöfen steht es frei, in ihren Hirtenworten mit detaillierten Vorschlägen hervorzutreten. Diese Dokumente richten sich als offizielle Stimme der Kirche in der Regel über die Gläubigen hinaus an alle Mitglieder der Gesellschaft. In besonderen Fällen auch gezielt an bestimmte Adressaten, wie z.B. die politisch Verantwortlichen eines Landes. In jedem Falle bilden die Verlautbarungen in den behandelten Ländern die Grundlage für die Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenzen. Diese wurden von der Kirchenleitung oder damit beauftragten Bischöfen im Namen des Gesamtepiskopats und damit letztlich der Institution Kirche landesweit verkündet bzw. in die Tat umgesetzt. Begründung für die Auswahl der Fallstudien Wenn in der breiten Literatur zum Thema Demokratie in Lateinamerika und speziell zu Südamerika eine besondere Rolle der Kirche zur Sprache kommt, werden die Länder Brasilien und Chile an erster Stelle genannt. Auch eine erste Sichtung der Quellenlage zeigt, daß das Engagement der Episkopate zugunsten eines demokratischen Wandels in diesen beiden Ländern überdurchschnittlich ausgeprägt war. Dem auf die beiden außergewöhnlichen Fälle gelenkten Interesse konnte jedoch aufgrund einer historisch wie thematisch lükkenhaften Literaturlage bisher nur bedingt entsprochen werden.

13 Ockenfels 1989, 8.

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In dieser Studie wird erstmals die gesamte Phase der autoritären Herrschaftsordnung in Brasilien (1964-1990) und Chile (1973-1990) behandelt. Der Untersuchungszeitraum beginnt jeweils mit dem Putsch des Militärs und endet mit der Übernahme einer demokratischen Regierung durch den ersten wieder frei gewählten zivilen Präsidenten. Der besondere Einsatz der Bischofskonferenzen zeigte sich unter anderem in einer Fülle von kritischen sozio-politischen Verlautbarungen und in der Einrichtung von kirchlich geförderten Institutionen zur Verteidigung der Menschenrechte (Kommission „Justina e Paz" und die „Vicaría de la Solidaridad"). In den Studien aus dem englisch-, französisch-, spanisch- und portugiesischsprachigen Raum, auch wenn sie zeitlich und/oder thematisch begrenzt sind, wurde dies zur Kenntnis genommen. Die deutsche Politikwissenschaft hat dieses Thema hingegen nur vereinzelt aufgegriffen. Vieles spricht auch, neben besonderen politisch-institutionellen Rahmenbedingungen, für eine kircheninterne Sonderentwicklung in diesen beiden Ländern. Zu erwähnen sind die über innerkirchliche Belange hinausgehenden Verdienste der bereits in den 60er Jahren weithin bekannten, sozial engagierten Persönlichkeiten wie Erzbischof Hélder Cámara aus Brasilien sowie Kardinal Raúl Silva Henriquez und Bischof Manuel Larrain aus Chile. Später kamen die Kardinäle Evaristo Arns (Säo Paulo) und Juan Francisco Fresno (Santiago) hinzu. Zugunsten einer besonderen sozio-politischen Sensibilisierung dieser Bischofskonferenzen spricht ferner, daß die kirchliche Soziallehre in beiden Ländern im lateinamerikanischen Vergleich etwas intensiver rezipiert wurde, wenn auch in Chile mehr (Centro Bellarmino/Santiago) und in Brasilien weniger (Centro Dom Vital/Rio de Janeiro). In anderen Regionen Lateinamerikas blieb sie dagegen „weitgehend unbekannt und unerprobt" 14 . Geistliche aus Brasilien haben wiederum einen wichtigen Beitrag zur Grundlegung und Entwicklung der Theologie der Befreiung geleistet, die dort mehr Sympathien und Anhänger im Episkopat fand als in anderen Ländern Südamerikas. Ein weiterer Gesichtspunkt in diesem Zusammenhang ist der innerkirchliche Einfluß der Orden - wie z.B. der Franziskaner und Jesuiten sowie der vor Ort tätigen und sozial engagierten ausländischen, meist westeuropäischen (Ordens-) Priester. Zur vergleichenden Perspektive Die Wahl zweier Fälle mit Herrschaftssystemen, die in der Politikwissenschaft dem gleichen Systemtyp zugeordnet werden, begründet sich damit, daß auf diese Weise mehr Erkenntnisse über die interessierenden Fragen gewonnen werden können als bei einem Einzelfall. Der Vergleich zweier Systemtypen, die über signifikante gemeinsame Merkmale verfugen, dient als Hilfs14 Ockenfels 1989,4.

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mittel, um zu plausiblen Interpretationen der schwerlich exakt nachweisbaren Ursache-Wirkungs-Verhältnisse vom Engagement politischer Akteure (hier der Bischofskonferenzen) und entsprechenden Reaktionen der Regime als Adressaten zu gelangen. Durch eine vergleichende und historisch interpretierende Untersuchung können bei seriöser Quellenlage aber bestenfalls Wechselwirkungen erklärt werden, die in bestimmten Fällen unmittelbare kausale Zusammenhänge erkennbar werden lassen. In der Regel liegt bei politischen Prozessen eine Konkurrenz und Interferenz unterschiedlicher politischer Kräfte vor, weshalb sich die ursprünglichen Initiatoren eines Ergebnisses nicht mehr schlüssig bestimmen lassen. Dieses Dilemma wird im Falle der untersuchten Demokratisierungsprozesse zumindest teilweise dadurch relativiert, daß die Bischofskonferenzen Brasiliens und Chiles in bestimmten historischen Phasen die einzige öffentliche oppositionelle Kraft im Staate bildeten und in dieser Situation auch zielstrebig ihr politisches Gewicht eingebracht haben. Eine Erweiterung der Studie auf drei oder vier Fälle hätte nach Ansicht des Verfassers die qualitativen Elemente der Arbeit verringert und wäre kaum durch einen erhofften zusätzlichen Erkenntnisgewinn begründbar gewesen. Auf die Hinzunahme eines für komparative Untersuchungen interessanten „deviant case", z.B. Argentinien oder Uruguay, wurde aus folgenden Gründen verzichtet: Erstens stellen sich die kirchlichen Bemühungen bzw. innerkirchlichen Auseinandersetzungen um gangbare Wege der Demokratisierung in den gewählten Ländern selbst zum Teil sehr unterschiedlich und abwechslungsreich dar. Zweitens waren die Reaktionen der Kirche auf die Machtübernahme des Militärs in Brasilien und Chile zunächst ebenso moderat wie im Falle Argentiniens und Uruguays, so daß die konforme Haltung und ihre Folgewirkungen ebenfalls berücksichtigt wird. Die brasilianischen und chilenischen Episkopate widmeten sich nach den gewaltsamen Machtwechseln erst zögernd und nicht immer gleich intensiv den verschiedenen sich anbietenden Aktionsfeldern. Drittens gab es in beiden Ländern Minderheiten unter den Bischöfen, die entweder mit dem Militärregime offen sympathisierten oder aber in schärfere Opposition traten. Diese Haltungen wichen deutlich von den intern mehrheitlich beschlossenen und nach außen hin vertretenen Positionen der Episkopate gegenüber den Regimen ab. Viertens wurde das schließlich eingebrachte Engagement der gesamten Kirche im Namen der Bischofkonferenz in verschiedenen historischen Phasen durch zahlreiche Rückschläge und Mißerfolge aufgrund harter Gegenreaktionen der Regime begleitet. Die aufgezeigten Ambivalenzen werden in den entsprechenden Kapiteln dieser Arbeit ausfuhrlich behandelt. Von einer Auseinandersetzung mit den begrifflichen, theoretischen und methodischen Ansätzen dieses Teilbereichs der Politikwissenschaft wird hier

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abgesehen15. Der Begriff „comparative politics" umfasst sowohl eine institutionelle Betrachtungsweise als auch einem systemtheoretischen Verständnis folgend die sozialen, ökonomischen und politisch-kulturellen Grundlagen eines politischen Systems. Zu den zentralen Untersuchungsobjekten zählt neben dem politischen System als Ganzem auch der vorpolitische gesellschaftliche Raum, hier besonders die politischen Parteien und Verbände. Die katholische Kirche in Brasilien und Chile wird hier den Verbänden zugeordnet. Damit wird der Auffassung gefolgt, daß die Kirche, sofern sie über ihren geistlichen Auftrag hinausgehend zum Zwecke der politischen Einflußnahme den weltlich-politischen Bereich betritt, den Verbänden im Verhältnis zum Staat prinzipiell gleichgestellt ist16. Hierfür spricht in den beiden autoritären Regimen auch ihre verbandsmäßige Rechtsgestalt als juristische Person bei einer eindeutigen Trennung von Staat und Kirche, in der zudem keine Konkordate existierten. Die untersuchten Fallbeispiele Brasilien und Chile werden einem systematischen Vergleich hinsichtlich der je nach Zeitraum, politischer Situation und Handlungssfeld unterschiedlichen Erfolgsbilanz episkopalen Handelns in den ausgewählten Problembereichen unterzogen. Zur Differenzierung einer vergleichenden Erfolgsmessung ist hierbei auch die Kohärenz der Verlautbarungen und die Kompromißbereitschaft des Episkopats bei bestimmten Konfliktfallen zu berücksichtigen. Ferner werden außerkirchliche Faktoren, alternative Szenarien und denkbare, weitergehende Handlungsoptionen einer „Ersatzopposition" mit einbezogen.

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Einleitend zur Problematik vergleichender Studien in der Politikwissenschaft siehe für viele Berg-Schlosser, D./Müller-Rommel, F. (Hrsg.) 1987: Vergleichende Politikwissenschaft, Opladen, Hartmann, J. (Hrsg.) 1980: Vergleichende politische Systemforschung. Konzepte und Analysen, Köln/Wien und die entsprechenden Stichwörter zur Vergleichenden Analyse politischer Systeme in Nohlen, D./Schultze, R.-O. 1985: Politikwissenschaft. Theorien - Methoden - Begriffe, 1, Pipers Wörterbuch zur Politik, München/Zürich, 1077ff und andere. 16

Zur besonderen Problematik der institutionellen und verbandstypologischen Stellung der Kirchen im politischen System der Bundesrepublik als „Körperschaft des öffentlichen Rechts" siehe Hesse, K. 1984: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 14. Aufl., Karlsruhe, 182, Oberndorfer, D./Schmitt, K. (Hrsg.) 1983: Kirche und Demokratie, Paderborn und Abromeit, H./Wewer, G. (Hrsg) 1989: Die Kirchen und die Politik. Beiträge zu einem ungeklärten Verhältnis, Opladen. In der amerikanischen Verbändeliteratur sind bereits in den 40er Jahren „mit großer Unbekümmertheit Kirchen und andere Interessengruppen unter den Begriff der 'Pressure Groups' gebracht" worden. Hierzu Kaiser, J.-H. 1978: Die Repräsentation organisierter Interessen, 2. Aufl., Berlin, 131 Fßn.19.

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Auswahl der Bereiche kirchlichen Engagements in Brasilien und Chile Da die Bischofskonferenzen in den behandelten Ländern eine Vielfalt von politischen und sozialen Aktivitäten entwickelten, muß bei der Auswahl der zu untersuchenden Problembereiche selektiv verfahren werden. Es fallt schwer, das Engagement der Kirchenfiihrung in den vielfaltigen Bereichen nach Bedeutung und Priorität zu gewichten. Es würde der jeweiligen Sache auch aus kirchlicher Sicht nicht gerecht, bestimmte Probleme als wichtig oder weniger wichtig einzuordnen. Wohl gibt es aber politisch opportune Momente, in denen besondere Sachfragen vorrangig behandelt werden, wie bei harten Wellen der Repression oder bei geplanten Gesetzes- oder Verfassungsänderungen. Mit der Menschenrechtsfrage, dem Einsatz für demokratische Verfassungsbestimmungen und der Indianerproblematik wurden drei Bereiche gewählt, die sich jeweils aus dem historischen Kontext ergaben und in denen die Bischofskonferenzen - trotz vieler Rückschläge - anscheinend Belege für eine erfolgreiche Arbeit vorweisen können. Im Gegensatz dazu reicht z.B. das Engagement für eine Agrarreform oder eine gerechte Wirtschaftsordnung zwar in beiden Ländern weit in die Vergangenheit zurück, blieb aber bis heute erfolglos. Auch auf diesen Punkt wird in der Arbeit mehrfach eingegangen. Die Bemühungen zugunsten der Menschenrechte und zum Schutze bedrohter Minderheiten gehören zu den Grundvoraussetzungen für einen demokratischen Wandel, ebenso wie die institutionelle Absicherung dieser Rechte und anderer Errungenschaften in der Verfassung. Es muß hier jedoch stets der Grad des politisch Machbaren in den untersuchten Ländern im Auge behalten werden. Eine Agrarreform oder ernsthafte Bemühungen um eine gerechtere, „soziale" Gestaltung der Einkommensverhältnisse berühren offensichtlich bis heute Tabuzonen, deren Überschreitung erfahrungsgemäß gewaltsame Gegenmaßnahmen auslöst. Im Vorfeld einer genaueren Analyse dieser Problembereiche zeichnen sich bereits die Ambivalenz und die Grenzen möglicher kirchlicher Erfolge für den Demokratisierungsprozeß ab. Vieles weist darauf hin, daß die kirchlichen Bemühungen um eine „politische" Demokratie mehr Wirkung erzielen als die Durchsetzung der sozialen Bestandteile des Demokratiebegriffes. Aufbau der Arbeit Den politisch-historischen Hintergrund der Studie bildet der Wandel von zwei autoritären Regimen zu demokratischen Herrschaftsformen. Kapitel II enthält demnach in einem ersten Abschnitt zunächst eine Auseinandersetzung mit den Begriffen und Konzepten von Autoritarismus und Demokratie im Falle Lateinamerikas. Nach Aufarbeitung zentraler Aspekte des jeweiligen Diskussionsstandes im deutschen, US-amerikanischen und lateinamerikanischen Raum wird festgelegt, welches Autoritarismus- und Demokratiekonzept am überzeu-

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gendsten ist. In diesem Zusammenhang wird die vorliegende Arbeit auch konkreter einer der möglichen Forschungsrichtungen zugeordnet - hier hinsichtlich des gesamten Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozesses von einem autoritären Regime zu einem demokratischen Regierungssystem. Der zweite Abschnitt befaßt sich mit der Frage, auf welche Weise Opposition in einem autoritären Regime mit dem Ziel einer Demokratisierung des politischen Systems möglich ist. Nach einer Darstellung des in der Vergangenheit bereits erfolgten Beitrags der Kirche zum Sturze von Militärdiktaturen in Lateinamerika wird eine Typologie unterschiedlicher Oppositionsformen von Juan J. Linz 17 herangezogen, diskutiert und erweitert. Ein Einstieg in die beiden Fallbeispiele scheint nicht sinnvoll, ohne den Wandel des kirchlichen Selbstverständnisses in Lateinamerika seit den 60er Jahren darzustellen. Vor dem Hintergrund des II. Vatikanischen Konzils gilt hier den lateinamerikanischen Bischofskonferenzen von Medellin und Puebla besondere Aufmerksamkeit. In den Abschlußdokumenten der Konferenzen wurde der jeweils neueste Stand der politischen und sozialen Ortsbestimmung der katholischen Kirche auf diesem Kontinent vorgelegt. Mit Blick auf Kapitel III stehen die zentralen Aussagen beider Konferenzen zu autoritären Regimen, Menschenrechten, der Indianerfrage, zu kirchlichen Prinzipien einer demokratischen Grundordnung und Möglichkeiten eines demokratischen Wandels im Mittelpunkt. Die Einheit und Differenzen unter den Bischöfen bei diesen und anderen Fragen werden in einem anschließenden Abschnitt dargelegt. Kapitel II schließt mit einer speziellen, zum folgenden Hauptkapitel der Arbeit überleitenden Darstellung der kirchlichen Situation in Brasilien und Chile vor dem autoritären Regime. Hierbei werden die Grundzüge der kirchenpolitischen und gesellschaftlichen Entwicklung, die Entstehung der Bischofskonferenzen, die verfassungsrechtliche Stellung der Kirche sowie abschließend die Bedeutung des Katholizismus im Religionsspektrum beider Länder untersucht. Kapitel III enthält den empirischen Teil der Arbeit und ist entsprechend umfangreicher als die vorangegangenen Kapitel angelegt. Die Fallstudien zu Brasilien und Chile sind zum Zwecke des systematischen Vergleichs in gleicher Weise aufgebaut, wobei jeweils das Szenario, die Forderungen und Aktionen der Nationalen Bischofskonferenzen sowie die Reaktionen der Adressaten im Verlaufe ausgewählter politischer Situationen beschrieben und analysiert werden. Der zweite Abschnitt behandelt das politische Engagement der Bischofskonferenzen in den drei ausgewählten „issues". Für die Menschenrechte galt im Untersuchungszeitraum, daß Brasilien wie Chile als UNOMitgliedstaaten prinzipiell an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gebunden gewesen wären, die in Form einer Entschließung der Generalver17

Linz, J.J. 1973a: „Opposition to and under an Authoritarian Regime: The Case of Spain", in: Dahl, R.A. (ed.), Regimes and Oppositions, New Häven/London, 171-259.

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Sammlung der Vereinten Nationen auch von ihnen angenommen und am 10. Dezember 1948 verkündet wurde 18 . Brasilien und Chile haben noch weitere Konventionen zum Schutze der Menschenrechte unterzeichnet bzw. ratifiziert 19 . Die römische Kirche hat ihrerseits mit „Pacem in Terris" im Jahre 1963 eine deutliche Anlehnung an die Menschenrechtserklärung der UNO von 1948 und ähnliche europäische Übereinkommen vorgenommen 20 . Die Lage der Menschenrechte wird zunächst für die Zeit des Militärputsches und der unmittelbaren Phase danach dargestellt. Für Brasilien folgen weitere vier Szenarien, wobei das letzte bereits die Öffnung des Regimes zeigt. Das Militär in Chile verfolgte eine deutlich härtere Linie, die in drei Szenarien nachgezeichnet wird. Besondere Aufmerksamkeit gilt in beiden Fällen den Geheimdiensten als Hauptakteuren bei den Menschenrechtsverletzungen und der Verfolgung von Kirchenmitgliedern. Das Engagement der Bischöfe für eine demokratische Verfassungsordnung dauerte in Brasilien über zehn Jahre und fand seinen Höhepunkt in der zweiten Hälfte der 80er Jahre mit der Ausarbeitung und Verabschiedung einer neuen Verfassung durch eine vom Volk gewählte Verfassunggebende Versammlung. In Chile erlaubte die politische Lage hier nur zwei relativ kurzfristige Versuche der Kirchenleitung. Auch der Einsatz für die Indianer war durch die unterschiedlichen Wege der politischen Öffnung und Demokratisierung in den Ländern bestimmt. So konnte der brasilianische Episkopat nach fast zwei Jahrzehnten andauernder Hilfe die Indianerfrage schließlich in die Verfassunggebende Versammlung tragen, während in Chile nur 1979/80, anläßlich der neuen Indianergesetzgebung der Junta, ein erfolgversprechendes Engagement möglich schien. Ansonsten leistete ein eigenes kirchliches Institut dem Volk der Mapuche in vielen Lebensbereichen Unterstützung. Kapitel IV faßt die empirischen Ergebnisse der Studie zusammen. Es befaßt sich aus vergleichender Perspektive mit den Möglichkeiten und Grenzen einer demokratieorientierten Ersatzopposition sowie der Erfolgsbilanz episkopalen Handelns in Brasilien und Chile im Hinblick auf die untersuchten „is18

Vgl. Schwelb, E. 1973: „Die Menschenrechtsbestimmungen der Charta der Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", in: Vereinte Nationen (VN) 6/73, 180-187. 19 Siehe hierzu VN 1/74: „Unterzeichnungen und Ratifikationen von Konventionen zum Schutze der Menschenrechte" (Stand 1.12.1973), 24ffund VN 1/79: „Unterzeichnungen und Ratifikationen von Übereinkommen zum Schutze der Menschenrechte" (Stand 1.1.1979), 23ff. 20 Vgl. Stangl, B. 1987: „Staat und Demokratie in der Katholischen Kirche", in: APuZ B 46^17/87, 14. November, 32-45, 41. Mit der häufig diskutierten Frage, welche innerkirchliche Bedeutung den Menschenrechten zukommt, befaßt sich Krämer, P. 1988: „Menschenrechte in der Kirche", in: Seybold, M. (Hrsg.), Fragen in der Kirche und an die Kirche, Extemporalia-Band 6, Eichstätt/Wien, 109-124. Kritischer Neumann, J. 1976: Menschenrechte - auch in der Kirche?, Einsiedeln/Zürich/Köln.

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sues". Neben Erfolgen, Rückschlägen und Mißerfolgen ist hierbei auch die Kohärenz der Verlautbarungen der Bischofskonferenzen mit zu berücksichtigen. Ein weiterer Abschnitt schließt die mögliche Rolle und Bedeutung anderer interner und externer politischer Akteure im Überblick mit ein. Auf diese Weise soll die Hypothese von der katholischen Kirche als einer bedeutenden demokratiefördernden Institution im politischen Wandlungsprozeß der ausgewählten autoritären Regime einer genaueren Überprüfung unterzogen werden.

2. Methodische Vorgehensweise Den folgenden Überlegungen zur methodischen Vorgehensweise sollen einige Bemerkungen zu den Möglichkeiten eines Nachweises politischer Einflußnahme vorangestellt werden. Drei Feststellungen sind zu treffen. Erstens taucht in der bundesrepublikanischen Politikwissenschaft „politischer Einfluß" als Grundbegriff gar nicht auf. Dagegen ist dieser Begriff in den USA verbreitet. So widmet der amerikanische Fachvertreter Robert A. Dahl in seinem wiederholt aufgelegten Standardlehrbuch Modern Political Analysis dem Begriff „Political Influence" ein ganzes Kapitel 21 . Zweitens befassen sich in der Regel alle Studien, die diesen Fragenkomplex berühren, mit Einflußfaktoren und Akteuren in offenen, pluralistischen Demokratien, wodurch die Übertragbarkeit einiger Grundannahmen auf autoritäre Herrschaftssysteme methodisch fragwürdig wird. Drittens stand in den Arbeiten über die Kirche der religiöse Einfluß auf den Menschen und die Gesellschaft in Lateinamerika im Vordergrund. Der politische Einfluß der Kirche auf den Staat bzw. eine Regierung wurde bisher nicht systematisch untersucht 22 . In selteneren Fällen befaßten sich Autoren auch mit dem politischen Einfluß der Kirche auf die Gesellschaft 23 . Der Problembereich „Einfluß" bzw. „politischer Einfluß" wird in der Literatur im Zusammenhang mit anderen politikwissenschaftlichen Grundbegriffen wie „Politik", „Macht" oder „Interesse" angesprochen und von Teilbereichen der Disziplin wie der Verbände- und Parteienforschung, den Internationalen Beziehungen, der politischen Psychologie und Kybernetik thematisiert. In politikwissenschaflichen Studien werden politische Beeinflussungsvorgänge allerdings in der Regel nur konstatiert und das schwierige Thema

21 Vgl. Dahl, R.A. (ed.) 1984: Modern Political Analysis, 4. Aufl., Englewood Cliffs, Kapitel m, 19-35. 22

Hierzu Bruneau, T.C. 1973: „Power and Influence: Analysis of the Church in Latin America and the Case of Brazil", in: Latin American Research Review Vol. VIII, No. 2, 2551, 33ff. Ansätze sind zu finden bei Vallier 1970a, 12. 2 3 So Bruneau, T.C./Hewitt, W.E. 1989: „Pattems of Church Influence in Brazil's Political Transition", in: Comparative Politics 22, No. 1, 39-61.

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eines empirischen Nachweises der Beeinflussung lediglich am Rande bzw. gar nicht behandelt. An dieser Stelle könnte man zunächst die Frage stellen, welche Möglichkeiten den Bischofskonferenzen zur Politikbeeinflussung zur Verfugung stehen. Um einen zielgerichteten und erfolgreichen Einfluß ausüben zu können, muß die Institution Kirche über bestimmte Ressourcen bzw. Hilfsmittel verfügen, um ihre Interessen durchsetzen zu können. Da in dem hier interessierenden Fall der Gegenspieler ein autoritäres Regime ist, das die Spielregeln und den (ungleichen) Einsatz der Druckmittel im Falle eines Interessenkonfliktes nach eigenem Ermessen bestimmen bzw. ändern kann, muß sogar von einer besonderen Qualität dieser Ressourcen eines am friedlichen politischen Wandel durch Reformen orientierten politischen Akteurs ausgegangen werden. Das wohl herausragendste Hilfsmittel dürfte in dem moralischen Wertesystem der Kirche beruhen. Eine mögliche Einflußnahme durch die Berufung auf moralische Werte ergäbe sich durch die jahrhundertelange Verwurzelung des katholischen Glaubens im Volk. Eine positive Einflußnahme könnte sich ferner ergeben, wenn die Öffentlichkeit bzw. die Adressaten auf den humanistischen und demokratischen Kern der zunächst religiös begründeten Argumente reagieren. Mit ihren Stellungnahmen appelliert die Kirche in einer säkularisierten Welt nicht nur an den „Glaubensgehorsam kirchengebundener Christen", sondern an die „sittliche Vernunft aller Menschen" 24 . Somit wäre eine rationale Überzeugungskraft kirchlicher Aussagen bei Angehörigen anderer Konfessionen und Nichtgläubigen denkbar. Des weiteren spricht vieles dafür, daß die Kirche in den hier behandelten Regimen durch ihre besondere Rechtsstellung, ihren hohen Organisationsgrad, die traditionellen staatlich-kirchlichen Interdependenzen (z.B. im Erziehungsund Gesundheitswesen) sowie ihre vielfaltigen Kommunikationsmedien im Besitze bedeutender institutioneller Kapazitäten und Fähigkeiten ist, die das praktische Gewicht ihres Einflusses ferner durch Multiplikationseffekte im Kirchenvolk und in der gesamten Öffentlichkeit verstärken können. Hinzu kommen noch ihre Möglichkeiten zur Ausübung besonderer Sanktionen. So können Kirchenvertreter die Mobilisierung der internationalen Öffentlichkeit/Presse und/oder der UNO zur Ächtung des Regimes androhen bzw. in die Tat umsetzen. Speziell kirchliche Optionen wären die Verweigerung von Gottesdiensten und religiösen Zeremonien. Als stärkstes Druckmittel gegenüber den Repräsentanten eines Regimes gilt die Androhung und der Vollzug der Exkommunikation. Diese in Brasilien und Chile unter der Militärherrschaft mehrfach praktizierten Maßnahmen der Kirche sollen hier als „weiche" Varianten der zuvor genannten Sanktionsmöglichkeiten verstanden werden.

24 Ockenfels 1989, 11.

35 Faßt man diese Überlegungen zusammen, so ergeben sich zumindest drei Ressourcen, die es der Kirchenführung erlauben könnten, ihren Einfluß in autoritären Regimen erfolgversprechend zu gestalten, wobei mit dieser Aufzählung jedoch kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird: 1 .Moralische Werte: Die Einflußnahme beruht auf der Überzeugungskraft des Wertesystem des Katholizismus und/oder auf der damit verbundenen Vermittlung humanistischer und demokratischer Grundeinstellungen. Die Forderungen und Verlautbarungen der Kirche erhalten hierdurch ihr Gewicht. 2. Bedeutende institutionelle Kapazitäten und Fähigkeiten: Diese Hilfsmittel sind auf die traditionelle Sonderstellung der Kirche als Institution im Staate und ihre effektive Organisationsstruktur zurückzuführen. Sie ermöglichen die Wahrung von institutionell und materiell abgesicherten Freiräumen in autoritären Regimen, aus denen heraus Einfluß auf die Gesellschaft und bestimmte Adressaten ausgeübt werden kann. Somit sind die Voraussetzungen zur praktischen Durchführbarkeit von kirchlichen Aktionen zur Unterstützung der Forderungen gewährleistet. 3. Druckmittel. Hier kommen nur „weiche" Varianten in Frage, wie z.B. die Drohung bzw. Umsetzung einer Mobilisierung der internationalen Öffentlichkeit/Presse und/oder der Vereinten Nationen zur Ächtung eines Regimes. Ferner die Verweigerung von Gottesdiensten und religiösen Zeremonien. Die Androhung bzw. der Vollzug der Exkommunikation kann bei der Kirche als Ultima-ratio-Versuch zur Einflußnahme angesichts einer desolaten Situation, z.B. im Bereich der Menschenrechte, angesehen werden. Dadurch soll den Forderungen und Aktionen aus kirchlicher Sicht auf besondere Weise Nachdruck verliehen werden. Um Methoden zur Belegbarkeit einer erfolgreichen Einflußnahme und damit eines merklichen Wandels zu finden, sollen hier Ansätze der Verbändeforschung weiterhelfen. Wie bereits oben festgestellt wurde, kann die katholische Kirche aufgrund ihrer verbandsmäßigen Rechtsgestalt als juristische Person des öffentlichen Rechts in beiden Fallbeispielen wie eine Interessengruppe behandelt und damit auch als solche analysiert werden. Von einer offenen, pluralistischen Demokratie ausgehend, stellt der Verbandsforscher Jürgen Weber fest, daß der Einfluß einer Interessengruppe gering sei, wenn die politischen Akteure ohne Berücksichtigung von deren Vorschlägen, Wünschen oder Drohungen agieren können 25 . Der Einfluß wäre „dagegen groß, wenn die Akteure die Aktivitäten der Interessengruppe mit in das Kalkül ihrer Handlungen einbeziehen und auf ihre Ziele eingehen" müßten. Eine solche Einteilung zwischen „gering" und „groß" kann, wie Weber 25

Hierzu und den folgenden Zitaten siehe Weber, J. 1977: Die Interessengruppen politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart, 189f.

im

36 selbst feststellt, wenig Erkenntnisgewinn bringen. Vielmehr müssen für den konkreten Einzelfall die „Form, Intensität, Reichweite und Effektivität" der Bestimmungskriterien des Einflusses aufgegliedert werden. Der tatsächliche Einfluß einer Interessengruppe läßt sich nach Weber nur dann präzise feststellen, wenn man eine hinreichend große Zahl von politischen Entscheidungsprozessen, an denen sie beteiligt war, untersucht und ihre ursprünglichen Ziele mit dem schließlich erreichten Ergebnis vergleicht. Auch die Untersuchung eines einzigen Falles kann bereits aufschlußreich sein, wenn er nur hinreichend typisch für die Verbandsaktivität im allgemeinen ist. Auf dieser Grundlage liessen sich dann „allgemeine Aussagen über bestimmende Einflußfaktoren" treffen. Diese von Weber angeregte Methode verspricht auch unabhängig von der Qualität der Herrschaftsform als Demokratie oder autoritärem Regime eine erkenntnisfördernde Beurteilung von Prozessen politischer Beeinflussung. Sie wird daher für die weiter unten präzisierte dreistufige methodische Vorgehensweise bei der empirischen Untersuchung (Szenario/Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenzen/Reaktionen der Adressaten) der ausgewählten Problembereiche und politischen Entscheidungsprozesse übernommen werden. Die in der dritten Stufe im einzelnen beschriebenen Reaktionen der Adressaten auf die episkopalen Forderungen enthalten die Hinweise auf den Erfolg einer politischen Einflußnahme. Mögliche Kausalzusammenhänge würden deutlich, falls aufgrund der zugänglichen historischen Quellen entweder nachgewiesen oder mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, daß ein Herrschaftsträger bei politischen Entscheidungsprozessen im Sinne der Bischofskonferenz gehandelt hat. Hierbei sollen Liberalisierungserfolge ebenso berücksichtigt werden wie die institutionelle Wende zur Demokratie. Im Sinne Webers ist hier die Untersuchung verschiedener vergleichbarer Entscheidungsprozesse, wie z.B. bei der Menschenrechtspolitik der Regime in Brasilien und Chile, realisierbar. Klaren kirchlichen Forderungen und Aktionen folgt im Idealfall die gewünschte Reaktion des Regimes. Dadurch können relativ überzeugende Kausalbeziehungen zwischen einer Einflußnahme der Kirche und einer empirisch belegbaren Verbesserung der Menschenrechtslage hergestellt werden. Vor diesem Hintergrund sollen nunmehr die Untersuchungschritte dargelegt werden, nach denen der empirische Teil III der vorliegenden Arbeit aufgebaut ist. Jedes der drei „issues", Menschenrechte, Verfassung und Indianer, wird nach dem folgenden dreigliedrigen Schema analysiert: 1. Szenario: In diesem einleitenden Teil sollen jeweils die politisch-historisch bedeutendsten Abschnitte des untersuchten Problembereiches mit möglichst aussagekräftigen Belegen dargestellt werden. Als Auswahlkriterium gilt

37

ferner, daß sich die Episkopate während der ausgewählten Phase mit diesem Problem besonders engagiert auseinandergesetzt haben. 2. Forderungen und Aktionen der Bischofskonferenz-. In diesem Abschnitt werden offizielle Verlautbarungen der Nationalen Bischofskonferenzen zugrundegelegt, die sich auf das jeweilige Szenario beziehen und eine zielgerichtete Einflußnahme auf bestimmte Adressaten beabsichtigen. Ferner Schreiben und Stellungnahmen einzelner Vertreter oder einer Gruppe aus der Hierarchie, sofern diese Äußerungen im Namen des Episkopats erfolgen. Von Bedeutung sind hierbei stets die Vorgehensweisen zur Übermittlung einer Forderung durch die Bischofskonferenzen. Hier wird untersucht, in welcher Form die Verlautbarung des Akteurs verfaßt war, auf welche Weise sie dem Adressaten übermittelt wurde und welche Störfaktoren auf dem Kommunikationsweg auftraten. Einen weiteren Bereich bilden die vielfaltigen begleitenden Aktionen der Bischöfe und der ihnen direkt unterstellten kirchlichen Institutionen. Auch kirchliche Sanktionen sind hier mit einbezogen. 3. Reaktionen der Adressaten-, Der Adressat ist meist eindeutig identifizierbar. Die Bischöfe wenden sich zwar in der Regel mit ihren Verlautbarungen an alle Gläubigen, jedoch sind bestimmte Passagen oder einzelne Dokumente mit politischen Inhalten direkt an die Herrschaftsträger gerichtet, in besonderen Fällen an bestimmte Regimevertreter oder den Staatspräsidenten selbst. Bei den Reaktionen der Adressaten werden überwiegend nur solche Fakten berücksichtigt, die direkte und indirekte Hinweise auf ein Resultat der Einflußnahme vermuten lassen. So werden z.B. direkte Stellungnahmen des Regimes auf bischöfliche Forderungen und Aktionen sowie die schriftlich belegten Einschätzungen von politischen Beobachtern aus Wissenschaft, Presse, Kirche und Politik zur Ursache-Folge-Wirkung von bestimmten politischen Prozessen herangezogen. Ferner werden Gesetzesund Verfassungstexte auf ihre anfangliche bzw. spätere Übereinstimmung mit kirchlichen Forderungen hin untersucht. 3. Die katholische Kirche in der sozialwissenschaftlichen Literatur über Lateinamerika - ein Überblick Zur Wahrnehmung des politischen Akteurs „Kirche" in der Lateinamerikaforschung Zu Beginn der 90er Jahre ist der Demokratisierungsprozeß in den meisten Ländern Mittel- und Südamerikas abgeschlossen und dadurch der Zeitraum der Militärherrschaft überschaubar geworden. Auch wurde im Zuge der Demokratisierung die Veröffentlichung zahlreicher politikwissenschaftlicher und historischer Studien über die autoritäre Herrschaft in den betroffenen Ländern

38

selbst erleichtert und damit die Bedeutung der katholischen Kirche im politischen Prozeß transparenter. Den Herausforderungen der 90er Jahre entsprechend, konzentriert sich das Forschungsinteresse heute weitgehend auf die Konsolidierungschancen der neuen Demokratien in Lateinamerika. Die Bedeutung der katholischen Kirche ist in der Demokratie- bzw. Transitionsforschung über Lateinamerika in den 80er Jahren meist übersehen oder in ihrer Qualität nicht erkannt worden. Hierzu mag ihr traditionell sozial-konservatives Image beigetragen haben. Bestenfalls sind in diesen Studien vage Formulierungen oder einige wenige Hinweise über den kirchlichen Einfluß auf den politischen Wandel in bestimmten Regimen zu finden. Hieraus ließe sich schließen, daß die Rolle der Kirche weitgehend unbedeutend für den Verlauf des Demokratisierungsprozesses gewesen ist. Oder eine fortschreitende Säkularisierung der entsprechenden Forschergruppe könnte, wie es in anderem Zusammenhang bei der deutschen Politikwissenschaft für die Bundesrepublik vermutet wird 26 , die Perzeption des Akteurs Kirche erheblich beeinträchtigt haben. Ein weiterer Gesichtspunkt könnte eine ungenügende Rezeption der vorhandenen, wenn auch oft thematisch eingeschränkten Literatur zum Untersuchungsfeld sein. In einem Abschnitt zur politikwissenschaftlichen Debatte über autoritäre Regime und Demokratisierung in Lateinamerika zu Beginn von Kapitel II wird die Berücksichtigung bzw. Nichtbeachtung des politischen Akteurs Kirche in diesen beiden Forschungsbereichen noch detailliert erörtert. Betrachtet man vorweg eine kleine Auswahl repräsentativer Autoren in der ersten Hälfte der 80er Jahre aus Deutschland und den USA, so findet man zum möglichen politischen Einfluß der Kirche in Lateinamerika und in den hier interessierenden Ländern Brasilien und Chile eine Palette nicht immer erkenntnisfördernder Einschätzungen. Diese reichen von eher diffusen Aussagen zum möglichen Einfluß der Kirche in Lateinamerika über das Ignorieren des Akteurs im Falle Brasiliens bis hin zur besonderen Betonung seiner innerstaatlichen Bedeutung in Chile. Zieht man den in der Bundesrepublik viel zitierten, thematisch breit angelegten Sammelband von Klaus Lindenberg von 1982 zu Rate, so befaßt sich hier ein Beitrag mit den politischen Perspektiven kirchlichen Wandels in Lateinamerika 27 . Der Autor Heinrich-W. Krumwiede, ein ausgewiesener Kenner der Materie, stellt darin einerseits fest 28 : „Die Kirche hat die Politik autoritärer Regimes bisher nicht oder nur in einem sehr geringen Maße direkt beein-

26 Hierzu Wewer, G. 1989: „Politische Funktion und politischer Einfluß der Kirchen kein Thema für die Politikwissenschaft in der Bundesrepublik?", in: Abromeit/Wewer (Hrsg.), 3-46, 15. 27 Vgl. Lindenberg, K. (Hrsg.) 1982: Lateinamerika. Herrschaft, Gewalt und internationale Abhängigkeit, Bonn. 28 Vgl. Krumwiede, H.-W. 1982a: „Politische Perspektiven kirchlichen Wandels", in: Lindenberg (Hrsg.), Lateinamerika, 125-143, 142.

