Lexikologisch-lexikographische Aspekte der deutschen Gegenwartssprache: Symposiumsvorträge, Berlin 1997 [Reprint 2011 ed.] 9783110959901, 9783484391017

The volume assembles papers held at an international symposium on present-day German and relating to various aspects of

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German Pages 262 [264] Year 2000

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Table of contents :
Vorwort
Menschen vs. Leute: Bericht über eine semantische Expedition in den lexikalischen Nahbereich
Anmerkungen zur lexikographischen Bedeutungserklärung in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern
Verschmelzungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen
Sechzig Jahre und kein bißchen weise – wenn das Klaus-Dieter wüßte. Ein Einstieg in die Probleme der Formelvariation
Abwicklung/abwickeln in historischer Perspektive
Von demokratischen und anderen Aufbrüchen
Deutsche und polnische Vergleichswendungen. Ein Versuch
Sprichwörter im Sprachvergleich unter fremdsprachendidaktischen Aspekten
Phraseologie und Lexikographie im Internet
Paradigmatische und syntagmatische Relationen in einem Wörterbuch ,Deutsch als Fremdsprache‘
Rechtschreibreform und Rechtschreibwörterbuch
„So dürfen wir fragen, was ist denn eigentlich Seemannssprache?“. Lexikologisch-lexikographische Anmerkungen zu einer „besonderen Sprache“
Anhang – Abstracts und Résumés
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Lexikologisch-lexikographische Aspekte der deutschen Gegenwartssprache: Symposiumsvorträge, Berlin 1997 [Reprint 2011 ed.]
 9783110959901, 9783484391017

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M e a 1or

LEXICOGRAPHICA Series Maior Supplementary Volumes to the International Annual for Lexicography Supplements ä la Revue Internationale de Lexicographie Supplementbände zum Internationalen Jahrbuch für Lexikographie

Edited by Sture Allen, Pierre Corbin, Reinhard R. K. Hartmann, Franz Josef Hausmann, Ulrich Heid, Oskar Reichmann, Ladislav Zgusta 101

Published in cooperation with the Dictionary Society of North America (DSNA) and the European Association for Lexicography (EURALEX)

Lexikologisch-lexikographische Aspekte der deutschen Gegenwartssprache Symposiumsvorträge, Berlin 1997 Herausgegeben von Undine Kramer

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000

Für Klaus-Dieter

Ludwig

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme lLexicographica / Series maior] Lexicographica: supplementary volumes to the International annual for lexicography / publ. in cooperation with the Dictionary Society of North America (DSNA) and the European Association for Lexicography (EURALEX). Series maior. - Tübingen : Niemeyer. Früher Schriftenreihe Reihe Series maior zu: Lexicographica 101. Lexikologisch-lexikographische Aspekte der deutschen Gegenwartssprache. - 2000 Lexikologisch-lexikographische Aspekte der deutschen Gegenwartssprache: Symposiumsvorträge, Berlin 1997 / hrsg. von Undine Kramer. - Tübingen : Niemeyer, 2000 (Lexicographica : Series maior; 101) ISBN 3-484-39101-4

ISSN 0175-9264

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druckvorlage: Barbara Leubner Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Inhalt

Vorwort Ewald Lang Menschen vs. Leute: Bericht über eine semantische Expedition in den lexikalischen Nahbereich

VII

1

Mitar Pitzek Anmerkungen zur lexikographischen Bedeutungserklärung in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern

41

Herbert Ernst Wiegand Verschmelzungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen

59

Hartmut Schmidt Sechzig Jahre und kein bißchen weise - wenn das Klaus-Dieter wüßte Ein Einstieg in die Probleme der Formelvariation

97

Joachim Dückert Abwicklung/abwickeln in historischer Perspektive

125

Dieter Herberg Von demokratischen und anderen Aufbrüchen

139

JanA. Czochralski Deutsche und polnische Vergleichswendungen. Ein Versuch

151

Märia Vajickovä Sprichwörter im Sprachvergleich unter fremdsprachendidaktischen Aspekten

157

Diana Stantcheva Phraseologie und Lexikographie im Internet

175

Günter Kempcke Paradigmatische und syntagmatische Relationen in einem Wörterbuch .Deutsch als Fremdsprache'

195

Matthias Wermke Rechtschreibreform und Rechtschreibwörterbuch

205

Undine Kramer „So dürfen wir fragen, was ist denn eigentlich Seemannssprache?" Lexikologisch-lexikographische Anmerkungen zu einer „besonderen Sprache"

225

Anhang - Abstracts und Rösumös

247

Vorwort Der vorliegende Sammelband vereinigt die Beiträge, die 1997 an der Humboldt-Universität im Rahmen des aus Anlaß des 60. Geburtstages von Klaus-Dieter Ludwig veranstalteten Symposiums „Worte über Wörter" - Lexikologische und lexikographische Aspekte der deutschen Gegenwartssprache vorgestellt wurden. Thema und Zielsetzung dieses internationalen Symposiums waren - determiniert durch den Gegenstand - notwendigerweise weitflächig, aber keinesfalls vage: Die Komplexität dessen, was lexikologische Analyse und lexikographische Erfassung von Gegenwartssprache ausmacht, verlangt ein Annähern aus unterschiedlichen Richtungen, verlangt „das Hinsehen" auf Details, da das vitale Totum kaum beschreibbar scheint. Und so ergeben die Blickwinkel der zwölf Autorinnen und Autoren ein reizvolles Panorama der lexikologischen und lexikographischen Forschung, welches an vielen Stellen konturiert ist und Bestandsaufnahmen gestattet, aber auch Lücken aufweist. Eine Verringerung dieser 'weißen Flecken', die bei praktischer und kritischer Wörterbucharbeit, bei kontinuierlicher, korpusbasierter Erfassung und sensibler Bewertung von Wortschatzveränderungen oder in der Untersuchung von Spezialbereichen der Lexik immer wieder erkennbar werden, kennzeichnet auch die wissenschaftlichen Bestrebungen Klaus-Dieter Ludwigs. Aus diesem Grund war sein 60. Geburtstag ein willkommener Anlaß, Resultate und Desiderate der Forschungen zur gegenwartssprachlichen Lexikologie und Lexikographie zu thematisieren.1 EWALD LANG wurde durch den Satz Die Menschen sind komische Leute auf eine Lücke in den „Arsenalen der Lexikologen und Lexikographen" aufmerksam: Eine befriedigende semantische Analyse von Mensch(en) und Leuten ist bis dato nicht erfolgt. So unternimmt er zu diesem Zwecke eine „Expedition in den lexikalischen Nahbereich". Seine detaillierte und intensive Analyse der Eigenschaften und Unterschiede von Mensch(en) und Leuten ist geeignet, nicht nur bei Lexikologen und Lexikographen AHA-Erlebnisse zu erzeugen. MITAR PLTZEK beleuchtet in seinem Beitrag eine nicht immer sinnvolle Auswahl von Angaben in Bedeutungserklärungen allgemeiner einsprachiger Wörterbücher. Er verweist mit seiner Analyse absurder und überflüssiger Bedeutungsangaben - wie z. B. der Farbe der kleinen Punkte auf den Erdbeeren, des Geschmacks von Wassermelonen oder des Fleisches von Flußpferden - anschaulich auf die Schwierigkeiten, die sich für die Allgemeinlexikographie aus Informationsflut und inflationärer Ausbreitung von Fachwissen ergeben. HERBERT ERNST WIEGAND wendet sich in seinem Beitrag den in der Lexikographie des Neuhochdeutschen nur marginal oder einseitig bearbeiteten Verschmelzungen zu, speziell denen von Präpositionen mit unmittelbar folgendem Artikel. An reichhaltigem Material dokumentiert er die semantischen Eigenschaften einfacher und spezieller Lentoverschmelzungen und weist auf die Traditionsbildung ihrer lexikographische Bearbeitung u. a. in den Wörterbüchern von FRISCH, ADELUNG und PAUL hin. Wiegands kritische Analyse der lexikographischen Selektion und Darstellung von Verschmelzungen mündet in einen 1

Die Reihenfolge der Symposiumsbeiträge wurde für die vorliegende Publikation geringfügig geändert; die neue Gruppierung soll die verschiedenen Schwerpunktsetzungen aktueller lexikologischer und lexikographischer Arbeit deutlich machen.

VIII

Vorwort

Vorschlag für die prototypische Gestaltung von Artikeln dieser sprachlicher Erscheinungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen. HARTMUT SCHMIDT thematisiert ein auffälliges Phänomen des aktuellen Sprachgebrauchs: Anspielungsmuster, Variationen, Rahmenklischees. Sein Einstieg in die Probleme der Formelvariation zeigt den kreativen Umgang mit Anspielungsmustern und Formulierungstechniken, verdeutlicht an einem umfangreichen Belegapparat die hohe Gebrauchsfrequenz von „offenen Klischees" und dokumentiert beispielreich die Neubelebung systembedingter Formulierungsmuster der DDR. Schmidt stellt eine Typologie der Variantenbildung vor und bedauert, daß es bisher weder Ansätze für die lexikographische Bearbeitung noch Versuche einer grammatischen Analyse der Formelbildung gibt. JOACHIM DLICKERT stellt die interessante Geschichte und Metamorphose von Wörtern vor, die seit 1990 durch eine hohe Gebrauchsfrequenz ins allgemeine Bewußtsein gedrungen sind, obgleich sie vorher eher Spezialbereichen der Lexik angehörten: abwickeln, Abwicklung, Abwickler. Er vergleicht ihre Verwendung mit der von liquidieren, Liquidation, Liquidator im Zeitrahmen von 1810 bis zur Gegenwart und zeichnet über die Wörter und ihre Bedeutungsveränderungen durch wirtschaftliche, politische und administrative Impulse eine Charakteristik ihrer Benutzer, dokumentiert sowohl rechtlich-allgemeinen Sprachgebrauch als auch literarische Verwendung. DIETER HERBERG untersucht die differente semantische Struktur des Wortes Außruch im Vergleich zu anderen Schlüsselwörtern der Wendezeit, wie z. B. Wende, Revolution und Reform. Zu diesem Zweck untersucht er Bedeutungen und usuellen Gebrauch des Lexems in Wörterbüchern, älteren Belegen und selbstverständlich während der Wendezeit. Hier eruiert er aus dem IDS-Wendekorpus die Kollokationen und Wortbildungen mit Außruch. Auch die aktuelle Verwendung des Lexems bestätigt Herbergs Einschätzung, daß es sich bei Aufbruch um ein positiv besetztes Fahnenwort handelt. JAN CZOCHRALSKI wendet sich dem stetigen Phraseologisierungs- bzw. Idiomatisierungsprozeß in der deutschen und polnischen Gegenwartssprache zu und unternimmt den Versuch, die Vergleichswendungen beider Sprachen als eine Untergruppe der Phraseologismen zu klassifizieren. Dabei charakterisiert er die Vergleichswendungen als relevanten und funktionalen Teil der Phraseologie des Deutschen und des Polnischen und arbeitet explizite und implizite Indikatoren des Vergleichs heraus. MARIA VAJICKOVÄ vergleicht deutsche und slowakische Sprichwörter unter fremdsprachen-didaktischem Aspekt. Ihr geht es vor allem um die sprachwissenschaftliche Basis einer adäquaten Vermittlung von noch in der deutschen Gegenwartssprache lebendigen Sprichwörtern. Dazu klassifiziert sie die Sprichwörter im direkten Sprachvergleich als äquivalentlos, vollständig äquivalent und unterschiedlich äquivalent und zeigt die sich daraus ergebenden differenten linguodidaktischen Wege der Aufbereitung und Vermittlung des Sprachmaterials. D I A N A STANTCHEVA suchte nach Phraseologie und Lexikographie im Internet und stellt in ihrem Beitrag Proben aus einem recht umfangreichen und vielfältigen Fundus vor. Sie lokalisiert die Probleme von online-Veröffentlichungen und beschreibt an zwei ausgewählten sprachwissenschaftlichen Netz-Publikationen („De Proverbio" und „Das phrasale Lexikon: Phraseologie") Vorzüge und Nachteile von Zeitschriften und Informationsdatenbanken. Sie gibt einen kurzen Überblick über die lexikographischen Dienstleistungen

Vorwort

IX

des Internets, vergleicht im Netz präsente Wörterbücher und Glossare und weist auf Probleme und Risiken einer Wörterbuchtypologie in diesem Medium hin. GÜNTER KEMPCKE befaßt sich mit Fragen der Darstellung paradigmatischer und syntagmatischer Relationen in einem Wörterbuch 'Deutsch als Fremdsprache', das im Verlag de Gruyter erscheint. Strikte Orientierung an den Bedürfhissen der Benutzer determinierten die Konzeption des Lernerwörterbuches: Eine innovative Darstellung synonymischer und antonymischer Beziehungen, von Wortfamilien, von Kollokationen sowie der Integration von Wortfeldern und Phrasemen ermöglichen eine kombinierte Vermittlung paradigmatischer und syntagmatischer Relationen und knüpfen so ein Netz von Informationen, das dem Benutzer bei der Überwindung sowohl von Systemunsicherheit als auch von Normunsicherheit unterstützt. MATTHIAS WERMKE beschreibt in einer Rückschau die Prozesse der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung und stellt die Frage, wie die Lexikographie mit der neuen Situation, die kein orthographisches „Leitwörterbuch" mehr vorsieht, umgehen soll. Da der Status von Rechtschreibwörterbüchern für die Zukunft quasi neu zu bestimmen sein wird, versucht er, die lexikographischen Probleme in der praktischen Umsetzung der Neuregelung zu lokalisieren; diese sieht er vor allem bei der Fremdwortschreibung mit Haupt- und Nebenformen, der Groß- und Kleinschreibung und der Schreibung mit Bindestrich. UNDINE KRAMER macht in ihrem Beitrag Lexikologisch-lexikographische Anmerkungen zu einer „ besonderen Sprache " und stellt die Entwicklung und Veränderung der deutschen Seemannssprache dar. Dazu verfolgt sie die über 300jährige Traditionslinie der Kodifikation seemannssprachlichen Wortgutes in allgemeinen und speziellen Wörterbüchern. Kramer charakterisiert die Seemannssprache als statusveränderte Berufs- und Fachsprache und moderne polykomponentielle Gruppensprache, die in wechselseitiger Beziehung zur Allgemeinsprache steht und sich den verändernden Bedürfnissen ihrer Sprachträger stets akkulturierte. Undine Kramer

Ewald Lang

Menschen vs. Leute: Bericht über eine semantische Expedition in den lexikalischen Nahbereich 1.

1.1. 1.2. 1.3. 1.3.1. 1.3.2. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 3. 3.1. 3.2. 3.2.1. 3.2.2.

Über eine eigentümliche Sehschwache im Nahbereich, oder: Variationen zum Thema Wir sind die Leute\ Woher die Unauffillligkeit? Wie den Unterschied fassen? Was man beim Nachschlagen erfährt... ... über die lexikalische Bedeutung von Mensch ... Uber die lexikalische Bedeutung von Leute Leute vs. Menschen: semantische Befunde (die) Leute referiert nicht auf eine Gattung bzw. eine Art Leute ist inhärent nicht-generisch, weil spezifikationsbedürftig Leute als Simplex vs. -leute als Kopf von Komposita Skizze einer semantischen Analyse Lexikoneintrag ftlr Leute Kontextquellen für die Erfüllung der Zusatzbedingung Non-verbaler Situationskontext Satzsyntaktischer Kontext

3.2.3. 3.2.4. 3.3. 4. 4.1. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 4.3. 4.3.1. 4.3.2. 4.3.3. 4.3.4.

Leute - ein inhärentes Stadienprädikat? Wortsyntaktischer Kontext: X-leute Zwischenbilanz Mensch(en) vs. Leute in der Wortbildung Derivationsbeschränkungen für [N leut(e)] Kompositionsbeschränkungen für [N leut(e)] Einführendes Gleichrangigkeit Typenhomogenität Sortierung der X-leute Komposita Einführung -leute: eine Suppletivform? -leute: ein lexikalischer Zusatzplural! X-männer vs. X-leute: worin liegt der Unterschied? 4.4. Was ist ein Halbsuffix? 4.4.1. -mann, -frau, -leute als sog. Halbsuffixe 4.4.2. X-leute: word knowledge vs. world knowledge 4.5. X-leute als Joker in der Reihenbildung 5. Lexikographische Nutzanwendung als Ausblick 6. Literatur

1. Über eine eigentümliche Sehschwäche im Nahbereich oder: Variationen zum Thema Wir sind die Leutel

1.0. Dies ist der Bericht über eine Entdeckung und die noch andauernden Bemühungen, sie linguistisch dingfest zu machen. Ich beschränke die Diskussion auf Probleme, die den Symposiumsteilnehmern aus eigener Erfahrung gewiß vertraut sind, die aber, wie ich hoffe, durch die hier präsentierte Fallstudie in ein neues Licht gerückt werden. Angefangen hat es im Oktober 1996, als zum Ende einer Radio-Sendung über die Nürnberger Prozesse (50. Jahrestag) Robert M. W. Kempner, Berater des Chefanklägers, mit folgendem Diktum zitiert wurde: (1)

Die Menschen sind komische Leute: wenn einer einen aus Eifersucht erschlägt, wird er gehenkt oder lebenslänglich eingesperrt, wenn ein General Tausende erschießen läßt, bekommt er einen Orden.

2

Ewald Lang

Die eigenwillige Konstruktion dieser Sentenz bemerkend und den damit erzielten Pfiff auskostend wurde ich plötzlich des semantischen Unterschieds von Menschen und Leute inne. (Etwas Geduld, ich verrate ihn in Kap. 2. und 3.) Anderntags bemerkte ich - gesenkte Reizschwelle! - analoge Fälle wie (2)

(3)

Wo der Mensch im Mittelpunkt steht, ist für die meisten Leute kein Platz

[Johannes Gross. Notizen]

a.

[J. Fuöik. Reportage unterm Strang...]

Menschen, ich hatte euch lieb!

Φ b.

Leute, ich hatte euch lieb!

und in den nächsten Wochen war die Welt unentrinnbar mit Leute-Belegen bevölkert. Dem initialen Aha folgten bohrende Fragen, und der Versuch, ihnen nachzugehen, weitete sich zu einem Expeditionsunternehmen aus, dessen Verlauf durch ein Spalier sich unerwartet erhebender Grundsatzprobleme lexikographischer und semantischer Art bestimmt wurde. Sie seien, weil sie die Relevanz des Themas verdeutlichen, in 1.1.- 1.4. kurz rekapituliert. 1.1. Woher die Unauffälligkeit? 1.1.1. Die erste Frage war, wieso mir der Bedeutungsunterschied Menschen vs. Leute zuvor nie aufgefallen ist. Freilich habe ich ihn (intuitiv) gewußt - wie jeder Sprecher des Deutschen, aber er war mir nicht (reflektiert) bewußt, was wohl - Wörterbuchmacher ausgenommen! - auch für die Mehrzahl der Sprecher des Deutschen gilt1, so daß es erst eines externen Auslösers (hier: einer auffällig formulierten Sentenz) bedurfte, um auf den semantischen Unterschied aufmerksam zu werden. Andere nahezu synonyme Ausdrücke - und um solche handelt es sich zweifellos auch bei Menschen vs. Leute - werden im Alltag schon mal thematisiert, etwa weil sie Differenzierungen verlangen: Besitz vs. Eigentum (juristische Fachsprache vs. Common sense), Herkunftserläuterungen auslösen: Haftschalen vs. Kontaktlinsen (Ost vs. West), Schrippen, Semmeln vs. Brötchen (Regionalsprache vs. Standarddeutsch), oder Registerfragen aufwerfen: Frauen vs. Damen vs. Weiber - nichts dergleichen2 trifft zu fur Menschen vs. Leute. Für Muttersprachler (anders freilich für Fremdsprachler - vgl. 4.3.) sind mir diesbezügliche "Alltagsdialoge über nennlexikalische Ausdrücke" (Wiegand 1989:553) weder erinnerlich noch vorstellbar. 1.1.2. Ebensowenig sind für deutsche Sprachbenutzer "usuelle Benutzungshandlungen" (i. S. v. Wiegand 1998:303 ff.) mit allg. einspr. Wörterbüchern (wohl aber mit ζ. B. etymolo1

2

Mehrere Teilnehmer des Symposiums haben mir spontan bestätigt, daß auch sie - wiewohl von Berufs wegen mit der Analyse und Darstellung von Wortbedeutungen befaßt - über den Unterschied noch nie nachgedacht hätten. Danke! Registerunterschiede bestehen natürlich etwa bei (das) Mensch < landsch.; meist abwertend > gegenüber dem neutralen (der) Mensch, nicht aber zwischen dem Plural von letzterem und dem Plurale tantum Leute. Der diesem in den Wörterbüchern oft zugeschriebene Registerindex < salopp > ist eine Begleiterscheinung, die sich bei bestimmten Weisen der Erfüllung der in Leute verankerten semantischen Bedingung einstellt - vgl. 3.2.1. Bergleute, Landsleute etc. sind in jedem Falle stilistisch neutral.

Menschen vs. Leute

3

gischen, mehrsprachigen oder Sprachstadienwörterbüchern) hier einschlägig. Die in Wiegand (1977 [1984]:70 ff.) sorgfältig nach Lücken typisierten Benutzersituationen sind für Menschen oder Leute uneinschlägig, und zwar auf eine für das Thema signifikante Weise. Entweder die Lücken treten bei der umschriebenen Nutzergruppe nicht auf (was wohl auf die Typen Simplexlücke, Ableitungslücke, Wortkompositionslücke, Wortgebrauchsunsicherheit zutrifft) oder die Lücken könnten, falls wider Erwarten doch verspürt, nicht wirklich geschlossen werden. Wenn z. B. jemand aus der genannten Nutzergruppe im angegebenen Wörterbuchtyp die lexikalische Bedeutung von Mensch nachschlagen wollte, würde er seine Wortbedeutungslücke behalten müssen (machen Sie die Probe!), und angesichts der dort verfügbaren Auskünfte zu Leute würde eine eventuelle Wortdifferenzierungslücke zu Mensch vielleicht überbrückt, aber nicht geschlossen werden können. Die letzten Bemerkungen sind keine Wörterbuchschelte, sondern der Hinweis auf eine dieser Art von Lexemen innewohnende Vertracktheit, die es aufzuklären gilt - wir kommen in 1.3. darauf zurück. 1.1.3. Als erste Antwort auf die Frage nach der Unauffälligkeit ergibt sich dies: der Bedeutungsunterschied von Menschen vs. Leute ist ausschließlich innersprachlich (und einzelsprachlich - vgl. 4.3.1.) festzumachen. Beide Ausdrücke gehören fraglos zum Kernwortschatz des Deutschen, und innerhalb dessen zum sog. Nahbereich.3 Das ist der lexikalische Bereich, wo sprachliche Distinktionen - z. B. hinsichtlich der personalen oder lokalen Referenz (Pronominalsystem, Deixis) - am deutlichsten ausgeprägt sind, und zugleich auch der Bereich, wo sich morphosyntaktische Irregularitäten, Suppletivformen und andere Idiosynkrasien (als solche unbemerkt!) häufen und erhalten. 1.1.4. Nächste Überlegung: im unstrittigen Vorhandensein eines solchermaßen strukturierten lexikalischen Nahbereichs manifestiert sich die für jede natürliche Sprache konstitutive Anthropozentrik. Unter diesem Blickwinkel sind dann die dem lexikalischen Nahbereich zugehörigen Ausdrücke Menschen und Leute (und weitere Personenbezeichnungen im Dt. bzw. ihre Gegenstücke in anderen Sprachen) noch zusätzlich dadurch ausgezeichnet, daß sie - als jeweilige Selbstbezeichnungen des Homo loquens - gewissermaßen "ultimate exponents" der sprachimmanenten Anthropozentrik darstellen4 (mit ernsten Folgen für die semantische Analyse und die Abfassung lexikographischer Bedeutungsangaben - vgl. 1.3.1.).

3

4

In der Literatur auch eingeführt als »Bereich des Nächstliegenden« (Wurzel 1987, 1989) bzw. als »proximity area« (Tanz 1971,1980) und unter Leitbegriffen wie "myopia" oder "ME FIRST principle" (u. a. Cooper/Ross 1975; Lang 1980) oder "iconicity in the lexicon" (Jakobson & Waugh 1987; Waugh & Newfield 1995) verschiedentlich untersucht, stellt der lexikalische Nahbereich eine zentrale Domäne der linguistischen Forschung dar. Zur Illustration der These sei z. B. nur auf das bekannte Faktum verwiesen, daß zahlreiche Namen für Völkerschaften in der ursprünglichen Eigenbezeichnung auf appellative Nomina der betreffenden Sprachen mit der Bedeutung »Mensch, Mann« zurückgehen - z. B. Ainu (Hokkaido), Bantu (Afrika); Inuit (Grönland), Nd6 (USA, Mexiko), Tule (Panama). Erst durch Übernahme dieser Wörter und ihren Gebrauch durch Außenstehende als semantisch nichttransparente Namen, etwa Ainu(s), Bantu(s), oder durch den Kontrast zu konkurrierenden Fremdbezeichnungen, etwa Eskimo(s), Apatsche(n), Cuna(s) werden solche endogen autozentrischen Anthroponyme zu exogen delimitierenden Ethnonymen.

4

Ewald Lang

1.1.5. Damit ist für weitere Befunde ein Erklärungsweg vorgezeichnet. Erstens dafür, daß die Unterscheidung Menschen vs. Leute im Gebrauch für den nativen Sprachbenutzer ebenso selbstverständlich ist wie unreflektiert. Es ist die qua Zugehörigkeit zum Nahbereich fundierte Vertrautheit, die die Menschen/Leute - Distinktion trotz der beteiligten Idiosynkrasien für den Sprachbenutzer unauffällig macht. Zweitens dafür, wieso wir auch bei Sprachbeschreibern in Hinsicht auf den Nahbereich, speziell auf Menschen vs. Leute, eine eigentümliche Sehschwäche beobachten (cf. 1.2., 1.3.). Der Sprachbeschreiber ist (zumindest für die Muttersprache) unvermeidlich Analysator und Sprecher zugleich, und dabei scheint, was die lexikalische Bedeutung von Menschen und Leute betrifft, der Sprecher dem Analysator die Sicht zu verstellen, der Effekt ist eine anthropozentrisch fundierte, daher schwer therapierbare Art von Betriebsblindheit. 1.2. Wie den Unterschied fassen? Der Grundsatz »nur das haben wir verstanden, was wir auch anderen erklären können« versetzte der Entdeckerfreude gleich einen Dämpfer: die plötzliche Einsicht in den semantischen Unterschied von Menschen vs. Leute ist eine Sache, ihn den Studenten erklären zu können eine andere. Das nagt. Unabweislich stellt sich die Aufgabe, die Entdeckung in nachvollziehbare Explikation zu Uberführen. Nun kann man sich nicht einfach hinsetzen und mal schnell die Semantik von Mensch(en) und Leute hinschreiben wollen. Analyse und Explikation bedürfen geordneter Arbeitsgänge: (4)

1. Literaturlage erkunden und Daten aufbereiten; 2. Differenz-Idee operationalisieren; 3. Distinktion auf generelle Prinzipien beziehen.

Die Schrittfolge ist normales linguistisches Handwerk. Sie verdient hier nur deshalb Erwähnung, weil der erste Arbeitsgang so ergebnisarm ausfiel, daß die Schritte 2. und 3. nach vorn rücken mußten (die Ergebnisse finden sich in Kap. 2. - 4. unten). Die Sichtung der zum Thema vorhandenen Literatur gab Anlaß für die Feststellung, daß die Unauffölligkeit des Unterschieds für die Sprachbenutzer sich bei den Sprachbeschreibern fortsetzt in einer gewissen Hilflosigkeit gegenüber der deskriptiven Erfassung des Unterschieds Menschen vs. Leute. Die in 1.1.5. oben vorgebrachte Überlegung insinuiert, daß es da einen kausalen Zusammenhang geben könnte. Jedenfalls sind Spezialarbeiten zur synchronen Darstellung dünn gesät (zu -leute vgl. Baufeld 1980 a, b, 1986; Samoilowa 1970), in den dt. Grammatiken ist -leute eine Marginalie im Wortbildungskapitel (cf. 4.2.1.), semantische Arbeiten fehlen völlig - und zwar zu beiden Ausdrücken. Also bleibt der Blick in die Arsenale der Lexikologen und Lexikographen, die ja mit den Wortschatzeinheiten Mensch(en) und Leute nolens volens fertig werden müssen. Was beim Nachschlagen zum Vorschein kommt, ist symptomatisch für die den Sprachbeschreibern im lexikalischen Nahbereich unterstellte Sehschwäche.

Menschen vs. Leute

5

1.3. Was man beim Nachschlagen erfährt... Die Fairness gebietet es, (a) dieses Nachschlagen nach der eingangs erwähnten Entdeckung als (i. S. v. Wiegand 1998:400 ff.) "nichtusuelle, selektionsbezogene externe Zugriffshandlungen", d. h. als durch linguistisches Prüfinteresse motivierte Wörterbuchkonsultationen, zu deklarieren, und (b) vorweg zu sagen, was füglich erwartbar ist und was nicht. Wir tun es in 1.3.1.-1.3.3. 1.3.1.... über die lexikalische Bedeutung von Mensch(en) Es wäre naiv oder gehässig, aus einem Sprachwörterbuch einschlägige Antworten auf die Frage "Was ist der Mensch?" zu erwarten - dies zu liefern ist nicht Sache der Wörterbuchmacher, sondern fällt in die Zuständigkeit vieler (sich ständig verzweigender und umgruppierender) Fachwissenschaften, Philosophien, Weltanschauungen etc. Daß wir dennoch in allg. einspr. Wörterbüchern kursivierte Bedeutungsangaben finden wie in (5) - (7), beweist, daß die Diskussion um die lexikographische Definition (u. a. Wiegand 1989; Pitzek 1998) neue Impulse braucht. Der Blick aufs Kursive in (5) - (7) enthüllt zudem noch ein Kardinalproblem. (5)

Mensch, der; -en, -en a) mit der Fähigkeit zu logischem Denken u. zur Sprache, zur sittlichen Entscheidung u. Erkenntnis von Gut und Böse ausgestattetes höchstentwickeltes Lebewesen: < ... > b) menschliches Lebewesen, Individuum: < ... > c) bestimmte Person, Persönlichkeit: < ... > (DUDEN 2 -GW 1994, 5: 2241)

(6)

Mensch, der; -en, -en 1.1 /o. PI./ das höchstentwickelte, mit Bewußtsein, der Fähigkeit zu denken und zu sprechen ausgestattete Lebewesen, das gesellschaftlich lebt und arbeitet und die Welt nach dem Grad seiner Erkenntnis planmäßig verändern und gestalten kann·. < ... > 1.2 Person (1.2): < ... > (HWDG 1984, 2:772)

(7)

Mensch, der; -en, -en: mit Vernunft und Sprache ausgestattetes höchstentwickeltes Lebewesen: sinnv.: Ebenbild Gottes, Erdenbürger, Erscheinung, Existenz, Figur, TFrau, Geschöpf, Gestalt, Halbgott, Homo sapiens, Individuum, tJunge, Kerl, tKind, Krone der Schöpfung, Leute, TMädchen, tMann, Person, Persönlichkeit, Seele, Sterblicher, Type, Wesen. (DUDEN-10 1985, 439)

Was in (5) - (7) de facto angegeben wird, sind verknappte, popularisierende philosophische Begriffsbestimmungen - bei (5) in einer aristotelisch-christlich-antidarwinschen Mischung; bei (6) erkennt man am Relativsatz, der so auch bei Jugendweihefeiern vorkommen konnte, deutlich die realsozialistische Herkunft des HWDG; bei (7) ist die lexikographische Definition auf Gattungsspezifik (»Vernunft, Sprache«) beschränkt, dafür werden - durchaus sprachnäher - sinnverwandte Wörter zur Auswahl geboten, allerdings in einer der Bedeutungserschließung kaum hilfreichen, nämlich alphabetischen, Liste. Mit der lexikalischen Bedeutung des Lemmazeichens Mensch (deren Beschreibung oder kommentargestützte Vermittlung wohl unstrittig zum Gegenstand von allg. einspr. Wörterbüchern gehört) haben die kursiven Angaben in den Wörterbuchzitaten (5) - (7) wenig zu

6

Ewald Lang

tun. Als Bedeutungserklärungen zum Lemma Mensch sind (5-a) oder (6-1.1) ebensoviel wert wie die berühmte extensionsgleiche, biologisch zutreffende Bestimmung >>federloser Zweibeiner«,5 Das Kardinalproblem läßt sich, mit Anleihen bei Frege, in fünf Schritten so formulieren: Erstens. Es geht bei der lexikalisch-semantischen Beschreibung von Ausdrücken wie Mensch(en) oder Leute nicht primär um die Extension (bei Frege »Bedeutung«) des durch diese Ausdrücke bezeichneten Begriffs, sondern um die Intension, die Frege als »Sinn« bezeichnet und als die "Art des Gegebenseins des Bezeichneten" (Frege 1969:41) bestimmt. Die Intension (der »Sinn«) von Mensch(en) oder Leute ist jedem Sprecher qua Nahbereich intuitiv vertraut, das Problem ist die Explizierung. Zweitens. Freges geniale, aber schwer einlösbare Bestimmung besagt daher für unseren Fall, daß der lexikalisch-semantisch codierte Sinn des Ausdrucks Mensch(en), also die "Art seines Gegebenseins" des damit bezeichneten Begriffs, nur über die komplette Rekonstruktion des semantischen Status des Wortes Mensch im deutschen Sprachsystem expliziert werden kann. Der so verstandene semantische Status von Mensch(en) aber bemißt sich daran, daß Mensch (und andere Personenbezeichnungen) Exponenten der sprachimmanenten Anthropozentrik (vgl. 1.1.4.) darstellen. Drittens. Aus dieser Sicht ist die lexikalisch-semantische Analyse von Mensch komplizierter und abstrakter als alle bisherigen Bedeutungsangaben ahnen lassen. Ich gestehe sofort, daß ich keine Lösung habe, sondern lediglich durch Konturierung von Lösungsbedingungen das Problem herausstellen kann. Viertens. Die Explizierung des qua lexikalischer Bedeutung in Mensch codierten Begriffsbezugs bez. der "Art seines Gegebenseins" muß die Gesamtanalyse der anthropozentrisch fundierten Markierungsstruktur der Grammatik einbeziehen, also die Fundierung und systembildende Verankerung dessen, was in diversen linguistischen Analysen unter Etiketten wie "human", PERSON etc. als isoliertes, atomares Basiskonzept axiomatisch angesetzt wird. Fünftens. Ich kann das in dieser Forderung enthaltene Programm hier und jetzt nur andeuten. Der anthropozentrische Zuschnitt der Grammatik umfaßt u. a. die mit dem üblichen Merkmal [± human] getroffenen Distinktionen im flexionsmorphologischen, syntaktischen und selektionalen Bereich; sodann die behelfsweise mit »kontrollbefähigtes Agens« formulierten Bedingungen für Passiv-Diathesen und für die Zuweisung von semantischen Rollen wie 'Agens' und 'Experiencer' vs. 'Thema' und 'Goal', ebenso die semantischen Distinktionen im Pronominalbereich: 1./2. Pers. vs. 3. Pers. (Personalpronomina), starke vs. schwache Pronomina, wer, jemand, man vs. was, etwas, es etc., die Verteilung von lexikalisch in Simplizia oder komplexen Wörtern erkennbaren semantischen Dimensionen und Werten im Nahbereich (z. B. [Sexus: {männlich, weiblich}], [Verwandt: {sanguinal, affinal}], [Generation: {wie EGO, über EGO, nach EGO}], [Lebensphase: {erwachsen, nichterwachsen}]...), die Basis für die gattungsspezifische Lexikalisierung analoger Eigenschaf5

Wer das nicht einsieht, der mache zum Spaß einige Substitutionsproben, indem er die kursiven Definitionen in (5) oder (6) für Mensch in (1) - (3) salva veritate einsetzt. Die Ergebnisse sind formallogisch korrekt, aber kommunikativ befremdlich und ähneln denen, die entstehen, wenn Gott ersetzt wird durch jenes höhere Wesen, das wir verehren . Der absurd wirkende Effekt dieser Substitution dient, wie bekannt, in Heinrich Bölls Erzählung »Dr. Murkes gesammeltes Schweigen« als denunziatorischer Kunstgriff.

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ten und Vorgänge (schwanger vs. trächtig, essen, trinken vs. fressen, saufen ) und auch die vielfältigen Reflexe der Anthropozentrik im grammatikalisierten Inventar der Wortbildung. Kurz gesagt, der »Sinn« des Wortes Mensch kann bei bewußter Vermeidung von Zirkularität (im Dt. bzw. analog in anderen Sprachen) nicht paraphrasierend definitorisch expliziert werden, sondern nur via Dekomposition dessen, was Mensch als in die Kategorie Nomen verpackter Exponent der anthropozentrischen Textur der Sprache verkörpert. Nirgends sonst, um nur einen der gravierenden Aspekte für die Einlösung des Programms zu benennen, ist die ohnehin schwierige, aber zur Klärung semantischer Grundfragen zumindest methodisch unerläßliche Unterscheidung von »word knowledge« und »world knowledge« so intrikat wie bei der Spezifikation der lexikalischen Bedeutung des zentralen Anthroponyms Mensch(en) im Dt. bzw. seiner Gegenstücke in anderen Sprachen. Die skizzenhafte Exposition des Kardinalproblems der lexikalisch-semantischen Beschreibung von Mensch(en) macht immerhin deutlich, daß und weshalb wir über eine befriedigende semantische Analyse dieses und verwandter Ausdrücke bisher nicht verfügen. Damit sind auch die zitierten Wörterbuch-Artikel exkulpiert und die Erwartungen, was Bedeutungserklärungen zum Lemma Mensch sein könnten, auf ein realistisches Ausmaß präzisiert. Die Einsicht in das soeben erläuterte Problem legt folgende Schritte des Vorgehens nahe. Erstens, auch wenn wir - im umschriebenen Sinne - die lexikalische Bedeutung von Mensch(en) vorerst kaum detailliert und stimmig wiedergeben können, so folgt daraus nicht, daß deshalb auch die semantische Analyse des Unterschieds von Mensch(en) und Leute auf Eis gelegt ist. Im Gegenteil, das einzelsprachlich spezifizierte Extra, das Leute von Menschen unterscheidet, bietet einen analytischen Zugang. Die intuitiv klare Differenz "Leute sind immer Menschen, aber Menschen sind nicht immer Leute", läßt vermuten, daß Leute eruierbaren Vorkommensbeschränkungen unterliegt, die für Mensch(en) nicht gelten. Zweitens, Voraussetzung für diese Differenzermittlung ist, daß wir den oben problematisierten gemeinsamen Bedeutungsanteil von Mensch(en) und Leute als gegeben betrachten und - in voller Kenntnis der damit übernommenen Hypothek - als abgepackte Komponente (HOMO (x)) ausgliedern - vgl. 3.1. 1.3.2.... über die lexikalische Bedeutung von Leute 1.3.2.1. Daß und weshalb eine angemessene Bedeutungsangabe für Mensch im Wörterbuch nicht zu erwarten ist, haben wir geklärt. Legitimerweise zu erwarten wären aber sachdienliche Auskünfte über die Eigenschaften der idiosynkratischen Wortschatzeinheit Leute. Eben diese bereitzustellen fällt unstrittig in den Kompetenzbereich der Lexikologen & Lexikographen und ist in keiner Weise mit den Problemen befrachtet, die Pitzek (in diesem Band) anhand von Geschmacksangaben bei Lemmata wie Flußpferd oder Wassermelone so trefflich diskutiert. Leute zu charakterisieren gehört zu den ureigensten Aufgabe der Wortschatzbeschreibung. Die Durchsicht ist denn auch unter zwei Gesichtspunkten ergiebig. Zum einen findet man gelegentlich Kommentare zum Lemma Leute, die, wenn man sich die Bedeutung von Leute bewußt gemacht hat, überraschend klarsichtig sind - vgl. (72) in Kap. 5. Zum anderen aber erweist sich die bei Grammatikern / Semantikern und bei Lexikologen / Lexikographen jeweils bevorzugte Optik als so grundsätzlich verschieden, daß die Konturierung

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der blinden Flecke schon wieder als positives Ergebnis erscheint. Dafür ein nachdenklich stimmendes Beispiel. 1.3.2.2. Die jüngste lexikologische Monographie zum Thema, Braun (1997): Personenbezeichnungen. Der Mensch in der deutschen Sprache, formuliert als Ziel der auf 15.000 Personenbezeichnungen fußenden Studie: (8)

Im Mittelpunkt der Untersuchungen sollen die standardsprachlichen Personenbezeichnungen stehen, also solche Wörter, die der Hauptvariante des Deutschen, früher auch 'Hochsprache' genannt, zugerechnet werden und in vielen Wörterbüchern als Kernwortschatz lexikalisiert sind. (Braun 1997:10)

Das Lexem Mensch wird eingangs betrachtet (Braun 1997:1-8), aber nirgendwo im ganzen Buch wird Leute thematisiert! Weder findet das Simplex Leute die qua Zielformulierung eigentlich erwartbare Behandlung - es kommt nur zitatweise vor in zwei Textausschnitten, aber selbst dann lediglich als negligiertes Beiwerk, weil die Textzitate anderen Zwecken dienen, 0 noch findet das Bezugswort -leute in Komposita Beachtung, 7 und das, obwohl im Kapitel über die Semantik der Personenbezeichnungen die Vorkommensdomäne benannt wird, in die unbedingt auch -leute gehörte: (9)

In letzter Zeit finden sich immer mehr Bildungen mit -person, -mensch und -kind; sie lassen das sprachliche Bestreben erkennen, die Movierung zu vermeiden. (Braun 1997:75)

Nun sollte Peter Brauns Leute-Scheu, so verwunderlich sie ist, nicht einfach als zufälliges Versehen abgetan werden. Es gibt Hinweise, daß der blinde Fleck weitaus größer ist. So sollten gemäß (8) zum Kernbestand der Personenbezeichnungen natürlich auch die Personalpronomina (zumindest) der 1. und 2. Person, das Fragepronomen wer und die Indefinitpronomina jemand und man zählen - alle zweifelsfrei spezialisiert auf Personenbezeichnung, alle dem Nahbereich zugehörig und alle auf den oberen Frequenzrängen angesiedelt. Nicht so bei Braun, der ohne Angabe von Gründen die Pronomina aussortiert. 8 6

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Das Zitat aus H. Bölls Satire »Auf der Brücke«: "Die haben mir meine Beine geflickt und haben mir einen Posten gegeben, wo ich sitzen kann: ich zähle die Leute, die über die neue Brücke gehen. < ... >" soll zeigen, daß und wie es Böll versteht, "schon im ersten Satz sein Erzählengagement auszudrücken" (Braun 1997:141). Das Zitat aus G. Kellers Erzählzyklus »Die Leute von Seldwyla«: "Die Leute von Seldwyla haben bewiesen, daß eine ganze Stadt von Ungerechten oder Leichtsinnigen zur Not fortbestehen kann im Wechsel der Zeiten und des Verkehrs; die drei Kammacher aber, daß nicht drei Gerechte lang unter einem Dache leben können, ohne sich in die Haare zu geraten. < ... >" dient als Illustration "über welche Einstellungen und Personen er [= G. Keller] sich besonders lustig macht." (Braun 1997:100). Tja, weder ihre Erwähnung im Textzitat noch die im Titel der Quelle haben den Verf. dazu verführen können, die Personenbezeichnung Leute als solche zu ästimieren. Immerhin kommt -leute zweimal vor, aber wiederum nur als ausgeblendeter Bestandteil anderweitig motivierter Beispiele (Braun 1997: 88, 100). Auch angesichts der statistischen Angaben (Braun 1997:54), daß nur 8% des Bestands an Personenbezeichnungen Simplizia sind, aber 92 % Wortbildungskonstruktionen, hätte man erwartet, daß Leute als Repräsentant der Rara und -leute als Vertreter der Mehrheit eine Chance hätten. Mitnichten. Er schreibt: "in der Kurzgeschichte »Die Flut ist pünktlich« verwendet er [= S. Lenz] nur fünf Personenbezeichnungen: 'Tom' (23 mal), 'Mann' (19), 'Frau' (4), 'Riese' (1), 'Mensch' (1); diese

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Die stillschweigende Vorgabe, daß als Personenbezeichnungen nur Substantive (Appellativa, Kollektive und Eigennamen) sowie substantivbasierte Mehrwortbenennungen (phrasale Ausdrücke) fungieren, aber keine Pronomina, verrät einen gestörten Blick auf den Zusammenhang von Wortschatz und Grammatik, aus dem sich auch das Ignorieren von Leute erklärt: Leute und -leute haben mit man, jemand und anderen Pronomina viel mehr gemein als mit den 15.000 Substantiven von Aalfischer bis Zyniker (cf. 3.2.2.). Die hier - trotz beeindruckender lexikologischer Kompilation und varietätenlinguistischer Feinklassifikation - bei Braun diagnostierbare Sehschwäche ist indes nur ein weiteres Symptom für die bei Wortschatzarbeitern verbreitete Optik, die bei der Behandlung lexikalischer Einheiten den Inventarisierungsaspekt fokussiert und den Systemaspekt im Hintergrund beläßt oder ganz ausblendet. Eine angemessene lexikologische und/oder lexikographische Behandlung aber, und damit setze ich das in Lang 1982, 1983, 1989, 1995 geführte Plädoyer fort, muß beide Aspekte in ausbalanciertem Verhältnis umfassen. 1.3.2.3. Nicht zu erwarten ist daher, daß Wörterbücher, denen ja die Spezifikation des Systemanteils einer lexikalischen Einheit (durch sog. grammatische Informationen) notorisch Probleme bereitet, ausgerechnet mit den morphologischen Idiosynkrasien von Leute (Plurale tantum, Suppletiv-Form, - leute als Halbsuffix - vgl. Kap. 3. und 4.) fertig werden. Andererseits sind es gerade die Besonderheiten der kategoriellen Verpackung dieses Lexems, die einer semantischen Analyse des Unterschieds von Leute vs. Menschen auf die Sprünge helfen. Es folgen vorläufige Ergebnisse aus den Arbeitsschritten 'Differenz-Idee operationalisieren' und 'Distinktion auf generelle Prinzipien beziehen'.

2. Leute vs. Mensch(en): semantische Befunde

2.0. Vorklärung Die Ermittlung der semantischen Differenz von Leute zu Mensch(en) erfolgt über die schrittweise Prüfung ihrer unterschiedlichen Referenz als in Sätzen vorkommende Konstituenten. Ab hier und für den Rest des Aufsatzes bezieht sich die Diskussion über die unterschiedliche Referenz von Mensch(en) und Leute anhand von Satzbeispielen daher natürlich nicht auf die Lexeme (d. h. die syntaktische Stufe N°), sondern auf die jeweiligen sie als Kern enthaltenden Phrasen in ihrer syntaktischen Funktion (also auf Satzglieder, die bezüglich Determination, Numerus und Kasus spezifiziert sind) - nur dies erlaubt sinnvolle Aussagen über Referenz und Referenzweisen. Das Verfahren besteht darin, durch informale, aber kontrollierbare Aussagen über die Extension dieser Ausdrücke schrittweise die Intension, d. h. die sprachlich in syntaktisch positionierten Phrasen codierte begriffliche "Art ihres Gegebenseins" zu rekonstruieren. Erst daraus läßt sich dann der auf die lexikalische Bedeutung von N° entfallende Beitrag ableiten. fünf Personenbezeichnungen werden 48 mal verwendet. Demgegenüber steht ein überaus starker Gebrauch der Personalpronomina: 252 mal setzt sie Lenz ein, am häufigsten 'du' (43), 'ich' (41), 'er' (38) und 'sie' (33)." (Braun 1997:142; Hervorhebungen von mir - E.L.)

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2.1. (die) Leute referiert nicht auf eine Gattung bzw. eine Art Bezugnahmen auf die durch ein Nomen benennbare Gattung oder Art finden ihren typischen Ausdruck in generisch zu interpretierenden Kopula-Sätzen wie (10), die unbeschadet der mit der Artikelwahl in der Subjekt-NP zusammenhängenden Unterschiede ein hierarchisches Verhältnis zwischen natürlichen Arten festlegen. Die jeweils zweite Variante macht dies explizit: (10)

a-1. a-2. b-1. b-2. c-1. c-2. d-1. d-2.

Eine Tanne ist ein Nadelbaum Eine Tanne ist eine Art von Nadelbaum Die Tanne ist ein Nadelbaum Die Tanne ist eine Nadelbaumart Tannen sind Nadelbäume Tannen sind eine Art /Arten von Nadelbäumen Die Tannen sind Nadelbäume Die Tannen sind eine Art / Arten von Nadelbäumen

Die den Sätzen in (10) gemeinsame extensionale Interpretation ist, daß alle Tannen Nadelbäume sind, aber nicht alle Nadelbäume Tannen. Wenn wir nun nach diesem Muster die erste Klausel der intuitiven Umschreibung der Leute/Menschen-O'isimküori aus 1.3.1., nämlich "Leute sind immer Menschen, aber Menschen sind nicht immer Leute" wie in (11) reformulieren, dann bemerken wir außer dem Fehlen der Singular-Versionen dreierlei. (11)

a. b. c. d.

Leute sind Menschen Leute sind eine Art /Arten von Menschen Die Leute sind Menschen Die Leute sind eine Art /Arten von Menschen

Erstens. Die Subjekt-NP (die) Leute in (1 l.a, c) referieren nicht auf eine Art oder Subspecies wie es (die) Tannen in (10) tun, sondern eigentlich auf metasprachliche Vorkommen von (die) Leute, diesbezüglich korrekte Versionen von (1 l.a, c) könnten etwa so lauten: (11') a./c.

