Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache [Reprint 2012 ed.] 9783111548951, 9783484730168


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German Pages 321 [324] Year 1994

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Table of contents :
0. Vorwort
0.1. Graue Prologe
1. VORTRÄGE
1.1. Politische Sprachkritik – was kann sie leisten?
1.2. Die deutsche Sprache hüben und drüben – drei Jahre nach der Wiedervereinigung
1.3. Der öffentliche Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 – Entwicklungen und Auseinandersetzungen
1.4. Von der Tagesschau zur Infoshow. Sprachliche und journalistische Tendenzen in der Geschichte der Fernsehnachrichten
1.5. Neuhochdeutscher Alltag. Vom semantischen Rauschen in der Erlebnisgesellschaft
2. ATELIERS
2.1. Sprache vor und nach der “Wende”: “Gewendete” Texte – “Gewendete” Begriffe
“Gewendete” Texte – “gewendete” Textsorten
Demokratieverständnis in Ost und West. Definitionen, Erlebnisse, Mißverständnisse
2.2. Schlüsselwörter der Wende
Das Stasi-Syndrom
“Wende” und “Wiedervereinigung”: Zwei Wörter machen Geschichte
Schlüsselwörter der Wende: “Sprachlosigkeit” und “Dialog”
2.3. Sprache und Politik
Betrachtungen zur Rolle der Sprache im politischen Bereich. Zum Begriff Nation
Der Deutschen “Volk” und “Nation”, dargestellt am Beispiel deutscher Wörterbücher (1973–1981)
Über den aktuellen Gebrauch des Terminus “Dissident” in Deutschland anhand der Analyse eines Spiegel-Spezial-Heftes
Die Rezeption der deutschen Wiedervereinigung in der französischen Presse (1989–1991)
2.4. Sprachkritik und Sprachkultur
Sprachkritik und Sprachkultur
2.5. Gegenwartsdeutsch – Entwicklungen in Wortbildung und Grammatik
Reklamedeutsch im DaF-Unterricht
Leistung und Verwandlungen der Nominalphrase im Zeitungsdeutsch
2.6. Jugendsprache “Jugendsprache”
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Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache [Reprint 2012 ed.]
 9783111548951, 9783484730168

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Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache

Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache Herausgegeben von Hans Jürgen Heringer, Gunhild Samson, Michel Kauffmann und Wolfgang Bader

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache / ed. by Hans Jürgen Heringer, Gunhild Samson, Michel Kauffmann, Wolfgang Bader. — Asniäres : Institut d'Allemand, Tübingen : Niemeyer, 1994 NE: Heringer, Hans Jürgen [Hrsg.]: ISBN 2-910212-03-3 (Asnieres) ISBN 3-484-73016-1 (Tübingen) © Publications de l'Institut d'Allemand d'Asnieres 1994 Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Institut d'Allemand und des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Institut d'Allemand d'Asnieres Druck u. Einband: Instaprint, Tours

INHALT

0. Vorwort 0.1 Roland KAEHLBRANDT (Gütersloh)

7 Graue Prologe 9

1. VORTRAGE 1.1. Erhard EPPLER (Schwäbisch-Hall)

Politische Sprachkritik - was kann sie leisten?

13

1.2. Hans-Werner EROMS (Passau)

Die deutsche Sprache hüben und drüben drei Jahre nach der Wiedervereinigung

23

1.3. Georg STÖTZEL (Düsseldorf)

Der öffentliche Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 Entwicklungen und Auseinandersetzungen

41

1.4. Manfred MUCKENHAUPT (Tübingen)

Von der Tagesschau zur Infoshow. Sprachliche und journalistische Tendenzen in der Geschichte der Fernsehnachrichten

81

1.5. Roland KAEHLBRANDT (Gütersloh)

Neuhochdeutscher Alltag. Vom semantisehen Rauschen in der Erlebnisgesellschaft

121

2. ATELIERS 2.1. Sprache vor und nach der "Wende": "Gewendete" Texte "Gewendete" Begriffe Ulla FIX (Leipzig)

"Gewendete" Texte - "gewendete" Textsorten

131

Marc THURET (Paris)