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Aussen können". Die Bedeutung der Kirche wiederum aufwertend, fugt er aber andererseits im folgenden Satz hinzu: Von nicht nur langfristiger, sondern auch mittelfristiger Bedeutung dürfte es aber sein, daß die Kirche mit ihrem Eintreten für die Respektierung der Menschenrechte und die Wiederherstellung liberaler und die Verwirklichung sozialer Demokratie zur Delegitimierung autoritärer Regimes und somit zu ihrer Schwächung beiträgt. Sein erstes Urteil über einen kaum nennenswerten politischen Einfluß der Kirche in Lateinamerika wird von Krumwiede jedoch in einer weiteren Studie, die noch im selben Jahr erscheint, in Frage gestellt. Hier heißt es nunmehr: „Inzwischen ist es in sozialwissenschaftlichen Texten üblich, die Kirche unter die entwicklungsfördernden Institutionen (change agents) einzureihen" 29 . In dem vom renommierten Woodrow Wilson Centre geförderten Forschungsprojekt über Transitions from Authoritarian Rule: Prospects for Democracy in Latin America and Southern Europe werden 1986 die Fallbeispiele Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Mexiko, Peru, Uruguay und Venezuela untersucht 30 . Als deutliches Defizit muß in dieser umfassenden Studie die völlige Ausklammerung der katholischen Kirche in dem Kapitel von Luciano Martins über Brasilien betrachtet werden 31 . Die Kirche findet, abgesehen von einer knappen Erwähnung der Institution in anderen Beiträgen, nur in dem Chile-Artikel von Manuel Antonio Garretón Beachtung 32 . Garretón verweist zunächst auf die fuhrende Einflußnahme der Kirche vor 1980 zur Schaffung eines institutionellen Rahmens und damit zur Überwindung des rechtsfreien Raumes durch die wiederholt dekretierten Ausnahmezustände seit 197333: „...increasing pressure both from the international arena and from some Chilean institutions, mainly the Catholic Church, eventually obliged the dominant bloc to discuss the political model...". Einige Seiten später folgen konkretere Aussagen über die signifikante Rolle der Kirche, wobei Garretón jedoch keine weiteren Quellenhinweise hinzufugt 34 : „In the early days of the

29 Krumwiede, H.-W. 1982b: „Die katholische Kirche in Lateinamerika. Der grundlegende Wandel, den das O. Vaticanum brachte", in: Der Bürger im Staat, 32. Jg., Heft 1, 4851,48. 30 Vgl. O'Donnell, G./Schmitter, P.C./Whitehead, L. 1986: Transitions from Authoritarian Rule: Prospects for Democracy, Baltimore/London. 31 Vgl. Martins, L. 1986: „The 'Liberalization' of Authoritarian Rule in Brazil", in: O'Donnell/Schmitter/Whitehead, 72-94. 32 Vgl. Garretón, M.A. 1986: „The Political Evolution of the Chilean Military Regime and Problems in the Transition to Democracy", in: O'Donnell/ Schmitter/Whitehead, 95-122. 33 Garretón 1986, 103. 34 Ebd., 116. Zu ähnlichen Einschätzungen kommt jedoch u.a. auch der chilenische Kirchenforscher Cristián Parker von der ,Academia de Humanismo Cristiano": „La Iglésia católica ha sido un contrapeso decisivo a la represión bajo el régimen militar". Parker, C.

40 repression there emerged an actor whose political importance would be fundamental under the military regime: the Catholic Church". Er führt ihre Bedeutung als Ersatzopposition in einigen Zeilen aus, verweist aber auf die Grenzen ihres prodemokratischen Engagements 35 : ...the church can never conceive of itself as leading the opposition, even though it may be providing the opposition with the only available space and functioning as the only actor capable of expressing many of the opposition's demands. Die im Vergleich zu anderen politischen Akteuren wie dem Militär oder politischen Parteien periphere Auseinandersetzung mit der politischen Rolle der Institution Kirche bzw. ihrem Verhältnis zum autoritären Regime wird zudem in den Literaturberichten von Paul E. Sigmund (Chile) und Frances Hagopian (Brasilien) deutlich, die im Jahre 1990 im Handbook of Political Science Research on Latin America erschienen sind 36 . Die Autoren haben hierbei sowohl die Forschungsergebnisse aus den USA wie auch aus Lateinamerika berücksichtigt. Diese Feststellung wiegt umso mehr, weil Brasilien und Chile sowohl in den USA wie auch in Lateinamerika selbst zu den „Top Five" der meiststudierten Länder in den letzten Jahrzehnten gehörten 37 . Schwerpunkte der Kirchenforschung über Lateinamerika Für die politische und soziale Neuorientierung der katholischen Kirche in Lateinamerika war das Zweite Vaticanum von entscheidender Bedeutung. Mit diesem Datum setzte auch das Interesse der Politikwissenschaft ein, da nun Bewegung in das zuvor festgefügte Verhältnis zwischen Staat und Kirche kam. Die Forschungsbemühungen gingen aber überwiegend von amerikanischen Wissenschaftlern aus. Es kam hinzu, daß die US-Außenpolitiker die nunmehr erfolgende Ausbreitung der Befreiungstheologie mit größter Skepsis beobachteten. Die US-Regierung befürchtete, daß die sozialkritische und reformorientierte theologische Strömung der kommunistische Subversion den Weg bereiten würde 38 .

1990: „El aporte de la Iglesia a la sociedad chilena bajo el régimen militar", in: Cuadernos Hispanoamericanos 482/483, 31-48, 35. 35 Garretón 1986, 117. 36 Siehe Sigmund, P.E. 1990: Chile, in: Dent, D.W. (ed.), Handbook of Political Science Research on Latin America. Trends from the 1960s to the 1990s, New York u.a., 207-228 und Hagopian, F. 1990: „Brazil", in: Dent (ed.), 229-263. 37

Vgl. Dent, D.W. 1990: „Introduction: Political Science Research on Latin America", in: Dent (ed.), 1-21,6. 38 Zur breiten Auseinandersetzung mit der katholischen Linken in Lateinamerika siehe Dahlin, T.C./Gillum, G.P./Grover, M.L. 1981: The Catholic Left in Latin America: A Comprehensive Bibliography, Boston.

41

Eine Sammelrezension von Anfang 1994 über die neuere interdisziplinäre Kirchenforschung in den USA verdeutlicht, daß der Schwerpunkt des Interesses weiterhin bei der „progressive Catholic Church" in Lateinamerika liegt39. Von sieben Neuerscheinungen zwischen 1989 und 1992 gehen vier auf die brasilianische und eine auf die chilenische Situation ein. Im letzteren Falle steht neben anderen Länderbeispielen das Selbstverständnis der brasilianischen und chilenischen Kirche in den neuen Demokratien sowie ihre mögliche Antwort auf zukünftige Herausforderungen im Vordergrund 40 . Zwei weitere Bände befassen sich mit den Basisgemeinschaften unter anderem in Brasilien bzw. speziell in Säo Paulo 41 . Die hier erneut behandelte Frage nach den möglichen Auswirkungen befreiungstheologisch orientierter Basisgemeinschaften auf ein kritischeres Bewußtsein oder nach gesteigerten politischen Aktivitäten von Kirchenmitgliedern wurde jedoch bereits von Thomas C. Bruneau und Warren E. Hewitt in einer 1989 veröffentlichten Studie grundsätzlich beantwortet. Die Autoren konnten zwischen dem Grad an Politisierung von Mitgliedern der Basisgemeinschaften und anderen Teilen der Bevölkerung keinen signifikanten Unterschied feststellen. Die weitverbreitete These, daß die Befreiungstheologen und die Basisgemeinschaften zu einer erhöhten Politisierung der Katholiken beigetragen haben, wurde in den untersuchten Fällen widerlegt 42 . Schließlich behandelt eine weitere Brasilienstudie die religiöse Vielfalt und ihre Auswirkungen auf die politische Kultur in einer Hafenstadt nahe Recife/Peraambuco im Nordosten des Landes 43 . Die deutsche politikwissenschaftliche Lateinamerikaforschung hat, wie bereits angedeutet, der Institution Katholische Kirche bis heute wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies wird besonders deutlich in der jüngsten Bestandsaufnahme von Manfred Mols und Peter Birle über die wissenschaftliche Produktion von 1970 bis 1990. Hier werden insgesamt nur zwei einschlägige Monographien genannt 44 . Bei den Religionssoziologen bis hin zu den Kirchenhistorikern und Theologen selbst war das Interesse kaum größer. Bei letzteren bildet lediglich die breite Auseinandersetzung mit der Theologie der

39

Vgl. Burdick, J. 1994: „The Progressive Church in Latin America: Giving Voice or Listening to Voices?", in: Latin American Research Review, Vol. 29, Nr. 1, 184-197. 40

Vgl. Cleary, E.L./Stewart-Gambino, H. (eds.) 1992: Conflict and Competition: Latin American Church in a Changing Environement, Boulder.

The

41

Vgl. Mainwaring, S./Wilde, A. (eds. ) 1989: The Progressive Church in Latin America, Notre Dame und für Säo Paulo Hewitt, W. E. 1991: Base Christian Communities and Social Change in Brazil, Lincoln. 42 43

Vgl. Bruneau/Hewitt 1989, 59. Vgl. Ireland, R. 1992: Kingdoms Come: Religion and Politics in Brazil, Pittsburgh.

44 Es handelt sich um die Dissertationen von Krumwiede über Kolumbien (1980) und Liehr über Brasilien (1988). Vgl. Mols, M./Birle, P. 1992: „Politikwissenschaft", in: Werz, N. (Hrsg.), Handbuch der deutschsprachigen Lateinamerikakunde, Freiburg, 515-557.

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Befreiung eine Ausnahme45. Bis heute hat nur ein deutscher Kirchen- und Lateinamerikahistoriker, der protestantische Theologe Hans-Jürgen Prien, eine umfassende Studie über das Christentum in Lateinamerika publiziert und sich wiederholt mit dem Thema befaßt 46 . Im Vorfeld und im Rahmen des Gedenkens an die Verkündung von „Rerum Novarum" begann gegen Ende der 80er Jahre das theologische und interdisziplinäre Interesse an einem lateinamerikanisch-deutschen Dialog über die katholische Soziallehre intensiver zu werden47. 1991 wurde an das Erscheinen der ersten päpstlichen Sozialenzyklika von Leo XIII. (1878-1903) vor 100 Jahren als Antwort auf die damals Besorgnis hervorrufende „Arbeiterfrage" erinnert48. In diesem Rundschreiben wird erstmals eine staatliche Sozialpolitik, die Verbürgung des Koalitionsrechtes (Gewerkschaften und Arbeiterverbände) und die soziale Bindung des Privateigentums gefordert. Doch das grundlegend neue Selbstverständnis der katholischen Kirche in politischen und sozialen Fragen und ihre Hinwendung zur liberal-pluralistischen Demokratie wurde erst mit dem II. Vatikanischen Konzil und seiner Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes" institutionell verankert. Spätestens seit Beginn des Pontifikats von Papst Johannes Paul II. kann zudem davon ausgegangen werden, daß für die Kirche „die auf Menschenrechte gegründete Demokratie geradezu als Ausdruck des Wesens des Staates" erscheint49. 45

Siehe jedoch die theologische Habilitationsschrift von Weber, F. 1996: Gewagte Inkulturation. Basisgemeinden in Brasilien - eine pastoralgeschichtliche Zwischenbilanz, Mainz. 46 Vgl. Prien, H.-J. 1978: Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika, Göttingen und weiteren Studien wie ders. (Hrsg.) 1981: Lateinamerika: Gesellschaft - Kirche -Theologie, Band 1 : Aufbruch und Auseinandersetzung sowie Band 2: Der Streit um die Theologie der Befreiung, beide Göttingen. 47 Siehe hierzu die dreibändige Ausgabe von Hünermann, P./Scannone, J.C. (Hrsg.) 1993: Lateinamerika und die Katholische Soziallehre. Ein lateinamerikanisch-deutsches Dialogprogramm, Mainz, sowie Hünermann, P./Eckholt, M. (Hrsg.) 1989: Katholische Soziallehre - Wirtschaft - Demokratie. Ein lateinamerikanisch-deutsches Dialogprogramm I, Mainz/München. Ferner Roos, L./Vélez Correa, J. 1987: Befreiende Evangelisierung und Katholische Soziallehre, Mainz/München. 48 Dieses Datum bildete auch den Anlaß für ein deutsch-brasilianisches Symposium der Katholischen Universität Eichstätt (KUE) in Zusammenarbeit mit der Pontificia Università Gregoriana/Rom an der KUE vom 1.-4. Juli 1991 zum Thema „Soziale Frage - Christliche Soziallehre. Europäische Erfahrungen und lateinamerikanische Realität: Der Fall Brasilien". Siehe Schühly, G./König, H.-J./Schneider, J.O. (Org.) 1994: Consciència Social. A historia de um processo através da Doutrina Social da Igreja, Säo Leopoldo: Editora Unisinos. 49 Vgl. Sutor, B. 1991: „Vom Sozialen zur Politik. Entwicklungslinien, Positionen und Defizite christlicher Soziallehre", in: APuZ B 20/91, 10. Mai, 3-15, 8 (Zitat). Zur Entwicklung des Gedankens der Menschenrechte in der Kirche siehe Schwartländer, J. (Hrsg.) 1981: Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube. Beiträge zur juristischen, philosophischen und theologischen Bestimmung der Menschenrechte, München/Mainz.

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Bernhard Sutor weist ferner darauf hin, daß dieser Gedanke in der Sozialenzyklika „Sollicitudo Rei Socialis" von 1987 zur Reformforderung gegenüber nicht demokratisch regierten Entwicklungsländern wurde. Die interdisziplinäre Auseinandersetzung und der lateinamerikanisch-deutsche Dialog über die „kirchliche Soziallehre in Lateinamerika" bleibt jedoch mangels adäquater Rezeption und wissenschaftlicher Reflexion auf dem Kontinent unbefriedigend. Sie kann bestenfalls - wie Peter Hünermann und Juan Carlos Scannone im Vorwort des ersten Teilbandes einräumen - einen (wechselseitigen) „Beitrag zur Erneuerung einer christlichen Gesellschaftslehre" leisten50. Im Bereich der Politikwissenschaft sind die wenigen vorliegenden Abhandlungen zur Kirche auf einzelne Länder und historische Abschnitte begrenzt, wobei als einziger Autor mehrerer Kirchenstudien der oben zitierte HeinrichW. Krumwiede hervortritt51. Hinzu kommen die ebenfalls bereits genannte neuere Monographie von Monika Ballin (1990) über die politische Rolle der Kirche in Mittelamerika. Besonders erwähnenswert ist an dieser Stelle die umfangreiche Dissertation von Wilfried Liehr zur sozialkritischen kirchlichen Basisarbeit in Brasilien, in der u.a. die kirchliche Einflußnahme auf soziale Lernprozesse in Basisgemeinden, den Gewerkschaften, der Arbeiterpartei PT und den vielfaltigen sozialen Bewegungen (z.B. der Lebenshaltungskostenbewegung) behandelt werden52. Die Erkenntnisse Liehrs über kirchlich beeinflußte politische Akteure in bestimmten Phasen des Demokratisierungsprozesses finden im abschließenden Teil der vorliegenden Arbeit Berücksichtigung. Ferner sollen seine Recherchen zu den politischen Einstellungsmustern der brasilianischen Bischöfe an entsprechender Stelle mit einbezogen und diskutiert werden. Für die ausgewählten Länder und den gesamten Untersuchungszeitraum, den diese Arbeit abdeckt, müssen daher überwiegend Veröffentlichungen in englischer und französischer, vor allem aber portugiesischer und spanischer Sprache zugrundegelegt werden. Im Bereich politikwissenschaftlicher Mono50

Hünermann, P./Scannone, J.C. 1993a: „Vorwort", in: Hünermann, P./Scannone (Hrsg.), Teil 1: Wissenschaft, kulturelle Praxis, Evangelisierung. Methodische Reflexionen zur katholischen Soziallehre, Mainz, 5-10, 7. 51 Vgl. Krumwiede, H.-W. 1980: Politik und katholische Kirche im gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß. Tradition und Entwicklung in Kolumbien, Hamburg. Zu den Aufsätzen des Autors siehe das Literaturverzeichnis der vorliegenden Arbeit. 52 Vgl. Liehr, W. 1988: Katholizismus und Demokratisierung in Brasilien. Stimulierung von sozialen Lernprozessen als kirchliche Reformpolitik, Saarbrücken/Fort Lauderdale. Die Dissertation untersucht aus entwicklungspolitischer Perspektive Motive, Mechanismen und vor allem die Konsequenzen kirchlicher Einflußnahme auf soziale Lernprozesse. Im Vorwort von Andreas Büro wird eingeschränkt, daß bei dieser Studie trotz des Titels nicht die Institution Kirche und ihre Politik im Mittelpunkt steht. Vielmehr setzt der Autor „von unten" bei den kirchlichen Basisorganisationen an und versteht Demokratisierung „als potentiell sehr wichtiges Element der Überwindung von Unterentwicklung und innerer Kolonisation" im Sinne einer „massenrelevanten Entwicklung".

44 graphien liegen von Thomas C. Bruneau die Studien The Political Transformation of the Brazilian Catholic Church (1974) und The Church in Brazil. The Politics of Religion (1982) vor. Im Jahre 1986 erschien von Scott Mainwaring The Catholic Church and Politics in Brazil, 1916-1985. Für Chile gibt es von Brian H. Smith ebenfalls ein Standardwerk aus dem Jahre 1982: The Church and Politics in Chile. Challenges to Modern Catholicism. Diese Arbeiten bieten für einen jeweils begrenzten Zeitraum eine Fülle von Hintergrundinformationen und befassen sich in einigen Abschnitten auch mit den Konflikten zwischen Militärregime und Kirche. Ihrer Fragestellung nach sind sie jedoch auf das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft angelegt, unter Einbeziehung innerkirchlicher Entwicklungen. Die zahlreichen, überwiegend deskriptiven Kirchenstudien mit politikwissenschaftlichem Hintergrund aus dem portugiesisch- und spanischsprachigen Raum sind ebenfalls bei Teilaspekten des Verhältnisses zwischen Regierung und Kirche sehr aufschlußreich. Die Publikationen brasilianischer und chilenischer Autoren in französischen Zeitschriften bilden hilfreiche Ergänzungen. In diesem Zusammenhang ist die wohl einzige umfangreiche Studie eines Chilenen über die katholische Kirche und das Militär in seinem Lande aus dem Jahre 1988 zu erwähnen. Der Soziologe Aldo Meneses Carvajal befaßt sich hierin mit dem „ideologischen Antagonismus" zwischen beiden Institutionen. Meneses stützt sich bei seinen empirischen Aussagen zu Militär und Kirche fast ausschließlich auf chilenische Quellen. Die aufschlußreichen Studien von Brian Smith und anderer nicht ins Spanische übersetzter Autoren bleiben bei ihm unberücksichtigt. Im theoretischen Teil seiner Arbeit kommt er unter Hinzuziehung auch französischer Titel zu einer übersichtlichen Darstellung der „ideologischen" Positionen beider Akteure. Auf die Aus- bzw. Wechselwirkungen dieser Antagonismen im politischen Prozeß geht er aber nur am Rande ein, z.B. in Form einer Deskription repressiver Maßnahmen des Militärs gegenüber der Kirche 53 . Von der historischen Entwicklung widerlegt wurde seine Schlußfolgerung, die grundlegende Voraussetzung für einen demokratieorientierten Strukturwandel der chilenischen Gesellschaft bestehe in einer Demokratisierung innerhalb der Streitkräfte 54 . Abschließend soll noch darauf hingewiesen werden, daß sich die teilweise erhebliche Polarisierung politischer Meinungen in Brasilien und besonders Chile vor und nach den Staatsstreichen, die sich auch im innerkirchlichen Bereich fortsetzte, bei einigen Autoren durch eine politisch stark gefärbte Wiedergabe des politischen Prozesses und der Haltung der Kirche widerspie53

Vgl. Meneses C., A. 1988: Valores y producción social de la realidad. El caso del antagonismo ideológico entre la Iglesia Católica y el gobierno militar 1973-1984, Diss., Université Catholique de Louvain, Departement de Sociologie, Louvain-la-Neuve, 254. 54 Ebd., 332. Auf den problematischen Umgang des Autors mit dem Begriff „Ideologie", u.a. im Zusammenhang mit der „Doktrin der nationalen Sicherheit", soll hier nur hingewiesen werden.

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gelt. Der Nachteil kehrt sich jedoch manchmal in einen informativen Vorteil, wenn z.B. zur Verfassungsfrage in Chile zwei juristische Arbeiten in deutscher Sprache vorliegen, von denen eine offenkundig Partei für das Militärregime ergreift und entsprechend argumentiert, während die andere eine oppositionelle Position erkennen läßt55.

55

Vgl. Blumenwitz, D. 1983: Die Verfassungsentwicklung in der Dritten Welt unter besonderer Berücksichtigung der chilenischen Entwicklung, München und Bustos, I. 1987: Die Verfassung der Diktatur. Die Entwicklung der Grundrechte in Chile, Berlin.

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KAPITEL II Zum Wandlungspotential autoritärer Herrschaftssysteme und der katholischen Kirche in Lateinamerika 1. Zum Wandel autoritärer Regime in Lateinamerika 1.1. Die politikwissenschaftliche Debatte Ausgewählte Aspekte der

Autoritarismusforschung

Die hier untersuchten "autoritären Regime" in Brasilien von 1964 bis 1985 und in Chile von 1973 bis 1989 wurden in der Autoritarismusforschung über Lateinamerika auf unterschiedliche Art und Weise typologisiert. Im ersten Abschnitt sollen daher ausgewählte Gesichtspunkte dieser breiten Diskussion aufgegriffen und die Länderbeispiele in die überzeugendste Typologie eingeordnet werden. Eine ausfuhrliche und kritische Darstellung der Debatte über autoritäre Regime ist im Rahmen anderer Fragestellungen von verschiedenen Autoren geleistet worden und soll hier nicht noch einmal wiederholt werden. Auf die entsprechende Literatur wird im Text verwiesen. Der katholischen Kirche wurde in dieser Diskussion nur eine marginale Bedeutung zugemessen. Als politische Akteure standen vor allem das Militär, politische Parteien sowie die politischen und wirtschaftlichen Eliten im Vordergrund. Nur wenige Autoren, wie z.B. Juan J. Linz, weisen auf die bedeutsame Rolle der Kirche als oppositionelle Kraft unter autoritären Regimen und ihre Wandlungsfähigkeit hin. Die Kirche und ihre Teil-Institutionen werden andererseits in Studien aus verschiedenen Fachgebieten zur Ära der Militärregime ausfuhrlich behandelt. Auch auf diese Quellen wird im Rahmen dieser Arbeit mehrfach zurückgegriffen. Vor der Darstellung des Linz'schen Ansatzes seien zunächst noch zwei in der deutschen Politikwissenschaft weitverbreitete Klassifikationsversuche behandelt. a) Der bürokratische Autoritarismus nach O'Donnell Auf großes wissenschaftliches Interesse in der Lateinamerikaforschung stieß das von dem Argentinier Guillermo O'Donnell entwickelte Konzept des "bürokratischen Autoritarismus (B.A.)"1. Seine Abhandlung von 1973 wurde als 1 Vgl. O'Donnell, G. 1979a: Modernization and Bureaucratic-Authoritarianism. Studies in South American Politics, Berkeley (Erstausgabe 1973). Zur Auseinandersetzung mit dem Konzept siehe Malloy, J.M. (ed.) 1977: Authoritarianism and Corporatism in Latin America, Pittsburgh; Collier, D. (ed.) 1979: The New Authoritarianism in Latin America, Princeton; Lauth, H.J. 1985: Der Staat in Lateinamerika. Die Staatskonzeption von Guillermo O 'Donneil, Saarbrücken/Fort Lauderdale. Hier auch weitere Literaturhinweise in dem Vorwort von Garzón Valdés, E. 1985, 5-11,11 Fßn. 15.

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"epochemachende Studie"2, der Autor selbst als "lateinamerikanischer Staatstheoretiker" bezeichnet3. Andererseits wird festgestellt, daß die politische Realität das B.A. -Konzept rasch falsifiziert hat und sein Ansatz deutliche Defizite erkennen läßt4. Die Grundthese von O'Donnell besagt, daß entgegen der "optimistischen" Vorstellung der Modernisierungstheoretiker eine Steigerung der sozio-ökonomischen Entwicklung zwar zu mehr politischem Pluralismus führe. Dies beinhalte aber nicht notwendigerweise eine erhöhte Wahrscheinlichkeit zur Entstehung von Demokratie5. Seine Schlußfolgerung lautet vielmehr: "Political authoritarianism - not political democracy - is the more likely concomitant of the highest levels of modernization"6. In einer Zeit, in der sich Modernisierungs- und Dependenztheoretiker noch um den überzeugendsten Erklärungsansatz stritten, hat O'Donnell nach Ansicht von Werz die Orginalität seines Ansatzes durch eine "unorthodoxe" und "zuweilen eklektisch" wirkende Kombination verschiedener Denkschulen begründet7. Der Begriff des "bureaucratic authoritarianism" entstand auf diese Weise durch eine Verbindung von David E. Apters "bureaucratic system" und dem "authoritarian regime" nach Linz8. O'Donnell ordnet den B.A. ebenso wie Linz zwischen den Idealtypen Demokratie und Totalitarismus ein, wobei er jedoch das Autoritarismuskonzept um das Problem der Modernisierung erweitert. Ferner behandelt er die von

2 Vgl. Nohlen, D. 1982a: "Struktur- und Entwicklungsprobleme Lateinamerikas", in: Nohlen, D./Nuscheler, F. (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt, Band 2, Südamerika, 11-66, 40. 3 Vgl. Lauth 1985, 14. 4 Vgl. Nohlen 1982a, 41 und Werz, N. 1987: "Demokratie und Regierungsformen in Südamerika", in: VRÜ20/2, 143-176, 165. 5

O'Donnell faßt diese Aussage in einer Gleichung zusammen: "More socio-economic development = more political pluralization # (does not necessarily imply) more likelihood of political democracy". O'Donnell 1979a, 8. Zum Begriff der "Entwicklung" bei O'Donnell siehe S. 27. Lauth (1985, 20 Fßn. 3) stellt fest: "'Entwicklung' oder Modernisierung bedeutet hier...sozio-ökonomischen Fortschritt und ist auf keinen Fall identisch mit einem Entwicklungsbegriff normativer Art, der z.B. gerechte Verteilung und Grundbedürfnisbefriedigung impliziert". 6

O'Donnell 1979a, 8. i Vgl. Werz 1987, 164f. 8

Vgl. O'Donnell 1979a, 90. Die Verwendung des Begriffes "bürokratisch" erklärt O'Donnell wie folgt: "The term 'bureaucratic' suggests the crucial features that are specific to authoritarian systems of high modernization: the growth of organizational strenght of many social sectors, the governmental attempts at control by 'encapsulation', the career patterns and power-bases of most incumbents of technocratic roles, and the pivotal role played by large (public and private) bureaucracies" (S. 91). Ferner Apter, David E. 1973: Political Change. Collected Essays. London, 102ff.

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Linz explizit ausgegrenzten Fragen nach dem "policy output", der angestrebten Ziele bzw. der "raison d'être" der Regime9. O'Donnell unterschied für die zweite Hälfte der 60er Jahre drei Ländergruppen, wobei jene mit einem hohen Modernisierungsgrad des Zentrums, wie Argentinien und Brasilien, nicht-demokratische Regime hervorbrächten. Ein mittlerer Modernisierungsgrad des Zentrums ergebe demokratische Systeme, wie die Fälle Chile, Kolumbien, Uruguay und Venezuela mit Ausnahme von Peru zeigten. Bei einer geringeren Modernisierung des Zentrums seien erneut nicht-demokratische Systeme vorherrschend, wie in Bolivien, Ekuador und Paraguay10. Eine zusammenfassende Charakterisierung des bürokratischen Autoritarismus stammt von Collier: These systems are 'excluding' and emphatically non-democratic. Central actors in the dominant coalition include high-level technocrats - military and civilian, within and outside the state - working in close association with foreign capital. This new elite eliminates electorial competition and severly controls the political participation of the popular sector. Public policy is centrally concerned with promoting advanced industrialization11. Als bürokratisch-autoritäre Staaten werden die bereits genannten Länder Argentinien von 1966 bis 1970 und nach 1976 bezeichnet, Brasilien nach 1964 sowie in späteren Studien O'Donnells auch Chile und Uruguay nach 1973. Allerdings ist die eben zitierte Charakterisierung Colliers von O'Donnell selbst in dem gleichen Band erneut modifiziert worden12. Die Entstehung des "bürokratisch-autoritären" Staates aus den Krisen des Populismus wird von O'Donnell in seinen diesbezüglichen Studien mit einigen überzeugenden Argumenten dargelegt. Die Kritik an seinem Ansatz setzt erst bei den fehlenden Hinweisen auf die Funktionsfahigkeit dieses Regimetyps und seine zeitlichen Dauer an13. Die historische Entwicklung zeigte dann auch, daß die Performanz dieser Regime zu hoch veranschlagt wurde und die Thesen O'Donnells über einen "mehr oder weniger direkten Zusammenhang zwischen Stufen der Unterdrückung, Entpolitisierung, Wirtschaftspolitik und Elitenkonstellationen...nur für einen relativ eng begrenzte Zeiträume Gültigkeit" beanspruchen konnten. Besonders die Abdankung des Militärs in Argen9 Vgl. Were 1987, 163 und Linz, J.J. 1985: "Autoritäre Regime", in: Nohlen, D./Schultze, R.-O. (Hrsg.), Politikwissenschaft 1, München/Zürich, 62-65, 62. 10 Vgl. O'Donnell 1979a, 47. 11 Collier, D. 1979: "Overview of the Bureaucratic-Authoritarian Model", in: Collier (ed.), 19-32,24. 12 Zu diesem Punkt siehe O'Donnell, G. 1979b: "Tensions in the Bureaucratic-Authoritarian State and the Question of Democracy", in: Collier (ed.), 285-318, hier 292-294. 13 Hierzu Were 1987, 165 und das folgende Zitat.

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tinien und Brasilien, den beiden Hauptbeispielen des B.A.-Theorems, zeigten die Begrenzung der Aussagen des Autors auf bestimmte Zeiträume der südamerikanischen Geschichte14. Zu den Grundproblemen des Ansatzes von O'Donnell zählt ferner, daß die schwerpunktmäßig behandelten strukturellen Variablen keine ausreichende Erklärung für den politischen Prozeß liefern können. Vielmehr müssen nach Nohlen politische Variablen, wie "konkrete politische Kontexte und Entscheidungssituationen, politische Kräfte (und) Verhaltensvariablen" ebenfalls herangezogen werden15. In diesem Zusammenhang fehlt bei O'Donnell u.a. völlig die Berücksichtigung der Rolle der marginalen Bevölkerung im Prozeß politischer Entwicklung16. Das hohe Abstraktionsniveau der Studie von O'Donnell erlaubt auch keine Beachtung von politischen Akteuren, wie unter vielen anderen die hier interessierende katholische Kirche. Im ökonomischen Bereich sei noch darauf verwiesen, daß die Ursachen für die Entstehung des B.A.-Staates zu einem wesentlichen Teil in den wirtschaftlichen Krisen gesehen wurden. Diese überzeugend klingende Begründung gilt jedoch auch für den Niedergang des B.A.-Staates, und man könnte mit Collier davon ausgehen, "that the rise and collapse of authoritarian regimes have, in part, the same explanation"17. Auf dieses Dilemma nicht nur der Anhänger des bürokratisch-autoritären Erklärungsansatzes hat Nohlen erneut im Zusammenhang mit der allgemeineren Frage nach den Ursachen für Regimewechsel in Lateinamerika unter Hinweis auf das Zitat von Collier18 aufmerksam gemacht. Der von O'Donnell geprägte Begriff des "bürokratisch-autoritären Staates" fand auch über die Lateinamerikaforschung hinaus weite Verbreitung. In den Vereinigten Staaten und in Lateinamerika wurde sein Ansatz wohl deshalb so intensiv rezipiert, weil er durch eine Überwindung der Schranken zwischen Wirtschaftswissenschaften, Soziologie und Politikwissenschaft einen interdisziplinären Zugriff wählte. Neben den Arbeiten der bereits erwähnten Autoren Apter und Linz brachte er die Forschungsergebnisse einer Vielzahl von Wissenschaftlern in seine B.A.-Studien ein, wie Fernando H. Cardoso, Enzo Faletto, Samuel Huntington, Robert Dahl, Barrington Moore, Immanuel Wallerstein, Perry Anderson, Octavio Ianni, Luciano Martins, Philippe Schmitter, 14

Wer?. 1987, 165, weist in Fußnote 78 auf eine Studie hin, die am Beispiel von 21 untersuchten Ländern die Thesen O'Donnells bestätigt. Jedoch bezieht sich die Arbeit auf den Zeitraum zwischen 1965 und 1975, während dem in fast allen analysierten lateinamerikanischen Staaten das Militär an der Macht war. Vgl. Geller, D.S. 1982: "Economic Modernization and Political Instability in Latin America: A Casual Analysis of BureaucraticAuthoritarianism", in: Western Political Quarterly 35, 1, 33-49. 15 Nohlen 1982a, 41. 16 Hieraufweist ausdrücklich Lauth 1985, 137fThin. 17 Collier 1979, 395. is Vgl. Nohlen 1982, 67.

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Albert Hirschmann, Alfred Stepan, Thomas Skidmore, Hélio Jaguaribe, Juan de Imaz, Marcos Kaplan, Celso Furtado, Candido Mendes, Torcuato di Telia und andere mehr19. Juan Linz bezieht sich bei seiner 1975 publizierten Typologie verschiedener Varianten des Autoritarismus ebenfalls auf O'Donneil und bezeichnet einen Typus autoritärer Regime als "bürokratisch-militärisch". O'Donnell hat somit der Diskussion über Zusammenhänge zwischen Modernisierung und Demokratie wichtige neue Impulse gegeben. Durch sein Konzept des B.A.-Staates und der hieran erfolgten Kritik wurden wesentliche Grundprobleme bei der Analyse lateinamerikanischer Herrschaftssysteme verdeutlicht. b) "Traditionelle" und "neue Militärregime" Eine Typologie autoritärer Regime, die sich zum Teil auf die Arbeiten amerikanischer Politikwissenschaftler stützt, hat Dieter Nohlen in die deutsche Lateinamerikaforschung eingebracht20. Für den Zeitraum bis zu Beginn der 80er Jahre unterscheidet er vier Varianten der Demokratie, eine eigenständige Kategorie des Populismus und drei Varianten des Autoritarismus. Bei den drei Varianten des Autoritarismus handelt es sich um "traditionelle" Militärregime, "neue Militärregime" und den "Autoritarismus im eigentlichen Wortsinn" (Mexiko seit 1930). Die "neuen Militärregime" werden in Anlehnung an O'Donnell und Stepan21 wiederum nach den Varianten "exclusionary" und "inclusionary" differenziert. Ein besonderes Charakteristikum beider Varianten der "neuen" Militärregime besteht darin, daß nicht mehr ein einzelner Diktator, sondern das Militär als Institution die Herrschaft übernimmt und sich die wesentlichen Politikbereiche unterordnet22. Das Militär wählt in diesen Regimen aus seinem Führungsstab einen Präsidentschaftskandidaten aus und läßt diesen durch kontrollierte Wahlverfahren nachträglich legitimieren. Die politischen Regierungsprogramme werden im Sinne der Doktrin der Nationalen Sicherheit entworfen und durchgesetzt. Als Beispiele werden Brasilien und Chile nach der Machtübernahme durch das Militär in den Jahren 1964 und 1973 genannt sowie Peru (ab 1968), Uruguay (ab 1974) und Argentinien (ab 1976). Zu den allgemeinen Entstehungsursachen dieser autoritären Regime werden der "Zusammenbruch der präsidentiellen Republik wegen ökonomischer Krisen, 19

Vgl. hierzu Collier 1979, 21 und Garzón Valdés im Vorwort zu Lauth 1985, 6. Vgl. Nohlen, D. 1982a, 40ffund Nohlen, D. 1982b: "Regimewechsel in Lateinamerika? Überlegungen zur Demokratisierung autoritärer Regime", in: Lindenberg, K. (Hrsg.), Lateinamerika, 63-86. Ferner Huneeus, C./Nohlen, D. 1982: "Eine Vielfalt instabiler Regime", in: Der Bürger im Staat, 32. Jg., Heft 1, 66-70. 20

21 Vgl. O'Donnell, G. 1979a und Stepan, A. 1978: The State and Society. Peru in Comparative Perspective, Princeton. 22 Hierzu und den folgenden Zitaten siehe Huneeus/Nohlen 1982, 68.