Der Ausdruck Leute / die Leute bezeichnet stets Menschen

Zweitens. Die Subjekt-NP (die) Leute in den Explizitfassungen (1 l.b, d) sind nur zum Preis einer faktisch falschen oder pragmatisch reanalysierten Interpretation auf Art-Bezug ("reference to kinds") festzulegen. Drittens. Die Varianten (1 l.a, b) mit dem pluralischen Prädikativ Arten von Menschen zeigen, daß anders als die NP (die) Tannen in (10.c-2,d-2) die NP (die) Leute keinen taxonomischen oder Sortenplural haben kann. 9

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Man erkennt die taxonomische oder Sorten-Plural-Lesart von (die) Tannen deutlich bei Gattungsprädikaten wie ausgestorben in (Die) Tannen sind Nadelbäume, viele Tannen / davon sind bereits ausgestorben, wo sich Tannen nur auf Arten beziehen kann. - Daß (die) Leute ebenso wie (die) Menschen für eine solche Lesart grundsätzlich nicht zugänglich sind, ist ein weiteres Indiz fur ihre in 1.3.1. besprochene anthropozentrische Exponiertheit.

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Der sich abzeichnende Befund, daß (die) Leute grundsätzlich nicht auf eine Art oder Gattung referieren kann, bestätigt sich durch andere Konstruktionen. So kann (die) Menschen als Prädikativ eine entsprechende Gattungslesart haben, (die) Leute nicht: (12)

a. b. c.

Adam und Eva waren die ersten Menschen/* Leute Hans und Bodo sind keine Menschen /* Leute, sondern Pferde Hans und Bodo sind keine wirklichen Menschen /*Leute, sondern Romanfiguren

Auch kann (die) Menschen Argument von Gattungsprädikaten (13) oder Kopf von Gattungsattributen (14) sein, (die) Leute kann dies beides nicht: (13)

a. b. c.

In 300 Jahren werden die Menschen/*Leute ausgestorben sein Gott erschuf die Menschen /• Leute nach seinem Bilde Generationen von Menschen /* Leuten sind historisch unauffindbar

(14)

a.

Die Menschen der Steinzeit, des Crö-Magnon ... / *die Leute der Steinzeit, des Crö-Magnon ..., wurden nur 30 Jahre alt Die Steinzeit-, Höhlen-, Cro-Magnon- Menschen / *die Steinzeitleute, •Höhlenleute, *Crö-Magnon-Leute wurden nur 30 Jahre alt

b.

Im nächsten Schritt wird der anhand phrasaler Vorkommen von (die) Leute erhobene Befund auf die lexikalische Stufe N° für Leute zurückgeführt. 2.2. Leute ist inhärent nicht-generisch, weil spezifikationsbedürftig Mit dem Hinweis auf die Verwickeltheit der Probleme der generischen Interpretation von Sätzen (cf. Chur 1993, Gerstner & Krifka 1993, Carlson & Pelletier 1995) sei hier nur soviel gesagt: im Dt. wird Generizität nicht am Nomen N° sichtbar, vielmehr wird die Wahl zwischen generischer und partikulärer Referenz durch die funktionale Ausstattung der betreffenden NP/DP (Determination und Qualifikation) und den Typ der auf sie angewandten Prädikation (vgl. (13)) gesteuert. In diese allgemein akzeptierte Lagebeschreibung fügt sich Leute aber nicht so einfach ein, z. B. als Plurale tantum. Die Standardform, in der einer Gattung konstitutive (oder auch nur charakteristische) Eigenschaften nominal zugeschrieben werden, ist die im Singular - mit (in)deflniter NP als Subjekt (15.a,b) bzw. mit (in)definiter NP als Prädikativ (15.c,d). Die Definitheitsunterschiede betreffen hier nur den Umstand, ob auf die Gattung quasi per Eigennamen der Mensch oder über eine zu bindende Variable ein Mensch Bezug genommen wird. Jedenfalls können wir uns anhand der schon in 1.3.1 erwähnten koextensionalen Eigenschaften »federloser Zweibeiner« und »Mensch« leicht verdeutlichen, daß im Singular die per Eigenschaftszuschreibung determinierte Referenzweise bei prädikativen NP und generisch zu interpretierenden Subjekt-NP parallel ist: (15)

a. b. c. d.

Ein Mensch ist ein federloser Zweibeiner Der Mensch ist ein federloser Zweibeiner Ein federloser Zweibeiner ist ein Mensch Der federlose Zweibeiner ist der Mensch

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Für Leute als Plurale tantum ist diese Standardform generischer Referenz auf die Gattung nicht zugänglich. Wenn wir den Vergleich nun mit dem Plural (die) Menschen herstellen, diesmal mit einer modalen, temporal beschränkten Aussage, zeigen sich sofort weitere Unterschiede: (16)

a. b. c. d.

Menschen können heutzutage sehr alt werden Die Menschen können heutzutage sehr alt werden * Leute können heutzutage sehr alt werden Die Leute können (* heutzutage) sehr alt werden

Erstens. Während (16.a,b) zwar nicht als Gattungsbezug, aber doch generisch im Sinne einer "characteristic property" von Zeitgenossen interpretierbar sind, sperren sich (16.c,d) dagegen. Ein indefiniter, sog. bloßer Plural als Subjekt-NP ist sonst prädestiniert oder zumindest zugänglich ftlr eine generische Lesart, nicht so bei Leute - vgl. (16.c), und (16.d) ist nur in partikulärer Lesart, d. h. als Bezug auf eine spezifizierte (= definite) Menge von Menschen, akzeptabel, wobei die Spezifikation offensichtlich nicht durch die temporale Angabe heutzutage, sondern auf anderem Wege geliefert ist. Zweitens. Daß Leute als bloßer Plural grundsätzlich nicht-generisch ist, zeigt sich auch daran, daß es - wie nach der oben anhand von (15) gezeigten Parallelität von generischen Subjekt-NP und Prädikativ-NP zu erwarten - als letztere nicht taugt: (17)

a. b.

Wir sind alle Menschen/*Leute Folterer sind Menschen /* Leute, aber zugleich Unmenschen /*Unleute

Drittens. Leute als bloßer Plural ist sogar in partikulärer, d. h. existenzquantifizierter, Interpretation gegenüber dem bloßen Plural Menschen eingeschränkt. So tritt Leute artikellos als Subjekt nicht als Topik (in der typischen Linksaußen-Position), sondern nur als Teil des Kommentars (im Mittelfeld) auf (18.a, c), darin gleicht es dem indefiniten Pronomen jemand f): (18)

a. b. c. d. e. f.

Es Es Es Es Es Es

ist Büroschluß. ist Büroschluß. ist Büroschluß. ist Büroschluß. ist Büroschluß. ist Büroschluß.

Menschen/*Leute überschwemmen die Stadt. Die Stadt ist von Menschen / Leuten überschwemmt. * Leute sind sofort am Tor und stürmen hinaus. Sofort sind Leute am Tor und stürmen hinaus. * Jemand ist sofort am Tor und reißt es auf. Sofort ist jemand am Tor und reißt es auf.

Informationsstrukturell heißt das, daß ein Vorkommen von Leute ohne rekonstruierbare Spezifikation eines Auswahlkriteriums (vgl. unten) nicht zum Diskurshintergrund gezählt werden kann. Wenn wir die an den Daten aus (15) bis (18) illustrierten Beobachtungen als Indizien für die lexikalischen Eigenschaften des Plurale tantums Leute auszuwerten versuchen, dann ergibt sich folgendes Bild. Semantisch ist die Eigenschaft »Leute zu sein« offenbar nicht von dem Typ, daß ihre Zuschreibung auf eine Menge menschlicher Träger diese als Vertreter einer Unterabteilung der Gattung ausgliedern könnte - vgl. (11) - (14) und (16). Vielmehr gilt als Ausbuchstabierung der zweiten Klausel von "Leute sind immer Menschen, aber Menschen sind nicht im-

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mer Leute", daß die Bezugnahme auf Menschen mithilfe von (die) Leute anzeigt, daß sich die betroffenen menschlichen Individuen nur relativ zu einem kontextuell gegebenen Auswahlkriterium als Pluralität konstituieren. Eben dies ist die durch Leute induzierte "Art des Gegebenseins" (Frege), an der sich die Extension der jeweiligen Vorkommen von (die) Leute bemißt. Soviel zunächst zur inhärenten Nicht-Generizität. Syntaktisch entspricht der semantischen Relativiertheit auf ein kontextuell gegebenes Auswahlkriterium das strukturelle Defizit bzw. die projektive Ungesättigtheit, die NP mit bloßem Leute als Kern aufweisen: (19)

a. b.

*Anna und Peter sind Leute Es ist Büroschluß. * Leute sind sofort am Tor und reißen es auf

Die entsprechenden Konstruktionen werden akzeptabel, sobald sie um eine strukturelle Einheit ergänzt werden, die als Lieferant des für Leute nötigen Auswahlkriteriums dienen kann, z. B. die unterstrichenen Zusätze in (20): (20)

a-1. a-2. a-3. b-1. b-2. b-3.

Anna und Peter sind Leute, die sich nichts gefallen lassen Anna und Peter sind erfahrene Leute Anna und Peter sind Kaufleute. Büroschluß. Leute aus der Chefetage sind sofort am Tor und ... Es ist Büroschluß. Die Leute sind sofort am Tor und reißen es auf. Es ist Büroschluß. Wachschutzleute sind sofort am Tor und ...

Soviel zur semantischen und syntaktischen Spezifikationsbedürftigkeit von Leute, die nicht nur für dessen syntaktisches Vorkommen als bloßer Plural (und somit als Phrase) gilt, sondern auch für die syntaktische N°-Stufe bzw. den nominalen Stamm Leut(e), wie unten anhand der Wortbildung gezeigt. Aus dem Spektrum von Realisierungen der für die Extensionsbestimmung von Leute erforderlichen Kontextinformation (mehr dazu in 3.2) greifen wir zunächst nur (20.a-3, b-3) heraus, um eine weitere Facette des Themas Menschen vs. Leute zu betrachten. 2.3. Leute als Simplex vs. -leute als Kopf von Komposita Aus den Beispielen (20.a-3, b-3) erhellt, daß bei Ν + N-Komposita mit -leute als Kopf (forthin: X-leute) das Determinationsglied X die Funktion des Lieferanten für das Auswahlkriterium erfüllen kann. Demzufolge müßten für Komposita der Form X-leute alle Beschränkungen, die wir für Leute bezüglich Generizität, Prädikativität und Topikalität festgestellt haben, aufgehoben sein. Und dies ist in der Tat der Fall, wie die noch einmal im Vergleich mit *Leute aufgeführten Beispiele aus (12) - (18) zeigen: (21)

a. b. c. d. e.

Adam und Eva waren die ersten Menschen / Liebesleute /* Leute. Bald werden die Menschen / Bergleute /* Leute ausgestorben sein. Bergleute /*Leute können heutzutage sehr alt werden. Wir sind alle Bergleute /*Leute. Streikbeginn. Bergleute /* Leute überschwemmen die Stadt.

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Ein Kompositum X-leute verhält sich somit wie jedes andere personenbezeichnende Appellativum im Plural. Für die Wortbildungstheorie ist der so erhobene Befund ein bemerkenswerter: natürlich ist -leute der Kopf des Kompositums X-leute und bestimmt als solcher die wesentlichen Eigenschaften des Gesamtwortes, aber diese Eigenschaften sind nun gerade nicht mehr die, die der Kopf als Simplex hat. Daher wohl die oft vorgenommene Klassifikation von -leute als Halbsuffix (Suffixoid) - mehr dazu und zum Status von X-leute als sog. Suppletivplural zu X-mann in Abschnitt 4.3.

3. Skizze einer semantischen Analyse

3.0. Vorauszuschicken ist, daß im Unterschied zu den normalen, von einer Singularform abgeleiteten und kompositional zu repräsentierenden, Pluralbildungen die Pluralia tantum in der formalsemantischen Literatur bislang kaum beachtet wurden. Zu den wenigen Ausnahmen gehört Eschenbach (1995:144 ff.), der ich mich weitgehend anschließe, um zumindest zu verdeutlichen, worum es bei der Repräsentation der Eigenschaften von Leute geht. Mehr als eine Problemdarstellung ist im Moment nicht zu erreichen. 3.1. Lexikoneintrag für Leute Die Besonderheit von Leute läßt sich am besten vor dem Hintergrund des regulären Plurals Menschen darstellen. Die Repräsentation der internen semantischen Struktur solcher Zählplurale besteht aus mehreren konjunktiv verknüpften Bedingungen, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen. Das Basismorphem hat (nach Eschenbach 1995:144 ff.) die Repräsentation (22) mensch: λ χ HOMO (χ) & Ν (χ)

[pers]

mit folgenden Erläuterungen: ist ein einstelliges Prädikat, das die in 1.3.1. problematisierte begriffliche Substanz von Personenbezeichnungen als Komponente handhabbar macht. Konzeptuell fundierte Prädikate erscheinen in Kapitälchen, strukturbezogene normal. 2. χ ist eine Individuenvariable, deren Vorkommen durch den Operator λ χ gebunden wird. Allgemeinem Usus folgend, kennzeichnet λ_χ zugleich das externe (und referentielle) Argument der als Ν kategorisierten Einheit. 3 . Ν ist eine strukturbezogene Prädikatsvariable, die angibt, daß die Prädikation ' h o m o ( χ ) ' in ein N(omen) verpackt ist und so den kategoriellen Bedingungen nominaler Bedeutungskonstitution bez. Argumentstruktur, (Nicht-) Zählbarkeit usw. unterliegt. 4. [pers] ist ein strukturbezogenes Prädikat, das für Einheiten der Kategorie Ν mit 'HOMO (x)' das Individuierungskriterium bzw. die Zähleinheit ("person") festlegt. Bei Massenomina (Wasser) oder Kollektive (Vieh, Volk) fehlt ein solches. Bei zählbaren Nomina ist es erforderlich als Selektionsangabe für lexikalisch spezifizierte Zähleinheiten (obligatorisch in Classifier-Sprachen). Im Dt. ist [pers] lexikalisiert durch das numerus- und 1. HOMO

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genuslose Mann wie in Sie saßen vier Mann hoch im Boot: Anna, Peter und die Geschwister Schmidt. 5. (22) ist die Basis sowohl für die Nomina Mensch und Menschen wie auch für denominale Ableitungen wie Menschheit, menschlich, vermenschlichen. Das Numerusmorphem wird repräsentiert als Hinzufügung eines strukturbezogenen Prädikats 'atom(ar)' bzw. 'complex' über Zähleinheiten U (= Variable für [pers] und andere Zählbzw. Maßeinheiten). Wir erhalten somit (23)

a. b.

Singularmorphem: (λ U) λ Ν λ χ [atom (U)(x) Pluralmorphem: (λ U) λ Ν λ χ [complex (U)(x)

& Ν (χ)] & Ν (χ)]

die angewandt auf (22) mit passender Einsetzung für Ν und U zu (24) führen, wobei (24a.') dem Default-Charakter des Singulars Rechnung trägt: (24)

a. a.' b.

Mensch: Menschen:

λ χ [HOMO (χ) & λ χ [HOMO (χ) & λ Χ [HOMO (Χ) &

atom (pers)(x)] pers (χ)] complex (pers)(x)]

Schließlich wird die Zählung durch Numeralia bei pluralischen Nomina durch einen Operator q über den Zähleinheiten U mit Wertangabe repräsentiert: (25)

drei Menschen: λ χ [HOMO (χ) & complex (pers)(x) & q(3)(pers)(x)]

Soweit die Rekonstruktion des regulären Plurals drei Menschen aus seinen Bestandteilen. Wie sieht gegenüber (25) die Repräsentation von drei Leute aus? Zunächst ist zu berücksichtigen, daß Leute nicht aus einem Singular Leut"' abgeleitet, sondern ein Plurale tantum ist, und zwar im Unterschied zu drei *Masern/Ferien/Hebriden ein zählbares. Dem ist dadurch Rechnung zu tragen, daß Leute die Bedingung λ χ [... & complex (pers)(x)] bereits im Lexikoneintrag enthält, und nicht wie (24.b) oder (25) als Anwendungsresultat einer morphologischen Pluralregel, und das wiederum heißt: der Plural gehört schon zum Stamm Leut(e), was für die Wortbildung relevant ist - vgl. 4.1. Sodann gilt: drei Leute bezieht sich im Vergleich zu drei Menschen auf drei Personen, die als Menge zusätzlich spezifiziert sein müssen, anders gesagt, es fehlt im Vergleich zu (25) die Verankerung des - wie wir in 2.2. gesagt haben - kontextuell eruierbaren Auswahlkriteriums, wonach die drei bezeichneten Personen als Pluralität zusätzlich spezifiziert sind. Wir können dies in (25) als weitere Bedingung über die Zähleinheiten U einfügen, wobei Ρ eine provisorische Prädikatsvariable für das Auswahlkriterium ist: (26)

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drei Leute·, λ χ [HOMO (χ) & complex (pers)(x) & q(3)(pers)(x) & Ρ (pers)(x)]

Die synchron als süddt. dialektal belegte Form (das) Leut ist, wie Grimm DWB: 847 vermerkt, eine sekundäre Singularbildung, also nicht die Basis fur den Plural Leute . Das ahd. Kollektivum Hut ('Volk') ist über mhd. leut gewiß das Etymon für die heutige Form, aber "der pluralische Sinn des Wortes ließ auch formell den PI. eintreten, zu dem nun kein Sg. existiert. Die singularische Form noch in leutselig, Leutpriester." Paul DW (1992:529).

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Erreicht ist damit zunächst nur eine Lokalisierung der als Auswahlkriterium dienstbar zu machenden Information: Ρ betrifft - wie alle anderen Klauseln in (26) auch - das externe (und referentielle) Argument λ χ [... (χ)...]. Ρ fuhrt keine weitere Argumentstelle ein, sondern eine Bedingung, die die bereits als 'HOMO ( x ) & complex (pers)(x) & q(3)(pers)(x)' determinierten Instanzen von χ zusätzlich erfüllen müssen. Daß die in Ρ verankerte Spezifikation den anderen Bedingungen, insonderheit 'complex (pers)(x) & q(3)(pers)(x)', nachgeordnet ist, zeigt die Unakzeptabilität numerischer Aufteilungen wie in (27): (27)

Auf dem Bild sind *eine Person und zwei Leute, also drei Menschen. Auf dem Bild sind drei Personen: *ein Mensch und zwei Leute. Auf dem Bild sieht man drei Leute: * zwei Menschen und noch einen.

3.2. Kontextquellen für die Erfüllung der Zusatzbedingung Das eigentlich gravierende Problem mit (26) ist dies: eine Variable ist definiert durch die Gesamtheit ihrer Belegungen, d. h. wir müssen festlegen, was an kontextueller Information als zulässige Belegung von 'P (pers)(x)' in Frage kommt und auf welche Weise sie verfügbar ist. Wir betrachten nun Realisierungsformen von Kontexten, aus denen Belegungen für 'P (pers)(x)' stammen können. 3.2.1. (non-verbaler) Situationskontext Beispiele wie in (28) zeigen, daß bei spontanen Vorkommen von Leute das jeweilige Auswahlkriterium dem Sprecher S auch durch den in [...] angedeuteten Situationskontext der Äußerung geliefert werden kann. (28)

a. b.

[S beim Erreichen einer versteckten Waldschneise] (Da sind) Leute! [S bei Ankunft am Opernhaus] Die Leute haben sich aber fein gemacht!

Genau darauf beruht auch die eingangs bei Abwandlung des FuCik-Zitats beobachtete Differenz: (29)

a. b.

Menschen, ich hatte euch lieb! Leute, ich hatte euch lieb!

(= (3. a.)) (= (3. b.))

In FuCiks Originalversion (29.a) referiert Menschen auf die Menschheit, d. h. auf die Menge Μ aller Vertreter der Gattung, jedoch limitiert auf die Teilmenge Ml c M , die als (lebende) Adressaten im zeitlichen Bezugsrahmen des mit (29.a) vollzogenen Sprechakts verfugbar sind. Hätte FuCik (29.b) geäußert, dann wäre die Referenz auf eine Teilmenge M2 c Ml eingeschränkt, nämlich auf diejenigen (lebenden) Adressaten, die im selben zeitlichen Bezugsrahmen des nun mit (29.b) vollzogenen Sprechakts verfügbar (und daher in Ml sind), aber außerdem noch situativ räumlich präsent sind und/oder in einer definierten Relation zum Sprecher stehen." Offensichtlich genügt also räumliche Präsenz von χ im Äuße11

Julius Fuöik wurde am 8.9.1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet - das Beispiel ist Teil seiner in der Haft aufgezeichneten »Reportage unterm Strang geschrieben« (veröffentlicht 1946). Aus faktischen Gründen (Einzelhaft) scheidet daher die Variante (29.b) aus.

Menschen vs. Leute

17

rungskontext als situatives Auswahlkriterium dafür, daß der Sprecher die χ als Leute bezeichnen kann. Aus derselben Quelle rechtfertigt sich übrigens auch die Definitheit von die Leute in (28.b). Ich werde, um diese Definitheitsquelle nicht immer eigens kommentieren zu müssen, die Illustration forthin auf Leute als bloßen Plural konzentrieren. 3.2.2. Satzsyntaktischer Kontext Auf der Ebene der Satzkonstruktion sind es in erster Linie die verschiedenen syntaktischen Modifikatoren in oder zu NP/DP mit N° = Leute als Kern, die das Auswahlkriterium bereitstellen. So sind in (30.b - d) auch die Subjekte, obwohl bloße Plurale, nunmehr einer generischen Interpretation zugänglich. (30)

a. b. c. d.

"Leute sterben früher. Arme Leute sterben früher. Leute, die arm sind, sterben früher. Leute in Armut sterben früher.

Entsprechendes gilt für Vorkommen von Leute, die erst qua Modifikation zu partikulärer (d. h. existenzquantifizierter) Interpretation befähigt werden: (31)

a. b. c. d. e.

* Leute sind schlecht dran. Peters / Eure Leute sind schlecht dran. Leute in der Fa. Schmidt & Co. treten in Streik. * Leute treten in der Fa. Schmidt & Co. in Streik. In der Fa. Schmidt & Co. treten (die) Leute in Streik.

Aus (31 .c - e) ist zu ersehen, daß ζ. B. eine lokale PP nicht an sich, sondern nur in bestimmten Positionen das Auswahlkriterium liefert. Unter Verwendung der in Maienborn (1996) sorgfältig begründeten Unterscheidung stellen wir fest: die PP liefert es als Attribut zu Leute in (31.c), nicht hingegen als VP-Adjunkt in (31.d), wo die PP das Ereignis des InStreik-Tretens lokalisiert, aber damit keine Spezifikation für das Subjekt Leute bereitstellt. Die PP als VP-externes Adjunkt wie in (31 .e) indes stellt einen räumlichen Bezugsrahmen bereit, relativ zu dem die in Streik getretenen 'complex (pers)(x)' als (die) Leute spezifiziert sind. Der via VP-externes PP-Adjunkt induzierte Bezugsrahmen fungiert als Lieferant des Auswahlkriteriums für die Belegung von 'P (pers)(x)' und bei Bedarf auch als Definitheitsquelle. Zugleich besetzt die PP in (31 .e) die Vorfeldposition, so daß hier das Subjekt Leute - anders als in (31a, d) - gar nicht in die Verlegenheit kommt, als Topik zu fungieren. An den bisher syntaktisch dingfest zu machenden Modifikatortypen, die als Quelle für die Belegung von ' P(pers)(x)' dienen können, zeigt sich, daß die Bereitstellung des Auswahlkriteriums für Leute einem Geflecht syntaktischer und semantischer Bedingungen unterliegt. Eine Art von impliziter Modifikation ergibt sich ζ. B. durch die Gleichartigkeitsbedingungen für koordinierte Strukturen (Lang 1982, 1984, 1991), wenn Leute als zweites Konjunkt durch Rekurs auf das erste Konjunkt eine passende Spezifizierung erfährt: (32)

a. b. c.

Max und andere / solche / seine Leute sind gegen den Vorschlag. Das UK-Reisehandbuch beschreibt ausfuhrlich Land und Leute *Das UK-Reisehandbuch beschreibt ausfuhrlich Leute

18

Ewald Lang d.

?Das UK-Reisehandbuch beschreibt ausführlich Leute und Land

Bei (32.a) greift das zweite Konjunkt auf die aus dem Personennamen Max zu extrapolierende Komponente '(pers)(Max)' zurück und definiert dazu eine Alternativmenge mit dem Auswahlkriterium Ρ = λχ [(pers)(x) & χ Φ Max ]. Bei (32.b) wird durch die Abfolge zwischen dem ersten Konjunkt Land und dem Folgekonjunkt Leute eine Pertinenz-Relation insinuiert, was ebenfalls ausreicht als Auswahlkriterium (und Definitheitsquelle). Damit ist ein in allen Wörterbüchern unter /Redewendung/ verzeichneter Fall auf seine regulären Bedingungen zurückgeführt. Das Auswahlkriterium ist auch erfüllt, wenn ein Vorkommen von Leute quasi anaphorisch auf einen syntaktisch zugänglichen Antezedenten bezogen werden kann, der seinerseits kontextuell unabhängig ist. Dabei kann der Antezedent im Vorgängersatz erscheinen (33.a), oder als 'clause mate' im selben Satz wie Leute (33.b) und (34), womit wir bei der Explikation des eingangs erwähnten Beispiels (1) sind, das die Studie ausgelöst hat. (33)

a. b.

(34)

a.

b. c. d.

Hans und Max machen jetzt endlich mit. Leute wie sie / Solche Leute / Die Leute brauchen wir. Mit Hans und Max fallen bereits zwei Leute wegen Krankheit aus. Die Menschen sind komische Leute: wenn einer einen aus Eifersucht erschlägt, wird er gehenkt, wenn ein General Tausende erschießen läßt, bekommt er einen Orden (=(1)) Die Menschen sind komisch: wenn einer einen ... Die Leute sind komische Menschen: *wenn einer einen ... *Die Menschen sind komische Menschen:...

Der literarische Reiz von (34.a) erklärt sich so: die generisch auf die Gattung referierende NP/DP die Menschen ist Subjekt zum Prädikativ '(komisch)(x) & (pers)(x)', was auf (34.b) - logisch äquivalent zu (34.a), aber ohne Pfiff - hinausläuft. Nun wird in (34.a) jedoch dasselbe Subjekt zugleich als Antezedent in Anspruch genommen, um für die nominale Erweiterung des Prädikativs zu (komischej Leute das Auswahlkriterium zu liefern. Der Pfiff liegt darin, daß hier ein generisches Subjekt und ein notorisch nicht-generisches Prädikativ aufeinander bezogen werden müssen, also mit syntaktischem Zwang ein Clash von Prädikaten semantisch verschiedenen Typs überbrückt wird. Wieso Clash zwischen Prädikatstypen? Dies zu erläutern führt zu einem Erklärungsansatz für die bisher nur umschriebene lexikalische Besonderheit von Leute. 3.2.3. Leute - ein inhärentes Stadien-Prädikat? Gemäß einer derzeit heftig geführten Diskussion kann man die im Prädikativ (als syntaktischer Position) auftretenden Ausdrücke semantisch in Individuen-Prädikate (individuallevel predicates = IP) und Stadienprädikate (stage-level predicates = SP) unterteilen. Die ursprünglich taxonomisch auf »permanent« (IP) vs. »temporär« (SP) bezogene Unterscheidung (cf. die Beiträge in Carlson & Pelletier (1995)) ist inzwischen plausibel rekonstruiert worden als Unterscheidung bez. des jeweiligen Arguments (Maienborn 1996:188 f f ) : IP sind Prädikate lediglich mit Individuen-Argument(en), betreffen also dessen Eigenschaften per se ohne Situationseinbettung - die lexikalischen Kategorien dafür sind (im typischen

Menschen vs. Leute

19

Falle) Adjektive {rot, teilbar, ähnlich) und sog. statische Verben (ähneln, kosten)·, SP hingegen sind Prädikate mit einem (zusätzlichen) Situationsargument - lexikalisch belegt durch die übrigen Verben (incl. Kopula). Für appellative Nomina, zumal wenn sie als Prädikativ auftreten, gilt: "predicative NPs are of course all individual-level predicates" (Chierchia 1995:211). Letzteres finden wir in (12) - (17) und (21) bestätigt, wo der bloße Plural Menschen als Prädikativ auftritt. Die Beispiele zeigen indes auch, daß der bloße Plural Leute nicht als Prädikativ auftreten kann. Dies zusammen mit den übrigen bisher vermerkten Befunden zu Leute legt folgenden Schluß nahe: (35)

Mensch ist lexikalisch (gemäß (22, 24)) ein IP, Leute ist lexikalisch (gemäß (26)) kein IP bzw. ein Nicht-IP, und zwar wegen der ihm inhärenten Zusatzbedingung 'P(pers)(x)\

Der Schritt, Leute zu einem inhärenten Stadienprädikat (SP) zu erklären und damit seine Besonderheit auf eine generelle Distinktion zurückzuführen, ist verführerisch, aber in der Konsequenz nicht so einfach auszubuchstabieren. Dazu bedürfte es einer den Rahmen dieses Berichts sprengenden ereignissemantischen Analyse von Pluralitäten und Generizität. Immerhin ist die in (35) getroffene Unterscheidung ein nützlicher Zwischenschritt. Es bleibt dabei, daß - wie in 2.2 demonstriert - Generizität im Dt. nicht am Nomen erkennbar ist. (35) fixiert einen umgekehrten Fall, indem es als lexikalische Eigenschaft von Leute als N° dessen Nicht-Generizität festschreibt. Andere inhärent nicht-generische Einheiten sind Eigennamen oder Pronomina wie er, sie, man, jemand, wer - die kategoriell allerdings nicht N°, sondern NP/DP verkörpern. 3.2.4. Wortsyntaktischer Kontext: X-leute Wie anhand der hier wiederholten Beispiele aus (14) und (21) zu ersehen, (14)

a. b.

Die Menschen /*Leute der Steinzeit, ~ des Crö-Magnon starben jung Die Steinzeit-, Höhlen-, Crö-Magnon-Menschen / * Steinzeitleute,*HöhlenIeute, *Crö-Magnon-Leute wurden nur 30 Jahre alt

(21)

a. b. c. d.

Adam und Eva waren die ersten Menschen / Liebesleute/* Leute Bald werden die Menschen / Bergleute /*Leute ausgestorben sein Bergleute /"Leute können heutzutage sehr alt werden Anna und Peter sind Kaufleute / * Leute

kann die Belegung von 'P (pers)(x)' aus (26) auch durch ein Determinationsglied X in einem Kompositum X-leute erfolgen, mit dem Effekt, daß das resultierende Kompositum (.Bergleute, Liebesleute) sich wie jedes andere Appellativum im Plural verhält und semantisch ein IP darstellt - vgl. (21). Die Restriktionen in (14) und weitere Details zu X-leute behandeln wir im Wortbildungsabschnitt 4.3.

20

Ewald Lang

3.3. Zwischenbilanz Die bisherige Skizze zur lexikalischen Bedeutung von Leute hat drei Eigenschaften dieses Lexems gegenüber Mensch(en) zu Tage gefördert: Erstens. Leute enthält gemäß (26) gegenüber Mensch(en) einen eingebauten Plural sowie die Forderung nach kontextueller Spezifizierung durch ein zusätzliches Auswahlkriterium. Zweitens. Syntaktische und semantischen Befunde rechtfertigen die Annahme, daß Mensch als N° vom Prädikatstyp IP, Leute als N° hingegen kein IP ist. Drittens. Die Kontexte, die das geforderte Auswahlkriterium bereitstellen, umfassen neben ausschließlich situativ eruierbarer Information - vgl. (28, 29) - ein ganzes Spektrum von strukturell zugänglichen Modifikatoren, die bei aller Differenz von Satz-, Diskurs- und Wortsyntax - vgl. (30 - 34) - eine wesentliche Gemeinsamkeit haben: (36)

Ein Ausdruck Α ist nur dann ein strukturell zugänglicher Lieferant für das Auswahlkriterium, wenn das zu spezifizierende Vorkommen von Leute als im Skopus bzw. im syntaktischem Bezugsbereich bzw. im pragmatischen Einflußbereich von Α stehend interpretierbar ist.

4. Mensch(en) vs. Leute in der Wortbildung12

4.0. Wir betrachten nun das Verhalten der nach (24) bzw. (26) provisorisch analysierten N°-Einheiten Mensch bzw. Leut(e) als Basismorpheme [N mensch(en)] bzw. [N leut(e)] in der Wortbildung, und zwar um die in 3.3. resümierten Annahmen auf ihre Stichhaltigkeit zu testen und anhand der Wortbildungsbefunde zu bekräftigen. 4.1. Derivationsbeschränkungen für [N leut(e)] Zu klären sind Gruppen von - übrigens bisher nirgends vermerkten - Daten, die zeigen, daß [N leut(e)] als Basismorphem gegenüber [N mensch] wie auch gegenüber [N mann], [N person], [N volk] u. a., die wir mit einstreuen, prinzipiellen Beschränkungen unterliegt.

12

(37)

a. b. c. d.

menschlich, menschenlos; völkisch menschein, bemannen, ent~; bevölkern, ent~, personifizieren Menschheit, Menschtum, Unmensch, Urmensch; Volkstum Menschlein, Völkchen, Persönchen

(38)

a. b. c.

•leutlich, *leut(e)los13; * leutisch •leutein, *beleuten, *entleuten "Leutheit, "Leutetum, *Unleute, *Urleute

Zu diesem Abschnitt haben Nanna Fuhrhop, Rüdiger Harnisch, Chris Wilder und Wolfgang U. Wurzel (alle vom ZAS) nützliche Beispiele beigesteuert. Vielen Dank, Leute! " Grimm DWB: 849 verzeichnet leutlos - allerdings mit einer mhd. Quelle. Natürlich wäre leutelos (wobei das -e- ein Fugenelement wie -en- in sorgenlos ist, kein Pluralflexiv -vgl.auch 4.2 unten) synchron verständlich, aber wohl kaum als Produkt regulärer Wortbildung anzusehen. Die übrigen Wörterbücher verzeichnen es nicht.

Menschen vs. Leute d.

21 Leutchen, Leutiein

Wenn wir uns bewußt machen, daß für Leute als Plurale tantum das Pluralmorphem gemäß (26) im Stamm [N leut(e)] eingebaut ist, dann bietet sich zur Erklärung der Fehlanzeigen in (38.a - c) eine generell im heutigen Dt. wirksame morphologische Positionsbeschränkung an: (39)

a. b.

* [ [ [ [ Stamm ] Flexion ] Derivation] Flexion ] Flektierte Stämme sind fur Affigierung unzugänglich

Die scheinbaren Gegenbeispiele zur Basis [N mensch-en] und [N volk], menschenlos in (37.a) bzw. be~, entvölkern in (37.b), enthalten Fugenelemente, aber kein Pluralmorphem (vgl. 4.2 sowie grundsätzlich dazu Fuhrhop (1998)). Bleibt noch der Fall (38.c) Leutchen, der in allen Wörterbüchern den Eintrag für Leute eröffnet. Hierfür bietet sich als Überlegung an, daß dieses sehr alte Wort nicht vom heutigen pluralhaltigen Stamm [N leut(e)] abgeleitet ist, sondern ein Relikt ist, das auf den Diminutiv liutelin zum mhd. singularen Kollektivum Hut m, η < ahd Hut m,f,n zurückgeht (analog zu Völkchen). Ich kann hier keine diachrone Beweisführung antreten, aber die mhd. Basis liut m,n < ahd. liut m,f,n (vgl. auch FN 13) begegnet uns auch bei den Komposita wieder. Die auf (39) gegründete Erklärung der Derivationsbeschränkung von leut(e) und die Ausgliederung von Leutchen stützen sich auf eine Durchsicht der ca. 650 (obligatorischen) Pluralia tantum, die Baufeld (1980) fürs Dt. gesammelt hat. Fast alle unterliegen den in (38) illustrierten Beschränkungen, wobei das Vergleichssample durch unabhängige morphonologische Bedingungen für komplexe Wörter erheblich reduziert ist. Ausnahmen finden sich nur bei einigen Adjektivierungen (40.a), der Rest14 ist Derivationsmüll: (40)

a. b. c. d.

elterlich, geschwisterlich; *spes(en)lich; *ferienlich; *maser(n)lich elter(n)los, geschwisterlos, spesenlos, ferienlos, masernlos * beeitern, *enteltern, * bespesen, •beferien, *bemasern *Elternheit, *Geschwistertum, *Spesenheit, *Masernheit Eiterchen, Geschwisterchen; *Spes(en)chen, *Maserlein

Die Suffigierungen auf -los in (40.a) scheinen gegenüber Pluralia tantum als Basis offenbar nicht sensibel und somit ein Gegenbeleg zu (39) zu sein. Nun ist aber zu beachten, daß -los (wie -lei, -tum u. a.) ein Suffix ist, das Fugenelemente triggert (arbeitslos, gnadenlos), und die stimmen bei manchen Basisnomina eben formal mit dem Pluralflexiv überein, ohne ein solches zu sein (pausenlos, lückenlos) - daher die morphologische Unauffälligkeit von spesenlos oder ferienlos. Kurzum: Eine Erklärung, die die Derivationsbeschränkungen für

14

Die beiden (anthropischen!) Diminutivformen Eiterchen und Geschwisterchen sind akzeptabel (wie der vielzitierte Fall Kinderchen), aber derivationell nicht eindeutig. Sie könnten auch auf die Sekundärsingulare (ein) Elter bzw. (ein) Geschwister zurückgehen. Die morphologische Unauffälligkeit von Eiterchen und elterlich (nicht *Elternchen, *elternlich) beruht auf einer häufiger anzutreffenden Stammreduktion, wie wir sie ζ. B. zur pluralen Basis Finanzen beim Kompositionsstamm Finanz- (Finanzamt, Finanzberater) finden. Für das Beispiel danke ich Nanna Fuhrhop. Weitere Beispiele: Pfingstsonntag, Textilfabrik.

22

Ewald Lang

Leute auf den generellen Fall (39) zurückführt, ist besser als eine, die stattdessen oder zusätzlich auf semantische Aspekte abhebt. Daher noch ein Indiz, das in diese Richtung weist. Aus (21) erhellt, daß Komposita wie Bergleute, Kaufleute, in denen das Erstglied die Spezifikation liefert, sich semantisch wie jedes andere Appellativum verhalten. Dennoch stehen sie im Vergleich zu ihren singularischen Gegenstücken für Derivationen kaum zur Verfügung, was erneut die blockierende Rolle des bei leut(e) eingebauten Plurals verdeutlicht: (41)

a. b.

*bergleutlich, *kaufleutisch; bergmännisch, kaufmännisch *Bergleutetum, *Kaufleutetum; Bergmannstum, Kaufmannstum

c.

? Bergleutchen, ? Kaufleutchen; Bergmännlein, Ehemännchen

4.2. Kompositionsbeschränkungen für [N leut(e)] 4.2.1. Einführendes Vorauszuschicken ist, daß Komposition als Wortbildungsverfahren weitaus liberaler funktioniert als Derivation. Dennoch hat auch hier Leute im Vergleich zu Mensch(en) ein wesentlich beschränkteres Potential, aber die Einschränkungen (differenziert nach solchen für [ N leut(e)] als Erstglied und solchen für [ N leute] als Kopf) sind nicht so einfach zu begründen wie bei der Derivation. Wir verdeutlichen das vorab in drei Aspekten. Erstens. Morphologisch betrachtet scheint die in (39) formulierte Positionsbeschränkung kaum zu gelten, jedenfalls treten als Erstglieder häufig die Formen Menschen- bzw. Leuteauf, jedoch sind die durchweg bei [N mensch-en] und bei [N leut-e] nicht als Pluralformen, sondern als Stämme mit Fugenelement zu analysieren. Gestützt wird die These, daß es sich hier (i. S. v. Fuhrhop (1998)) um Kompositionsstammformen mit Fugenelement und nicht etwa um pluralisierte Stämme handelt, durch die Kollektion (42) mit [N mensch-en] als Erstglied. (42)

a. b. c. d. e.

Menschenantlitz, Menschengestalt, Menschenleben Menschenansammlung, Menschenauflauf, Menschengemeinschaft Volksansammlung, Volksbund, Volksgemeinschaft Völkeransammlung, Völkerbund, Völkergemeinschaft Menschenfresser, Menschenverächter, Menschenraub

42.d] 42.c]

Bei (42.a) macht es kaum Sinn, bei Menschen- einen Plural zu unterstellen (entsprechend sind Wörterbuchkommentare mit generischem Singular formuliert Antlitz/Gestalt/Leben(szeit) eines Menschen (DUDEN2-GW: 2241 ff.)). Bei (42.b) hingegen, wo der Kopf ein Kollektivum, d. h. ein "semantischer" Plural ist, scheint für das Erstglied Menschen- ein Plural denkbar, ja angesichts der via Erstglied semantisch distinkten Volks- vs. Völker- Beispiele mit ebenfalls einem Kollektiv als Kopf evtl. sogar nötig. Bei näherem Hinsehen erweist sich das jedoch als Trugschluß. Die explizite Distinktion in (42.c) vs. (42.d) ist der Tatsache geschuldet, daß Kollektive stets zweifach perspektiviert werden können, nach der (internen) semantischen und nach der (externen) morphologischen Pluralität. Ist nun ein Kollektivum wie Bund oder Gemeinschaft Kopf eines N-N-

Menschen vs. Leute

23

Kompositums, dann kann die damit gegebene Pluralitätsbedingung für ein wiederum kollektives Erstglied durch dessen Singular (qua interner Pluralität: Volks-) oder durch dessen Plural (qua externer Pluralität: Völker-) erfüllt werden - mit (in diesem Falle) regulär berechenbaren Unterschieden in der Extension. Für ein Erstglied, das zur Kategorie zählbares Individuativum gehört, reicht es aus, daß seine Form mit der Pluralitätsbedingung des Kollektiv-Kopfes Bund etc. nicht konfligiert, und dies ist beim Kompositionsstamm [N menschen] gewährleistet. Anhand der Rektionskomposita in (42.e), wo eine Entscheidung über die singularische bzw. pluralische Deutung des Erstglieds Menschen- ohnehin arbiträr ausfällt, dürfte vollends deutlich werden, daß wir es hier - wie bei Komposita überhaupt - mit Kompositionsstammformen zu tun haben, die zwar wie Plurale aussehen können, aber keine sind.15 Die Analyse kann sich nun darauf konzentrieren, warum Leute auch als Kompositionsstamm [N leut-e] so starken Beschränkungen als Erstglied unterliegt. Zweitens. Syntaktisch betrachtet ist das Verhältnis zwischen Kopf und Erstglied bei Komposita höchst unterbestimmt und läßt somit (außer bei Rektionskomposita wie in (42.e)) semantisch einen erheblichen Spielraum von etablierbaren Relationen zu. Die Auswahl daraus erfolgt - man denke an Paradebeispiele wie Fischfrau - vornehmlich nach Präferenzen, die durch unser Weltwissen gesteuert sind. Drittens. Allerdings gibt es semantisch formulierbare Bedingungen, die eine Vorauswahl bezüglich der Beziehungen zwischen Kopf und Erstglied festlegen. 4.2.2. Gleichrangigkeit Eine erste Filterbedingung betrifft die Entscheidung, ob es sich bei einem gegebenen Ausdruck um ein (endozentrisches) Determinativkompositum oder um ein (exozentrisches) sog. Kopulativkompositum handelt. Wenn wir mit Α die Extension des Erstglieds N1 und mit Β die des Kopfes N2 bezeichnen, dann beruht das Resultat C für beide Typen semantisch auf Durchschnittsbildung CN,.N2 = { χ : χ ε Α & χ ε Β } unter der Voraussetzung, daß A η Β Φ 0. Die Wahl zwischen den Typen bemißt sich nun daran, wie diese Durchschnittsbildung bezogen auf die als common sense unterstellbare Begriffshierarchie zustande kommt. Betrachten wir dazu kurz die minimalen Paare (Lang 1984, ausführlich zu kopulativen NN-Komposita Meyer 1993) in (43): (43)

15

a. b.

Tierembryo, Tiermensch,

Dichterfürst, Dichterkomponist,

Haßgefuhl, Haßliebe

Ich will zwei denkbaren Einwänden gleich begegnen. Erstens. Auch der gerade anhand von (42.c) Φ (42.d) exemplifizierte Fall ist hierunter einzuordnen, weil [ N Völker] eine fugenhaltige Stammform zu Volk ist, vgl. Völkerschaft, bevölkern, so daß es auch in Völkerbund als Stammform zu analysieren ist, die lediglich für eine im Kontrast Volksbund - Völkerbund erzwungene Distinktion ausgenutzt, d.h. nachträglich semantisch befrachtet, werden kann. Zweitens. Wenn es zu einem Basisnomen eine fugenhaltige Stammform gibt, dann besagt das nicht, daß sie auch immer auftreten muß - so gibt es ζ. B. zwar nebeneinander Menschentum und Menschtum, aber neben Christenheit nicht *Menschenheit, und auch die Kompositionsstammform ohne Fuge wie in die Menschwerdung des Affen gehört hierher.

Ewald Lang

24

In der bereits in (22) - (24) verwendeten Notation kann die Stellung von N1 bzw. N2 in der Begriffshierarchie durch die Anzahl der nötigen Klauseln angegeben werden, so daß z. B. für Tierembryo die Bestandteile (44.a) nach Einsetzung des spezifischeren Prädikats '(TLER)(x)' aus N1 für das allgemeinere Prädikat '(ANIMATE)(X)' in N2 die Repräsentation (44.b) ergeben mit der Extension (44.c). Hier liegt ein echtes Determinationskompositum vor, weil in C Α die Extension von Β einschränkt, d . h . C c ( A n B) auf C c A festlegt. (44)

a. b. c.

Nl: λ χ [TIER (Χ)] Ν2: λ Χ [ANIMATE (χ) & UNBORN (χ)] [Ν 1-Ν2]: λ χ [TIER (Χ) & UNBORN (χ)] C N I . N 2 : = ( χ : χ ε Α & χ ε Β}, wobei C c Α.

Für Tiermensch indes ergeben sich in (45.a) entsprechend Prädikate mit gleicher Stellung in der Begriffshierarchie, so daß keine spezifikatorische Einsetzung in N2 stattfindet (45.b) und die Extension (45.c) auf die echte Durchschnittsmenge fixiert ist. (45)

a. b. c.

Nl: λ χ [TIER (Χ)] Ν2: λ χ [HOMO (χ)] [Ν 1-Ν2]: λ χ [TIER (χ) & HOMO (Χ)] CNI_N2 : = {Χ : Χ ε Α & χ ε Β}, wobei C c ( A n B )

Dies präferiert eine Interpretation der Ausdrücke in (43.b) als Dvandva oder Kopulativkomposita, die dann angesichts der Präsupposition fürC N ,. N 2 , daß Α η Β ^ β , auch interpretatorische Zusatzleistungen erfordern können: für CN1.N2 = Dichterkomponist ist die Präsupposition qua Verträglichkeit der Prädikate erfüllbar, für C N ,. N2 = Haßliebe oder Tiermensch gilt wegen der Unverträglichkeit, daß Α η Β = 0, als Ausweg müssen Zwitter als Instanzen kreiert werden. Genau dies macht die Spezifik solcher Bildungen aus. Wiewohl in semantischen Termen faßbar ist die auf Gleichrangigkeit beruhende Ausgliederung der Kopulativkomposita (ohnehin eine Randerscheinung im Dt.) eher pragmatisch fundiert, sie ist nicht strukturell vorgegeben und zwingend (deshalb ist ζ. B. für Tiermensch auch eine determinative Lesart analog zu Tiernarr oder Stadtmensch zulässig), aber sie führt uns zu einer Filterbedingung, die grundsätzlicher und vermutlich echt semantisch ist. 4.2.3. Typenhomogenität Wenn wir Kompositabildung mit mensch(en)- und mit leut(e)- vergleichen, fällt trotz der Lösung des Pluralproblems für leut(e)- in 4.2.1 die Beschränktheit für [ N leut(e)] als Erstglied deutlich ins Auge (vgl. aber (50) unten): (46)

a.

b.

Menschenaffe Λ Leute Menschenbild/* Leute Menschengeschlecht/* Leute Menschenherz/* Leute Menschengestalt/* Leute Menschwerdung/ *Leut(e)werdung , Menschsein /*Leut(e) ~ usw. menschenähnlich/* leute ~ , menschenarm/* leute menschenleer /* leute menschen(un)würdig/*leute ~

Menschen vs. Leute

25

Der Erklärungsansatz dafür ergibt sich aus (35) in 3.2.3., wo wir festgestellt hatten, daß statische Adjektive wie ähnlich als A° und appellative Nomina wie Mensch als N° IndividuenPrädikate (IP) sind, Leute hingegen nicht. Ein Blick auf (46) zeigt, daß alle Köpfe IP sind, und akzeptabel nur diejenigen Komposita sind, deren Erstglied auch ein IP - nämlich [N mensch-(en)] ist. Die sich abzeichnende Bedingung sei provisorisch als Constraint so formuliert: (47)

Der Prädikatstyp des Kopfes eines Kompositums selegiert den entsprechenden Prädikatstyp für seinen Modifikator.

'Modifikator' umfaßt hier nicht nur das Erstglied eines Kompositums, sondern auch attributive Modifikatoren, wie die folgenden Beispiele zeigen (wobei definite NP als Variante hinzugesetzt wurden, um die mit bloßen Pluralen verbundenen Probleme auszuschalten): (48)

a. b. c.

(die) prähistorische(n) / zukünftige(n) Menschen / *Leute spielen in seinen Romanen die Hauptrolle. (die) Menschen /*Leute der Steinzeit / der Gegenwart / der dritten Welt spielen in seinen Romanen die Hauptrolle. (die) alte(n) / kranke(n) Menschen / Leute sterben heutzutage einsam.

Die Attribute mit adjektivischem Kern (zukünftig, prähistorisch) bzw. die NP/DP-Adjunkte der Steinzeit, der Gegenwart in (48.a,b) sind - passend zum Kopf Menschen vom Typ IP jeweils auch IP, aber sie passen nicht zum Kopf Leute, der ein Nicht-IP ist. Daß diese Attribute - im Unterschied zu alt, arm oder krank in (48.c) - nicht als Lieferant eines Auswahlkriteriums für -leute dienen können, zieht dessen Eigenschaft als Nicht-IP nicht in Zweifel, sondern besagt nur, daß die erstgenannten Attribute inhärent Prädikate über Gattungen (wie die Verben aussterben, erfinden etc.) und insofern stabile IP sind, während die in (48.c) erwähnten Adjektive sich als situationsabhängige Prädikate zuschreiben lassen und daher als Auswahlkriterium für die Spezifikation von -leute taugen. Die Details bedürfen freilich noch der Prüfung. Daß aber die Bedingung der Typenhomogenität von Kopf und Erstglied auch für -leute und -mensch(en) als Kopf eines N-N-Kompositums gilt, zeigt die folgende Kollektion: (49)

a. b. c. d. e.