Demokratieverständnis in Ost und West. Definitionen, Erlebnisse, Mißverständnisse

147

2.2. Schlüsselwörter der Wende Hans Jürgen HERINGER (Paris)

Das Stasi-Syndrom

163

Michel KAUFFMANN (Paris)

"Wende" und "Wiedervereinigung": Zwei Wörter machen Geschichte

177

Gunhild SAMSON (Paris)

Schlüsselwörter der Wende: "Sprachlosigkeit" und "Dialog"

191

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2.3. Sprache und Politik Pierre Α CH ARD (Paris)

Betrachtungen zur Rolle der Sprache im politischen Bereich. Zum Begriff Nation

213

Marianne FRANCHEO (Paris)

Der Deutschen "Volk" und "Nation", dargestellt am Beispiel deutscher Wörterbücher (1973-1981)

225

Sylvie LE GRAND (Paris)

Über den aktuellen Gebrauch des Terminus "Dissident" in Deutschland anhand der Analyse eines Spiegel-Spezial-Heftes

233

Die Rezeption der deutschen Wiedervereinigung in der französischen Presse (19891991)

245

Catherine ROBERT (Paris)

2.4. Sprachkritik und Sprachkultur Rainer WIMMER (Mannheim) 2.5. Gegenwartsdeutsch

Sprachkritik und Sprachkultur 253 Entwicklungen in Wortbildung und Grammatik

Helmut GLÜCK (Bamberg)

Reklamedeutsch im DaF-Unterricht

Daniel BRESSON (Aix-en-Provence)

Leistung und Verwandlungen der Nominalphrase im Zeitungsdeutsch

265 285

2.6. Jugendsprache Marlies REINKE (Cuxhaven)

"Jugendsprache" 295

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Vorwort

Die Beiträge dieses Bandes gehen zurück auf das Kolloquium "Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartssprache", das am 5. und 6. November 1993 in Paris stattfand und vom Institut d'Allemand d'Asnieres der Universität Paris 3 und dem Goethe-Institut Paris organisiert wurde. Der Band erscheint gleichzeitig in Frankreich (Publications de l'Institut d'Allemand d'Asnieres) und in Deutschland (Max Niemeyer Verlag, Tübingen). Ziel der Veranstalter war, das französische Publikum mit den sprachlichen Veränderungen vertraut zu machen, die die deutsche Geschichte der letzten Jahre hervorbrachte. Zielgruppen der Vorträge waren alle an den politischen und sprachlichen Wandlungen im Nachbarland Interessierten, vornehmlich französische Germanisten an Hochschulen und Gymnasien sowie deutsche Lektoren des DAAD. Entsprechend hatten die Vortragenden ihren Beiträgen sprachliches Material hinzugefügt, das hier vollständig wiedergegeben wird und als Unterrichtsbasis dienen kann. Die Veranstalter hatten sich, bei der Organisation des Kolloquiums, für zwei Vortragsformen entschieden: längere Beiträge, wie auf Tagungen üblich, und "Ateliers", in denen in ungezwungener Atmosphäre kürzere Referate mit Diskussionen abwechseln sollten. Diese Einteilung findet sich auch in der Gliederung des Bandes wieder: Die Hauptvorträge wurden an den Anfang gestellt; darauf folgen die inhaltlich definierten Ateliers. Die Beiträge sind so angelegt, daß die wichtigsten Aspekte der neueren Sprachentwicklung in Deutschland berücksichtigt werden: der politische Diskurs (E. Eppler), die verschiedenen Formen der Sprachkritik und ihre praktischen Ziele (R. Wimmer), der öffentliche Sprachgebrauch (G. Stötzel), die Mediensprache (D. Bresson, Μ. Muckenhaupt), die Werbesprache (H. Glück) und die Jugendsprache (M. Reinke). Ironische Sprachglossen zu unserem "neuhochdeutschen Alltag" (R. Kaehlbrandt) nehmen einige aktuelle sprachliche Absonderlichkeiten unter die Lupe. Einen Kern bildeten die sprachlichen Erscheinungen der "Wende" und die Sprachproblematik im geeinten Deutschland. Der Themenkomplex "Sprache der 7