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Überpolitisierung der mittleren und unteren Schichten und teilweise Radikalisierung in Form von bewaffneten Gruppen" gezählt. Alle diese Fallbeispiele werden mit Ausnahme von Peru durch die Einordnung in die Subkategorie der "exclusionary" Militärregime noch näher erklärt. Zu den Grundmerkmalen dieser Herrschaftsform zählt ergänzend, daß das Militär die "Regierung in Allianz mit den oberen Schichten unter Ausschaltung der mittleren und unteren Schichten" kontrolliert. Im wirtschaftlichen Bereich wird einem orthodoxen Liberalismus der Vorzug gegeben, der die kapitalistische Entwicklung mit bedeutender Unterstützung des Auslandkapitals vorantreiben soll. Entstanden sind diese autoritären Regime in Brasilien und Argentinien als Reaktion sozial-konservativer Eliten auf die "Übermobilisierung und Überpolitisierung breiter Massen der Bevölkerung" durch "nachpopulistische Reformprogramme" der zivilen Regierungen und im Falle von Chile aufgrund der strukturellen Umgestaltungsversuche der sozialistischen Regierung Allende. Peru nach 1968 wird dagegen als einziges "inclusionary" Militärregime charakterisiert. Die Besonderheit dieser Herrschaftsform unter General Juan Velasco Alvarado bestand darin, daß das nach wie vor autoritär herrschende Militär diesmal den Versuch unternimmt, die "unteren Schichten für Reformprogramme zu mobilisieren". c) Das Autoritarismuskonzept von Linz Mit der Typologie der modernen autoritären Staaten hat sich besonders Juan Linz befaßt, wobei der Autoritarismus politischer Systeme hier getrennt von dem ebenfalls politisch relevanten Autoritarismus auf der Individualebene gesehen wird. In dem "Handbook of Political Science" von 1975 legte Linz die in der Literatur bisher ausfuhrlichste Fassung einer Typologie demokratischer, autoritärer und totalitärer politischer Systeme vor23. Seine Typologie autoritärer Regime behandelt allerdings die möglichen Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher Modernisierung und deren Auswirkung auf die Strukturen der politischen Systeme nur am Rande. Es hat in der deutschen Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Lateinamerika lange gedauert, bis das im Vergleich zu den bisher behandelten Ansätzen wesentlich tiefergehende Autoritarismuskonzept von Linz aus dem Jahre 1975 auf breiter Ebene rezipiert wurde24. So geht z.B. eine völlig überarbeitete und 23 Vgl. Linz, J.J. 1975: "Totalitarian and Authoritarian Regimes", in: Greenstein, F.J./ Polsby, N.W. (eds.), Handbook of Political Science, Vol. 3, Macropolitical Theory, Reading/Mass., 175-411. 24 Auch in der deutschen Politikwissenschaft hatte es zum Thema Autoritarismus einige frühe und weniger bekannte Anregungen gegeben. So von Martin Draht, der bereits in den fünfziger Jahren im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Auffassungen und der politischen Praxis der sowjetischen Besatzungszone Abgrenzungskriterien zwischen den Herrschaftsformen des Autoritarismus und Totalitarismus entwickelte. Die von Linz herausgearbeiteten Merkmale autoritärer Regime werden bereits von Draht grundsätzlich ange-

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erweiterte Neuausgabe des Handbuchs der Dritten Welt von 1982 auf die Klassifikationskonzepte des "neuen Autoritarismus" und des B.A.-Modells von 1973 ein, der Ansatz von Linz wird jedoch nicht rezipiert25. Erst zehn Jahre später (1985 und 1989) wird seine Typologie aus dem nicht gerade unbedeutendem Handbook unter dem Stichwort "autoritäre Regime" in zwei deutsche Lexika, beim Lexikon Dritte Welt erst in der 3. Auflage, aufgenommen26. Die Linz'schen Typologien von Demokratie/Autoritarismus/Totalitarismus waren im Grunde in der deutschen Lateinamerikadiskussion bekannt. Sein Konzept wurde allerdings nur in zwei Ländermonographien über Mexiko 1981 und Brasilien 1983 zugrundegelegt27 sowie in einem Buch über den politischen Prozeß in Afrika, Asien und Lateinamerika von 1980 angesprochen28. Gegen Ende der 80er Jahre kann festgestellt werden, daß die räumlich und zeitlich breit angelegte Typologie des Autoritarismus von Linz zwar durch die Einbeziehung auch europäischer Fälle kein unproblematischer Ansatz ist29. Insgesamt betrachtet überzeugt sie aber durch ihre Komplexität. Auch wegen der Berücksichtigung der katholischen Kirche als einer der wichtigsten Oppositionsgruppen erscheint die Übernahme seines Ansatzes am sinnvollsten. Im Folgenden soll die Typologie von Linz näher erläutert werden30. sprochen, wenn auch in anderem Zusammenhang und mit anderer Begrifflichkeit. Draht ging es darum, durch eine Abgrenzung der Begriffe Totalitarismus und Autoritarismus die besonderen Charakteristika des ersteren herauszuarbeiten. Eine weitere Anwendung des Begriffes, z.B. auf mögliche Länderbeispiele, erfolgte nicht. Er bezeichnete den Autoritarismus jedoch bereits als einen Begriff "unserer Zeit". Vgl. Draht, M. 1963: "Totalitarismus in der Volksdemokratie", Einleitung zu Richert, E., Macht ohne Mandat, 2. Aufl., Köln/ Opladen, XI-XXXVI, XXHL Auf das Konzept von Draht hat erneut Bracher 1982, 254 Fßn. 2, hingewiesen. 25 Vgl. Nohlen, D. 1982a: "Struktur- und Entwicklungsprobleme Lateinamerikas", in: Nohlen, D./Nuscheier, F. (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt, Band 2, Südamerika, 11-66, 40ff. Ebensowenig in Huneeus/Nohlen 1982. 26 Vgl. Linz, J.J. 1985: "Autoritäre Regime", in: Nohlen, D./Schultze, R.-O. (Hrsg.), Pipers Wörterbuch zur Politik, Politikwissenschaft 1, München/Zürich, 62-65 und Nohlen, D. 1989: "Autoritäre Regime", in: Nohlen, D. (Hrsg.), Lexikon Dritte Welt, 3. Auflage, Reinbek bei Hamburg, 70-72. 27 Vgl. Lehr, V. 1981: Der mexikanische Autoritarismus, München und German, C. 1983: Brasilien: Autoritarismus und Wahlen, München/Köln/London. 28 Vgl. Uly, H.F./SielafT, R./Werz, N. 1980: Diktatur - Staatsmodell für die Dritte Welt?, Freiburg/Würzburg, 7. Siehe auch die kurze Auseinandersetzung mit dem Konzept in Garcia Méndez, E. 1985: Recht und Autoritarismus in Lateinamerika. Argentinien, Uruguay und Chile 1970-1980, Frankfurt a.M., 38ff. 29 Hieraufweist Bracher hin. Vgl. Bracher, K.D. 1982: Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart, 253 Fßn.l. 30 Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Konzept von Linz siehe Lehr 1981, 24-40 und German 1983, 5-13.

54 Juan Linz befaßte sich seit seiner ersten Studie "An Authoritarian Regime: The Case of Spain" im Jahre 1964 31 wiederholt mit der Typologie autoritärer Herrschaftssysteme. In seiner Analyse Franco-Spaniens differenzierte er bereits zwischen Grundtypen von modernen bzw. post-traditionalen "polities": "totalitarian systems", "authoritarian regimes" und "democratic governments" 32 . Linz hebt zur weiteren Abgrenzung seines Autoritarismuskonzeptes in seinem Handbuchbeitrag die "the distinctive nature" 33 autoritärer Systeme hervor und arbeitet in diesem Sinne einen politischen Systemtyp sui generis heraus. Um die zahlreichen nicht-demokratischen und nicht-totalitären politischen Systeme "allgemein und abstrakt" zu charakterisieren, definiert Linz, autoritäre Regime seien politische Systeme mit einem eingeschränkten, nicht verantwortlichen politischen Pluralismus und ohne eine elaborierte leitende Ideologie, aber mit ausgeprägten Mentalitätshaltungen; sie zeigen keine durchgängige extensive oder intensive politische Mobilisierung, es sei denn an wenigen besonderen Punkten in ihrer Entwicklung; zwar beanspruchen erklärte "Führer" oder elitär herausgehobene kleine Gruppen die Machtausübung, doch geschieht dies innerhalb gewisser Grenzen, die zwar formal wenig definiert, aber faktisch durchaus vorhersagbar sind. Dabei handelt es sich eher um autoritäre Mentalitäten als um geschlossene Ideologien 34 . Hieraus ergeben sich für die Typologie eines Herrschaftssystems vier grundsätzliche Problembereiche: Umfang und Art des Pluralismus, Ideologie bzw. Mentalität, politischer Mobilisation und Machtausübung. Im Gegensatz zu den Demokratien mit beinahe unbegrenztem Pluralismus betont Linz als wichtigstes Kennzeichen bei autoritären Regimen den "begrenzten Pluralismus". Eine Charakterisierung als "begrenzter Monismus" 35 läßt er ebenfalls gelten: "In fact, these two terms would suggest the fairly wide ränge in which those regimes operate" 36 . Linz weist darauf hin, daß sich mit den ersten drei dieser vier Grundmerkmale nicht nur eine Abgrenzung gegenüber dem Totalitarismus vornehmen 31

Vgl. Linz, J.J. 1964: "An Authoritarian Regime: The Case of Spain", in: Allardt, E./ Littünen, Y. (eds.), Cleavages, Ideologies and Party Systems, Helsinki, 291-341. Erneut erschienen 1970: "An Authoritarian Regime: Spain", in: Allardt, E./Rokkan, S. (eds.), Mass Polities: Studies itt Political Sociology, New York, 251-283. 32 Linz, J.J. 1973a: "Opposition to and under an Authoritarian Regime: The Case of Spain", in: Dahl, R.A. (ed.), Regimes and Oppositions, New Häven/London, 171-259, 184. 33 Linz 1975,253. 34 Linz 1975, 264. Nach der deutschen Obersetzung von Bracher 1982, 259/260. 35 Zu den Demokratietheorien des Pluralismus und Monismus vgl. Oberndorfer, D. 1975: "Volksherrschaft - Zur normativen Prämisse der Demokratie", in: Öbemdörfer, D./ Jäger, W. (Hrsg.), Die neue Elite, Freiburg, 11-43. 3 6 Linz 1975,265.

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läßt, sondern auch eine komparative Ausdifferenzierung und genauere Typologisierung autoritärer Regime möglich wird. Bei den sieben Subtypen autoritärer Regime, die er nach diesen Kategorien klassifiziert, würde es sich jedoch um "ideal types in the Weberian sense" handeln: 37 1. Bürokratisch-militärisch autoritäre Regime 2. Autoritärer Korporativismus (korporative Systeme, z.B. der "Estado Novo" in Portugal unter Salazar, Österreich von 1934 bis 1938 unter Dollfuss, Spanien unter Franco und teilweise Mussolinis Italien) 3. Mobilisierende autoritäre Regime in postdemokratischen Gesellschaften (Faschismus) 4. Nachkoloniale mobilisierende Regime (z.B. Ein-Parteien-Systeme in Afrika) 5. Rassen- und ethnische "Demokratien" (z.B. Republik Südafrika und das frühere Rhodesien in bewußt paradoxer Wahl des Begriffes "Demokratie") 6. Unvollständig totalitäre und prätotalitäre Regime (z.B. Spanien in der Phase unmittelbar nach dem Bürgerkrieg sowie kurz vor und nach der "Machtübernahme" durch die Nationalsozialisten in Deutschland) 7. Posttotalitäre autoritäre Regime (z.B. die entstalinisierten osteuropäischen Länder unter Einschluß der Sowjetunion) Für die vorliegende Arbeit ist der erste Subtyp des Autoritarismus für eine Einordnung der Fälle Brasilien und Chile von besonderer Bedeutung. Linz nennt in seinem Handbuchbeitrag das Militärregime in Brasilien als eines der Beispiele bürokratisch-militärisch autoritärer Regime 38 , während sich in Chile zu jener Zeit noch eine "enbattled democracy" unter Allende zu halten schien. Das in Chile nach der Machtübernahme des Militärs im Jahre 1973 entstandene politische System kann allerdings auch zu den autoritären Regimen im Sinne von Subtyp 1 gezählt werden. Für die vergleichende Perspektive ergibt sich hieraus, daß zwei Länderbeispiele untersucht werden, die in der Politikwissenschaft aufgrund signifikanter gemeinsamer Merkmale dem gleichen Systemtyp zugeordnet werden. Dies träfe im übrigen auch für die behandelten Typologien von O'Donneil und Nohlen (neue, ausschließende Militärregime) zu. Unter Hinweis auf Analysen von Stepan (1973), O'Donnell (1973) und Collier (1979) 39 definiert Linz den Typus des bürokratisch-militärischen autoritären Regimes wie folgt: Dieser Typus verfügt weder über komplexe Institutionen eines autoritativ verfügten Korporativismus noch über eine mobilisierungsfahige Partei, die für die Elitenrekrutierung und zur Kanalisierung der Partizipation dienen könnte. Er ist so etwas wie ein »paradigmatischer Typ« autoritä37 Vgl. Linz 1975, 180 (Zitat)/285ffund Linz 1985, 63f. Vgl. Linz 1975, 295. 39

Vgl. Stepan, A. 1973: Authoritarian Brazil. Origins, Politics and Future, New Haven; O'Donnell, G. 1973; Collier 1979.

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rer Regime, da er gleichweit von demokratischen wie totalitären Systemen entfernt ist. Gefuhrt von meist acharismatischen Militärs, ist dieser Regimetypus innerhalb der Grenzen seiner bürokratisch-militärischen Mentalität pragmatisch orientiert. Nicht selten folgt er auf liberal-demokratische Systeme, in denen das Parteiensystem nicht in der Lage war, Systemloyalitäten bzw. stabile Regierungen zu produzieren40. Bei Brasilien wie auch Chile ist der besondere Problembereich Ideologie vs. Mentalität relativ leicht zu klären. Nach Linz soll die Differenzierung zwischen "Ideologie" und "Mentalität" einen gewissen Spielraum erlauben: "Let us admit that the distinction is and cannot be clear-cut but reflects two extreme poles with a large grey area in between"41. In diesem Sinne wäre die bedeutsame Doktrin der nationalen Sicherheit südamerikanischer Militärregime von dem Begriff "Ideologie" abzugrenzen und nach der Geiger/Linz'sehen Terminologie der "Mentalität" zuzuordnen42. Etwas problematisch bei dieser Differenzierung der Begriffe bleibt, daß die bekannte Doktrin der Nationalen Sicherheit von Linz nicht systematisch im Hinblick auf seine Definition von Mentalität analysiert wurde. Die Militärherrscher und ihre Vordenker verstehen die Doktrin jedoch auch im Sinne einer "Ideologie". Sie gilt als Rechtfertigungsideologie für die gewaltsame Machtübernahme und die Notwendigkeit der militärischen Präsens an den Schaltzentren der Macht43. Die Doktrin liegt daher offensichtlich in der von Linz nicht näher bestimmten "large grey area". Eine nähere Analyse dieser Militärdoktrin in einigen autoritären Regimen Lateinamerikas läßt aber kaum einen anderen Schluß zu, als daß es sich um "ein Bündel abstrakter Annahmen geopolitischen Ursprungs" handelt44. Letztlich bleibt auch das Fehlen einer utopisch-chiliastischen Komponente beim Autoritarismus besonders kennzeichnend für die theoretische Abgrenzung gegenüber dem Totalitarismus und prägend für die jeweilige Ausgestaltung der beiden Diktaturvarianten45. 40 Linz 1985, 63. 41 Linz 1975,267. 42 Linz (1975, 266f) übernimmt Begriff und Definition von Geiger, T. 1932: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart, 77f. 43 Zur Verwendung des Begriffes "Ideologie" in diesem Zusammenhang vgl. Comblin, J. 1977: Le pouvoir militaire en Amérique Latine. L'idéologie de la sécurité nationale, Paris. In brasilianischer Fassung 1978: A Ideologia da Segurança Nacional. O Poder Militar na América Latina, 2. ed., Rio de Janeiro: Civilisaçâo Brasileira. Ferner Castelo Branco, L. 1983: Staat, Raum und Macht in Brasilien. Anmerkungen zu Genese und Struktur der brasilianischen Staats- und Großmachtideologie, München. 44 Werz, N. 1991: Das neuere politische und sozialwissenschaftliche amerika, Freiburg, 122-141, 132. 45

Denken in Latein-

Für Draht war in diesem Zusammenhang die Ideologie das "Primärphänomen des Totalitarimus, das seine Eigenart bestimmt und ihn bis ins einzelne durchformt". Vgl. Drath 1963, XXvn.

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Ausgewählte Aspekte der Demokratieforschung Die politische Geschichte Lateinamerikas zeichnet sich durch einen ständigen Wechsel zwischen Demokratie und Militärherrschaft aus. Mit den 80er Jahren begann nach rund eineinhalb Jahrzehnten militärisch besetzter Politik erneut ein Demokratisierungsprozeß. Im 20. Jahrhundert hatte es in Lateinamerika bereits wiederholt Wellen der Demokratisierung gegeben, wie zwischen 1910 und 1920, am Ende des Zweiten Weltkrieges und zu Beginn der 60er Jahre46. Deutlich autoritäre Herrschaftsordnungen blieben in der ersten Hälfte der 80er Jahre in den 21 Staaten zunächst nur in Mexiko und Nikaragua und bei den Militärregimen von Chile, Paraguay und Surinam erhalten. Anfang der 90er Jahre bestimmten schließlich nach friedlichen Machtwechseln auch in Paraguay, Chile und Nikaragua gemäßigte bzw. zivil orientierte Politiker die Regierungspolitik. Als gefestigte Demokratien westlich-liberaler Prägung galten mit den für Lateinamerika notwendigen Einschränkungen Costa Rica47, Venezuela und Kolumbien48. In den neuen Demokratien wurde aufgrund der schwer überwindbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturprobleme noch ein mühevoller Weg bis zu einer denkbaren Stabilisierung und Fundamentierung demokratischer Regierungsformen prognostiziert. Die wirtschaftlichen Talfahrten in Argentinien, Peru und Brasilien auch unter ziviler Herrschaft verdeutlichten nur eines dieser Behinderungselemente. a) Schwerpunkte der deutschsprachigen Demokratieforschung über Lateinamerika Der Demokratisierungsprozeß in Lateinamerika hat zu einer standig weiter wachsenden Zahl von sozialwissenschaftlichen Studien über verschiedene Fragestellungen angeregt. In der 2. Hälfte der 80er Jahre liegen im deutschen Sprachraum eine Vielzahl von Publikationen vor, und die Literatur in den USA und in Lateinamerika ist zu Beginn der 90er Jahre kaum noch überschaubar. Im Folgenden sollen ausgewählte Autoren stellvertretend für die theoretische Diskussion über Demokratie in Lateinamerika genannt werden, wobei der Schwerpunkt nicht bei einer umfassenden Wiedergabe der unterschiedlichen Positionen und des neuesten Literaturstandes gesehen wird. Vielmehr werden einzelne Problemfelder berücksichtigt, denen in der Debatte 46

Vgl. Mols, M. 1989: "Staat und Demokratie in Lateinamerika", in: Hünermann, P./ Eckholt, M. (Hrsg.), Katholische Soziallehre - Wirtschaft - Demokratie. Ein lateinamerikanisch-deutsches Dialogprogramm I, Mainz/München, 197-254, 220. 47 Zu Costa Rica siehe Fuchs, J. 1987: "Costa Rica und seine Verfassung vom 7. November 1949 in Vergangenheit und Gegenwart", in: VRÜ 20 Jg., 2. Quartal, 177-193 und Fanger, U. 1985: Costa Rica: "Politische Stabilität und Wirtschaftskrise", in: Nuhn, H. (Hrsg.), Krisengebiet Mittelamerika, Braunschweig, 150-164. 48 Vgl. Herman, D.L. 1988: Democracy in Latin America. Colombia and Venezuela, New York u.a.

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um Demokratie in Lateinamerika ein besonderes Forschungsinteresse gewidmet wurde. Zudem sollen einige Forschungslücken aufgezeigt werden. Folgende Aspekte wurden in der politikwissenschaftlichen Debatte der Bundesrepublik schwerpunktmäßig untersucht, wobei einige Autoren in ihren Studien mehrere dieser Problembereiche aufgreifen: 1. Regimewechsel in Lateinamerika 2. Grundprobleme der Demokratie 3. Trägerinstitutionen und Trägerschichten von Demokratie 4. Demokratiekonzepte 5. Zukunftschancen bzw. Konsolidierungsprobleme der Demokratie Mit der Problematik von Regimewechseln und der Demokratisierung autoritärer Regime in Lateinamerika hat sich besonders Dieter Nohlen auseinandergesetzt. In seinen Artikeln und Beiträgen in Sammelbänden wird nach Faktoren gefragt, die zu einer Demokratisierung autoritärer Regime fuhren, bzw. umfassender nach den strukturellen und ursächlichen Faktoren für Herrschaftsformen und deren Wandel in Lateinamerika 49 . Nohlen konstatiert im wissenschaftlichen Diskurs zur Demokratisierung in Lateinamerika die fehlende Einheitlichkeit bei der Verwendung der ArbeitsbegrifFe. Gerade bei der vergleichenden Analyse plädiert er mit Recht für einen in sich konsistenten "framework of analysis". In seinen Studien von 1982b und 1988 differenziert er dementsprechend zwischen den Begriffen Liberalisierung und Demokratisierung, politischer und sozialer Demokratie sowie der Demokratisierungs-, Transitions- und Konsolidierungsforschung 50 . Bei der Transitionsforschung stellt Nohlen in seinem APuZ-Beiivdig von 1988 fest, daß kein bestimmtes Modell existiert, nach dem diese Regimewechsel abgelaufen sind. Allerdings ist den Arbeiten zu diesem Thema zu entnehmen, daß bestimmten Variablen eine besondere Bedeutung in diesem Prozeß zukommt: der politischen Tradition eines Landes, dem Typ des autoritären Regimes, das überwunden wird, sowie den verschiedenen externen, regimetragenden und oppositionellen Akteursgruppen 51 . Zusammengefaßt können die vorhandenen Studien zu Regimewechseln nach vier Untersuchungsbereichen geordnet werden. Allerdings bleibt diese Aufteilung eher idealtypisch, da ihr naturgemäß nicht alle Autoren begrifflich und inhaltlich folgen: 49

Vgl. Nohlen, D. 1982b. Ders. 1986: "Militärregime und Redemokratisierang in Lateinamerika", in: ApuZ, B 9/86, 3-16 und ders. 1988: "Mehr Demokratie in der Dritten Welt?", in: ApuZ, B 25-26/88, 3-18. 50 Nohlen 1988, 6/7, schreibt in diesem Artikel zwar offiziell über die "Dritte Welt", meint aber wohl Lateinamerika. Der einzige Bezug zu den anderen Regionen der Dritten Welt besteht in dem einleitenden Hinweis auf Seite 3, daß auch die Demokratisierungsprozesse in Asien, auf den Philippinen und Südkorea große internationale Aufmerksamkeit fanden, während in Afrika kaum prodemokratische Veränderungen zu beobachten seien. 51

Zum Teil zitiert nach Nohlen 1988 (Zusammenfassung).

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1. Die Liberalisierung autoritärer Regime als mildere Herrschaftsvariante ohne grundsätzliche Transformation des politischen Systems. Für diese Veränderungen innerhalb der gegebenen Grenzen des politischen Systems standen in Brasilien und Chile Begriffe wie "abertura" bzw. "apertura" (Öffnung). 2. Der gesamte Liberalisierungs- und ggf. Demokratisierungsprozeß von einem autoritären Regime zu einem demokratischen Regierungssystem. 3. Die zeitlich begrenztere Übergangsphase (Transition) zur Demokratie. 4. Die Konsolidierung der "neuen" Demokratie und die damit verbundenen Problembereiche. Die vorliegende Arbeit folgt dem zweiten Ansatz. Neben der Berücksichtigung von Aspekten politischer Demokratie (freie Wahlen, Gewährung von Menschen- und Bürgerrechten) und sozialer Demokratie (sozialstaatliche Komponenten, Reform der Einkommensverteilung) wird auch zwischen Phasen der Liberalisierung und Demokratisierung unterschieden. Unter Demokratisierung wird hier die sukzessive Überwindung des autoritären Herrschaftssystems einschließlich der finalen Transitionsphase mit abschließender freier Wahl der Herrschaftsträger verstanden. Eine Liberalisierung zielt dagegen lediglich darauf ab, den Autoritarismus durch (zurücknehmbare) Zugeständnisse zu konsolidieren. Die Problematik einer genauen Bestimmung der nicht immer durchschaubaren politischen Hintergründe einer Liberalisierungsbzw. Demokratisierungsphase wird allerdings dann deutlich, wenn Landeskenner für den Fall Chile sich nicht einig sind, ob seit dem Jahre 1983 eine Liberalisierung (M.A. Garretón), eine Transition (C. Huneeus) oder "no-transición" (R. Cortazar) stattgefunden hat52. Die Grundprobleme der Demokratie werden in einigen deutschsprachigen Übersichtsartikeln allgemein oder im Hinblick auf ausgewählte Problemfelder behandelt, wobei Anfang der 90er Jahre oftmals Gesichtspunkte aus früheren Arbeiten anderer Autoren ohne nähere Vertiefung wiederholt werden, wie z.B. die nur relative Aussagekraft von Wahlen oder die Vielzahl alter und neuer Behinderungselemente für eine demokratische Entwicklung53. So bleibt als Erkenntnisgewinn beim etwas sachkundigen Leser dieser Abhandlungen nur die jeweilige Aufarbeitung des neueren Diskussionsstandes in den USA und in Lateinamerika, sofern ihm die wachsenden politischen Gefahren durch das Drogenproblem in Bolivien, Peru und Kolumbien noch nicht im Zusammenhang mit dem Thema Demokratisierung begegnet sind54. 52

Hieraufweist Nohlen 1988, 9 mit den entsprechenden Literaturangaben hin. So z.B. Maihold, G. 1990: "Demokratie und Partizipation in Lateinamerika", in: Institut für Iberoamerika-Kunde Nr. 13, 6-18 und Nolte, D. 1990: "'Una democracia sitiada'? Chancen und Gefahren für die Demokratie in Lateinamerika", in: Institut für IberoamerikaKunde Nr. 13, 19-32. 54 Vgl. Nolte 1990,27ff. 53

60 Insgesamt betrachtet wurden in den Arbeiten zu diesem Thema von den Autoren der ersten Stunde, wie Dieter Nohlen (1982b, 1986, 1988, Nohlen/ Barrios 1989) und Manfred Mols (1985a/b, 1987, Mols/Wolf 1987, 1989)55 bereits die wesentlichen Fragenkomplexe angesprochen, wobei allerdings viele Problemfelder lateinamerikanischer Politik und Wirtschaft aus den politikwissenschaftlichen und historischen Analysen der Militärregime und zuvor der sog. Breakdown-Forschung56 der 70er Jahren bekannt waren. Die Studien über den Zusammenbruch der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen oder bereits bestehenden demokratischen Regierungen in Lateinamerika weisen darauf hin, daß es auch damals vielfaltige und erhebliche Belastungen der Demokratie gegeben hat. Allgemeine oder länderspezifische Arbeiten, die die Grundprobleme dieser demokratischen Phase mit der heutigen Situation vergleichen, existieren nicht. Ebensowenig der wahrscheinlich gewinnbringende Vergleich mit den Demokratisierungsprozessen in Asien und Afrika 57 . Trotzdem findet man fast in allen Publikationen der hier genannten Autoren den Begriff der "/^-Demokratisierung" wieder. Eine Erläuterung dieses Präfixes, das sich auf die früheren Versuche der Demokratisierung in Lateinamerika selbst bezieht, erfolgt nicht. Dadurch kann beim historisch weniger kundigen Leser der Eindruck entstehen, es habe irgendwann einmal voll entwickelte Demokratien in Lateinamerika gegeben. Tatsächlich hat es sich in den Ländern des Kontinents stets um "unvollendete" Demokratien58 gehandelt, sofern man den Maßstab der modernen westlichen Demokratie zugrundelegt. Die hier genannten Publikationen setzen wohl ein allgemeines Vorverständnis des Fachpublikums über die notwendigen Einschränkungen bei der Anwendung des Begriffes "Demokratie" in Lateinamerika voraus. Die Frage nach den Trägerinstitutionen und Trägerschichten von Demokratie wird von Mols aufgegriffen und am Beispiel der politischen Parteien, der katholischen Kirche, der Gewerkschaften, des komplexen Bereiches Universitäten/Intellektuelle/Studenten und mit deutlicher Betonung auch auf das 55

So wurden z.B. die Behinderungselemente von Demokratie in Lateinamerika von Mols neben seinem Demokratieband ( 1985a) noch in einer Studie vertiefend dargelegt. Vgl. Mols, M./Wolf, U. 1987: "Lateinamerika - was gefährdet die Demokratie?", in: Außenpolitik 2/87,194-208. Auch die Rolle Europas wurde berücksichtigt: Mols 1985b, 581-590. 56 Vgl. u.a. Nohlen 1982, 63-86, Huneeus, C. 1981: Der Zusammenbruch der Demokratie in Chile. Eine vergleichende Analyse, Heidelberg, Linz, J.J./Stepan, A. (Hrsg.) 1978: The Breakdown of Democratic Regimes: Latin America, Baltimore/London. 57 Die Parallelen in den politischen Analysen über Südostasien und Lateinamerika verdeutlicht Mols 1989, 197 unter Hinweis auf Rüland, J. 1986: "Staatliche Macht und politische Partizipation in Südostasien", in: Dürr, H./Hanisch, R. (Hrsg.), Südostasien. Tradition und Gegenwart, Braunschweig, 72-86. Zur früh ansetzenden Forschung über Demokratisierungsprozesse in anderen Regionen der Dritten Welt siehe Scupin, H.-U. (Hrsg.) 1965: Unvollendete Demokratien. Organisationsformen und Herrschaftsstrukturen in nicht kommunistischen Entwicklungsländern in Asien, Afrika und im Nahen Osten, Köln und Opladen. s» Vgl. den Buchtitel von Scupin, H.-U. 1965.

61 wachsende demokratische Potential der marginalisierten Bevölkerungsschichten untersucht. Die Bedeutung der katholischen Kirche für den Demokratisierungsprozeß wird an verschiedenen Stellen hervorgehoben59. Die Rolle anderer möglicher Träger eines demokratischen Wandels wird in der Literatur nur in Einzelfallen behandelt. So wird z.B. die Sonderstellung der Präsidenten in den neuen Demokratien Lateinamerikas in einer Studie des Verfassers untersucht60. Der zivile Präsident ist in der Initialphase des Demokratisierungsprozesses seines Landes im Vergleich zu anderen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren in besonderem Maße ein Garant für den Erhalt der bestehenden politischen Demokratie, und der zunächst wichtigste Wandlungsträger im Sinne einer kontinuierlichen (Fundamental-) Demokratisierung mit dem hier unterstellten Ziel einer ergänzenden sozialen Demokratie. Angesichts der Verfassungsreformen in einigen demokratisierten Ländern und der damit oftmals verbundenen Diskussion über mögliche Alternativen zum Präsidialsystem durch ein gestärktes Parlament oder die Übernahme eines Modelles parlamentarischer Demokratie hat sich das Forschungsinteresse von Nohlen mehr den Strukturfragen der neuen Demokratien zugewandt. Hierbei wird auch die erneute Bedeutung der politischen Parteien berücksichtigt61. Die Rolle bestimmter politischer Akteure zugunsten des Demokratisierungsprozesses wird in der Literatur oft nur angedeutet62. Allein Mols behandelt ausführlicher die Bedeutung der Eliten und/oder potentiellen Wandlungsträger. Hierbei wird der katholischen Kirche ein eigener Abschnitt gewidmet63. Mols bleibt der einzige, der auch an anderer Stelle wiederholt die demokratiefördernde Rolle der Kirche in Lateinamerika betont64. Der bescheidene Beitrag der politischen Parteien für den demokratischen Wandel in 59 Vgl. Mols 1989, 213f/216/237. 60 Vgl. German, C. 1988a: "Grundprobleme der Demokratie in Lateinamerika", in: German, C./Steiert, R. (Hrsg.), Lateinamerika zwischen Demokratie und Militärherrschaft, SOWI-Sozialwissenschaftliche Informationen, Heft 1, 5-12. 61 Vgl. Nohlen, D./Barrios, H. 1989: "Redemokratisierung in Südamerika", in: APuZ B4/89, 3-25, 9f. Zur Verfassungsreform u. a. Nohlen, D./Solari, A. (eds.) 1988: Reforma política y consolidación democrática. Europa y América Latina, Caracas und Nohlen, D. 1993: "Präsidentialismus versus Parlamentarismus in Lateinamerika. Einige Bemerkungen zur gegenwärtigen Debatte aus vergleichender Sicht", in: Institut für Iberoamerika-Kunde (Hrsg.), Lateinamerika Jahrbuch 1992, Frankfurt a.M., 86-99. 62 Aufgegriffen wird diese Frage im Hinblick auf den Konsolidierungsprozeß der Demokratien von Werz, N. 1993: Von den Schwierigkeiten politischer Reformen in Lateinamerika, in: Hünermann, P./Scannone, J.C. (Hrsg.) 1993: Teil 3, Fraling, B./Mols, M./Mac Gregor, F.E. (Hrsg.), Demokratie. Menschenrechte und politische Ordnung, Mainz, 309-329, 319ÍT. « Vgl. Mols 1985a, 111-113. « Vgl. Mols 1989,213/214,216,237.

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Lateinamerika insgesamt geht aus den Studien von Werz und Lindenberg hervor65. Mols geht es neben einer Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen der Demokratie auch um die Gewinnung eines demokratischen Maßstabes, der den kulturellen Gegebenheiten der lateinamerikanischen Länder gerecht wird66. Das vorgeschlagene und näher ausgeführte Demokratiekonzept einer offenen, pluralistischen Demokratie "mit offener pluralistischer Herrschaftsstruktur bei gleichzeitiger offener konkurrierender Willensbildung und offener partieller politischer Repräsentation"67 wird nach vier Seiten ergänzt, um charakteristische Behinderungselemente aufzuzeigen. Diese sind im Vergleich zu den USA und Europa die eingeschränkte nationale Autonomie der lateinamerikanischen Länder, die abweichenden nationalen Integrationsniveaus mit durchschnittlich 30-50% marginalisiert lebenden Menschen in Lateinamerika, die unerfüllte Forderung nach einem höheren Rang des Prinzips der Sozialstaatlichkeit und schließlich das Primat des Staates im Verhältnis zu der zivilen Gesellschaft. Erst die Überwindung dieser Behinderungen des Modells offener repräsentativer Demokratie würde den Bestand der Demokratie dauerhaft sichern helfen. Es bleibt festzuhalten, daß in den Schriften von Mols auch deutsche Politikwissenschaftler und Demokratieforscher wie z.B. Manfred Hättich rezipiert werden, während in den Publikationen von Nohlen vorwiegend die Analysen nordamerikanischer Sozialwissenschaftler im Vordergrund stehen, neben den von beiden berücksichtigten Studien aus Lateinamerika selbst. Bei der Frage nach den Zukunftschancen der Demokratie wird von deutschen Poltikwissenschaftlern im Fazit eher zurückhaltend argumentiert. Mols weist zwar darauf hin, daß "kein ernsthafter Analytiker jenseits wie diesseits des Atlantiks die Aussage wagte, die jetzige lateinamerikanische Demokratie werde mit Sicherheit wieder scheitern"68. So deutlich hat sich tatsächlich keiner der angesprochenen Gruppe von Sozialwissenschaftlern geäußert, wohl aber der Tendenz nach sicherlich Howard J. Wiarda in einer bereits 1985 u.a. in Chile erschienenen Studie über die Möglichkeiten des "Exports" von De-

65 Vgl. Werz, N. 1987: "Demokratie und Regierungsformen in Südamerika", in: VRÜ20 Jg./2. Quartal, 143-176, 156ffund Lindenberg, K. 1982: "Streitkräfte und politische Parteien. Ein Essay zu einigen aktuellen Problemen der zivil-militärischen Beziehungen in Lateinamerika", in: Lindenberg, Lateinamerika, 87-102.