(die) Steinzeitmenschen / - * leute, Crö-Magnon-Menschen / - * leute (die) Affenmenschen /* Affenleute, Stadtmenschen /* Stadtleute16 (die) DVU-Leute /~ * Menschen, Stasi-Leute / - "Menschen (die)?Sowjetmenschen / ~ *leute, sowjetische(n)?Menschen/~ "Leute (die) Eheleute / - "menschen, Kaufleute/ ~ * menschen

(49.a) ist das N-N-Gegenstück zu (48.b), (49.b) zeigt ebenfalls, daß das Erstglied ein IP sein muß (vgl. FN 16). Eigennamen sind keine IP, daher taugen sie nicht als Erstglied für 16

Affenleute und Stadtleute sind natürlich als ad-hoc Bildung akzeptabel, aber nur, wenn das Erstglied als quasi-anaphorische Wiederaufnahme eines definiten partikulären Antezedens interpretierbar ist, nämlich als Spezifikation von Personen, die durch ihre Beziehung mit vorerwähnten Affen oder einer vorerwähnten Stadt als Leute auswählbar sind. Bei den entsprechenden Komposita mit -menschen als Kopf scheidet dies klar aus, da muß das Erstglied ein IP mit potentiell generischer Referenz sein.

26

Ewald

Lang

den Kopf -menschen, wohl aber als Lieferant für die Spezifikation von -leute (49.c). Adjektivierte Staats- oder Völkerbezeichnungen stehen diesbezüglich irgendwo dazwischen und passen zu keinem. (49.d) ist eine Reminiszenz an den Sprachgebrauch der DDR, die mit der Übersetzung von sovetskie ljudi ihre Probleme hatte. Im Russ. ist ljudi ein echter Suppletivplural zu celovek, ein Pendant zu Leute gibt es nicht. Die Wiedergabe mit Sowjetmensch(en) ist dem Muster russ. [N> AP [Ν1]] ξ dt. [Ν· [N-N]] (vgl. oktjabrskaja revoljucija = Oktoberrevolution, derevjannaja cerkov' s Holzkirche) gemäß, aber ergibt im Dt. eben einen Gattungsausdruck wie Steinzeitmenschen in (49.a,b) oder wie Luthers Christenmenschen - geht also nicht; die Wiedergabe als Sowjetleute oder sowjetische Leute reduziert die potentiell generische Referenz von ljudi auf die nicht-generische, speziell konditionierte Referenzweise von -leute wie in (49.c) - geht also auch nicht. Der Kompromiß lautete (die) sowjetische(n) Menschen, was immer noch markiert ist, aber produktiv, denn es hat in der Folge auch "unsere Menschen" hervorgebracht. Die Beispiele in (49.e) gehören zu den Komposita, wo -leute gemeinhin als Suffixoid und X-leute als Suppletivplural zu X-mann erachtet wird - wir behandeln sie in 4.3. Nun bleibt noch zu klären, was mit den wenigen, aber konstant in den Wörterbüchern aufgeführten Fällen ist, die anscheinend gegen alle Theorie doch ein IP als Kopf und Leut(e) als Erstglied haben. Grimm DWB:837-852 nennt: (50)

a. b. c. d.

Leut(e)schinder, ~ betrüger, ~ täuscher, ~ schlachter, ~ plager, Leuttrüger, ~ verderber, ~ verfuhrer, ~ verkaufer /veralt./ Leut(e)priester /veralt./ leutselig (< mhd. liutsoelec), leut(e)scheu Leutearbeit, Leutestube ( A r b e i t / S t u b e fürs Gesinde) /veralt./

(50.a, c) sind Rektionskomposita, fast alle nach einem Muster gebildet, das jedoch heute nicht mehr produktiv ist. Die Beispiele in (50.a-c) sind auf das. singularische Kollektivum mhd. liut < ahd. liut, somit auf ein IP als Erstglied zurückführbar, bei (50.a, b) auch ersetzbar durch ein Erstglied Volks-, Die zitierten Kommentare stützen meine These, daß es sich bei (50) um lexikalisierte Relikte handelt, die das Constraint der Typenhomogenität in (47) nicht in Frage stellen, sondern diachron bestätigen.17 4.3. Sortierung der X-leute Komposita 4.3.1. Einfuhrung Die aus verschiedenen Quellen geschöpften Informationen zu diesem Punkt lassen das Terrain unübersichtlich und eine Orientierung schwierig erscheinen - noch eine Variation zum Thema »Sehschwäche im Nahbereich«. Als Datenbasis dienen neben den gängigen allg. einspr. Wörterbüchern vornehmlich das Rückläufige Wörterbuch des Dt. (Theissen et al. 1992) mit über 100 Einträgen für X-mann,

17

Die schwankenden Vorkommen des Fugenelements -e in diesen Beispielen sind ein Indiz dafllr, daß diese Bildungen dem Übergangsbereich vom sg. Kollektivum mhd. liut m,n < ahd. liut m,f,n Uber den Plural mhd. liute < ahd. liuti zum heutigen Plurale tantum Leute entstammen. Den Wandel exakt zu rekonstruieren verlangt eine eigene Studie.

Menschen vs. Leute

27

65 für X-frau und 45 ftir X-leute sowie die Sammlung aus Baufeld (1980:132-138) mit über 70 Belegen ftir X-leute. Schon aus den Zahlen ist ersichtlich, daß auch hier Beschränkungen gelten. In den Grammatiken finden sich (meist eher vage) Hinweise auf den Suppletiv-Status von -leute. Typisch sind Auskünfte wie die folgenden: (51)

Das Nomen Mann hat mehrere Pluralformen. In der Bedeutung »männliches Lebewesen« bildet es den Plural Männer. Als Grundform eines Kompositums, das einen Beruf bezeich-

net, erscheint der Plural -leute {Seemann/Seeleute,

Kaufmann!Kaufleute).

(Weinrich

1993:348)

Viel differenzierter ist die kontrastiv geschärfte Sicht in »Hammer's German Grammar and Usage« (Zifferneinschub von mir - E.L.): (52)

[1]

Compounds of -mann usually replace this by -leute in the plural when they refer to the occupation as such or to the group as a whole, e.g.: der Fachmann - die

Fachleute, der Kaufmann - die Kaufleute. [2]

In cases where we think more in terms of individuals than a group, or we are not dealing with persons, the plural is -manner, e.g. die Ehrenmänner,

Froschmänner, Schneemänner, Staatsmänner. [3]

In one or two cases both are used without any clear difference of meaning: die

FeuerwehrleuteJ~ männer, die Kameraleute/ ~ manner. [4]

However, the following should be noted: die Ehemänner 'husbands' BUT die Eheleute 'married couples', die Seemänner 'seamen' (as individuals), BUT die Seeleute 'seafaring folk' (general). (Durrell 1996:21)

Die Beobachtungen in (52) sind bis auf Punkt [4]" zutreffend und dienen als Fahrplan für die Rekonstruktion der Fakten im hier vorgeschlagenen Rahmen. Gelegentlich wird zwischen Suppletivform und Halbsuffix differenziert, so etwa bei Wellmann (1975: 171; Zifferneinschub von mir - E.L.) (53)

[1] [2]

In suffixähnlicher Funktion wird manchmal auch -leute zur Bildung primären Kollektive [analog zu Hühnervolk - E.L.] verwendet. Alle Fälle, in denen -leute als Pluralmorphem zu Substantiven auf -mann fungiert (Geschäftsleute, Spielleute usw.) bleiben ausgeklammert.

[3]

Ebensowenig genügen Komposita wie Dorfleute (—> die Leute vom Dorf), CSU-Leute (—> Leute von der CSU ) den Strukturbedingungen der

[4]

Dagegen sind Bildungen wie Nachbarsleute, Reitersleute, Frauensleute als

von

Kollektivbildung. Alternativen zur Pluralform des Basissubstantivs verfugbar; -leute hat hier eine

suffixähnliche Funktion (—> die Nachbarn, Reiter, Frauen als Gesamtheit).

Soweit die Quellenlage. Vor dem Hintergrund der in Abschnitt 2. und 3. skizzierten Analyse von Leute und -leute erscheinen die Fragen nach Suppletivform und Halbsuffix in einem neuen Licht.

"

Eheleute, wozu es im Engl, nur das Kollektiv-Pendant married couple 'Ehepaar' gibt, ist in der Übersetzung folglich als married couple/married couples 'Ehepaar(e)' wiederzugeben.

Ewald Lang

28

4.3.2. -leute: eine Suppletivform? Konstitutiv für den aus der Morphologie stammenden Suppletionsbegriff ist der Bezug auf ein Paradigma, das eine Formen-Lücke konturiert, die durch paradigmenfremdes Material geschlossen wird, das seinerseits von schwach bis stark suppletiv graduierbar ist - vgl. Wurzel (1987, 1989). So betrachtet fällt -leute in keine der klassischen Domänen der Suppletion, wie sie im Dt. u. a. repräsentiert werden durch die Flexion der Hilfsverben {bin, seid, war, gewesen etc. werd-, wird-, wurd-, (gejword-) und Pronomina (ich, meiner, mir, mich; man, 0, einem, einen), die Adjektiv-/ Adverb-Komparation (viel-mehr-meist; gernlieber-liebst ) oder Derivationen im Bereich der Grundzahlwörter (halb, ander-, drittel, erst-, first, second, third etc.). Kurzum: wenn man nicht annehmen will, daß Leute / -leute suppletiv zu einem NullSingular ist, findet sich keine paradigmatische Lücke, die es füllen könnte. Das schließt nicht aus, daß -leute als sog. Halbsuffix in der lexikalischen Reihenbildung Lücken schließt, die ohne die Existenz von -leute gar nicht bemerkbar wären (vgl. 4.4). Grundsätzlich aber gilt: anders als im Russ., wo (heute) ljudi echt suppletiv zu celovek ist, muß man im Dt. ein Nebeneinander von -menschen, -manner und -leute ansetzen und in der Unterschiedlichkeit eine Rechtfertigung für soviel Aufwand zu finden versuchen. Mit dieser Vorgabe will ich nun die folgende These verfechten. 4.3.3. -leute: ein lexikalischer Zusatzplural! Die Zusätzlichkeit von -leute in dieser Funktion hängt direkt mit seinem Status als Plurale tantum zusammen. Aufgrund der Genusneutralität des Plurals bei Nomina im Dt. hat ein Plurale tantum kein eruierbares Genus. Wenn man ein zählbares Plurale tantum individuieren will, etwa Das ist eine der Antillen/Hebriden/Balearen, greift man auf das Genus der Gattungsbezeichnung (die/eine) Insel zurück. Bei Leutel-leute fehlt aus den dargelegten Gründen eine solche (Mensch ist wie in 2.1. gezeigt nicht der Gattungsname für Leute). Auch das dialektale Wort (das) Leut, von dem Grimm DWB: 847 sagt, "mundarten haben sich zum plur. leute einen sing, (das ) leut in der bedeutung 'einzelner mensch' gebildet", taugt nicht als Genuslieferant wie (die) Insel für eine der Antillen. Beweis: aus der in (54.a) illustrierten Verlegenheit weicht man auf ein ebenfalls genusneutrales Indefinitpronomen (54.b) aus: (54)

a. b.

Die Hochzeit fällt aus. *Einer/*eine/*eines der Brautleute ist krank, Die Hochzeit fällt aus. Jemand von den Brautleuten ist krank.

Hieran zeigt sich, daß Leute/-leute grammatisch genusneutral ist und somit semantisch als sexusunspezifizierte Personenbezeichnung fungieren kann. Dies wiederum ist eine wesentliche Bedingung für seine Funktion als lexikalischer Zusatzplural. Mit dieser Einsicht packen wir die nächste Frage an.

Menschen vs. Leute

29

4.3.4. X-männer vs. X-leute: worin liegt der Unterschied? In einem sonst überaus zuverlässigen Wörterbuch wird diese Frage als Scheinfrage abgetan, dabei ist die neue Auflage weniger strikt als die ältere: (55)

a.

b.

"ADELUNG [Lehrgebäude (1782)1,469] gibt Vorschriften über die Verwendung von -leute und -manner, denen jedoch der heutige Gebrauch nicht entspricht." [Paul DW, 6. Aufl. 1959:374] Die von HEYNE 1885 vorgenommene Unterscheidung " >leute< faszt zusammen, >männer< wahrt dem einzelnen seine bedeutung« gilt heute kaum noch." [Paul DW, 9. Aufl. 1992:529]

Die Zitate aus den Grammatiken in (51 - 53) anerkennen einen Unterschied und geben (unter Fokussierung auf X-leute als Berufsbezeichnungen) fur -leute semantische Hinweise wie "occupation as such", "the group as a whole", "general", "Gesamtheit"; für -manner hingegen "more in terms of individuals than a group". Das Mißliche an solchen Aussagen ist, daß sie nicht operationalisierbar sind. Jedenfalls sind -leute und -manner gleichermaßen zählbare Plurale und somit jeder Art von Individuierung zugänglich (5 Menschen/Bergleute/Leute vom Bau usw.), also kann dies nicht gemeint sein. Versuchen wir es andersherum. Der mit ">leute< faszt zusammen" oder mit "the group as a whole", "general", "Gesamtheit" etc. umschriebene interpretatorische Effekt bei -leute beruht exakt auf seiner oben erläuterten Genusneutralität bzw. Sexusunspezifiziertheit, während -mann als Basis eine lexikalisch verankerte Bedingung ' M A L E (x)' enthält, die es in die Pluralbildung -manner mitnimmt. In der Notation von (26) heißt das: (56)

a.

mann:

b. c.

manner: λ Χ [HOMO (Χ) & complex leute: λ χ [HOMO (χ) & complex

λ χ [HOMO ( χ ) &

( p e r s ) ( x ) & MALE ( χ ) ]

(pers)(x) & MALE (X)] (pers)(x) & Ρ (pers)(x)]

Mit anderen Worten, während -manner nach (56.a, b) extensional auf männliche Individuen festgelegt ist (das wohl ist mit ">männer< wahrt dem einzelnen seine bedeutung" - vgl. (55.b) - gemeint), hat -leute qua Sexusneutralität gemäß (56.c) potentiell Individuen beiderlei Geschlechts als Extension (das steckt hinter ">leute< faszt zusammen" oder "the group as a whole"). Und diese semantische Distinktion gilt sehr wohl auch heute noch, man vergleiche: (57)

a. b.

Tony Blairs Gefolgsleute/*manner - in der Mehrzahl Frauen - jubelten, Mutter Teresas Werk wird von 5600 Ordensfrauen /-Ieuten fortgesetzt.

In (57.a) würde Gefolgsmänner einen Sexus-Konflikt mit der Apposition induzieren, Gefolgsleute vermeidet einen solchen, während Ordensleute in (57.b) sowohl Ordensfrauen umfaßt (also nicht falsch ist, wenn nur Nonnen das Werk fortsetzen), aber auch Ordensmänner nicht ausschließt. Die Implikationen sind klar. Damit ist der Unterschied von X-männer vs. X-leute als Unterschied in den Wahrheitsbedingungen von ansonsten gleich strukturierten Sätzen und damit als ein semantischer dingfest gemacht. Das beweist, daß -leute ein lexikalischer Zusatzplural ist, der sich semantisch klar vom morphologischen Plural sowohl von -männer wie auch von -frauen unter-

30

Ewald Lang

scheidet. Wenn man will, kann man den lexikalischen Plural -leute einen (u. a. bezüglich Sexus) »abstraktiven«, den morphologischen bei -manner, -frauen einen (bezüglich Sexus u. a. Merkmale der Basis) »additiven« Plural nennen. Wichtig ist, daß man die Distinktion operationalisieren kann. 4.4. Was ist ein Halbsuffix? 4.4.1. -mann, -frau, -leute als sog. Halbsuffixe Nachdem wir -leute als Kopf betrachtet, seinen Status als Plurale tantum gewürdigt, seinen Charakter als Suppletivform bestritten und seine Funktion als Zusatzplural (in bestimmten Konstruktionen) belegt haben, ist es angebracht, bei der Sortierung der X-leute Komposita auch den bisher nicht explizierten Begriff 'Halbsuffix' zu rekonstruieren. Als Kriterium dafür bietet sich im Anschluß an 4.3.4. der Belegungsspielraum für das Erstglied X in X-leute an. Anders gesagt: es hängt von der semantischen Belegung des Nicht-Kopfs X ab, ob und wie die Extension von X-leute sich von der von X-männer und/oder X-frauen unterscheidet. Technischer gefragt: auf welche Prädikate ist die Belegung des Auswahlkriteriums 'P(pers)(x)' für X in X-leute beschränkt? Die Zitate in (52 - 53) bieten da noch Stoff für einige Rekonstruktionen. Betrachten wir folgende Fallbeispiele und die an ihnen beobachtbaren Beschränkungen: (58)

a. b.

Eskimomann, Eskimofrau: Eskimos:*Eskimoleute:*Eskimomenschen Ire, Irin: Iren: *Irenleute: *Irenmenschen

Wenn wir die Verteilung in (58) auf dem Hintergrund der Forderung nach Typenhomogenität (vgl. 4.2.3.) betrachten, ergibt sich folgendes Bild: Eskimo- ist ein nicht-nativer Stamm, lr- ein nativ(iert)er, beide Stämme sind semantisch klassifiziert als Völkerbezeichnungen V (enthalten daher '[HOMO (x) & (pers)(x) & V (x)]') und stehen ihrem Prädikatstyp nach zwischen Eigennamen und klaren IP, was sie - anders als Eigennamen, vgl. (49.c) weder für -leute als Erstglied tauglich macht noch - anders als IP, vgl. (49.a,b) - für -menschen. So weit, so gut. Aber was ist mit -mann und -frau in (58), die wir bisher als IP geführt haben, und die doch akzeptable Komposita ergeben? Die Antwort ist diese: sie sind hier das, was die Grammatiker 'Halbsuffixe' nennen. Eine Ausrede? Man kann exakt rekonstruieren, daß sich der Terminus 'Halbsuffix' (oder 'suffixähnlich', 'Suffixoid') auf eine strukturell determinierte Interpretation von -mann, -frau als Köpfe von Komposita bezieht. Sie sind auch in dieser Konfiguration IP, nur die in (47) formulierte Selektionswirkung für den Nicht-Kopf realisiert sich - strukturbedingt, wie wir gleich sehen - anders als bei Steinzeitmenschen, Affenmenschen in (49a,b). Zunächst halten wie fest, daß -mann, -frau in (58.a) lexikalische Gegenstücke zu den an (native) Stämme tretenden Derivationssuffixen wie -e, -er bei Ire, Schwede, Holländer bzw. -in bei Schwedin, Holländerin, Irin (58.b) sind. Ganz analog sind z. B. -weibchen, -männchen lexikalische Gegenstücke zu den Suffixen -in: -erich bei Tigerweibchen: Tigerin, Entenmännchen: Enterich. Was beide, die sog. Halbsuffixe -mann, -männchen, -frau, -weibchen und die genannten Derivationssuffixe -e, -er, -in, -erich als Köpfe zur Bedeu-

Menschen vs. Leute

31

tung des resultierenden Wortes jeweils beisteuern, ist einzig eine Sexusspezifikation, den Rahmen für die Einsetzung (d. h. die Zielstruktur) liefert das Erstglied bzw. der Stamm: a. b. c. d. e. f.

Eskimo: mann: Eskimomann: ente\ -erich: enterich:

λ λ λ λ λ λ

Χ [HOMO (x) & (pers)(x) & ESKIMO (X)] χ [HOMO (χ) & (pers)(x) & MALE (Χ)] χ [HOMO (χ) & (pers)(x) & MALE (Χ) & ESKIMO (Χ)] Χ [TIER (χ) & (ZE) (Χ) & ENTE (χ)] χ [ΑΝΙΜ (χ) & (ΖΕ) (χ) & MALE (χ)] " Χ [TER (χ) & (ΖΕ) (χ) & ENTE (Χ) & MALE (Χ)]

Somit ist bei Eskimomann, ~frau - wiewohl wortsyntaktisch rechtsköpfige Determinationskomposita - semantisch die Beitragsverteilung genau umgekehrt wie bei Jungmann, Ehrenmann oder bei dem in (44) analysierten Tierembryo: die Quellstruktur der Modifikation ist nicht das Erstglied, sondern der Kopf, und die Zielstruktur nicht der Kopf, sondern das Erstglied. Eine Definition von Halbsuffix für N-N-Komposita könnte daher lauten: (60)

Ein lexikalischer Kopf N 2 ist ein Halbsuffix, wenn er zur Bedeutung von [N-N] nur eine fakultative Spezifikation der Bedeutung von Ν1 beiträgt.

Damit können wir die Analyse von mann, frau und leute wie bisher beibehalten. Hinzukommt nur die Einsicht, daß je nach strukturellem Kontext einzelne der darin enthaltenen Klauseln fokussiert werden - in (58.a) 'MALE (x)' bzw. 'FEMALE (x)', oder qua Abgleich mit der Zielstruktur absorbiert werden - in (58.a) 'HOMO(x) & (pers)(x)'. Der IP-Status von -mann, -frau besteht fort, er kommt nur auf eine flexiblere Weise als wir bisher angenommen haben zur Geltung. Für native Stämme als Erstglied sind -mann, -frau als sexusspezifizierende Halbsuffixe im Sinne von (60) auf wenige, mit den Movierungssuffixen konkurrierende Fälle beschränkt: (61)

a. b.

Bauersmann, -frau: Bauer, "~in; Bürgersmann, -frau: Bürger, - i n ; Jägersmann, ~frau: Jäger, ~in; Pilgersmann, ~frau: Pilger, ~in; Bauersleute, Bürgersleute, Jägersleute, Pilgersleute

Auf dem durch (60) vorgezeichneten Weg ist dann über (61 .b) auch rekonstruierbar, was Wellmann in (53) mit der "suffixähnlichen Funktion von -leute bei der Kollektivbildung" meint: (62)

a. b.

Frauensleute, Weibsleute, Mannsleute Nachbarsleute, Reitersleute

Man sieht sofort, daß das Erstglied Frauens- eine fugenhaltige Stammform (kein Plural) ist und der Kopf -leute unter Belegung von 'P (pers)(x)' aus N1 mit' FEMALE (Χ)' lediglich den lexikalischen Plural hinzufügt: (63)

a. b.

frau: leute·.

λ χ [HOMO (χ) & λ χ [HOMO (χ) & complex

(pers)(x) & FEMALE (χ)] (pers)(x) & Ρ (pers)(x)]

" ZE ist die Variable für die Zähleinheit - vgl. (22) Pkt. 4. Die erste Klausel ist mit 'ANIMATE (Χ)' formuliert, weil -erich nicht auf Tierbezeichnungen beschränkt ist: Wüterich etc.

32

Ewald c.

frauensleute:

λ χ [HOMO (χ) & complex

Lang

(pers)(x) & FEMALE (χ)]

Dies - und analog die anderen Fälle in (62) - entspricht ganz der Definition für Halbsuffixe in (60).2Ü Daß zugleich das Auswahlkriterium für -leute durch das Erstglied spezifiziert wird, ändert daran nichts, sondern ist die Voraussetzung, daß -leute zur Bedeutung des Kompositums nur 'complex (pers)(x)' beisteuert. Im Vergleich zum Kopf -leute ist das Erstglied in (62.a,b) um jeweils eine Klausel spezifischer, so daß daraus das Auswahlkriterium für -leute eruierbar ist. Falls derlei fehlt, ergibt sich Unakzeptabilität wie bei *Menschenleute mit N1 = λ χ [ HOMO (χ) & (pers)(x)] , Ν2 = λ χ [ HOMO (χ) & complex (pers)(x) & Ρ (pers)(x)]. Die Differenz von (61.b) und (62.b) besteht darin, daß erstere auch, letztere meist nur mit -leute als Halbsuffix auftreten (Nachbarsfrau: Nachbarin ist geläufig, Nachbarsmann: Nachbar bzw. Reitersfrau: Reiterin sind es weniger). Damit sind aus den Komposita der Form X-leute, X-mann, X-frau diejenigen, deren Köpfe sog. Halbsuffixe sind, exakt ausgliederbar und als Spezialfall unter die hier getroffenen generellen semantischen Annahmen subsumierbar. Fragen wir nun, wann die Köpfe mehr sind als Halbsuffixe. 4.4.2. X-leute: word knowledge vs. world knowledge Es ist nicht a priori klar, inwiefern diese Annahmen auch ausreichen, um die folgenden Beschränkungen zu erklären: (64)

a. b. c.

Traum~, Lieblingsfrau / -mann: (*)Traumleute, (*)Lieblings Quotenfrau / -mann: (*)Quotenleute; Haremsfrau(en): (*)Haremsleute; Nebenmann, -frau: (*)Nebenleute

Wir sind hier an der verschwommenen Grenzlinie zwischen sprachlichem Wissen und Weltwissen. Ist ζ. B. Traumleute grammatisch defekt, oder im Kontrast zu den gängigen (aber keineswegs ausschließlichen) Lesarten von Traumfrau/Traummann, Quotenfrau/ Quotenmann etc. bloß ungewöhnlich? Die Antwort ist wohl diese: Die eingeklammerten Sternchen bei den X-/ewfe-Beispielen in (64) sind keine Grammatikalitätsurteile, sondern beziehen sich darauf, daß Traumleute etc. eine (in der bevorzugten Lesart) zu Traummann, Traumfrau etc. parallele Interpretation nicht zulassen. Traumfrau, Quotenfrau etc. sind echte Determinativkomposita, die Köpfe sind gemäß (60) nicht Halbsuffixe, sondern bringen alle Klauseln von -mann, -frau in die Bedeutung von N-N ein. Aber in der präferenten Lesart ist die durch das Erstglied gelieferte Modifikation auf 'MALE (x)' bzw. 'FEMALE (x)' in der Bedeutung des Kopfs fokussiert, also gerade auf die Klauseln, die -leute als Kopf nicht enthält. Daher die Unbrauchbarkeit von Traumleute, Quotenleute etc. für die gesuchte Lesart. Aber jenseits dieser Lesart gibt es infolge der Unterbestimmtheit der Komposition weitere, die vielleicht ad hoc sind, aber regulär interpretierbar. Von hier aus läßt sich dann die Grenzziehung zwischen Semantik und Weltwissen weiter präzisieren. So können wir nun auch aufklären, was hinter den unschlüssigen Auskünften 20

Ein nicht-lexikalisches Gegenstück zum Halbsuffix -leute ist ζ. B. der flexivische Plural (die) Angestellte(n) im Verhältnis zu den sexusspezifizierten Singularen (der/die) Angestellte.

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zu -manner vs. -leute im Paul DW in (55) steckt oder hinter dem Urteil aus Durrell (1996:21): "In one or two cases both are used without any clear difference of meaning: die Feuerwehrleute/~männer, die Kameraleute/~männer.". Semantisch sind -manner und -leute in der in 4.3.4. explizierten Weise distinkt, aber aufgrund faktischer sozialhistorischer Umstände sind Feuerwehren oder Kamerateams (bislang) vornehmlich durch Männer bestückt, daher scheinen Feuerwehrleute/~männer "without any clear difference of meaning" zu sein, ebenso wie wir im umgekehrten Falle die Extension von Ordensleute in (57.b) aus faktischen Gründen auf Nonnen zu beschränken geneigt sind. Aus derselben Quelle erklärt sich, warum z. B. nur entsprechende Bildungen mit X-frau, aber nicht Aufwartemann, Zusehmann, Trümmermann etc. und somit auch nicht Aufwarteleute, Zugehleute, Trümmerleute belegt sind, oder warum sich (ergänzend zu Durrells Beispielen) Bergleute, Zimmerleute, Seeleute etc. meist nur auf Männer beziehen. All dies hat faktische sozialhistorische, nicht semantische oder lexikologische Ursachen. Ein sich vollziehender sozialer Wandel bewirkt, daß potentielle Bildungen nun usualisiert werden: Bischöfin, Richterin, Kauffrau, Werbefachfrau etc. Etwas anders sind möglicherweise die Beschränkungen in (65) zu deuten: (65)

a. b. c. d.

Schnee Lebkuchenmann: ~ männer: *Schnee~, *Lebkuchenleute Blau~, Flach-, Henkelmann: - m ä n n e r : ~ * leute Weihnachts-, Sandmann: - m ä n n e r : - * leute Hinter-, Stroh-, Buhmann: - männer: - * leute

Die Fälle in (65.a), auf die auch Durrell in (52) hinweist, sowie die in (65.b) beruhen darauf, daß -mann als »shape noun« für 'HOMO (x)' fungiert. Für die Interpretation von mann besagt dies, daß in der semantischen Repräsentation die Klauseln '(pers)(x)' und 'MALE(X) ' so modifiziert werden, daß die in -leute enthaltene Bedingung 'complex (pers)(x) & P(pers)(x)' nicht mehr anwendbar ist, gemäß dem in (46) vermerkten Befund Menschengestalt I*Leutegestalt. Für (65.c,d) wären analoge Modifikationsmechanismen an der Repräsentation von -mann vorzusehen. Jedenfalls ist der semantische Part daran begrenzt auf die Bereitstellung von Ansatzpunkten für Modifizierungen, ihre Implementierung im Einzelfall ist Sache der Pragmatik. Unter dieser Sicht können die Fälle in (65) begründetermaßen als Lexikalisierungen gelten. Nach diesen Überlegungen können wir uns abschließend der Gruppe von Komposita zuwenden, die im Hinblick auf die X-männer vs. X-leute Variation lexikologisch besonders reichhaltig ist, weil hier alle bisher diskutierten Aspekte zusammenkommen. 4.5. X-leute als Joker in der Reihenbildung Wie in 4.3.3. begründet ist -leute keine Suppletivform im klassischen und echten Sinne, weil das die Lücke definierende Paradigma fehlt. Was jedoch zutrifft, und der Suppletivmutmaßung Vorschub geleistet hat, ist die Beobachtung, daß innerhalb der für die Wortbildung typischen Tendenz zur Reihenbildung X-leute für eine erhebliche Menge von Paaren von Basiswörtern X + A, X + Β als Joker für die Bildung eines abstraktiven zusätzlichen Plurals fungiert. Dabei gilt, wenn Α, Β jeweils sexusspezifizierte Suffixe oder Halbsuffixe

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sind, ist auch -leute ein Halbsuffix im Sinne von (60), andernfalls nicht.21 Indirekte Basen filr X-Stämme sind in [...] gesetzt. Innerhalb dieses Bereichs können Varianten mit Suffix und Halbsuffix semantisch befrachtet werden - vgl. (69), müssen es aber nicht. Die Liste hält sich an ein Schema {{X+A} u {X+B}} = X-leute, was besagt, daß X-leute auf die Vereinigung zweier sexusspezifizierter Mengen, im Grenzfall Einermengen, referiert. Der Aspekt "Paarigkeit" wird gemäß 4.4.2. kommentiert. (66)

a.

b.

Ehemann u Ehefrau = Eheleute Braut υ Bräutigam = Brautleute Schwiegervater u ~ mutter = ~ leute [Liebender] [Liebender] = Liebesleute [Geliebter] u [Geliebte] = Liebesleute

neben: neben: neben: neben: neben:

Ehepaar Brautpaar Schwiegereltern Liebespaar, Liebende Liebespaar, Liebende

In (66) gibt es semantische Anhaltspunkte, -leute aus der Belegung von X heraus als »paarigen« Plural zu rechtfertigen. Außer der Nebenform mit -paar sprechen Defekte wie In meiner Gruppe sind fünf *Eheleute/*Brautleute dafür. Bei den übrigen Fällen von X-leute ist die Interpretation paariger vs. sexusneutraler Mischplural ausschließlich via Weltkenntnis induziert. (67)

Ordensmann/-männer u Ordensfrau/-frauen = Ordensleute Kaufmann/-männer υ Kauffrau(en) = Kaufleute

(68)

Amt(s)-/Landsmann/männer υ -männin(en) = Amt(s)-/ Landsleute

(69)

Wirt u Wirtin = Wirtsleute Wirt υ Wirtsfrau = Wirtsleute Bäcker u Bäckerin = Bäckersleute Bäcker u Bäckersfrau = Bäckersleute Pfarrer 2. (ugs.) Personen, die unter jmds. Leitung arbeiten < ... > 3. (ugs.) jmds. Familienangehörige [DUDEN 5, 2116]

Während (70, 71) bloß Aufzählungen von partiell synonymischen Ausdrücken bieten, deutet Kommentar 1. in (72) zumindest in die Richtung, daß - wie wir in 2. und 3. gesagt haben - "Leute gegenüber Menschen eine Spezifikation hinsichtlich eines Auswahlkriteriums verlangt." Nun kann man diese Formulierung freilich nicht einfach als Wörterbuchkommentar übernehmen, aber es gibt doch die Möglichkeit, die Essenz dieses Aufsatzes ins Wörterbuch zu bringen. Erstens, indem man als gemeinverständliche Bedingung etwa formuliert: "Bez. für Menschen, die durch eine (aus dem Kontext zu entnehmende) zusätzliche Bestimmung zu einer Menge zusammenfaßbar sind", und zweitens, indem man den Realisierungsspielraum dieser Bedingung via Bereitstellung der 'zusätzlichen Bestimmung' aus den in 3.2. aufgeführten Kontextquellen durch die Anlage des Wörterbuchartikels transparent macht. Der Konnex zwischen der Bedingung und ihrem Erfullungsspielraum ist implizit in manchen Wörterbuchartikeln zu Leute durchaus vorhanden, am ausfuhrlichsten bei Grimm DW 12, 837-847, wo die in 3.2.2. oben genannten satzsyntaktischen Realisierungen von 'P(pers)(x)', nämlich alle Arten von adjektivischer und präpositionaler Attribution zu Leute in 12 Abschnitten aufgeführt werden, allerdings ohne daß der Zusammenhang erkannt oder benannt würde. Wenn man hingegen explizit die Relation zwischen einer Bedingung und ihrem Erfullungsspielraum als architektonisches Moment der Artikelstruktur einsetzen würde, könnte man - unter Wahrung, aber Umsortierung des Materials! - z. B. den Artikel zu Leute im Grimm DW auf drei Abschnitte verdichten und damit viel Substantielles über das Lemma mitteilen. 5.2. Leute und X-leute Differenz und Zusammenhang von Leute als Simplex und X-leute als Komposita, wie sie in Kap. 3. und 4. ausbuchstabiert wurden, sind einer lexikographischen Berücksichtigung ebenso würdig wie bedürftig, und zwar als Beispiel für viele vergleichbare Fälle (z. B. Pronomina). Ich sehe da drei aufeinander abgestimmte Zugangswege. Erstens. Die weitreichenden grammatischen Eigenschaften von Pluralia tantum sind in Form der üblichen Angaben /o. Sg./ oder /nur PI./ unzureichend berücksichtigt. Es bedarf weiterer Angaben zu Zählbarkeit (5 Leute vs. *3 Masern), Distributivität und Generizität

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Ewald Lang

{Eheleute/Eltern achten sich/einander vs. * Spesen ähneln sich/einander vs. Die Spesen gleichen sich/einander aus ) - wobei einzuräumen ist, daß die Pluralia tantum insgesamt theoretisch bisher sehr vernachlässigt wurden. Zweitens. Die in 4.3. vorgeschlagene Sortierung der X-leute Komposita kann durch Erwähnung beim Lemma X und passende Querverweise ins Wörterbuch Eingang finden, wodurch auch die Differenzierung, ob die Köpfe Halbsuffixe sind (Jägersmann, Jägersleute, Mannsleute) oder nicht (Ordensmann, Ordensleute, Kaufmann, Kaufleute) auf natürliche Weise erfaßt wird. Drittens. Der in 4.3.4. geführte Nachweis einer semantischen Differenz zwischen Xmänner, X-frauen (additiver morphologischer Plural) und X-leute (abstraktiver lexikalischer Zusatzplural) sollte ausreichen, Wörterbuchauskünfte wie in (55) zu korrigieren und durch präzisere Angaben zu ersetzen. Viertens. Die Beherzigung der in 4.4.2. formulierten Grundsätze über die Trennung von »word knowledge« und »world knowledge« sollte - weit über den am Thema X-leute exemplifizierten Fall hinaus - dazu beitragen, die semantischen Angaben in Wörterbüchern sorgfältiger abzufassen. Fünftens. Die mit dem Kürzel 'HOMO (x)' - vgl. 1.3.1. und 3 . 1 . - übernommene Hypothek bezüglich der Analyse der lexikalischen Bedeutung von Mensch(en) als Exponent des anthropozentrischen Designs der Sprache verbleibt bis auf weiteres bei der Semantik, aber der anhand von Leute illustrierte Konnex eines Lexems mit dem gesamten Rest der Grammatik sollte doch angetan sein, die tradierte Reserviertheit der Lexikographen gegenüber "grammatischen Informationen" abzubauen und die illustrierte Sehschwäche im lexikalischen Nahbereich schrittweise zu überwinden. Erfahrungsgemäß zeitigen derlei Vorschläge ein unterschiedliches Echo. Typ 1: "Alles schön, was Sie sagen, aber wir müssen mit unserem N-Bänder bis Juni 19xx fertig sein, da können wir solche Feinheiten nicht einarbeiten." Typ 2: "Für all das haben wir keine Metasprache parat, außerdem kann und soll ein Wörterbuch eine Grammatik nicht ersetzen." Typ 1 übersieht, daß allg. einspr. Wörterbücher auch danach zu bewerten sind, wie sie die sprachspezifischen Optionen in der Wortschatzstruktur reflektieren, und daran bemessen ist die Berücksichtigung der Eigenschaften der Grundwortschatzeinheit Leute nicht einfach eine negligeable Feinheit. Typ 2 verkennt, daß wir im Wörterbuch von morgen nicht bloß die komplettierte Version seines Vorgängers von heute sehen wollen, sondern eine innovativ umstrukturierte Präsentationsform des Wortschatzes als Inventar lexikalischer Einheiten mit exakt angebbarem Fügungspotential zur Satz- und Textbildung.

6. Literatur

6.1. Nachschlagewerke DUDEN-10 = DUDEN. BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH. 2., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Hrsg. u. bearb. v. W. Müller [usw.], Mannheim: Bibliographisches Institut 1985

Menschen vs. Leute

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D U D E N 2 - G W = DUDEN. D A S GROBE WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE IN ACHT BÄNDEN. 2 . ,

völlig neu bearb. u. stark, erw. Aufl. Hrsg. u. bearb. v. Wiss. Rat der Dudenredaktion unter Leitung von G. Drosdowski. Mannheim-Wien-Zürich: Dudenverlag 1993-1995 G R I M M D W B = DEUTSCHES WÖRTERBUCH VON JACOB U. WILHELM GRIMM. 3 3 B ä n d e . L e i p z i g : H i r -

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einem

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Ewald Lang

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Mitar Pitzek

Anmerkungen zur lexikographischen Bedeutungserklärung in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern

1. 2. 3.

Allgemeines einsprachiges Wörterbuch Zur Auswahl von Bedeutungsangaben Expertenwissen in der lexikographischen Bedeutungserklärung

4. 5.

Zusammenfassung Literatur

1. Allgemeines einsprachiges Wörterbuch

Die Annahme, daß das allgemeine einsprachige Wörterbuch ein eigenständiger Wörterbuchtyp ist, gehört keinesfalls zu den selbstverständlichen Voraussetzungen der lexikographischen Diskussion. Diese Annahme setzt voraus, daß den Vertretern dieses Wörterbuchtyps bestimmte Eigenschaften zukommen, die sie von anderen Nachschlagewerken unterscheiden. Die Entscheidung darüber, welche Teile des allgemeinen einsprachigen Wörterbuchs konstitutiv sind und auf welche man verzichten kann, ist nicht leicht zu treffen, (vgl. Reichmann 1984) Diese Entscheidung hängt unter anderem von der sprach- und lexikographietheoretischen Auffassung ab. Abgesehen von dem Lemma selbst, scheint die lexikographische Bedeutungserklärung der einzig obligatorische Teil dieses Wörterbuchtyps zu sein. (vgl. Svens6n 1993) Neben der mangelnden Wörterbuchkenntnis ist es wahrscheinlich die Flexibilität der Konzeption, die die meisten Laien gegenüber diesem Wörterbuchtyp indifferent läßt und nicht selten auch unter Lexikographen zu Mißverständnissen führt. An diese Nachschlagewerke stellt man dann Forderungen, die der sprachorientierten Wörterbuchkonzeption fremd sind. Die allgemeinen einsprachigen Wörterbücher treten ftlr den Laien in erster Linie als eine recht heterogene Gruppe im unübersichtlichen Wörterbuchangebot auf. Sie fallen meist nicht als zusammengehörende, sprachorientierte Nachschlagewerke auf, sondern einfach unter ihrem Namen als „Duden" oder als „Wahrig" etc. Das Auseinandergehen der Autoren beginnt bereits bei der richtigen Gesamtbezeichnung für die Vertreter dieses Wörterbuchtyps. Es werden Bezeichnungen verwendet wie z. B. Bedeutungswörterbuch, alphabetisches Bedeutungswörterbuch, Sprachwörterbuch, Definitionswörterbuch, allgemeines einsprachiges Wörterbuch, erklärendes Wörterbuch, Gesamtwörterbuch, Gebrauchswörterbuch oder wahrscheinlich am häufigsten einfach nur Wörterbuch. Diese Verwendungsvielfalt kann weder vom theoretischen noch vom praktischen Standpunkt als eine Bereicherung interpretiert werden. Die Praxis der Titelauswahl für die allgemeinen einsprachigen Wörterbücher ist sehr unterschiedlich. Lediglich das Nachschlagewerk aus der Duden-Reihe in 12 Bänden macht in

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Mitar Pitzek

dem Titel darauf aufmerksam, daß die Bedeutungserklärung zu den zentralen Zielstellungen gehört: Duden Bedeutungswörterbuch (DUDEN-BW). D i e von den Verlagen gewählten Bezeichnungen sind oft nur darauf ausgerichtet, die Aufmerksamkeit der potentiellen Käufer auf sich zu ziehen, z. B. durch die Behauptung der „Universalität" oder indem durch die Wahl der bewährten und bekannten Titel die Zuverlässigkeit und Vollständigkeit suggeriert werden, wie z. B. mit dem ungeschützten Titel Deutsches Wörterbuch, (vgl. WAHRJG-DW, M A C K E N S E N oder B Ü N T I N G ) Die metalexikographische Diskussion wird ohne eine normierte und monosemierte Terminologie unnötig erschwert, die als ein zuverlässiges Instrument dem Lexikographen" zur Verfügung steht, aber auch eine Verständigungssicherung zwischen dem Laien und dem Fachmann gewährleistet. Wenn hier über das allgemeine einsprachige Wörterbuch und über die darin angestrebte lexikographische Interpretation des Wortschatzes nachgedacht wird, habe ich in erster Linie ein solches Nachschlagewerk im Sinne, das (1)

auf unterschiedlichen Medienträgern (Buch, CD-ROM etc.) erscheinen kann (vgl. „das Medienprinzip" in Wiegand 1984a: 562);

(2)

den Wirklichkeitsausschnitt Wortschatz einer Sprache thematisiert;

(3)

für einen breiten muttersprachlichen Benutzerkreis vorgesehen ist (dazu gehört sowohl der mit dem Minimum an allgemeinem Schulwissen ausgestattete Laie als auch der über das Spezialwissen verfugende Fachmann);

(4)

in erster Linie auf die Erklärung der sprachlichen Eigenschaften des Wortschatzes (vgl. Kempcke 1992:178; Wiegand 1988:766) ausgerichtet ist;

(5)

sich nicht ausschließlich und ausführlich einem Spezialbereich der Sprache widmet, sondern allgemeine Informationen bereitstellt, wie z. B. zur Rechtschreibung, Aussprache, Grammatik, Stil, Herkunft, Idiomatik, Bedeutung und Verbreitung der Wörter und Wortgruppen etc.;

(6)

die Lexik nach dem semasiologischen Prinzip kodifiziert, jedoch auch versucht, onomasiologische Relationen im Wortschatz zu berücksichtigen;

(7)

sowohl den sprach rezeptiven als auch den sprachproduktiven Aspekten entgegenkommt;

(8)

verschiedene Möglichkeiten der Bedeutungserklärung nutzt: lexikographische Paraphrase, Synonymie, Antonymie, Hyperonymie-Hyponymie-Relation und Kollokationen etc.

(9)

die Bedeutungserklärung nach Möglichkeit mit stilistisch und funktional neutralen Mitteln durchführt (die Metasprache gehört zur standardsprachlichen Varietät);

(10) die Bedeutungserklärung nicht als Selbstzweck behandelt, sondern stets versucht, den Wörterbuchbenutzer sowie die grundlegenden typologischen Zielstellungen zu berücksichtigen; (11) die Standardsprache unter dem synchronen Aspekt erfaßt;

Anmerkungen zur lexikographischen

Bedeutungserklärung..

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(12) der Standardsprache zugewandte Subsysteme (Fach- und Sonderwortschätze sowie die regional· und umgangssprachlichen Ausdrücke etc.) erfaßt, „sofern sie fur die Allgemeinheit von Bedeutung sind" ( D U D E N - D U W ^ ö , Anlage und Artikelaufbau, Wortauswahl).

Die genannten Geltungsbereiche sind keinesfalls als statisch und vollständig aufzufassen, sondern als der allgemeine konzeptionelle Rahmen, der selbstverständlich noch erweitert und präzisiert werden müßte. Hier kann weder auf die bisherige Diskussion eingegangen werden, noch können alle vorkommenden und oft komplexen Begriffe ausreichend erklärt werden. Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen Wörterbuch wird das allgemeine einsprachige Wörterbuch auch als Standardtyp des Sprach- bzw. Bedeutungswörterbuchs aufgefaßt. Die Ausdrücke Sprachwörterbuch und Wörterbuch werden im Alltag auch als Synonyme verwendet, was kaum als Begründung angenommen werden kann, daß in allen repräsentativen allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen (DUDEN-DUW*, DUDEN-GW8, WAHRIG-DW94, WDG, HDG, BW u. a.) man hier einer Lemmalücke begegnet. Dies vor allem dann nicht, wenn der Ausdruck Sachwörterbuch in jedem dieser Nachschlagewerke lemmatisiert1 und erklärt wird. (vgl. METZLER) Eine andere, wahrscheinlichere Ursache für das Auslassen des Ausdrucks Sprachwörterbuch aus dem Stichwortverzeichnis, könnte die Transparenz dieses Kompositums sein. Ein Wörterbuch, das einen Umfang hat wie z. B. DUDEN-DUW96 oder DUDEN-GW8, sollte diesen Ausdruck bereits aus dokumentarischen Gründen aufnehmen. Geht man davon aus, daß es sich bei Sprachwörterbuch um einen lexikographischen, nur fachintem ausreichend erklärbaren und verständlichen Ausdruck handelt und ihn aus diesem Grund nicht als Stichwort behandelt, müßte man auch auf viele andere Lexeme verzichten. Der usuelle Ausdruck Sprachwörterbuch ist m. E. auch deswegen von Bedeutung, weil man mit dessen Aufnahme und Erklärung einige Mißverständnisse aus dem Wege räumen könnte, die den Wörterbuchbenutzer z. B. dazu veranlassen, ein Sprachwörterbuch als ein Sachwörterbuch zu benutzen. Darüber hinaus könnte dadurch die Bedeutungserklärung zum Lemma Wörterbuch entlastet werden. Die allgemeinen einsprachigen Wörterbücher, obwohl sie keine Synonym-, Antonym-, Stil- oder Herkunftswörterbücher sind, nehmen zu allen diesen Aspekten des Wortschatzes mit unterschiedlicher Ausführlichkeit Stellung. Die konzeptionelle Offenheit gehört zu den distinktiven Eigenschaften dieses Wörterbuchtyps im Gegensatz zu den anderen Sprachoder Bedeutungswörterbüchern, die nur einen begrenzten Ausschnitt der Lexik erfassen. Der Umstand, daß die Artikel mehreren Schwerpunkten gewidmet sein können, erschwert die Entscheidung darüber, welche Informationen obligatorisch sind und auf welche man verzichten könnte, ohne dabei gegen die wörterbuchtypologischen Eigenschaften zu verstoßen.

Der Ausdruck lemmatisieren wird hier im Sinne „in das Wörterbuch aufnehmen" verwendet bzw. wie es im DUDEN-GW8 heißt „zum Lemma (1) machen". Im DUDEN-DUW96 U nd WDG wird lemmatisieren nur als „[eine Karteikarte] mit einem Stichwort versehen" erklärt. Im WAHRIGDW94 heißt es: „... Stichwörter kennzeichnen und ordnen ...". Im MACKENSEN, DUDEN-BW und HDG fehlt dieser Ausdruck.