Wende" bzw. "Sprache vor und nach der Wende" wurde vertieft durch Untersuchungen der deutschen Sprache in Ost und West (Beiträge von H. W. Eroms, U. Fix, M. Thuret). Beobachtungen zu Wortschatzveränderungen durch semantische Verschiebungen bei Wörtern wie "Stasi", "Wende", "Wiedervereinigung", "Sprachlosigkeit" und "Dialog", bildeten den Ausgangspunkt der Arbeiten im Atelier "Schlüsselwörter der Wende" (Beiträge von H. J. Heringer, M. Kauffmann und G. Samson). Für die empirischen Untersuchungen konnte das computergestützte "Wendekorpus Ost und West" (Mitte 1989 bis Ende 1990) des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim genutzt werden. Wir danken dem IdS für die freundliche Erlaubnis, in diesem "Wendekorpus" zu recherchieren. In dem vorwiegend von französischen Wissenschaftlern (M. Francheo, P. Achard, S. Le Grand, C. Robert) bestrittenen Atelier war es die Frage der Nation, unter Einbeziehung von deutsch-französischen Vergleichen, die im Mittelpunkt stand. Die Funktion der Sprache als Medium von Öffentlichkeit in einer pluralistischen Kommunikationsgesellschaft bildete also das übergreifende Thema, das alle Tagungsbeiträge durchzieht, mit der sich daraus ergebenden Forderung nach politischer Sprachkritik, wie sie E. Eppler vorbrachte. Seine Anwesenheit auf dieser Tagung wurde von allen geschätzt. Wir danken dem Goethe-Institut Paris, in dessen Räumen das Kolloquium auch stattfand, für die finanzielle und materielle Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung. Auch dem DAAD sei für seinen finanziellen Beitrag gedankt. Unser besonderer Dank gilt Gilbert Krebs, dem Direktor der "Publications de l'Institut d'Allemand d'Asnieres", für seine unermüdliche Hilfe bei der Herausgabe der Tagungsakten und Michele Leprettre für die ausgezeichnete Erstellung der Druckvorlage.

H. J. Heringer

G. Samson

M. Kauffmann

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W. Bader

R o l a n d KAEHLBRANDT (Bertelsmann Stiftung, Gütersloh)

Graue Prologe

Graue Prosa - dieser Begriff bezeichnet nicht etwa auf Recycling-Papier gedruckte Erzeugnisse der Weltliteratur, sondern die Unzahl schriftlicher Kongreßund Tagungselaborate, die oft nur unter dem Vorwand eines "zunehmenden Informationsbedarfs" den gelangweilten Leser behelligen. Die massenhafte Verschriftlichung jedes noch so unbedeutenden Gedankens - Folge des Seminartourismus erfordert jedoch ein Minimun an Rechtfertigung. Diese zu leisten ist Aufgabe des Vorwortes, das als Aushängeschild zu standardisierter Vollendung gelangt ist. Am besten beginnt man mit angesichts. Diese Präposition ist nicht wirklich kausal, sie vermittelt nur den Eindruck eines irgendwie gearteten Zusammenhangs zwischen der behaupteten Tatsache und der Dringlichkeit - auch Forschungsdesiderat genannt - des behandelten Themas. Nach angesichts ist zunehmend beliebt, weil das Adjektiv einen Sachverhalt bezeichnet, der wenigstens quantitativ neu ist - qualitativ neue Sachverhalte sind ja so selten, daß sie keineswegs die Tonnen grauer Prosa hervorbringen würden. Nun noch ein dynamisches Substantiv, und der Anfang ist gemacht: "Angesichts der zunehmend engeren Verflechtung" oder auch logisch originell: "angesichts der abnehmenden Zuwächse" und warum nicht auch: "angesichts zunehmender Verknappung". Es besteht auch die Möglichkeit, nicht die das Thema rechtfertigende Tatsache, sondern das Thema selbst zu quantifizieren: "Angesichts der dynamischen Entwicklung stellt sich mit zunehmender Brisanz die Frage ..." Dem lästigen Zwang zu genauer Eingrenzung des Themas entledigen sich die Herausgeber grauer Prosa gern durch Rückgriff auf physikalische und räumliche Metaphern: Da bewegt sich vage Thematik "im Spannungsfeld" von mehr oder weniger Zusammengehörigem, das "in seiner Tiefen- und Breitenwirkung ausgelotet" werden muß, wohlgemerkt jedoch "immer auch vor dem Hintergrund" der "Tragweite" eines "komplexen Zugriffs" und unter Rücksicht auf bestehende "Möglichkeiten, aber auch Grenzen".