66 Zum folgenden Mols 1985a, 35£T. 67

Hättich, M. 1967: Demokratie tiert in Mols 1985a, 35. 68 Mols 1989,237.

als Herrschaftsordnung,

Köln und Opladen, 164. Zi-

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mokratie nach Lateinamerika, deren Grundaussagen weiter unten behandelt werden69. Letzten Endes bleibt jedoch auch für Mols die politische "Involution", d.h. das Umkippen der neuen lateinamerikanischen Demokratien in eine unberechenbare Richtung möglich70. Auch für Nohlen unterliegen die neuen Demokratien, wie vorher die Militärregime, einer historisch offenen Perspektive. Die empirischen Ergebnisse sprechen seiner Ansicht nach mehr für ein Kreislaufmodell zwischen autoritärer und demokratischer Herrschaft 71 . Wie die folgenden Ausführungen zeigen, sprechen die Entwicklungstendenzen in einigen Ländern für diese Annahme. Betrachtet man die Entwicklung bis Mitte 1994, so schienen die anhaltenden Wirtschaftskrisen mit ihren sozialen Spannungen und erste Militärrevolten in Argentinien und Venezuela die Demokratien in ihren Anfangsjahren besonders zu gefährden. Als größter Risikofaktor für die Konsolidierung der Demokratie stellten sich in einigen Ländern dann jedoch die zivilen Präsidenten selbst heraus. Dies enttäuschte um so mehr, als den Staatsoberhäuptern in den neuen Demokratien aus der Sicht des Volkes eine Sonderstellung als Garanten und Wandlungsträger für eine bessere und gerechtere Zukunft zukam und vielerorts noch zukommt. Die von den Präsidenten ausgehenden Risiken zeigten sich in vier Varianten. In Peru kam es, unterstützt durch das Militär, im April 1992 zu einem "institutionellen Putsch" mit Schließung des Parlaments durch Alberto Fujimori. Er war der dritte demokratisch gewählte Präsident seit Inkrafttreten einer neuen Verfassung im Jahre 1980. Im Mai 1993 scheiterte dagegen in Guatemala der Versuch Jorge Serranos, die Verfassung außer Kraft zu setzen und den Kongreß aufzulösen. Massenproteste und die fehlenden Rückendeckung durch die Streitkräfte, die Serrano auch zum Rücktritt zwangen, werden als Belege für eine Stabilisierung der Demokratie gewertet. Bei ihm handelte es sich um den zweiten zivilen Präsidenten seit der Rückkehr des Landes zu einer liberalen Verfassung im Jahre 1986. Bezeichnend für beide Fälle ist, daß das Militär letztlich entschieden hat, ob die Verfassung gebrochen wird oder nicht. Geradezu klassisch war auch die Tatsache, daß Korruptionsvorwürfe, diesmal besonders hinsichtlich der käuflichen und parteiischen Justiz, eine besondere Rolle gespielt haben. Das Thema Korruption war auch für die Einleitung des Impeachment-Verfahrens gegen Collor de Mello in Brasilien und dessen Rücktritt Ende 1992 ausschlaggebend. In Venezuela, das seit 1958 zu den stabilsten Demokratien Lateinamerikas zählt,

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Vgl. Wiarda, H.J. 1985: "¿Se puede exportar la democracia? La búsqueda de la democracia en la política norteamericana para América Latina", in: Revista de Ciencia Política, Vol. VH,No. 1,85-111. 70 Vgl. Mols 1989, 244. Vgl. Nohlen 1982b, 67 und 1986, 15f.

64 hätte das brasilianische Beispiel fast Schule gemacht, wenn nicht Carlos Andrés Pérez frühzeitig aufgrund der gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe zurückgetreten wäre. In beiden Ländern konnte sich die Demokratie halten. In Venezuela jedoch setzte der nachfolgende Präsident Rafael Caldera Ende Juni 1994 erstmals in der Geschichte des Landes sechs Grundrechte per Dekret mit der Begründung aus, seine wirtschaftspolitischen Maßnahmen nur auf diese Weise durchführen zu können72. b) Aspekte der US-Forschung In einer vielbeachteten Studie mit dem Titel The Continuing Struggle for Democracy in Latin America (1980) legte der nordamerikanische Politikwissenschaftler Howard Wiarda vier lateinamerikanische Demokratiekonzepte dar73. Neben den ersten drei Ansätzen, die hier vereinfacht als ein liberales, sozialistisches und autoritäres Demokratieverständnis klassifiziert werden können, ist der vierte besonders interessant. Wiarda selbst sympathisiert mit dieser Richtung einer spezifisch lateinamerikanischen Demokratieauffassung, einem Kompromiß zwischen autoritärer Tradition und demokratischer Überlieferung. Dieses Konzept, leicht als "tropische Demokratie" diskreditierbar, relativiert (so die Kritik) die anzustrebende demokratische Norm zugunsten der normativen Kraft der de-facto-Regime. Angesehene lateinamerikanische Sozialwissenschaftler wenden sich gegen eine solche Position und verteidigen den Kernbestand repräsentativ-demokratischen Gedankenguts74. Doch mit Mols kann man bestenfalls "vermuten, daß ... (dieses Gedankengut)... außerhalb der marxistischen und der verschiedenen nationalrevolutionären Gruppen linker und rechter Prägung mehrheitsfahig ist"75. In einer Studie über die Möglichkeiten eines "Exports" der amerikanischen Demokratie führt Wiarda fünf Jahre später einige Gesichtspunkte auf, die in der deutschsprachigen und lateinamerikanischen Demokratiediskussion nicht oder nur unscharf herausgearbeitet worden sind76. Er selbst hält die in Lateinamerika oft diskutierte Übertragbarkeit des amerikanischen Modells für un72

Zur Konsolidierungsproblematik siehe für viele Hofmeister, W. 1994: "Die Entwicklung der Demokratie in Lateinamerika", in: APuZ B 4-5/94, 28. Januar 1994, 11-18, Krumwiede, H.-W. 1993: "Zu den Überlebenschancen von Demokratie in Lateinamerika", in: Institut für Iberoamerika-Kunde (Hrsg.), Lateinamerika Jahrbuch 1993, Frankfurt a.M., 9-30. 73 Vgl. Wiarda, H.J. 1980: The Continuing Struggle for Democracy in Latin America, Boulder, 18f. 74 So z.B. Donner, P./Femández, G. 1980: "El concepto de democracia. Algunas precisiones", in: Estudios Sociales 24/2, 21 ff und Faletto, E. 1982: "Estilos alternativos de desarrollo y opciones políticas. Papel del movimiento popular", in: Rojas Aravena, F. (ed.), América Latina: desarrollo y perspectivas democráticas, San José (Costa Rica), lOlff. " M o l s 1985a, 31. 7 6Vgl. Wiarda 1985, 85-111.

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möglich und verspricht sich auch durch die Unterstützung der entstandenen Demokratien durch die USA aufgrund der vielfaltigen Probleme nur marginale Erfolge. Um die Chancen der Demokratie in Lateinamerika beurteilen zu können, fragt er danach, welche Akteure die Demokratisierung bewirkt haben und wie diese Akteure selbst zur Demokratie stehen. Wiarda weist darauf hin, daß die neuen Demokratien in Lateinamerika in der Regel zumindest mit Billigung der herrschenden Schichten entstanden sind und nicht "von unten" durch eine erfolgreiche Volksbewegung durchgesetzt wurden. Es waren außergewöhnliche Umstände, und nicht die Einsicht der Eliten in die Demokratie als beste Staatsform, die diese Regimewechsel möglich machten. Das Militär hat als wichtigster Machtfaktor die Regierungsgeschäfte nicht aus Zuneigung zur Demokratie an zivile Politiker abgegeben, sondern aufgrund der eigenen Ratlosigkeit bei der immer dringender werdenden Bewältigung hausgemachter Probleme. Ferner spielte die Sorge, daß dem Militär als Institution in Zukunft ein noch größerer Ansehensverlust drohen könne, eine bedeutende Rolle. Hinsichtlich der potentiellen zivilen Machthaber fugt Wiarda hinzu, daß er deutlich den Eindruck gewonnen habe, vielen zivilen Politikern gehe es neben der gebotenen Befürwortung demokratischer Verfahrensweisen vielmehr darum, erneut jene lukrativen Posten besetzen zu können, die ihnen so lange von den Militärregierungen vorenthalten wurden. Darin seien sie sich alle, trotz erheblicher Meinungsunterschiede in anderen Fragen, einig. Wiarda stellt weiterhin fest, daß die Demokratie in Lateinamerika für die USA nur bis zu einem bestimmten Punkt ein Ideal darstelle. Vorrangig bliebe ihr Interesse an Stabilität, den Märkten und einer antikommunistischen Haltung. Das Interesse gelte auch demokratischen Regierungsformen, solange diese Voraussetzungen erfüllt seien. Die Skepsis Wiardas bezieht sich bei diesen Überlegungen auf die Schwäche des demokratischen Motivs bei der Mehrzahl der entscheidenden Träger einer demokratischen Herrschaftsordnung. Eine seiner persönlichen Einschätzung lautet daher auch: "Es difícil creer que la 'transición del autoritarismo a la democracia en América Latina'. ..es realmente firme, unilineal e irrevisible" 77 c) Lateinamerikanische Demokratieforschung In Lateinamerika selbst läßt sich die Diskussion um die beste Staatsform bis in die Zeit der Unabhängigkeitsbewegungen im 19. Jh. zurückverfolgen und ist z.T. mit harter Selbstkritik gefuhrt worden. Der berühmte Freiheitskämpfer und Staatengründer Simón Bolívar aus Venezuela war wie der argentinische Jurist und politische Schriftsteller Juan Bautista Alberdi der Ansicht,

Ii Wiarda 1985, 102.

66 daß die Lateinamerikaner nicht demokratisch zu regieren seien78. Auch im 20. Jh. gilt Lateinamerika bei manchen vor allem unter dem Eindruck chronischer Instabilität durch über 1.000 Staatsstreiche seit der Unabhängigkeit als unregierbar und noch nicht reif für die Demokratie79. Diese Ansichten werden von Teilen der Gesellschaft, die in der politischen Auseinandersetzung durchaus wichtig sind, und besonders von nationalen und transnationalen Wirtschaftskreisen vertreten. Hierbei werden als häufigste Argumente die Mentalität und kulturelle Besonderheiten der Lateinamerikaner sowie der niedrige Bildungsstand der Bevölkerung genannt80. So hielt z.B. die als "Classe A" bezeichnete Oberschicht in Brasilien im Jahre 1989 wenig von dem armen, ca. 70% umfassenden Teil der Bevölkerung. Das Volk gilt für diese 30% der oberen Einkommensgruppen nach den Ergebnissen eines führenden Meinungsforschungsinstituts als faul (45%), dumm (31%), unehrlich (43%) und verantwortungslos bzw. inkonsequent (42%). Über zwei Drittel (68%) der wirtschaftlich Bestgestellten hielten das Volk für noch nicht reif genug, um an Wahlen teilzunehmen. Von diesen Eliten wird das eigentliche Problem Brasiliens weniger in der Wirtschaft oder Regierungspolitik, sondern in der eigenen Bevölkerung gesehen81. In der lateinamerikanischen Demokratieforschung tritt besonders der argentinische Politikwissenschaftler Guillermo O'Donnell hervor82. O'Donnell sprach sich für einen sozial ausgerichteten Entwicklungsweg der Demokratisierung in Lateinamerika aus, ebenso wie sein brasilianischer Kollege Helio Jaguaribe83. Jaguaribe nannte als Imperative der neuen Entwicklung eine gerechte Umverteilung der Einkommen und fordert sozialen Schutz durch eine umfassende soziopolitische Partizipation. Weitere Untersuchungen und kriti78 Vgl. Kahle, G. 1969: "Historische Bedingtheiten der Diktatur in Lateinamerika", in: Wehner, F. (Hrsg.), Idee und Wirklichkeit in Iberoamerika, Hamburg, 55-63, 58f; Garzón Valdés, E. 1983: Über die Funktionen des Rechts in Lateinamerika, Saarbrücken (Arbeiten aus dem Institut für Rechts- und Sozialphilosophie), 5f. Spanische Erstfassung: "Acerca de las funciones de Derecho en América Latina", in: Cuadernos de la Facultad de Derecho, 3, 1982, Universidad de Palma de Mallorca, 21-47. 79 Vgl. Alba, V. 1973: Die Lateinamerikaner. Ein Kontinent zwischen Stillstand und Revolution, Zürich, 122. so Vgl. Eisenblätter, B. 1984: "Cone Sul - 'Demokratie - hier und heute!'", in: IISAuslandsinformationen (Konrad-Adenauer-Stiftung), 02, St. Augustin, 9-20, lOff. 81 Vgl. hierzu den Artikel in der politischen Wochenzeitschrift Veja 6.09.1989: "O problema é o povo. Urna pesquisa do Ibope revela que para urna parte da elite o mal do Brasil sao os brasileiros". 82 O'Donnell, G. 1986a: Contra-pontos. Autoritarismo e Democratizado, Sao Paulo: Vértice und ders. 1986b: "A elite brasileira é muito atrasada", Interview in Senhor, Nr. 284, 26.08.86, 5-9. 83

Vgl. Jaguaribe, H. et al. 1985: Brasil, sociedade democrática, Rio de Janeiro: José Olympio und ders. 1986: Brasil, 2.000. Para um novo Pacto Social, Rio de Janeiro: Paz e Terra.

67 sehe Bestandsaufnahmen der ersten Jahre unter demokratieorientierten Regierungen wurden u.a. in Argentinien84 und Brasilien85 veröffentlicht. Durch die politische Öffnung erschienen bis zum Ende der 80er Jahre eine Vielzahl von weiteren Publikationen zu diesem Themenbereich, häufig in Zusammenarbeit mit nordamerikanischen und europäischen Sozialwissenschaftlem86. Die empirisch reichhaltige Forschung lateinamerikanischer Sozialwissenschaftler wird besonders in dem ^PwZ-Beitrag von Nohlen aus dem Jahre 1988 rezipiert und nicht zuletzt durch die Beiträge von 19 Autoren aus Lateinamerika in dem Sammelband von Nohlen/Solari (1988)87 einem breiteren Fachpublikum zugänglich gemacht. Die Rolle der Kirche wird nur selten angesprochen, wie z.B. in einem Aufsatz von F. H. Cardoso über die Demokratie in Lateinamerika aus dem Jahre 198 4 88 . Hinsichtlich der Gruppen, die sich gegen den Autoritarismus der Militärregierungen aufgelehnt haben, stellt er fest, daß nicht die sozialen Bewegungen an erster Stelle standen. Vielmehr haben progressiv orientierte Teile der sog. "Mittelschichten", z.B. Bischöfe und Priester, Professoren und Journalisten sowie die Angehörigen von politischen Gefangenen den ersten Schritt getan89. Die Zukunft der Demokratie in Lateinamerika war Gegenstand einer Studie des Brasilianers Gläucio Ary Dillon Soares90. Er kommt darin zu dem Ergebnis, daß "in Lateinamerika die politischen Formen, u.a. die Demokratie und Diktatur nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand der Sozialwissenschaften unstabil und nicht voraussagbar" seien. Während Dillon Soares bereits vage zwischen "Diktaturen", "Zwischenformen" und "Demokratien" differenzierte, bezeichnen 0'Donneil und Schmitter in dem Kapitel "Introducing Uncertainty" ihrer Demokratiestudie von 1986 die politischen Systeme in Lateinamerika nach deren Loslösung von autoritärer Herrschaft nur noch als ein "uncer-

84 Vgl. Plural 1987: El sistema democrático: balance de tres años, Nr. 6 (Revista de la Fundación Plural, Buenos Aires). 85 Vgl. Instituto de R e l a c e s Intemacionais (IRI) 1985: A redemocratizagao na América do Sul: problemas e perspectivas, Contexto Internacional 1, PUC-Rio de Janeiro. 86 Wie z.B. die Sammelbände von O'Donnell u.a. 1986 und Nohlen/Solari 1988. 87 Hier auch eine hilfreiche Bibliographie zum Thema, S. 361-379. 88 Vgl. Cardoso, F.H. 1984: "A democracia na América Latina", in: Novos Estudos CEBRAP, Säo Paulo, No. 10, Outubro, 45-56. Eine Ausnahme bildet der Sammelband von Corvalán, S. (ed.) 1990: Iglesia, Estado y Democracia en América Latina, KAAD, Santiago, der auf Initiative des deutschen Katholischen Akademischen Ausländerdienstes entstanden ist. ® Vgl. Cardoso 1984,51. 90 Vgl. Dillon Soares, G.A. 1984: "O futuro da democracia na América Latina", in: Dados, Vol. 27, No. 3, Rio de Janeiro, 269-293.

68 tain 'something eise'" 91 . Dieses unbestimmbare politische Etwas kann demokratische(re) oder autoritäre(re) Formen annehmen oder einfach nur Konfusion durch ein "Sich-Durchwursteln" verschiedener Regierungen ohne Lösungskonzepte zur Folge haben. d) Die "lateinamerikanische Demokratie" Nach einer intensiven interdisziplinären und internationalen Diskussion während vieler Jahre dürften die wesentlichen Behinderungselemente für eine Demokratisierung den Entscheidungsträgern in Lateinamerika bekannt sein92. Somit liegen die eigentlichen Schwierigkeiten der neuen Demokratien nicht an einem Mangel an Problembewußtsein hinsichtlich der allgemein als notwendig erkannten Reformen, sondern eher an dem fehlenden politischen Durchsetzungswillen und/oder der politischen Durchsetzungsfahigkeit der zivilen Regierungen. Eine pragmatische Betrachtung der neuen Demokratien in Lateinamerika Anfang der 90er Jahre ergibt mit den für eine Gesamtübersicht stets notwendigen Einschränkungen sieben bestimmte Merkmale und Rahmenbedingungen, die es geboten erscheinen lassen, den Typus einer "lateinamerikanischen Demokratie"93 zu akzeptieren: 1 .Demokratie "von oben"-. Die neuen Demokratien in Lateinamerika sind "von oben" her entstanden in einer Situation der Ratlosigkeit der herrschenden Eliten über die Bewältigung der weitgehend hausgemachten wirtschaftlichen und sozialen Krisen. Das Militär hat die Staatsgewalt letztlich freiwillig im Einverständnis mit den Eliten abgegeben. Es bleibt Staat im Staate, Wachposten und potentielle politische Alternative. 2. Diffuses Demokratieverständnis: Die von den Militärregimen betriebene Depolitisierung und Demobilisierung der Bevölkerung war relativ erfolgreich. Sie betraf ohnehin nur einen Teil der Bevölkerung angesichts der Tatsache, daß, je nach Land und Schätzungen, 30-50% der Menschen von Politik und Gesellschaft ausgeschlossen ein marginalisiertes Dasein fristen, in dessen Mittelpunkt der tägliche Überlebenskampf steht. Der negative Erfolg der Militärregime besteht darin, daß in der Politik und Gesellschaft dieser Länder die vorhandenen Ansätze einer demokratischen politische Kultur verschüttet bleiben bzw. nur langsam wiederbelebt werden können. Dadurch erscheinen die mit dem Begriff Demokratie verbundenen Lei91 Vgl. O'Donnell, G./Schmitter, P.C./Whitehead, L. 1986: Transitions from Authoritarian Rule: Prospects for Democracy, Baltimore/London. Hier Part IV, "Tentative Conclusions about Uncertain Democracies", 3. 92 In einem Ausblick für die 90er Jahre siehe hierzu Lowenthal, A.F. 1990: "Lateinamerika an der Schwelle der neunziger Jahre", in: Europa-Archiv, Folge 17, 515-520. 93 Manfred Mols wendet den Begriff "lateinamerikanische Demokratie" in seinen Studien von 1989 und 1985b ohne nähere Erläuterung an. Solche regionalspezifische Formeln in Anlehnung an Wiarda (1980) werden dagegen von Nohlen (1988, 6) mit Skepsis betrachtet.

69 stungserwartungen in einem verzerrten Bild. Der Begriff Demokratie bleibt zwar allgemein positiv besetzt, beschränkt sich jedoch einerseits bei den richtungsbestimmenden Eliten auf die Gewährleistung von Freiheitsrechten im Sinne einer "politischen" Demokratie. Dagegen verbindet die verbleibende Mehrheit der Bevölkerung, und hier besonders die Unterschichten, mit Demokratie vorwiegend den Aspekt sozialer Gerechtigkeit und Sozialstaatlichkeit. Auch das prodemokratische Engagement von bestimmten Parteipolitikern, den Gewerkschaften und des Bereiches Universitäten/Intellektuellen/Studenten ist von unterschiedlichen Demokratievorstellungen geprägt. Lediglich die katholische Kirche hat in ihrem Einsatz für die Demokratie das Ideal einer ganzheitlichen Demokratisierung gewahrt. 3. Wahrung der "politischen" Demokratie: Die neuen zivilen Regierungen gewährleisten somit eine "politische" Demokratie mit freien und kompetitiven Wahlen sowie in der Regel die Menschen- und Bürgerrechte. In einigen Ländern sollen neue Verfassungen die demokratischen Grundordnungen sichern helfen. Diese Entwicklung ist angesichts der fehlenden Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechtsverletzungen unter den Militärregimen ein deutlicher Fortschritt. 4. Keine innenpolitischen Reformen: Notwendig erscheinende innenpolitische Reformen, z.B. des Rechts- und Steuersystems, bleiben in der Regel aus oder scheitern am Widerstand der Eliten. Auch die bekannten Probleme einer ineffizienten staatlichen Bürokratie und nicht zuletzt der Korruption werden nur ungenügend in Angriff genommen. Diese Aufzählung vernachlässigter Bereiche könnte u.a. mit dem Hinweis auf die ungelösten ökologischen Fragen, den Rauschgiftkonsum und -handel sowie die Existenz von Millionen verwahrloster Straßenkinder beinahe beliebig fortgesetzt werden. 5. Defensive Modernisierung: Die "von unten" oft geforderte grundlegende Veränderung der Wirtschafts- und Sozialstrukturen und damit des traditionellen Status quo erfolgt ebenfalls nicht. Dies charakterisiert in besonderem Maße die Unvollkommenheit der Demokratie. Die traditionellen Eliten befürworten die Demokratie, solange sie "lateinamerikanisch" bleibt, d.h. ohne die soziale und sozialstaatliche Komponente. In der Politikgestaltung beinhaltet dies eine "defensive Modernisierung"94 mit soviel Besitzstandswahrung der Oberschichten wie möglich. Bei näherer Betrachtung haben die allesamt gescheiterten Initiativen zur Reform der Wirtschafts- und Verschuldungsfragen, z.B. in Argentinien, Brasilien und Peru eine Antastung des Besitzstandes der traditionellen Eliten vermieden. Ein besonderes Merkmal dieser Haltung ist in historischer Perspektive das erneute Scheitern oder Ausbleiben von Agrarreformen.

w Vgl. hierzu Mols 1989,231

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6. Drohpotential Militärputsch'. Vieles weist daraufhin, daß die Stabilität der lateinamerikanischen Demokratien auch von der Einsicht ihrer zivilen Politiker abhängt, nicht in die Interessensphären der traditionellen Eliten und des mit ihnen verbundenen Militärs vorzustoßen. Solange diese Spielregeln eingehalten werden sowie Wirtschaft und Bevölkerung zumindest einigermaßen unter Kontrolle gehalten werden, können die zivilen Politiker die Regierungsgeschäfte weiter fuhren und von der politischen Macht profitieren. Wenn die Situation außer Kontrolle geraten sollte, hat nur das Militär die notwendige Macht und Organisationsstruktur, um "Ruhe und Ordnung" wiederherzustellen. 7. Ungenutze Chancen: Die lateinamerikanischen Länder sind bei der Konsolidierung ihrer Demokratie weitgehend auf sich selbst gestellt und können nicht auf großzügige Unterstützung der westlichen Demokratien aus ideellen Gründen zählen. Die (Militär-) Regierungen haben über 350 Milliarden Dollar an Krediten erhalten und über 15 Jahre Zeit gehabt, dieses Kapital produktiv in ihre Wirtschaften zu investieren. Die demokratieorientierten Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa sowie der bevorstehende EUBinnenmakt versprechen der internationalen Wirtschaft nunmehr sinnvollere Investitionen in einem voraussichtlich politisch stabilen Klima und einer relativ gleichförmigen Sozialstruktur. Zu den unter sozialistischen Vorzeichen entstandenen sozio-kulturellen Rahmenbedingungen gehört ein aufbaufahiges Potential an vergleichsweise qualifizierteren und motivierteren Arbeitskräften und ein konsumorientierter Binnenmarkt. Lateinamerika hatte unter kapitalistischen Vorzeichen wesentlich bessere Chancen zum wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg mit zusätzlich reicher Ressourcenausstattung. Diese Chance wurde in der Regel vertan. Im Hinblick auf die ungenutzen Chancen und die kritische Situation der lateinamerikanischen Staaten gegen Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts tritt in der Entwicklungsdiskussion immer mehr die Kritik an den herrschenden Eliten in den Vordergrund. Am plakativsten hat Wöhlcke diese Diskussion mit dem Begriff des "Morbus Latinus", der hausgemachten Unterentwicklung, gekennzeichnet95. Er stellt fest, daß in der Regel genau diese Eliten und deren Klienten zu einem ganz erheblichen Maße dazu beitragen, die Unterentwicklung ihrer Länder aufrechtzuerhalten, indem sie sich mit allen politischen, juristischen, polizeilichen und not95

Hierzu Wöhlcke, M. 1989: Der Fall Lateinamerika: Die Kosten des Fortschritts, München, S. 19ffund 1988b: Endogene Entwicklungshemmnisse und qualitative Probleme des gesellschaftlichen Wandels in Lateinamerika, Ebenhausen (Stiftung Wissenschaft und Politik). In diesem Sinne bereits Hanf, T. 1981: "Die Kirche vor der sozialen Frage in der Dritten Welt. Anmerkungen zu gegenwärtigen und künftigen Konflikten", in: Stimmen der Zeit, Heft 1, Januar, 2 7 4 7 , 30f.

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falls militärischen Mitteln gegen eine angemessenere Verteilung der gesellschaftlichen Güter und Erträge sperren96. Wöhlcke führt 10 Aspekte der endogen verursachten Fehlentwicklungen aus, betont jedoch, daß es auch unterschiedlich starke Gegenkräfte gibt, die den Morbus Latinus einigermaßen unter Kontrolle halten können. Hierzu zählt er Teile des politischen und juristischen Systems., der Kirche, der Medien, der Kultur und der Wissenschaft, einige internationale Organisationen, viele sozial und ökologisch engagierte Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen sowie zahlreiche Persönlichkeiten. Die Rolle dieser Gegenkräfte wird jedoch nicht näher untersucht. Wöhlcke konstatiert in der Entwicklungstheorie eine gewisse Überbetonung der exogenen Faktoren und verweist darauf, daß der Schlüssel zur Überwindung der Unterentwicklung in Lateinamerika selber liege97. 1.2. Die Kirche als politischer Akteur Historische Beiträge zum sozio-politischen

Wandel in Lateinamerika

Bei einem ersten Blick auf die Geschichte der katholischen Kirche in Lateinamerika entsteht wegen ihrer "Unheiligen Allianz" 98 mit der traditionellen Oligarchie bis in die Mitte des 20. Jahrhundert hinein der Eindruck von einer durchweg sozial-konservativen und fortschrittsfeindlichen religiösen Institution. Soziale Ungleichheit wurde von den richtungweisenden kirchlichen Instanzen in der Vergangenheit als natürliches Phänomen hingenommen99. Jedoch haben sich immer wieder weithin bekannt gewordene (Ordens-)Geistliche, wenn sie auch in der Minderheit bleiben und nur in äußerst seltenen Fällen Bischofsämter bekleiden sollten, der Menschen in ihrem sozialen und politischen Umfeld angenommen und Armut nicht allein als Problem der Caritas definiert. Die Schattenseiten in der Vergangenheit der katholischen Kirche sind vielfach belegt und auch die moralische Sanktionierung der brutalen Conquista und Kolonisation durch die Päpste dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Hier soll jedoch zugunsten einer ausgewogenen Betrachtungsweise der kirchlichen Entwicklungsgeschichte100 zumindest an einigen Beispielen dargelegt werden, 96 Wöhlcke 1989, 19. 97 Vgl. auch den Artikel des Unternehmensberaters Dr. Wilhelm Wiese in Die Zeit, Nr. 10, 2. März 1990: "Schuld sind nicht die Schulden", 46-48. 98 Mols 1985, 112. 99 Vgl. Krumwiede 1982a, 131 und 1982b, 49. 100

Grundlegend Mecham, J.L. 1960: Church and State in Latin America. A History of Politico-Ecclesiastico Relations, Revised Edition, Chapel Hill, Pike, F.B. (ed.) 1964: The Conflict between Church and State in Latin America, New York und Prien, H.-J. 1978: Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika, Göttingen. Zu den Grundzügen der Kirchenentwicklung und zum Stand der wissenschaftlichen Aufarbeitung vgl. König, H.-J. 1989: "La Iglesia en la época contemporánea", in: Balance de la historiografía sobre Ibero-

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daß es auch bereits vor dem II. Vatikanischen Konzil kirchliche Kräfte gab, die sich für einen Wandel der herrschenden Verhältnisse zugunsten der sozial Schwachen und rechtlich Benachteiligten engagiert haben. Im Gegensatz zu der königstreuen kirchlichen Hierarchie stritten bereits zur Kolonialzeit spanische Theologen der Spätscholastik, wenn auch letztlich erfolglos, für das Selbstbestimmungsrecht der sogenannten "Heidenvölker", für die Wahrung der Menschenrechte und den Schutz der Indianer vor der Ausrottung. In dem Dokument der III. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats in Puebla/Mexiko erinnerten die Bischöfe in diesem Sinne an die fürchtlose(n) Kämpfer für die Gerechtigkeit, die den Frieden predigten, wie Antonio de Montesinos, Bartolomé de las Casas, Juan de Zumárraga, Vasco de Quiroga, Juan del Valle, Julián Garcés, José de Anchieta, Manuel Nóbrega und viele andere, die die Indios gegen die Conquistadoren und die Encomenderos verteidigten, sogar bis zum Tode, wie im Falle des Bischofs Antonio Valdiviezo, zeigen durch die Kraft der Tatsachen, wie die Kirche Würde und Freiheit des lateinamerikanischen Menschen fördert101. Für die Unabhängigkeit der Staaten Spanischamerikas hatten sich meist die in Lateinamerika geborenen Vertreter des niederen und vielfach auch des mittleren Klerus ausgesprochen, während der Papst und die überwiegende Mehrheit der zumeist spanischen und durch persönlichen Eid an den König gebundenen Bischöfe in Lateinamerika auf Seiten des Mutterlandes standen oder mit großer Zurückhaltung auf die Befreiungskämpfe reagierten. Nach der Unabhängigkeit wurde der Katholizismus in der Regel als Staatsreligion beibehalten. In Ekuador, das bis 1895 einer echten liberalen Revolution widerstand, konnte der konservative und streng katholische Präsident García Moreno von 1861 bis 1875 den Katholizismus zur obligatorischen Staatsreligion erheben102. Auch der nicht zu unterschätzende Anteil der Kirche beim Sturze lateinamerikanischer Diktatoren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte nicht in Vergessenheit geraten. Dem direkten oder zumindest indirekten Einamérica (1945-1988), IV Conversaciones Internacionales de Historia, Pamplona: Ediciones Universidad de Navarra, 711-743 und Prien, H.-J. 1986: "Kirchengeschichte Lateinamerikas. Ein Forschungsbericht", in: Theologische Literaturzeitung 111, Sp. 785-799. Den ausführlichsten Oberblick im spanischen Sprachraum gibt Aldea, Q./Cárdenas, E. (Hrsg.) 1987: Manual de Historia de la Iglesia, Tomo X, La Iglesia del siglo XX en España, Portugal y América Latina, Barcelona, 411-1346. 101 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.) o.J.: Die Kirche Lateinamerikas. Dokumente der II. und III. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates in Medellin und Puebla, Stimmen der Weltkirche 8, Bonn, 152. 102 Vgl. Hillekamps, C.H. 1966: Religion, Kirche und Staat in Lateinamerika, München, 119/123, Tannenbaum, F. 1964: Lateinamerika, 2. Aufl., Stuttgart, 50 und Prien 1978, 427/467ff.

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fluß der Kirche werden der Sturz von Juan Perón in Argentinien 1955, von Gustavo Rojas Pinilla in Kolumbien 1957, von Marcos Pérez Jiménez in Venezuela 1958 und von Batista in Kuba 1959 zugerechnet. Dagegen können die kirchliche Unterstützung von Diktatoren wie Manuel Odria in Peru (1948-56) und Rafael Trujillo in der Dominikanischen Republik bis zu seiner Ermordung im Jahre 1961 als klassische Fälle von "unheiligen Allianzen"103 gelten. Als besonders interessantes Beispiel soll hier noch der Fall Kuba herausgegriffen werden. Dort gewährte im Jahre 1953 der Erzbischof von Santiago de Cuba, Enrique Pérez Serantes, dem damaligen Rebellenführer Fidel Castro nach dem mißglückten Sturm auf die Festung Moneada in der Provinz Oriente am 26. Juli Asyl. Der Erzbischof bekundete zudem öfters seine Sympathien für die revolutionäre Bewegung, die in Oriente selbst und seiner Provinzhauptstadt Santiago begonnen hatte. Als sich aber sechs Jahre später nach geglückter Revolution im Januar 1959 eine kommunistisch orientierte Regierungspolitik abzeichnete, warnte der Bischof im Mai in einem vielbeachteten Hirtenbrief mit dem Titel "Für Gott und Kuba" ausdrücklich vor der Gefahr des Kommunismus104. Im August 1959 bekundete schließlich auch der Episkopat Kubas in einem gemeinsamen Hirtenbrief seine Besorgnis über die Entwicklung des Landes. Das Dokument verurteilte zwar den Kommunismus; es fehlte aber nicht an Lob für die ersten sozialen Reformen, die durchaus den Vorstellungen der Kirche entsprachen105. Als Antwort begann das Castro-Regime daraufhin systematisch gegen die katholische Kirche vorzugehen. Dem Anspruch auf Alleinherrschaft der kommunistischen Führung hielt Erzbischof Pérez entgegen, daß auch die Katholiken ihren Beitrag zum Sturze des Diktators Batista geleistet hätten: Die kubanischen Katholiken haben für die Revolution gekämpft und alles für sie gegeben, was zu geben war. Unter dem Katholizismus fand die Mobilmachung eines Volkes statt. Für die Revolution und den geliebten Fidel Castro spendete man alles: Geld, Kleidung, Gebet und Opfer. Die Männer, die in den Kampf zogen, marschierten zur Sierra Maes103 Zur Haltung der Kirche gegenüber Diktaturen siehe Turner, F C. 1971: Catholicism and Political Development in Latin America, Chapel Hill, 109ff. Femer Harris, L.K./Alba, V. 1974: The Political Culture and Behaviour of Latin America, The Kent State University Press, 92 und Grebendorf!", W. 1974: Lateinamerika - wohin? Informationen und Analysen, 3. Aufl., München, 127. Die beiden letzteren Autoren vertreten im Falle der Dominikanischen Republik, allerdings ohne Quellenangaben, die Ansicht, daß sich die Kirche gegen das Regime von Trujillo gewandt habe. Ebenso Tannenbaum 1964, 52. 104 Zur deutschen Fassung des Hirtenbriefes siehe Herder Korrespondenz (HK) 11. Heft, 14. Jg., August 1960: "Kommunistische Gefahr in Kuba. Ein Hirtenbrief des Erzbischofs von Santiago de Cuba", 501-503. 105 Zum Hirtenbrief des Episkopats in deutscher Sprache siehe HK 3. Heft, 15. Jg., Dezember 1960: "Die Kirche und die soziale Revolution in Kuba", 124-128, 126ff.

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tra, als ob sie zu einem Kreuzzug aufbrächen. Ihre Frauen und Töchter aber marschierten, mit dem Rosenkranz in der Hand, in den Städten.. .Wir würden gerne wissen, wie viele Kommunisten das für die Revolution getan haben. Aber im Kampf für die Revolution dachte niemand daran, daß uns einmal die eiserne Faust des Kommunismus drohen werde106. Zahlreiche Mitglieder der Katholischen Aktion, der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ) und nicht zuletzt katholische Geistliche hatten mit Wissen ihres Bischofs an dem Befreiungskampf teilgenommen. Die Kommunisten Kubas stießen dagegen erst zu Castro, als dessen Sieg zweifelsfrei feststand. Noch kurz nach dem Sieg der Revolution hatte Castro anerkennende Worte für die katholischen Mitstreiter gefunden, die seiner Einschätzung nach "die Sache der Freiheit aufs entschiedenste unterstützt haben"107. Dieser kurze Überblick über Beiträge der katholischen Kirche zum politischen Wandel in Lateinamerika vor dem II. Vatikanischen Konzil soll genügen, um das weitverbereitete Bild einer durchweg sozial-konservativen und fortschrittsfeindlichen religiösen Institution zu relativieren. Für die langen historischen Zeiträume, die zwischen den aufgeführten Beispielen und bis zu Beginn der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts liegen, läßt sich jedoch die These Friedrich Wehners schwerlich widerlegen, daß der Katholizismus in Lateinamerika den geistigen Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit ungebührlich verzögert hat 108 : Die katholische Kirche hat in ihrem engen Bündnis mit Oligarchie und Diktatur den blinden Glauben an die Obrigkeit konserviert und dazu beigetragen, daß die rückständige Sozialstruktur bewahrt und der Weg in eine demokratische Entwicklung versperrt wurde. Sie ist es vor allem, die den Spanischamerikaner immun machte gegen die Ideen der Aufklärung, die die geistige Auseinandersetzung mit den Ideen des 17. und 18. Jahrhunderts gehemmt hat und den Weg Spanischamerikas in die Neuzeit noch heute so viel beschwerlicher sein läßt als irgendwo sonst. Interessant ist auch die These Wehners, daß die besondere Neigung zu charismatischen Führertum in Lateinamerika vom katholischen Glauben herstamme. Diesem religiösen Glauben entspreche der Wunsch, sich von der unvollkommenen und ungewünschten irdischen Realität zu befreien und im Gegensatz zum pragmatischen Liberalismus nach "totalen" Lösungen magischer Art zu suchen. Eine solche Weltsicht begründe die Neigung zu messianischen Träumen und zum charismatisch-messianischem Führertum. Dem i°6 Auszüge aus diesem Hirtenbrief in: HK 3. Heft, 15. Jg., Dezember 1960,127/128. 107 Vgl. Noggler, O. 1981: "Kuba", in Prien (Hrsg.), Lateinamerika. Gesellschaft - Kirche - Theologie, Band Aufbruch und Auseinandersetzung, Göttingen, 273-303, 279f. 108 Hierzu siehe Wehner, F. 1970: "Historische und geistige Grundlagen des demokratischen Gedankens in Spanischamerika", in: Verfassung und Recht in Übersee (VRÜ) 3. Jg., 285-308, 297 (Zitat) ff.