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Mitar Pitzek

Eine der tiefgreifenden Folgen des ungeklärten Status der Allgemeinlexikographie ist mit Sicherheit der immer wieder festzustellende Rückgriff auf die verschiedenen Bereiche des Expertenwissens. Mit dem Einbeziehen wissenschaftlicher Informationen und Gliederungssysteme in die lexikographische Bedeutungserklärung versucht man der Schlechtbestimmtheit der Alltagssprache zu entgehen und verkennt dabei die Tatsache, daß gerade dies das konstitutive Merkmal der natürlichen Sprache ist. Die auf diese Weise entstehende Scheinsystematik und Scheinzuverlässigkeit geht oft ins Absurde und Pseudowissenschaftliche (vgl. Harras 1986). Es handelt sich um zahlreiche sporadische und systematische Unsicherheiten, die nicht nur die Benutzerfreundlichkeit beeinträchtigen, sondern die Konzeption dieses Wörterbuchtyps entstellen, mißachten und sie dadurch in Frage stellen. Mit der Diskussion um die allgemeinen einsprachigen Wörterbücher kann man nicht zufrieden sein, geschweige denn, daß man sie als abgeschlossen bezeichnen kann. Die Neuauflagen sowie die neu aufgenommenen Wortschätze bzw. Lemmata lassen keinen großen Raum für Optimismus. In den aktuellsten Auflagen des DUDEN-DUW 96 und des WAHRIG-DW 94 sowie im DUDEN-GW8 wurde bereits der explosionsartigen Ausweitung des Wortschatzes der Datenverarbeitung durch die Aufnahme des Lemmas CD-ROM Rechnung getragen: CD-ROM: ... [^ROM] (Datenverarb.): als Datenbank od. elektronisches Nachschlagewerk dienende, einer CD ähnliche kleine Scheibe aus einem Isolierstoff (1), deren Inhalt über einen PC od. ein spezielles Lesegerät abgerufen, aber nicht mehr verändert werden kann ... (DUDEN-DUW^ö / DUDEN-GW8) CD-ROM: ... Compact Disc Read Only Memory, eine optische Speicherplatte mit großer Speicherkapazität, die nur gelesen, nicht beschrieben werden kann ... (WAHRIG-DV/94) CD-ROM: ... [EDV] compact disc read-only memory = Speicherplatte zur festen Datenspeicherung, die man in den Arbeitsspeicher nur einlesen kann, auf der man aber nicht selbst speichern kann... (BÜNTING)

Im DUDEN-DUW 96 und DUDEN-GW8 wird der Leser auf den Wörterbuchartikel zum Lemma ROM aufmerksam gemacht, das lediglich als Festwertspeicher erklärt wird. Die Angabe Festwertspeicher wird im DUDEN-DUW 96 nicht lemmatisiert: ROM: ... [Abk. für engl, read-only memory = Nurlesespeicher] (Datenverarb.): ... (DUDEN-DUW 9 ^)

Festwertspeicher

ROM: ... [Abk. für engl, read only memory = Nurlesespeicher] (Datenverarb.): ... (DUDEN-GW8)

Festwertspeicher

Im DUDEN-GW8 wird der Ausdruck Festwertspeicher folgt erklärt:

hingegen lemmatisiert und wie

Festwertspeicher: ... (Datenverarb.): Datenspeicher, dessen Daten nach dem Einprogrammieren nur noch abgerufen, aber nicht mehr verändert werden können ... (DUDEN-GW8)

Anmerkungen zur lexikographischen

Bedeutungserklärung..

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Auch im WAHRIG-DW94 bekommt man im Gegensatz zum DUDEN-DUW96 einige zusätzliche Informationen über das Lemma ROM bzw. über die hier ebenfalls nicht lemmatisierte Entsprechung Festwertspeicher: ROM: ... Read only Memory, ein Festwertspeicher für EDV-Anlagen, bei dem die einmal eingegebenen Daten nur wieder gelesen, aber nicht mehr verändert werden ... ( W A H R I G - D W 9 4 )

In den Bedeutungserklärungen im DUDEN-DUW96 und DUDEN-GW8 wird CD-ROM außerdem nicht nur als Datenbank sondern auch als elektronisches Nachschlagewerk erklärt. Da auch ein elektronisches Nachschlagewerk eine Datenbank oder zumindest eine Art Datenbank ist, könnten hier Mißverständnisse entstehen. Hinsichtlich der Bedeutungserklärung im BÜNTING muß man hinzufügen, daß man den Inhalt einer CD-ROM keineswegs nur in den Arbeitsspeicher einlesen kann, sondern auch in die Festplatte. Es handelt sich um kleine Unzulänglichkeiten, sachliche und logische Mißinterpretationen. Im DUDEN-DUW96 und DUDEN-GW8 ist einerseits die Rede von einer kleinen Scheibe, was durchaus im Sinne einer alltagssprachlichen Erklärung ist und andererseits wird unnötig die Beschaffenheit der CD-ROM präzisiert und man erfährt, daß sie eigentlich aus Isolierstoff besteht. Der Ausdruck Isolierstoff wurde wahrscheinlich in die Kategorie der „durchsichtigen" Komposita eingestuft und deswegen auch nicht lemmatisiert. Durch Zusammenführung von Experten- und Laienwissen kommt es zu einer Kollision zwischen den Termini und den Ausdrücken des Alltags sowie zur Entstehung der pseudowissenschaftlichen Bedeutungserklärungen. Es ist wichtig, bei der Aufnahme neuer Lexeme in ein allgemeines einsprachiges Wörterbuch oder in ein anderes Nachschlagewerk bzw. bei der Veränderung des Inhalts von Bedeutungserklärungen darauf zu achten, daß dies auch für die anderen Wörterbuchartikel Konsequenzen haben kann. So blieb z. B. die Extension in der lexikographischen Bedeutungserklärung zu Nachschlagewerk im DUDEN-DUW96 und im DUDEN-GW8 auch weiterhin unverändert und beschränkt sich ausschließlich auf das Nachschlagewerk in Buchform: Nachschlagewerk: ... Buch (bes. Lexikon, Wörterbuch), das in übersichtlicher, meist alphabetischer Anordnung der schnellen Orientierung über etw. dient ... (DUDEN-DUW 96 / DUDENGW8)

In diesem Zusammenhang soll auf das einst zu Recht erhobene Bedenken von Schaeder (1987) erinnert werden. Dieses Bedenken betrifft unter anderem die Interpretation des Begriffs Wörterbuch als Nachschlagewerk, wenn es auf einem anderen Medium als Buchform erscheint sowie die Erklärung des Ausdrucks nachschlagen·. Zwar werden sie auch dann noch als Wörterbücher bezeichnet (...), doch fragt es sich, ob man bei der Bedienung der entsprechenden Geräte zum Zwecke des Auffindens eines bestimmten Wortes noch zutreffenderweise von Nachschlagen sprechen kann. (26)

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Mitar Pitzek

Wenn Wiegand (1988) versucht den Begriff Nachschlagewerk zu beschreiben, erkennt er bereits die Notwendigkeit der Erweiterung einer solchen Definition auch auf andere Medien: Diese Definition ist bewußt auf Bücher eingeschränkt; sie kann leicht so verändert werden, daß zur Extension von Nachschlagewerk auch z. B. elektronische Wörterbücher und maschineninterne Wörterbücher gehören, z. B. dadurch, daß Buch im Definiens durch Datenträger ersetzt wird und dieser Terminus definiert wird. (749 f.)

Das Bedenken von Schaeder (1988) hinsichtlich der Verwendung des Ausdrucks nachschlagen war in den 80er Jahren berechtigt, heute ist es bereits nicht mehr, was mit zahlreichen Werbeslogans belegt werden kann. Hier werden nur einige Beispiele aufgeführt: -

Alles, was Sie zum schnellen Nachschlagen benötigen auf einer CD-ROM, Es handelt sich weniger um ein Lexikon zum schnellen Nachschlagen am Arbeitsplatz (.··),

-

das Deutsche Wörterbuch (mp: CD-ROM-Version) eignet sich hervorragend zum schnellen Nachschlagen bei alltäglichen sprachlichen Fragen und Problemfällen (...) oder bei den großen Nachschlagewerken (...) hat die neue LexiROM 2.0 mit der infoROM von Bertelsmann einen beachtlichen Konkurrenten bekommen (...) (Katalog 1997).

-

Man kann bei der Angabe des Hyperonyms, d. h. bei der Gattungszuordnung in einer lexikographischen Bedeutungserklärung zum Lemma Wörterbuch auch weiterhin vom Nachschlagewerk oder Verzeichnis sprechen, jedoch nicht uneingeschränkt vom Nachschlagebuch, wie m. W. nur im MACKENSEN vorgegangen wird: Wörterbuch:... nach Stichwörtern geordnetes Nachschlagebuch ... (MACKENSEN) Nachschlagebuch:... Nachschlagewerk ...(MACKENSEN) Nachschlagewerk:... Buch zur schnellen und bequemen Belehrung ... (MACKENSEN)

Daß die in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern vorhandenen Bedeutungserklärungen zum Lemma Wörterbuch oder Nachschlagewerk zu ihrer typologischen Unterscheidung nicht ausreichen, liegt in der problemmeidenden Erklärungsweise dieses Wörterbuchtyps. Wenn jedoch in der Bedeutungserklärung zum Lemma CD-ROM vom (elektronischen) Nachschlagewerk die Rede ist, dann sollte die Bedeutungserklärung zum Lemma Nachschlagewerk nicht unverändert bleiben. Das gilt auch für das Verb nachschlagen'. nachschlagen: ... um etw. Bestimmtes zu erfahren, ein Buch an der entsprechenden Stelle aufschlagen u. sich dort informieren: in einem Wörterbuch n. ... ( D U D E N - D U W ^ ö ) nachschlagen: ... um etw. Bestimmtes zu erfahren, ein Buch an der entsprechenden Stelle aufschlagen u. sich dort informieren: in einem Wörterbuch, in einem Lexikon n.; er hat überall nachgeschlagen, aber nichts über das Thema gefunden ... (DUDEN-GW8)

Anmerkungen zur lexikographischen

Bedeutungserklärung..

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nachschlagen: ... etwas ~ in einem Buch eine Stelle suchen u. nachlesen; ein Zitat ~ ... (WAHRIG-DW94) nachschlagen: ... etw. (in einem Buch) n. ein Buch auf der Seite aufschlagen, auf der etw. Bestimmtes abgedruckt ist, und es nachlesen (I): (ein Wort) in einem Wörterbuch n.... (HDG) nachschlagen:... eine bestimmte Stelle in einem Text, Nachschlagewerk suchen und nachlesen: in einem Lexikon n.; ich mußte lange n., bis ich die Stelle, das Zitat fand; Einige hatten kleine Wörterbücher auf dem Abort versteckt, um ... beim Austreten nachschlagen zu können ... (WDG) nachschlagen: ... sich Informationen aus einem Buch, Wörterbuch, Lexikon od. ä. heraussuchen „Wenn du das Wort nicht verstehst, mußt du es nachschlagen ... (BÜNTING)

Es ist die außerordentliche Aufgabe der allgemeinen einsprachigen Wörterbücher, das sprachlich relevante Wissen differenziert, systematisch und für den Benutzer so transparent wie möglich darzustellen. Im Anschluß an die von Schaeder (1988) gestellte Frage, kann man davon ausgehen, daß auch ein Wörterbuchbenutzer mit einer ähnlich formulierten Frage an ein allgemeines einsprachiges Wörterbuch herangehen kann bzw. darf. In diesem Fall ist es die Aufgabe dieses Nachschlagewerks ihm mitzuteilen, was die häufigsten Distributionen eines Ausdrucks wie z. B. nachschlagen sind bzw. daß sich die Extension von Nachschlagewerk nicht mehr nur auf die Buchform beschränkt. Durch das strikte Beschränken auf den prototypischen Vertreter werden lexikologischlexikographisch relevante Information ausgelassen. Es muß selbstverständlich immer darauf geachtet werden, daß die allgemeinen einsprachigen Wörterbücher Nachschlagewerke sind, in denen nicht nur die ausfuhrlichen phonetischen, etymologischen, phraseologischen und grammatischen Gesichtspunkte in den Hintergrund treten müssen, sondern alle ausfuhrlichen Informationen einschließlich der lexikographischen Bedeutungserklärung. Es kann verallgemeinernd festgestellt werden, daß in der Diskussion, die über die allgemeinen einsprachigen Wörterbücher geführt wird, ihnen vor allem Mangel an verschiedenen Informationen sowie die Art und Weise der Präsentation vorgeworfen werden. Hinsichtlich der Bedeutungserklärung werden als Maßstab in der Regel verschiedene Bedeutungstheorien genommen. Die semantische Merkmalsanalyse galt lange als die Methode für eine vollständige und wahrheitsgetreue Wiedergabe von Wortbedeutungen. Dem Vorwurf, daß in den allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern ein zu enger Bedeutungsbegriff zugrunde liegen würde (vgl. Viehweger 1988, 18), kann nur dann zugestimmt werden, wenn man in den Vordergrund die Bedeutungserklärung an sich und somit die semantisch exhaustive Sichtweise und nicht die konzeptionellen Möglichkeiten und Anliegen eines bestimmten Wörterbuchtyps und die damit anvisierten Wörterbuchbenutzer stellt. Die Bedeutungserklärungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern sind nie vollständig, sie sind nicht statisch und unumstritten. Jeder Versuch, eine Wortbedeutung in einem allgemeinen einsprachigen Wörterbuch wiederzugeben, ist letztendlich das Ergebnis einer Kompromißsuche zwischen den Anforderungen und Vorschlägen der Semantik, Lexikologie, Psychologie bis hin zur Sprachphilosophie etc. auf der einen und den konzeptionellen Möglichkeiten eines bestimmten Wörterbuchtyps auf der anderen Seite.

Mitar Pitzek

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2. Zur Auswahl von Bedeutungsangaben

Sowohl in der Praxis als auch in der theoretischen Diskussion über die allgemeinen einsprachigen Wörterbücher werden die anderen Teile des Wörterbuchartikels zugunsten der lexikographischen Paraphrase oft vernachlässigt. Wiegand (1984) lehnt dies mit der Begründung ab, daß die sog. lexikographische Definition meistens nur ein Textbaustein unter anderen innerhalb eines Wörterbuchartikels ist, der im Bedeutungswörterbuch insgesamt dazu dient, dem Wörterbuchbenutzer vor allem die Bedeutung des Lemmazeichens zu erläutern. (80)

Auch Wiegand (1985) fordert entschieden eine umfassendere Sichtweise, wenn es um den Wörterbuchartikel geht: Dazu muß man zunächst die - in der Literatur weit überwiegende - isolierte Betrachtung der lexikalischen Paraphrase bzw. der lexikographischen Bedeutungserklärung aufgeben und sie als integralen Bestandteil des Wörterbuchartikels auffassen. Mit mehreren lexikographischen Textbausteinen wird dem Wörterbuchbenutzer eine Bedeutung des Lemmazeichens erläutert, nicht nur mit der lexikographischen Paraphrase. (82 f.)

Trotz diesen berechtigten Forderungen, bleibt die lexikographische Bedeutungserklärung der zentrale Teil der allgemeinen einsprachigen Wörterbücher und des Wörterbuchartikels, der nicht nur den Lexikographen die meisten Schwierigkeiten bereitet. Die Veränderungen in den Neuauflagen haben oft einen symbolischen und formalen Charakter und sind nur bei aufmerksamer Beobachtung festzustellen. Es handelt sich um kleine Schritte, wie dies z. B. die lexikographischen Bedeutungserklärungen zum Lemma Wassermelone in zwei Auflagen des DUDEN-DUW sowie des DUDEN-GW8 bzw. des sechsbändigen Vorgängers, DUDEN-GW6 zeigen. Es hat mehrere Jahre gedauert bis man sich darüber einig wurde bzw. bis man das dem Leser in einer Neuauflage mitteilen konnte, daß Wassermelonen eigentlich süß und nicht säuerlich schmecken: Wassermelone: ... Melone (la) mit großen, dunkelgrünen, glatten Früchten mit hellrotem, säuerlich schmeckendem, sehr wasserhaltigem Fruchtfleisch u. braunschwarzen Kernen ... (DUDEN-

DUW89) Wassermelone: ... (in wärmeren Ländern angebaute) Melone mit dunkelgrünen, glatten Früchten mit hellroten, säuerlich schmeckendem, äußerst wasserhaltigem Fruchtfleisch u. Braunschwarzen kernen ... (DUDEN-GW6) Wassermelone: ... Melone (la) mit großen, dunkelgrünen, glatten Früchten mit hellrotem, süß schmeckendem, sehr wasserhaltigem Fruchtfleisch u. braunschwarzen Kernen ... (DUDENDUW96 / DUDEN-GW8)

Die Autoren des BW und des WDG haben diese Angabe nicht aufgenommen. Im HDG wurde auf das Lemma Wassermelone gänzlich verzichtet und man beschränkte sich auf den übergeordneten Ausdruck Melone.

Anmerkungen zur lexikographischen

Bedeutungserklärung..

49

Diese kleinen Veränderungen erfreuen den Metalexikographen, sie bringen ihn jedoch auch dazu, sich selbst Fragen zu stellen wie z. B.: Wie schmecken eigentlich Wassermelonen?1 Mit einer solchen Fragestellung sollte man an die allgemeinen einsprachigen Wörterbücher selbstverständlich nicht herangehen, weil es sich um eine primär sachorientierte Frage handelt. Wenn man Wörterbücher intensiv liest, gerät man zwangsläufig in die Situation, sich Fragen zu stellen, die man sich nie zuvor gestellt hat, wie z. B., welche Farbe haben die kleinen Punkte auf den Erdbeeren oder wie das Fleisch von Flußpferden wohl schmecken mag? Im ersten Fall bekommt man eine Antwort im BÜNTING und COBUILD und im zweiten im WAHRIG-DW94: Erdbeere: ... [Pflanzenk.] niedrige Pflanzen, Staude, die rote, weiche Früchte mit kleinen grünen Punkten hervorbringt... (BÜNTING) Flußpferd: ... Angehöriger einer Flüsse bewohnenden Familie der Paarhufer; plumpes, fast unbehaartes Tier mit wohlschmeckendem Fleisch: Hippopotamidae; in Strömen u. Flüssen Afrikas lebende Art: Hippopotamus amphibius\ Sy Nilpferd... (WAHRIG-DW94)

Die Bedeutungserklärung im COBUILD, einem Lernerwörterbuch des Englischen, gibt dem Leser eine ganz andere Information hinsichtlich der Farbe der Punkte: strawberry:... A strawberry is a small red fruit which is soft and juicy and has tiny yellow seeds on its skin. Strawberries are usually eaten as a dessert or made into jam ... (COBUILD)

Sehen die Erdbeeren in England anders aus als in Deutschland, oder liegt die unterschiedliche Farbenangabe nur in der Sichtweise der Lexikographen? Die Ursache ist selbstverständlich bei den Autoren zu suchen. Die Tatsache ist, daß diese Punkte mal mehr grün, mal mehr gelb sind, eigentlich gelb-grün, je nachdem wie weit der Reifeprozeß vorangeschritten ist. Wenn man in diesem konkreten Fall der Analogie folgt, daß in der Regel immer die Farbe und der Geschmack der reifen Früchte, d. h. die proto- und stereotypischen Eigenschaften beschrieben werden, dann ist wahrscheinlich die Angabe zutreffender, daß Erdbeeren die gelben Punkte haben. Unabhängig davon, ob ein Muttersprachler nach der Bedeutung von Erdbeere je nachgeschlagen hat oder in Zukunft nachschlagen wird und unabhängig davon, ob man ihm überhaupt mitteilen soll, daß Flußpferde Tiere mit wohlschmeckendem Fleisch sind, muß bei der Erstellung einer Wörterbuchkonzeption folgende globale Frage immer im Auge behalten werden: Was ist eine sinnvolle Auswahl von Bedeutungsangaben in einem allgemeinen einsprachigen Wörterbuch?

2

Vgl. die Überlegungen von Wiegand (1985) hinsichtlich der Angabe des Geschmacks von Früchten in einer lexikographischen Bedeutungserklärung.

Mitar Pitzek

50

Sind die Grenzen tatsächlich durch die Anforderungen und Einschränkungen der semantischen Merkmalsanalyse, durch die proto- und stereotypischen Bedeutungskonzeptionen oder durch eine andere Bedeutungstheorie gesetzt? Eine umfassende Antwort auf diese komplexe Frage kann hier selbstverständlich nicht gegeben werden, (vgl. z. B. Wiegand 1985 ff.) Es soll nur darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Auswahl von Bedeutungsangaben im Rahmen des gesellschaftlichen und kulturellen Kontextes erfolgen sollte. Das Problem der Auswahl von Bedeutungsangaben kommt besonders in jenen Wortschatzbereichen zum Ausdruck, die vom Laien und dem Fachmann gleichermaßen geteilt werden, wie dies z. B. bei vielen Bezeichnungen für Tiere und Pflanzen der Fall ist. Während mit den obigen Beispielen einige sporadische Mängel aufgegriffen wurden, kann man in den Wortschatzbereichen der Tier- und Pflanzennamen von einem ganzen Spektrum systematischer Mängel reden (vgl. Malige-Klappenbach 1980; Spieß 1982; Wierzbicka 1988; Pitzek 1995).

3. E x p e r t e n w i s s e n in d e r l e x i k o g r a p h i s c h e n B e d e u t u n g s e r k l ä r u n g

Die unaufhaltsame Verbreitung von Fachwissen fuhrt zu Spannungsfeldern in der Allgemeinlexikographie. Die konzeptionellen Eigenschaften des Nachschlagewerkes, in dem das Wissen über die Sprache mit allgemeinfaßlichen Informationen erläutert und dargestellt werden soll, können dem Druck der rasanten Entstehung und Verbreitung von Fachwortschätzen nur schwer Widerstand leisten. Die unerwünschte Folge der Wissensexplosion war die z. T. unkontrollierte A u f n a h m e von Expertenwissen in die allgemeinen einsprachigen Wörterbücher. Das führte zur Annäherung an die Konzeption eines enzyklopädischen Wörterbuchs bzw. einer Enzyklopädie. Die Art und Weise wie und die Frage, ob die Kluft zwischen Experten- und Laienwissen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern zu überbrücken ist, hängt eng mit der Interpretation der Leistung und Aufgabe dieser Nachschlagewerke zusammen. Die lexikographische Erfassung von Fachwortschätzen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern ist bekanntlich ein Stiefkind der lexikographischen Wortschatzerfassung. Die Feststellung von Wiegand (1977) ist auch heute noch aktuell: Die Kodifikation der Fachsprachen in den einsprachigen Wörterbüchern des gegenwärtigen Deutsch ist kommunikationshinderlich,, kompetenzeinschränkend und daher lexikographisch nicht zu verantworten. (46)

Diese A n n a h m e gilt nicht nur für die lexikographische Erfassung von Fachwortschätzen sondern auch für einige Bereiche des Allgemeinwortschatzes. So sind z. B. die Bedeutungserklärungen der Lemmata Farn und Pilz keinesfalls im Sinne einer allgemeinfaßlichen lexikographischen Bedeutungserklärung, wie man sie in einem allgemeinen einsprachigen Wörterbuch erwarten würde:

Anmerkungen zur lexikographischen

Bedeutungserklärung..

51

Farn: ... (in zahlreichen Arten vorkommende) in den Tropen auch baumartige, sich durch Sporen vermehrende Pflanze mit großen, meist gefiederten Blättern, die in der ersten Wachstumsphase noch eingerollt sind ... ( D U D E N - D U W ^ ö ) Pilz:... Angehöriger einer Abteilung der Lagerpflanzen ohne Chlorophyll mit feinfädigen Vegetationskörpern, die ein Myzel bilden; eßbarer, giftiger ... (WAHRIG-DW 8 6 ) Die folgenden Beispiele bestätigen, daß der Anteil von Fachinformationen auch reduziert werden kann: Farn: ... krautige od. baumförmige Farnpflanze mit gefächerten Blättern: Filicina, Pteropsida ... (WAHRIG-DW")

oder Pilz: ... chlorophyllfreier Organismus mit feinfädigen Vegetationskörpern, die ein Myzel bilden ; eßbarer, giftiger ... (WAHRIG-DW94) Die Ursache für solche Fehlinterpretationen und Meinungsverschiedenheiten liegt keinesfalls in den fehlenden theoretischen Vorschlägen, sondern vor allem in der lexikographischen Praxis, die stark aus der lexikographischen Tradition schöpft. Es werden bekanntlich entweder die Vorgänger konsultiert, oder Enzyklopädien zu Rate gezogen. Die darin enthaltenen Texte werden bearbeitet, verkürzt und unter Berücksichtigung verschiedener lexikalischer Relationen der vereinfachten Ausdrucksweise des Alltags angepaßt. A u f diese Weise entsteht ein beträchtlicher Teil der Paraphrasen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern. Daß dabei das Krokodil ein Tier mit vierkammerigem Herzen ist, daß Gänse zu den Siebschnäblern gehören, und daß bei der Riesenschlange Reste der Hinterbeine als Aftersporne noch neben der Kloake sichtbar sind, das nimmt man in Kauf: Krokodil: ... Angehöriges der höchstentwickelten Ordnung der Reptilien; großes, stark gepanzertes, räuberisch im Wasser lebendes Tier mit vierkammerigem Herzen, in Kieferhöhlen sitzenden Zähnen u. seitlich zusammengedrücktem Ruderschwanz: Crocodyla; Sy Panzerechse; Angehöriges einer Familie dieser Ordnung mit einem bei geschlossenem Maul sichtbaren Unterkieferzahn ... (WAHRIG-DW94) Gans: ... < ... i.w.S> Angehörige einer Untergruppe der Siebschnäbler, der neben den Gänsen auch die Schwäne angehören: Anserina; Angehörige einer der 14 Arten der Schwimmvogelgattung Anser u. Branta; ...; eine ~ ausnehmen, braten, rupfen, schlachten; die Gänse hüten;... (WAHRIG-DW94) Riesenschlange: ... bis 10 m lange, ungiftige Angehörige der ursprünglichsten Familie der Schlangen, Reste der Hinterbeine als Aftersporne noch neben der Kloake sichtbar: Boidae ... (WAHRIG-DW94) Wenn eine allgemeinsprachliche Beschreibung nicht möglich ist, weil der Laie über einen Begriff nicht verfügt, greift man allzu leicht auf die wissenschaftlichen Gliederungssysteme

Mitar Pitzek

52

und Begriffe zurück, wie im Beispiel von Aasblume, die im WAHRIG-DW 94 der botanischen Kategorie der Schwalbenschwanzgewächse zugeordnet wird: Aasblume: ... Blume mit nach Aas (1) riechender Blüte, die Aasfliegen anzieht

( S t a p e l i e u . a . ) ...

(DUDEN-DUW96)

Aasblume: ... einer Gattung der Schwalbenschwanzgewächse angehörende, parasitäre südafrikan. Pflanze mit strahligen Blüten, die nach Aas riechen u. dadurch Insekten, bes. Schmeißfliegen, anziehen: Stapelia; S y Ekelblume, Ordensstern (2), Stapelie ... ( W A H R I G - D W 9 4 ) Zum sprachlichen Alltagswissen gehört mit Sicherheit nicht die Mehrzahl der gebotenen Informationen, die WAHRIG-DW 94 in der Bedeutungserklärung zum Lemma Aasblume verwendet. Die Bedeutungsangabe Schwalbenschwanzgewächse wird nicht lemmatisiert. Der Wörterbuchbenutzer sowie die allgemeinlexikographische Wörterbuchkonzeption werden an dieser Stelle verlassen, was weder als ein benutzerfreundliches noch als ein sauberes lexikographisches Verfahren bezeichnet werden kann. Diese wenigen Vergleiche deuten an, daß die Unterschiede zwischen den einzelnen Bedeutungserklärungen bzw. in ihnen enthaltenen Bedeutungsangaben als expertenbezogen vs. laienbezogen charakterisiert werden können, ohne daß immer eine genaue Festlegung der Übergangsstelle von einem zum anderen möglich ist. Es geht dabei nicht um eine apodiktische Trennung, sie gibt es auch in der Alltagssprache auf diese Weise nicht, sondern darum, das eindeutig fachinterne, eindeutig absurde und überflüssige Wissen aus der lexikographischen Bedeutungserklärung auszuschließen. Wenn man mit der Frage, wieviel Expertenwissen ein allgemeines einsprachiges Wörterbuch braucht, an die in den Wörterbüchern vorhandenen Bedeutungserklärungen herangeht, bekommt man unterschiedliche Antworten. Ist die Paraphrase ausreichend, daß der Wiederkäuer ein „ Tier [ist], das seine Nahrung wiederkäut' (DUDEN-DUW 96 ), oder soll man vielleicht noch genauer sein und auf das Prinzip des Wiederkäuens eingehen, wie dies im WAHRIG-DW 94 gemacht wird? Wiederkäuer:...

(Zool.):

Tier, das seine Nahrung wiederkäut...

(DUDEN-DUW96)

Wiederkäuer: ... Angehöriger einer Unterordnung der Paarhufer mit mehreren Magenabschnitten; die Nahrung gelangt bei der Verdauung oft mehrmals in die Mundhöhle zurück: Ruminantia ... ( W A H R I G - D W ^ ) '

Die Erklärung, daß es sich beim Wiederkäuen um Nahrung handelt, wird ein Laie als trivial empfinden. Ein Wiederkäuer sollte für ein allgemeines einsprachiges Wörterbuch nicht mehr als ein wiederkäuendes Tier oder ein Tier, das wiederkäut sein bzw. sollte die Riesenschlange nicht mehr sein, als eine (lange) Schlange. Bei jenen Wortschatzbereichen, die vom Laien und vom Fachmann gleichermaßen verwendet werden, sollte man sich in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern an der Alltagsvorstellung - soweit diese vorhanden ist - orientieren:

5

Im W A H R I G - D W 8 6 heißt die lateinische Entsprechung

Dumminantia.

Anmerkungen zur lexikographischen Bedeutungserklärung..

53

Sind die Realien neben ihrer alltagssprachlichen Verwendung in fachsprachliche Systeme eingebunden (vgl. Tier-, Pflanzennamen, chemische Elemente), so ist der Leser über den im Alltag tatsächlich praktizierten Sprachgebrauch zu informieren. (Kempcke 1992: 210)

Wenn ein Begriff im Alltag nicht geläufig ist, dann sehen sich die Lexikographen gezwungen, auf vereinfachte enzyklopädische Definitionen zurückzugreifen. Wenn der „tatsächlich praktizierte Sprachgebrauch" fehlt, wird er in den allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern förmlich erzwungen. Dies ist nur durch den Rückgriff auf die Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Beobachtungen möglich. Das Ergebnis sind Paraphrasen, wie z. B. zu Axolotl im DUDEN-DUW 96 und WAHRIG-DW 94 : Axolotl: ... mexikanischer Schwanzlurch, der sich schon im Larvenstadium fortpflanzen kann ... (DUDEN-DUW / DUDEN-GW8)

Axolotl: ... mexikan. Wassermolch, der schon im Larvenstadium fortpflanzungsfähig ist ... (WAHRIG-DW94)

In diesem Fall kann von einer allgemeinlexikographischen Paraphrase nicht die Rede sein. Im WAHRIG-DW 94 wird die Bedeutungsangabe Wassermolch nicht lemmatisiert. Die aufgenommenen Fachinformationen - Fortpflanzung im Larvenstadium, mexikanischer Schwanzlurch bzw. Wassermolch - sind allgemeinlexikographisch nicht vertretbar. Wenn eine Alltagsvorstellung nicht vorhanden ist, kann ein allgemeines einsprachiges Wörterbuch diese Lücke nicht schließen. Die Entscheidung darüber, was in einer lexikographischen Bedeutungserklärung in einem allgemeinen einsprachigen Wörterbuch relevant ist und was nicht, ist im Einzelfall schwer zu treffen. Eine minimal-kontrastive lexikographische Bedeutungserklärung sollte man vielleicht doch nicht ausschließen. Obwohl man gelegentlich auch in den allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen, wie z. B. in dem oben erwähnten Wörterbuchartikel zum Lemma Wiederkäuer im DUDEN-DUW, auf eine minimal-kontrastive Bedeutungserklärung stößt, steht diese Vorgehensweise nicht in der Tradition der deutschen Lexikographie. Das folgende Beispiel zeigt drei verschiedene Ausführlichkeitsgrade der Bedeutungserklärung zum Lemma Papaya. Von einer ins Absurde gehenden Bedeutungserklärung im BÜNTING, die wahrscheinlich die ausführlichste Beschreibung der Kerne einer Papaya darstellt: Papaya: ... Frucht des Papayabaumes, die einer Melone ähnlich sieht, birnenförmig, mit orangefarbenem Fruchtfleisch u. Milchsaft in gelblich-weißer Färbung u. kleinen runden, schwarzen, glänzenden, weichen Kernen in der Mitte ... (BÜNTING)

Über eine mäßige und zurückhaltende, allgemeinlexikographisch vertretbare Auswahl im DUDEN-DUW 96 und DUDEN-GW8: Papaya: ... einer Melone ähnliche, kugelige bis eiförmige Frucht des Melonenbaumes mit orange Fleisch u. gelblich weißem Milchsaft ... ( D U D E N - D U W ™ / D U D E N - G W 8 )

Mitar Pitzek

54

Bis hin zu einer übersichtlichen, minimal-kontrastiven Bedeutungserklärung im WAHRIGDW 94 :

P a p a y a : . . . Frucht des Melonenbaums ... (WAHRIG-DW)

4. Z u s a m m e n f a s s u n g Die hier nur kurz erörterten Vorschläge sind nicht als Vorschriften f ü r die lexikographische Bedeutungserklärung in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern zu verstehen. Es handelt sich um Überlegungen, die auf eine der Konzeption des allgemeinen einsprachigen Wörterbuchs angemessenere Bedeutungserklärung aufmerksam machen sollen. Dabei ist es notwendig, das in der Lexikographie um die Bedeutungserklärung entstandene Tabu aufzuheben und die für die allgemeinen einsprachigen Wörterbücher nicht immer einfach übertragbaren Vorschläge der Nachbardisziplinen aufzuarbeiten und an die jeweilige Wörterbuchkonzeption anzupassen. Die Entscheidung, was eine sinnvolle Auswahl von Informationen in einem allgemeinen einsprachigen Wörterbuch ausmacht, kann unter verschiedenen sprachtheoretischen Gesichtspunkten getroffen werden. Dabei werden die anvisierten Zielstellungen dieser Nachschlagewerke oft vernachlässigt. Die allgemeinen einsprachigen Wörterbücher sind keine Allbücher, die eine Antwort auf jede mögliche Frage parat haben. Sie sind eine Art „erster Hilfe" in sprachlichen Fragen und sollten so auch untersucht und benutzt werden. Für weiterführende, sachorientierte und spezielle Informationen, sind Fachwörterbücher und Enzyklopädien zuständig.

5. L i t e r a t u r

5.1. Wörterbücher B Ü N T I N G = DEUTSCHES WÖRTERBUCH. MIT DER NEUEN RECHTSCHREIBUNG. Hrsg. v. Karl Dieter

Bünting / Ramona Karatas unter Mitarbeit von Ute Gelba [u.a.]. Chur / Schweiz: Isis Verlag, 1996. B W = BROCKHAUS WAHRIG. DEUTSCHES WÖRTERBUCH IN SECHS BÄNDEN. H r s g . v . G e r h a r d W a h r i g ,

Hildegard Krämer, Harald Zimmermann. Wiesbaden, Stuttgart: F. A. Brockhaus, Deutsche Verlagsanstalt, 1980-1984. C O B U I L D = COLLINS C O B U I L D ENGLISH LANGUAGE DICTIONARY. Developed and comp, in the

Engl. Dep. at the Univ. of Birmingham. Ed. in chief John Sinclair. London / Glasgow: Collins; Stuttgart: Klett, 1987. DUDEN-BW = DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH. Band 10. Hrsg. u. bearb. v. Wolfgang Müller [u.a.]. 2., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim; Wien; Zürich, 1985.

Anmerkungen zur lexikographischen Bedeutungserklärung..

55

D U D E N - D U W 8 9 = DUDEN DEUTSCHES UNIVERSALWÖRTERBUCH A-Z. Hrsg. u. bearb. v. Wiss. Rat u. den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter der Leitung von Günther Drosdowski. 2., völlig neu bearb. u. stark, erw. Aufl. Mannheim; Wien; Zürich: Dudenverlag, 1989. D U D E N - D U W 9 ^ = DUDEN DEUTSCHES UNIVERSALWÖRTERBUCH A - Z . [ C D - R O M ] 3., n e u bearb.

Aufl. Mannheim. Wien. Zürich: Dudenverlag, 1996. D U D E N - G W 6 = DUDEN. DAS GROBE WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE IN SECHS BÄNDEN. H r s g .

u. bearb. v. Wiss. Rat u. den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter Leitung v. Günther Drosdowski. Mannheim; Wien; Zürich: Dudenverlag, 1976-1981. D U D E N - G W 8 = DUDEN. DAS GROBE WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE. IN ACHT BÄNDEN. 2.,

völlig neu bearb. u. stark erw. Aufl. Hrsg. u. bearb. vom Wissenschaftlichen Rat u. den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter der Leitung von Günther Drosdowski. Mannheim; Leipzig; Wien; Zürich: Dudenverlag, 1993/94. H D G = HANDWÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN GEGENWARTSSPRACHE. IN ZWEI BÄNDEN. V o n e i n e m A u -

torenkollektiv unter der Leitung von Günter Kempcke. Berlin: Akademie-Verlag, 1984. M A C K E N S E N = LUTZ MACKENSEN. DEUTSCHES WÖRTERBUCH. RECHTSCHREIBUNG. GRAMMATIK. STIL. WORTERKLÄRUNGEN. FREMDWORTLEXIKON. GESCHICHTE DES DEUTSCHEN WORTSCHATZES.

12., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage unter Mitarbeit von Dr. Gesine SchwarzMackensen. München: Südwest Verlag. W A H R I G - D W 8 6 = WAHRIG. DEUTSCHES WÖRTERBUCH. H r s g . in Z u s a m m e n a r b e i t m i t z a h l r e i c h e n

Wissenschaftlern u. anderen Fachleuten. Völl. Überarb. Neuausgabe. München: Mosaik Verlag, 1986. W A H R I G - D W 9 4 = WAHRIG. DEUTSCHES WÖRTERBUCH. Neu hrsg. v. Dr. Renate Wahrig-Burfeind. Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag, 1994. W D G = WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN GEGENWARTSSPRACHE. IN SECHS BÄNDEN. H r s g . v o n R u t h

Klappenbach u. Wolfgang Steinitz. Berlin: Akademie Verlag, 1964-1977.

5.2. Sonstige Quellen Harras (1986) = Gisela Harras. Bedeutungsangaben im Wörterbuch. Scholastische Übungen für linguisten oder Verwendungsregeln für benutzer? In: Textlinguistik contra Stilistik? - Wortschatz und Wörterbuch - Grammatische oder pragmatische Organisation von Rede?. Hrsg. von Walter Weiss / Herbert Ernst Wiegand / Marga Reis. Tübingen, 134-143. Hausmann (1985) = Franz Josef Hausmann. Lexikographie. In: Christoph Schwarze / Dieter Wunderlich (Hg.): Handbuch der Lexikologie. Königstein/Ts.: Athenäum, 367-411. (1989) = ders. Das Definitionswörterbuch. In: Wörterbücher. Dictionaries. Dictionnaires. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. An International Encyclopedia of Lexicography. Encyclopddie internationale de lexicographie. Hrsg. v. Franz Josef Hausmann / Oskar Reichmann / Herbert Ernst Wiegand / Ladislav Zgusta. Erster Teilband. Berlin / N e w York: de Gruyter, 981-988. K A T A L O G (1997) = Der CD-ROM-Katalog. Sommer 1997. München: Ebdirerkt, 1997. Kempcke (1992) = Günter Kempcke. Organisationsprinzipien und Informationsangebote in einem Lernerwörterbuch. In: Ursula Brauße / Dieter Viehweger (Hg.): Lexikontheorie und Wörterbuch. Wege der Verbindung von lexikologischer Forschung und lexikographischer Praxis. Tübingen: Niemeyer. (Lexicographica. Series Maior44), 165-243.

56

Mitar Pitzek

Malige-Klappenbach (1980) = Helene Malige-Klappenbach. Tiere als Lexeme. In: Werner Abraham (Hg.): Studien zur modernen deutschen Lexikographie. Ruth Klappenbach (1911-1977). Auswahl aus den lexikographischen Arbeiten, erweitert um drei Beiträge von Helene Malige-Klappenbach. Amsterdam: John Benjamins Β. V. (Linguistik Aktuell 1), 258-281. Pitzek (1996) = Mitar Pitzek. Zur Bedeutungserläuterung von Tierbezeichnungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen. [Mikrofiche], Marburg: Tectum (Edition Wissenschaft; Reihe Germanistik, Bd. 14). Reichmann (1984) = Oskar Reichmann. Historische Lexikographie. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hrsg. von Werner Besch, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger. 1. Halbband. Berlin. New York, 460-492. Schaeder (1987) = Burkhardt Schaeder. Germanistische Lexikographie. Tübingen: Max Niemeyer. (Lexicographica. Series Maior 21). Spieß (1982) = Gottfried Spieß. Tier- und Pflanzennamen in der allgemeinsprachigen Lexikographie. In: Hrsg. von Erhard Agricola / Joachim Schildt / Dieter Viehweger: Wortschatzforschung heute. Aktuelle Probleme der Lexikologie und Lexikographie. Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie Leipzig (Linguistische Studien), 221-235. Svensön (1993) = Bo Svensön. Practical Lexicography. Principles and Methods of DictionaryMaking. Translated from the Swedish by John Sykes and Kerstin Schofield. Oxford, New York: Oxford University Press. Viehweger (1988) = Dieter Viehweger. Die Makrostruktur des Lexikons. Theoretische Explikation und Darstellung im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch des Deutschen. In: Symposium on Lexicography IV. Proceedings of the Fourth International Symposium on Lexicography April 2022, 1988 at the University of Copenhagen. Ed. by Karl Hyldgaard-Jensen and Arne Zettersten. Tübingen: Niemeyer (Lexicographica. Series Maior 26), 7-31. Wiegand (1977) = Herbert Ernst Wiegand. Fachsprachen im einsprachigen Wörterbuch. Kritik, Provokationen und praktisch-pragmatische Vorschläge. In: Kongreßberichte der 7. Jahrestagung der Gesellschaft für angewandte Linguistik. GAL e. V. Trier 1976. Bd. III: Linguistik; Beschreibung der Gegenwartssprache. Hrsg. von Helmut Schumacher und Burkhard Leuschner. Stuttgart, 3965. Wiegand (1984) = ders. Noch immer in der Diskussion: Das einsprachige Bedeutungswörterbuch. In: Zeitschrift für Germanistik 5, Heft 1, 77-80. (1984a) = ders. Prinzipien und Methoden historischer Lexikographie. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hrsg. von Werner Besch, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger. 1. Halbband. Berlin. New York, 557-620. (1985) = ders. Eine neue Auffassung der sogenannten lexikographischen Definition. In: Symposium on Lexicography II. Proceedings of the Second International Symposium on Lexicography May 16-17, 1984 at the University of Copenhagen. Ed. by Karl Hyldgaard-Jensen and Arne Zettersten. Tübingen: Niemeyer (Lexicographica. Series Maior 5), 15-100. (1988) = ders. Was eigentlich ist Fachlexikographie? Mit Hinweisen zum Verhältnis von sprachlichem und enzyklopädischem Wissen. In. Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag von seinen Marburger Schülern. Hrsg. von Horst Haider Munske [u. a.]. Berlin. New York: de Gruyter, 729-790.

Anmerkungen zur lexikographischen

Bedeutungserklärung..

57

Wierzbicka (1988) = Anna Wierzbicka. The Semantics and Lexicography of „Natural Kinds". In: Symposium on Lexicography III. Proceedings of the Third International Symposium on Lexicography May 14-16, 1986 at the University of Copenhagen. Ed. by Karl Hyldgaard-Jensen and Arne Zettersten. Tübingen: Niemeyer (Lexicographica Series Maior 19), 155-182.

Herbert Ernst

Wiegand

Verschmelzungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen Brüder - überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen Qberm diesseits 's

h m m h

m (aufm) m (aufn) h, u

m

u h

DudenWDG GW

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einfache P-AVerschmel zung

beschränktspezielle P-A-Verschmelzung

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Herberl Ernst Wiegand

Verschmelzungsformen (nach Schaub 1979, er^Dudengänzt um Formen aus DeGrammatik denbach 1987) durchn durchs entgegen 'm entgegen 'n fiirn fürs gegen η gegens hinterm hintern hinter 'r hinters im in η in 'r ins jenseits 'r jenseits 's längs > längs 's mim mit m mit 'n nach 'm nach 'n nach 'r neben 'm neben 'n nebens ohne 'n ohne 's seit 'm seit 'n seit > seitens 's seitens V statt 'r statt 's trotz V trotz 's überm übern über 'r

m (durch'n) h. u

m (für'n) h, u m (gegen's) h, u u h, u h m h

m m

h, u h, u

einfache P-ADudenWDG Verschmel GW zung -

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beschränktspezielle P-A-Verschmelzung

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Verschmelzungen

in allgemeinen einsprachigen

Verschmelzungsformen (nach Schaub 1979, er3 Dudengänzt um Formen aus DeGrammatik denbach 1987) übers um 'n ums unterm untern unters unweit 'r unweit 's vom vom 'n von'r vorm vorn vor'r vors während > während's wegen 'r wegen 's zum zun zur zwischen 'm zwischen 'n zwischen V zwischens

h, u h, h, h, h,

u u u u

h

Wörterbüchern des Deutschen

einfache P-ADudenWDG Verschmel GW zung +

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beschränktspezielle P-A-Verschmelzung

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spezielle P-AVerschmel zung

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Abbildung 3 Tabelle mit der von Schaub (1979) und Dedenbach (1987) ermittelten P-AVerschmelzungen im Nhd., deren Varietätenzuordnung in der 3Duden-Grammatik, deren primärer Buchung im Duden-GW und WDG sowie deren Einordnung in die hier berücksichtigten Unterklassen von P-A-Verschmelzungen (vgl. zu letzteren Abb. 5); Verschmelzungsformen in der ersten Spalte, deren Formativ nicht halbfett realisiert ist, werden von mir als Allegroverschmelzungen eingestuft Die Allegroverschmelzungen werden im folgenden nur am Rande berücksichtigt. Bei den Lentoverschmelzungen soll eine weitere Differenzierung Berücksichtigung finden, und zwar die Unterscheidung von einfachen und speziellen Klitika (vgl. dazu Nübling 1992, 19 ff.). Da diese für die Gestaltung von Wörterbuchartikeln in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des gegenwärtigen Standarddeutsch m.E. bedeutsam ist, wird sie nachfolgend etwas näher erläutert, wenn auch in eingeschränkter Weise, weil nur bezogen auf den Bereich der P-A-Verschmelzungen. Dabei werden zugleich einige Ergebnisse der neueren Forschung korrigiert und durch differenziertere Vorschläge ersetzt.

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Herbert Ernst Wiegand

Die Unterscheidung von einfachen und speziellen Klitika betrifft bei den P-AVerschmelzungen zwei aufeinanderfolgende Stufen eines Sprachwandelprozesses, der bei i/-Artikeln zu beobachten ist; er beginnt mit Allegroverschmelzungen, fuhrt über Lentoverschmelzungen mit geringerem Grammatikalisierungsgrad, in denen der enklitische Artikel als einfaches Klitikon auftritt, zu Lentoverschmelzungen mit stärkerem Grammatikalisierungsgrad, in denen der enklitische Artikel entweder als beschränkt-spezielles oder als spezielles Klitikon zu gelten hat, und wird möglicherweise schließlich zum Flexiv weitergehen. Dieser Grammatikalisierungsprozeß (oder auch: Grammatisierungsprozeß) ist im gegenwärtigen geschriebenen und gesprochenen Deutsch bei verschiedenen dArtikelformen in verschiedenen Umgebungen unterschiedlich weit fortgeschritten, so daß synchron gesehen - derzeit folgende Formen nebeneinander auftreten. (i) (ii) (iii)

unverschmelzbare Artikelformen (vor allem die im Akk.), alle P-A-Allegroverschmelzungen der Liste in Abb. 3 alle einfachen P-A-Lentoverschmelzungen, die in Abb. 3 in der 5. Spalte mit „+" markiert sind (also: aufs, durchs, fürs, hinterm, hintern, hinters, überm, übern, übers, ums, unterm, unters, vorm, vors) (iv) alle beschränkt-speziellen P-A-Verschmelzungen, die in Abb. 3 in der 6. Spalte mit „+" markiert sind (also: arts, ins) (v) alle speziellen P-A-Lentoverschmelzungen, die in Abb. 3 in der 7. Spalte mit „+" markiert sind (also: am, beim, im, vom, zum, zur) (vi) unauflösbare (nichtsubstituierbare) P-A-Verschmelzungen vor dem substantivierten Infinitiv {am/* an dem Arbeiten; beim/* bei dem Lesen; im/* in dem Vorbeigehen·, im/* in dem Träumen; vom/*von dem Saufen; zum/*zu dem Kotzen) (vii) unauflösbare (nichtsubstituierbare) P-A-Verschmelzungen in Superlativformen (am/*an dem schönsten; im/* in dem höchsten Grad) (viii) unauflösbare (nichtsubstituierbare) P-A-Verschmelzungen in Phrasemen (etw. fürs/*für das Auge sein; wie die Faust aufs/* auf das Auge passen; ins/*in das Auge gehen; am/*an dem Drücker sitzen) (ix) unauflösbare (nichtsubstituierbare) P-A-Verschmelzungen in Funktionsverbgefiigen (zur/*zu der Aufführung bringen; ins/*in das Gerede kommen) (x) unauflösbare (nichtsubstituierbare) P-A-Verschmelzungen in sonstigen festen Syntagmen (Gasthaus zur/*zu der Goldenen Gans; am/*an dem Anger Nr. 7; im/*in dem September 1997; zum/*zu dem Weißen Rößt)

Als einfache Klitika gelten - grob gesprochen - unbetonte Varianten selbständiger betonter (oder wenigstens betonbarer) Vollformen, wobei erstere aus letzterer lautlich synchronisch ableitbar sind. Es besteht eine weitgehende semantische und syntaktische Ähnlichkeit zwischen dem einfachen Klitikon und seiner Vollform. Lentoverschmelzungen mit einfachem Klitikon nenne ich einfache Lentoverschmelzungen. P-A-Verschmelzungen mit einfachen enklitischen Artikeln nenne ich einfache P-A-Lentoverschmelzungen und benutze nachfolgend (wie schon in der Tabelle in Abb. 3) fast ausschließlich die Kurzform einfache P-AVerschmelzungen. Daraus ergibt sich, daß das einfache Enklitikon in einfachen P-AVerschmelzungen einfacher enklitischer Artikel genannt wird (z. B. =s in iiber=s). Soweit ich sehe, sind alle einfachen P-A-Verschmelzungen solche mit nichtreduzierter Basis (vgl. Abb. 3). - Wie die syntaktische und semantische Ähnlichkeit zwischen Vollform und einfachem enklitischem Artikel sich gestaltet, wird nachfolgend am Beispiel von das, der

Verschmelzungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen

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Vollform des neutralen Artikel im Akk., und =s in der einfachen P-A-Verschmelzung vors gezeigt. (Der Asterisk markiert im folgenden nicht, daß eine Form ungrammatisch ist, sondern daß sie nicht akzeptabel ist, und zwar in dem Sinne, daß sie nicht in syntaktischer, sondern in irgendeiner der anderen Hinsichten inkorrekt ist.) (la/b) (2a/b) (3a/b) (4a/b) (5a/b) (6a/b) (7a/b)

Klaus-Dieter bestellt für seine Gäste ein Taxi vors / vor das Institut in der KarlMarx-Str. Nr. 1. Auch Manfred wird vors / vor das Jüngste Gericht kommen. Die Demonstranten zogen vors / vor das Weiße Haus in Washington. Dieser Fall gehört vors / *vor das Gericht. Ewald schlägt entsetzt die Hände vors / *vor das Gesicht. Hartmut hat sich ein Haus gebaut; jetzt stellt er sein Fahrrad immer vor das / •vors Haus. Hartmut pflanzt Blumen vor das / *vors Haus, das er sich gebaut hat.