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Wunderglauben der katholischen Kirche sei der Indio ebenso verfallen, wie die lateinamerikanischen Freiheitshelden auffällig glorifiziert würden. Sogar die Führergestalt Fidel Castros sei von einer chiliastisch-messianischen Aura umgeben ("altamente müenario-mesiänico y no secular"). Die Bischofskonferenzen als "Ersatzopposition Zur Typologie oppositioneller Akteure in autoritären Regimen Charakteristisch für das politische Engagement der katholischen Kirche in Lateinamerika vor dem II. Vatikanischen Konzil war die weiter oben angedeutete, zeitlich und räumlich nur vereinzelt auftretende oppositionelle Tätigkeit. Die Regimekritiker aus Kirchenkreisen konnten sich - neben den kaum rezipierten und verbreiteten päpstlichen Rundschreiben - auch an keinen gemeinsamen überregionalen Beschlüssen orientieren. Erst mit den Dokumenten von Medellin (1968) und später Puebla (1979) wurde ein regionaler Orientierungsrahmen geschaffen, der den nationalen kirchlichen Institutionen eine koordinierbare und von Rom weitgehend sanktionierte oppositionelle Tätigkeit in autoritären Regimen ermöglichte. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden der Frage nachgegangen, auf welche Weise oppositionelles Verhalten in autoritären Regimen möglich ist und wie besonders die Tätigkeit der Bischofskonferenzen als "Ersatzopposition" typologisiert werden kann. Der im Rahmen der Autoritarismusforschung bereits erwähnte Handbuchbeitrag von Linz gehört zu den wenigen Studien, in denen auch die Rolle der katholischen Kirche als oppositionelle Institution erkannt und behandelt wird. In seiner allgemeineren Charakterisierung von autoritären Regimen geht Linz auf die Bedeutung von Oppositionsgruppen ein und stellt fest, daß die Opposition oftmals in formell unpolitische kulturelle, religiöse und berufliche Organisationen kanalisiert wird. Der katholischen Kirche komme jedoch eine spezielle Position in diesem kontrollierten Oppositionsspektrum zu. Die Kirche als Institution und die zu ihr gehörenden zahlreichen Organisationen verfugten im Gegensatz zu anderen Gruppierungen über eine deutlich größere Autonomie gegenüber den autoritären Machthabern. Sie werde so zum Sammelbecken der unzufriedenen sozialen Schichten, kulturellen Minderheiten, Protestbewegungen der Jugendlichen, neben vielen anderen Aspekten. Zudem entstehe aus diesen Gruppen ein neuer Führungsnachwuchs. Außerdem weist Linz auf die paradoxe Situation hin, daß die Kirche einerseits durch ihre Laieninstitutionen oftmals die autoritären Eliten selbst hervorgebracht hat, die Dissidenten dann aber geschützt, den Machtmißbrauch der Regierungen angeklagt und die Respektierung moralischer Normen gefordert hat. Er stellt ferner fest, daß die katholische Kirche jedes politische System überlebe. In historischen Perioden, in denen sie auf der Seite eines im Niedergang befindlichen Regimes stand, und in Phasen des politischen und gesellschaftlichen

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Umbruchs verfüge sie stets über die Fähigkeit, die alten Bindungen zu lösen und ihre Autonomie wiederzugewinnen109. Wenn es darum geht, die Bischofskonferenzen als oppositionelle Kraft zu beurteilen, so muß auch versucht werden, die besondere Qualität ihrer Opposition zu charakterisieren. Linz unterschied in einem früheren Beitrag am Beispiel seiner Analyse über die autoritäre Franco-Ära hinsichtlich der Oppositionsformen zwischen einer tolerierten legalen Semi-Opposition innerhalb des autoritären Regimes und Formen des alegalen und illegalen Widerstandes, die sich mehr oder weniger außerhalb des Systems bewegen. Die Semi-Opposition, teilweise auch als Pseudo-Opposition bezeichnet, besteht nach seiner Definition aus "those groups that are not dominant or represented in the government group but that are willing to participate in power without fundamentally challenging the regime"110. Im Gegensatz zur SemiOpposition zielt dagegen die alegale Opposition auf "a basic change in the regime and in its political institutions and to a large extent a basic change in the social and economic structure"111. Aus einer formaljuristisch legalen Position innerhalb des Systems heraus handelt letztere mit ihren Aktivitäten nicht im Geiste des vom Regime vorgegebenen verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Rahmens. Die Grenzen zwischen Semi-Opposition und alegaler Opposition sind nach Linz fließend und weitgehend von der jeweiligen Reaktion des Regimes her definierbar. Dies gilt auch für die nach jeweiliger Interpretation des Regimes als "illegal" eingestuften Opposition, die entweder toleriert oder auf verschiedenen Niveaus der Repression als solche verfolgt wird. Beispiel für eine legale semi-oppositionelle Tätigkeit war bei den Fallstudien dieser Arbeit zu Beginn der Millitärherrschaft in Brasilien die offiziell tolerierte Oppositionspartei MDB. Sie betätigte sich in einem dekretierten Zwei-Parteiensystem mit institutionalisiertem Wahlbetrug und wiederholten Manipulationen der Wahlgesetzgebung zur Sicherung der Vorherrschaft der Regierungspartei ARENA 112 . Die Position zahlreicher Politiker innerhalb der MDB wandelte sich dann im Laufe der Zeit zu einer alegalen bis illegalen Opposition. In Chile blieben alle politischen Parteien während der autoritären Herrschaft verboten. Sie waren "illegal", existierten jedoch nach wie vor, und

109 Vgl. Linz 1975, 272f. 110 Linz, J.J. 1973a: "Opposition to and under an Authoritarian Regime: The Case of Spain", in: Dahl, R.A. (ed.), Regimes and Oppositions, New Häven/London, 171-259, 191. in Linz 1973a, 219. 112 Siehe hierzu im Detail Kinzo, M.D.G. 1988: Legal Opposition Politics under Authoritarian Rule in Brazil: The Case of the MDB, 1966-79, London. Die rein empirisch orientierte Studie geht auf keine Typologie und kein theoretisches Konzept ein.

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die Grundstrukturen des Parteiensystems blieben erhalten. Unter ihnen trat die christdemokratische Partei PDC als aktivste oppositionelle Gruppe hervor113. Auch regimekritische Interessengruppen wurden in beiden Ländern verboten, verfolgt oder aber kontrolliert bzw. instrumentalisiert. Zwar gab es der Bezeichnung nach auch offizielle und legale Interessenverbände, wie z.B. Unternehmerverbände. Bei diesen herrschte jedoch in der Regel eine weitgehende Interessenidentität mit den Machthabern, meist aufgrund der für sie günstigen Wirtschaftspolitik. Sie konnten einerseits in bestimmten Bereichen Sonderrechte für ihre Klientel vermitteln, wie etwa besondere Unterstützung hinsichtlich der Vergabe staatlicher Konzessionen, andererseits die Unterdrückungsmechanismen zum eigenen Vorteil nutzen (Lohnstopp, Ausschaltung der Gewerkschaften, Eingriffe des Militär bei Streiks usw.). Als Formen alegaler Opposition nennt Linz die regimekritische Tätigkeit von Studentenorganisationen und Intellektuellen bzw. Professoren114. In den Fallbeispielen Brasilien und Chile bewegten sich Studentenverbände neben regimekritischen Persönlichkeiten und anderen Gruppen aus dem universitären Bereich je nach Ausmaß ihres oppositionellen Engagements in der Gefahrenzone zwischen Legalität und Illegalität. In Phasen der Liberalisierung konnten dann Interessengruppen begrenzt oppositionell tätig werden, wie in Brasilien die Rechtsanwaltskammer OAB oder der Presseverband ABI und in Chile die von verbotenen politischen Parteien unterstützte Menschenrechtskommission CCHDH. In einer solchen Situation konnte den Bischofskonferenzen eine Rolle zukommen, die Theodor Hanf wie folgt beschrieben hat: Wo es keine Parteienvielfalt gibt, keine freie Presse, keine demokratischen checks and balances, da bieten sich religiöse Organisationsformen als Basis für Opposition an. Ob in Brasilien, in Zaire oder auf den Philippinen: Der Kardinal wird quasi automatisch zum Oppositionsführer, wenn es keinen anderen gibt, und in Ermangelung freier Zeitungen werden selbst Hirtenbriefe zu spannender Lektüre115. In seinem Beitrag von 1973 nimmt Linz jedoch keine klare Einordnung der katholischen Kirche nach seiner Typologie vor. Er spricht sie in den Abschnitten über "The Alegal Opponents" und "The Bases of Opposition" an, 113 In der Studie von Gleich, M. 1991: Chile: Spielräume der demokratischen Opposition zwischen Diktatur und Demokratie, Saarbrücken/Fort Lauderdale, wird die hier behandelte Typologie von Linz auf S. 59 kurz erwähnt. Laut Untertitel handelt es sich um "Eine politische Transformationsstudie mit einer Falluntersuchung über die Opposition in Rancagua, der Hauptstadt der VI. Region »Bemardo O'Higgins«."

Vgl. Linz 1973a, 212. i' Hanf, T. 1986: "Modernisierung ohne Säkularisierung? Versuch über religiöspolitische Ideologien in der Dritten Welt", in: Deutsche Gesellschaft für Politikwissenschaft (Hrsg.), Die Bedeutung der Ideologien in der heutigen Welt, Heft 3 (Sonderheft der Zeitschrift für Politik), Köln u.a., 129-152, 142. 5

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weist dann aber nur darauf hin, daß die Kirche manchmal oppositionelle Strömungen zu kanalisieren versuche. Seine Schwierigkeiten mit einer Einordnung der Kirche mag an den konstatierten "winds of change blowing in the church" und dem tiefen Riß innerhalb der Hierarchie in dieser Ära zusammenhängen. Die ursprüngliche kirchliche Unterstützung des Franco-Regimes wurde seiner Ansicht nach durch diese Entwicklungen untergraben. Nach der innerkirchlichen Öffnung durch das II. Vaticanum wandelte sich die Kirche dann zu "one of the bases of structural Opposition". Durch die Identifikation des Regimes mit dem Katholizismus eröffnete sich zudem für Kirchenvertreter die Gelegenheit, die autoritäre Herrschaft "legally" an dem damit verbundenen Anspruch zu messen, was bei den Adressaten im Falle des Franco-Regimes erhebliche Verärgerung hervorgerufen habe 116 . Betrachtet man dagegen die ab einem bestimmten Zeitpunkt klare Absage der Bischofskonferenzen an das autoritäre Regime in Brasilien und Chile und ihr im Widerspruch zum Geist der Verfassungs- und Gesetzgebung der Militärherrscher stehendes Engagement, so kann sie in diesen Fällen ohne Schwierigkeiten als alegale Opposition typologisiert werden. In den zu behandelnden Fallbeispielen gab es außer der katholischen Kirche keine gleichermaßen rechtlich abgesicherte Institution oder intermediäre Gruppe mit ähnlicher geistlicher und weltlicher Aufgabenvielfalt. In einem weitgehenden Vakuum bürgerlicher Interessenrepräsentation haben die Bischofskonferenzen somit ersatzweise auch bestimmte Funktionen von politischen Parteien übernommen und wie diese zur politischen Willensbildung des Volkes beigetragen, etwa durch Aufrufe an das Regime, die Menschenrechte zu achten und das politische System zu demokratisieren117. Daß sie im Vergleich zu den politischen Parteien und den Politikern nur eine Ersatzfunktion ausüben konnte und wollte, wird durch mindestens zwei Beschränkungen deutlich: Sie hat keine konzeptionelle politische Alternative - wie z.B. einen alternativen Verfassungsentwurf oder ein Regierungsprogramm - angeboten und sie war nicht bereit, auf irgendeine Art und Weise Regierungsverantwortung mit zu tragen. Darüber hinaus war sie auch Ersatzopposition an Stelle verbotener Interessengruppen, wie Studentenverbänden, Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen, deren Führern und Mitgliedern sie unter ihrem (juristischen) Dach Schutz und alternative Entfaltungsmöglichkeiten bieten konnte. Die Kirche kann somit in autoritären Regimen über die Bischofskonferenzen eine Doppelfuktion erfüllen: Sie tritt im weltlich-politischen Bereich in eigenem Namen gegen das Regime auf und wirkt dadurch auch komplementär als

ne Linz 1973a, 212 und 238. " 7 Hierzu auch Hermet, G. 1973: "Les fonctions politiques des organisations religieuses dans les régimes a pluralisme limité", in: Revue Française de Science Politique, 23, 439472,445ff.

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Ersatzopposition für politische Parteien und Interessenverbände, deren Tätigkeit verboten oder erheblich eingeschränkt wird. Bei einer Einordnung der Bischofskonferenzen in autoritären Regimen wie Brasilien und Chile als "alegal opponent" erscheint es in Ergänzung der Typologie von Linz sinnvoll, auch die offizielle kirchliche Reformstrategie mit einzubeziehen. In der Diskussion um erfolgversprechende Demokratisierungswege oppositioneller politischer Akteure wird zwischen der "ruptura"- (Regimesturz) und der "reforma"- (Reform) Strategie unterschieden118. Bei den Möglichkeiten zur Herbeiführung eines Regimesturzes kann man wiederum zwischen einer nicht-revolutionären und einer revolutionären Variante differenzieren. Erstere setzt idealtypisch voraus, daß eine vereinte Opposition mit Unterstützung des Volkes das Regime auf weitgehend gewaltfreiem Wege über Streiks und Massendemonstrationen zum Rücktritt zwingt. Dies könnte jedoch nur unter außergewöhnlich günstigen Rahmenbedingungen gelingen. Ein revolutionärer Aufstand zielt auf eine gewaltsame Machtübernahme und weist der politischen Mobilisierung der Bevölkerung nur eine ergänzende Funktion zu. Die zweite Variante eines friedlichen politischen Wandels durch Reformen geht davon aus, daß sich die gemäßigten Kräfte innerhalb der Regimeelite wie auch der Opposition zu Verhandlungen und Kompromißlösungen bereit finden. Letztere müssen dann den Hardlinern im jeweiligen Lager erfolgreich vermittelt werden. Verbindet man mit dem Begriff "katholische Kirche" die gesamte Gemeinschaft der durch christlichen Glauben verbundenen Personen, so kann davon ausgegangen werden, daß innerhalb wie außerhalb des Klerus jede der aufgeführten Oppositionsformen und Reformstrategien, einschließlich einer Befürwortung des autoritären Regimes, wiederzufinden ist. Besonders deutlich wurde dies im Untersuchungszeitraum bei revolutionär und regimefeindlich orientierten Priestern auf der einen und fundamentalistischen regimefreundlichen Bischöfen auf der anderen extremen Seite des Spektrums. Eine mehrheitliche, verbindliche und politisch offizielle Position der Institution Kirche wurde dem autoritären Regime nur von den hier im Mittelpunkt des Interesses stehenden Bischofskonferenzen in Form von öffentlichen Verlautbarungen oder auf anderen Kommunikationswegen vermittelt. So verstanden haben die Bischofskonferenzen in Brasilien und Chile als alegale Opposition eine "reforma"-Strategie stets angestrebt und alle politischen Kräfte auf diesem Wege unterstützt119. Der historisch erste Schritt bestand zunächst im Versuch einer Liberalisierung, die den Autoritarismus 118

Zu den beiden Haupttypen von Redemokratisierungsstrategien siehe Krumwiede, H.W./Nolte, D. 1988: Probleme der Redemokratisierung Chiles, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-S 347, Mai, Ebenhausen, 17ff. 119 Siehe hierzu weiter unten im Abschnitt Vom II. Vatikanischen Konzil zu Medellin und Puebla die Ausfuhrungen zu Populorum Progressio und dem Problem der Durchsetzungsfähigkeit von sozialen Reformen sowie des Widerstandsrechts in Diktaturen.

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allerdings hätte konsolidieren helfen können. Dieser Balanceakt war auch für den oft mühsamen Entscheidungsfindungsprozeß innerhalb der Episkopate wichtig. Dadurch konnten konservative Bischöfe, die zwar für die Respektierung der Menschenrechte, nicht aber für ein kirchliches Engagement zugunsten einer Systemtransformation zu gewinnen waren, den geplanten Verlautbarungen die notwendige Stimmenmehrheit verschaffen. Für Chile stellte Hugo Villega fest: Si l'Église s'affronte au régime avec une attitude critique, il s'agit toutefois d'une critique «corrective» et intérieure au système qui ne cherche pas la rupture mais plutôt «l'humanisation» de la domination120. Die Reformstrategie der Bischofskonferenzen zielte jedoch nach den Mißerfolgen bei den Bemühungen um eine Liberalisierung und Phasen der Verhärtung der Regime grundsätzlich auf das weitergehende Konzept der Demokratisierung hin. Die Lockerung der Repression wurde schließlich pragmatisch als Tendenz zur Humanisierung des Systems und als Chance zur Wiederaufnahme eines Dialoges der oppositionellen Gruppen mit den gemäßigten Fraktionen des Regimes gesehen, verbunden mit ersten Freiräumen zur Artikulation und Profilierung der Opposition. Die Frage, ob jeweils nur eine Lieberalisierung innerhalb vorgegebener Grenzen vorlag oder aber bereits der Anfangspunkt einer Systemtransformation erreicht wurde, blieb unter den oppositionellen Akteuren zunächst offen - selbst wenn der Präsident eine (jederzeit zurücknehmbare) schrittweise Demokratisierung des Regimes verkündete. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß es mit Nikaragua auch einen abweichenden Fall von der "reforma"-Strategie gab, neben den in der Einleitung zu dieser Arbeit erwähnten Ländern, bei denen sich die Bischofskonferenzen politisch eher moderat bis passiv verhielten. Ausgehend von dem in Medellin geprägten Begriff der "Institutionalisierten Gewalt" hat der Erzbischof von Managua im Jahre 1979 wenige Tage vor dem Sturz der SomozaDiktatur Bezug auf die Wahrnehmung eines Widerstandsrechtes in besonderen Ausnahmesituationen genommen. Möns. Obando y Bravo bezeichnete den Kampf gegen die Diktatur nunmehr im Sinne einer revolutionären "ruptura"Strategie als "gerechten Krieg"121, obwohl er noch zwei Jahre zuvor in seiner 120 Villega G., H. 1979: "The Church and the Process of Democratization in Latin America", in: Social Compass XXVI, 2-3, 261-283, 261. 121 Vgl. Werz, N. 1983: "Die Beziehungen zwischen Kirche und Revolutionsregierung in Nicaragua", Amold-Bergstraesser-Institut, Aktuelle Informations-Papiere zu Entwicklung und Politik Nr. 7, Freiburg, 9. Werz bezieht sich auf ein Interview des Erzbischofs mit der spanischen Tageszeitung El Pais am 8.7.1979: "Der Krieg gegen die Gewalt in Nicaragua ist gerecht" und gibt einen Teil der Ansichten Obando y Bravos wieder: "Dieser Krieg ist Gegengewalt. Und die Gegengewalt ist angesichts einer Situation permanenter Ungerechtigkeit gerechtfertigt, wenn alle friedlichen Mittel erschöpft sind und man sieht, daß sich die Situation noch weiter verschlechtern wird. Niemals darf man die institutionalisierte Gewalt, die Gewalt von oben mit denselben Maßstäben beurteilen wie die Gegengewalt, die Gewalt von

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Weihnachtsbotschaft von 1977 den einzigen Ausweg in der aktiven Gewaltlosigkeit gesehen hatte122. Nach dem Sieg der Sandinisten kam es zu einer Spaltung der Kirche. Eine den links-revolutionären Prozeß mittragende, befreiungstheologisch orientierte "Volkskirche" stellte mit den Priestern und Brüdern Ernesto Cardenal (Kultus) und Fernando Cardenal (Erziehung) vorübergehend zwei Minister. Auf der anderen Seite stand ein sich immer mehr zur "Kirche der politischen Opposition" entwickelnder Flügel um Erzbischof Obando y Bravo123.

unten. Wer hat angefangen? Ebensowenig darf man den Guerillero als einen Terroristen bezeichnen. Bei meinem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland habe ich gesehen, daß es für die dortigen Bischöfe sehr schwierig ist, dies zu verstehen". 122 Vgl. Weber, W. 1984: "Kirche und Politik in Lateinamerika", in: Politische Studien, Nr. 277,464-483,479. 123 Zu den Beziehungen zwischen Kirche und Revolutionsregierung in Nikaragua vgl. Werz 1983 und Berryman, P. 1984: The Religious Roots of Rebellion. Christians in Central American Revolutions, Maryknoll/New York, 230ff.

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2. Z u m kirchlichen Wandel in Lateinamerika 2.1. Das neue kirchliche Selbstverständnis

Die lateinamerikanische Kirche vor dem II. Vatikanischen Konzil Fragt man nach den Ursachen des grundlegenden kirchlichen Wandels ab den 60er Jahren in Lateinamerika, so ist zunächst festzustellen, daß sich überlieferte innerkirchliche Defizite im Laufe der länderübergreifenden gesellschaftspolitischen Modernisierung zu existenziellen Problemen entwickelten. Die Kirche verlor durch einige hier exemplarisch aufgezählten Problemfelder zusehends die Fähigkeit, die Bevölkerung für sich zu gewinnen und an sich zu binden. Hierzu haben Aspekte wie strukturelle und organisatorische Mängel, der chronische Priestermangel, die Privatisierung des Glaubens, die enge Bindung an die herrschenden Oberschichten, die damit verbundene finanzielle Abhängigkeit, die weitverbreitete "moralische Konfusion" und schließlich die gesamtgesellschaftliche Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beigetragen. Insgesamt betrachtet waren die kirchlichen Eliten aufgrund der vorhandenen strukturellen und organisatorischen Defizite nicht in der Lage, nach außen hin eine einheitliche religiöse Position zu vertreten. Das traditionelle System kirchlicher Organisation war durch Dezentralisierung, extrem unkoordinierte regionale und diözesane Aktivitäten sowie eine insgesamt ineffektive Gesamtstruktur gekennzeichnet. Die Kirche existierte sowohl auf dem Kontinent wie auch in den einzelnen Ländern nur in Form von isolierten Einheiten, wobei jede fast ausschließlich der lokalen und aktuellen Situation verbunden blieb. Die hierarchischen Strukturen, die Prioritätensetzung und das Kommunikationsnetz waren defizitär, mit Hindernissen belastet und konfus124. Im Hinblick auf den chronischen Priestermangel stellte Paulus Gordan für die 50er Jahre dieses Jahrhunderts für Brasilien fest, daß 7000 Priester 58 Mio. Katholiken gegenüberständen125. Viele Diözesen hätten, wie er an einem Fall darlegt, ein Einzugsgebiet von etwa 30.000 qkm (also der Größe Bel-

124 Vgl. Vallier, I. 1967: "Religious Elites: Differentiations and Developments in Roman Catholicism", in: Lipset, S.M./Solari, A., Elites in Latin America, New York, 190-232, 191f. 125

Auf das Problem des Priestermangels wird im Schrifttum wiederholt mit weiterführender Literatur hingewiesen. Vgl. König, H.-J. 1989, 724 und Prien, H.-J. 1978: Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika, Göttingen, 1063ff. Hierzu ferner Promper, W. 1965: Priesternot in Lateinamerika, Lovaina und Tibesar, A. 1966: "The Shortage of Priests in Latin America. A Historical Evaluation of Werner Promper's Priesternot in Lateinamerika", in: The Americas 22, 413^120. Für Brasilien unter Berücksichtigung der Gesamtproblematik siehe Busjan, C. 1960: "Priester und Priestemachwuchs im Urteil der Brasilianer", in: Jahrbuch des Instituts für christliche Sozialwissenschaften, 1. Band, 129-138.

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giens)126 mit einem rudimentären Verkehrsnetz, auf dem zerstreut 200.000 Gläubige lebten, für die ein Bischof und 11 Priester zuständig wären. Dem skeptischen Beobachter versicherte dieser Bischof jedoch, daß "das Glaubensleben seiner Herde verhältnismäßig intakt geblieben sei"127. An dieser Stelle ist auf die herausragende Rolle der religiösen Orden beim Aufbau der Kirche in Lateinamerika und zum personellen Ausgleich des Mangels an Weltpriestern hinzuweisen. Die Mission begann 1500 mit den Franziskanern. Ihnen folgten die Dominikaner (1509), die Mercedarier (1514), die Augustiner (1533), die Jesuiten (1565) und schließlich die Kapuziner (165 7) 128 . Hier ist das über 150 Jahre währende "heilige Experiment" der Jesuitenreduktionen ab 1610 im heutigen Argentinien, Paraguay und Brasilien und die Missionsarbeit der bayrischen Kapuziner ab 1896 in Chile hervorzuheben. Ebenfalls in Chile prägte die Gesellschaft Jesu in besonderem Maße ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts das intellektuelle Leben und machte sich bei der "Katholischen Aktion", im Bildungsbereich sowie durch ihr soziales Engagement verdient. Im Jahre 1958 wurde die "Confederación Latinoamericana de Religiosos - CLAR" gegründet, deren Erhebungen in eindruckvoller Weise die Bedeutung der Orden in Lateinamerika unterstreichen. Ihre erste Statistik vom Jahre 1960 weist für gesamt Lateinamerika 185.050.000 Katholiken auf, denen 18.647 Weltpriester und 19.464 Ordensgeistliche gegenüberstehen. Die Zahl der Mitglieder weiblicher Kongregationen betrug zur gleichen Zeit etwa 113.000129. Im Jahre 1970 war die Anzahl der männlichen Ordensmitglieder auf 39.813 und die der Ordensschwestern auf 130.187 angestiegen. Bis 1987 gingen diese Zahlen zurück auf 27.610 bzw. 125.6 1 0 130 . Die Kluft zwischen kirchlichem Engagement und den religiösen Bedürfnissen der Bevölkerung wurde von der Kolonialzeit an als fester Bestandteil des katholischen Lebens hingenommen. Diese Situation führte in weiten Kreisen 126

Diese entspricht noch im Jahre 1987 der durchschnittlichen Größe einer Diözese in Brasilien. Vgl. Annuarium Statisticum Ecclesiae 1987, Secretaria Status, Ex Urbe Vaticana, 62. Zur Struktur der Kirche in verschiedenen Ländern Lateinamerikas siehe femer Houtart, F./Pin, E. 1965: The Church and the Latin American Revolution, New York, 145-158. 127 Vgl. Gordan, P. 1957: "Katholisches Brasilien? Die Kirche in Lateinamerika - Klischee und Wirklichkeit", in: Wort und Wahrheit, 12. Jg., 1. Halbjahr, 405-420, 413. Zur Situation der Kirche in Brasilien während der 50er und 60er Jahre mit zahlreichen Statistiken siehe Pro Mundi Vita. Centrum Informationis, 24/1968: "El Brasil: Una Iglesia en Renovación", Bruxelles. Die Bestandsaufnahme stammt von Godofredo Deelen und erschien wie alle Ausgaben der Zeitschrift in fünf Sprachen, einschließlich in deutsch. 128 Vgl. Meier, J. 1992: "The Religious Orders in Latin America: A Historical Survey", in: Dussel, E. (ed.), The Church in Latin America: 1492-1992, Maryknoll, 375-390, 376 und Prien 1978, 142ff. 129 Vgl. Meier 1992, 386 und Dussel, E. 1992: Historia de la Iglesia en América Latina. Medio milenio de coloniaje y liberación (1492-1992), Madrid, 332. 130 Vgl. Cardenás, E. 1992: La Iglesia Hispanoamericana en el Siglo XX (1890-1990), Madrid, 119ffmit weiteren statistische Daten.

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der Bevölkerung zu einer Privatisierung des Glaubens mit einem auf den Familienkreis beschränkten (Haus-) Heiligenkult, in dessen Rahmen auch die Muttergottesverehrung große Verbreitung fand. Reiche Familien ließen sich die Messe von ihrem Hauskaplan in Privatkapellen lesen. Im traditionellen Plantagensystem in Brasilien war der auf der "fazenda" tätige Padre so stark in die patriarchalische Familie eingebunden, daß er nach Gilberte Freyre eher als Onkel oder älterer verwitweter Großvater denn als Priester, der seinem Bischof unterstand, betrachtet werden konnte131. Die enge Bindung an die herrschenden Oberschichten hatte für die Kirche auch einen pragmatischen Grund, der in der fast vollständigen finanziellen Abhängigkeit im 16.-18. Jh. zunächst von der Krone und nach der Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten ab dem 19. Jh. von den herrschenden Eliten konservativer Provenienz lag. Umgekehrt konnte sie während der rund 300-jährigen Kolonialzeit in Lateinamerika unter dem Schutz der Staatsmacht ein Religionsmonopol erhalten. Durch das System des Staatskirchentums übten die Könige und Vize-Könige eine fast schrankenlose Kontrolle über die Kirche aus, die zum Ausgleich wichtige und wertvolle Privilegien wie das Monopol über das Erziehungs-, Gesundheits- und Wohlfahrtswesen erhielt132. Hinzu kamen das Recht auf Erhebung von kirchlichen Sondersteuern, Pfründe, die Übernahme von einflußreichen Positionen in Verwaltung und Politik und nicht zuletzt ihre Besitztümer133. Zu Beginn des 19. Jh. verfügte die Kirche in den neuen unabhängigen Republiken Spanischamerikas über den größten Anteil an Grundbesitz, nach Angaben von Victor Alba rund ein Fünftel der ehemaligen Kolonialgebiete. Der Boden bildete zur damaligen Zeit die Haupteinnahmequelle. Ein Großteil der Stadtbewohner zahlte seine Mieten an die Kirche134. Der Streit zwischen Konservativen und Liberalen um Reichtum sowie wirtschaftliche und gesellschaftliche Macht der Kirche prägte neben den Ausein131

Vgl. Freyre, G. 1959: New World in the Tropics. The Culture of Modern Brazil, New York, 87. Zur Entwicklung der Kirche in Brasilien von 1916-1964 siehe Cava, R. Deila 1976: "Catholicism and Society in Twentieth Century Brazil", in: Latin American Research Review-LARR, Vol. XI, Nr. 2, 7-50. 132 Zum Patronatsrecht siehe mit weiteren Literaturhinweisen August, N. 1985: Staat und Kirche in Lateinamerika. Das Verhältnis von Staat und Kirche in den Verfassungen, im Erziehungs- und Bildungswesen und im Eherecht in den Ländern des Cono Sur, München, 17ff und Lembke, I. 1975: Christentum unter den Bedingungen Lateinamerikas. Die katholische Kirche vor den Problemen der Abhängigkeit und Unterentwicklung, Bern/Frankfurt a.M., 13f. 133 Vgl. Vega, L.M. 1977: "Die Krise der lateinamerikanischen Kirche", in: Berichte zur Entwicklung in Spanien, Portugal und Lateinamerika, Heft 14, 11-17, 11. 134 Vgl. hierzu Alba, V. 1973: Die Lateinamerikaner. Ein Kontinent zwischen Stillstand und Revolution, Zürich, 72f und 98ff. "The vast wealth of the colonial clergy was notorious" schrieb Mecham, J.L. 1960: Church and State in Latin America. A History of Politico-Ecclesiastico Relations, Revised Edition, Chapel Hill, 38ff und führte weitere Beispiele an.

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andersetzungen um Föderalismus oder Zentralismus das 19. Jh. und führte auf friedlichen oder kämpferischen Wege in jedem Staate Lateinamerikas zu einer eigenen Lösung der Kirchenfrage135. In den meisten Ländern Lateinamerikas kam es zu einer Trennung zwischen Kirche und Staat, wie z.B. in Brasilien durch ein Dekret im Jahre 1890 und in Chile durch die Verfassung von 1925. Andererseits blieb in Argentinien der römisch-katholische Glaube bis zum heutigen Tage nach dem Wortlaut des Art. 2 der Verfassung von 1853 die "offizielle Religion"136. Trotz dieser schwierigen Zeiten gelang es der Kirche in der Mehrzahl der neuen Republiken ihre einflußreiche Position, zahlreiche Privilegien und von diesen besonders das Erziehungsmonopol zu erhalten. Unterstützung fand sie weiterhin durch die konservativen Kräfte, an die sie aufgrund ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den Liberalen, die oft Freimauerer waren, gebunden blieb. Zum Ausgleich verteidigte sie den sozialen Status quo, wobei ihr zugute kam, daß auch die Liberalen die fortbestehenden oligarchischen Gesellschaftsstrukturen nicht in Frage stellten. Die Abhängigkeit von finanziellen Zuwendungen und Sonderrechten durch den Staat oder die konservativen Eliten blieb damit prinzipiell ebenso erhalten wie die Instrumentalisierung des Glaubens zugunsten wirtschaftlicher und politischer Interessen. So berichtete ein Franziskaner noch für das Jahr 1964 von einer fast neo-kolonialen Situation auf brasilianischen Fazendas, die nur rund 120 km von der Metropole Rio de Janeiro entfernt lagen. Die örtliche Pfarrei lebte auf Kosten der mächtigen, traditionell sozial-konservativ eingestellten Gutsherrn in ihrer Umgebung und war auf deren Wohlwollen angewiesen. Die Großgrundbesitzer ließen die Pfarrkirchen erbauen, spendeten regelmäßig Vieh für die kirchlichen Feste und traten gerne als Wohltäter auf. Der junge Priester aus Deutschland erhielt von ihnen "weise Ratschläge" und "moralische Ermahnungen", um seine Predigten auf die gewünschte Weise zu formulieren. Für die ländliche Oberschicht war die Kirche seit jeher ein "religiöser Apparat", der eingesetzt wurde, um die Leistungsfähigkeit der Landarbeiter und damit die eigenen Gewinnspannen zu steigern, wobei das Volk aber nicht "zu religiös", d.h. zu unproduktiv werden sollten. Unter Einbeziehung der 80er Jahre resümierte Pater Gärtner diese Situation vor Ort zu Beginn der 60er Jahre wie folgt: Mit einem Wort, ohne sie (die Fazendeiros) konnte der Pfarrer nichts fertig bringen, nichts bauen, nichts aufrecht erhalten; er konnte sich nicht 135 Vgl. Drekonja-Kornat, G. 1971: "Religion and Social Change in Latin America", in: LARR, Vol. VI, Nr. 1, 53-72, 56f und Vega 1977, 11. 136 Der Streit der Verfassungsväter um die Frage, ob die Anerkennung einer Staatsreligion mit dem Postulat der Gewissensfreiheit vereinbar sei, führte zu einer eher unbestimmten Formulierung des betreffenden Artikels: "Die Bundesregierung unterstützt die römischkatholische Religion". Hierzu Prien 1978, 579 und Mecham 1960, 235.

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fortbewegen, ernähren, leben...Diese Wirklichkeit bestand etwa vier Jahrhunderte in Brasilien, und leider besteht sie mancherorts immer noch weiter137. Nach Ivan Vallier erwiesen sich solche ökonomischen Sachzwänge in Verbindung mit dem beschriebenen traditionellen Selbstverständnis der Kirche als Behinderungselemente für die Herausbildung eines allgemein gültigen christlichen Wertesystems in den lateinamerikanischen Gesellschaften138. Anstatt religiös geprägte Wertvorstellungen aus einer überparteilichen Position heraus zu verbreiten, vermittelten die meist von der Oberschicht und der jeweiligen politischen Führung abhängigen Kirchenvertreter eher moralische Konfusion. Die Vorstellung davon, was als moralisch legitim bzw. "gut" zu betrachten sei, konnte von den weltlichen politischen Kräften im Sinne ihrer jeweiligen politischen Ziele modifiziert werden. Die unglückliche Verbindung zwischen moralischer Autorität und politischer Macht prägte einen politischen Stil, bei dem vorwiegend religiös verbrämte Propaganda und weniger die Frage, wer die besseren Voraussetzungen zum Regieren mitbrachte, im Vordergrund stand. Für Vallier besteht wenig Zweifel daran, daß die von der Kirche im wesentlichen mitverursachten diffusen moralischen Wertvorstellungen in der Gesellschaft und Politik Lateinamerikas eine der Hauptursachen für die ständigen politischen Wirren sind. Diese Ausrichtung der katholischen Kirche führte schließlich in der ersten Hälfte des 20. Jh. aufgrund neuer gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen in eine de facto desolate Situation. Die Industrialisierung, Verstädterung und Landflucht schwächte die überkommenen familiären und ökonomischen Machtstrukturen, wodurch auch Status, Einfluß und Ressourcen der Kirche erheblich betroffen wurden. Eine strukturelle und pastorale Anpassung an die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungstendenzen erfolgte nicht. Vallier spricht in dieser Situation von einer Bankrotterklärung der traditionellen Kirche. Zwischen dem Ersten Weltkrieg und den 50er Jahren begann die Kirche endgültig ihre traditionelle Vormachtstellung als einzige sinndeutende Institution gegenüber den sich rasch ausbreitenden radikalen Linksbewegungen und protestantischen Bewegungen zu verlieren. Diese stießen in eine "religiöse Leere", da der überwiegende Teil der Bevölkerung nur dem Namen nach katholisch war 139 . Nimmt man die religiöse Praxis zum Maßstab, so hatte die große Mehrheit der Lateinamerikaner, in einigen Ländern bis zu 80%, keine 137 Gärtner, W. 1988: "Theologie der Befreiung oder Befreiung von der Theologie. Kirche heute in Lateinamerika", in: Alt, G./Eisenmann, P. (Hrsg.), Von der Entwicklungshilfe zur Entwicklungspolitik (Berichte und Studien der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Band 39), o.O., 233-247, 234. 138 Zum folgenden siehe Vallier 1967, 193 ff. 139

Pike, F.B. 1977: "Der Katholizismus in Lateinamerika", in: Rogier, L.J./Aubert, R./ Knowles, M.D. (Hrsg.), Geschichte der Kirche, Band V/2, Zürich/Einsiedeln/Köln, 111162, 159.

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Beziehung mehr zum Katholizismus. In Brasilien ergab eine Erhebung der Jahre 1962/63, daß etwa 50 Millionen Katholiken, d. h. 70%, nicht mehr am sonntäglichen Gottesdienst teilnahmen140. Die neuen Bewegungen boten besonders den armen, stets marginalisierten Menschen neue Interpretationen der sozialen Wirklichkeit, andere Wege der Erlösung und Befreiung und konkrete Handlungsanweisungen zur Überwindung ihrer Situation an. Ferner wandten sie sich zum Teil militant gegen die bestehende soziale Ordnung und verkündeten anti-katholische Wertvorstellungen. Die zahlreichen Defizite der Kirche hatten sich nunmehr zu existenziellen Problemen entwickelt. Um mit der Modernisierung der Länder Schritt halten zu können, mußten übergreifende neue Organisationsformen gefunden, neue Finanzquellen erschlossen und neue pastorale Konzepte entwickelt werden. Diesen Schritt vollziehen die Bischofskonferenzen Lateinamerikas jedoch nicht aus eigener Kraft und Erkenntnis heraus. Erst das II. Vatikanische Konzil und die darauf folgenden päpstlichen Rundschreiben brachten auch eine Neuorientierung der Kirche in Lateinamerika mit sich.

Vom II. Vatikanischen Konzil zu Medellin und Puebla Der grundlegenden Wandel in der Katholischen Kirche wurde erstmals von Papst Johannes XXIII. (1958-1963) formuliert. Mit dem Begriff des "Aggiornamento" verband sich sein Anliegen, die Kirche dem "heutigen" Menschen wieder zugänglich zu machen und ein Bewußtsein dafür zu schaffen, daß er selbst Teil dieser Kirche ist. In seiner Enzyklika "Mater et Magistra" vom 15. Mai 1961 sprach sich der Papst für eine weltumspannende soziale Gerechtigkeit und den wirtschaftlichen Ausgleich zwischen Völkern unterschiedlich hoher sozio-ökonomischer Entwicklungsstufen aus 141 . Von den Anregungen der Enzyklika ermutigt, veröffentlichten lateinamerikanische Bischofskonferenzen, wie sich in Brasilien und Guatemala zeigte, Sozialhirtenbriefe mit zum Teil scharfen sozialkritischen Passagen142. Auch das folgende Rundschreiben von Papst Johannes XXIII., "Pacem in Terris" (Über den Frieden unter den Völkern) vom 11. April 1963, verfehlte beispielsweise in Brasilien seine Wirkung auf die mehrheitlich konservativen Bischöfe nicht: 1

Vgl. hierzu Pike 1977, 161 und Zubillaga, F. 1979: "Die Kirche in Lateinamerika", in: Jedin, H./Repgen, K. (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Band VE, Die Weltkirche im 20. Jh., Freiburg/Basel/Wien, 685-768, 692. Nach Houtart/Pin 1965, 164-176, liegt die Anzahl praktizierender Katholiken in den Ländern Lateinamerikas während der 60er Jahre noch unter den Angaben von Zubillagas. 141 Vgl. Mater et Magistra, Herausgegeben von Johannes Hirschmann SJ. 1963, Lateinisch-Deutsch-Italienisch, Paderborn, 11 ff. 142 Vgl. Lembke 1975, 101 und HK 7. Heft, 22. Jg., Juli 1968: "Guatemala von politischer Terrorwelle bedroht", 307, 307-309.

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In der Tat darf niemand außer acht lassen, daß es Recht und Pflicht der Kirche ist, nicht nur die Reinheit der Glaubens- und Sittenlehre zu schützen, sondern ihre Autorität auch im Bereich diesseitiger Dinge einzusetzen, wenn nämlich die Anwendung der kirchlichen Lehre in konkreten Fällen ein solches Urteil notwendig macht143. Das von Johannes XXIII. als Reformkonzil geplante II. Vatikanische Konzil von 1962 bis 1965 brachte schließlich die grundlegende Erneuerung der römisch-katholischen Kirche entsprechend den Erfordernissen der "Welt von heute" mit sich. Damit wurden die Fundamente für ein neues Selbstverständnis der Kirche Lateinamerikas gelegt, die mit zahlreichen Bischöfen und Experten aktiv vertreten war 144 . Nach Ansicht von Vallier trug das II. Vatikanische Konzil der komplizierten lateinamerikanischen Situation ganz besonders Rechnung. Da der Katholizismus in Lateinamerika zu jener Zeit einer harten Bewährungsprobe ausgesetzt war, geht Vallier davon aus, daß Lateinamerika zum Testfall für die Liberalisierungsreform des Konzils würde. Nach seiner Auffassung sollte das Konzil nicht nur als letzte Chance für den Katholizismus in Lateinamerika verstanden werden. Vielmehr sah er in der Bewältigung der lateinamerikanischen Situation die letzte Chance für den Katholizismus als Religion überhaupt145. Tabelle 1 TEILNAHME VON BISCHÖFEN UND EXPERTEN AUS LATEINAMERIKA AM II. VATIKANISCHEN KONZIL Lateinamerika

Europa

Rom

Teilnehmende Bischöfe

6 0 1 (22,3%)

8 4 9 (31,6%)

65

Kommissionsmitglieder

52

219

318

35%

33%

k.A.

7%

11%

k.A.

Anteil an der katholischen Weltbevölkerung insgesamt Anteil an der Weltbevölkerung insgesamt

Quelle: Dussel, E. 1988: Die Geschichte der Kirche in Lateinamerika,

Mainz, 220.

143

Pacem in Terris 1963. Die Friedensenzyklika von Papst Johannes XXHL Mit einer Einführung in die Lehre der Päpste über die Grundlagen der Politik und einem Kommentar von Arthur-Fridolin Utz OP, Freiburg/Basel/Wien, 136 (Nr. 160). 144 Die Texte des H Vatikanischen Konzils in deutscher Sprache sind zu finden in Rahner, K./Vorgrimler, H. 1987: Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums. Allgemeine Einleitung - spezielle Einführungen - ausführliches Sachregister, 20. Auflage, Freiburg/Basel/Wien. Zur Bedeutung des Konzil für Lateinamerika siehe Krumwiede, H.-W. 1980: Politik und katholische Kirche im gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß. Tradition und Entwicklung in Kolumbien, Hamburg, 148ff. 145 Vgl. Vallier 1967, 199.

89 Das Interesse an dem Kontinent hatte folgende Gründe: In Lateinamerika lebten weltweit betrachtet über ein Drittel der gesamten getauften Katholiken. Er schien in dieser Zeitspanne besonders gefährdet durch das Vordringen des Kommunismus. Hinzu kam, wie die Zahlen der Tabelle 2 über die katholische Kirche zu Beginn 70er Jahre zeigen, das gewaltige organisatorische Problem, ihre Präsenz auf dem Kontinent zu koordinieren. Tabelle 3 verdeutlicht weiter unten den erheblichen strukturellen Wandel innerhalb eines knappen Jahrzehnts 146 . Tabelle 2 DIE KATHOLISCHE KIRCHE IN LATEINAMERIKA 1970 Bereich

Mittelamerika

Südamerika

Lateinamerika ohne Karibik

ohne Karibik

Fläche in qkm

2.496.000

17.831.000

20.327.000

Zahl der Einwohner

64,87 Mio.

186,99 Mio.

251,86 Mio.

Einwohner pro qkm

20

10

15

Zahl der getauften Katholiken

60,65 Mio. (93,5% d. Bev.)

169,38 Mio. (90,6% d. Bev.)

230,03 Mio. (92,05% d. Bev.)

Zahl der Bistümer

73

263

336

Priester insgesamt

10.957

33.095

44.052

Verhältnis Priester/Einwohner

1 : 5.920

1 : 5.650

1 : 5.785

Verhältnis Priester/Katholiken

1 : 5.535

1 : 5.118

1 : 5.327

Durchschnittliche Größe einer Diözese in qkm

23.000

39.000

31.000

Anzahl der Seelsorgebezirke

4.792

21.389

26.181

Einwohner pro Seelsorgebezirk

13.537

8.742

11.134

Katholiken pro Seelsorgebezirk

12.656

7.919

10.288

Quelle: Zusammenstellung und Berechnungen des Verfassers nach Annuarium Statisticum Ecclesiae 1970, Secretaria Status, Ex Urbe Vaticana, 1973. Die Grunddaten beruhen z.T. auf Schätzungen.

146 Zur Karibik und zu weiteren aktualisierten Lateinamerika-Daten siehe neben dem Annuarium Statisticum Ecclesiae auch Lexikon für Theologie und Kirche 1993: Amerika (B. Zentralamerika, 506-511, C. Karibik, 511-517, D. Südamerika, 518-526), Erster Band, Freiburg u.a.

90 Tabelle 3 DIE KATHOLISCHE KIRCHE IN LATEINAMERIKA 1988 Bereich

Mittelamerika ohne Karibik

Südamerika

Lateinamerika ohne Karibik

2.481.366

17.818.694

20.300.060

Zahl der Einwohner

110,28 Mio.

285,20 Mio.

395,48 Mio.

Einwohner pro qkm

44

16

30

Fläche in qkm

Zahl der getauften Katholiken

103,90 Mio. 254,11 Mio. (94,22% d. Bev.) (89,1% d. Bev.)

358,01 Mio. (91,66% d. Bev.)

Zahl der Bischöfe

189

784

973

Priester insgesamt

13.641

36.230

49.871

Verhältnis Priester/Einwohner

1 : 8.084

1 : 7.872

1 : 7.978

Verhältnis Priester/Katholiken

1 : 7.617

1 : 7.014

1 : 7.316

Durchschnittliche Größe einer Diözese in qkm

19.538

32.937

26.238

Anzahl der Seelsorgebezirke

14.539

57.455

71.994

Einwohner pro Seelsorgebezirk

7.585

4.964

6.275

Katholiken pro Seelsorgebezirk

7.147

4.423

5.785

Quelle: Zusammenstellung und Berechnungen des Verfassers nach Annuarium Statisticum Ecclesiae 1988, Secretaria Status, Ex Urbe Vaticana, 1990. Die Granddaten beruhen z.T. auf Schätzungen. Der damalige Weihbischof Dom Helder Cämara aus Brasilien und Bischof Manuel Larrain aus Chile haben das II. Vatikanische Konzil in besonderem Maße mit beeinflußt. Die meisten der rund 600 Bischöfe Lateinamerikas vertraten eher traditionelle Sichtweisen und blieben weitgehend im Hintergrund 1 4 7 . 147 Vgl. Leumann, P. 1984: "Die katholische Kirche zwischen Anpassung und Widerstand", in: Ginsburg, T./Ostheider, M. (Hrsg.) 1984: Lateinamerika vor der Entscheidung. Ein Kontinent sucht seinen Weg, Frankfurt a.M., 50-66, 53.

91

Die jahrelange Zusammenarbeit der Bischöfe im Rahmen des Konzils führte beim gesamten Episkopat zu einem neuen Bewußtsein für die kollegiale Mitverantwortung im Hinblick auf die Gesamtkirche. Das bisher nur auf das eigene Amtsgebiet gerichtete Pflichtbewußtsein wurde dadurch weitgehend abgelöst. Die Mitarbeit an der Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" (Über die Kirche in der Welt von heute) forderte von jedem eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Realitäten im eigenen Land und Amtsgebiet. Gegenüber den beteiligten Bischöfen aus Lateinamerika betonte Paul VI. am Ende des Konzils nochmals die Notwendigkeit, sich den Problemen der Unterentwicklung zu stellen, die Stimme zu erheben und ihre Pastoral von Grund auf zu revidieren148. Weitere Anstöße für die lateinamerikanische Kirche kamen von der Sozialenzyklika Paul VI. "Populorum Progressio" (Über den Fortschritt der Völker) vom 26. März 1967149. Im sog. "kurialen Stil" verfaßt, der jede verletzende Äußerung vermied, sprach die Enzyklika dennoch grundlegende sozialpolitische Probleme Lateinamerikas deutlich, wenn auch indirekt an. Neben weltweit existierenden sozialen Konflikten wurde verwiesen auf den Skandal schreiender Ungerechtigkeit nicht nur im Besitz der Güter, sondern noch mehr in deren Gebrauch. Eine kleine Schicht genießt in manchen Ländern alle Raffinessen der Zivilisation, und der Rest der Bevölkerung ist arm, hin- und hergeworfen und ermangelt fast jeder Möglichkeit, initiativ und eigenverantwortlich zu handeln, und befindet sich oft in Lebens- und Arbeitsbedingungen, die des Menschen unwürdig sind150. Die für Lateinamerika typischen Probleme des Großgrundbesitzes und die Voraussetzungen für Agrarreformen wurden an anderer Stelle behandelt, wie bei den Passagen über die sozialen Funktionen des Eigentums: Niemand kann guten Grunds seinen Überfluß ausschließlich für sich gebrauchen, wo anderen das Notwendigste fehlt...Das Eigentumsrecht darf niemals zum Schaden des Gemeinwohls genutzt werden. Sollte ein Konflikt zwischen den wohlerworbenen Rechten des einzelnen und den Grundbedürfiiissen der Gemeinschaft entstehen, dann ist es an der staatlichen Gewalt, unter aktiver Beteiligung der einzelnen und der Gruppen eine Lösung zu suchen.

148 Vgl. Noggler, O. 1981: "Das erste Entwicklungsjahrzehnt. Vom n. Vatikanischen Konzil bis Medellin", in: Prien, H.-J. (Hrsg.): Lateinamerika: Gesellschaft - Kirche Theologie, Band 1. Aufbruch und Auseinandersetzung, Göttingen, 19-58, 21. 149 Vgl. Populorum Progressio. Über den Fortschritt der Völker, Rundschreiben Papst Pauls VI. vom 26. März 1967, 7. Auflage 1968, Recklinghausen. 150 Populorum Progressio Nr. 9 unter Hinweis auf Gaudium et Spes Nr. 63, wo noch ausführlicher auf das negative Erscheinungsbild des Wirtschaftslebens eingegangen wird.

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Für die Versuchung, in Situationen, deren "Ungerechtigkeit zum Himmel schreit", das Unrecht mit Gewalt zu beseitigen, zeigte Populorum Progressio Verständnis. Papst Paul VI. spricht sich jedoch hinsichtlich des Problems der Durchsetzung sozialer Reformen in Diktaturen unmißverständlich zugunsten friedlicher Reformen aus und für "kühne, bahnbrechende Umgestaltungen...die unverzüglich in Angriff genommen werden" müssten (Nr. 32). Zum Widerstandsrecht der Bürger in Diktaturen steht: ... Jede Revolution - ausgenommen im Fall der eindeutigen und lange dauernden Gewaltherrschaft, die die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes gefahrlich schadet - zeugt neues Unrecht, bringt neue Störungen des Gleichgewichts mit sich, ruft neue Zerrüttung hervor. Man kann ein Übel nicht mit einem noch größeren Übel vertreiben (Nr. 31). Diese Textstelle und die Befürwortung konstruktiver friedlicher Reformen im Sinne der oben behandelten "reforma"-Strategie haben die Bischöfe Lateinamerikas später in das Dokument von Medellin übernommen151. Auf die jeweilige Rezeption der Dokumente der lateinamerikanischen Bischofskonferenzen und der päpstlichen Verlautbarungen in Brasilien und Chile wird in Kapitel III dieser Arbeit an den entsprechenden Stellen eingegangen. Populorum Progressio wurde in Lateinamerika bei breiten Bevölkerungskreisen und beim sozial engagierten Teil des Klerus mit Enthusiasmus aufgenommen152. Nach Ansicht von Noggler hatte kein päpstliches Rundschreiben zuvor in der Region so viel Anklang gefunden. Von der Kirche Lateinamerikas und ihrer Basis wurde das Rundschreiben als speziell an sie gerichtet verstanden153. Andererseits ist es nicht verwunderlich, daß die Enzyklika bei den Befürwortern autoritärer Herrschaftsformen mit Bestürzung aufgenommen wurde. Nunmehr konnten die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Lateinamerika nicht mehr in Einklang mit der kirchlichen Lehre gebracht werden. Die einflußreichen politisch rechts stehenden Großgrundbesitzer und Militärs sahen sich der kirchlichen Stütze beraubt. Diesen Kreisen nahestehende Teile des Klerus begannen sich Sorgen über ihre soziale Stellung und Existenz zu machen. In Brasilien behauptete die konservative Tageszeitung O Estado de Säo Paulo sogar, der portugiesische Text von 151 Siehe den Abschnitt "Das Problem der Gewalt in Lateinamerika". Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz o.J., Kapitel 2.II. 19, 36-38. 152 Von 1965 bis 1968 erschienen in ganz Lateinamerika z.T. mit Bezugnahme auf "Populorum Progressio" zahlreiche sozialkritische Erklärungen einzelner oder mehrerer Bischöfe, von Priestern und Laienorganisationen. Vgl. Signos de Renovación 1969: Recopilación de documentos postconciliares de la Iglesia en América Latina, Comisión Episcopal de Acción Social, Lima. In Englisch: Between Honesty and Hope 1970: Documents from and about the Church in Latin America. Issued at Lima by the Peruvian Bishop's Commission for Social Action, Maryknoll. 153 Vgl. Noggler 1981, 22.

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Populorum Progressio (die Übersetzung war in Rom angefertigt worden) sei ein manipuliertes Werk linker Elemente und eine Verfälschung der lateinischen Fassung 154 . Ein für die vorliegende Arbeit besonders wichtiger Aspekt des neuen Selbstverständnisses der katholischen Kirche nach dem II. Vaticanum ist die offizielle Befürwortung einer offenen, pluralistischen Demokratie westlicher Prägung und der damit verbundene Einsatz zugunsten demokratischer Grundrechte in den Militärregimes Lateinamerikas. Die katholische Kirche muß ihrem allgemeinen Selbstverständis nach ihren Heilsauftrag unter beliebigen äußeren Bedingungen wahrnehmen. Diese Verpflichtung gilt somit unabhängig von dem jeweiligen politischen System. Die Orientierung des II. Vatikanischen Konzils auf liberale Grundwerte hin hat jedoch "die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die katholische Kirche eine tiefere Beziehung zu den Prinzipien liberal-pluralistischer Demokratie gewinnen kann" 155 . Die von Papst Pius XII. (1876-1958) eingeleitete Abkehr der kirchlichen Sympathie für die monarchische Staatsform und die langsame Annäherung an die Demokratie wurde durch das II. Vatikanische Konzil vollzogen. Zuvor hatte noch jeder Kandidat für ein priesterliches, theologisch-wissenschaftliches oder bischöfliches Amt den sog. "Anti-Modemisten-Eid" von 1910 abzulegen. Dieser kirchliche Treueeid verpflichtete dazu, alle modernen "Irrtümer" abzuwehren, zu denen auch die demokratische Idee zählte156. Nach dem Konzil wurde dieser Eid fallengelassen und die katholische Kirche bejahte fortan nicht nur den weltanschaulich pluralistischen Staat, sondern allgemein die Anwendung des demokratischen Prinzips in Gesellschaft und Wirtschaft 157 . Angesichts der Vielfalt an gesellschaftlichen und politischen Situationen in den einzelnen Ländern des Kontinents ist eine allgemeingültige Aussage über den theologisch-weltanschaulichen Standpunkt der katholischen Kirche in Lateinamerika nach dem II. Vatikanischen Konzil und den Gesamtlateinamerikanischen Bischofskonferenzen von Medellin und Puebla nur begrenzt möglich. Nach dem Zweiten Vatikanum entwickelten die lateinamerikanischen Theologen eine im Verhältnis zur europäischen Kirche eigenständige Position, die als sozial orientierter Katholizismus mit deutlichem Praxisbezug charakterisiert werden kann.

154

Vgl. HK 9. Heft, 21. Jg., September 1967: "Lateinamerikanische Reaktionen auf Populorum Progressio", 410-413 und HK 11. Heft, 22. Jg., November 1968: "Aktivität politisch-kirchlicher Rechtsgruppen in Lateinamerika", 515-516. 155 Krumwiede 1982b, 133. Hierzu femer Stangl, B. 1987: "Staat und Demokratie in der Katholischen Kirche", in: APuZ B 46-47/87, 14. November, 32-45. •56 Vgl. Süddeutsche Zeitung 18./19.11.1989: "Wie eine Autorität sich selbst beschädigt" (Hans Heigert). '57 Vgl. Nell-Breuning, O. v. 1987: "Katholische Soziallehre", in: Staatslexikon, Band, Freiburg u.a., 349-363, 354 unter Hinweis auf Octogésima Adveniens 47.

3.

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Dieser in Medellin formulierte Standpunkt führte jedoch in der Folgezeit zu einer innerkirchlichen Kontroverse über die "richtige" Auslegung der Dokumente, besonders angesichts der radikaleren Umsetzungsstrategien der Befreiungstheologen. Als wohl wichtigstes Ergebnis der Konferenz in Puebla wird die Schaffung eines selbstverpflichtenden Orientierungsrahmens zu den strittigen Fragen gesehen. Für beide Konferenzen galt allerdings der offizielle Minimalkonsens, daß die Kirche ihre zuvor überwiegend enge Bindung an die Oberschicht löst und ihre besondere Solidarität fortan verstärkt den sozial Benachteiligten zukommen läßt. Eine unmittelbare Auswirkung dieses neuen Kurses war, daß die Kirche nunmehr selbst zur Zielscheibe aller Gegner sozialer Reformen wurde und viele Christen ihr sozio-politisches Engagement unter hohen persönlichen Risiken vertraten. In dem Jahrzehnt zwischen den Konferenzen von Medellin und Puebla von 1968 bis 1978 wurden über 850 Bischöfe, Priester und Nonnen sowie mehr als 1500 engagierte Laien bedroht, inhaftiert, gefoltert, exiliert oder ermordet158. Grundaussagen der Bischofskonferenzen zur politischen Lage Die II. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats tagte vom 24.8. bis 6.9.1968. Ihr Ziel bestand darin, die pastorale Arbeit in den Ländern des Kontinents neu zu bestimmen. Als theologische Grundlage dieser Versammlung in Kolumbien galten die Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils und die Ergebnisse verschiedener bischöflicher Kommissionen, die ein Jahr zuvor in ganz Lateinamerika ihre Tätigkeit aufgenommen hatten. Die Aussagen des Dokumentes von Medellin sind prägnant formuliert und scheinen im Vergleich zu dem Text von Puebla von größerer Hoffnung getragen. So wird besonders auf das menschliche Potential hingewiesen, "das wertvoller als die verborgenen Reichtümer seines Bodens" sei, und aus Lateinamerika "eine vielversprechende Realität voller Hoffnungen" mache (S. 14). Im Folgenden werden nunmehr die Grundaussagen von Medellin und Puebla zur sozio-politischen Situation Lateinamerikas (a) und speziell zur Armut (b) zusammengefaßt wiedergegeben. Hierbei kann angesichts der umfangreichen Texte kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Ein besonderes Interesse gilt den Aussagen der lateinamerikanischen Bischöfe hinsichtlich der Menschenrechtsfrage (c), ihre Beurteilung der Indianerproblematik (d) und ihren Vorstellungen von einer demokratischen Grundordnung (e). In ei158

Vgl. Lernoux, P. 1980: "The Latin American Church", in: Latin American Research Review, Vol. 15, Nr. 2, 201-211, 201. Die Autorin weist daraufhin, daß diese Zahl aufgrund der Zensur und unzureichender Kommunikationswege in ländlichen Gebieten wahrscheinlich zu niedrig angesetzt ist und auch keine der ofl besonders gefährdeten Pastoralhelfer, wie z.B. die Leiter der Basisgemeinschaften, mit einbezieht. Die Verfolgung katholischer Laien behandeln Lange, M./Iblacker, R. (Hrsg.) 1980: Christenverfolgung in Südamerika. Zeugen der Hoffnung, Freiburg.

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nem weiteren Schritt werden dann die Aussagen zu den Möglichkeiten eines demokratischen Wandels auf kirchliche Initiative hin aufgeführt (f). Es zeigte sich, daß gerade die hier wichtigen Textstellen über die Beurteilung der politischen Situation und die sich daraus ergebenden Handlungsoptionen für die Kirche im Falle des Puebla-Textes von Rom oftmals anders gesehen wurden als von den Vertretern der Landeskirchen. Dementsprechend oft wurde der von den lateinamerikanischen Bischöfen verfaßte Orginaltext umformuliert. Die in der Öffentlichkeit einsetzende Kritik an dieser Vorgehensweise wurde in den Bulletins der Lateinamerikanischen Bischofkonferenz CELAM sowie von seiten ihres Generalsekretärs und späteren Präsidenten (ab März 1979), Möns. Trujillo, heruntergespielt159. Nach den kritischen Textanalysen von Burchardt, Fischer-Bramkamp und Prien160 waren diese offiziellen Stellungnahmen eher eine unzulässige Verharmlosung. Gundsätzlich stimmten die drei Autoren darin überein, daß der ursprüngliche Text rund fünfzig Änderungen von Bedeutung erfahren hat, Änderungen schon deshalb von Gewicht, weil sie im Gegensatz zu redaktionellen Korrekturen die ursprüngliche Aussage korrigieren und offensichtlich korrigieren sollen. Die weitaus meisten dieser Textänderungen entschärfen und mildem die ursprüngliche Aussage, andere bewirken Akzentverschiebungen161. Diese Textprobleme der offiziellen Puebla-Fassung werden jeweils Berücksichtigung finden, ebenso die Schwächen der ebenfalls umstrittenen deutschen Übersetzung. Als Grundlage dienen eine vom CELAM am 30. April 1979 in Bogotá herausgegebene Fassung der "römischen Version" des Puebla-Dokumentes in spanischer Sprache162 und die offizielle deutsche Übersetzung des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz163. Bei umstrittenen Punkten werden die ursprünglichen Aussagen von Puebla164 sowie textkritische Auf-

159 Vgl. hierzu CELAMXII, Nr. 137, März 1979, 15. 160 Vgl. hierzu Burchardt, G. 1980: "Was Rom änderte. Zur Revision des PueblaDokuments", in: HK 34, Nr. 2, 91-95, Fischer-Bramkamp, A. 1980: "Kirche in Lateinamerika. Opfer der Zensur", in: Publik-Forum-Sonderdrück, Nr. 3, 8. Februar, I-IX und Prien, H.J. 1981: "Puebla", in: Prien (Hrsg.), 62-208, 62ff. 161

Hier in der Formulierung von Burchardt 1980, 93. 162 Vgl. Puebla 1979: La Evangelización en el Presente y en el Futuro de América Latina, III Conferencia General del Episcopado Latinoamericano - CELAM, Bogotá ("römische Revision"). 163 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.) o.J.: Die Kirche Lateinamerikas. Dokumente der II. und III. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates in Medellin und Puebla, Stimmen der Weltkirche 8, Bonn. 164 Vgl. Puebla 1979: "La evangelización en el presente y en el futuro de América Latina", IH Conferencia General del Episcopado Latinoamericano, Puebla de los Ángeles, 27 de

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sätze herangezogen, um eine möglichst authentische Wiedergabe der Inhalte zu gewährleisten. Auch wenn die vom Vatikan initiierte Überarbeitung des Puebla-Textes auf heftige inner- und außerkirchliche Kritik gestoßen ist, so muß doch festgestellt werden, daß die offiziell genehmigten Grundaussagen zur politischen Situation in Lateinamerika an Deutlichkeit kaum zu wünschen übrig lassen. Bei dem Text von Medellin hatte es keine Probleme dieser Art gegeben. Die Schwierigkeiten setzten hier erst später bei der unterschiedlichen Interpretation der Texte durch die Befreiungstheologen und konservativer Kirchenvertreter ein sowie bei der jeweiligen Umsetzung der pastoralen Richtlinien in die Praxis. a) Aussagen zur sozio-politischen Lage Die lateinamerikanische Kirche sah sich im Jahre 1968 an der Schwelle einer neuen historischen Epoche, "die voller Sehnsucht nach Mündigkeit, nach Befreiung von aller Knechtschaft, nach persönlicher Reifung und Integration aller ist ..." und sie nahm "... die Vorzeichen der schmerzhaften Geburt einer neuen Zivilisation wahr" (S. 20) 165 . Zu den Schattenseiten dieser neuen Epoche gehörte allerdings auch die Feststellung, daß die Privilegierten, von Ausnahmen abgesehen, häufig mit allen ihnen zur Verfugung stehenden Mitteln den notwendigen Wandel zu verhindern suchten und entsprechenden Druck auf die Regierenden ausübten (S. 37). Während das Dokument von Medellin dennoch grundsätzlich von den Bemühungen zur Überwindung der "tragischen Zeichen der Unterentwicklung" ausging (S. 14), bestand eine bedeutsame Grundaussage der Bischöfe ein Jahrzehnt später in Puebla darin, daß Lateinamerika einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Fortschritt bewiesen habe (21). Nunmehr seien in den Ländern die potentiellen Fähigkeiten vorhanden, das große Elend der Massen zu überwinden. Die Situation der Ausbeutung und der beleidigende Luxus einiger weniger wiege dadurch aber besonders schwer, vor allem in Ländern, die sich als katholisch bezeichneten (28). Parallel zu der grundsätzlich positiv bewerteten Modernisierung wird eine widersprüchliche Tendenz zur Verarmung und zur wachsenden Marginalisierung großer lateinamerikanischer Mehrheiten vom produktiven Leben festgestellt (1207). Mit den Worten von Papst Johannes Paul II. bei seiner Eröffnungsansprache in Puebla heißt es: "Der wachsende Reichtum einiger weniger geht Hand in Hand mit dem wachsenden Elend der Massen" (1209). Nach enero - 13 de febrero de 1979 (Hektographie). Der Verfasser dankt Herrn Dr. Horst Goldstein, der diese bibliographische Rarität zur Verfügung stellte. 165 Vgl. Sekretariat o.J. (Texte beider Bischofskonferenzen). Im Folgenden wird zum besseren Auffinden der Textstellen die Numerierung des deutschsprachigen Puebla-Dokuments im fortlaufenden Text in Klammern gesetzt. Das Dokument von Medellin ist nicht nach Ziffern gegliedert und wird daher mit Hinweis auf die Seitenzahl zitiert.

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Ansicht der Kirche läuft diese Tatsache dem Plan des Schöpfers zuwider und wird als "soziale Sünde" charakterisiert (28). Bereits in Medellin war die lateinamerikanische Unterentwicklung mit der besonders ausgeprägten sozialen Ungerechtigkeit als eine "Beleidigung des Geistes des Evangeliums" und ein "Zustand der Sünde" bezeichnet worden (S. 16/31). In Puebla wird dann im Rahmen der Forderung nach Gerechtigkeit der "konstruktive(n) Wert sozialer Spannungen" anerkannt, die dazu beitrügen, die "Freiheit und die Rechte, insbesondere der Schwächsten, sicherzustellen" (1228). Mit Trauer wird im offiziell verbreiteten Puebla-Text auf die "Anwesenheit vieler autoritärer Regime und sogar...unterdrückender Regime" (500) in Lateinamerika hingewiesen und darin "eines der schwerwiegendsten Hindernisse für die umfassende Entwicklung der Rechte des Menschen, der Gruppen und der Staaten selbst" (ebd.) gesehen. Die lateinamerikanischen Bischöfe hatten die Situation noch prägnater formuliert: "Mit Schmerz stellen wir die Anwesenheit vieler unterdrückender Regime auf unserem Kontinent fest" (371)166. Das vielschichtige Problem der politischen Gewalt ist in diesem Zusammenhang ebenfalls ein Thema der beiden Bischofskonferenzen. In Medellin hatten die Bischöfe festgestellt, daß sich viele Gebiete Lateinamerikas "in einer Situation der Ungerechtigkeit" befanden, "die man institutionalisierte Gewalt nennen kann" und die fundamentalen Rechte der Völker verletze (S. 36/37). Die Ausfuhrungen in Puebla sind vergleichsweise knapp gehalten. Sie sind aber nicht weniger deutlich in der Verurteilung der Gewalt durch staatliche Autoritäten, Terroristen und Guerilleros (531/532). Beide Dokumente weisen daraufhin, daß die Anwendung von Gewalt "weder christlich ist, noch dem Evangelium entspricht". In Medellin wird dem Wunsch Ausdruck verliehen, daß "die Dynamik des bewußt gewordenen und organisierten Volkes sich in den Dienst der Gerechtigkeit und des Friedens stellt" (S. 38). Der Begriff der "institutionalisierten Gewalt" (1020) bzw. der "institutionalisierten Ungerechtigkeit" (25) von Medellin wurde im Orginaltext von Puebla wieder aufgegriffen. In dem offiziellen, von Rom abgeschwächten Text, heißt es allerdings unter Hinweis auf "subversive" und "repressive" Varianten, daß sich die "Situation der Gewalt verschärft habe, die man als institutionalisiert bezeichnen kann" (1259). Ebenso nehme auch die "Ungerechtigkeit zu, die man als institutionalisiert bezeichnen kann" (46) 167 . Der Armee als hauptverantwortlichen Institution für den Autoritarismus sollte die Kirche im Sinne von Medellin vermitteln, "daß sie außer ihren spezifischen, normalen Funktionen den Auftrag hat, die politischen Freiheiten der Bürger zu garantieren, statt ihnen Hindernisse in den Weg zu stellen..." (S. 71). Der Text von Puebla ruft dieses Zitat in Erinnerung und ergänzt: 166 Vgl. Burchardt 1980, 93. 167

Vgl. Fischer-Bramkamp 1980, II.