Die Beispiele (la/b)-(7a/b) zeigen: die Vollform das teilt die syntaktischen Distributionsregeln mit dem einfachen enklitischen Artikel =s in vors, denn die vier mit dem Asterisk markierten b-Sätze sind aus Gründen nicht akzeptabel, die nichts mit der Syntax des Deutschen zu tun haben. Dieses Ergebnis entspricht der älteren Ansicht Zwickys (vgl. Zwicky 1977), nach der die Distribution einfacher Klitika im Satz der ihrer Vollform entspricht. Nübling (1992, 22 f.) hat neuerdings anhand von deutschen Beispielen mit enklitischen Personalpronomina das syntaktische Austauschbarkeitskriterium für einfache Klitika und Vollformen modifiziert: Es heißt: „Die Vollform kann syntaktisch überall da auftreten, wo das einfache Klitikon steht, nicht aber umgekehrt." (Nübling 1992, 23); das bedeutet mithin, daß die Menge der syntaktischen Distributionsregeln des einfachen Klitikons eine echte Teilmenge der Menge der syntaktischen Distributionsregeln der Vollform ist. Die Festlegung Nüblings müßte allerdings für P-A-Verschmelzungen modifiziert werden, wenn man folgende Beispiele berücksichtigt: (8a/b) (9a/b)

Die Mäuse spielten unterm / * unter dem und hinterm Schrank. Die Mäuse spielten unterm und hinterm / 'hinter dem Schrank.

Man sieht, daß die Vollform dem keineswegs überall da auftreten kann, wo das einfache Enklitikon (hier der enklitische Artikel m) steht. Denn es gilt: Entweder werden zwei P-AVerschmelzungen mit und koordiniert oder zwei Ausdrücke, die aus einer Präposition bestehen, auf die eine Vollform unmittelbar folgt. Während in (8b) und (9b) m.E. der Asterisk zweifellos gerechtfertigt ist, ist das im folgenden Beispiel fraglich (daher „?"), denn m.E. sind (10b) und (1 lb) akzeptabel. (1 Oa/b)

(1 la/b)

Klaus Dieter stellt die Mülltonne vor das / *?vors - und nach den wütenden Zurufen Ewalds, der auf dem Nachbargrundstück gerade die Hecken schneidet - sofort hinter das Haus. Klaus Dieter stellt die Mülltonne vors - und nach den wütenden Zurufen Ewalds, der auf dem Nachbargrundstück gerade die Hecken schneidet - sofort hinters / •^hinter das Haus.

Da überzeugende Beispiele dafür nicht gefunden werden konnten, daß die von Nübling postulierte Teilmengenbeziehung für syntaktische Distributionsregeln auch für die Regel-

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Herbert Ernst

Wiegand

mengen von enklitischen Artikeln in einfachen P-A-Verschmelzungen und entsprechenden Vollformen des ^-Artikels gilt, wird nachfolgend davon ausgegangen, daß der einfache enklitische Artikel und seine Vollform die satzsyntaktischen Distributionsregeln weitestgehend miteinander teilen, so daß freie Austauschbarkeit gegeben ist mit der Besonderheit, daß bei Koordinationen mit und alle koordinierten Formen ausgetauscht werden müssen und mit der Einschränkung, daß P-A-Verschmelzungen, die in Phrasemen und sonstigen festen Syntagmen auftreten - wie allgemein üblich - bei Entscheidungsfragen über die Substituierbarkeit keine Berücksichtigung finden. Hinsichtlich der Semantik gelten für die Beispiele (la/b) bis (7a/b) die nun folgenden Charakterisierungen. Zunächst ist klar, daß bei der Enklise die Rektion der Präpositionen sich immer auf die präpositionale Basis der einfachen P-A-Verschmelzung vererbt, so daß vor allem die Frage zu behandeln ist, welche semantischen Funktionen der Vollformen des ^-Artikels auch der einfache enklitische Artikel aufweist. In (la/b) sind sowohl der einfache enklitische Artikel =s als auch die Vollform das mit der spezifischen Interpretation des Nominals der Präpositionalgruppe verträglich; 4 beide Formen zeigen Definitheit des Bezugsgegenstandes an. Entsprechendes gilt auch für =s, =m und =« in anderen einfachen P-A-Verschmelzungen. Man vergleiche: (12a/b) (13a/b) (14a/b) (15a/b)

Klaus-Dieter parkt vorm / vor dem Haus Undines. Ewald fliegt übers / über das Grundstück von Renate. Die Kugel rollt untern / unter den Tisch im Nebenzimmer. Hartmut und Dieter gehen zusammen durchs / durch das Arbeitszimmer, das Bärbel gehört.

In (2a/b) und (3a/b) sind sowohl =s als auch das korrekt; das Nominal der Präpositionalgruppe wird jeweils monosemantisch interpretiert, wobei hier (mit Schellinger 1988, 217) unter einer monosemantischen Interpretation eine Interpretation verstanden wird, in der die spezifische und generische Interpretation eines Nominals zusammenfallen, was immer gerade dann der Fall ist, wenn das Nominal etwas bezeichnet, das - nach den Wissensbeständen der beteiligten Kommunikanten (und nicht etwa nur im Sinne eines allgemeingesellschaftlichen Wissens) etwas Einzigartiges (ein Unikat, ein Monosemantikum) ist. Was anhand von (2a/b) und (3a/b) ausgeführt wurde, gilt entsprechend für das Verhältnis von das, dem, den und =s, =m, =n als enklitischen Artikeln in anderen einfachen P-AVerschmelzungen. Man vergleiche: (16a/b) (17a/b) (18a/b) (19a/b)

Manfred und Ewald unterhalten sich übers / über das Bundesverfassungsgericht. Das Raumschiff befindet sich jetzt vorm / vor dem Mond. Hinterm / hinter dem Papst standen die Kardinäle. Übern / über den Heiligen Vater sollte man nicht lachen.

Bereits nach den Feststellungen zu ( l a / b ) - ( 3 a / b ) und denen zu den Zusatzbeispielen (12a/b)-(19a/b) ist klar, daß es offenbar nicht zutreffend ist, wenn Schellinger (1988, 216) 4

Unter dem Nominal einer Präpositionalgruppe verstehe ich das von der Präposition oder der P-AVerschmelzung hinsichtlich des Kasus regierte Nominal. Der Terminus Präpositionalgruppe läßt offen, ob diese in adverbialer, attributiver oder Objektfunktion verwendet wird.

Verschmelzungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen

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- wie vor ihm schon Hinrichs (1984, 129) - behauptet, „daß die Verschmelzungsform [gemeint ist der enklitische Artikel; H. E. W.] und der nichtverschmolzene definite Artikel semantisch in komplementärer Distribution stehen." Vielmehr gilt diese Behauptung allenfalls - wie wir noch genauer sehen werden - wenn der enklitische Artikel als spezielles Enklitikon einzustufen ist und damit für die speziellen P-A-Verschmelzungen. Nach Ausweis der Beispiele (die sich beliebig und darüber hinaus so vermehren lassen, daß Beispiele für alle einfachen P-A-Verschmelzungen vorliegen) gilt vielmehr, daß sowohl bei spezifischer als auch bei monosemantischer Interpretation die Vollformen des dArtikels und der einfache enklitische Artikel in einfachen P-A-Verschmelzungen semantisch in äquivalenter Distribution stehen, so daß Schellingers Behauptung, daß bei monosemantischer Interpretation die Verschmelzungsform obligatorisch ist, ebenfalls falsch ist. Die äquivalente Distribution ist nicht gegeben - wie (4a/b) zeigt - bei generischer Interpretation; hier ist die Verschmelzung (und damit der enklitische Artikel) obligatorisch, so daß =s und das semantisch komplementär distribuiert sind. Schließlich zeigen (6a/b) und (7a/b), daß nur die Vollform des d-Artikels phorisch gebraucht werden kann, und daß anhand des enklitischen Artikels in einfachen P-AVerschmelzungen deutlich und eindeutig weder anaphorische noch kataphorische Bezüge erschlossen werden können, was mit dem unterschiedlichen Skopus (i. S. v. Lehmann 1985) der Vollformen des i/-Artikels und des enklitischen Artikels zusammenhängt (vgl. unten). Die Ergebnisse zur Semantik von Vollformen des (/-Artikels im Vergleich mit den enklitischen Artikeln in einfachen P-A-Verschmelzungen können nun in Abb. 4 in eine Übersicht gebracht werden. Interpretationsarten spezifisch

monosemantisch

generisch

phorisch

o.k.

o.k.

nicht o.k.

o.k.

o.k.

o.k.

o.k.

nicht o.k.

Formen ^ Vollformen des ^-Artikels enklitischer Artikel in einfachen P-AVerschmelzungen

V

J " v /alenr äquivalente Distribution

~;—TV" komplementäre Distribution

Abbildung 4 Übersicht zur semantischen Distribution der Vollformen des ^-Artikels und der enklitischen Artikel in einfachen P-A-Verschmelzungen innerhalb von Präpositionalgruppen; „o.k." bedeutet soviel wie ist korrekt Im folgenden muß nun auf die speziellen Klitika eingegangen werden. Im Unterschied zu den einfachen gibt es zu den speziellen Klitika entweder keine Vollform oder eine, aus welcher das Klitikon nicht lautlich synchron ableitbar ist. Bei den P-A-Verschmelzungen im Deutschen ist letzteres der Fall. Lentoverschmelzungen mit speziellem Klitikon heißen spezielle Lentoverschmelzungen. P-A-Verschmelzungen mit speziellem enklitischen Artikel

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Herbert Ernst Wiegand

nenne ich spezielle P-A-Lentoverschmelzungen und benutze nachfolgend (wie schon in der Tabelle in Abb. 3) die Kurzform spezielle P-A-Verschmelzung. Nach meiner Auffassung ist bei ans und ins der Sprachwandelprozeß gerade soweit fortgeschritten, daß keine einfachen P-A-Verschmelzungen mehr vorliegen aber auch noch keine speziellen P-AVerschmelzungen gegeben sind, so daß - wie unten näher demonstriert wird - ans und ins eine Zwischenstufe repräsentieren; ich spreche in diesem Fall von eingeschränkt speziellen P-A- Verschmelzungen. Die zuletzt eingebrachten Unterscheidungen sind in Abb. 5 in eine Übersicht gebracht. (vgl. Abb. 2)

Präposition-Artikel-Verschmelzung (kurz: P-A-Verschmelzung)

P-A-Allegroverschmelzung

einfache P-ALentoverschmelzung (kurz: einfache P-AVerschmelzung)

nichtre-\ duzierte l Basis

P-A-Lentoverschmelzung

eingeschränkt spezielle P-A-Lentoverschmelzung (kurz: eingeschränkt spezielle P-A-Verschmelzung)

/einfacher nichtreI enklitischer duzierte Artikel Basis

ingeschränkt . ,, spezieller r enklitischer Artikel

spezielle P-ALentoverschmelzung (kurz: spezielle P-AVerschmelzung)

, . ,> reduzierte oder . , . . nichtreduzierte Basis

spezieller enklitischer Artikel

Abbildung 5 Zweite Veranschaulichung zu terminologischen Unterscheidungen bei den P-A-Verschmelzungen; „-»" bedeutet soviel wie ist eine Teilklasse von; „=>" bedeutet soviel wie ist ein Teil von; „— Obermann (I) gesprochenes Recht, were sache, dat sy ... nyet eyndrechtich werden en k°nden ..., so sollen sy van beiden syden mallich yrre partien ... oevergeven unsme oyvermanne ... de sich ... verbinden sali o e v e r r e c h t daroever zo sprechen 1391 Ennen, QKöln VI 67. IIL im PL: Gerichtsbarkeit, so R. beweiset het das jme die o b i r r e c h t aldo zugehörig ... sein jme dieselbigen ... oberkant 1511 GörlitzRatsAnn. I/II 152. IV. Gericht(sversammlung) in Schlesien. 1. ständisches Schiedsgericht; vgl. Fiuaemechi (in 2). ot>er (» belangend die auflegung, im o b e r r e c h t zu Breslau zu siezen und das sie auf keinen furstentag ... zue schicken vorpflicht sein 1539 CDSiles. 27 S. 194. besuechung der furstentag, besetzung des o b e r r e c h t e n s 1562 ebd. 211. das ... der herr bishoff zu Presslaw ... dem altten prauch nach alhier... das o b e r r e c h t ... gehalten 1563 Zivier,SchlesBgw. 125. personalia, & realia, sollen vor dem o b e r und f u rsten-recht tractiret werden, wann auch der k ο nig von Β ο heimb selbst wider einen schlesischen f u r s t e n zu thaidigen h ä tte 1738 Friedenberg, TractJurPract. I 1 S. 2. das o b e r r e c h t wird zu Breßlau auf dem rathhauß gehalten, und all-j4 hrlich 2. mahl ... ober-ambtlich a b geschrieben ebd. - - 2 .in Schweidnitz-Jauer: fiir Landes-, Lehns- und Vormundschaftssachen zuständiges Gericht; vgl. Manngcricht (II). ZwOirerrecht; iS vgl. Freitag,schiesBchw. j3. bey dem koen. zweifer- oder ob e r r e c h t 1556 CDSiles. 27 S. 205. vom o b e r und zw ο IfFerrecht in denen f u rstenthu mern Schweidnitz und Jauer 1738 Friedenberg, TractJurPract. I2S.1. V. Ubergeordnetes Gericht, - » Obergericht (II), w u r d e jnen aber,... die appellation nachgegeben vnd erhielten im ° b e r r e c h t e n auch nichts 1583 SiebbLR. 111 Art. 5. weitere Belege: 1547 Mannrecht (III 1), 1581 Niederrecht (II), 1601 Langrecht. VI. Berufung an das —> Oberrecht (V). geschehen dieses dictum [Urteil] doch mit vorbehält deß o b e r r e c h t s 1649 MittNordbExk. 28 (1905) 290. VII. wie -> Obergerechtigkeit, nutzbarliche o b e r r e c h t und gerechtigkeit, gef&lle, Zinsen 1560 Hirschhom/GrW. 1443. unsers ertzstifts ... gebührende o b e r r e c h t und gerechtigkeit 1580 TrierWQ. 73. üm welches willen W. ... herrn H. ... und G. ... daß höheste gericht zu Z. ... Ubergeben, ihme vorbe haltlich des o b e r r e c h t s , das sie seine manne und lehn-leute seyn sollen um 1712

Oberrecht Wortklasse: Neulnim Lcmmavariante: Obcrrechlc(n) Lemmavariante: Überrecht Belege zu Oberrccht

Oberrecht-l.O ΕΛ Lining Rcchtssammlting Belege zu OberTCcht· 1.0

0berrecht-2.0 Erklärung: von einem Obermann (l)gesprochenes Recht Verweis aus Erklärung: Obermann-1.0 Belege zu Oben*cht-2.U

0berrecht-3.0 Erklärung: im PI.: Gerichtsbarkeit Belege zu ObenechtO ll

0berrecht-4.0 Erklärung: Gerickt(svcrsammlung) in Schlesien Belege zu Oberrecbt-4.0

Oberrecht-4.1 Erklärung: ständisches Schiedsgericht Vergleiche: FQistcnrcdit-3.2 Vergleiche: ober-a-5.0 Belege zu Oberrecht-4.1

Oberrecht-4.2 Erklärung: in Schweidnitz-Jauer für Landes·, Lehns- und VonnundschaAssachen zustflndiges Gericht Vergleiche: Mann «rieh ι-2.0 Vergleiche: Zwölfencchl Beleee zu ObcrrechM.2

0berrecht-5.0 Erklärung: abergeordnetes Gericht, Obergericht (II) Verweis aus Erklärung: Obergericht-2.0 Belege zu Oborccht-5.0

Phraseologie

und Lexikographie

im

Internet

Westphaien.Mon. III 1944. das o b e r r e c h t ü b e r die lA nder, welche er [Wallenstein] erobern w u rde / 735 Fuhrmann, Öst II 430. VIII. Anrecht auf eine zusätzliche Zahl der zu fordernden Reinigungseide, hversa thi mon end thet vif eider otherum kase tigat, sa undriuchte hiu him thes tichta er; sa wint hiu mitha erra riuchte hire urbote jeftha hire u r r i u c h t [wenn ein Mann und eine Frau sich gegenseitig einer Schlägerei bezichtigen, so schwöre sie sich vor ihm von der Klage frei; dann erwirbt sie mit ihrem Erstrecht ihre Zuschlagsbuße oder ihren Anspruch auf eine zusätzliche Zahl der (vom Gegner zu leistenden) Reinigungseide] um 1300 HunsingoR. 80. IX. das Überschreiten der vom Recht gesetzten Grenzen, maer dits mi comen in den rade, / dat icker omme achterlate / te prisene, di bi hären onmate, / bi overmoede ende bi o v e r r e c h t , / willens comen in ghevecht nach 1304 Stoke Χ V. 143.

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Oberrecht-5.B Belege zu Obarccht-VB

0berrecht-7.0 Erklärung: wie Obergerechligkeil Verweis aus Erklärung: Obergerechtigkelt Belege zu Oberrecht-7.0

0berrecht-8.0 Erklärung: Anrecht auf eine zusätzliche Zahl der zu fordernden Reinigungsddc Belege zu Obcnccht-8()

0berrecht-9.0 Erklärung: das Überschreiten der vom Recht gesetzten Grenzen Belege zu Oberrecht-9.0

Abbildung 2 Wörterbuchartikel Oberrecht (links aus: DRW 1997:164 f.) und (rechts aus: DRW Demoversion/ohne Belege) in Gegenüberstellung

Die wenigen deutschen einsprachigen originären WWW-Wörterbücher haben nicht den gesamten Wortschatz der deutschen Sprache zum Gegenstand. Sie wenden sich vielmehr einzelnen Wortschatzbereichen zu, die von den gedruckten Wörterbüchern bis jetzt zum Teil unberücksichtigt geblieben oder nur am Rande behandelt worden sind. Aus streng lexikographischer Sicht können diese Online-Wörterbücher auch nur als Ansätze angesehen werden. Es herrscht darin das Bestreben, dem Internetbenutzer so viele Informationen wie möglich auf Kosten der Qualität zu geben. Dem wirkt derzeit nur ein Selbstregulierungsmechanismus entgegen, der sich darin äußert, daß Fehler oder Ungenauigkeiten durch die Netzgemeinschaft selber korrigiert werden. Es fehlt darüber hinaus an Kriterien der Wortauswahl, -erklärung und -anordnung eines originären elektronischen Wörterbuches. Besonders in bezug auf die Struktur werden neue lexikographische Standards benötigt, denn der Hypertext erlaubt, wie schon dargestellt, das Vernetzen jedes einzelnen Wortes mit Texten, Bildern, Graphiken usw. Diesbezügliche Normen werden sich allerdings erst im Laufe der Zeit durch die Praxis herausbilden. Als Beispiele für einsprachige originäre WWW-Wörterbücher des Deutschen aus der durchgeführten Recherche werden im folgenden ein Internet-Glossar, ein Autorenwörterbuch, ein Konjugationswörterbuch und ein Ost-West-Wörterbuch vorgestellt. Anschließend wird auch eine Liste weiterer deutscher Spezialwörterbücher diesen Typs angeboten. Das Medium Internet hat auch seine eigene Terminologie, die vornehmlich aus dem technischen Englisch kommt. Mit der Verbreitung von Internet wurde es notwendig, diese Terminologie zusammenzustellen und für den Nichtinformatiker und für den nicht Englischmächtigen zugänglich zu erklären. So entstanden die Internet-Glossare, die inzwischen auf alle europäischen Sprachen online zu finden sind. Eine der deutschen WWWVersionen, das Internet-Glossar der agentur commando GbR Internet-Services. OnlineDokumentation (URL: http://www.commando.de/glossar/index.htm), umfaßt 1.032 Begriffe und Abkürzungen, die mit dem Internet und der globalen Datenübertragung in Zusammenhang stehen. Eine ganze Reihe der darin vorhandenen Stichwörter, wie „Browser", „Ho-

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Diana Stantcheva

mepage", „Hypertext", „Netiquette", „Posting", sind bislang in keinem deutschen PrintBedeutungswörterbuch zu finden, obwohl sie auch von vielen Nichtspezialisten in ihrer täglichen Kommunikation gebraucht werden*. Das Glossar ist als Hypertext aufgebaut. Als Links fungieren die Buchstaben des Alphabets. Unter dem entsprechenden Buchstaben sind die Stichwörter alphabetisch angeordnet. Der Wörterbuchartikel enthält das Lemma und die Bedeutungserklärung. Die Lemmata sind leider ohne bestimmten Artikel aufgelistet, etwas, was im Hinblick auf die Tatsache, daß diese Wörter selten deutscher Herkunft sind, zur Folge hat, daß man bei manchen Wörtern nicht weiß, ob sie nun feminin, maskulin oder neutral sind. Die in den Bedeutungserläuterungen verwendeten Stichwörter agieren gleichzeitig als Links. Falls sie dem Glossarbenutzer nicht geläufig sind, kann er sich durch Anklicken automatisch deren Bedeutung anzeigen lassen. So ist z. B. in der Bedeutungserklärung zu „Netzwerkprotokoll" - „Ein Protokoll, das den Datentransfer in Netzwerken ermöglicht" das Stichwort „Protokoll" unterstrichen, und wenn es angeklickt wird, erscheint automatisch dessen Bedeutungserklärung „ Ein Satz von Regeln und Vereinbarungen, der den Informationsfluß in einem Kommunikationssystem steuert. Kann sich sowohl auf Hardware wie auf Software beziehen. Wird in der Datenübertragung häufig als Kurzform für Übertragunzsprotokoll verwendet. " In dieser Bedeutungserläuterung sind ihrerseits die Stichwörter Hardware, Software und Übertragungsprotokoll unterstrichen, und der Benutzer kann, wenn er es wünscht, schnell mit den entsprechenden Lemmata verknüpft werden. Das Glossar ist im Aufbau begriffen, und jeder, der einen weiteren Begriff hinzufugen oder eine der vorhandenen Erläuterungen erweitern möchte, kann seinen Vorschlag per EMail an die Autoren schicken. Unter dem im Internet vorhandenen deutschen WWW-Wörterbüchern befindet sich auch ein Autorenwörterbuch. Das Thomas-Mann-Gymnasium Stutensee bei Karlsruhe unterhält in Zusammenarbeit mit der Universität Karlsruhe eine Thomas-Mann-Page (URL: http://www.ciw.uni-karlsruhe.de/tmg_www/tmpage.html). Die Seite enthält neben bibliographischen Informationen über Thomas MANN und seine Familie sowie einer Auflistung seiner Werke auch ein 21 Din-A4-Seiten großes Thomas-Mann-Wörterbuch. Das Autorenwörterbuch ist als Gesamtwerkwörterbuch geplant und berücksichtigt bis jetzt 19 Werke aus der schriftlichen Hinterlassenschaft des Autors, wie den Roman „Buddenbrooks", die Novellen „Mario und der Zauberer", „Der Tod in Venedig" und literaturwissenschaftliche Arbeiten wie „Goethes Werther", „Goethes Laufbahn als Schriftsteller" usw. Das Wörterbuch enthält Nomina propria (Namen historischer Personen „Machiavelli", „Manzoni"\ mythologische Namen „Kali", „Jupiter", „Indra"), Fremdwörter („Indifferenz", „infam"), Archaismen („Kabinett", „Kavalier", „Kaufschilling") und Fachwörter („kataleptisch ") aus dem individuellen schriftstellerischen Wortgebrauch Thomas MANNS. Der Wörterbuchartikel besteht aus dem Lemma (ohne bestimmten Artikel), der Bedeutungserläuterung und einer Abkürzung des Werkes, in welchem das Lemma verwendet wurde, z. B. „Perron Bahnsteig, Plattform (ebu)"m. Der hohe Stellenwert, der in einem Autorenwörterbuch der Belegung zukommt, ist hier leider nicht berücksichtigt. Es fehlen vollständige Belegnachweise, Textzitate sowie genaue Frequenzangaben. *

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Als Ausnahmen von dieser Feststellung können die Wörter „ E-Mail", „ Mailbox", „ User" genannt werden, die im DUDEN, Bd. 1 „Rechtschreibung der deutschen Sprache" 1996 und im W A H R I G 1997 erfaßt sind. Die Abkürzung (ebu) steht für Thomas MANNS Erzählung „Das Eisenbahnunglück"

Phraseologie und Lexikographie im Internet

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Die jungen Lexikographen aus dem Thomas-Mann-Gymnasium geben selber zu, daß sich die Arbeit mühsamer gestaltet als erwartet. Sie begründen dies mit der Vielzahl der Wörter, der Abgrenzung der bekannten von den weniger bekannten Wörtern sowie der Tatsache, daß manche Wörter bei Thomas Mann eine andere Bedeutung haben und sich oft nicht nur mit einer Zeile erklären lassen. Ein anderes deutsches originäres WWW-Wörterbuch ist ein Konjugationswörterbuch. Voraussetzung für die Existenz der Konjugationswörterbücher ist eine gewisse Unregelmäßigkeit in der Morphologie. So stellt dieser Wörterbuchtyp im Deutschen, Französischen, Spanischen, Italienischen und Portugiesischen ein unentbehrliches Hilfsmittel zum Formenerlernen und zur Textproduktion dar, weil die Verbparadigmen zu den größten Schwierigkeiten im Lernprozeß dieser Sprachen als Fremdsprache gehören. Ein solches PrintWörterbuch für das Deutsche ist z. B. das 1972 in New York erschienene „501 German Verbs. Fully conjugated in all the tens. Alphabetically arranged'' von Henry STRUTZ. Im Internet bietet die 1979 in Modena gegründete italienische Übersetzungsagentur LOGOS unter anderem auch ein elektronisches Konjugationswörterbuch für Deutsch an (URL: http://www.logos.it/verbi/verbi.html). Es konjugiert starke, unregelmäßige und schwache Verben in allen Tempus- und Modusformen. Dieses Nachschlagewerk funktioniert nach dem Prinzip der zweiteiligen Konjugationswörterbücher mit dem Unterschied, daß hier ein Verb statt mit Hilfe der üblichen alphabetischen Verbliste per Mausklick seinem Paradigma zugewiesen wird. Die Flexionsmuster sind in tabellarischer Form dargestellt, gruppiert zuerst nach Modus und dann nach Tempus. Dieses Konjugationswörterbuch ist von einigen Tippfehlern und Verwechslungen in den grammatischen Bezeichnungen mancher Modi abgesehen ein nützliches und frei zugängliches Hilfsmittel für alle, die Deutsch als Fremdsprache lernen. Die Notwendigkeit eines solchen Konjugationswörterbuches der deutschen Verben wird noch mehr durch die Tatsache verstärkt, daß die gedruckten deutschen einsprachigen Bedeutungswörterbücher nicht die vollen Verbparadigmen enthalten. Eher ein Kuriosum als ein Nachschlagewerk stellt das deutsche Ost-West-Wörterbuch im Internet dar (URL: http://wwwwbs.cs.tu-berlin.de/~alalalal/dictionary.html). Unter dem Motto „... und trotzdem schafft die kulturelle Mauer noch heute viele Verständigungsprobleme" werden darin 174 „neufünfländische" Wörter und Wendungen zusammengetragen und mit viel Humor, Selbstironie und ein bißchen DDR-Nostalgie in „Bundesdeutsch" erklärt. Darunter sind DDR-Wörter und -Wendungen zu finden, die inzwischen zu Historismen geworden sind, wie „Bückware", „Tal der Ahnungslosen", „Elternaktiv" oder solche, wie z. B. „Weiße Maus", „Fahrerlaubnis", „Seilschaften", „umrubeln", „urst", „Knast haben", „(bei der) Asche (sein)", „(zur) Fahne (gehen)", für die ein westdeutsches Wort existierte und sich inzwischen als gesamtdeutsch durchgesetzt hat. An diesem Wörterbuch wird, wie an vielem im Internet, weiter gearbeitet, und jeder, der ein paar Wörter beisteuern will, kann dies per E-Mail an den Wörterbuchautor tun. Im folgenden wird eine nicht kommentierte Liste mit Adressen weiterer einsprachiger deutscher, ausschließlich im Internet vorhandener Spezialwörterbücher gegeben. Solche Terminologiesammlungen sind besonders interessant für Übersetzer, die in der Regel dazu gezwungen sind, sich im Prozeß der Arbeit ihre eigenen Sammlungen anzulegen, weil sie sonst schwer zu beschaffen sind. Um den Rahmen nicht zu sprengen, kann hier auf sie nicht näher eingegangen werden:

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Α - Ζ (Studentensprache) (URL: http://www.tu-chemnitz.de/stud/fibel/lexikon.html) Bierlexikon (URL: http://www.bier.de/b-040d.html) BMW Technik Lexikon (URL: http://www.bmw.de/lexikon/lexikon.htm) Das Schuh- und Lederlexikon (URL: http://www.hds-schuh.de/2trendl8.htm) Fachgebärdenlexikon Psychologie (URL: http://www.sign-lang.uni-hamburg.de/projects/Psych Lex. html) Heimwerker-Lexikon (URL: http://www.bau-markt.de/sidm/heimwerker-lexikon/index.htm) Kleines ABC des Internets (URL: http://www.vid-immobilien.de/abc/abc.htm) Kleines Hydrologielexikon (URL: http://wwwbzs.tu-graz.ac.at/terms/hydro/hydrologielexikon.html) Kleines Immobilienlexikon (URL: http://www.vid-immobilien.de/lexikon/lexikon.htm) Lexikon der Ozonzerstörung (URL: http://www.hagen.de/OZON/ozon_gl.htm) List and Glossary of Medical Terms: German (URL: http://allserv.rug.ac.be/~rvdstich/ eugloss/ DE/lijst.html) Rheuma-Lexikon (URL: http://www.rheuma-zentrum.com/abc/abc.htm) TermFinance Finanzglossar (URL: http://finance.wat.ch/TermFinance/ge) Waldbauliche Terminologie. Fachwörter der forstlichen Produktion (URL: http://www. dbai. tuwien. ac. at/staff/dorn/Projects/FIW/wbterm. htm)

2.2. Zweisprachige Wörterbücher mit Deutsch als Ziel- bzw. Ausgangssprache Im Internet ist auch eine ganze Reihe von zweisprachigen Wörterbüchern zu finden, die das Deutsche als Ziel- bzw. Ausgangssprache haben. Die meisten davon sind Übersetzungswörterbücher für das Sprachenpaar Deutsch - Englisch. Darunter sind sowohl elektronische Ausgaben zu gedruckten Standardwerken als auch solche, die ausschließlich im Internet angeboten werden. Die Internetversion des Langenscheidts Handwörterbuchs Englisch-Deutsch und Deutsch-Englisch gehört zu der ersten Kategorie (URL: http://www.gmsmuc.de/look.html). Sie bietet Wörter und Wendungen aus dem gegenwärtigen Wortschatz der englischen und der deutschen Sprache (siehe Abb. 3). Als Probeversion stehen ihr allerdings nicht alle Möglichkeiten zur Verfügung, die man in der Handbuch-Vollversion nutzen kann. Das Suchergebnis beschränkt sich ζ. B. auf 2.048 Zeichen pro Begriff. Das Nachschlagen funktioniert durch Eintragen des gesuchten Wortes in das dafür vorgesehene Kästchen (Suchmaske). Das Wort muß dabei nicht unbedingt in der Grundform eingegeben werden. Das Programm findet es, auch wenn es im Plural statt im Singular oder als konjugierte Verbform statt im Infinitiv eingetippt wird. Die Suche wird per Mausklick gestartet. Außer im Wörterbuch kann man noch in dem dazu integrierten deutschen Übersetzungsarchiv nachschlagen (siehe Abb. 4), das alle gespeicherten englischen bzw. deutschen Wörter und Wendungen, leider auch Homonyme herausfiltert. Regen m rain; heute kommt noch Regen we're in for some rain today; wir sind in den Regen gekommen we got caught in the rain; übertragen ein warmer Regen a windfall; jemanden im Regen stehenlassen leave someone in the lurch; vom Regen in die Traufe kommen jump out of the frying pan into the fire; auf Regen folgt Sonnenschein things always brighten up again => sauer I

Phraseologie und Lexikographie im Internet

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Suche nach Regen im deutschen Übersetzungsarchiv Hier finden Sie weitere Informationen Zur Übersetzungsseite: Zurück zur GMS Homepage; Neu: T1 Professional (C) 1997 GMS; Kommentare, Anregungen oder Fragen an [email protected] Abbildung 3 Wörterbuchartikel Regen (aus: Langenscheidts Handwörterbuch Deutsch/ Englisch Demoversion) der Regen dauert an it's still raining anhaltender Regen continuous (oder persistent) rainfall er regt mich auf (ärgert mich) he gets on my nerves

es sieht nach Regen aus it looks like rain (oder as if it's going to rain) feiner Regen (light) drizzle gebietsweise Regen local showers

heftiger Regen heavy rain(fall) oder showers wegen läppischer zehn Mark regt er sich auf he makes a fuss about a measly ten marks

leichter Regen (Schnee) light rainfall (snowfall) peitschender Regen (Wind) lashing rain (winds)

Abbildung 4 Auszug aus der Suchabfrage nach Regen (aus: dem deutschen Übersetzungsarchiv zu Langenscheidts Handwörterbuch Deutsch/Englisch - Demoversion). Aufteilung in Spalten von mir. D. S.

Ein anderes deutschoenglisches Wörterbuch Leo Dictionary gehört zur zweiten Kategorie Wörterbücher, die im Internet entstehen (URL: http://www.leo.org/cgi-bin/dict-search). Es enthält über 170.000 Einträge. Das Wörterbuchvolumen wird durch die Benutzer ständig erweitert. Jeder, der ein Wort nicht findet, ist aufgefordert, dies der „Redaktion" per E-Mail mitzuteilen, die sich dann um Ergänzung bemühen wird. Deutsch-englische Wörterlisten mit Erweiterungsvorschläge sind ebenfalls erwünscht. Da die einzelnen Abschnitte des Wörterbuches von verschiedenen Personen bearbeitet werden und nicht einheitlich sind, werden jederzeit auch Freiwillige zur Verbesserung der Wörterbucheinträge gesucht (wie z. B. bei der Kennzeichnung der britischen bzw. amerikanischen Ausdrücke, der Artikel im Deutschen, sowie bei der Auflösung der deutschen Umlaute und des ß). Auf eine Anfrage im Wörterbuch kann man bis zu 100 Treffer, falls so viele vorhanden sind, bekommen. Darunter sind leider auch Homonyme und Wiederholungen. Das Leo Dictionary bietet seit einigen Monaten zusätzlich auch einen Übersetzungsdienst (Mail Interface) an. Per E-Mail kann man dort Texte nicht länger als 10 Zeilen ä 80 Buchstaben übersetzen lassen. Das letzte der Wörterbücher, das an dieser Stelle vorgestellt wird, ist zwar ein zweisprachiges, allerdings kein deutsches Nachschlagewerk. Es wird aber hier trotzdem erwähnt, weil es eines der wenigen im Internet vertretenen Sprichwörter-Wörterbücher" ist. Davon 11

Ein anderes im Internet präsentes zweisprachiges Sprichwörter-Wörterbuch ist die Sammlung von 12.700 estnischen Sprichwörtern mit der buchstäblichen Übersetzung ins Deutsche (URL: http://haldjas.folk.lore. ee/rl/date/saksa/index. html).

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war bereits beim elektronischen book publisher De Proverbio die Rede. Die elektronische Ausgabe zur zweiten Auflage des bei Teopa, Bukarest erschienenen English-Romanian Dictionary Of Equivalent Proverbs umfaßt 1.454 Einträge (über den book publisher De Proverbio zu erreichen URL: http://www.deproverbio.com/DPbooks). Makrostrukturell ist sie ebenfalls als Hypertext aufgebaut, das aus drei Knoten (die Buchstabenstrecken A-E, FM, N-Y) besteht. Innerhalb der Buchstabenstrecken ist der Aufbau des Print-Wörterbuches beibehalten. Die Sprichwörter werden in der Regel alphabetisch nach dem ersten Substantiv/Adjektiv/Adverb, wie z. B. „anger is a short madness" unter „a" -„anger", manchmal aber auch nach ihrem semantischen Kern, wie ζ. Β „men are not angels" unter „a" - „angels " statt unter „m" - „men" erfaßt. Diese makrostrukturelle Inkonsequenz des Wörterbuches spielt hier trotzdem keine Rolle, denn der Browser ermöglicht ein schnelles Suchen und sicheres Auffinden der gewünschten Wörterbucheinträge. Somit entfällt im elektronischen Wörterbuch das lexikographische Problem der makrostrukturellen Zuordnung von Lemmata mit mehrgliedriger Struktur12. Die Suche kann darüber hinaus in zwei Richtungen, von der Ausgangssprache Englisch zur Zielsprache Rumänisch und umgekehrt, gestartet werden. Dies ist ein deutlicher Unterschied zu den gedruckten Wörterbüchern, bei denen das Suchen in diesem Fall nur vom Englischen her möglich gewesen wäre. Durch diesen weiteren Vorteil der elektronisch angebotenen gegenüber den Print-Wörterbüchern wird der Kreis der Wörterbuchadressaten von vornherein erweitert. Der Wörterbuchartikel enthält das sprichwörtliche Lemma im Englischen, das rumänische Äquivalent sowie andere englische Sprichwörter mit ähnlicher Bedeutung. Die Möglichkeit, das Wörterbuch auf der Festplatte zu kopieren (was übrigens bei den anderen in diesem Beitrag erwähnten Wörterbüchern auch machbar ist), erlaubt zusätzlich einen besseren individuellen Umgang mit dem Wörterbuchverzeichnis, wie ζ. B. Hinzufügen von eigenen Notizen und Ergänzungen. 2.3. Lexikographische Dienstleistungen Über das Internet werden auch Dienstleistungen angeboten, die aus lexikographischer Sicht besonders für die Erstellung von Text- und Lemmakorpora, als Recherche-Möglichkeit für die Forschung oder als Belegquellen für den Wörterbuchmacher vom Interesse sind. So bietet ζ. B. das Institut für deutsche Sprache über das COSMAS-Recherchesystem einen Zugang zu seinen umfangreichen Korpora der geschriebenen und der gesprochenen Sprache (URL: http://www.ids-mannheim.de/~cosmas/). Darunter befinden sich historische, literarische und Zeitungskorpora mit einem Gesamtumfang von ca. 73,5 Millionen laufenden Wortformen (im Dezember 1996). Wissenschaftler können ein halbes Jahr lang kostenlos in diesen Korpora recherchieren. Ansonsten steht eine vorläufige Beta-Version des Recherche-Programms gebührenfrei zur Verfügung, bietet aber nur eingeschränkte in der Dauer und im Umfang Suchmöglichkeiten (siehe Abb. 4). Ein anderer Anbieter von lexikographischen Dienstleistungen ist das Institut für maschinelle Sprachverarbeitung - Computerlinguistik - an der Universität Stuttgart (URL: 12

Gemeint ist das oft diskutierte Problem, unter welchem Lemma, Sprichwörter, Idiome im gedruckten Wörterbuch aufzuführen sind (vgl. BURGER 1982:37-39 und 62).

Phraseologie

und Lexikographie im Internet

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http://www. ims. uni-stuttgart.de/services/lexcorp/lex-services/lex-services. html). Zusätzlich zur Nutzung des vorhandenen Korpusabfragesystems können hier auf Bestellung weitere, auf die Bedürfnisse der Kunden zugeschnittene Korpora erstellt werden. Dabei stützt sich das Institut auf eigene Verfahren zur Texterschließung. Auf der im Internet zu findenden Angebotsliste steht: Erstellung • • •

von Lemma-Korpora mit Belegsätzen aus deutschem, französischem oder englischem Textmaterial des Kunden; von Wörter-Häufigkeitslisten anhand von Textmaterial des Kunden oder Abgleich des eigenen Wortmaterials mit Texten deutscher Zeitungen (1986 - 1995); von Listen von Substantiv-Verb-Kollokationen (vom Typ: eine Rede halten, einen Vorschlag unterbreiten) und von Substantiv-Adjektiv-Gruppen (vom Typ: starker Regen, ein falscher Prophet), alphabetisch oder nach Häufigkeit sortiert.

Diese Angebote sind allerdings nicht kostenfrei. Die Erstellungskosten richten sich dabei nach dem Vor- bzw. Nachbereitungsaufwand aus der Nutzung der vom Kunden mitgelieferten Texte. Für Forschungszwecke steht das oben erwähnte Korpusabfragesystem kostenlos zur Verfügung. Die Lizenz dafür kann im Internet unter (URL: http://www.ims.uni-stuttgart.de/CorpusToolbox) geholt werden. ßatei

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Sitzung: 69 Karpuj; Um weiteraiarbeiten, wählen Sie eine der Schaltflächen aus der Titelleist«.

MMM/597, M M Juli IS »5 Die fertigen Texte gehen von Amerika und Deutschland per E-Mail, elektronischer Post, in« Internet. MMM/S07, M M Juli 1995 Neue Online-Angebote wie Electronic Banking oder E-Mail scheren da» Interesse der Kunden. MMM/509, M M September 1995 In diesen Netzen kann der User E-Mail versenden, Datenbanken abiragen, Auskünfte einhol en, aber Online-Banking seine Bankgeschäfte erledigen oder Flug- und Bahntickets buchen, um nur einige Möglichkeiten zu nennen. MMM/60I, M M J a n u a r 1994 E-MaU: Die Electronic Mail hat eine völlig neue Briefkultur entstehen lassen. MMM/iOl, M M J a n u a r 1994 Etwa 28 000 Kunden des Datennetzes T-Online wurde fur die Nutzung von E-Mail und Internet vom 18. bis zum 31. Dezember die Melirwertsteuer doppelt berechnet MMM'«04, M M April 199« Techno ist die musikalische Konsequenz de« Zeitalters elektronischer Medien: E-Mail und Faxe laugen für schnelle Faxen, Raum für tiefsinnige Betrachtungen fehlt

Abbildung 5 COSMAS Beta-Version - Suchanfrage zu E-Mail

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3. Schlußwort

In seinem Buch „Literarische Spaziergänge im Internet" schreibt Reinhard KAISER (1996:25) über das Internet: „Das Netz der Netze ist eine Baustelle oder vielmehr eine Baustelle der Baustellen - ohne zentrale Leitung, ein Nebeneinander, hier und da auch Miteinander von Initiativen, Projekten, Absichten, Plänen. Manches ist weit gediehen. Fertig ist fast nichts". Ein Jahr später hat sich da wenig geändert. An der elektronischen „Bibliothek von Babel" wird mit wenig Geld und viel Enthusiasmus und Idealismus weitergebaut. Und es stimmt schon, daß je höher die Ansprüche, desto größer die Verzagtheit. So sieht die Gegenwart aus. Langsam macht sich jedoch eine Trendwende bemerkbar. Die professionelle geisteswissenschaftliche Gemeinde beginnt ein wachsendes Interesse an Internet zu zeigen. Es wird zunächst vorsichtig ausgetestet, ob und wie man seine Produkte im Internet anbieten sollte. Dies bezeugen De Proverbio, die Internet-Versionen von Meyers Lexikon, DRW, Langenscheidts Wörterbuch Deutsch-Englisch und Korpusabfragesysteme wie COSMAS u. a. In Diskussion ist auch ein Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften über ein digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, das die Form einer lexikographischen Datenbank haben soll, „aus der zum einen gezielt bestimmte Informationen abgefragt werden können und aus der sich zum anderen unterschiedliche Wörterbücher zusammenstellen und nach Bedarf drucken lassen." (PROJEKTSKIZZE „Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts"1997:2). Die Vorteile online zugänglicher Wörterbücher sind vielfach: So wird z. B. anhand von variablen Suchmöglichkeiten der Kreis der Wörterbuchadressaten von vornherein erweitert und die Benutzerfreundlichkeit der Nachschlagewerke wesentlich verbessert; das Wörterbuchvolumen wird praktisch unbegrenzt; schon vorhandene Wörterbücher können leicht und ohne großen materiellen Aufwand bearbeitet werden; die Benutzer erhalten die Möglichkeit durch Hinweise, Beisteuern von Lemmata und Beispielen, zu der Entstehung und Bearbeitung eines Wörterbuches beizutragen, und es wird eine interessante Kommunikationsmöglichkeit zwischen Wörterbuchautoren bzw. -herausgebern und Benutzern eröffnet. Die elektronischen Publikationen sind ihrerseits schneller, billiger und können, wenn einmal die Computervernetzung vorhanden ist, einen viel größeren Leserkreis aus der ganzen Welt als die gedruckten erreichen, wie dies am Beispiel von De Proverbio illustriert wurde. Trotz all dieser Vorteile fallen die derzeitigen phraseologischen und lexikographischen Angebote im Internet insgesamt noch dürftig aus. Dafür, daß der „Übergang in die elektronische Welt" generell so langsam stattfindet, gibt es nach Dieter E. ZIMMER zwei Gründe: Die bereits erwähnte Kostenfrage und die fehlende Beurkundung und Archivierung der Internetinformation, denn die veröffentlichende Welt möchte wissen, daß deren Arbeiten „auch nach fünf oder zehn Jahren noch unverändert auffindbar sein würden" (vgl. ZIMMER 1997, Teil IV:4 f.). Die Zukunft von der Phraseologie und Lexikographie sowie anderer wissenschaftlichen Disziplinen im Internet ist eng mit der erfolgreichen Lösung dieser zwei Probleme verbunden.