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...Sie mögen sich ihrer Aufgabe bewußt sein, den Frieden und die Sicherheit aller zu gewährleisten. Sie mögen niemals die Macht mißbrauchen! Vielmehr sollen sie die Kraft des Rechts schützen. Sie sollen das freie und pluralistische Zusammenleben fördern, das von der Mitbeteiligung getragen ist (1247). Die sozio-politische Lage Lateinamerikas wurde in Medellin deutlich prägnanter analysiert als in Puebla und das Vokabular weist auf direkte und indirekte Bezüge zu den Aussagen der Dependencia-Theoretiker hin. Die Unterentwicklung gilt als ungerechte Situation und es werden auf vier Seiten drei große Spannungsfelder festgestellt, die eine positive Entwicklung bedrohen. Verkürzt dargestellt handelt es sich um folgende Problembereiche (S. 31 ff): 1. Spannungen zwischen den Klassen und interner Kolonialismus Verschiedene Formen der Marginalität Übermäßige Ungleichheiten zwischen den sozialen Klassen Wachsende Frustrationen der Übergangenen Formen der Unterdrückung durch die herrschenden Gruppen und Schichten Von gewissen herrschenden Schichten ungerecht ausgeübte Macht Wachsende Bewußtwerdung der unterdrückten Schichten 2. Internationale Spannungen und externer Neokolonialismus Wirtschaftlicher Aspekt: Wachsende Verzerrung des internationalen Handels Flucht von wirtschaftlichem und menschlichem Kapital Steuerflucht und Entziehung der Gewinne und Dividenden Progressive Verschuldung Internationale Monopole und internationaler Geldimperialismus Politischer Aspekt: Der Imperialismus jedweder Art sowie indirekte und direkte Interventionen werden angeklagt 3. Spannungen zwischen den lateinamerikanischen Ländern Ein übersteigerter Nationalismus Der Rüstungswettlauf b) Armut Die "vorrangige Option für die Armen" von Medellin wurde in Puebla als Überschrift von Teil IV, Kapitel I, bestätigt. Ebenso die Notwendigkeit der Umkehr der gesamten Kirche im Sinne dieser Option mit Blickrichtung auf eine umfassende Befreiung der Armen (1134). Nach eigenem Bekunden hat die Kirche ihr Engagement zugunsten der besitzlosen Schichten noch verstärkt und setzt sich für ihre umfassende Förderung ein (147). Sie will "die Stimme derer sein, die keine Stimme haben". Ihre Aufgabe sieht sie darin, "zu lehren, anzuklagen und ihren Dienst für die Gemeinschaft und Mitbeteiligung zu

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leisten" (1268)168. Die Armut als Massenerscheinung und Ungerechtigkeit, "die zum Himmel schreit" (S. 22) war im Text von Medellin deutlich hervorgehoben worden. Angesichts der offenkundigen Ausweitung des Problems wird jedoch in Puebla umfassender und mit mehr Nachdruck angeklagt. Die vorrangige Option für die Armen bedeutete in Medellin jedoch nicht eine Vernachlässigung der Pastoral für die Eliten. Und Puebla bestätigt, daß es nur eine Pastoral gebe, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfasse (1215). Zur Armut in Lateinamerika, "der verheerendsten und demütigendsten Geißel", nimmt das Puebla-Dokument auf vielfache Weise Stellung. In der deutschen Übersetzung wurde allerdings deutlich abgeschwächter "eine verheerende und erniedrigende Geißer (29). Die Zeichen der Armut werden mit dem Leidensantlitz Christi verglichen, "der uns fragend und fordernd anspricht" in den Gesichtern der Kinder, der jungen Menschen, der Indios und Afroamerikaner, der Landbevölkerung, der Arbeiter, der Unterbeschäftigten und Arbeitslosen, der Randgruppen der Gesellschaft sowie in den Gesichtern der Alten (31-39). Die lateinamerikanischen Bischöfe hatten allerdings die Reihenfolge in der original Puebla-Fassung169 anders gewählt - wohl angesichts der unterschiedlichen Notlagen und der damit verbundenen Prioritäten der lateinamerikanischen Kirche: Die Indianer und Afroamerikaner, die Landarbeiter und Kleinbauern, die Arbeiter, die Randgruppen in den Elendsvierteln, die Arbeitslosen und Unterbeschäftigten, die Jugendlichen, die Kinder und die alten Menschen. In Medellin hatten noch die Familien, gefolgt von der Jugend, der Frau, der Landarbeiter, der Mittelschicht, der abwandernden Fachleute und Techniker, der kleinen Handwerks- und Industriebetriebe (S. 22) an erster Stelle gestanden. Die Beschreibung der Probleme dieser Gruppen wirkt im Vergleich zu den Betroffenheit auslösenden Ausführungen in Puebla eher moderat. Auch bei der Auflistung der Ursachen der Armut im Dokument von Puebla wurde von Rom in die von den Bischöfen gewählte Reihenfolge eingegriffen. Die Ursachen dieser Probleme (64-69) liegen nunmehr in dem Wirtschaftssystem, der mangelnden Integration der Staaten, der Tatsache der wirtschaftlichen, technologischen, politischen und kulturellen Abhängigkeit, dem Wettrüsten, dem Fehlen wirklichkeitsnaher Strukturreformen in der Landwirtschaft und schließlich in der Krisis der moralischen Werte. Im Urtext von Puebla hatte die fehlende Strukturreform in der Landwirtschaft - eines der wichtig168

Zur kirchlichen Auseinandersetzung mit dem Problem der Armut in Lateinamerika siehe weiterführend Hünermann/Scannone (Hrsg.) 1993, Teil 2, Antoncich, R./Ivem, F./ Roos, L. (Hrsg.), Armut, Mainz. 169 Zu den folgenden Ausführungen siehe Burchardt 1980, 94, Fischer-Bramkamp 1980, II und Frieling, R. 1980: "Römische Entscheidungen", in: MD-Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim, 31. Jg., Nr. 3, Mai/Juni, 4245, 42f.

100

sten und umstrittensten Probleme überhaupt - an erster Stelle gestanden, gefolgt von dem Wettrüsten und der mangelnden Integration der lateinamerikanischen Nationen. Nur der letzte Punkt, die Krisis der moralischen Werte, blieb unverändert stehen. Als eine der Ursachen für den stetig wachsenden Abstand zwischen Reichen und Armen wird in Puebla "die freie Marktwirtschaft in ihrer reinsten Ausprägung, die...durch gewisse liberale Ideologien legitimiert wird" (47) verantwortlich gemacht. Ergänzend heißt es hierzu in Ziffer 550, daß sowohl das "liberal-kapitalistische" wie auch das marxistische System gegen die Würde der menschlichen Person verstoße. Diese Feststellung stimmt mit dem Text von Medellin überein. Dort heißt es weiter, das ökonomische System Lateinamerikas entspreche einer "irrigen Auffassung vom Eigentumsrecht an den Produktionsmitteln" und stehe somit im Widerspruch zu den Vorstellungen von einer humanen Wirtschaft (S. 25). c) Menschenrechtsfrage Unter Hinweis auf die Enzyklika "Humanae vitae" rufen die Bischöfe in Medellin "zur Verteidigung der unveräußerlichen Werte: Die Respektierung der menschlichen Person, besonders der Armen und Marginalgruppen, der Wertschätzung des Lebens, der ehelichen Liebe" (S. 45) auf. Die Menschenrechtsfrage wird in den Kapiteln "Gerechtigkeit" und "Frieden" des Dokumentes von Medellin an zahlreichen Stellen behandelt und es wird zur Einhaltung dieser Rechte aufgerufen. Anläßlich des 20. Jahrestages der feierlichen Verkündigung der Menschenrechte regen die Bischöfe die Universitäten zu Nachforschungen über ihre Verwirklichung in den Ländern Lateinamerikas an (S. 39). Nach Ansicht der Bischöfe strebt die Mehrheit des Volkes in Lateinamerika eine politische und rechtliche Ordnung an, in der die Rechte der Person stärker geschützt sind. Hier werden besonders die Versammlungsfreiheit, das Recht auf freien Zusammenschluß, auf Meinungsfreiheit und freie Religionsausübung (S. 72) genannt. Die Bischöfe empfehlen eine Förderung der Kommission "Gerechtigkeit und Frieden" (Justitia et Pax). Diese soll alles aufzudecken, was u.a. die Gerechtigkeit verletzt und den inneren Frieden der Gemeinschaft gefährdet (S. 29/30). Ferner sollen alle Bischofskonferenzen Kommissionen für Soziale Aktion oder Soziale Pastoral schaffen und eigene Initiativen ergreifen. Angestrebt wird fortan eine verbesserte Zusammenarbeit mit nichtkatholischen Kirchen und Institutionen, die sich der Aufgabe der Wiederherstellung der Gerechtigkeit in den menschlichen Beziehungen widmen. Die kirchliche Organisation "Caritas" soll neben der Wohlfahrt nunmehr auch entwicklungsfördernde Aufgaben übernehmen (S. 30). Im Vergleich zu Puebla steht jedoch die Eindringlichkeit der Appelle zur Wahrung der Menschenrechte weit zu-

101 rück. Dies kann dadurch erklärt werden, daß sich die ganze repressive Kraft der Militärregime erst gegen Ende der 60er Jahre entwickelte. Dementsprechend zeigt sich für die Bischöfe in Puebla eine deutlich verschärfte Situation, ein "totale(r) Mangel an Achtung vor der Würde des Menschen" angesichts der Morde, dem Verschwinden von Menschen, willkürlicher Haft, Terrorakte, Entführungen und Folter. Gegen diesen Machtmißbrauch muß die Kirche "auf der Grundlage einer echten Verpflichtung im Geist des Evangeliums ihre Stimme erheben, und solche Situationen anklagen und verdammen, dies um so mehr, wenn die Regierenden oder Verantwortlichen sich zum Christentum bekennen" (42). Die Doktrin der Nationalen Sicherheit, mit der einige Regime die vielfaltigen Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen suchten, wird allerdings vom Vatikan milder beurteilt als von den lateinamerikanischen Bischöfen in Puebla: "Die Doktrin..., als absolute Ideologie verstanden, läßt sich nicht in Einklang bringen (no se armonizaría) mit der christlichen Sicht des Menschen..." (549). Zuvor hatte hier gestanden: "Die Lehre der Nationalen Sicherheit widerspricht (se opone) der christlichen Sicht vom Menschen" (408). Als Orientierungsgrundsatz für das pastorale Wirken gilt "der Schutz und die Förderung der unveräußerlichen Würde des Menschen" (1223). In diesem Sinne nimmt die Kirche die Verteidigung der Menschenrechte auf sich. Sie erklärt zudem ihre Solidarität mit denen, die für sie eintreten (146). Die Bischöfe befürworten ausdrücklich die in Lateinamerika bereits erlassenen Gesetze zum Schutze der Menschenrechte (337). Angesichts der Menschenrechtsverletzungen wird die Notwendigkeit gesehen, bei der Verwendung der eigenen Medien "immer mehr zur Stimme der Besitzlosen zu werden, trotz des Risikos, das damit verbunden ist" (1094). Mit einem eindringlichen Appell wenden sich die Bischöfe in Puebla an das "Gewissen der Völker und ebenso an die humanitären Organisationen" (1292). Sie setzen sich u.a. für eine Stärkung und Ausweitung des Asylrechts ein, eine Erhöhung der Aufhahmequoten für Flüchtlinge und Emigranten, eine Amnestie sowie die Schaffung von Organen zum Schutz der menschlichen Person (centros de defensa de la persona humana). Auf diesem Wege sollen "die Barrieren der Ausbeutung abgebaut werden, die oft ein unannehmbarer Egoismus gegen jene errichtet, die ihre besten Kräfte dem Aufstieg opfern". Die Kirche tritt ein für das "besondere Bemühen um den Schutz und die Förderung der Rechte der Armen, der Randgruppen und der Unterdrückten" (1217). Diese Verpflichtung zur Förderung und Verteidigung der menschlichen Würde wird in den pastoralen Richtlinien für die Bischöfe und Priester erneut betont (706/711).

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d) Indianerfrage Die Urbevölkerung Lateinamerikas ist für die Bischöfe in Medellin noch kein Problemfall gewesen. Zehn Jahre später wird das Schicksal der Indianer nach den römischen Textkorrekturen zwar beklagt, liest sich aber besser, als es die Bischöfe von Puebla selbst feststellen konnten. Im Urtext hieß es "unsere Indios, die gewöhnlich am Rande des Lebens stehen" (252) und nach der Revision abgemildert "die gewöhnlich nicht an den Gütern der Gesellschaft teilhaben" (365), sollten bei der Evangelisierung besonders berücksichtigt werden170. Unverändert blieben die Feststellungen, daß sie "am Rande der Gesellschaft in unmenschlichen Situationen" leben und somit als "die Ärmsten unter den Armen betrachtet werden" können (34). Auf der Ebene der menschlichen Würde entbehrten sie, ebenso wie u.a. die Landbevölkerung, der vollen gesellschaftlichen und politischen Mitbeteiligung (1135). Im Bereich der konkreten Aktionen verpflichtet sich die Kirche dazu, den Indios mit "Achtung und Sympathie gegenüberzutreten und sie zu fordern". Ihren Kulturen werden unbestreitbare Werte zuerkannt (1164/1015), jedoch eine "unfruchtbare Isolierung" ebenso wie die Absorption durch den "neuen Typus der (städtisch-industriellen) Universalkultur" abgelehnt (424/421). Das Bestreben der Kirche geht vielmehr dahin, daß sich die Ureinwohner ohne Aufgabe ihrer Eigenarten und Identität in die universale Gemeinschaft integrieren. Dies soll über eine Einheit im katholischen Glauben geschehen, und die Kirche ist auch bereit, alles was sich auf diesem gerechten Wege in den Bereichen der Wirtschaft, Gesellschaft und der Politik verwirklicht, zu fördern (425). e) Kirchliche Prinzipien einer demokratischen Grundordnung Im Bewußtsein der Defizite der politischen Systeme Lateinamerikas sprechen sich die Bischöfe von Medellin für eine politische Reform aus und betonen den Vorrang des Gemeinwohls bei der Ausübung politischer Autorität. Die Autorität sollte ihrer Ansicht nach durch juristische Normen die Rechte und unveräußerlichen Freiheiten der Bürger und ihrer politischen Interessenvertretungen wirksam und fortlaufend sichern. An mehreren Textstellen wird auf die Notwendigkeit gewerkschaftlicher Organisationen für Arbeiter und Landarbeiter hingewiesen und eine "echte und dringende Reform der Agrarstruktur und Agrarpolitik" gefordert (S. 26/27).

170

Zum Thema Evangelisierung in den Dokumenten von Medellin und Puebla siehe Gera, L. 1993: "Evangelisierung und Förderung des Menschen", in: Hünermann, P./ Scannone, J.C. (Hrsg.), Teil 1: Wissenschaft, kulturelle Praxis, Evangelisierung. Methodische Reflexionen zur katholischen Soziallehre, Mainz, 245-300.

103 Eine Aufzählung demokratischer Grundwerte erfolgt deutlicher in Puebla, und zwar an mehreren Textstellen, wie z.B. Gleichheit vor dem Gesetz, soziale Gerechtigkeit, Ausübung von Freiheitsrechten unter Berücksichtigung des Gemeinwohls und Selbstbestimmungsrecht der Völker (503-506). In Teil IV, Kapitel IV über das "Wirken der Kirche für den Menschen in der nationalen und internationalen Gesellschaft" werden diese Aussagen sinngemäß wiederholt und weiter ausgeführt. Die Kirche sieht in der Verkündigung der Grundrechte des Menschen einen unverzichtbaren Bestandteil ihrer evangelisatorischen Sendung in Gegenwart und Zukunft (1269/1270). Sie ruft daher zur Verwirklichung der folgenden Rechte auf (1271-1273), betont jedoch, daß die Anerkennung dieser Rechte stets von dem Menschen entsprechende Pflichten fordert (1274): 1. Individuelle Rechte: Das Recht auf Leben (das Recht, geboren zu werden und sich in verantwortlicher Weise fortzupflanzen), auf die physische und psychische Integrität, auf gesetzlichen Schutz, auf Religionsfreiheit, auf Meinungsfreiheit, auf die Beteiligung an Gütern und Dienstleistungen, das Recht, das eigene Schicksal zu gestalten, das Recht des Zugangs zum Eigentum und "ein gewisses Maß an Verfügungsmacht über äußere Güter" zu besitzen. 2. Gesellschaftliche Rechte: Das Recht auf Erziehung, das Recht, sich zusammenzuschließen, das Recht auf Arbeit, auf Wohnung, auf Gesundheit, auf Erholung, auf Entwicklung, auf eine gute Regierung, auf soziale Freiheit und Gerechtigkeit, auf die Mitwirkung bei Entscheidungen, die das Volk und die Nationen betreffen. 3. Hieraus entstehende Rechte: Das Recht auf die Ausdrucksmöglichkeit der eigenen Person, auf guten Ruf, auf die Privatsphäre, auf objektive Information und Ausdrucksmöglichkeit, auf Gewissensfreiheit, "soweit die gerechten Erfordernisse der öffentlichen Ordnung nicht verletzt werden", sowie das Recht auf eine eigene Weltanschauung. Die Kirche Lateinamerikas befürwortet dementsprechend das Engagement für demokratische Verfassungsreformen. So brauchen die lateinamerikanischen Völker "eine politische Ordnung, die die Würde des Menschen achtet, die die Eintracht und den Frieden im Innern der bürgerlichen Gemeinschaft und in ihren Beziehungen zu den übrigen Gemeinschaften sicherstellt" (502). f) Möglichkeiten eines demokratischen Wandels Zu den Anliegen der Bischofskonferenz von Medellin zählen besonders alle von der Kirche selbst ausgehenden Bemühungen, das soziale Gewissen in allen beruflichen Schichten und Gruppen zu wecken. Die Bewußtseinsbildung und die soziale Erziehung soll auf vielen Wegen erfolgen, wie z.B. durch die nachdrücklich geforderte Schaffung von apostolischen Gruppen oder Lai-

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enbewegungen möglichst in den entscheidungsbestimmenden Lebensbereichen (S. 87) und die Organisation von Kursen und Treffen, an denen außer Priestern, Ordensleute und Laien auch Führungskräfte und andere Personen in Schlüsselpositionen teilnehmen. Die bischöflichen Kommissionen der Sozialen Aktion oder der Sozialen Pastoral sollen sich hieran beteiligen und die Organisation von Kursen für Techniker, Politiker, Arbeiterführer, Landarbeiter, Unternehmer und Kulturschaffende auf allen Ebenen unterstützen (S. 29). Diese Initiativen haben im Sinne der pastoralen Leitlinien das gemeinsame Ziel, ein lebendiges Bewußtsein der Gerechtigkeit zu erwecken... [und] ...Entsprechend dem Auftrag des Evangeliums, die Rechte der Armen und Unterdrückten zu verteidigen, indem wir unsere Regierungen und Führungsschichten drängen, alles zu entfernen, was den sozialen Frieden zerstört: Ungerechtigkeit, Untätigkeit, Bestechlichkeit, Gefühllosigkeit (S. 39). Der "Mitwirkung der Kirche am Aufbau einer pluralistischen Gesellschaft in Lateinamerika" ist in Teil IV des Puebla-Dokument ein eigenes Kapitel (III, 1206ff) gewidmet, aus dem in anderem Zusammenhang bereits zitiert wurde. Zu den praktischen Initiativen zählen in Puebla ein im einzelnen differenzierter Aufruf zur Orientierung an christlichen Werten an die Politiker und Führenden der Regierungen, die Intellektuellen und die Mitglieder der Universitäten, die Wissenschaftler, Techniker und führenden Persönlichkeiten der technologischen Gesellschaft, die für die Kommunikationsmittel Verantwortlichen, die Kunst Schaffenden, die Juristen, die Arbeiter, die Landarbeiter, die Wirtschaft, die Militärs, die Beamten und alle weiteren Berufe (1238-1249). Die Kirche hält einen raschen und tiefgreifenden Wandel zum Wohle aller, insbesondere der Armen, fiir möglich, sofern eine Mobilisierung aller Menschen stattfinde, die guten Willens sind (1250/1251). Sie sieht es als "ihre Pflicht und ihr Recht" (515) an, in der Politik präsent zu sein, denn der christliche Glaube verachtet nicht die politische Tätigkeit, "im Gegenteil, er wertet und schätzt sie hoch" (514). Allerdings erscheint es ihr wesentlich zu unterscheiden, welche Aufgaben hierbei den Kirchenvertretern und den Laien zukommen. Die Kirchenvertreter, einschließlich der Laien, die in der pastoralen Tätigkeit leitende Funktionen haben, müssen sich jeglicher parteipolitischer Aktivitäten enthalten (526-530). Im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ordnung dürfen sie, wie auch bereits der Medellin-Text ausführte (S. 94), in direkter Weise weder Entscheidungen treffen, noch die Führerschaft übernehmen oder Lösungsmöglichkeiten anbieten (527). Die Kirche will zwar einen wertvollen Beitrag zur Errichtung der Gesellschaft leisten, nimmt aber für sich nicht in Anspruch, Alternativmodelle vorzuschlagen (1211). In Medellin waren die Aussagen hierzu etwas weiter in-

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terpretierbar, denn sie bot den Christen die Mitarbeit bei dem Wandlungsprozeß an, wollte "die Probleme spüren, ihre Anforderungen wahrnehmen, die Ängste teilen, Wege entdecken und an den Lösungen mitarbeiten" (S. 15). Auch dürfe sich der Episkopat bei der Schaffung einer gerechten Sozialordnung, einer höchst christlichen Aufgabe, nicht der Übernahme sehr konkreter Verantwortung entziehen (S. 38). Das Dokument von Puebla steht damit deutlicher im Einklang mit der wenig später am 4. März 1979 von Papst Johannes Paul II. vorgelegten Enzyklika "Redemptor hominis". Der Papst bedauerte hierin ebenfalls u.a. die Korruption, den Militarismus und die sozialen Ungerechtigkeiten der heutigen Zivilisation, bietet aber auch keinen Lösungsweg, bis auf "eine wahre Umkehr der Mentalität, des Willens und des Herzens"171. In diesem Sinne wird unter Rückgriff auf das Dokument von Medellin (S. 23) in Puebla festgehalten: Der notwendige Wandel der ungerechten gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen kann nicht wirklich und umfassend sein, wenn er nicht von einem Wandel in der Mentalität des einzelnen und der Gesellschaft hinsichtlich des Ideals eines menschenwürdigen und glücklichen Lebens begleitet ist, daß seinerseits zur Umkehr bereit macht (1155). Im Hinblick auf die gesellschaftspolitischen Defizite will die Kirche in Puebla nur die "Wünsche" des Volkes ausdrücken, mit dem sie sich solidarisch fühlt. Sie glaubt, daß es die Wünsche nach einer humaneren Lebensqualität sind, nach einer gerechteren Verteilung von Gütern und Chancen, nach einem brüderlichen gesellschaftlichen Zusammenleben, nach Strukturwandlungen, nach der Achtung vor dem Menschen als verantwortliche Person und als Subjekt der Geschichte, nach einer Beteiligung an der Produktion und Teilhabe an den wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Fortschritten sowie nach menschenwürdiger Erholung (131-136). Für die praktische Politik und das parteipolitische Engagement ist der Laie zuständig (524). Er findet in der Soziallehre der Kirche die richtigen Maßstäbe und die "Hierarchie" (im Urtext "die Kirche") unterstützt ihn mit ihrer Solidarität (525). Den Prinzipien und Kriterien der katholischen Erziehung wird eine besondere Rolle zuerkannt. Sie "muß die Träger des ständigen und organischen Wandels hervorbringen, den die Gesellschaft Lateinamerikas braucht" (1033). Eine an demokratischen Grundwerten orientierte politische Tätigkeit des Laien wird mit Nachdruck gefordert. Bei der konkreteren Umschreibung dieser Tätigkeit unterlief den deutschen Übersetzern ein Fehler. Die politische Tätigkeit des Laien umfaßt in der spanischen Fassung "ein weites Gebiet, von der Stimmabgabe über das Engagement und die Führungsarbeit in einer poli171

Hierzu Frieling, R. 1984: Befreiungstheologien. rika (Bensheimer Hefte 63), Göttingen, 135.

Studien zur Theologie in Lateiname-

106 tischen Partei bis zur Ausübung öffentlicher Ämter auf verschiedenen Ebenen (...desde la acción de votar, pasando por la militancia y el liderazgo en algún partido político, hasta...)" (791). In Deutsch wurde hieraus "...von der Stimmabgabe über den Militärdienst und die führende Stellung in einer politischen Partei...". Ferner hat die Kirche genaue Vorstellungen von dem politischen Engagement des Laien: In allen Fällen muß der Laie nach dem Gemeinwohl streben und dieses fördern, indem er die Würde des Menschen und seine unveräußerlichen Rechte verteidigt, indem er die Schwächsten und Bedürftigsten schützt, indem er dem Frieden, der Freiheit und der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhilft, indem er gerechtere und brüderliche Strukturen schafft (792). Dieses Engagement muß geleitet sein vom Glauben, dem Evangelium und der Soziallehre der Kirche. Kein Laie dürfe sich angesichts der lateinamerikanischen Situation der ernsten Verpflichtung zur Förderung der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls entziehen (793). Die hier dargelegte Sicht der lateinamerikanischen Realität durch die katholische Kirche nach den beiden Bischofskonferenzen und die hieraus gezogenen pastoralen Schlußfolgerungen zeigen den deutlichen Willen, auf die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Defizite der lateinamerikanischen Länder einen positiv verändernden Einfluß auszuüben. Auch wenn kirchliche Vertreter nicht als Parteipolitiker tätig sein dürfen, so will die Kirche doch als Institution anklagen sowie bewußtseinsfördernd und meinungsbildend wirken. Bei einer politischen Tätigkeit im Sinne der kirchlichen Vorstellungen sollen alle Institutionen und Laien unterstützt werden. Im Hinblick auf die Menschenrechtsfrage, die Indianerproblematik und die Grundzüge einer demokratischen Ordnung werden die Dokumente von Medellin und Puebla noch von weiteren Texten der nationalen Bischofskonferenzen in Brasilien und Chile ergänzt. Festzustellen bleibt, daß die Tätigkeiten der Nationalkirchen in den beiden genannten Ländern und in den hier interessierenden Problembereichen durch die Aussagen in den Dokumenten der beiden Gesamtlateinamerikanischen Bischofskonferenzen als sanktioniert betrachtet werden können. Andererseits sind die pointiert sozialkritischen Aussagen von Medellin und Puebla beim Klerus und engagierten Laien z.B. in Brasilien und Chile im Detail wesentlich weniger bekannt als allgemein angenommen werden könnte. Diesen Eindruck gewann der Verfasser in zahlreichen Gesprächen mit diesen Personengruppen, da bei den Diskussionen zur aktuellen Situation in der Regel nur auf die Bibel oder aber die Beschlüsse und Weisungen des nationalen Episkopats Bezug genommen wurde. In der Bundesrepublik dürfte die Resonanz vergleichsweise noch geringer gewesen sein. Vielleicht erklärt dies zum

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Teil auch den Umstand, daß die Deutsche Bischofskonferenz dem deutschen Puebla-Text seit über 10 Jahren weder ein Verzeichnis der Errata beilegt hat, noch ihn erneut überarbeiten ließ. Einheit und Differenzen unter den Bischöfen Lateinamerikas Neben den aufgezeigten Differenzen zwischen dem Vatikan und den Bischöfen Lateinamerikas bei der Formulierung des Dokumentes vom Puebla gab es bereits seit Medellin zum Teil erhebliche Meinungsverschiedenheiten unter den Bischöfen über das konkrete Ausmaß des Engagements im weltlichpolitischen Bereich. Die Teilkirchen in Lateinamerika waren zwar darum bemüht, ein einheitliches Bild abzugeben und ihre Differenzen hinter verschlossenen Türen auszutragen. Doch gerade die Differenzen innerhalb der Kirche wurden mit großem Interesse in der Öffentlichkeit und nicht zuletzt den Militärregimen verfolgt. Letztere schalteten sogar die Geheimdienste ein, um kirchliche Interna in Erfahrung zu bringen. Außerdem hat die ab den 80er Jahren weltweit zu beobachtende und oft kritisierte Tendenz des Vatikans zur Neubesetzung von Bischofssitzen mit konservativen und fundamentalistisch orientierten Kandidaten Spekulationen um mögliche Nachfolger besonders in wichtigen frei werdenden Bischofsämtern Brasiliens und Chiles geradezu herausgefordert. Diese in der brasilianischen Presse als "konservative Offensive" bezeichnete Vorgehensweise des Vatikans nahm in Brasilien mit der Ablösung Dom Hélder Cämaras im Jahre 1985 durch Dom José Cardoso Sobrinho ihren Anfang 172 . In Chile wurde im Jahre 1989 bereits Monate im voraus mit großem Interesse die Frage verfolgt, wer Nachfolger des gegen die Diktatur Pinochets eingestellten Kardinals Juan Francisco Fresno und damit Nachfolger in der wichtigsten Erzdiözese des Landes werden würde173. Die Wahl fiel auf Möns. Carlos Oviedo Cavada, Erzbischof von Antofagasta, der aber eher dem gemäßigten Flügel zuzurechnen ist, wie Tabelle 7 über die Nationale Bischofskonferenz in Chile entnommen werden kann 174 . Auch im Vatikan selbst existierte größtes Interesse und wohl ein fundierter Kenntnisstand über den politisch-pastoralen Werdegang potentieller Bischofskandidaten. Da mit jeder Besetzung eines wichtigen Bischofsitzes zwangsläu172 Hierzu mit weiteren Details Mainwaring, S. 1990: "Democratization, Socioeconomic Disintegration, and the Latin American Church after Puebla", in: Cleary O.P., E.L. (ed.) 1990: Born of the Poor. The Latin American Church Since Medellin, Notre Dame, 143-167, 143f. Femer Folha de Säo Paulo 9.1.1989: "Vaticano coloca bispos como alvo central da ofensiva 'conservadora'" und Neue Zürcher Zeitung 17.-18.12.1989: "Umstrittene Politik des Vatikans in Brasilien. Verstärkter Druck auf den progressiven Flügel des Klerus". 173 Siehe für viele Análisis 6.-12.3.1989: "El sucedor de Fresno" und Hoy No. 614, 24.30.4.1989: "¿Y después de Fresno...quién?". 174 Vgl. La Epoca 30.3.90: "Carlos Oviedo fue designado ayer nuevo arzobispo de Santiago por Juan Pablo II" und Análisis 22.-28.8.88: "Episcopado nacional: Quien es quien".

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fig politische Zeichen gesetzt und innerhalb der Kirche besonders im Streit um die Theologie der Befreiung Positionen gestärkt bzw. geschwächt werden (sollen), wird das Interesse über die jeweiligen Denkweisen der in Frage kommenden Kandidaten nie nachlassen. Wissenschaftlich angelegte Untersuchungen zum Thema "Einheit und Spaltung" in den Teilkirchen Lateinamerikas sind in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zu finden, wobei die Studien von Godofredo J. Deelen von 1967 über den brasilianischen Episkopat in dieser Umbruchzeit und die Arbeiten von Ivan Vallier von 1965 und 1970 über ganz Lateinamerika besondere Aufmerksamkeit verdienen175. Äquivalente Studien zum chilenischen Episkopat hat es nicht gegeben. Im Jahre 1978 veröffentlichte Luis A. de Boni eine sozialwissenschaftlich weitgehend überzeugende Studie zu den politischen Einstellungsmustern brasilianischer Bischöfe176. An der Arbeit von Boni orientiert fügt Wilfried Liehr ein Jahrzehnt später neue Gesichtspunkte hinzu, u.a. als Ergebnis von 13 durchgeführten Interviews mit Bischöfen und Kardinälen in den Jahren 1983/84177. Die Erkenntnisse von Liehr werden in die folgenden Ausfuhrungen mit einbezogen und diskutiert werden. Hinzu kommen weitere Aspekte, die der Verfasser aufgrund von informellen Gesprächen und eigenen Interviews mit Bischöfen und Geistlichen in den Jahren 1988/89 für Brasilien und Chile noch ergänzend hinzufügen kann. Das Erkenntnisinteresse dieses Abschnitts richtet sich auf eine mögliche Beurteilung und Gewichtung der unbestreitbar vorhandenen politischen Strömungen, Koalitionen und Kompromißlösungen innerhalb der Bischofskonferenzen, die von Fall zu Fall zu mehrheitlich beschlossenen gemeinsamen politischen Verlautbarungen und Aktionen zur Einflußnahme auf die Regierungspolitik führten. Vorauszuschicken ist, daß dieses Thema auch nach Erfahrung des Verfassers bei formellen Gesprächen von Kirchenvertretern mit nicht persönlich bekannten Fragestellern und Laien nur mit Zurückhaltung aufgegriffen wird. Liehr verweist auf das "meisterhafte diplomatische Geschick" im höheren Klerus bei der (Nicht-)Beantwortung von Fragen nach den politischen Einstellungen der Mitglieder des Episkopats178. Nach den persönlichen Kenntnissen des Verfassers existiert jedoch eine - nach dem üblichen Hinweis auf 175 Vgl. Deelen, G. 1967: "O Episcopado Brasileiro", in: Revista Eclesiástica Brasileira, Vol. 27, fasc. 2, Junho, 310-331; Vallier, I. 1965: "Religious Elites in Latin American Catholicism, Leadership and Social Change", in: América Latina 8, Nr. 4, 93-115; Vallier, I. 1970b: "Extraction, Insulation, an Re-entry: Toward a Theory of Religious Change", in: Landsberger, H.A. (ed.), The Church and Social Change in Latin America, Notre Dame/ London, 9-35. 176

Vgl. Boni, L.A. de 1978: "Kirche und Volkskatholizismus in Brasilien", in: Castillo, F. (Hrsg.): Theologie aus der Praxis des Volkes. Neuere Studien zum lateinamerikanischen Christentum und zur Theologie der Befreiung, München/Mainz, 125-171. 1 7 7 Vgl. Liehr 1988, 326ff. i™ Liehr 1988, 326.

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entsprechende Vorbehalte - vom Klerus selbst weitgehend akzeptierte Klassifikation nach Vertretern einer konservativen, einer gemäßigten und einer progressiven Linie in den Episkopaten. Diese Dreiteilung kann zudem durch eine sinnvoll erscheinende Differenzierung zwischen Konservativen und Fundamentalisten erweitert werden. So berichtete der deutschstämmige Franziskaner-Bischof von Dourados aus dem brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso do Sul, Dom Teodordo Leiz, in einem Interview, daß die Nationale Brasilianische Bischofskonferenz CNBB Klassifikationen ablehne179. Da jedoch ein offenkundiges Interesse an der Einschätzung der politischen Ansichten der Bischöfe besteht, hatte auch Dom Teodordo einen Schätzwert für die zweite Hälfte der 80er Jahre: Etwa 80% der brasilianischen Bischöfe seien "Gemäßigte" (moderados) und lehnten die Theologie der Befreiung nicht grundsätzlich ab, 10% gehörten dem linken Flügel der "progressistas" an und weitere 10% seien Fundamentalisten, wobei er dieser Bezeichnung gegenüber dem Begriff "Integralist" den Vorzug gab. Eine andere Zusammensetzung des Episkopats gegen Ende der 80er Jahre mit 31% "progressistas", 53% "moderados" und 16% "conservadores" stammt aus der seriöseren brasilianischen Presse, wobei sich die politische Ausrichtung unter den Priestern bei jeweils etwa 30, 50 und 20 Prozent bewegen würde180. Faßt man im Falle Chiles den konservativen und fundamentalistischen Flügel zusammen, so können nach Schätzungen des Generalvikars für die Pastoral in Santiago, Cristián Precht, die Bischöfe gegen Ende der 80er Jahre in jeweils 1/3 Konservative, Gemäßigte und Progressive eingeteilt werden, wodurch insgesamt betrachtet eine grundsätzlich soziale und politische Reformorientierung in den Vordergrund rückte181. Andere Quellen berichten von einer friedfertigen Pattsituation zwischen Konservativen und Progressiven im chilenischen Episkopat182. In der Presse Brasiliens und Chiles werden für die 80er Jahre einige Bischöfe nach den Kategorien "Progressive" und "Konservative" eingeordnet (siehe Tabellen 6 und 7). Hierbei werden zu der ersten Gruppe teilweise auch die sog. "Gemäßigten" gezählt, zu der zweiten Mitglieder des fundamentalistischen Flügels. Die zum Teil fließenden Grenzen besonders bei der Einteilung nach Kategorien wie "Gemäßigter" und "Konservativer" lassen sich durch verschiedene Hinweise erklären, die allerdings die Fragwürdigkeit solcher Einteilungen nur 179

Interview des Verfassers in der Missionszentrale der Franziskaner in Bonn-Bad Godesberg am 4.7.1989. 180 Vgl. Schneider, R.M. 1991: "Order and Progress". A Political History of Brazil, Boulder, 378, der sich auf einen Artikel in der Veja vom 6.12.89, S. 57 bezieht. 181 Angaben des Vicario General de Pastoral Cristián Precht bei einem Interview des Verfassers am 27.4.1989 am Sitz der Nationalen Bischofskonferenz in Santiago de Chile. '82 Vgl. Hoy No. 614, 24-30.4.1989: "¿Y después de Fresno...quién?".

110 unterstreichen. Grundsätzlich muß nämlich innerhalb des Klerus zwischen den politischen und den seelsorgerischen Positionen unterschieden werden. So kann ein Bischof oder Priester z.B. mit deutlich progressiven politischen Argumenten die Menschenrechtsverletzungen eines Militärregimes verurteilen, sich für Demokratie einsetzen, jedoch im pastoralen Bereich die linksradikaler orientierten Varianten der "Theologie der Befreiung" ablehnen oder andererseits sich mit genau diesen Mitbrüdern gemeinsam gegen Scheidung, Empfängnisverhütung und Abtreibung wenden. In der Praxis war bzw. ist zumindest unter den Priestern beinahe jede Variante zwischen dem sog. "momio"-(Mumien-) Prälaten bis hin zu den Guerilla-Priestern183 vertreten, wie z.B. dem berühmt gewordenen Studentenpfarrer aus der kolumbianischen Oberschicht, Camilo Torres (1929-1966), der sich 1966 der castristischen Guerilla anschloß und kurz darauf im Kampfe fiel184. Ein weiteres Problem bei der Einschätzung politisch-sozialer Grundpositionen bei hohen Kirchenvertretern liegt darin, daß es in Chile wie Brasilien zahlreiche Beispiele für heute prominente Bischöfe gibt, die im Laufe der Jahre ihre Position grundlegend geändert haben. So wandelte sich der Erzbischof von Santiago, Kardinal Juan Francisco Fresno, vom Anhänger Pinochets zu einem seiner schärfsten Kritiker185. Dom Paulo Evaristo Arns und Dom Hélder Cämara waren anfangs dem konservativen bzw. integralistischen Flügel der Kirche zuzurechnen und entwickelten erst mit dem Aufstieg in der Hierarchie ihr sozialpolitisches Engagement. Auch der als konservativ geltende Vorgänger von Dom Evaristo Arns in Säo Paulo, der damalige Vorsitzende der Bischofskonferenz Kardinal Agnelo Rossi, wurde Ende der 60er Jahre zum Regimekritiker. Den umgekehrten Weg ging Dom Eugenio Sales von einer reformistischen Basisarbeit im Bundesstaate Rio Grande do Norte zu einer konservativen Amtsführung als Bischof von Rio de Janeiro186. Ferner ist eine Kategorisierung der Mitglieder eines Episkopats nach empirischen Gesichtspunkten doppelt problematisch. Zunächst scheint es noch niemanden außerhalb der Kirche in Brasilien oder Chile gelungen zu sein, alle

183 Vgl. Vega, L.M. 1977: "Die Krise der lateinamerikanischen Kirche", in: Berichte zur Entwicklung in Spanien, Portugal und Lateinamerika, Heft 14, 11-17, 12. 184

Zu Camilo Torres siehe Lüning, H. 1970: Camilo Torres. Priester, Guerillero, Hamburg und Lüning, H. 1976: "Entwaffnung eines Toten. Zum 10. Todestag von Camilo Torres (Mit Literaturauswahl)", in: Publik-Forum 4/1976, 8-9. Femer Torres, C. 1969: Revolution als Aufgabe des Christen, Mainz und Adler, G. 1970: Revolutionäres Lateinamerika. Eine Dokumentation, Paderborn. 185

Vgl. hierzu Donner, P. 1989: Iglesia, reconciliación y democracia. Lo que los dirigentes políticos esperan de la Iglesia, Santiago: Andante, 140 und Hoy No. 614, 2430.4.1989: "Fresno: Un reconciliador". 186 Hierzu vgl. Istoé/Senhor 1021-12.4.1989: Seja feita a Vossa vontade.

Ili Bischöfe zumindest tendenziell politisch einzuordnen187. Zweitens, und hier weist Liehr auf ein besonderes innerkirchliches Konfliktpotential hin, wäre die (relativ) genaue politische Standortbestimmung eines Bischofs noch kein Beweis dafür, daß auch in seiner Diözese die entsprechende gesamtkirchliche Strömung wiedergegeben würde. Ein Priester, der nicht mit den Vorstellungen seines Bischofs übereinstimme, würde um seine Versetzung bitten und offen ausgetragene Konflikte seien eher die Ausnahme188. Einen selten aufschlußreichen Sonderfall bildete hier allerdings die umstrittene Nachfolge von Dom Hélder Cämara im Juni 1985 durch Dom José Cardoso Sobrinho, dessen pastorale Sicht den progressiven Vorstellungen seines Vorgängers diametral entgegensteht. Der neue Bischof begann sofort mit der Entlassung einer großen Zahl von Vertrauten Cämaras, beendete die Menschenrechtsarbeit der Erzdiözese von Recife und Olinda und schloß zwei als fortschrittlich geltende Priesterseminare in Recife189. Die Einteilung der Bischöfe nach bestimmten Grundpositionen kann - wenn überhaupt - nur dann sinnvoll sein, wenn sich das Erkenntnisinteresse auf bestimmte Problemfelder konzentriert, wie hier die Frage nach ihrer Haltung gegenüber einer Demokratisierung des Regimes. Bei den hier im Vordergrund stehenden gemeinsamen Beschlüssen und Aktionen der Bischofskonferenzen kommen interne Meinungsrichtungen bzw. -Verschiedenheiten aber in der Regel nicht zum Ausdruck. Jedoch gibt es auch in diesem Falle Ausnahmen von der Regel, die an verschiedenen Stellen im empirischen Teil dieser Arbeit behandelt werden. Zum Beispiel veröffentlichte in Brasilien ein kleiner Führungszirkel nach dem Militärputsch offizielle kirchliche Erklärungen im Namen des gesamten Episkopats oder einzelne Gruppen von Bischöfen verfassten in bestimmten historischen Phasen sozialkritische Hirtenbriefe, die ebenfalls nicht als Stimme des gesamten Episkopats gelten konnten. Auch wurden hin und wieder Interna über die Konsensfindungsprobleme innerhalb der Bischofskonferenzen bekannt. In seinem Artikel über "Kirche und Volkskatholizismus in Brasilien" gibt Boni vor seinen eigenen Vorschlägen, die auch das jeweils angestrebte "Reformmodell" umfassen, zunächst einen Überblick über die verschiedenen Versuche einer Klassifizierung der brasilianischen Bischöfe durch sechs Auto187

Der Verfasser hat dies bei der vergleichsweise kleinen Bischofskonferenz mit 32 Mitgliedern (1988) in Chile im Jahre 1989 ohne Erfolg versucht (siehe aber Tabelle 7). Eine solch systematische Recherche in diesem sensiblen Bereich stieß in einer Militärdiktatur auf (verständliche) Zurückhaltung bei den dafür kompetent erscheinenden katholischen Laien und Geistlichen, wobei aber offen blieb, ob diese Kenntnisse überhaupt vorhanden waren. Für Brasilien wird im Rahmen der Arbeit noch ausgeführt werden, daß solche Recherchen mit großem Interesse auch von dem nationalen Nachrichtendienst ausgeführt wurden. 188 Vgl. Liehr 1988, 327. 189 Hierzu Folha de Söo Paulo 9.1.1989/10.7.1988 und Neue Zürcher Zeitung 17.18.12.1989.

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ren190 und stellt diese in der folgenden Übersicht seine eigenen Vorschlägen voran191. Boni weist darauf hin, daß die Klassifizierungen allein auf der Ebene der Bischöfe leicht zu falschen Vorstellungen über das tatsächliche Gewicht einzelner Grundpositionen im gesamten Klerus und bei engagierten Laien führen können. Eine Einbeziehung von Priestern192 und Laien in diese Klassifikation würde weitere Differenzierungen erfordern, wie Pierre Vilain 1964 durch einen zusätzlichen Typ des "Extremisten" veranschaulichen wollte, der sich als Priester oder Laie eindeutig für die Gewalt als Mittel zur Systemveränderung entschieden hat. Letztlich wird aber von Boni der Ansatz befürwortet, sich auf die Bischöfe zu konzentrieren, da der Zugang zu deren Positionen durch den Rückgriff auf zahlreiche kirchliche Dokumente und Verlautbarungen methodisch leichter ist. Für die Beschränkung auf diese Ebene spricht ferner, daß der hierarchischen Ordnung in der katholischen Kirche größte Bedeutung beigemessen wird. Die klare Betonung der Hierarchie in der vom Vatikan redigierten Fassung des Dokumentes von Puebla von 1979193 unterstreicht noch einmal diesen Aspekt für die folgenden 80er Jahre. Boni hat im Hinblick auf den hier ebenfalls interessierenden Untersuchungszeitraum im Brasilien der 70er Jahre vier idealtypische Einstellungsmuster von Bischöfen benannt und beschrieben: den Revolutionär, den Reformer, den Konservativen und den Integralisten194. Diese Bezeichnungen gelten allerdings, wie bereits angedeutet, in den 80er Jahren als überholt. Liehr schlägt bei seiner Kategorisierung vier zeitgemäßere Umschreibungen vor, meint aber dieselben Gruppierungen wie Boni: Progressive, Reformisten,

190

Vgl. Boni 1978. Begrifflich abgewandelte Klassifikationen des lateinamerikanischen Katholizismus und der kirchlichen Eliten sind zu finden bei Deelen, G. 1978: "Die Kirche als Glaubensgemeinschaft und politische Bewegung", in: Lateinamerika-Ploetz, Geschichte - Probleme - Perspektiven, Freiburg/Würzburg, 244-252, 249ffund Leumann 1984, 55f. 191 Zu den weiteren Klassifikationen siehe u.a. nach den Angaben von Boni Cavalcanti, J.K. de 1970: "Igreja em Estado de Graça", in: Cavalcanti, J.K. de/Deelen, G., Igreja em Transiçâo, Colección SONDEOS No. 48, ed. por CIDOC, Cuernavaca, México, 1/7-8. (zuerst in Visäo vom 17.-24.3.1967 veröffentlicht); Vilain, P. 1964: "Au Brésil les Chrétiens sont partout", in: Croissance des Jeunes Nations 33, Mai, 21-24; Herder Correspondence (English ed.) 1967: "Brazilian Schizophrenia: A Church and People at Odds", February, 4852; Mutschler, D.E. 1965: "Roman Catholicism in Brazil", in: Studies in Comparative International Development 1, 101-117. 192 Eine sehr informative Klassifikation, die sich auf die verschiedenen Positionen im gesamten Klerus bezieht, ist zu finden bei Corrales, A. : "Soziale und politische Implikationen der Öffnung der katholischen Kirche Lateinamerikas", in: Zeitschrift für Lateinamerika - Wien o.J., Nr. 22,21-39. 193 Vgl. hierzu Frieling 1980: "Römische Entscheidungen", in: MD, Nr. 3, Mai/Juni, 43. M Vgl. Boni 1978, 126ff.

113

Konservative und Ultrakonservative195. Nach den Recherchen des Verfassers in Brasilien und Chile werden - wie bereits erwähnt - die "Reformer" in der Praxis dagegen eher als "Gemäßigte" (moderados) bezeichnet und für den "Ultrakonservativen" wird der Begriff "Fundamentalisten" vorgezogen. Tabelle 4 VERSCHIEDENE KLASSIFIZIERUNGEN DER BRASILIANISCHEN BISCHÖFE Cavalcanti

Progressist

Pastoralist

Juridizist

Integralist

Deelen

Progressist

Pastoralist

Papist

Konservativer

Vilain

Christlicher Sozialer

Gemäßigter

Konservativer

Ultrareaktionär

Vallier

Pluralist

Hirt

Papist

Politischer Integralist

Herder

Trade-Union

Sergeant

wait and see's

Unnachgiebiger

Mutschier

Progressist

Gemäßigter

Konservativer

Ultrareaktionär

Boni

Revolutionär

Reformer

Konservativer

Integralist

Quelle: Boni 1978, 126.

Somit ergibt sich in Tabelle 5 nach Abwandlung der von Boni ursprünglich verwandten Bezeichnungen ein Klassifikationsschema mit Hinweisen auf die jeweils vorgetragene Kritik an Gesellschaft und Kirche sowie zur Reformorientierung, das auch für die 80er Jahre Gültigkeit beanspruchen kann. Die den Idealtypen zugeordneten Adjektive bleiben bei Boni allerdings nur vage Umschreibungen: Tabelle 5 Vier Einstellungsmuster von Bischöfen Kritik- und Reformverhalten

Idealtypus

Sozialkritik

Kirchenkritik

Reformmodell

Progressist

radikal

radikal

radikal

Gemäßigter

reformfreudig

gemäßigt

reformfreudig

Konservativer

gemäßigt

keine

gemäßigt

Fundamentalist

keine

keine

keine

Quelle: In Abwandlung von Boni 1978, 137.

195 Vgl. Liehr 1988, 328.

114

Die folgenden Ausfuhrungen versuchen eine Klassifizierung auf der Basis der genannten Autoren, sind aber weitergehend und arbeiten stärker die jeweilige Einstellung zur Demokratisierung heraus. Angesichts der bereits aufgeführten Vorbehalte können allerdings nur grobe Grundmuster der Positionen von Bischöfen in Brasilien seit den 70er Jahren und cum grano salis in Lateinamerika wiedergeben werden - auch wenn für jede dieser Richtungen Exponenten in den 70er und 80er Jahren existieren. Besondere Berücksichtigung finden - neben Boni196 - die entsprechenden Ausführungen von Liehr, der sich nach einem allgemeinen Literaturverweis auf eigene Interviews stützt. Typische Verhaltensmuster von progressiven bis fundamentalistischen Bischöfen werden zudem im empirisch orientierten Kapitel III dieser Arbeit an zahlreichen Stellen wiederzufinden sein. a) Der Revolutionär (Progressive) Der Begriff "Revolutionär" wurde von Boni bewußt provokativ gewählt, um der bereits gegen Ende der 70er Jahre relativierten Bezeichnung "progressista" ein schärferes Profil zu geben. Der revolutionäre Bischof wendet sich im Prinzip gegen Gewalt als Lösungsweg für politische und soziale Probleme, steht den links-radikalen Gruppen aber insofern nahe, als diese ebenfalls extreme und rasche Lösungen der sozialen Probleme fordern. Angesichts der extremen Einkommensunterschiede und der Bereicherung einiger weniger auf Kosten einer in Elend lebenden Mehrheit ist die Gesellschaftskritik des Revolutionärs schonungslos. Die Haltung der Kirche ist seiner Meinung nach in diesem Bereich zu nachsichtig, und sie trägt oft eine wesentliche Mitverantwortung für die Situation. Daher muß sie sich den Ausgebeuteten zuwenden und klar sagen, daß die vorhandenen Strukturen anti-christlich sind. Hinsichtlich einer sozialen Umgestaltung sollte die Kirche eine wichtige Rolle spielen, nicht als politische Partei und schon gar nicht als Hüterin überkommener Privilegien, sondern als Institution zur differenzierten moralischen und sozialen Einflußnahme197. Das erste von zwei prägnanten Unterscheidungsmerkmalen des Revolutionärs gegenüber den anderen Gruppen betrifft konkret die mögliche Zusammenarbeit mit Marxisten. Diese Perspektive ergibt sich aus einem theologischen Verständnis, das die Kirche nicht als Hüterin der Wahrheit, sondern als eine Institution unter vielen in einer säkularisierten und pluralistischen Gesellschaft betrachtet. Hier sei die Kirche auf die Mitarbeit anderer Gruppen angewiesen, die sich ebenfalls für eine gerechtere Ordnung einsetzen. Das zweite Merkmal ist, daß die Frage der Gewalt offener behandelt wird. So sprechen sich revolutionäre Bischöfe zwar für Gewaltlosigkeit aus, differenzieren aber

196 Vgl. jeweils Boni 1978,127ff. 197 Vgl. Deelen 1967, 327.

115

genau zwischen einer diktatorialen "Gewalt von oben" und einer Gegengewalt "von unten", der man unter bestimmten Voraussetzungen nicht pauschal alle Rechte absprechen könne. Nach Boni gehören in den 70er Jahren ca. 10% (27) der rund 270 brasilianischen Bischöfe zu den "Revolutionären", wobei einer ihrer herausragendsten Repräsentanten, Dom Hélder Cämara, wegen seiner Verteidigung der Gewaltlosigkeit im Widerstand gegen die Militärdiktatur weltweit bekannt wurde. Als zusätzliche Namen werden Dom Antonio Fragoso, Dom Waldyr Calheiros und Dom Càndido Calheiros genannt und auf weitere Bischöfe im traditionell armen Nordosten Brasiliens ist verwiesen. Eine andere Quelle fugt für das Jahr 1967 noch Càndido Padin, Jorge Marcos, Luis Femandes, Marcos Noronha, David Picäo, José Pires, Damiele, Alberti und Manuel Pereira hinzu198. Der Einfluß dieser Gruppe als Opposition gegen das Militärregime war durch ihren internationalen Bekanntheitsgrad größer als ihre eher geringe Zahl vermuten läßt. Dennoch gelang es dem Regime letztlich, diese Strömung durch repressive Maßnahmen erheblich einzuschränken. Liehr stimmt aufgrund seiner Informationen und Eindrücke der von Boni ermittelten Zahl von etwa 10% zu. Er geht für die 80er Jahre davon aus, daß diese Zahl aufgrund der politischen Öffnung und des Wandels in der Kirchenpolitik des Vatikans nicht nennenswert gestiegen ist. Als Exponenten dieser progressiven Linie bezeichnet er Bischof Pedro Casaldàliga (siehe auch Tabelle 6), der sowohl als "kompromißloser Verfechter der Befreiungstheologie" wie auch als "überzeugter Vertreter eines christlichen Sozialismus" gelten könne199. Gegen Ende der 80er Jahre entsteht für Brasilien allerdings der Eindruck, daß der kircheninterne Einfluß des progressiven Flügels trotz des unvermindert anhaltenden sozialen Problemdrucks eher rückläufig ist. b) Der Reformer (Gemäßigte) Der Reformer zählt zu einer verhältnismäßig neuen Gruppe in der Kirche Lateinamerikas, die in den 50er Jahren entstand und durch die Mitwirkung beim II. Vatikanischen Konzil zunehmend an Bedeutung gewann. Die Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" war für die Reformer verpflichtend. Zu jener Zeit galt die Pastoralkonstitution zugleich die "offiziellen" Linie der gesamten Kirche und prägte die spätere lateinamerikanische Bischofskonferenz von Medellin. Festzustellen ist ferner, daß die nach dem Konzil ernannten Bischöfe im allgemeinen zu der Gruppe der Reformer zählten. Im Hinblick auf Brasilien prägten die Auffassungen der ca. 20% (54) des Episkopats umfassenden Reformer die kirchlichen Verlautbarungen der Nationalen Bischofskonferenz in den 70er Jahren, wobei sich die anderen Grup198 Vgl. Cavalcanti 1970, 1/7. 199 Vgl. Liehr 1988, 332.

116

pen trotz interner Meinungsgegensätze meist dieser offiziellen Linie anschlössen. Gegenüber den bestehenden Verhältnissen in Gesellschaft und Politik ist die Haltung des Reformers von z.T. scharfer, an den Wurzeln ansetzender Kritik gekennzeichnet, die auch die Kirche selbst nicht aus der Mitverantwortung entläßt. Die Kirche soll für dringende Reformen eintreten, aber zunächst innerhalb der eigenen Institution ansetzen. Über die althergebrachte territoriale Pfarrei hinaus wird den Basisgemeinschaften große Bedeutung beigemessen und neben den traditionellen Aufgabenbereichen wie dem Spenden der Sakramente soll der Klerus einen entscheidenden Beitrag zur Öffnung der Kirche nach außen leisten. Begriffe wie "Dialog", "Zusammenarbeit", "aggiornamento", "Modernisierung", "Teamarbeit", "Planung", "Methodologie", "Entwicklung der Kreativität" und "Gemeinschaft" stehen für diese reformorientierte Linie. Nach dem von der Bischofskonferenz beschlossenen Pastoralplan "Plano de Pastoral de Conjunto" will der Reformer "Mittel und Bedingungen schaffen, damit die Kirche Brasiliens möglichst schnell und vollkommen die Gestalt der Kirche des II. Vaticanums annimmt". 200 Für Ende der 60er Jahre sind unter Vorbehalten zu dieser nur schwer faßbaren Gruppe Persönlichkeiten wie Fernando Gomes, Waldyr Calheiros (bei Boni "Revolutionär"), Eugenio Sales (später unter den Konservativen), Tiago Cohen, Isnard demente, José Távora, José Delgado, José Newton und Aloísio Lorscheider aufgeführt worden 201 . Nach Liehr kann der 1987 gewählte Präsident der brasilianischen Bischofskonferenz, Dom Luciano Mendes, zu den Reformern gezählt werden. Unter Bezugnahme auf den ebenfalls mit eingeschlossenen Kardinal Arns konstatiert Liehr als Reformmodell dieser Gruppe ein eher diffuses Ideal von einer "sozial ausgewogenen, christlichbrüderlichen Gesellschaft", eine Art '"Dritten Weges' zwischen Kapitalismus und Sozialismus" 202 . Betrachtet man jedoch die kirchlichen Grundsatzpapiere zur Demokratisierung der Verfassungsordnung (z.B. "Por urna nova ordern constitucional" von 1986), die von diesem Flügel gleichfalls mitgestaltet wurden, so ist ein keineswegs diffuses, sondern sehr sachliches und klares Reformbestreben erkennbar. Ausgehend von den 20%, die Boni diesem Sektor zuteilt, schätzt Liehr wohl zutreffend, daß die Reformer neben den Neuernennungen in ihren Kreisen in den 80er Jahren Zulauf aus dem konservativen Lager erhalten haben. Auch werden die Reformer und Progressiven offensichtlich aufgrund ihrer "innovativen Kapazität" von den Konservativen unterstützt.

200 Zitiert nach Boni 1978, 133. 201 Vgl. Cavalcanti 1 9 7 0 , 1 / 8 . 202 Vgl. Liehr 1988, 333 und zum folgenden S. 335f.

117 c) Der Konservative In der englischen Ausgabe der Herder-Korrespondenz von 1967 wird die Grundhaltung des konservativ orientierten Bischofs mit den Worten "wait and see" charakterisiert. Von dem populistischen brasilianischen Diktator der 30er und 40er Jahre, Getülio Vargas, stammt eine weitere anschauliche Umschreibung einer solchen Position: "Wir lassen alles, wie es ist, um zu sehen, was daraus wird" 203 . Der Konservative spricht sich zwar grundsätzlich für die Beibehaltung aller historisch gewachsenen Strukturen aus, ist jedoch bereit, Fehlentwicklungen zuzugestehen und entsprechende soziale Änderungen zu verlangen. Sein Engagement zugunsten der sozialen Gerechtigkeit geht jedoch in der Regel nicht über die anklagende Stellungnahme hinaus. Dies erklärt sich z.T. durch seine tiefe Ablehnung kommunistischer Lehren, die ebenfalls "Reformen" und "Revolutionen" verlangen. Die Zurückhaltung gegenüber sozialen Umwälzungen ist von dem Mißtrauen geprägt, diese könnten zu einem sozialistischen System führen, wie die Beispiele Kuba und Nikaragua in Lateinamerika historisch belegen. Solche Entwicklungen sind für den konservativen Bischof ein größeres Übel als die Repressionsmaßnahmen einer Militärregierung. Die Lösung aller Probleme liegt nach Boni für den konservativen Bischof in der Anwendung der katholischen Soziallehre, wobei seine Kritiker argumentieren, er bliebe dann im konkreten Falle die Antwort auf eine Lösung durch die Soziallehre schuldig. Betrachtet man die Klassifizierung der Konservativen durch andere Autoren, so wird in deren Bezeichnungen "Papist" und "Juridizist" die unumstrittene Hochschätzung der kirchlichen Autorität deutlich. Nach Boni führte diese Autoritätsgläubigkeit oft durch eine Begriffsverwechslung zur kritiklosen Akzeptanz staatlicher Autorität, da der Staat ebenso wie der Vatikan das Recht habe, verbindliche Vorschriften zu erlassen. Diesem rechtspositivistischen Verständnis entspricht z.B. ein Kommentar des damaligen Erzbischofs A.V. Scherer von Porto Alegre zur Haltung von Priestern und Ordensleuten, die 1967 eine nationale Studentenversammlung ermöglichen halfen. Die Kritik des Bischofs bezog sich darauf, daß die Nationale Studentenverband UNE von der Militärregierung aufgelöst worden sei, die Vesammlung also "heimlich" und "ohne gesetzliche Genehmigung" stattgefünden habe. Nach Boni gehörten dieser Gruppe etwa 60% (162) der Bischöfe an, die zumeist im Hinterland mit Ausnahme vom Nordosten tätig waren, aber auch einige Schlüsselpositionen in den Großstädten besetzten. Ihre Tendenz zu einem harmonischen Verhältnis mit den Machthabern sollte jedoch nicht als Komplizenschaft mißverstanden werden, sondern entsprach vielmehr ihrer traditionellen innerkirchlichen Sozialisation und Seminarausbildung mit dem 203

Zitiert nach Boni 1978,130 ("Deixemos corno està para ver corno fica").

118

Vorbild eines "guten Priesters", der seine pastoralen Aufgaben treu erfüllt und versucht, Konflikte durch einen Dialog unter vier Augen zu lösen. In diesem Sinne wurde dem Verfasser im Jahre 1989 für den Fall Chile in der Diözese des als konservativ eingeschätzen Bischofes Sixto Parzinger aus Villarica von einem deutschstämmigen Geistlichen mitgeteilt, die Kirche zöge es hier vor, z.B. durch höhere Löhne der bei ihr beschäftigten Angestellten eine Vorbildfunktion zu erfüllen. Im Falle eines Konfliktes würden sich Kirchenvertreter persönlich und ohne Aufsehen zu erregen bei den Großgrundbesitzern bzw. lokalen Eliten, die man meist von Kind auf kenne, um Lösungen bemühen. Als typischen Vertreter dieser Gruppe nennt Liehr Dom Eugenio Sales. Weitere Repräsentanten werden noch in Tabelle 6 aufgeführt. Für das Ende der 60er Jahre werden Dom Jaime Cämara, Agnelo Rossi, Vicente Scherer, Avelar Brandäo, D'Elboux, Geraldo Penido und José Castro Pinto zu dieser Linie gezählt204. Besonders auffallend bei dieser Schätzung über die politischen Positionen der Bischöfe ist die absolute Mehrheit von Konservativen in Brasilien und nach der oben genannten Dreiteilung im chilenischen Episkopat von etwa 30% bzw. nach anderen Quellen einer Pattsituation zwischen Konservativen und Progressiven. An dieser Stelle sind einige Differenzierungen nötig: Liehr fuhrt zu der Schätzung Bonis erklärend aus, daß viele der Konservativen bei den Bischofsversammlungen häufig mit dem progressiven und reformorientierten Block stimmten und diese Tatsache zunächst Verwunderung hervorrufe205. Es ist jedoch festzustellen, daß sich nach Informationen des Verfassers die Progressiven und Gemäßtigten deutlich aktiver bei der Formulierung von Verlautbarungen und Teilnahme an den Abstimmungen in der Bischofskonferenz zeig(t)en, als es der in politischen Fragen eher zurückhaltenden Grundeinstellung konservativer und rechtskonservativer Geistlicher entsprechen würde. Auf zwei mögliche pragmatische Gründe zum Abstimmungsverhalten konservativer Bischöfe weist Liehr hin: "Gerade der Kampf gegen Säkularisierung, den der progressiv-reformistische Block im Gegensatz zu den Konservativen mit modernen Formen kirchlicher Einflußnahme relativ erfolgreich betreibt, dürfte diesbezüglich eine konsensbildende Funktion haben". Auch die oppositionelle Haltung der Kirche gegen das autoritäre Regime wird angesichts der Verfolgung von Priestern und Laien im Sinne eines Eigeninteresses an der institutionellen Selbsterhaltung interpretiert: "Hätten sich die Bischöfe nicht möglichst geschlossen gegen Folter und Willkür gewandt, so wäre ein überaus großer kirchlicher Einflußverlust an der Basis sicher gewesen". 204 Vgl. Liehr 1988, 336 und Cavalcanti 1970, 1/8. 205

Hierzu und den folgenden Zitaten siehe Liehr 1988, 337.

119

Diese Reduzierung auf rein taktisches Handeln und die völlige Ausklammerung des kirchlichen Bemühens um die Verteidigung der Menschenrechte auf der Grundlage des christlichen Glaubens bzw. der "Option für die Armen" kann nur durch ein stark einseitig ausgerichtetes Erkenntnisinteresse Liehrs verständlich werden. Sie trifft nach Berücksichtigung sämtlicher Informationsquellen des Verfassers nicht den Kern des Anliegens konservativer Bischöfe. Unter Hinweis auf die allen Bischöfen gemeinsame christliche Glaubenslehre erklärte z.B. der Vicario Apostölico de la Araucania Parzinger, der sich Ende der 70er Jahre besonders intensiv gegen eine gesetzliche Benachteiligung der Mapuche-Indianer wandte, daß eine konservative Grundhaltung nicht daran hindere, sich bei Machtmißbrauch und sozialen Mißständen in Wort und Tat und im Einklang mit politisch links stehenden Bischöfen für die Einhaltung der Menschenrechte, Verfassungsreformen und die Sache der Indianer einzusetzen206. Diese Grundhaltung kann auch für Brasilien bestätigt werden und wäre neben bereits erwähnten Gesichtspunkten eine Erklärung dafür, warum die Kirche in beiden Ländern trotz eines hohen Anteils an sog. konservativen Kräften ein insgesamt fortschrittliches Profil vorwies. Hinzuzufügen ist, daß dem in Westeuropa verbreiteten Verständnis eines "konservativen" Bischofs im Grunde eher die weiter unten beschriebenen fundamentalistischen Kirchenvertreter entsprechen. In den folgenden Fallstudien zu Brasilien und Chile werden allerdings auch einige unrühmliche Beispiele dafür genannt, wie Teile dieser Gruppe unter den Bischöfen besonders in den ersten Jahren der Militärherrschaft ein möglicherweise wirkungsvolleres politisches Engagement des Episkopats blockierten. Erst die weitere Verhärtung der Diktaturen und das Versagen gemäßigter kirchlicher Maßnahmen auch zum Schutze der Priester führte offensichtlich in beiden Ländern zu einem immer breiteren Konsens unter allen Bischöfen über einen verstärkten Einsatz zugunsten einer Demokratisierung auf der Grundlage des christlichen Glaubensbekenntnisses. d) Der Integralist (Fundamentalist) Wie die anderen Bezeichnungen "Ultrareaktionär" oder "Unnachgiebiger" in Tabelle 4 schon andeuten, bleibt der Integralist der Vergangenheit verhaftet, ist religiös fündamentalistisch und sozial konservativ eingestellt. Die soziale Wirklichkeit in den Ländern Lateinamerikas wird als vollkommen angesehen. Kleine Änderungen ohne Antastung der Strukturen werden aber akzeptiert, da der Mensch nicht vollkommen ist. Die kircheninterne Position entspricht den Auffassungen des Tridentiner Konzils von 1545-63 mit einer stark hierarchisch gegliederten Kirche, in der jeder fraglos seinen Platz einnimmt, deren 206 Interview mit dem Vicario Apostólico de Araucania in seinem Bischofssitz in Villarica am 18.3.1989. Siehe hierzu auch das Kapitel über den kirchlichen Einsatz zugunsten der Mapuche in Chile.

120

Strukturen und Unveränderlichkeit die ewigen Werte symbolisieren welche in früheren Zeiten der Gesellschaft einen verläßlichen Orientierungsrahmen geben sollten. Dieser Auffassung steht auch das "Opus Dei" nahe. Bemerkenswert ist der Widerspruch, daß die hierarchische Disziplin des integralistischen Bischofs nicht so weit geht, die vom Oberhaupt der Kirche approbierten Reformen des II. Vatikanums zu akzeptieren. Seine klare Stellungnahme gegen die liturgische Erneuerungen und die mangelnde Bereitschaft zum Dialog brachten ihn um die Unterstützung der konservativen Bischöfe, die zuvor als seine Verbündeten galten. In Brasilien gehörten etwas über 4% (20) der Bischöfe zu den Integralisten, wobei ihr Einfluß in den überwiegend konservativen Kreisen der politischen und wirtschaftlichen Elite wesentlich größer war, als ihre relativ geringe Zahl erwarten ließe. Ihre Anhänger unter den Laien fanden und finden sich auch in den 80er Jahren bei allen, die sich eine traditionelle Kirche zurückwünschen und die den nach ihrer Ansicht überall verbreiteten Sittenverfall sowie die kommunistische Infiltration bekämpfen wollen. Mit Unterstützung einiger dieser Bischöfe entstand die Bewegung "Tradition, Familie und Eigentum" TFP, um die traditionellen Besitzverhältnisse und Gesellschaftsstrukturen auch mit christlichen Argumenten zu verteidigen. Diese rechtsextreme Laienorganisation wandte sich gegen die Enzyklika "Populorum Progressio" und hier besonders gegen die Sozialbindung des Eigentums und die Möglichkeiten der Enteignung (Nr. 23 und 24). Ihr gehörten auch Mitglieder eines in Brasilien gegen Ende der 60er Jahre berüchtigten "Kommandos zur Jagd auf Kommunisten" CCC an, für die Dom Heider Cämara als "Bischof Moskaus" galt und denen auch die Ermordung des Paters Henrique Pereira Neto in Recife zugeschrieben wird207. In Zusammenarbeit mit den Bischöfen der integralistischen Linie Dom Geraldo de Proen?a Sigaud SVD von Diamantina (Minas Gerais) und Dom Antonio de Castro Mayer von Campos (Rio de Janeiro) sowie fuhrenden Laien entstand ferner ein Buch mit dem Titel Agrarreform - eine Gewissensfrage {Reforma Agraria - urna Questäo de Consqìéncia). Die Grundaussage des Buches bestand in der Feststellung, daß jede Art von Agrarreform sozialistisch und unchristlich sei und dem Kommunismus Tür und Tor öffne. Dom Proen?a Sigaud, der nicht zu den Mitgliedern der Konferenz von Medellin zählte, ist auch die Feststellung zuzuschreiben, daß soziale Ungleichheit "legitim und an sich notwendig sei"208. Zu den beiden bereits genannten Bischöfen werden 1967 noch Manoel Pedro Cintra, José Veloso, Daniel Baeta

207

Zum "Comando de Ca^a aos Comunistas" siehe O Cruzeiro 9.11.1968: "CCC ou o comando do terror". Femer Boni 1978, 129. 208 Krumwiede 1980, 148. Zu TFP und Dom Sigaud ferner Alves, M.M. 1972: Brasilien - Rechtsdiktatur zwischen Armut und Revolution. "A Grain of Mustard Seed", Reinbek bei Hamburg, 148, Boni 1978, 129 und HK 11. Heft, 22. Jg., November 1968, 516.

121

Neves, Oscar de Oliveira, José d'Angelo, José Gongalves und Mario Gurgel gezählt209. Liehr nennt keinen Exponenten dieses Flügels und geht unter Hinweis auf die von Boni genannte Zahl wohl für die 70er und 80er Jahre zutreffend von einem kontinuierlichen Rückgang des Fundamentalismus aus. Durch die "konservative Offensive" des Vatikans scheint diese Richtung wieder aufzuleben. Das "Opus Dei" ist in beiden Ländern unvermindert aktiv und dürfte nach der Seligsprechung seines Gründers Escrivà im Mai 1992 weiteren Zulauf erhalten210. Die Tabellen 6 und 7 verweisen in einem abschließenden Überblick auf das in der Öffentlichkeit mit Aufmerksamkeit verfolgte Reformverhalten von Bischöfen.

209 Vgl. Cavalcanti 1970, 1/8. 210 Über den höchsten Anteil von Mitgliedern aus dem "Opus Dei" soll Ende der 80er Jahre die peruanische Bischofskonferenz mit etwa 10% verfugen. Die katholische Kirche Perus gilt zudem als die intern zerstrittenste in Lateinamerika. Vgl. Le Monde 18.8.89: "Une des Eglises les plus divisées d'Amérique latine" und Carpeta Latinoamericana (ALISEI, México D.F.) Agosto 1989: La Iglesia católica dividida.

122

Tabelle 6 DIE NATIONALE BISCHOFSKONFERENZ VON BRASILIEN Progressive und konservative Bischöfe Conferência Nacional dos Bispos Brasileiros (1988) Zahl der Bischöfe: 374 (293); davon emeritiert: 81

Progressive

Konservative

Pedro Casaldáliga, Säo Félix do Araguaia (Mato Grosso)

Lucas Moreira Neves, Salvador (Bahia)

Tomás Balduino, Goiás (Goiás)

Eugenio de Araújo Sales, Rio de Janeiro (RJ)

Paulo Evaristo Arns, Sao Paulo (SP)

Luciano Duarte, Aracajú (Sergipe)

Waldyr Calheiros de Novaes, Volta Redonda (Rio de Janeiro)

José Freire Falcäo, Brasilia (Distrito Federal)

Patricio (Patrick) Hanrahan, Conceiçào do Araguaia (Pará)

José Gongalves da Costa, Niterói (Rio de Janeiro)

Aloisio Lorscheider, Fortaleza (Ceará)

Geraldo de Moráis Penido, Aparecida (Sao Paulo)

José Maria Pires, Joào Pessoa (Paraíba)

Antonio Mucciolo, Barretos (Sao Paulo)

Paulo Andrade Ponte, Säo Luis (Maranhäo)

Juvenal Roriz, Juíz de Fora (Minas Gerais)

Luciano Mendes de Almeida, Mariana (Minas Gérais)

José Newton (Militärdiözese), Distrito Federal

Geraldo Majella Agnelo, Londrina (Paraná)

José Cardoso Sobrinho, Olinda und Recife (Pernambuco)

Miguel Fenelon Cámara Filho, Teresina (Piauí)

Edvaldo Gongalves Amarai, Maceió (Alagoas)

José Martins da Silva, Porto Velho (Rondônia)

Jaime Luiz Coelho, Maringá (Paraná)

Quellen: Istoé/Senhor, No. 1021-12/4/1989 (Reihenfolge übernommen); Comunicado Mensal. Conferencia Nacional dos Bispos Brasileiros, 31.12.1988-Ano 37-n. 427, 2030.

123

Tabelle 7 DIE NATIONALE BISCHOFSKONFERENZ VON CHILE Progressive und konservative Bischöfe Conferencia Episcopal de Chile (1988) Zahl der Bischöfe: 42 (32); davon emeritiert: 10

Progressive

Konservative

Alejandro Goic (apostolischer Verwalter), Concepción

Joaquin Matte (Militärbischof), Santiago

Sergio Contreras, Temuco

Bernardo Cazarro (Opus Dei), Puerto Montt

Carlos González Cruchaga, Talca

Jorge Medina (Opus Dei), Rancagua

Tomás González, Punta Arenas

Adolfo Rodriguez, Los Angeles

Jorge Hourton, Santiago

Francisco de Boija Valenzuela, Valparaiso

Manuel Camilo Vial, San Felipe

Orozimbo Fuenzalida, San Bernardo

Fernando Ariztía, Copiapó

Antonio Moreno (Opus Dei), Santiago

Carlos Camus, Linares

Patricio Infante (Opus Dei), Santiago

Bernardino Carvallo Piñera, La Serena

Mit

Einschränkungen:

Sergio Valech, Santiago Carlos Oviedo, Antofagasta Quellen: Hoy, No. 614, 24-30.4.1989 (Reihenfolge übernommen); Guia de la Iglesia 1988, Santiago.

124

2.2

Grundzüge der kirchenpolitischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Brasilien und Chile

Wandlungsprozesse in Staat, Kirche und Gesellschaft Brasilien Im Gegensatz zu den anderen lateinamerikanischen Staaten ging Brasilien Anfang des 19. Jahrhunderts mit einem vom Mutterland Portugal unabhängigen Kaiserreich fast achtzig Jahre lang einen Sonderweg. In dieser Ära von 1822 bis 1889 blieb der römische Katholizismus Staatsreligion. Nach der Absetzung des Kaisers im November 1889 erließ die Übergangsregierung am 7. Januar 1890 ein Dekret zur Trennung von Staat und Kirche, das in die neue Verfassung von 1891 einging211. Während der zweiten Hälfte des Kaiserreiches war es zu erheblichen Konflikten der liberal eingestellten Staatsführung mit einigen der Kirchenvertreter gekommen, die dem untypischen, aber weitverbreiteten Zusammenwirken von Geistlichen und Freimaurern in Logen, Bruderschaften und kirchlichen Vereinen ablehnend gegenüberstanden. Besonders hervorgetreten ist hierbei Bischof Dom Vital Maria Gon