Phraseologie und Lexikographie im Internet

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4. Literatur

Burger, Harald (1983): Phraseologie in den Wörterbüchern des heutigen Deutsch. - In: Wiegand, Herbert Ernst (Hrsg.): Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie III. - Hildesheim/Zürich/New York: Olms (= Germanistische Linguistik 1-4/82), 13-66; Cölfen, Elisabeth/Cölfen, Hermann/Schmitz, Ulrich (1997): Linguistik im Internet. Das Buch zum Netz - mit CD-ROM. - Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen; Gerdes, Heike: Was ist Hypertext?, http://www.psychologie.uni-bonn.de/allgm/mtarbei/privat/gerdes_h/hy per/Was. htm (28.10.1997); Hausmann, Franz Josef (1989): Wörterbuchtypologie. - In: Wörterbücher (1989), 968 - 981; Kaiser, Reinhard (1996): Literarische Spaziergänge im Internet: Bücher und Bibliotheken online. Frankfurt am Main: Eichborn; Klausnitzer, Ralf (1997): Hypertext in der Germanistik? Chancen für die Mehrdimensionalität wissenschaftlicher Texte. - In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge VII-2/1997, 352-356; Munske, Horst Haider (1988): Rezension zum Deutschen Rechtswörterbuch. - In: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Bd. 99, 1/1988, 5-17; Projektskizze „Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts" (DWDS), http://www.bbaw.de/aa/AA.html (20.10.1997); Schmitz, Ulrich (1997): Neue Kommunikationsformen in neuen Medien. - In: Deutsch als Fremdsprache. 1/1997, 36-45; Storrer, Angelika/Freese, Katrin (1996): Wörterbücher im Internet. - In: Deutsche Sprache. Zeitschrift für Theorie, Praxis, Dokumentation, 24. Jahrgang, 2/96, 97-153; Zimmer, Dieter E. (1997): Die digitale Bibliothek - Eine Artikelserie für Nutzer und Verächter der Computernetze, 5 Teile, http://cixxy.ecce-terram.de/bda/int/zeit/littwett/digbib/index.html (25.11.1997); Wörterbücher (1989 ff.): Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. Hrsg. von Hausmann, Franz Josef/Reichmann, Oskar/Wiegand, Herbert Ernst/Zgusta, Ladislav. 1., 2. u. 3. Teilband. -Berlin/New York: de Gruyter;

Günter Kempcke

Paradigmatische und syntagmatische Relationen in einem Wörterbuch 'Deutsch als Fremdsprache'

Mit dem Erscheinen von Langenscheidts 'Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache' (1993) hat sich zu der Reihe der bereits vorhandenen deutschsprachigen synchronischen Wörterbücher ein Wörterbuchtyp gesellt, der seinem Anspruch nach nicht den beliebigen muttersprachlichen, aber im übrigen unbekannten Benutzer anvisiert, sondern seine Benutzerzielgruppe dadurch eingrenzt, daß er sich den Lernenden, den Nichtmuttersprachler, der die deutsche Sprache erlernen will, als zukünftigen Benutzer vorstellt. Wir wissen seit Herbert E. Wiegands Wörterbuchbenutzungsprotokollen (Wiegand 1995) von den unterschiedlichen Nachschlagebedürfnissen eines Muttersprachlers und eines Nichtmuttersprachlers und gehen davon aus, daß bei der Erarbeitung eines Lernerwörterbuchs diese Faktoren hinsichtlich ihrer lernpsychologischen Bedeutung Berücksichtigung finden, ja den Charakter dieses Wörterbuchs maßgeblich bestimmen müssen. Die wörterbuchkritische und wörterbuchtheoretische Aufarbeitung dieses benutzerspezifischen Wörterbuchs hat bereits begonnen (vgl. Barz, I. / Schröder, M. 1996), und in Vorbereitung befindet sich der von Herbert E. Wiegand initiierte und herausgegebene Sammelband 'Perspektiven der pädagogischen Lexikographie des Deutschen', der eine theoretische Fundierung des Wörterbuchs 'Deutsch als Fremdsprache' zum Ziel hat und diesen Wörterbuchtyp damit als neue Kategorie metalexikographischer Untersuchungen einführt. Was erwarten Fremdsprachendidaktiker und Nichtmuttersprachler von einem Wörterbuch dieses Typs? Die Antwort liegt in den Nachschlagebedürfnissen der Benutzer und damit in den für den Zweitsprachenerwerb notwendigen Informationsdaten, die darauf abzustimmen sind und in der dafür adäquaten Organisation dieser Datentypen. Demnächst wird neben dem bereits erschienenen 'Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache' aus dem Verlag Langenscheidt (1993) ein neues Wörterbuch dieser Benutzerspezifik auf dem Markt sein. Es ist von Lexikographen des ehemaligen Zentralinstituts für Sprachwissenschaft in Berlin (Akademie der Wissenschaften) konzipiert und unter der Schirmherrschaft der Universität Potsdam vollendet worden. Es erscheint im Verlag de Gruyter. Da Lexikographen einsprachiger Wörterbücher im allgemeinen wenig Umgang mit Fremdsprachendidaktik haben und Fremdsprachendidaktiker wenig mit der Produktion von einsprachigen Wörterbüchern befaßt sind, mußte man sich während der Erarbeitung der Konzeption des de Gruyter-Wörterbuchs zunächst der Ratschläge der Fachrichtung Deutsch als Fremdsprache versichern. Die Ratschläge, die man uns gab, bezogen sich weder auf die Stichwortauswahl, noch auf die Bedeutungserklärung, sondern vor allem auf die Grammatik - nach der Devise, daß eine gründliche Analyse der Regularitäten und Gebrauchsnormen die wichtigsten Erwartungen des Wörterbuchnutzers erfüllen dürfte. Es lag daher nahe, die in England und Frankreich schon seit langem vorhandenen Lernerwörterbücher nach ihren Konzeptionen zu befragen. Sie hatten wohl auch als Vorbild für Lan-

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genscheidts Lernerwörterbuch gedient. Aber diese zeigten bei näherer Betrachtung Unterschiede in der Gewichtung der Informationsdaten. Das Lernerwörterbuch von Longman (1987) favorisierte das controlled defining vocabulary, die Darstellung des usage in narrativer Form und die Anwendung von cross references, das Wörterbuch von Dubois (1966) dagegen die Darstellung der Wortfamilie, der Homonymie, Satzsynonymie und der grammatisch syntaktischen Gliederung der Mikrostruktur. Beide Lernerwörterbücher geben unter anderem also dem Systemgedanken breiten Raum, sei es in Form der Wortfamilie oder der cross references. In seinem Aufsatz zu Fragen der Grammatik in Wörterbuchbenutzungsprotokollen nennt Wiegand (1985) Normunsicherheit und Systemunsicherheit als die Grundschwächen des nichtmuttersprachlichen Lerners. Wiegand spricht an anderer Stelle auch von der onomasiologischen Blindheit der Lexikographen1. Während der Arbeit an der Konzeption des de Gruyter-Wörterbuchs zeichnete sich bald ab, daß ein Lernerwörterbuch filr Nichtmuttersprachler auch dem Gesichtspunkt der Textproduktion verpflichtet ist, daß punktuelles Nachschlagen zwar filr die Rezeption von Texten, nicht aber filr die Wortschatzerweiterung des Lernenden hilfreich ist. In einem alphabetisch geordneten semasiologischen Wörterbuch aber bleibt jedes Stichwort isoliert, wenn nicht im Aufbau des Wörterbuchartikels alle Möglichkeiten der Darstellung genutzt werden, die den Benutzer vom einzelnen Stichwort zu ähnlichen oder verwandten Stichwörtern führen. In der Regel benutzt der Nichtmuttersprachler zunächst ein zweisprachiges Wörterbuch; will er sich darüber hinaus informieren und die weitere Umgebung eines Wortes hinterfragen, kann er ein einsprachiges Lernerwörterbuch zu Rate ziehen, vorausgesetzt, dieses weist ihm den Weg vom einzelnen Stichwort zu den Gliedern der Wortfamilie, zu den Feldnachbarn, zu den Gliedern der entsprechenden Synonymreihe oder zu den Gliedern der Verknüpfungspartnerklasse, kurz: zu den paradigmatischen und syntagmatischen Beziehungen. Daß ein solches Lernerwörterbuch nicht zuletzt auch daran gemessen wird, ob und wie es die Aussprache, die grammatischen Regularitäten, die Bedeutungserklärung und die stilistischen Markierungen als Informationsdaten berücksichtigt, sei jetzt nur am Rande bemerkt. Es kam also darauf an, in diesem Wörterbuch alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die den Benutzer vom Einzelwort zu den benachbarten Wörtern fuhren und diese möglichst nach ihren Ähnlichkeiten oder Unterschieden darzustellen. Als erste und wichtigste Möglichkeit ist hier die Bedeutungserklärung selbst zu nennen. Ihre analytische Form nach dem Prinzip des genus proximum und der differentia specifica ordnet das Lexem einem Oberbegriff unter und bietet theoretisch die Möglichkeit, alle Lexeme des gleichen Oberbegriffs zusammenzufassen. Von dieser Möglichkeit ist in diesem Wörterbuch nur begrenzt Gebrauch gemacht worden, vorwiegend aber bei Sachgruppen wie Artefakten, Pflanzenund Tierbezeichnungen; hier wurde darauf geachtet, daß Lexeme desselben Sachbereichs in der Bedeutungserklärung mit demselben genus proximum vertreten waren. Besonders synonymische und antonymische Beziehungen erlauben die Darstellung paradigmatischer Relationen. Sie führen den Benutzer vom Einzelwort zu verwandten Wör1

vgl. Wiegand 1977, S. 71: „Die einsprachige Lexikographie benötigt ein theoriegestütztes und praktikables Konzept, das die Integration von semasiologischen und onomasiologischen Prinzipien und Darstellungsweisen leistet, so daß ein alphabetisch angeordnetes Wörterbuch sowohl in Situationen der Textproduktion als auch in solchen der Textrezeption gleichermaßen leistungsfähig ist."

Paradigmatische

und syntagmatische

Relationen in einem

Wörterbuch..

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tern und ermöglichen die Erweiterung seiner Wortschatzkenntnisse, vorausgesetzt, dem Benutzer werden auch die Grenzen und Möglichkeiten ihrer Substituierbarkeit vermittelt. Dem nichtmuttersprachlichen Wörterbuchbenutzer wäre wenig gedient, wenn ihm die synonymischen bzw. antonymischen Relationen lediglich als Zweierbeziehung und lediglich als Vertreter des Paradigmas angeboten würden. Unser Lernerwörterbuch verfährt daher in der Weise, daß die Glieder einer Synonymreihe mit der Dominante dieser Reihe definiert werden, und daß bei der Dominante, die im übrigen eine analytische Bedeutungserklärung erhält, die darauf verwiesenen Synonyme als begleitende Synonyme genannt werden. Das Wörterbuch ist also über gewisse Strecken ein distinktives Synonymwörterbuch. Synonymisch verwendete polyseme Lexeme werden durch Nennung der Bedeutungsziffer monosemiert, so daß Fehlinterpretationen ausgeschlossen werden. Unser besonderes Anliegen aber ist der Nachweis der Substituierbarkeit. Ist diese nur auf wenige der syntagmatischen Relationen beschränkt, wird die Synonym(Antonym-)angabe auf eben diese Kontexte eingegrenzt. Trifft sie jedoch für die Mehrzahl der Syntagmen zu, ist die Synonymangabe Teil der Bedeutungserklärung und bezieht sich somit auf alles Folgende, z. B. abstellen 1. ... 3. /jmd., Betrieb/ etw. - 'etw., das durch eine Leitung fließt, bes. Gas, Wasser, dadurch in seiner Bewegung unterbrechen, daß man eine dafür vorgesehene Vorrichtung betätigt'; SYN abdrehen (1), absperren (3); ANT anstellen (3), andrehen (1): der Klempner stellt das Wasser ab; den Strom - (SYN 'abschalten 2', 'ausschalten 2'; ANT einschalten 1.1): das Elektrizitätswerk hat den Strom abgestellt... Abbildung 1

Das Beispiel abstellen zeigt beides: es bildet die Dominante einer Reihe ähnlicher Lexeme und erhält daher eine analytische Bedeutungserklärung (durch einfache Anfuhrungsstriche gekennzeichnet), ihr folgen die synonymischen Glieder der Reihe, die jeweils an alphabetischer Stelle mit dem Synonym abstellen definiert werden. Die Synonyme abschalten, ausschalten sind jedoch nicht generell substituierbar, aber typisch fur die Kollokation Strom abstellen, daher werden sie dem Kontext zugeordnet und nicht der Bedeutungserklärung. Synonyme und Antonyme werden also nicht nur in ihrer semantischen Relation, sondern auch in ihrer Verbindbarkeit gesehen, die allein den Prüfstein für die Substituierbarkeit bildet. Stilistische Synonyme werden grundsätzlich durch die neutrale Dominante definiert und erhalten zusätzlich eine Markierung, die die durchschnittlichen Verwendungsbedingungen charakterisiert, z. B. Gesicht, das; ~s/auch -es, - e r 1. 'Vorderteil des menschlichen Kopfes vom Kinn bis zum Ansatz des Kopfhaars'; SYN Antlitz, Fratze (1), Fresse:... Antlitz, das; - e s , ~e geh. SYN 'Gesicht (1)': sie hat ein schönes ~ Fratze, die;

~n 1. umg. emot. neg. SYN 'Gesicht (1)': sie mochte seine - nicht mehr sehen

Fresse, die;

~n derb SYN 'Gesicht (1)': jmdn. in die - hauen

Abbildung 2

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Überwiegen die distinktiven Merkmale, werden die inhaltsähnlichen Lexeme wie Feldnachbam behandelt und durch vgl.-Hinweise aufeinander bezogen, z. B. einige gelenkig - Fußgelenk, Handgelenk, Kiefergelenk gelenkig ,köφeΓlich gewandt, flink in den Bewegungen': jmd. ist trotz seines Alters noch sehr er sprang ~ über den Zaun, kroch ~ durch den Zaun; er hat ~e Glieder ('ist gelenkig') • 71 Gelenk Abbildung 13 Seit dem 'Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache' bedienen sich die synchronischen Wörterbücher in jüngerer Zeit der Möglichkeit, wortbildnerische Bezüge transparent zu machen. Wir haben diese traditionelle Methode beibehalten und stellen produktive Wortbildungsmittel mit reihenbildendem Charakter in ihrer semantischen und morphologischen Struktur vor. Dieser Datentyp überschneidet sich mitunter mit Wortfamilienkriterien, doch schien uns der Gewinn für den Benutzer größer, wenn wir nicht darauf verzichteten. Alle so dargestellten Wortbildungsmittel werden überdies in einer Liste übersichtlich im Anhang des Wörterbuchs aufgeführt. an- /bildet mit dem zweiten Bestandteil Verben; betont; trennbar (im Präsens u. Präteritum)/ 1. /drückt aus, daß das im zweiten Bestandteil Genannte von der handelnden Größe aus in Richtung auf eine Größe erfolgt/: 71 z. B. ansehen (1)2. /drückt aus, daß durch das im zweiten Bestandteil Genannte eine Größe eine andere Größe zu erreichen sucht/: 71 z. B. anfliegen (2) 3. /drückt aus, daß durch das im zweiten Bestandteil Genannte eine Größe einer anderen Größe näher kommt; oft im Part. II + kommen/·. 71 z. B. anlaufen (1) 4. /drückt aus, daß durch das im zweiten Bestandteil Genannte eine Größe die Oberfläche einer anderen Größe berührt/: 71 z. B. anfassen (1), anlehnen (1) 5. /drückt aus, daß durch das im zweiten Bestandteil Genannte eine Größe an einer anderen Größe befestigt wird/: 71 z. B. anbinden, annageln 6. /drückt aus, daß das im zweiten Bestandteil Genannte beginnt/: 71 z. B. anfahren (1) Abbildung 14 Der Artikel vermittelt dem Benutzer einen Überblick über die typischen Bedeutungen der an-Bildungen. Er soll ihn aber auch in die Lage versetzen, im Wörterbuch nicht verzeichnete Bildungen nachzuvollziehen, ihm die Rezeption von Texten zu erleichtern. Für jeden Wortbildungsartikel werden prototypische Beispiele angeführt, die selbst Teil des Stichwortverzeichnisses sind. Uns scheint dieser Gesichtspunkt für ein Wörterbuch dieser Benutzerzielgruppe unverzichtbar. U. E. kann man nicht Beispiele anbieten, die über das Wörterbuch hinausgehen und so den Benutzer zwingen, sich aus einem anderen Wörterbuch diese fehlenden Informationen zu erschließen. Synonyme, Antonyme und Wortfamilien allein erfassen, wie wir wissen, nicht alle möglichen paradigmatischen Relationen des dargestellten Wortschatzausschnitts. Die ideale Verbindung semasiologischer und onomasiologischer Strukturen wird erst durch das Wortfeld hergestellt. Seine Integration in die Struktur des Wörterbuchs kann auf verschiedene Weise erfolgen. Herbert E. Wiegand hat in den Kopenhagener Beiträgen (Wiegand 1977) empfohlen, die Glieder eines Wortfeldes dem Oberbegriff eines Feldes zuzuordnen und direkt in den Wörterbuchartikel zu integrieren. Wir haben uns für eine Lösung entschieden, die auf einem deduktiv-induktiven Verfahren beruht. In einem Anhang des Wörterbuchs

Paradigmatische undsyntagmatische

Relationen in einem Wörterbuch..

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werden 84 Wortfelder dargestellt, die in einen homozentristischen Rahmen eingepaßt sind. Jedes Feld ist in Substantive, Verben, Adjektive/Adverbien unterteilt. Die Felder setzen sich ausschließlich aus im Wörterbuch verzeichneten Stichwörtern zusammen, und von den entsprechenden Wörterbuchartikeln wird auf die jeweiligen Felder verwiesen, vgl. Der Verweis:

Kommode, die; ~n 'kastenförmiges Möbelstück mit Schubladen'; 71 FELD (4.1): eine alte etw. in die ~ legen; etw. auf der ~ abstellen

Das Feld:

4. Möbel/Einrichtung 4.1. Substantive Mobiliar, Möbel, Möbelstück, Tisch, Schrank, Kleiderschrank, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bett, Couch, Kommode, Spind, Schreibtisch, Anrichte, Vitrine, Büfett, Regal, Sitzmöbel, Stuhl, Sessel, Bank, Hocker, Lehnsessel, Liegestuhl, Schaukelstuhl, Schemel, Pult, Theke, Lampe, Leuchte, Habseligkeiten, Möbelwagen

Abbildung 15

Das de Gruyter-Wörterbuch bedient sich darüber hinaus verschiedener Übersichten; zu nennen sind da zunächst die Bildertableaus. Als Identifikationshilfen, als Begleiter der Bedeutungserklärung gedacht, führen sie den Benutzer auch zu onomasiologischen Beziehungen und ermöglichen distinktive Informationen durch die Anschauung, vgl. z. B. Rucksack, der 'Behälter aus weichem Material zum Transportieren von Lasten, der an Riemen auf dem Rücken getragen wird' (71 TABL Behälter): den ~ packen, umhängen, festschnallen, abnehmen • 71 Rücken, 71 Sack Abbildung 16

Dem besonderen Bedürfnis des Nichtmuttersprachlers nach grammatischen Informationen kommen wir dadurch entgegen, daß wir grammatisch relevante Stichwörter in Listen überschaubar zusammengestellt haben. Der Benutzer findet eine Liste der dargestellten Präpositionen, Konjunktionen sowie eine Übersicht zu den dargestellten Modal- und Gradpartikeln. Beim Zweitspracherwerb bereiten besonders die Partikeln Lernschwierigkeiten; sie und die Synsemantika syntaktisch und semantisch adäquat verwenden zu können, ist eines der Lernziele des Fremdsprachenunterrichts. Der Benutzer findet überdies im Anhang des Wörterbuchs ein grammatisches Tafelwerk mit Übersichten zu bestimmten grammatischen Regularitäten, z. B. zur Flexion des Substantivs, Adjektivs, des Verbs, der unregelmäßigen Verben, des substantivierten Adjektivs, Partizips und der Pronomina. Von den Trägern bestimmter Informationsdaten wird auf diese Tafeln verwiesen, z. B. Geliebte, der u. die; ~n, ~n; 71 TAFEL II 'jmd., mit dem jmd. ein (außereheliches) sexuelles Verhältnis hat': sie ist seine er ist ihr sie hat einen ~n; er hat eine vgl. Freund (2), Freundin (2) • 71 lieb Abbildung 17

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Das Wörterbuch bietet somit eine Kombination von Informationsdaten, die den Benutzer vom Einzelwort zu Verwandtem führen: Synonymie, Antonymie, Wortfamilie und Wortfeld erlauben es, den Wortschatz in seinen Zusammenhängen und Differenzierungen zu erfassen und überschaubar zu machen. Der Benutzer kann seinen Wortschatz bei punktueller Nutzung erweitern und somit seine Systemunsicherheit überwinden; die Regelangaben ermöglichen es ihm, die hinterfragten Stichwörter regelgerecht zu verwenden und so seine Normunsicherheit zu überwinden.

Literatur

Wörterbücher Dubois, J. (u. a.): Dictionnaire du fran^ais contemporain. Paris 1966. Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache. (Hrsg. Professor Dr. Dieter Götz, Professor Dr. Günther Haensch, Professor Dr. Hans Wellmann). Berlin. München. Leipzig. Wien. Zürich. New York 1993. Longman Dictionary of Contemporary English. New Edition. Essex 1987. Sekundärliteratur Barz, Irmhild/Schröder, Marianne (Hrsg.): Das Lernerwörterbuch Deutsch als Fremdsprache in der Diskussion. In: Sprache - Literatur und Geschichte 12. Heidelberg 1996. Kempcke, Günter: Zur Darstellung der kommunikativen Wendungen in den gegenwartssprachlichen Wörterbüchern des Deutschen. In: Europhras 92. Tendenzen der Phraseologieforschung (Hrsg. Barbara Sandig). Studien zur Phraseologie und Parömiologie. Bochum 1994, S. 303-314. Wiegand, Herbert Ernst: Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen. Ein Beitrag zur praktischen Lexikographie. In: Kopenhagener Beiträge zur germanistischen Linguistik 12, herausgegeben von Karl Hyldgaard-Jensen. Kolloquium über Lexikographie Kopenhagen 1976. Kopenhagen 1977, S. 59-149. - Fragen zur Grammatik in Wörterbuchbenutzungsprotokollen. Ein Beitrag zur empirischen Erforschung der Benutzung einsprachiger Wörterbücher. In: Lexikographie und Grammatik. Akten des Essener Kolloquiums zur Grammatik im Wörterbuch 28. - 30.6.1984. Hrsg. von Henning Bergenholtz und Joachim Mugdan. Tübingen 1985 (Lexicographica. Series Maior 3), S. 20 - 98.

Matthias Wermke

Rechtschreibreform und Rechtschreibwörterbuch

1. 2. 2.1. 2.2.

Zum Stand der ReformbemUhungen Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung Ziele der Rechtschreibreform Regelungsbereiche: Art der Regelung und Konsequenzen für die Wörterbücher

3. 4. 4.1. 4.2.

Die Zukunft des Rechtschreibwörterbuchs Literatur Wörterbücher: Sekundärliteratur:

1. Zum Stand der Reformbemühungen

Mit den 3. Wiener Gesprächen zur deutschen Orthographie und der Zustimmung der Vertreter der staatlichen Auftraggeber zum damaligen Regelungsvorschlag des Internationalen Arbeitskreises für Orthographie im November 1994 schien die bereits über Jahrzehnte dauernde Debatte um die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung in ihre letzte, abschließende Phase einzutreten. Der Entwurf des Arbeitskreises wurde in der Abschlusserklärung gewürdigt als der „am besten durchdachte Neuregelungsvorschlag zur deutschen Rechtschreibung ..., der seit der Orthographischen Konferenz von 1901 erarbeitet worden"1 sei. In allen damals noch offenen Fragen kamen die Teilnehmer der Tagung „zu einvernehmlichen Lösungen, so daß nunmehr ein zwischen den Mitgliedern des Internationalen Arbeitskreises und Vertretern aller zuständigen staatlichen Stellen der betroffenen Länder abgestimmter Neuregelungsvorschlag vorliegt, der nur noch einer gründlichen redaktionellen Bearbeitung bedarf' 2 . Die Ergebnisse der Beratungen wurden den politischen Entscheidungsinstanzen zur Annahme empfohlen. Für Ende 1995 war die Unterzeichnung einer zwischenstaatlichen Absichtserklärung zur Einfuhrung der neuen Rechtschreibung in den an den Reformbemühungen beteiligten Ländern angestrebt. Nachdem im Sommer 1995 seitens der deutschen Kultusminister noch Nachbesserungswünsche laut wurden - sie bezogen sich lediglich auf die Rücknahme von integrierten Schreibungen bei rund 40 Fremdwörtern sowie die Ablehnung der Kleinschreibung des adjektivischen Bestandteils in den Fügungen Dritte Welt, Heiliger Vater und Letzte Ölung - und nachdem sich auch die Ministerpräsidenten und das Bundeskabi1

2

Zitiert nach: Sitta, Horst, u. Gallmann, Peter: Informationen zur neuen deutschen Rechtschreibung. Nach den letzten Beschlüssen vom Februar 1996. 2., aktualisierte Auflage. Mannheim (Dudenverlag) 1996, S. 10. Ebenda, S. 10f.

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nett noch einmal mit der Rechtschreibreform befasst hatten, konnte diese Absichtserklärung am 1. Juli 1996 in Wien unterzeichnet werden. Kurze Zeit darauf erschienen die ersten Wörterbücher - und seitdem ist die, wie es im offiziellen Sprachgebrauch heißt, „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung" mehr als zuvor zum Prozess geworden und zwar, wie allgemein bekannt, in mehrfacher Hinsicht. Zum einen erwies sich die inhaltliche Debatte um die Neuregelung keineswegs als abgeschlossen 3 , trotz der oben zitierten Beurteilung vom November 1994. Entgegen allen Aussagen der zuständigen staatlichen Stellen wurden auch Zweifel laut, ob das gewählte Einführungsverfahren verfassungsrechtlich korrekt ist oder ob eine Beteiligung der Länderparlamente und des Deutschen Bundestages erforderlich gewesen wäre. Die seit Sommer 1997 von verschiedenen Verwaltungsgerichten in den einzelnen Bundesländern gefällten Urteile in erster und zweiter Instanz beantworteten diese Frage bis heute nicht eindeutig. 4 Parallel zur verfassungsrechtlichen Debatte gab es eine politische, bei der es auch darum ging, ob nicht überhaupt der Deutsche Bundestag über die Einführung einer neuen Rechtschreibung hätte beraten und per Bundesgesetz befinden müssen und zwar gegen das Prinzip der bei den Ländern liegenden Kulturhoheit. Nur am Rande sei auf die generellen gesellschaftlichen Widerstände gegen die Einführung der neuen Rechtschreibung hingewiesen, bei denen sich sprachwissenschaftlich fundierte Kritik mit Vorurteilen, der Angst um eine Trivialisierung des Deutschen, dem Gespenst vom allgemeinen Sprachverfall und drohender Volksverdummung in kaum mehr zu bestimmendem Maße miteinander vermengen. Die beschriebene Situation ist geradezu kurios, weil die neue Rechtschreibung, obwohl sie laut ZWISCHENSTAATLICHER ABSICHTSERKLÄRUNG erst zum 1. August 1998 offiziell an den Schulen und in den Behörden, für die der Staat Weisungsgewalt hat, eingeführt werden soll, längst Alltag ist. Die überwiegende Zahl der Grundschulen, aber auch viele weiterfuhrenden Schulen, lehren bereits nach den neuen Regeln - und zwar durchaus auf Drängen derjenigen Eltern, deren Kinder im Schuljahr 1996/97 eingeschult worden sind und die ganz selbstverständlich darauf beharrten, Grundschuler angesichts einer bereits beschlossenen Neuregelung nicht mehr nach den herkömmlichen Regeln zu unterrichten. Auch außerhalb der Schulen setzen sich die Neuerungen im Schreiballtags langsam durch. Nach Wörter-, Schul- und nicht zuletzt Kinder- und Jugendbüchern werden zwischenzeitlich auch andere Publikationen auf die neue Schreibung umgestellt bzw. in neuer Orthographie publiziert. Zeitungen und Zeitschriften, wie zum Beispiel die WOCHE oder die Fachzeitschrift ARCHÄOLOGIE IN DEUTSCHLAND, wenden die neuen Regeln seit längerem mehr oder weniger einheitlich und konsistent an, wobei die Umstellung auf das Neue der Leserschaft gar nicht immer angekündigt wurde und dieser möglicherweise auch kaum auffiel. Untersuchungen der Dudenredaktion haben ergeben, dass durch die Neuregelung durchschnittlich nur zwischen 0,8 und 2,5 Prozent der Wörter eines Textes verändert werden, wobei 3

4

Vgl. hierzu etwa die Sammelbände „Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Hrsg. von Gerhard Äugst, Karl Blüml, Dieter Nerius u. Horst Sitta. Tübingen (Max Niemeyer Verlag) 1997; und: Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Hrsg. von Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, sowie die Berichterstattung zur Anhörung der Zwischenstaatlichen Kommission zu ihren Präzisierungsvorschlägen zum neuen Regelwerk am 23. Januar 1998. Höchstrichterliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und Bundesverwaltungsgerichts standen zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags noch aus.

Rechtschreibreform

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hierunter der Wechsel von β zu Doppel-s allein schon über 60 % ausmachen kann. Unter den gegebenen Umständen waren auch die Wörterbuchredaktionen genötigt - und sie sind es im Prinzip noch immer oder schon wieder ihre Nachschlagewerke sehr schnell der Neuregelung anzupassen, denn sie produzieren diejenigen Hilfsmittel, die an den Schulen, in Redaktionen, Setzereien, Korrektoraten, in Schreibbüros und Sekretariaten - und auch den privaten Schreiberinnen und Schreibern - die Umstellung auf und die Eingewöhnung in die neuen Regeln und Schreibungen und ihre Anwendung im Alltag erleichtern. Es ist ein Irrglaube, ein neues amtliches Regelwerk könne orthographische Wörterbücher ersetzen. Die Erfahrungen aus der Sprachberatung der Dudenredaktion zeigen zur Genüge, dass Regelwerke eher ignoriert werden. Mit der Verabschiedung der neuen Rechtschreibung am 1. Juli 1996 und ihrer vorgezogenen Einführung zum Schuljahresbeginn 1996/97 wird das amtliche Regelwerk von 1902 durch ein neues ersetzt, das im Gegensatz zum herkömmlichen alle Bereiche der Orthographie regelt, nämlich die Laut-Buchstaben-Zuordnung, die Groß- und Kleinschreibung, die Worttrennung am Zeilenende und die Getrennt- und Zusammenschreibung (die Schreibung mit Bindestrich eingeschlossen) sowie die Interpunktion. Die beiden letztgenannten Teilgebiete der Orthographie wurden bekanntlich durch Empfehlungen zunächst des so genannten BUCHDRUCKERDUDENS5 und dann des RECHTSCHREIBDUDENS6 geregelt, die in Deutschland durch einen Erlass der Kultusministerkonferenz von 1955 im Nachhinein amtlichen Charakter erhielten. Nur wenige wissen, dass es „amtliche Vorschriften für den Gebrauch der S a t z z e i c h e n " , w i e e s i m WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN RECHTSCHREIBUNG v o n K . E r b e

heißt7, in Österreich, Bayern, Sachsen und Württemberg bereits zur Zeit der letzten Reform gab. Den größten Raum der in diesem Wörterbuch wiedergegebenen „amtlichen Vorschriften" zur Interpunktion nehmen dabei die Bestimmungen zum „Strich" (Beistrich, Komma) ein, wobei gerade die Regelungen zur Kommasetzung beim erweiterten Infinitiv genau denen entsprechen, wie sie in der Folgezeit auch im DUDEN vermittelt wurden. Was mit der Neuregelung - jedenfalls in Deutschland - nach dem Willen der deutschen Mitglieder der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung wegfällt, ist ein Leitwörterbuch, wie es der DUDEN über Jahrzehnte hinweg war, ein Leitwörterbuch, das in orthographischen Zweifelsfällen ausschlaggebend ist. Maßgebend sollen lediglich das amtliche Regelwerk sein, zu dem als integraler Bestandteil eine Wortliste mit einigen wenigen Tausend Einträgen gehört, und die von den Unterzeichnerstaaten der ZWISCHENSTAATLICHEN ABSICHTSERKLÄRUNG eingerichtete Zwischenstaatliche Kommission, die -

nach eigener Auskunft -„die Entwicklung in der Orthographietheorie und in der Rechtschreibdidaktik aufmerksam verfolgen" und „entsprechend handeln" wird8. Prinzipiell un5

Duden, Konrad: Rechtschreibung der Buchdruckereien deutscher Sprache. Leipzig u. Wien (Bibliographisches Institut) 1903. 6 Duden, Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter. Bearb. von Dr. J. Ernst Wülfing und Dr. Alfred C. Schmidt. 9., neubearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig u. Wien (Bibliographisches Institut) 1915. 7 Erbe, K.: Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung. 2., nach dem neuesten Stand der Rechtschreibfrage bearbeitete und erweiterte Ausgabe. Stuttgart (Union deutsche Verlagsgesellschaft) 1904, S. 17. * Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission „Vorschläge zur Präzisierung und Weiterentwicklung aufgrund der kritischen Stellungnahmen zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung" vom Dezember 1997, S. 9 u. 5.

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terscheidet sich hiervon die Situation in der Schweiz. Dort soll nach einer Empfehlung der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) vom Sommer 1996 der DUDEN auch in Zukunft die Funktion eines offiziellen Leitwörterbuchs übernehmen'. In Österreich bleibt ohnehin in den Schulen das ÖSTERREICHISCHE WÖRTERBUCH10 verbindlich. Was demgegenüber weiterhin besteht, ist das öffentliche Verlangen nach einer möglichst einheitlich geregelten Rechtschreibung und die dezidierte Absicht der Kultusminister und der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung, die mit dem VOLLSTÄNDIGEN ORTHOGRAPHISCHEN WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE v o n K o n -

rad Duden weitgehend vorbereitete und mit dem amtlichen Regelwerk von 1902 und den späteren Entscheidungen der Kultusministerkonferenz im Großen und Ganzen gesicherte Einheitsschreibung zu bewahren. So heißt es etwa im Vorwort des neuen amtlichen Regelwerkes, dass es „zur Sicherung einer einheitlichen Rechtschreibung Vorbildcharakter für alle" habe, „die sich an einer allgemein gültigen Rechtschreibung orientieren möchten" 11 . Die jüngsten Publikationen in neuer und zur neuen Rechtschreibung zeigen jedoch, dass diese angestrebte Einheitlichkeit mit dem neuen amtlichen Regelwerk offensichtlich nicht leicht herzustellen oder zu bewahren ist. An die Stelle - mathematisch gesprochen - eineindeutiger Schreibung treten Varianten, die das neue Regelwerk und die ihm integrierte Wortliste dezidiert vorgeben. Außerdem weichen die bereits erschienenen Wörterbücher partiell voneinander ab, was zum einen Teil auf fehlerhafte Auslegung der neuen amtlichen Regeln beruht - eine Tatsache, die sich anhand von Verbesserungen in Nachdrucken leicht nachweisen lässt -, zum anderen aber auch durch die Unbestimmtheit einiger Regeln verursacht wird. Im zweiten Fall decken sich zwar die Informationen der Wörterbücher nicht, sie bleiben aber für sich dennoch korrekt, ein Faktum, auf das eine im Sommer 1997 erschienene Studie von Kerstin Güthert und Klaus Heller12 genauer eingeht. Trotzdem stellt sich die Frage, wie die Lexikographie mit der neuen Situation umgehen soll. Zweifellos ist es zwingend nötig, neue orthographische Wörterbücher zu erstellen. Dabei sieht sich die Lexikographie aber einerseits mit dem Anspruch der Neuregelung nach maximaler Großzügigkeit und andererseits dem Anspruch vieler Benutzer nach möglichst eineindeutigen Angaben konfrontiert. Eigentlich wäre zu klären, welche Rolle orthographische Wörterbücher in Zukunft generell spielen sollen. Wie bereits ausgeführt, verneint die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung in ihrem Bericht vom Dezember 1997 die Notwendigkeit eines Leitwörterbuchs und möchte es, wie Karl Blüml formuliert, „dem freien Spiel des öffentlichen Gebrauchs" 13 überlassen, welche Schreibva-

* 10

11

12

13

Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, Dossier 42: Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Bern 1996, S. 9. Österreichisches Wörterbuch. Hrsg. im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten. Bearbeiter: Otto Back et al. 38. Auflage, Neubearbeitung, mit den neuen amtlichen Regeln. Wien (ÖBV Pädagogischer Verlag) 1997. Zitiert nach: Die neue amtliche Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis nach der zwischenstaatlichen Absichtserklärung vom 1. Juli 1996. Mannheim (Dudenverlag) 1997, S. 9 (= Duden-Taschenbücher 28). Güthert, Kerstin, u. Heller, Klaus: Das Märchen von tausendundeiner Differenz. In: Muttersprache 4/97, S. 339-353. Blüml, Karl: Warum und mit welchem Ziel überhaupt eine Rechtschreibreform. In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske: Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 11-20. Zitat S. 16.

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rianten sich im Laufe der kommenden Jahre und Jahrzehnte in der Schreibgemeinschaft durchsetzen und demnach im Lexikon Bestand haben sollen und auf welche wieder verzichtet werden kann. Dass unter solchen Prämissen nicht leicht zu entscheiden ist, wie Rechtschreibwörterbücher anzulegen sind, ist evident. In diesem Beitrag soll versucht werden, das Dilemma aus der Innensicht einer Wörterbuchwerkstatt anhand einiger Beispiele zu erörtern. Dabei geht es nicht um eine grundlegende inhaltliche Bewertung der Neuregelung, die die Dudenredaktion über Jahre hinweg mitbefördert hat und der sie im Prinzip als einer „kleinen Reform der Vernunft" zustimmt, sondern um eine Erörterung von Auslegungs- und Darstellungsproblemen, mit denen sich die Lexikographie bei der praktischen Umsetzung des neuen Regelwerks auseinander setzen muss. Im Mittelpunkt der Darstellung steht ausschließlich das Wörterverzeichnis. Die Auswirkungen der Neuregelung auf im orthographischen Wörterbuch enthaltene Regelteile bleiben ausgeklammert.

2. Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung

2.1. Ziele der Rechtschreibreform Nach Auskunft des amtlichen Regelwerkes ist die Neuregelung zwei Grundsätzen verpflichtet. Es heißt im Vorwort: „Sie bemüht sich um eine behutsame inhaltliche Vereinfachung der Rechtschreibung mit dem Ziel, eine Reihe von Ausnahmen und Besonderheiten abzuschaffen, so dass der Geltungsbereich der Grundregeln ausgedehnt wird."

Und: „Sie verfolgt eine Neuformulierung der Regeln nach einem einheitlichen Konzept."14

Allgemeines Anliegen der Reform ist es, Erleichterungen für die Schreibenden durch systematischere Regeln, die mit weniger Einzelfallfestlegungen auskommen als die herkömmliche Rechtschreibung, und den Abbau von Ausnahmen herbeizuführen. Damit soll der Deutschunterricht entlastet und zugleich eine Reduzierung der Zahl orthographischer und Interpunktionsfehler in Diktaten und Klassenaufsätzen herbeigeführt werden. Untersuchungen in Bayern und Nordrhein-Westfalen und entsprechend positive Rückmeldungen auch aus Schulen in anderen Bundesländern deuten daraufhin, dass dies in gewissem Maße tatsächlich erreicht wird. Wesentlich an diesem Ziel ist, dass es eine Erleichterung des Schreibens und des Schreibenlernens erbringen soll, ohne dass es zu einem Bruch mit der historisch gewachsenen Schrifttradition kommt. Ein Spagat, der von vorne herein nur zu Kompromisslösungen führen konnte. 14

Zitiert nach: Die neue amtliche Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis nach der zwischenstaatlichen Absichtserklärung vom 1. Juli 1996. Mannheim (Dudenverlag) 1997, S. 9 (= Duden-Taschenbücher 28).

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Ausschlaggebend ist vor allem das Bestreben, den Schreibenden selbst mehr Entscheidungsfreiheit einzuräumen, sie aus dem engen Korsett einer starren Regelung zu lösen und dadurch das eigentümlich verkrampft erscheinende Verhältnis der Deutschen zu ihrer Rechtschreibung zu lockern und die Weiterentwicklung der Schreibung zu ermöglichen. In den Hintergrund tritt dabei zwangsläufig, obwohl im amtlichen Regeltext und auch von den Autoren der Neuregelung und ihren Auftraggebern wiederholt beschworen, das Prinzip der Einheitlichkeit. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass Dieter Nerius das allgemeine Bedürfnis „nach Stabilität und Einheitlichkeit der geschriebenen Sprache"15 durchaus konzidiert. Dass der Handlungsspielraum der Reformer eigentlich eher eingeschränkt ist, hat Dieter Nerius bereits in seinem 1994 erschienenen Handbuchartikel „Orthographieentwicklung und Orthographiereform"16 gezeigt, wo er den Begriff „Orthographiereform" definiert als „Änderung einer relativ genau kodifizierten, durch ein hohes Maß an Invarianz gekennzeichneten, in einer Gemeinschaft allgemein befolgten und gegebenenfalls sogar staatlich verbindlichen Orthographie"17. Er kommt zu dem Schluss, dass eine „Orthographiereform in früheren Kodifizierungen fixierte und strukturell inadäquate Schreibungen behutsam korrigieren und die Orthographie in Übereinstimmung mit der Entwicklung auf anderen Ebenen des Systems der Standardsprache in Richtung auf eine optimale Funktionserfilllung" weiterentwickeln solle, was „eine ausgewogene Berücksichtigung der Interessen der Schreibenden im Rahmen der Aufzeichnungsfunktion und der Interessen der Lesenden im Rahmen der Erfassungsfunktion der Schreibung" bedeute". Die Betonung liegt auf „behutsam", was noch dadurch gestützt wird, dass der Autor im selben Beitrag für „partielle Orthographieänderungen in einem relativ bescheidenen Umfang, der die Sprachteilhaber nicht von vornherein abschreckt"", eintritt. Offen bleibt, was „behutsam" in qualitativer und quantitativer Hinsicht eigentlich meint. An diesem Punkt scheiden sich die Geister. So ist der „quantitative Umfang der Änderungen" für Horst Haider Munske, ehemaliges Mitglied des Internationalen Arbeitskreises und der Zwischenstaatlichen Kommission, „so groß, daß man hier von einer einschneidenden Reform sprechen"2" müsse. Gerade der im Dezember 1997 von der Zwischenstaatlichen Kommission vorgelegte Bericht21 wird, sollten die in ihm vorgeschlagenen Präzisierungen und Modifikationen der Regeln von 1996 unverändert angenommen werden, kaum zu einer 13

Nerius, Dieter: Das Orthographiewörterbuch. In: Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. Hrsg. von Franz Josef Hausmann, Oskar Reichmann, Herbert Ernst Wiegand, Ladislav Zgusta. Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1990, S. 1297-1304, Zitat S. 1298 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Hrsg. von Hugo Steger u. Herbert Ernst Wiegand, Bd. 5.2). 16 In: Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Hrsg. von Hartmut Günther u. Otto Ludwig. Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1994, S. 720-739 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Hrsg. von Hugo Steger u. Herbert Ernst Wiegand, Bd. 10.1). 17 A. a. O., S. 727. 18 A. a. O., S. 728. " A. a. O., S. 730. 20 Munske, Horst Haider: Wie wesentlich ist die Rechtschreibreform? In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 143-156, Zitat S. 152. 21 Vgl. Anm. 8.

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wesentlichen Beruhigung der streitenden Gemüter führen. Dieser Bericht repräsentiert den vorläufig letzten Stand der inhaltlichen Debatte. Obwohl auch in ihm das Streben nach Einheitlichkeit betont wird, schlägt er teils durch die Wiederzulassung herkömmlicher Schreibungen, teils durch erneute Regelausweitungen eine hohe Variabilität bei den Schreibungen vor und spricht sich wiederholt dagegen aus, dass über Wörterbücher einzelnen Schreib- oder Trennvarianten der Charakter von Vorzugsvarianten beigemessen wird. Welche Auswirkungen dies auf die orthographischen Wörterbücher haben muss, wird weiter unten anhand einiger Beispiele gezeigt werden. 2.2. Regelungsbereiche: Art der Regelung und Konsequenzen für die Wörterbücher Es wurde bereits gesagt, dass es nicht Anliegen dieser Ausführungen ist, die neue deutsche Rechtschreibung inhaltlich auf den Prüfstand zu stellen. Zwar hat die Dudenredaktion niemals einen Hehl daraus gemacht, dass aus ihrer Sicht nicht alle Regelungen inhaltlich überzeugen, sie kann aber, wie andere auch, nicht von der Tatsache abstrahieren, dass die neuen Regeln in ihrer vorliegenden Form amtlich sind. Wörterbücher, die auch in Schulen genutzt werden können sollen, sind damit gezwungen, diese Regeln umzusetzen und anzuwenden. a) Laut-Buchstaben-Beziehung Die Änderungen, die das neue Regelwerk in seiner Fassung vom 1. Juli 1996 in diesem Teilgebiet der Rechtschreibung bewirkt, sind im Großen uns Ganzen tatsächlich bescheiden ausgefallen. Dass man rau und die zugehörigen Ableitungen nunmehr in Analogie zu blau, grau, schlau, genau ohne h schreiben soll, stellt kein nennenswertes Problem dar. Die entsprechenden Lemmaeinträge werden korrigiert. Hier ändert sich nicht einmal ihre alphabetische Einordnung, so dass auch nicht von alter auf neue Schreibung verwiesen werden muss, vorausgesetzt, man verzichtet darauf, ein Hybridwörterbuch zur alten und neuen Rechtschreibung zu machen, wie es zum Beispiel die 5. Auflage des Schülerdudenbandes RECHTSCHREIBUNG UND WORTKUNDE22 repräsentiert.

Ähnlich unproblematisch ist der in einigen Fällen der Ausdehnung des Stammprinzips folgende Ersatz von β durch Doppel-s nach kurz gesprochenem Vokal, also diejenige Neuerung, die auf der Textebene noch am frequentesten und auffälligsten ist. Anders gelagert ist der Fall jedoch schon bei der Regelung zum Zusammentreffen dreier gleicher Buchstaben, stellt sich hier doch die Frage, ob in jedem Falle die nach § 45 des neuen Regelwerkes auch mögliche Schreibung mit Bindestrich als Nebenform lemmatisiert werden muss oder nicht. Den jüngsten Forderungen der Zwischenstaatlichen Kommission nach müsste dies geschehen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob damit den Wörterbuchbenutzern und einer einheitlichen Schreibung gedient ist oder nicht. Was die Neuregelung zur Verdoppelung von Konsonantbuchstaben nach kurzem Vokal in Fällen wie Ass, Karamell, Messner, nummerieren u. a. sowie zur teilweise sehr umstrittenen Umlautschreibung in Fällen wie Bändel, belämmert, Gämse, verbläuen u. a. bewirkt, ruft ebensowenig unlösbare lexikogra22

Schülerduden-Rechtschreibung und Wortkunde. Hrsg. u. bearb. von Matthias Wermke und Werner Scholze-Stubenrecht unter Mitwirkung von Christine Beil et al. 5., auf der Grundlage der amtlichen Neuregelung der deutschen Rechtschreibung überarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim (Dudenverlag) 1997.

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phische Probleme hervor wie die Festlegung von Einzelfällen wie selbstständig/selbständig, Albtraum/Alptraum, Rohheit u. a. vs. Hoheit etc. Schwieriger wird es bei der Fremdwortschreibung, wobei der Terminus Fremdwort hier die Fachwörter im engeren Sinne einschließt. Es wurde oben bereits erwähnt, dass es gerade bei der Fremdwortschreibung auf Wunsch der Kultusminister zu Nachbesserungen des urspünglich zur Annahme empfohlenen Regeltextes gekommen ist, die vielkritisierte Schreibungen wie Katastrofe und Apoteke wieder ausschlossen. Ohne auf alle Einzelheiten einzugehen, soll hier nur anhand eines Falles exemplifiziert werden, worin ein besonderes Problem der Neuregelung für die Wörterbuchmacher liegt: Die Stämme phon-, phot- und graph- können nach § 32 des amtlichen Regelwerkes grundsätzlich auch mit / geschrieben werden, wobei zu Haupt- und Nebenformen das Wörterverzeichnis befragt werden soll, für das die Zwischenstaatliche Kommission zuletzt wieder in ihrem Bericht vom Dezember 1997 eine „sorgfältig ausgearbeitete Variantenführung"23 reklamiert. Dem widerspricht jedoch bei genauerer Betrachtung der tatsächliche Befund. So weist das amtliche Wörterverzeichnis zum Beispiel bei Biografie die f-Schreibung als Hauptschreibung aus, während im Falle von Geographie genau das Umgekehrte gilt. Die nur noch wenig gebräuchliche Schreibung Photographie wird als Variante wieder gestärkt, Photo und photographieren sollen aber wohl ausgeschlossen sein. Die Auszeichnungen im amtlichen Wörterverzeichnis sind, wie auch Bilnting und Timmler feststellten, „nicht logisch konsistent"24. Es fehlt vor allem jedweder Hinweis, nach welchen Kriterien Haupt- und Nebenformen festgelegt oder von den Beispielen in der amtlichen Wortliste abzuleiten sind. Es muss deshalb bei vielen lemmatisierten Fremd- und insbesondere Fachwörtern zwangsläufig zu divergierenden Entscheidungen kommen, oder aber die Lexikographen verstoßen der Systematik zuliebe bewusst gegen die amtliche Wortliste. Das wäre im Prinzip auch, gestützt auf ältere Vorstufen des neuen Regelwerkes, möglich. In diesen galten nämlich Frequenz und allgemeinsprachlicher Gebrauch als Maßstab zur Bestimmung von Haupt- und Nebenform, was wenigstens im ersten Falle denjenigen Wörterbuchwerkstätten, die sich wie die Dudenredaktion auf umfangreiches authentisches Belegmaterial stützen können, bei der Behandlung analoger Fälle eine erhebliche Hilfe gewesen wäre25. Diese Hinweise sind in der letzten, verbindlich gewordenen Fassung des Regelwerkes bedauerlicherweise nicht mehr enthalten, woraus sich eigentlich die Notwendigkeit ergäbe, auch Schreibungen wie *Fonetik, *Fotosynthese, *Fototopografie u. v. a., für deren Gebrauch es im Schrifttum keinerlei Indizien gibt, zu lemmatisieren. Delikat an dieser Variantenführung ist im Übrigen, dass sie dem Willen der auftraggebenden Kultusminister - wenigstens der KMK - eigentlich widerspricht, die in ihren INFORMATIONEN DES SEKRETARIATS DER STÄNDIGEN KONFERENZ DER KULTUSMINISTER DER LÄNDER ZUR NEU-

23 24

25

Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission vom Dezember 1997, S. 15. Biinting, Klaus-Dieter, u. Timmler, Wilfried: Probleme bei der Umsetzung der neuen Rechtschreibung im Wörterbuch. In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 25-38, Zitat S. 32. Vgl. etwa: Deutsche Rechtschreibung. Vorschläge zu ihrer Neuregelung. Hrsg. vom Internationalen Arbeitskreis für Orthographie. Tübingen (Gunter Narr Verlag) 1992, S. 137. Gerhardt Äugst und Burkhard Schaeder bemerken in „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Die wichtigsten Neuerungen im Überblick". Mainz 01.12.1995 noch: „Fachliche Schreibungen sind von der allein für die Standardsprache geltenden Neuregelung ausgenommen" (a. a. O., S.4).

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REGELUNG DER DEUTSCHEN RECHTSCHREIBUNG v o m 1. D e z e m b e r 1 9 9 5 e i n d e u t i g f e s t g e -

legt haben, dass „nun grundsätzlich Fremdwörter nicht 'eingedeutscht' werden [sollen] und eine Integration ins Deutsche nur vorgenommen werden [soll], wo der Prozess in der Schreibpraxis und im Schreibgeftihl bereits weit fortgeschritten ist".26 Gäbe es dagegen nicht das Postulat wenigstens einiger Mitglieder der Zwischenstaatlichen Kommission, die Wörterbücher müssten die neuen Regeln und die Vorgaben der amtlichen Wortliste peinlichst genau und vollständig umsetzen, es hätte hier eine klare Handlungsanweisung vorgelegen, die unterschiedliche Auslegungen in den Wörterbüchern verhindert hätte. Die Kultusminister schlossen damals im Übrigen auch Hybridschreibungen aus, wonach die von einigen jetzt verstärkt bemühte Schreibung Orthografie nicht zulässig wäre. In dieser Variantenführung, die sich eigentlich nicht auf die variable Schreibung von Fremdwörtern beschränken dürfte - es werden auch bei indigenen Lexemen in Hülle und Fülle Varianten eingeführt -, liegt für die Verfasser von Rechtschreibwörterbüchem - und nicht nur für sie - einer der eigentlichen Nachteile der Neuregelung, wobei sich das Problem nur verschärfen wird, wenn die im Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission vom Dezember 1997 vorgeschlagenen Modifizierungen des amtlichen Regelwerkes wirksam werden sollten. Es fände dann eine entschiedene Ausweitung auf die Groß- und Kleinschreibung und die Getrennt- und Zusammenschreibung statt, die im krassen Gegensatz zu den Verhältnissen vor der Neuregelung stünde, zu denen die Mitglieder der Zwischenstaatlichen Kommission in ihrem Bericht selbst feststellen, dass es „Veränderungen der Schreibungen ... in bescheidenem Umfange"21 gegeben habe. Was sich allerdings jetzt anbahnt und nicht nur über die ergänzenden Vorschläge zur Neuregelung der Laut-BuchstabenBeziehung -, geht weit über diesen „bescheidenen Umfang" hinaus. Hierzu weiter unten mehr. b) Getrennt- und Zusammenschreibung und Schreibung mit Bindestrich Im Regelwerk von 1996 wird dieses sehr komplexe Teilgebiet der Orthographie erstmals amtlich geregelt. Zuvor gab es hier nur die Empfehlungen Konrad Dudens im BUCHDRUCKERDUDEN, die dann auch in den RECHTSCHREIBDUDEN eingeflossen sind, wo durch den Hinweis, dass „in der Zusammen- und Getrenntschreibung ... nicht alle Bereiche eindeutig"28 geregelt seien, auf die Schwierigkeit, hierzu Allgemeinverbindliches zu sagen, hingewiesen wurde. Die Umsetzung der Neuregelung stellt die Lexikographie in diesem Bereich unter anderem vor folgendes Problem: Das neue Regelwerk setzt in seiner Fassung vom 1. Juli 1996 darauf, die Regeln der Getrennt- und Zusammenschreibung auf formale Kriterien zu gründen, wobei semantische und phonetische Kriterien (Bedeutungsdifferenzierung und unterschiedliche Betonung) bewusst ausgeschlossen werden. Daraus resultieren nur teilweise eindeutige Regeln wie § 34 E3 (4) - Partizip + Verb wird getrennt geschrieben (z. B. gefangen nehmen, geschenkt bekommen u. a.) - und § 34 (6) - Infinitiv + Verb wird unter Vernachlässigung bedeutungsdifferenzierender Schreibung getrennt geschrieben (z. B. kennen lernen, sitzen bleiben 26 27 28

Alle Auszeichnungen im Original; a. a. O., S. 6. Berichts. 6. Vgl z. B. Duden-Rechtschreibung der deutschen Sprache. 20. Auflage. Mannheim (Dudenverlag) 1991, S. 62.

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u. a.)· Die Aufgabe des - in seiner Anwendung sicherlich nicht ganz unproblematischen, im Schreibgebrauch aber doch auch bewährten - Prinzips der Bedeutungsdifferenzierung ist umso erstaunlicher, als Dieter Nerius feststellt, dass „die primäre Aufgabe der Schreibung nicht die Visualisierung der Lautung [sei], sondern dass sie in erster Linie der Materialisierung und als Übermittlungsträger von Bedeutungen"2' diene. Andere Regelungen sind leider weniger eindeutig. So müssen nach § 34 Ε 3 (3) Bildungen aus „Adjektiv + Verb" getrennt geschrieben werden, „wenn das Adjektiv in dieser Verbindung erweiterbar oder steigerbar ist, wenigstens durch sehr oder ganz". Hier erschwert vor allem das Kriterium der Erweiterbarkeit die Regelanwendung, weshalb es nicht verwundert, dass es in unterschiedlichen Wörterbüchern partiell zu differierenden Regelauslegungen gekommen ist (ζ. B. hochschätzen vs. hoch schätzen, je nachdem, ob Sätze wie Wir haben sie sehr hoch geschätzt als grammatisch betrachtet wurden oder nicht). Dass solche Schwierigkeiten bei der „Fixierung der normgerechten Schreibung eines einzelnen Lemmas" bestehen, „weil einerseits die bestehenden Regeln ... nicht präzise sind ... und weil andererseits die zugrundeliegenden sprachlichen Sachverhalte in manchen Fällen eine eindeutige Entscheidung nicht ermöglichen"3", hat Dieter Nerius bereits 1994 bestätigt. Die Neuregelung behebt diese Schwierigkeit für den Lexikographen jedenfalls nicht. Im Kommissionsbericht vom Dezember 1997 wird folgerichtig vorgeschlagen, das Kriterium der Betonung wieder zur Grundlage von Schreibentscheidungen zu machen. Abgesehen davon, dass dabei die zuvor allein geltenden formalgrammatischen Kriterien der Steigerbarkeit und Erweiterbarkeit gestrichen sind, ist auch das Betonungskriterium gelegentlich irreführend. So soll nach den Vorschlägen zu einer Präzisierung des neuen Regelwerkes3' laut § 34 gelten: Präpositionen, Adverbien, Adjektive und Substantive können als Verbzusätze trennbare Zusammensetzungen mit Verben bilden. Man schreibt sie nur im Infinitiv, im Partizip I und im Partizip II sowie im Nebensatz bei Endstellung des Verbs zusammen.

Dies betrifft nach § 34 (1) präpositionale und adverbiale Verbzusätze. Die Zusammensetzung wird auf dem ersten Bestandteil, dem Verbzusatz, betont.

In der folgenden, offenen Beispielliste stehen neben anderen die Adverbien herunter-, hinüber·, vorüber-. 2

® Nerius, Dieter: Orthographieentwicklung und Orthographiereform. In: Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Hrsg. von Hartmut Günther u. Otto Ludwig. Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1994, S. 720-739, Zitat S. 724 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Hrsg. von Hugo Steger u. Herbert Ernst Wiegand, Bd. 10.1). 3(1 Nerius, Dieter: Das Orthographiewörterbuch. In: Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. Hrsg. von Franz Josef Hausmann, Oskar Reichmann, Herbert Ernst Wiegand, Ladislav Zgusta. Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1990, S. 1297-1304, Zitat S. 1299 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Hrsg. von Hugo Steger u. Herbert Ernst Wiegand, Bd. 5.2). 31 Vgl. Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission, S. 23 ff.

Rechtschreibreform

und

Rechtschreibwörterbuch

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Nach Aussage von § 34 (1) müsste das Verb vornüberfallen also zusammengeschrieben werden. In § 34 Ε 2 (2) heißt es aber, dass „Adverb + Verb" getrennt geschrieben wird. Als Beispiele sind abhanden kommen, fürlieb nehmen, vonstatten gehen und andere aufgeführt, die den Hauptton auch auf dem Adverb tragen. Ist demnach vornüber fallen korrekt? Oder sollen beide Schreibweisen zulässig sein und demnach im Wörterbuch verzeichnet werden? Die Entscheidung fällt nicht leicht, zumal der Lexikograph nur den Wortlaut der Regel hat, nach dem er sich richten kann. Was deren Verfasser eventuell mit bestimmten Formulierungen „gemeint" haben, ist für ihn wie alle anderen Regelanwender irrelevant. In ähnlicher Weise sind Teile der Neufassung von § 36 unklar, ohne dass dies hier weiter ausgeführt werden soll. Wer wann und mit welcher Verbindlichkeit entscheidet, welche Regel oder Regelauslegung nun gelten soll, ist derzeit völlig offen, denn die Kommission soll ja im Wesentlichen nur Beobachtungen anstellen, die in Vorschläge zu Regeländerungen einmünden können, die dann aber doch wieder auf amtlicher Ebene beschlossen werden müssen. Dieser Zustand erschwert es, verlässliche und nicht nur vorläufig gültige Nachschlagewerke zur deutschen Orthographie zu erarbeiten. Zur Neuregelung der Schreibung mit Bindestrich sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass es im Interesse der Wörterbuchbenutzung eigentlich nicht möglich ist, alle potentiell zulässigen Durchkoppelungen zu lemmatisieren. Zwar wurde auch diese Forderung schon erhoben. Die Zahl der zu verzeichnenden Schreibvarianten würde aber ins Unermessliche steigen, ganz zu schweigen davon, dass es - wie bisher auch - wenig Sinn hat, Bindestrichschreibungen, die lediglich der besonderen Hervorhebung eines Bestandteils einer Zusammensetzung dienen (vgl. § 45: Hoch-Zeit, Nach-Denken u. Ä.) zu lemmatisieren. c) Groß- und Kleinschreibung Wie die Großschreibung von Satzanfängen, insbesondere nach Doppelpunkt, neu geregelt ist (§ 54), was sich hinsichtlich der Schreibung von vertrauter oder höflich-distanzierter Anrede in Briefen (§§ 65, 66) oder der Großschreibung nichtsubstantivischer Bestandteile bei mehrteiligen Eigennamen (§ 60) bzw. in substantivischen Wortgruppen, die zu festen Fügungen geworden, aber keine Eigennamen sind (§ 63), ändert, hat relativ wenig Auswirkungen auf die orthographisch ausgerichteten Wörterbücher, da es sich hier um Regeln handelt, die in der Stichwortliste entweder gar nicht abgehandelt werden oder nur innerhalb der Beispielsubstanz. Dass aber auch nach der Neuregelung die Unterscheidung von Eigennamen und namenähnlichen festen Verbindungen mit adjektivischem erstem Teil (Typ: Erste Hilfe, neu: erste Hilfe; Schwarzes Brett, neu: schwarzes Brett) nicht einfach ist, ist evident, wobei im Übrigen festzustellen ist, dass die Neuregelung mit der forcierten Kleinschreibung einer im Usus seit längerem erkennbaren Tendenz zur Großschreibung zuwiderläuft. Es kann kaum verwundern, dass es auch hier zu unterschiedlichen Regelauslegungen in den Wörterbüchern gekommen ist. In seinen Auswirkungen gravierender ist die in § 55 (3) des neuen Regelwerkes vorgeschriebene Großschreibung nichterster substantivischer Bestandteile in substantivisch gebrauchten Mehrwortfügungen aus fremden Sprachen. So, wie diese Regel im amtlichen Text von 1 9 9 6 formuliert ist, dürften eigentlich nur die in der 2 1 . Auflage des DUDENS ver-

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zeichneten Schreibungen des Typs Alma Mater, Corpus Delicti, Soft Drink und Sex-Appeal (zur Schreibung mit Bindestrich vgl. § 45 [2]) zulässig sein. Eine vermeintlich klare Regelung, die zwar zu einigen ungewohnten Schriftbildern führt, im Wörterbuch aber keine revolutionären Veränderungen hervorruft. Nun sind aber gerade bei diesem Typus die seit 1996 erschienenen Lexika unterschiedliche Wege gegangen. Während der RECHTSCHREIBDUDEN Großschreibung der substantivischen Bestandteile aufweist (Alma Mater, Corpus Delicti, Common Sense u. a.), sind andere bei deren Kleinschreibung geblieben und verzeichnen nach wie vor Ancien regime, Casus belli, Curriculum vitae, Deus ex machina. In wieder anderen Wörterbüchern wird eine gewisse Ratlosigkeit spürbar, wenn sie zwar Ancien Regime, Casus Belli, Curriculum Vitae und Deus ex Machina lemmatisieren, allerdings bei Consecutio temporum, Consilium abeundi, Eau de toilette u. Ä. bleiben. Die Bearbeiter haben bei ihrer Entscheidung möglicherweise die entsprechenden Fügungen in Anlehnung an den ersten Teil von § 55 (3) als Zitatwörter aufgefasst, die sich aber als solche der Großschreibung substantivischer Bestandteile in nichterster Position eigentlich entziehen sollten. Leider wird der Begriff des „Zitatwortes" im neuen amtlichen Regelwerk an keiner Stelle definiert, so dass für die Regelanwender Interpretationsspielräume bleiben. Obendrein weisen die im amtlichen Regelwerk enthaltenen Beispiele für Zitatwörter unterschiedliche Wege. Während man nach gängigem Schreibgebrauch davon ausgehen könnte, dass als Zitate in deutschsprachige Texte übernommene Wörter aus fremden Sprachen den für das Deutsche geltenden Normen gar nicht angepasst, sondern lediglich durch Anführungszeichen oder Schriftartwechsel typographisch als Zitate markiert werden (demnach also zum Beispiel „common sense", „sex appeal" u. Ä.), führt die Neuregelung unter § 21 als dezidiertes Beispiel für ein Zitatwort aus dem Englischen Grand Old Ladies auf, das nun einerseits auf Großschreibung der nichtersten - auch nichtsubstantivischen - Bestandteile der Fügung schließen ließe, andererseits aber die herkömmliche Kleinschreibung substantivischer Bestandteile an nichterster Stelle ausschließen würde. Im Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission vom Dezember 1997 wird nun vorgeschlagen, die Kleinschreibung des nichtersten substantivischen Bestandteils wieder einzuführen. Im Bericht heißt es: Die Lexikographen werden ... gebeten, künftig bei mehrteiligen substantivischen Ausdrücken aus anderen Sprachen für substantivische Bestandteile in nichterster Position auch die Kleinschreibung als Variante anzugeben. 32

Abgesehen davon, dass hier eine klare inhaltliche Änderung im neuen Regelwerk vorgeschlagen wird, würde diese Neufassung von § 55 (3) zu einer gravierenden Vermehrung von Schreibvarianten allein in diesen Fällen führen. Nimmt man nämlich zu § 55 (3) die nach § 37 als Vorzugsschreibung anzunehmende Zusammenschreibung derartiger gerade aus dem Englischen übernommener Fügungen und die nach § 45 auch zulässige Schreibung mit Bindestrich hinzu, dann wären, falls man die Forderung, die Wörterbücher müssten alle zulässigen Schreibvarianten aufzeigen, wirklich ernst nimmt, in Fällen wie Blackbox, Freejazz, Highlight, Hotdog, Newage und vielen anderen bis zu fünf Schreibvarianten aufzuführen, was nach Dudenmuster zu Einträgen des folgenden Typs führen könnte:

"

Berichts. 37.

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Hotdog, auch Hot dog, Hot Dog, Hot-dog, Hot-Dog, das, auch der; -s, -s ... (heißes Würstchen in einem Brötchen)

Derartige Lösungen können nicht „zur Sicherung einer einheitlichen Rechtschreibung"" beitragen. Sie provozieren genau das, was im späten 19. Jahrhundert als ein besonderer Nachteil für die schriftliche Kommunikation empfunden wurde, nämlich die Erstellung von „Hausorthographien", die zwangsläufig differieren müssen. Den aktuellen Bedürfnisse der sprachverarbeitenden Industrie dürften solche erst recht nicht entsprechen. Außerdem würde eine derartige Variantenvielfalt auch jedes Wörterbuch überfrachten, insbesondere dann, wenn die Varianten nicht nur auf der Lemmaebene, sondern auch innerhalb der Beispielsubstanz gezeigt werden müssten, wie es eigentlich nur konsequent wäre, zumal Wörterbücher ja nicht mehr normenbildend wirken sollen34, als doch den Schreiberinnen und Schreibern selbst überlassen bleiben soll, für welche Schreibung sie sich entscheiden wollen. d) Worttrennung am Zeilenende Obwohl sie im Schreiballtag und insbesondere wohl auch an den Schulen, genauer in den Diktaten und Klassenaufsätzen, nur eine eher untergeordnete Rolle spielt, schafft die Neuregelung der Worttrennung am Zeilenende in der praktischen Umsetzung im Wörterbuch erhebliche Schwierigkeiten und sorgt, wie allgemein bekannt, auch zu nicht zu überhörender Kritik. Der zeitliche Aufwand, der zur Interpretation der Paragraphen 107 bis 112 und für ihre Umsetzung in Wörterverzeichnis betrieben werden muss, steht in keinem Verhältnis zur eigentlichen Bedeutung dieses Teilgebiets der Orthographie. Die Auslegung der neuen Regeln erschwert zunächst die Tatsache, daß sie bei näherer Betrachtung in sich nicht hierarchisch gegliedert sind, was auch Klaus-Dieter Bünting und Wilfried Timmler bestätigen". Zudem ergänzen sich die Paragraphen 110 bis 112 in einer Art, die nur den Schluss zulässt, die Worttrennung sei in Zukunft freizugeben. Soll in einem Wörterbuch nicht ganz auf die Markierung der Trennstellen innerhalb des Lemmas verzichtet werden, wie von einigen Mitgliedern der Zwischenstaatlichen Kommission vorgeschlagen, was aber für die Benutzer einen Informationsverlust bedeuten würde, dann bleibt, will man sich nicht unnötiger Kritik aussetzen, wie sie zum Beispiel auch gegen den neuen DUDEN36 laut wurde, wenig übrig, als sämtliche zulässigen Trennstellen im Lemma anzuzeigen, zumal dann, wenn einer Forderung Gerhard Augsts entsprochen und die Zahl

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Zititiert nach: Die neue amtliche Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis nach der zwischenstaatlichen Absichtserklärung vom 1. Juli 1996. Mannheim (Dudenverlag) 1997, S. 9 (= Duden-Taschenbiicher 28). Vgl hierzu: Menzel, Wolfgang: Vorurteile ausräumen, Fehleinschätzungen beseitigen. In: HansWerner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 135-142. Vgl. hierzu: Bünting, Klaus-Dieter, u. Timmler, Wilfried: Probleme bei der Umsetzung der neuen Rechtschreibung im Wörterbuch. In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske: Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 25-38, hierzu besonders S. 29. 21. Auflage 1996.

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der Verweise im orthographischen Wörterbuch möglichst gering gehalten werden soll". Dass es bei der ohnehin erklecklichen Anzahl neuer Schreibvarianten eher bedenklich ist, auch noch für die Darstellung der variablen Worttrennung mehrere Lemmata anzusetzen, bleibe dahingestellt. Bei der Erarbeitung der 21. Auflage des RECHTSCHREIBDUDENS stellte sich für die Dudenredaktion die Frage, wie bei der Markierungen zulässiger Trennstellen vorzugehen sei. Dabei hat sie sich von folgenden Überlegungen leiten lassen: Zum einen ist sie davon ausgegangen, dass es das primäre Ziel der Neuregelung ist, das Schreiben - und in diesem Zusammenhang natürlich auch die Worttrennung - prinzipiell zu erleichtern; zum anderen sah sie für die Wörterbuchbenutzer einen Vorteil darin, nicht alle Trennmöglichkeiten im Lemma anzuzeigen. Über Verweise sollten zusätzlich im neuen Regelwerk angelegte Trennmöglichkeiten erschließbar gemacht werden. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass es denjenigen nutzt, die aus welchen Gründen auch immer sichergestellt wissen wollen, dass dasselbe Wort immer gleich getrennt wird. Es verschweigt dabei aber nicht die von der Reform zusätzlich freigegebenen Varianten. Dieses lexikographische Verfahren ist als unzulässige Gewichtung kritisiert worden. Es birgt auch die Schwierigkeit in sich, definieren zu müssen, wie bei Konsonantenhäufungen (z. B. str in Instrument) getrennt werden soll. In d e r 5. A u f l a g e d e s SCHÜLERDUDEN-RECHTSCHREIBUNG UND WORTKUNDE w u r d e

deshalb jede durch das Regelwerk legitimierte Trennung im Lemma markiert, was zwar sicherlich den Korrekturaufwand bei Diktaten und Klassenaufsätzen verringern wird, kaum aber dazu beiträgt, dass sich bestimmte „Trennmuster" einprägen.

3. D i e Z u k u n f t des R e c h t s c h r e i b w ö r t e r b u c h s

Franz Josef Hausmann bezeichnet in seinem Beitrag „Die gesellschaftlichen Aufgaben der Lexikographie in Geschichte und Gegenwart" 38 die „orthographische Referenz (auch und gerade des alltäglichen Wortschatzes)" als „wichtigste lexikographische Aufgabe" 39 und rekurriert dabei nicht von ungefähr auf die Geschichte des DUDENS. Dem orthographischen Wörterbuch wird eine besondere lexikographische Bedeutung zugemessen wegen der Tatsache, dass in vielen Haushalten allein das orthographische Wörterbuch vorhanden ist, an das insgesamt Erwartungshaltungen herangetragen werden, die über die Vermittlung rein orthographischer Informationen weit hinausgehen. Es verwundert also nicht, dass sich gerade der DUDEN im Laufe seiner Geschichte zu einem „polyinformativen" 40 Wörterbuch

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Vgl. hierzu Äugst, Gerhard et al.: Rechtschreibwörterbücher im Test. Subjektive Einschätzungen, Benutzungserfolge und alternative Konzepte. Tübingen (Max Niemeyer Verlag) 1997, S. 246. 38 In: Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. Hrsg. von Franz Josef Hausmann, Oskar Reichmann, Herbert Ernst Wiegand, Ladislav Zgusta. Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1990, S. 1-19 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Hrsg. von Hugo Steger u. Herbert Ernst Wiegand, Bd. 5.1). 3 " A . a . O . , S. 11. 40 Vgl. hierzu: Wiegand, Herbert Ernst: Deutsche Lexikographie der Gegenwart. In: Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. Hrsg. von Franz Josef Hausmann, Oskar Reichmann, Herbert Ernst Wiegand, Ladislav Zgusta. Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1990,

Rechtschreibreform und Rechtschreibwörterbuch

219

entwickelt hat. Aufgabe und Funktion des orthographischen Wörterbuchs werden von Dieter Nerius wie folgt definiert: „Es dient der Aufzeichnung der graphischen Norm in ihrer Anwendung auf wesentliche Teile des Wortschatzes einer Sprache. Es hat die Funktion, im Prozeß der Erlernung und Verwendung einer Sprache als Informationsquelle fllr die zutreffende Schreibung zu dienen und durch die Fixierung der geltenden graphischen Norm zur Sicherung einer reibungslosen und effektiven schriftlichen Kommunikation innerhalb einer Sprachgemeinschaft beizutragen."41

Er kommt damit zwangsläufig zu dem Schluss, dass die Hauptaufgabe des Rechtschreibwörterbuchs „nicht die Deskription" sei, „sondern die Präskription, die Vorschrift, wie die in ihm enthaltenen Teile des Wortschatzes regelgerecht und damit richtig zu schreiben sind" 42 . Angesichts der Tatsache, dass den Wörterbuchredafctionen im Rahmen der Reformdebatte das Recht, das neue Regelwerk „auszulegen", dezidiert abgesprochen wurde, klingt die Aussage von Dieter Nerius wie ein Ruf aus der „guten alten Zeit", in der den Wörterbuchredaktionen - und insbesondere der Dudenredaktion - zwar nicht das Mandat fur die Entwicklung neuer orthographischer Regeln, aber doch deren maßgebliche Auslegung zugesprochen gewesen war. Rechtschreibwörterbücher sind, so jedenfalls die traditionelle Sicht der Dudenredaktion, Hilfsmittel, die — mit den Worten Konrad Dudens - all denjenigen nützlich sein wollen, die, „ohne den langsamem und schwierigem Weg der Anwendung allgemeiner Regeln auf einzelne Fälle zu betreten, mitten in der Arbeit des Schreibens, Korrigierens oder Setzens schnell und zuverlässig über ein bestimmtes Wort, dessen Schreibung ihnen im Augenblick unsicher ist, Aufschluß haben wollen" 43 . Der Wert eines derartigen Hilfsmittels wird durch die Einführung des neuen Regelwerkes nicht geringer, auch wenn manch einer darauf hoffen mag, dass sich die Schreibenden in Zukunft gegen die Erkenntnis nicht nur Konrad Dudens in orthographischen Zweifelsfällen auf das amtliche Regelwerk stützen werden. Das orthographische Wörterbuch vermittelt zwischen den für die Allgemeinheit meist abstrakten Regeln und jener Allgemeinheit und leistet damit grundsätzlich einen wesentlichen Beitrag zur einheitlichen Schreibung. Dabei kann es sich, wie die Kritik am neuen DUDEN im Spätjahr 1996 gezeigt hat, aber offensichtlich nicht leisten, was das Mitglied der Zwischenstaatlichen Kommission Richard Schrodt für sich in Anspruch nimmt. Dieser erklärt nämlich, „neue Regeln nicht zu beachten", die er „für unbegründet" hält44. Hier gibt es eine erhebliche Diskrepanz: Die Freiräume, die dem schreibenden Individuum mit der Neu-

41

42 43

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S. 2100-2246, Zitat S. 2192 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Hrsg. von Hugo Steger u. Herbert Ernst Wiegand, Bd. 5.2). Nerius, Dieter: Das Orthographiewörterbuch. In: Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. Hrsg. von Franz Josef Hausmann, Oskar Reichmann, Herbert Ernst Wiegand, Ladislav Zgusta. Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1990, S. 1297-1304, Zitat S. 1298 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Hrsg. von Hugo Steger u. Herbert Ernst Wiegand, Bd. 5.2). Derselbe, ebenda. Duden, Konrad. In: Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Leipzig (Bibliographisches Institut) 1880. Zitat S. VI. Schrodt, Richard: Die neue Rechtschreibung - ein Ziel in Sicht. In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 209-217. ZitatS. 216.

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regelung gezielt eröffnet werden sollen, werden den Wörterbuchmachern verstellt. Jeder Versuch, aus der neuen Vielfalt nur eine - wenn auch plausible - Auswahl zur Darstellung zu bringen, wird als unzulässiges Normierungsansinnen und damit dem Geist der Reform zuwiderlaufend abgelehnt. Die Ansicht Horst Sittas, es dürfe „in den Wörterbüchern keine Entscheidungen gegen das Regelwerk [geben], aber das Regelwerk [müsse] auch nicht in seiner ganzen Differenziertheit umgesetzt werden" 45 , findet so kaum Widerhall. Wenn aber erwartet wird, dass Wörterbücher sämtliche Möglichkeiten der Neuregelung berücksichtigen, können sie nur einen Beitrag zur Einheitlichkeit der deutschen Schreibung leisten, wenn Einheit durch Vielfalt gemeint ist, um es einmal pointiert auszudrücken. Mit dem genannten Anspruch wird dem orthographischen Wörterbuch seine vermittelnde Funktion zunächst einmal abgesprochen. Da wundert es überhaupt nicht, wenn mit der umständlichen Erstellung von „Hausorthographien" 46 bei all denjenigen, die aus professionellen oder privaten Gründen auf Einheitlichkeit bei der Schreibung, Interpunktion und Worttrennung Wert legen oder Wert legen müssen, ein Weg aus dem Dilemma gesucht wird, ein Weg, der allerdings kaum zur Stärkung der Einheitsschreibung beiträgt, sondern eher einem Rückfall ins ausgehende 19. Jahrhundert gleichkommt. Angesichts dieser Entwicklung kann man der von Horst Sitta vertretenen Auffassung, die Einheitsschreibung sei „im Kern nicht gefährdet"47, durchaus skeptisch gegenüberstehen. Jean Marie Zemb befürchtet sogar, die Neuregelung mindere die „Zukunftschancen des Deutschen", weil sie „Unheitlichkeit beschlossen" habe, „den anderen Europäern das Lesen erschwere" und die „zukünftige maschinelle bzw. automatische Analyse [geschriebener Sprache; Anm. des Verf.]" 48 verteuere. Wer orthographische Nachschlagewerke macht, sieht sich heute einem erheblichen Druck von außen ausgesetzt. Galt vor der Neuregelung und insbesondere seit 1955, dass kaum mehr möglich war, als die Schreibung insbesondere neu ins Deutsche integrierter Wörter nach den amtlichen Regeln oder nach im Schreibgebrauch gegebenen Analogien abzubilden und gegebenenfalls die wenigen, im Usus angebahnten Schreibvarianten (z. B. an Hand vs. anhand) zu zeigen, gibt es jetzt faktisch einen Zwang, auch Schreibungen zu lemmatisieren, für die es im Schrifttum (noch) keine Belege gibt, nur weil sie über das neue Regelwerk möglich gemacht werden sollen, allerdings ohne die Garantie, dass sie sich im Usus verfestigen. Die Wörterbuchmacher müssen sich mit den Regeln einer Orthographie auseinandersetzen und diese umsetzen, die in gewisser Weise den Rang des Experimentellen haben. Denn angesichts der bewusst gesteigerten Variabilität kann es nichts anderes bedeuten, wenn die Kommission in ihrem Bericht vom Dezember 1997 schreibt, sie werde „die Variantenfuhrung genau beobachten und aktiv nicht mehr benutzte Varianten zur Tilgung" vorschlagen 49 . Nicht Schreibtendenzen sind durch die Neuregelung aufgegriffen, 45

Sitta, Horst: Wie uneinheitlich dürfen unterschiedliche Rechtschreibwörterbücher sein? In: HansWerner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 219-228. Zitat S. 223. 46 Vgl. hierzu: Gelberg, Hans-Joachim: Konsequenzen der Rechtschreibreform. In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 57 f. 47 A. a. O., S. 220. 4 " Zemb, Jean Marie: Ja, wenn Sie mich fragen ... In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 255264. Zitat S. 262. 49 B e r i c h t s . 7.

Rechtschreibreform und

Rechtschreibwörterbuch

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sondern es werden erst solche eröffnet. Es wurde bereits erwähnt, dass sich die Wörterbücher kaum gegen eine solche gezielt angebahnte Entwicklung stellen können, wenn sie mit ihren Produkten konkurrenzfähig bleiben wollen. Gegen bessere Einsicht wird sich die Lexikographie dem Liberalisierungsdruck beugen müssen, zumal es auch keine allgemein verbindlichen Leitlinien für den Umgang mit den neuen Regeln im Rechtschreibunterricht gibt. Solche wären aber gerade für die Wörterbuchredaktionen hilfreich, denn sie würden zwangsläufig einen Hinweis dafür geben, was zwingend und was vielleicht doch nicht zwingend dargestellt werden muss. Insgesamt wäre es für die Neuregelung nützlich gewesen, von vornherein einen Unterschied zu machen zwischen dem, was an Rechtschreibnormen vermittelt werden soll, und dem, was in Diktaten und Klassenaufsätzen an Orthographie und Interpunktion zu akzeptieren ist. Wie sie sich ein orthographisches Wörterbuch idealiter vorstellen, haben Gerhard Äugst und Volker Bunse zusammen mit weiteren Autoren 1997 beschrieben.5" Die Verfasser empfehlen nach Auswertung unterschiedlicher Tests unter anderem, die Anzahl der Lemmata im peripheren Bereich zu erweitern, im zentralen Bereich des Wortschatzes aber zu verringern. Dem widerspricht zwar die bereits oben zitierte Auffassung Franz Josef Hausmanns; es wird aber auf jeden Fall zu Reduzierungen kommen müssen, wenn in Zukunft Schreibvarianten in ihrer ganzen Breite im Wörterbuch Platz finden sollen. Damit wird zwar einer eher künstlich forcierten Variabilität Genüge getan werden. Viele Benutzerinnen und Benutzer, die das orthographische Wörterbuch aber auch als Nachweis über die Existenz bestimmter Wörter betrachten oder für die es - bezogen zum Beispiel auf Regionalismen und Dialektalismen - eine entscheidende Rolle bei der eigenen sprachlichen Identifizierung spielt, werden dafür einen Informationsverlust hinnehmen müssen. Dass die Übersichtlichkeit auch innerhalb glattalphabetisch sortierter Lemmalisten durch die Notwendigkeit, Schreib- und Trennvarianten in großer Zahl abbilden zu müssen, leidet, ergibt sich von selbst. Das gilt schon gar, wenn - wie zum Teil praktiziert - variable Trennmöglichkeiten in jeweils separat aufgeführten Lemmata angezeigt werden (also etwa: in|sze|na|to|risch, auch: ins|ze|na|to|risch u. Ä.). Wirklich unbefriedigend für die Wörterbuchredaktionen ist, dass der mit der Rechtschreibreform angestoßene Prozess offensichtlich nicht leicht zu einem Abschluss kommt. Sie brauchen jedoch verlässliche Vorgaben, wenn sie auch zukünftig verlässliche orthographische Nachschlagewerke machen können sollen.

4. Literatur

4.1. Wörterbücher D U D E N , K O N R A D : VOLLSTÄNDIGES ORTHOGRAPHISCHES WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE.

Leipzig (Bibliographisches Institut) 1880.

50

Äugst, Gerhard, et al.: Rechtschreibwörterbücher im Test. Subjektive Einschätzungen, Benutzungserfolge und alternative Konzepte. Tübingen (Max Niemeyer Verlag) 1977 (= Lexicographica Series Maior 78).

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Matthias Wermke

D U D E N , K O N R A D : RECHTSCHREIBUNG DER BUCHDRUCKEREIEN DEUTSCHER SPRACHE. L e i p z i g u .

Wien (Bibliographisches Institut) 1903. DUDEN, RECHTSCHREIBUNG DER DEUTSCHEN SPRACHE UND DER FREMDWÖRTER. B e a r b . v o n D r . J.

Ernst Wülfing und Dr. Alfred C. Schmidt. 9., neubearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig u. Wien (Bibliographisches Institut) 1915. DUDEN-RECHTSCHREIBUNG DER DEUTSCHEN SPRACHE. 20., völlig neu bearbeitete und erweiterte A u f -

lage. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim (Dudenverlag) 1991. DUDEN-RECHTSCHREIBUNG DER DEUTSCHEN SPRACHE. 21., völlig neu bearbeitete und erweiterte A u f -

lage. Hrsg. von der Dudenredaktion. Auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln. Mannheim (Dudenverlag) 1991. E R B E , K.: WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN RECHTSCHREIBUNG. 2., nach d e m neuesten Stand der

Rechtschreibfrage bearbeitete und erweiterte Ausgabe. Stuttgart (Union deutsche Verlagsgesellschaft) 1904. ÖSTERREICHISCHES WÖRTERBUCH. Hrsg. im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten. Bearbeiter: Otto Back et al. 38. Auflage, Neubearbeitung, mit den neuen amtlichen Regeln. Wien (ÖBV Pädagogischer Verlag) 1997. SCHÜLERDUDEN-RECHTSCHREIBUNG UND WORTKUNDE. Hrsg. u. bearb. von Matthias Wermke und Werner Scholze-Stubenrecht unter Mitwirkung von Christine Beil et al. 5., auf der Grundlage der amtlichen Neuregelung der deutschen Rechtschreibung überarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim (Dudenverlag) 1997. 4.2. Sekundärliteratur Äugst, Gerhard, Blüml, Karl, Nerius, Dieter, Sitta, Horst (Hrsg.): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen (Niemeyer) 1997. - et al.: Rechtschreibwörterbücher im Test. Subjektive Einschätzungen, Benutzungserfolge und alternative Konzepte. Tübingen (Max Niemeyer Verlag) 1977 (= Lexicographica Series Maior 78). Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission „Vorschläge zur Präzisierung und Weiterentwicklung aufgrund der kritischen Stellungnahmen zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung" vom Dezember 1997. Blüml, Karl: Warum und mit welchem Ziel überhaupt eine Rechtschreibreform. In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 11-20. Bünting, Klaus-Dieter, u. Timmler, Wilfried: Probleme bei der Umsetzung der neuen Rechtschreibung im Wörterbuch. In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 25-38. Deutsche Rechtschreibung. Vorschläge zu ihrer Neuregelung. Hrsg. vom Internationalen Arbeitskreis für Orthographie. Tübingen (Gunter Narr Verlag) 1992. Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis nach der zwischenstaatlichen Absichtserklärung vom 1. Juli 1996. Mannheim (Dudenverlag) 1997 (= Duden-Taschenbücher 28). Eroms, Hans-Werner, u. Munske, Horst Haider (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997. Gelberg, Hans-Joachim: Konsequenzen der Rechtschreibreform. In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 57 f.

Rechtschreibreform und Rechtschreibwörterbuch

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Güthert, Kerstin, u. Heller, Klaus: Das Märchen von tausendundeiner Differenz. In: Muttersprache 4/97, S. 339-353. Hausmann, Franz-Josef: Die gesellschaftlichen Aufgaben der Lexikographie in Geschichte und Gegenwart. In: Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. Hrsg. von Franz Josef Hausmann, Oskar Reichmann, Herbert Ernst Wiegand, Ladislav Zgusta. Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1990, S. 1-19 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Hrsg. von Hugo Steger u. Herbert Ernst Wiegand, Bd. 5.1). Menzel, Wolfgang: Vorurteile ausräumen, Fehleinschätzungen beseitigen. In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 135-142. Munske, Horst Haider: Wie wesentlich ist die Rechtschreibreform? In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 143-156. Nerius, Dieter: Orthographieentwicklung und Orthographiereform. In: Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung Hrsg. von Hartmut Günther u. Otto Ludwig. Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1994, S. 720-739 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Hrsg. von Hugo Steger u. Herbert Ernst Wiegand, Bd. 10.1). - Das Orthographiewörterbuch. In: Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. Hrsg. von Franz Josef Hausmann, Oskar Reichmann, Herbert Ernst Wiegand, Ladislav Zgusta. Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1990, S. 1297-1304 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Hrsg. von Hugo Steger u. Herbert Ernst Wiegand, Bd. 5.2). Schrodt, Richard: Die neue Rechtschreibung - ein Ziel in Sicht. In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 209-217. Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, Dossier 42: Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Bern 1996. Sitta, Horst, u. Gallmann, Peter: Informationen zur neuen deutschen Rechtschreibung. Nach den letzten Beschlüssen vom Februar 1996. 2., aktualisierte Auflage. Mannheim (Dudenverlag) 1996. - Wie uneinheitlich dürfen unterschiedliche Rechtschreibwörterbücher sein? In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 219-228. Herbert Ernst Wiegand, Ladislav Zgusta: Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1990, Wiegand, Herbert Ernst: Deutsche Lexikographie der Gegenwart. In: Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. Hrsg. von Franz Josef Hausmann, Oskar Reichmann S. 2100-2246 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Hrsg. von Hugo Steger u. Herbert Ernst Wiegand, Bd. 5.2). Zemb, Jean Marie: Ja, wenn Sie mich fragen ... In: Hans-Werner Eroms u. Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin (Erich Schmidt Verlag) 1997, S. 255-264.

Undine Kramer

„So dürfen wir fragen, was ist denn eigentlich Seemannssprache?" Lexikologisch-lexikographische Anmerkungen zu einer „besonderen Sprache"

1. 2. 3.

Zur Einleitung Vorbemerkungen Zur lexikologisch-lexikographischen Dokumentation der Seemannssprache in Geschichte und Gegenwart

4. 5. 6. 7.

Komponenten der Seemannssprache Schlußbemerkungen Glossar Literatur

1. Zur Einleitung

„Die Seeleute aber entwickeln sehr früh eine besondere Sprache." See|manns|spra|che, die: Fach- und Berufssprache der Seeleute;

(Hirt 1909: 273) (DUW 1989: 1378)

„Zu den ältesten Berufssprachen im Deutschen gehören die Bergmannssprache [...] und die Seemannssprache." (Stedje 1989: 201) „Die Entwicklung der deutschen Fachsprache der Seefahrt erstreckt sich über einen langen Zeitraum..." (Opitz 1998: 1212) „Zur gleichen Zeit [im Spätmittelalter, U.K.] entwickelte sich auch der Sonderwortschatz der Seefahrt." (Schmidt 1976: 93) „Die Sprache der Segler ist nichts anderes als die Seemannssprache, die ebenso alt ist wie die Seefahrt selbst." (Grell 1937: 26) „Die Seglersprache ist wohl die älteste Fachsprache der Welt."

(Schult 1994: 7)

„Indem immer mehr Leute teilhaben an den ehemals exklusiven Tätigkeiten wie Segeln, [...], schwindet die Exklusivität des Jargons zugunsten einer allgemeinen Umgangssprache. Mit nunmehr ganz wenigen gruppensprachlichen Etikettierungen." (Löffler 1986: 234)

2. Vorbemerkungen

Eine befriedigende Antwort auf die obige, von Friedrich Kluge 1907 gestellte Frage, w a s denn nun eigentlich Seemannssprache sei, gibt es bis heute nicht, und sie erscheint ange-

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sichts der Vielschichtigkeit dessen, was sich mit dem tradierten Begriff Seemannssprache verbindet, auch kaum möglich, wenig sinnvoll und nicht unbedingt notwendig. Sehr viel aufschlußreicher als eine Begriffsbestimmung oder etwa die Zuweisung eines fach-, berufs- oder sondersprachlichen Etiketts durch die Beantwortung der Frage kann es sein, die Entwicklung dieser „besonderen Sprache" nachzuvollziehen, ihre Metamorphosen zu beschreiben und ihre Statusänderungen zu dokumentieren. So könnten z. B. Wirkungsmechanismen der Sprachentwicklung durch Gruppendynamik und -varianz sichtbar gemacht oder der Einfluß von Gruppensprachen auf den allgemeinen Sprachgebrauch untersucht werden. Die Seemannssprache bietet sich für ein solches Vorhaben u. a. aus folgenden Gründen an: • Seit über drei Jahrhunderten erfassen und beschreiben Wörterbücher unterschiedlichen Typs kontinuierlich den bestehenden und sich erweiternden bzw. verändernden Wortschatz der Seemannssprache und dokumentieren so u. a. auch die wechselseitigen Beziehungen von allgemeiner und besonderer Sprache. • Die Entwicklung der Seemannssprache veranschaulicht auf bemerkenswerte Weise über Jahrhunderte die Potenzen einer klassischen Gruppensprache im Zusammenwirken mit ihren jeweiligen Sprachträgern, und der Versuch einer Bestimmung ihres gegenwärtigen Status' vermag eine Ahnung der Leistungsfähigkeit und Flexibilität sprachlicher Varietäten und der durch Gruppendynamik beeinflußten Sprachentwicklung zu geben.' • Selbst in den Zuordnungen aus dem Begriffsparadigma 'Sondersprache' dokumentiert sich die lebendige Vielfalt der Seemannssprache: Sie vereint Elemente von Berufssprache und Standessprache, Jargon und Gruppensprache, Tabusprache, eingeschränkter Sprache, genderlect und Fachsprache. Dabei ist das Inventar der Seemannssprache nicht nur ein lexikalisches: Sie umfaßt außerdem einen weiten Bereich von nicht-sprachlichen Zeichen, wie z. B. (internationale) Flaggensignale, Betonnungszeichen, Seekartenzeichen und die seemännischer Zeichensprache. Sonderungen zeigen sich nicht nur im lexikalischen Teilsystem, sondern erfassen auch Syntax, Prosodie, Wortbildung und Morphologie. • Last but not least erfreute sich die überwiegend mit der Segelschiffromantik assoziierte Seemannssprache „im deutschen Sprachraum immer einer verhältnismäßig großen Popularität, die auch heute noch, gestützt auf die sich ausbreitende Sportschifferei als Freizeitbeschäftigung, seefahrtbezogene Sprechweise zu einem bevorzugten Stil- und Ausdrucksmittel der Gemeinsprache macht" (Opitz 1998: 1215).

Nur punktuell kann an dieser Stelle auf die zahlreichen und verschiedenen Gruppen hingewiesen werden, die gegenwärtig Träger der Seemannssprache sind, sich ihr im Sinne eines „temporären Soziolektes" (Löffler 1994: 127) bedienen bzw. nur peripher oder selektiv auf sie zugreifen: die Seeleute als die Berufsgruppe, die auf See und in der Schiffahrt arbeitet, Marinesoldaten, Berufsgruppen wie Bootsbauer, Segelmacher, Elektroniker, Computerfachleute, Meteorologen, Leistungssportler u.ä., die zunehmende Anzahl der Freizeitsegler mit „Familienanhang", alle die Gruppen, die mit 'Yachtindustrie und Regattazirkus' verbunden sind, wie Charterfirmen, Bootsverkäufer, Designer, Ausrüster usw.

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So ist es eigentlich erstaunlich, daß sprachwissenschaftliche Untersuchungen zur Seemannssprache seit den Arbeiten von Friedrich Kluge fast völlig fehlen. Ausnahmen sind lediglich die aktuellen, unter fachsprachlicher Fokussierung erfolgten Arbeiten von Opitz (1987,1991,1998) und die literaturwissenschaftlich orientierten Untersuchungen von Goltz (1996). Lexikologisch-lexikographische Ansätze zur Beschreibung der Seemannssprache, ihrem Status in der deutschen Gegenwartssprache, dem Platz im Gefüge der Varietäten, ihren Spezifika, ihrem Inventar, ihrer Stratifikation fehlen ebenso wie Untersuchungen zu ihrer Erfassung und Beschreibung in aktuellen Wörterbüchern und eine umfassende Darstellung ihrer lexikographische Dokumentation.

3. Zur lexikologisch-lexikographischen Dokumentation der Seemannssprache in Geschichte und Gegenwart

Die lexikologische Bearbeitung und lexikographische Erfassung der Seemannssprache beginnt schon frühzeitig2 und in allen großen Seefahrtnationen, und zwar in Wörterbüchern unterschiedlichen Typs. Im 16. Jahrhundert finden sich als erste erhaltene Quellen Segelanweisungen, Gezeitenbücher u.ä. Nathan Chytraeus' Nomenciator latinosaxonicus (Rostock 1582), der einige Seemannsausdrücke enthält, wird als Quelle u. a. bei Johann Leonhard Frisch (1741) angeführt. Aus Holland ist ein Nautisches Wörterbuch aus dem Jahre 1681 bekannt.3 Georg Friedrich von der Groeben verfaßt 1774 die „Erläuterungen zum Verstand der Schiffahrt und des Seekriegs nach alphabetischer Ordnung", und mit Johann Heinrich Roedings „Allgemeinem Wörterbuch der Marine in allen europäischen Seesprachen nebst vollständigen Erklärungen" liegt seit 1796 das erste umfassende Wörterbuch zur deutschen Seemannssprache vor. Roedings Leistung wertet Friedrich Kluge im Vorwort seiner „Seemannssprache" mit den Worten: „Er hat zum erstenmal den Reichtum der Seemannssprache mit lexikalischem Verständnis und mit sprachlichen Interessen verarbeitet." (1911: X) Diese Fachwörterbücher der Seemannssprache sind Beispiele einer sich im 18. Jahrhundert entfaltenden Sondersprachenlexikographie, die ein gewachsenes Interesse an den klassischen Berufs-, Standes- und Sondersprachen dokumentiert und vor allem eine Verwirklichung der Wörterbuchpläne Gottfried Wilhelm Leibniz' darstellt, der bekanntermaßen in den „ Unvorgreiflichen Gedanken" für eine umfassende Darstellung des deutschen Wortschatzes neben einem Lexicon (der Gemeinsprache) und einem Glossarium (etymologicum) auch ein Cornu Copiae (der Termini technici)4 forderte. Die Wörterbücher von „Lebens-Arten und Professionen [...] von Jagt- und Waid-Werk, von der Schiffahrt und dergleichen" dienen neben der Jeweils gruppenspezifischen Identi2

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Opitz (1998) kommt bei seinen Untersuchungen zur Entwicklung der maritimen Fachsprache zu dem Schluß, daß mit einiger Sicherheit das 11. Jahrhundert die Zeit ist, in der sich neben einer auf der mittelniederdeutschen Gemeinsprache beruhenden Nomenklatur des Schiffes eine „sozial bedingte Berufssprache des Seemanns" entwickelte. Vgl. dazu auch Kluge 1907: 64ff. vgl. auch de Smet (1960) und Kluge (1911) vgl. dazu Powitz 1977: VIII*

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tätsbildung" auch als Hilfsmittel „zum Erlernen der gruppeneigenen Sprache und den damit verbundenen standes- und berufsspezifischen Inhalten" sowie „der Dokumentation eines herausgehobenen, besonderen Sprachgebrauchs" (Kühn/Püschel 1998: 2062). Neben der Darstellung in SpezialWörterbüchern erhält sondersprachliche Lexik zudem mit ihrer Aufnahme in allgemeine Wörterbücher als integraler Bestandteil der Gesamtsprache Anerkennung. Leibnizens Forderung, daß „eine Musterung und Untersuchung aller teutschen Worte, welche, dafern sie vollkommen, nicht nur auf diejenige gehen soll, so jedermann brauchet, sondern auch auf die, so gewissen Lebensarten und Künsten eigen"5 die Voraussetzung ftlr ein umfassendes deutsches Wörterbuch sei, erfüllt sich 1741 mit dem „ Teutsch-Lateinischen Wörter-Buch " von Johann Leonhard Frisch. Der Berliner Gelehrte, der im Gedankenaustausch zu Sprach- und Wörterbuchfragen mit Leibniz stand und in der Berliner Societät der Wissenschaften 1723 seine eigene Konzeption eines mehrschichtigen (Gesamt)Wörterbuchs darlegte, versucht hier die erste Gesamtdarstellung des deutschen Wortschatzes, indem er über die Gemeinsprache seiner Zeit hinausgreift „und das Wortgut geschichtlicher Sprachstufen sowie der Mundarten und Berufssprachen heranzieht" (Powitz 1977: XIV*). Frisch sammelt konsequent und auf außerordentlich breiter Quellenbasis 'voces Technicas' und dokumentiert in bis zu diesem Zeitpunkt einzigartiger Weise die sondersprachlichen Elemente des deutschen Wortschatzes. Im ausführlichen Untertitel seines Wörterbuches umreißt er die Herkunftsbereiche der sondersprachlichen Lexik und expliziert, daß „Darinnen Nicht nur die ursprünglichen, nebst denen davon hergeleiteten und zusammengesetzten allgemein gebräuchlichen Wörter, Sondern auch die bey den meisten Künsten und Handwerken, bey Berg- und Saltzwerken, Fischereyen, Jagd- Forst- und Hauß-Wesen u. a. m."

vorkommen. Im Wörterverzeichnis findet sich neben der so angekündigten Lexik auch eine Reihe von seemannssprachlichen Ausdrücken6 u. a. abtakeln, Fall, Fock, Jacht, Mast, Reeder oder 9tcff, ein Keine« ©eegel, fo an bie groffen @eegel bei) fc&roac&en 2ßtnb nngcfetjtroirb,velum minus maiori annexum, vel additum. (Frisch 1977: Anderer Theil, 100)

Auch in der Folgezeit bleibt die Seemannssprache Gegenstand der Lexikographie. Es entstehen Wörterbücher, die zunehmend sprachwissenschaftlich ausgerichtet sind und so versuchen, das lexikalische Inventar der Sondersprachen, ihre Entstehung und Entwicklung aufgrund von Quellen möglichst vollständig zu erfassen und in seiner Verbindung und wechselseitigen Beeinflussung zur Gemein- oder Standardsprache zu beschreiben. Am Ende des 18. Jahrhunderts leitete Roedings „Allgemeines Wörterbuch der Marine" die systematische Beschreibung der Seemannssprache in Spezialwörterbüchern ein. Es

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zit. nach Schirmer 1981:15 Kursiv gesetzte seemannssprachliche Ausdrücke werden - sofern sie nicht als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können oder im Text erklärt werden - in einem Glossar kurz erläutert.

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folgten eine Reihe von Wörterbüchern, die zunehmend auch die technische bzw. fachsprachliche Seite der Seemannssprache berücksichtigten, u. a.7 • Bobrik, E. (1848): Handbuch der praktischen Seefahrtskunde. Leipzig (Neudruck Kassel 1978) • ders. (1850) Allgemeines nautisches Wörterbuch. Leipzig. (2. Auflage 1858) • Paasch, H. (1901): Vom Kiel zum Flaggenkopf. Antwerpen 1901. • Thomas, N.W. (1901): The Naval Wordbook. (Die Seemannssprache). Ein systematisches Wörterbuch marine-technischer Ausdrücke in englischer und deutscher Sprache. Kiel und Leipzig. • Goedel, G. (1902): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Seemannssprache. Kiel und Leipzig. • Stenzel, A. (1904): Deutsches seemännisches Wörterbuch. Berlin. Daneben gibt es eine Vielzahl von Wörterverzeichnissen, Glossaren, Annexen, die der Sammlung, Erklärung und Beschreibung seemannssprachlicher Ausdrücke dienen. Nicht zuletzt erfolgt auch in der von Friedrich Kluge herausgegebenen „Zeitschrift für deutsche Wortforschung" (190Iff.), die u. a. als Forum sondersprachlicher Forschung verstanden wird, eine kontinuierliche sprachwissenschaftliche Bearbeitung der Seemannssprache." Im ausgehenden 19. Jahrhundert und um die Jahrhundertwende erhöht sich die Zahl der Publikationen zur Seemannssprache insgesamt, was möglicherweise mit dem weltweiten Übergang von der Segel- zur Dampfschiffahrt, der veränderten Bauweise und Technologie des Schiffes wie auch den sich wandelnden Organisationsfomen auf See verbunden ist und die verstärkte Sammlung und Bewahrung des traditionellen Inventars der Seemannssprache erklärt.9 Die Seemannssprache, die es im Grunde genommen zum Zeitpunkt der Jahrhundertwende als homogenes Gebilde nicht mehr gibt - (Ob sie überhaupt jemals in „Reinkultur" existiert hat, sei dahingestellt.) - unterliegt jetzt einem zäsuralen Einschnitt, der die Ausweitungen und Differenzierungen zu früheren Zeiten in seinen Auswirkungen weit übertrifft. So gesehen, kann Opitz (1998: 1212) zugestimmt werden, wenn er die „Seemannssprache", die Friedrich Kluge 1911 vorlegt, als „Forschungsbericht über eine im Grunde abgeschlossene sprachgenerative Phase" bezeichnet. Kluge erklärt im Vorwort: „Itoe »orliegenb« SSBetf hängt mit feinen (»ftorifcljen 3fcfiehten hauptfachUch jufommen mit ber ©egetfclitffahrt unb nic&t eigentlich mit ber Dampffchtffahrt", und trotz dieser bis dato umfangreichsten Sammlung zur deutschen Seemannssprache „tann von einer Qrrfc&övfung be« feemünnifcfcn ©pracliftoffee nach feiner Seite hin bie 9leb< «ein" (Kluge 1911: VIII)

7

Weitere bibliographische Angaben finden sich im „Chronologischen Verzeichnis der wichtigsten Wörterverzeichnisse und Wörterbücher zur Begriffsbestimmung seemännischer Ausdrücke" in Kluge (1911) und in Bischoff(1916). * Seemännische Ausdrücke werden z. B. in Bd. 4, Bd.8, Bd. 12 untersucht. * vgl. dazu die Ausfuhrungen zur traditionellen maritimen Fachsprache von Opitz 1998.

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Friedrich Kluges umfangreiches Werk steht am Ende eines von der historischen Sprachwissenschaft geprägten Abschnitts der Sondersprachlexikographie und hat „bis heute keine aktualisierende Nachfolge gefunden" (Opitz 1998: 1216), was sicherlich auch mit dem oben beschriebenen gravierenden Einschnitt in die Seemannssprache zu tun hat. So erscheinen in der Folgezeit Wörterverzeichnisse und Wörterbücher"1, die die zunehmend differenzierte Schichtung der Seemannssprache zu erfassen suchen. Häufig sind die Bereiche, auf die die Wortsammlungen referieren, bereits im Titel erkennbar, z. B. • Brummküsel, H. (1933): 1000 Worte Marinedeutsch. Wilhelmshaven. (2. Auflage 1950, 3. Veränderte und vermehrte Auflage 1967) • - (1930) Verzeichnis gebräuchlicher seemännischer und marinetechnischer Wörter, die Schwierigkeiten in der Rechtschreibung bieten. Herausgegeben von der Inspektion des Bildungswesens der Marine. Kiel. • - (1937) Verzeichnis seemännischer Wörter zusammengestellt im Auftrage der Inspektion des Bildungswesens der Marine. Glückstadt. • Eichler, C. (1943): Vom Bug zum Heck. Seemännisches Hand- und Wörterbuch. 2. Vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin. (3. Auflage 1964, Bielefeld, Berlin) • Timmermann, G. (1953): Deutsche Seemannsausdrücke. Hamburg. • Werckmeister, G. (1958): Luv und Lee. Seglers ABC. Braunschweig, Berlin • Dietel, W. (1964): Seefahrts-Wörterbuch. Dictionary of nautical terms. 2. Auflage, München. • Dluhy, R.: (1974): Schiffstechnisches Wörterbuch. Hannover. • Zienert, J. & P. Heinsius (1983): Decksdeutsch heute: A-Z. Herford • Schaper, M. & P. Göll (1991): Bord-Jargon. Dem Seemann aufs Maul geschaut. Hamburg Die Aufstellung braucht keine Vollständigkeit, um die innere Differenziertheit der Seemannssprache zu verdeutlichen, die nach selektiver lexikographischer Erfassung verlangt. Wie verfuhren nun allgemeine (Gesamt)Wörterbücher nach J. L. Frisch mit der Seemannssprache? Da eine gründliche Sichtung des vorhandenen lexikographischen Materials zur Beantwortung dieser Frage noch aussteht, sollen hier nur einige Stichproben gegeben werden. Auch nach Johann Leonhard Frisch wurde der Wortschatz der Seemannssprache kontinuierlich kodifiziert: Johann Christoph Adelung verzeichnet, da es ihn in seinem „ Grammatisch-kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen Mundart" (1793-1801) um eine möglichst umfassende Beschreibung des Wortschatzes geht, auch seemannssprachliche Lexeme, wie z. B. das folgende: £)i< ©cfcote, plur. bi« -n, in ber ©c&ifffalirt, eine 2frt ©eile an ben (Ecfett ber ©«gel, «ermittelft welcher man fie fc {teilet, ba§ fte ben 2Binb faffen. Die 3c(ioten befommen ben Stammen »on bem ©egel, woran fie fiel) befinben; bie 9Jtarefc(iote, ®ramfc(iote, ©teucrfcfcote u.f.f. Die @c$oten unb Ralfen finb Hog barin unterfclneben, bag fiefj jene am $intertfteile, biefe aber am Starbertfcile befinben. (Adelung 1990: 1637)

In der lexikographischen Praxis griffen die Verfasser der Wörterbücher selbstverständlich auf die Sondersprachlexikographie zu, wie eine Aussage von Friedrich Kluge veranschaulicht. 10

Eine Bibliographie ist in Vorbereitung.

„ So dürfen wir fragen, was ist denn eigentlich Seemannssprache? "

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„Die beutfc&e ©prac&roiffenfclwft tee 19. ^aWunber« (at w>n bem SBerfe [Roeding 1796, U.K.] fo luetiig Slofij genommen, tufjfca«©rimmfc&e 2ßörterbucl> faft immer nur ten im 3«&re 1850 erfefüenenen Otuejug barnue von SJokrif [1848, U.K.] namlwfr macdt." (Kluge 1911: X) Das „Deutsche Wörterbuch" nimmt die „Sprache der hirten, jäger, vogelsteiler, fischer u. s. w." sowie die Fachwortschätze der alten Handwerke und Gewerbe auf (vgl. 1, X X X ) und expliziert zur Seemannssprache folgendes: „desto lebendiger musz das schifferleben sein, doch die nhd. mundart bietet nur einen kleinen Vorrat von Wörtern aus seinem kreis an hand, aus Niederdeutschland und den Niederlanden sind allmählich fast alle Wörter der Schiffahrt entliehen worden, statt deren unsere frühere zeit manche abweichende, eigene besessen haben wird. Gleich anderen niederdeutschen ausdrücken durften aber auch die meisten seemännischen keinen eingang ins Wörterbuch finden, und BOBRDC wird einsehen, dasz mir sein nautisches Wörterbuch und NEMNICHS Sammlungen wenig oder nichts halfen; in KOSEGARTENS schickt sich dieser vorrat schon besser" (Grimm 1854: XXX). Ausführlich lemmatisiert wurden dennoch zahlreiche seemännische Wörter, z. T. mit sondersprachlichem Kontext, darunter Focke und Schote: SCHOTE, f. (seemännische bezeichnung), segelleine, die an der ecke des segels angebracht ist; die schote macht das segel nach hinten fest, die halsen wirken den schoten entgegen BOBRIK 609; bei günstigem winde, der beinahe von hinten kommt, segelt das schiff mit fliegenden (d. h. losen) schoten; kommt der wind von der seite, wird die leeschote angeholt (schärfer angezogen), die luvschote gefiert, aufgegeben, aufgestochen oder geräumt (d. h. entsprechend losgelassen), sodasz der wind eine gröszere fläche drückt. Nach den segeln, zu denen sie gehören, werden die schoten näher bezeichnet als grosze schoten, fock-, vormarsschoten u. s. w. schote vel schoote, funis velor u m STEINBACH 2, 5 0 1 ; n d . s c h o o t : d e s c h o o t a n h a l e n RICHEY 2 3 6 ; d e s c h o o t fieren SCHÜTZE 4, 5 9 ; v e r g l . TEN DOORNKAAT KOOLMANN 3, 139; bei STÜRENBURG 2 3 3 als s c h o t e v e r z e i c h n e t , d a s

wort gehört seit alter zeit der nordgermanischen seemannssprache an und fährt auf die ursprüngliche bedeutung von schosz (ecke, zipfel, spitz zulaufender saum) zurück; altn. skaut, n. bezeichnet die unteren beiden zipfel des segels, das am zipfel befestigte seil heiszt skautreip. ags. sceäta, m. glossiert pes veli WRIGHT voc. 1, 288, 25, das zugehörige seil wird sceätline genannt (ebenda 24); die neuenglische bezeichnung ist sheet; nid. schoot ist m., unser weibliches schote bildete sich erst unter dem einflusse des hochd. aus dem germanischen stammt franz. £coute, span, escota, ital. scotta. (Grimm 1899: 1607/1608) Auch das dreibändige „Wörterbuch der Deutschen Sprache" von Daniel Sanders (18601865) kodifiziert seemannssprachliches Wortgut und führt als Quelle das schon erwähnte „Handbuch der praktischen Seefahrtskunde" von Bobrik (1848) an, wobei Sanders im Unterschied zu Frisch und Adelung eine explizite Markierung der sondersprachlichen Herkunft bzw. Zugehörigkeit mit '©c&iff.' vornimmt: @c$»t Leitösen, Leitblöcken o.ä. sowie durch ihre Befestigung in -» Schotklemmen stark belastet und daher aus Polyesterfasern hergestellt, die keinen Reck haben. Eine S. muß -»lehnig sein und einen Mantel aus Stapelfasern besitzen, damit sie griffig ist. (Schult 1994: 424)

" So werden neben einer implizierten Zuordnung in der Bedeutungserklärung noch verwendet: Seewesen, Schiffahrt, Schiffbau, seemännisch, Seemannssprache, Segeln u. a. (vgl. hierzu v. a. Ludwig 1991)

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Schot vc. Diejenige einfach oder als Tau geschorene Leine des laufenden Gutes, mit der man ein Segel in die richtige Stellung zum Wind bringt, es dichtholt oder auffiert. Bei einem Rahsegel die Taue, die die unteren beiden Ecken des Segels zu den Nocken der darunter befindlichen Rah ausholen; bei einem Untersegel das Tau, das die untere Lee-Ecke des Segels festhält. Schoten sind das am meisten beanspruchte laufende Gut einer Yacht, und man verlangt von ihnen neben großer Bruchfestigkeit, daß sie lehnig und griffig sind. Früher wurde Baumwolltauwerk benutzt; an seine Stelle ist ummanteltes Kunstfasertauwerk getreten. (Claviez 1994: 322/323) Smut, Smutje, der (ship's cook, „doctor") Übliche Bezeichnung für den Bootskoch. Urspr. war sie durch die Herkunft vom Niederdt. „smutt = Schmutz, Rauch" nicht unbedingt anerkennend gemeint, so daß sie in der -»Schiffahrt nicht gern gesehen ist und durch „Schiffskoch" ersetzt wird. (Schult 1994: 467) Smutje, Smut (nd.) m Volkstümliche Bezeichnung fur den Schiffskoch. Die fraglos zugrundeliegende Bedeutung „Schmutz", „schmuddelig" läßt erkennen, daß der Name Smutje für den Schiffskoch einst eher eine Spottbezeichnung als ein Kosename war. Mit der Wandlung der hygienischen Bedingungen an Bord hat sich dieser Beigeschmack jedoch verflüchtigt. (Claviez 1994:350/351) Spinnaker, der (Kurzform: Spi) (spinnaker) Ein großflächiges, ballonähnliches -+ Beisegel, das auf räumen Kursen (von raum-vorlich bis vor dem Wind) gefahren wird. Es hat den ca. doppelten Flächeninhalt des Vorsegeldreiecks, weil seine größte Breite fast doppelt so lang wie der an -» Deck gemessene Abstand zwischen Mast und Vorstag (nach der -»IOR-Formel 1,8 dieses Wertes) sein darf. Außerdem arbeitet der S. außerhalb des Vorsegeldreiecks, auch wenn die Fallscheibe für das - • Spinnakerfall hinter dem Vorstag liegt. Der S. ist symmetrisch geschnitten und wird an der jeweiligen -* Luvseite durch den -* Spinnakerbaum (von ca. halber -»· Unterliekslänge) ausgebaumt. Die drei Ecken und Lieken werden wie bei jedem anderen -» Vorsegel benannt, doch wechselt ihre Bezeichnung beim Schiften, wenn der Spinnakerbaum an einer Ecke, dem bisherigen -» Hals gelöst und an der anderen Ecke, dem bisherigen -» Schothorn neu angeschlagen und diese Ecke somit zum neuen Hals wird. Für bestimmte S. wurden spezielle Bezeichnungen entwickelt, z. B. Sturmspinnaker, -* Star-Cut, Flachmann. Ebenfalls wurden Zusatzsegel zum S. wie z. B. Spinnaker-Stagsegel und Leespinnaker entwickelt. Auch gibt es zahlreiche Einrichtungen, um die Bedienung des S. zu erleichtern, z. B. Spinnaker-Trompete und Spinnakernetz. (Schult 1994: 475/476) Spinnaker m. Viertel- bis halbkugelförmiges Beisegel einer Yacht für achterlichen und räumen Wind. Seine Größe wird durch zwei Maße bestimmt: Höhe (oberster Punkt des Vorsegeldreiecks) und Länge des Spinnakerbaumes (nicht größer als die Fußlänge des Vorsegeldreiecks). Der Grad der Bauchigkeit des Spinnakers bestimmt seine Verwendbarkeit bei seitlichen Winden. Der Ursprung des aus dem Engl, übernommenen, um 1865 zuerst nachweisbaren Wortes ist nicht ganz sicher; man vermutet eine Entstellung von spin-maker (spin = dahinsausen, schnelle Fahrt, schneller Ritt) (Claviez 1994: 356)

„So dürfen wir fragen, was ist denn eigentlich Seemannssprache? "

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4. Komponenten der Seemannssprache

Seemannssprache ist heute eine tradierte Bezeichnung fur ein gruppensprachliches Konglomerat und nicht einfach gleichzusetzen mit der Berufssprache der Seefahrt, dem Wortschatz des Segeins, den Jargon von Marinesoldaten oder der Fachsprache der Nautik. Seemannssprache ist - entsprechend der unterschiedlichen Gruppen und Intentionen ihrer Träger und Benutzer - als eine Mehrkomponentensprache ein neuer Typ von Gruppensprache.12 Einige dieser Komponenten seien im folgenden kurz skizziert:13 •

Komponente: Fachsprache

Die Seemannssprache entspricht als Fachsprache in ihrem formalen Aufbau durchaus anderen Fachsprachen, weist also die bekannte Schichtung des Fachwortschatzes in Termini, Halbtermini und Fachjargonismen auf. Neben den seit den Anfängen der Seefahrt existierenden Begriffen wie Segel, Luv, Lee, Back und Bug hat die Seemannssprache im Laufe ihrer Existenz nicht nur ihren indigenen Lexembestand ständig erweitert, sondern eine große Anzahl von Lexemen anderer Fachsprachen aufgenommen, so aus der Elektronik und dem Funkwesen, der Meteorologie, dem Schiffahrtsrecht, der Motorenkunde usw. Darüber hinaus differenziert sich die Seemannssprache als Fachsprache traditionell in die maritime Fachsprache, die nautische Fachsprache und die Fachsprache der Marine. Beispiele aus dem fachsprachliche Bereich der Seemannssprache sind z. B. die Termini Etmal, Curry-Klemme, Spring, Unterbrochenes Feuer. Zu Halbtermini und Fachjargonismen können Lexeme wie Fifty-Fifty, Kaventsmann oder Elefantenhaut gezählt werden. •

Komponente: Berufssprache/Handwerkersprache

Schon zu ihrer Entstehungszeit war die Seemannssprache gleichzeitig auch Berufs- und Handwerkersprache, ist doch Seefahrt ohne Schiffbauer, Seiler, Segelmacher, Reepschläger, Schauerleute, Reeder und ihren speziellen Wortschatz gar nicht denkbar. Dieser Bereich „lieferte" der Seemannssprache u. a. die Wörter Schäkel, Spleiss oder auch Patent. •

Komponente: Tabusprache

In der Zeit ihrer Entstehung trug die Seemannssprache - ähnlich wie die der Fischer - Züge einer Tabusprache. Auch in der Gegenwart finden sich noch zahlreiche abergläubische Elemente in der Seemannssprache (vgl. Wossidlo 1959). Dazu gehören z. B. das Ritual der Schiffstaufe, die Namengebung - in der älteren Literatur häufig als 'Beseelung' des Schiffes beschrieben - und die maritimen Sagenfiguren Klabautermann und Erasmus bzw. Ras12

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Vgl. dazu die aktuelle Beurteilung von Fach-, Berufs- und Sondersprachen als differente Prototypen von Gruppensprachen bei Möhn (1998: 175), wo z. B. die Jägersprache als „eine Zweikomponentensprache mit fach- und sondersprachlichen Anteilen" bestimmt wird. Ausgeklammert wird an dieser Stelle die dialektale Gebundenheit der Seemannssprache. Vgl. dazu vor allem Wossidlo 1959.

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musEin besonders langlebiges und bis in die Gegenwart wirkendes Tabu betraf die Frauen: Die tief verwurzelte Angst aller Seeleute, daß Frauen auf Schiffen Unglück bringen, hielt diese von der Berufs-Seefahrt fern: „Dat is nu mal de olle Seemannsglow': Schörten bringen Unglück. - Wiewerröck an Boord bringt Stried und Moord." (vgl. Wossidlo 1959: 73). •

Komponente: Jargon

Jargonismen sind fester Bestandteil der Seemannssprache. Es finden sich unterschiedliche Jargons: z. B. die relativ gut untersuchte Bordsprache der Marinesoldaten und der bisher kaum erfaßte Jargon der Freizeitsegler. Jargonismen sind z. B. der ALTE (für Kapitän), Krähennest (für Mastkorb), Blechbüchse (für Tonne, Seezeichen), Stegsegler (für Bootsbesitzer, der nur im Hafen, am Steg liegt und kaum segelt) oder auch Shave and a Haircut („Haarschneiden und Rasieren" für Routineüberholungen am Boot, wenn kein wirklicher Schaden vorliegt). •

Komponente: Standessprache

„Alle Seeleute aber, von welchen Schiffen sie auch sein mochten, fühlten sich als bevorzugter Stand den Landratten gegenüber. Schon die Besonderheit ihrer Standessprache erfüllte sie mit Stolz." (Wossidlo 1959: 49f.) Auch 'Standesunterschiede' innerhalb der Gruppe der Seeleute wurden sprachlich markiert: „Kommißjungens nennten wir so'n Seelüd, dee von de Marine kernen und nicks von de Seefohrt verstünnen. [...] Slickmadrosen nennen wi Madrosen, dee blos inne Oost- und Nuurdsee fohren: dee is uppe Slick fohrt. Frischwatermadrosen sünd so'n, dee blos uppe Kahns uppe Elw usw. fohren. [...] Dagegen: Deepwatermadrosen: dat sünd richtige Seelüd'." (Wossidlo 1959: 48)



Komponente: genderlect

Seemannssprache war seit ihren Anfängen und über einen sehr langen Zeitraum hinweg durch den nahezu vollständigen Ausschluß von Frauen eine Art genderlect. Am Tabu der beruflichen Seefahrt änderte sich auch dann zunächst nicht „als die Menschen an Land - die keine Seeleute waren und mit der Berufsschiffahrt überhaupt nichts zu tun hatten - damit begannen, aus Spaß zur See zu fahren" (Janßen 1988: 26). Das Freizeitsegeln war Männersache.15 Schon 1794 führt in Roeding in seinem Wörterbuch unter dem Lemma Jacht den 14

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Im Englischen wird auch heute noch von einer Yacht, einem Boot oder einem Schiff ausschließlich als 'she' - also von einem belebten Wesen -, nicht als '//'(= unbelebt) gesprochen wird. Deutsche Segler ernten mißbilligende Blicke für das vermeintliche Kompliment „It's a nice boat", denn 'the boat' ist belebt und damit she. Diese Tradition wird auch häufig als mögliche Erklärung für die streng weibliche Form bei Bootsnamen (die „Bismarck", die MS „Brandenburg", die Bavaria, die Dehler als Typenbezeichnungen...) angeführt. So fanden erst ab 1951 überregionale Frauenregatten in Deutschland statt, 1966 durfte erstmals eine Frau einen englischen Yachtclub betreten, olympische Disziplin ist Frauensegeln erst seit 14

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Beispielsatz an: „etliche Städte und große Herren unterhalten auch Jachten zu ihrer Belustigung" (zit. nach Kluge 1911: 392). Doch nicht allein das Segeln war eine Domäne der Männer, die „strenge Trennung zwischen der Frau hier und der Seemannschaft dort wurde [...] nicht auf das Boot selbst beschränkt, sondern an Land, im Yachtclub, konsequent durchgesetzt" (Janßen 1988: 26f.) Die Komponente 'genderlect'16 wird recht anschaulich, wenn man das der Seemannssprache für weibliche Berufsbezeichnungen zur Verfügung stehende Repertoire betrachtet: Es gibt kein weibliches Äquivalent von Seemann. Das mußte auch die „Gesellschaft für deutsche Sprache" in Wiesbaden erfahren, als sie auf eine Anfrage des Autors der „Fingerzeige für die Gesetzes- und Amtssprache" eine Preisaufgabe auslobte, dieses weibliche Äquivalent zu finden (vgl. Sprachdienst 2/1998 und 5/1998). Die Lücke im Wortschatz ließ sich mit Analogiebildung wie etwa bei Feuerwehrmann/Feuerwehrfrau nicht schließen, möglicherweise besteht auch das Bedürfnis oder die Notwendigkeit dazu nicht, da die eingeführte Berufsbezeichnung Seemann in der Gegenwart stets differenziert wird: In der professionellen Sphäre der Seefahrt wird von Nautiker/Nautikerin, Bootsmann/Bootsfrau, Steuermann/Steuerfrau, Kapitän/Kapitänin oder Schiffsführer/ Schiffsführerin u.ä gesprochen, der Freizeitbereich behilft sich mit vielen Synonymen wie Seglerin, Skipperin, Bordfrau, Crew-Kameradin usw. (Vielleicht gibt es den Seemann ja genausowenig wie die Seemannssprache, und eine movierte Form ist nicht notwendig?) In der Gegenwart ist die Seemannssprache selbstverständlich kein Tabu-Gebiet für Frauen mehr: Von den weltweit mehreren Millionen Menschen, die - vor allem als Hobby auf großen und kleinen Booten unterwegs sind, sind ca. 40% Frauen (vgl. Janßen 1988: 29). •

Komponente: Eingeschränkte Sprache

Durch die Veränderungen in der modernen Seefahrt der letzten Jahrzehnte - größere, schnellere Schiffe, mehr Segelboote und Blauwassersegler als früher auf allen Meeren und erheblich mehr Transatlantiktörns von Freizeitseglern, eine größere Anzahl von Regatten um die Welt - änderten auch die Anforderungen an die Sprache auf See. Obwohl sich Englisch bereits als internationale Sprache der Seefahrt und der Segler durchgesetzt hat, wurde 1980 in Großbritannien ein Projekt ins Leben gerufen, um eine Sprache für die internationale Schiffahrt zu entwickeln, eben die Seaspeak." Sprachliche Variation existiert hier praktisch nicht mehr, dafür routinemäßig gebrauchte formelhafte Konstruktionen und ein stark eingegrenzter Wortschatz; auch die Prosodie ist starren Konventionen unterworfen. Die Seaspeak, die als integraler Bestandteil der modernen Seemannssprache anzusehen ist, weist Charakteristika einer eingeschränkten Sprache (im Sin-

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Jahren und bis 1984 waren Frauen beim bekannten Bremer Hochseeseglerabend, bei dem die alljährliche Würdigung herausragender seglerischer Leistungen stattfand, nicht erwünscht (vgl. auch Janßen 1988) Natürlich war dieser Terminus zu der Zeit, als die Seemannssprache aufgrund ihrer Sprachträger eine vorwiegend 'männliche' Sprache war, noch nicht existent. vgl. hierzu vor allem Chrystal (1993: 56f.)

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ne von Firth) auf. Vor allem im UKW-Funkverkehr, bei Mitteilungen für verschiedene Bereiche der Schiffahrt und natürlich im Seenotverkehr kommt Seaspeak zum Einsatz. Beim Senden von Rufzeichen, beim Buchstabieren oder bei der Nennung von Einzelbuchstaben wird das phonetische Alphabet der N A T O verwendet, wobei jedem Buchstaben und jeder Zahl eine spezielle Aussprache mit festgelegter Betonung zugeordnet ist, z.B.: A = Alpha, Β = Bravo, 0 - Zero, 15 - One Five. Es gibt vorgeschriebene syntaktische und lexikalische Verhaltensweisen bei der Informationsübermittlung. So müssen etwa Kurse, die auf einer 360-Grad-Skala notiert werden, immer in dreistelligen Werten angegeben werden, also 009 degrees, nicht 9 degrees. Das Datum wird mittels Präfigierung bezeichnet, ζ. B. 25.09.1997 = da}> two-five, month zeroniner, year one-niner-niner-seven. Für Begründungen gibt es vereinfachte Satzkonstruktionen. Subordinierende kausale Konjunktionen werden vermieden, es wird ausschließlich reason verwendet, ζ. Β. I intend to enter stern first, reason: my port thruster is damaged. (Ich werde mit dem Heck voran einlaufen, Grund: Mein Backbordantrieb ist beschädigt.)™ Spezielle Kennworte weisen auf die Art der Mitteilung hin. Question, Instruction, Warning, Intention. Zu jedem gehört ein eigenes Kennwort zur Erwiderung, ζ. B. Answer, Instruction-received, Advice-recieved. Es sind nur bestimmte Frageformen gestattet: Steigende Intonation ist ebenso verboten wie question tags. Mit Kennwörtern wie Understood, Mistake, Over, Out werden die Mitteilungen wechselseitig überprüft und ggf. korrigiert. Definierte Kennworte gibt es für Notsituationen ( m a y d a y j , für Dringlichkeit (pan-pan) und Sicherheit (securite). •

Komponente: Temporärer Soziolekt

Die Seemannssprache ist schon relativ lange Gruppensprache von Sport- und Freizeitgemeinschaften, weit verbreitete Hobby-Sprache und damit ein temporärer Soziolekt. Mit diesem Status ist ein stark selektierender Sprachgebrauch verbunden, denn ein Freizeitskipper benötigt natürlich nicht das gesamte Inventar aller Komponenten der Seemannssprache, sondern eher ein seinen spezifischen Bedürfnissen genügendes Inventar, das ζ. B. aufgrund der Fahrtgebiete, des Bootsmaterials, der Bootsgröße, der technischen Ausstattung u. a. erheblich differieren kann und im allgemeinen recht vage mit Seglersprache bezeichnet wird. 1 '' Häufig wird auch darauf verwiesen, daß die Seglersprache die älteste und grundlegende Konstituente der Seemannssprache sei, daß nirgendwo sonst der originäre Wortschatz der Seefahrt bewahrt ist. (vgl. Grell 1937; Schult 1994; Claviez 1994). Dabei wird vielfach übersehen, daß auch die Seglersprache - die nur in Ausnahmefällen, etwa auf einem Segelschulschiff, noch berufssprachlichen Status20 hat, ansonsten aber von Freizeitseglern getra-

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Beispiele nach Crystal (1993: 57) Nach Auskunft des Deutschen Seglerverbandes waren 1997 in Deutschland 192.000 Segler in 1.400 Vereinen und Clubs organisiert; dazu kommt eine geschätze Anzahl von 4 0 % 'Unorganisierten'. Insgesamt gibt es gegenwärtig ca. 1,5 Millionen Deutsche, die über Segelscheine verfügen. Claviez (1994: 8) hält eine „Trennung zwischen Begriffen, die der beruflichen Seefahrt und solchen, die der Sportschiffahrt angehören", ohnehin nicht für möglich.

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gen wird - ein mehrkomponentionelles Kommunikationsmittel ist. Joachim Schult bemerkt im Vorwort seines „Segler-Lexikons" , das ca. 5500 Lemmata enthält, dazu: „Unsere heutige Seglersprache ist auch so umfassend, weil sie in ihrer traditionsreichen Eigenständigkeit zwischen vielen Teilbereichen anderer fachlicher Disziplinen angesiedelt ist. Mit zunehmender Technisierung wurde nicht nur die Anzahl der Sachgebiete größer. Es wurde auch unumgänglich, tiefer in einige von ihnen einzudringen. So ist der Segler heutzutage nicht mehr nur der Skipper seiner Yacht, der sich gründlich in Seemannschaft und Navigation, Wetterkunde und Schiffahrtsrecht auskennen muß, wenn er sein Boot sicher fuhren will. Als Eigner hat er auch über neue Bootstypen zu entscheiden [...] Als Käufer auf dem Bootsmarkt muß er über Preis- und Qualitätsunterschiede in der Segelfertigung und Tauwerksherstellung, bei Ausrüstungsteilen und Sicherheitsgeräten informiert sein, er muß handwerkliche Fähigkeiten vom Takler bis zum Mechaniker beherrschen, mit seinem Bootsmotor umgehen können und den Wert seiner elektrischen und elektronischen Bordeinrichtungen kennen..." (Schult 1994: 7)

Auch Wolfram Claviez, Verfasser des „Seemännischen Wörterbuchs" weist auf die Vielfalt dessen hin, was gegenwärtig die Seemannssprache ausmacht, und versucht „den Sektor Maritime Welt" sprachlich zu umreißen, dessen thematische Vielfalt „vom Antifoulingproblem bis zum Verkehrstrennungsgebiet und vom Admiral's Cup bis zum Whitbread Race" reicht und darüber hinaus die „nautischen Fachausdrücke vergangener Epochen lebendig" hält (vgl. Claviez 1994). So verzeichnen aktuelle Fachwörterbücher zur Seemannssprache z. B. neben Lemmata wie Besan, Speigat und Smutje - die aufgrund ihres „langen Lebens" ebenfalls in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern zu finden sind - auch Einträge zu EPIRP, GPS oder plotten, die man außerhalb von Spezialwörterbüchern nur selten findet. Die hier ausgewählten und kurz skizzierten Komponenten stellen das Grundinventar der Seemannssprache dar, sind aber längst nicht alle, die den gegenwärtigen Status und die aktuelle Form von Seemannssprache ausmachen: So fehlen Aussagen z. B. zu sprachlichen Besonderheiten von Seekarten, dem Betonnungssystem, den Flaggensignalen oder der seemännischen Zeichensprache. Diese Bereiche der „Maritimen Welt" sind fachspezifisch und deshalb entsprechenden Publikationen vorbehalten, das lexikalische Inventar der beschriebenen Komponenten dagegen ist in hoher Frequenz auch in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern zu finden.

5. Schlußbemerkungen

Die lexikographische Kodifikation seemännischer Ausdrücke hat eine lange Tradition und spiegelt die Jahrhunderte währende Beziehung zwischen der „besonderen Sprache" der Seefahrt und allgemeiner Sprache wider. Seit Kluges „So dürfen wir fragen, was ist denn eigentlich Seemannssprache? ", was er mit seinem etymologischen Standardwerk Seemannssprache zumindest in Teilen zu beantworten sucht, gab es kaum Untersuchungen zu Aufbau, Inventar oder zur kommunikativen Reichweite dieser Gruppensprache. Desiderabel sind auch Studien zu Archaisierungspro-

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zessen, Neologismenbildung, Bedeutungswandel, Entlehnungsvorgängen und nicht zuletzt zur Wortbildung der sich seit 1911 stark gewandelten Gruppensprache. Die Problematik der Mehrdeutigkeit in Beziehung zur Allgemeinsprache und hierbei die Divergenz paradigmatischer und syntagmatischer Relationen polysemer Lexeme in gruppensprachlichem oder allgemeinsprachlichem Kontext sowie ihren Kollokationen und nicht zuletzt eine Bestandsaufnahme von in die Allgemeinsprache übergegangener seemännischer Lexik und die damit im Zusammenhang stehenden Aspekte der lexikographischen Kodifizierung bedürfen einer (corpusbezogenen) Analyse. Wenn Opitz (1998: 1215) meint, daß „seefahrtbezogene Sprechweise" ein „bevorzugtes Stil- und Ausdrucksmittel der Gemeinsprache" sei, so ist diese These zu verifizieren, auch wenn sie sich in so simplen Beispielen wie den folgenden offensichtlich zu bestätigen scheint: • Die FDP hat einen neuen Kurs eingeschlagen. • Bisher hat Waigel mit geschickter Navigation die Untiefen und Klippen seiner Finanzpolitik umsteuert. • Henning Voscherau streicht die Segel.21 Kurs - ursprünglich ausschließlich 'Fahrtrichtung eines Schiffes', dann erweitert auf die 'Flugrichtung von Flugzeugen' - wird schon seit langem in der Allgemeinsprache synonym zu Richtung verwendet. Auch Navigation, steuern, die Segel streichen sind längst Elemente der Allgemeinsprache und werden bei ihrer metaphorischen Verwendung nur noch selten als sondersprachliche Lexik oder gar als seemannssprachliche Termini wie bei Untiefe oder Klippe erkannt. In diesem Zusammenhang soll noch einmal auf die zur Einleitung geäußerte Einschätzung Löfflers verwiesen werden, daß „immer mehr Leute teilhaben an den ehemals exklusiven Tätigkeiten wie Segeln", und sich damit die Exklusivität des Jargons zugunsten einer allgemeinen Umgangssprache mit nunmehr ganz wenigen gruppensprachlichen Etikettierungen wandelt (vgl. Löffler 1986: 234). Das hat u. a. zur Folge, daß gruppensprachliche Elemente in höherer Frequenz als früher zum allgemeinsprachlichen Gut werden und damit modern strukturierte Gruppensprachen als sogenannte neue Soziolekte spezifische Ausprägungen haben, deren Ermittlung und Untersuchung zugleich heißt, ihre Sprachträger, den Menschen der Gegenwart zu erkennen 22 und so dem keinesfalls obsoletem Hinweis Alfred Schirmers - eines Pioniers der Sondersprachenforschung - zu folgen, der lautet: „Die Belehrung, die das Studium der Sondersprachen bietet, ist eine doppelte: eine sprachliche und eine sachliche." (Schirmer 1981: 16) Es ist außerdem zu fragen, welcher Art die Lexeme sind, die in die Allgemeinsprache und hier in welche Bereiche - übergehen, welche Phraseme der Bereich „Maritime Welt" liefert, wie produktiv und kreativ Seemannssprache heute noch ist, und worin die Gründe dafür zu sehen sind. Auch sprachgeschichtliche Aspekte und der Bezug zur regionalen Ba-

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Berliner Zeitung vom 3.3.1997; Der Tagesspiegel vom 2.8.1997; Berliner Morgenpost vom 23.9.1997) Als Vertreter einer neokulturgeschichtlichen bzw. -ethnologischen Auffassung vertritt z. B. Möhn (1968: 348) den Standpunkt, daß die Ermittlung spezifischer Ausprägungen der modernen Fachsprachen zugleich heißt, den Menschen der Gegenwart zu erkennen.

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sisvarietät des Niederdeutschen sollten in Untersuchungen zur Seemannssprache nicht fehlen. Als eine der ältesten Berufs- und Fachsprachen ist die Seemannssprache „Zulieferer" für eine der jüngsten Sondersprachen, der Sprache des Internet: Navigieren und Lotse sind hier als Beispiele zu nennen.23 Die Seemannssprache ist zudem eine der wenigen traditionellen Sondersprachen, die literarisiert werden, wie z. B. in Friedrich Christian Delius' Erzählung „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus": „Er hat den festen Vorsatz, in diesem Sommer das Segeln zu lern e n . ... E r ü b t ANLUVEN, ABFALLEN, HALSEN u n d W e n d e m a n ö v e r , MIT DEM BUG DURCH DEN

WIND. ... Bald wird es Routine, die SCHOTEN ANZUSTECKEN, durch die LEITÖSEN ZU ziehen

und hinauszusegeln." (Delius 1998: 17f., Hervorhebungen U.K.) Einige der angeführten Aspekte scheinen marginal für die Begründung durchzuführender lexikologisch-lexikographischer Untersuchungen zur Seemannssprache, in ihrer Gesamtheit sie sind es aber keinesfalls, denn sie belegen Existenz, Vitalität, Anpassungsfähigkeit, Modernität und Verbreitung einer „besonderen Sprache" - eben der Seemannssprache. Und: Alle diese - immer noch unvollständigen - Gedanken zur Seemannssprache - eröffnen ein faszinierendes sprachwissenschaftliches Forschungsfeld. Die Seemannssprache und ihren gewandelten Status von einer Berufs- und Fachsprache zu einer polykomponentialen Gruppensprache auch lexikologisch-lexikographisch zu beschreiben und ihren Jahrhunderte währenden Weg durch die Sprache nachzuvollziehen, könnte tatsächlich „eine Aufgabe von eigenem Reiz" sein, ein Umstand, der Friedrich Kluge schon 1907 in zeitgenössischem Pathos und maskuliner Exklusivität fordern ließ: „... fo (tat b«r ©«rmanift bie t, bit Dtegungen btt fecmännifcftcn ©eiftee fprac&Ucfc bie auf bie ©egenroart ju ««folgen." (Kluge 1907: 112)

6. Glossar

abfallen: den Kurs eines Segelbootes so ändern, daß der Wind voller in die Segel fällt abtakeln: das gesamte stehende und laufende Gut, also Drahtseile, Tauwerk, vom Boot herunternehmen, um es für den Transport oder das Winterlager vorzubereiten Admiral 's Cup: eine der begehrtesten Trophäen der internationalen See-Regattasegelei: ein Wanderpreis, der 1957 vom Royal Ocean Racing Club gestiftet wurde. Um den Admiral's Cup werden alle zwei Jahre vier Regatten gesegelt, davon eine Kanalüberquerung und ein Rennen vor der irischen Südküste um die berüchtigte Fastnet-Felseninsel. anluven: höher an den Wind gehen, d. h. das Boot in einen spitzeren Winkel zur Windrichtung bringen

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Nur in der letzten Fußnote sei der Hinweis darauf gestattet, daß die Seemanns- bzw. Seglersprache auch in der Kategorie der humorous dictionaries Beachtung findet und hiermit ein weiterer Kreis von Rezipienten Seemannssprachlichem begegnet: segeln. Ein fröhliches Wörterbuch für Landratten, Seebären und Badewannenkapitäne. München 1984.

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Antifouling ['gegen Bewuchs']: spezieller Farbanstrich des Unterwasserschiffes einer Yacht, durch den dem natürlichen Bewuchs des Schiffes durch Algen, Muscheln, Seepocken u.ä. entgegengewirkt werden soll Besan: Segel des Besanmastes, also des hinteren Mastes Bug: vorderster Teil eines Schiffes Curry-Klemme: nach seinem Erfinder Manfred Curry benannter Beschlag auf Booten, in dem durch Festklemmen die Schot in jeder beliebigen Stellung gehalten und durch einfaches Hochreißen gelöst werden kann Elefantenhaut: Runzel- und Faltenbildung in der Außenhaut eines Bootsrumpfes; sie kann durch die unsachgemäße Verarbeitung moderner Bootsbaumaterialien in zu kalten oder nassen Räumen entstehen EPIRP ['Emergency Position Indicating Radio Baking']: immer häufiger auch auf Yachten befindliche Seenotfunkbake, in die ständig die aktuelle Position eines Schiffes eingelesen wird. Im Seenotfall schwimmt die Bake auf und sendet 10 Stunden lang viermal pro Stunde eine Seenotmeldung mit der letzten Position des Schiffes, die über Satelliten weitergegeben wird. Erasmus / Rasmus: die euphemistische Bezeichnung für eine überkommende, brechende See, vor allem über Vorschiff und Deck; Rasmus ist die Kurzform von Erasmus, der als Schutzpatron der Seeleute galt. Etmal: eine wiederkehrende Periode; in früheren Zeiten verstand man unter Etmal einen Zeitraum von 24 Stunden, womit nicht immer die Zeit von Mittag bis Mittag gemeint war, sondern z. B. auch der Rhythmus der Gezeiten. Heute versteht man unter Etmal ausschließlich die innerhalb eines Zeitraumes von einem Mittagsbesteck bis zum darauffolgenden (astronomischer Tag) zurückgelegte Distanz über Grund in Seemeilen. Fall: Leine zum Aufheißen eines Segels; die Fallen tragen die Namen der dazugehörigen Segel, z. B. Fockfall, Großfall, Spinnakerfall. Fifty-Fifty: Bezeichnung für Motorsegler: halb Segel-, halb Motoryacht Fock: Vorsegel GPS: Global Positioning System: weltweit nutzbares Satelliten-Navigationssystem halsen: ein Segelschiff vor dem Wind auf einen anderen Bug bringen, d. h. den Kurs so ändern, daß das Boot mit dem Heck durch den Wind geht Kaventsmann [eigentl. „Prachtexemplar"]: eine besonders hohe Welle, die durch Überlagerung verschiedener Wellensysteme entstehen kann, z. B. aus zwei aus verschiedenen Richtungen kommenden Wellen, und für Schiffe sehr gefährlich ist Klabautermann: Sagengestalt; legendärer Schiffskobold, der der gute Geist eines Schiffes ist; der Name tritt erstmalig im 19. Jahrhundert auf und leitet sich von kalvatern, klavaten ab. Der „Kalfatermann" soll ein heimlicher Helfer des Schiffszimmermannes sein, der insbesondere bei Sturm und Havarie, aber auch als Mahner, wenn die Crew nicht ihre Pflicht tut, mit dem Kalfaterhammer an die Bordwand schlägt. Klippe: einer felsigen Küste über oder unter Wasser vorgelagerte Gesteinsmassen und brocken Lee: die dem Wind abgekehrte Seite des Schiffes; von altnord. hie 'Schutz' Leitöse: eine fest auf Deck montierte oder auf einer Schiene gleitende Öse zum Führen einer Leine Luv: die dem Wind zugekehrte Seite des Schiffes

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Mayday: Internationaler Sprechfunk-Notruf; gesendet von Schiffen in Seenot; das Wort ist eine Entstellung des frz. m 'aidez\ (Helft mir!) Pan-Pan: Dringlichkeitsruf im Sprechfunk, betrifft die Sicherheit von Personen und Fahrzeugen Patent: veraltete Bezeichnung für die Bestallungsurkunde eines Schiffsoffiziers; heute heißt es 'Befähigungszeugnis oder -nachweis' plotten: zeichnerische Festlegung und Auswertung eines Bewegungsvorganges, der von einem fahrenden Boot auf ein anderes sich bewegendes Objekt vorgenommen wird; findet in der Radarnavigation statt. Schäkel: unterschiedlich verschließbarer Bügel aus Metall, der als Verbindungselement für Teile aller Art dient, die man u.U. schnell wieder voneinander lösen können muß Schoten anstecken: Leinen durch Knoten miteinander verbinden Securite ['Sicherheit']: im Sprechfunk verwendete Ankündigung für Sicherheitsmeldungen oder Wetterwarnungen Speigat: Öffnung in der Fußreling oder im Schanzkleid, um übergekommenes Wasser nach außen ablaufen zu lassen Spleiss: haltbare, dauerhafte Verbindung von Tauwerk durch Verflechten der einzelnen Kardeele miteinander Spring: Festmacherleine, die verhindert, daß sich ein Schiff an der Pier oder längsseits bei anderen Schiffen in der Längsrichtung bewegen kann Unterbrochenes Feuer: Leuchtfeuer werden, um ihnen eine charakteristische Kennung zu geben, gleichmäßig oder in Bestimmten Gruppen unterbrochen Untiefe: Bezeichnung für eine flache Stelle innerhalb oder außerhalb des Fahrwassers Verkehrstrennungsgebiet: international festgelegte „Einbahnstraßen" in besonders verkehrsreichen Seegebieten mit beschränkter Fahrwasserbreite Whitbread Race [Whitbread Round the World Race]: Nach der Whitbread-Brauerei als Sponsor benanntes, alle drei Jahre ausgetragenes Hochseerennen rund um die Welt; Start und Ziel ist Southhampton, es gibt sechs Etappen mit ca. 33.000 Seemeilen

7. Literatur

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So dürfen wir fragen, was ist denn eigentlich Seemannssprache? "

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Undine Kramer

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Anhang Abstracts und Resumes Die englischen Abstracts sowie die französischen Rösumös werden in der Reihenfolge der Beiträge wiedergegeben.

Ewald Lang: Menschen vs. Leute: Bericht über eine semantische Expedition in den lexikalischen Nahbereich Abstract Why is it, this paper asks, that we have quite robust intuitions on the lexical meaning of the noun Mensch but run into serious difficulties in attempting to describe it. In approaching this problem the analysis first assumes a provisional meaning component for Mensch, and then takes the regular plural Menschen as the standard against which the semantic idiosyncrasies of the plural-only noun Leute [people] are to be specified. Leute as a noun is inherently non-generic; if Leute occurs as a bare plural NP it denotes a set of persons that is determined by means of a contextually available selection criterion. This semantic feature (which makes Leute into a kind of pronominal) is shown to correlate with a number of restrictions which Leute (in contradistinction to Menschen) is subject to. These concern syntactic distribution as well as word formation (derivation and compounding). It is argued that leute (as in Ehemann, Ehefrau: Eheleute·, Ordensmann, Ordensfrau: Ordensleute) is not a suppletive morphological plural but an additional, semantically distinct, lexical plural, by means of which the notion „semi-suffix" (or „suffixoid") can be neatly reconstructed. The steps of the analysis are accompanied by discussions on how the properties of Leute that are brought to light might be turned into suitable lexicographic information. Risurai Le prdsent article discute pourquoi le sens lexical du nom Mensch (homme, etre humairi) nous est intuitivement familier, mais est - justement pour cela - assez difficile a dicrire. Pour la rdsolution de ce probl6me, tout d'abord l'analyse digage une composante s6mantique provisoire de Mensch pourqu'ensuite, en comparaison du pluriel regulier Menschen pris comme dtalon, puissent 6tre ddterminis les traits sdmantiques du plurale tantum Leute {gens). Au nom Leute, la non-gindriciti est inherente. Employi comme "bare plural NP", Leute ddsigne des hommes selon un critfere de sölection qui est ä difinir dans un contexte d6termin6. Cela permet d'expliquer, ä cötö des p a r t i c u l a r s syntaxiques, les restrictions de Leute par rapport k Menschfen) en ce qui concerne la formation des mots (composition et dörivation). L'article montre que -leute (comme par exemple dans Ehemann, Ehefrau: Eheleute-, Ordensmann, Ordensfrau: Ordensleute) n'est pas un pluriel supplötif morphologique, mais un pluriel lexical supplömentaire d'un sens distinct de celui du pluriel morphologique. C'est un pluriel ä l'aide duquel on peut reconstruire exactement le concept de "demisuffixe" (ou "suffixoi'de"). Les ötapes de l'analyse sömantique sont accompagndes d'une discussion de la question comment les risultats de l'investigation peuvent etre transposös en lexicographie.

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Anhang

Mitar Pitzek: Anmerkungen zur lexikographischen Bedeutungserklärung in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern Abstract The subject of this article is the controversial and insufficiently defined type of a Global Monolingual Dictionary within the dictionary research. The apparently open lexicographical conception makes it difficult respectively prevents making uncompromising decisions related to the scope of such dictionaries. Therefore it is hardly possible to approach the selection of information for Global Monolingual Dictionaries by exclusiveness. The current stand within the domain of lexicographic explanation of meaning is presented in the Global Monolingual Dictionaries of contemporary German language by means of selected examples. The issue are reflections to call attention to a explanation of meaning which is more adequate for the conception of the Global Monolingual Dictionary. Rdsun^ Le type d'un dictionnaire monolingue g6n6ral qui est discutd et insuffisamment d6termin6 par la recherche lexicologique forme le sujet de cette contribution: La conception lexicographique apparemment ouverte aggrave resp. empeche l'adoption de dicisions non compromettantes du champs de validitö de tels dictionnaires. Done, il est ä peine possible d'appliquer le principe de l'exclusivite au choix des informations contenues dans dictionnaires monolingues gindraux. En utilisant des exemples, on reproduit l'6tat actuel de l'explication lexicographique de la signification dans les dictionnaires monolingues reprösentatifs geniraux de la langue Allemande contemporaine. II s'agit de consid6rations qui doivent diriger l'attention ä une explication de la signification plus adöquate ä la conception d'un dictionnaire monolingue gendral.

Herbert Ernst Wiegand: Verschmelzungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern Abstract Since the term non-lexicalised compound is used in different ways, first of all some terminological clarifications are given. After that the subject domain is restricted to non-lexicalised compounds that can be analysed as preposition and article (short: p-a-compounds) which are always enclitic; their enclitic is called enclitic article and it follows - without juncture - a reduced base (e. g. am) or a nonreduced base (e. g. hinterm). Furthermore a//egn>compounds which are considered only in passing are distinguished from /ewfo-compounds and simple p-a-/en/o-compounds are distinguished from qualified specific p-a-/ew