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Die Quadratur des Kreises, die der Herausgeber von Sammelbänden leistet, wenn er die verschiedenartigsten Kongreßbeiträge gleichwohl unter ein Thema zwängen muß, wird da spürbar, wo im Vorwort von "zwei thematisch getrennten, jedoch zusammengehörigen Teilen" die Rede ist. Hier wandelt den Leser Mitleid an. Nach der Eingrenzung des Themas ist Strenge angezeigt, um den gnadenlos wissenschaftlichen Charakter des Werkes deutlich zu machen. Harmlos, ja ein wenig alternativ, sind da noch "kritische Fragen", ernst wird es, wenn Thesen "auf den Prüfstein" oder auch technischer und zeitgemäßer "auf den Prüfstand" gestellt werden. Angesichts der kaum faßbaren Komplexität des Themas zeigt sich der Autor gern hilflos und bescheiden. Hilflosigkeit äußert sich oft in unsinnigen Formeln wie "trotz oder gerade wegen" - immerhin ein gewaltiger Unterschied - oder "auch und gerade"; man wüßte doch eigentlich gern, ob ein Phänomen ebenso wichtig ist wie das andere ("auch") oder noch wichtiger ("gerade"). Bescheidenheit ziert das Vorwort, wenn warnend angekündigt wird: "Die Publikation soll und kann kein übergreifendes Werk sein." Daß sie nicht kann, ist schon traurig genug, aber warum soll sie eigendich nicht? Wer klagt nicht über die Informationsflut, der der moderne Mensch ausgesetzt ist? Information setzt aber Unvorhersehbarkeit des Mitgeteilten voraus; sie ist der rhetorisch-pathetischen Standardisierung entgegengesetzt. Und so sind wir bei näherem Hinsehen oft nur einer Flut ausgesetzt, die mit semantischem Rauschen an uns vorbeiströmt...

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Vorträge

Erhard EPPLER (Schwäbisch-Hall)

Politische Sprachkritik was kann sie leisten?

1. Möglicherweise habe ich eine etwas eigenwillige Vorstellung von politischer Sprachkritik. Für mich ist nicht jede Kritik der politischen Sprache auch politische Sprachkritik. Solche Kritik kann sehr wohl ästhetische oder moralische Kritik der politischen Sprache sein, und sie ist es auch meist. Was mir vorschwebt, nachdem ich mein Buch zu diesem Thema geschrieben habe, noch mehr als vorher, ist eine politische Kritik der politischen Sprache, also eine Kritik, die Sprache untersucht auf ihre politische Funktion hin, auf ihre politische Wirkung, ihre politische Absicht. Solche politische Sprachkritik hat in Deutschland kaum Tradition. Daß Carl Gustav Jochmann, ein Zeitgenosse Goethes, mit seinen hellsichtigen Bemerkungen zur politischen Sprache über mehr als ein Jahrhundert vergessen werden konnte, hat wohl damit zu tun, daß die gebildeten Deutschen allenfalls für ästhetische Sprachkritik zu gewinnen waren, nicht für politische. Karl Kraus forderte das gute, richtige Deutsch ein, auch und gerade von Publizisten, und insofern wurde er politisch. Sternberger, Storz und Süskind unterschieden nicht zwischen ästhetischem und politischem Verdikt. Mein Lehrer Gerhard Storz sprach in seinen Beiträgen zum berühmt gewordenen "Wörterbuch des Unmenschen" von Banausen, Wichtigtuern, Kunsthubern, von verbildetem Geschmack, und wenn er manches Sprachungetüm der NSZeit barbarisch nannte, dann mischte sich ästhetisches und politisches Urteil. Als Carl von Ossietzky seinen nazistischen Peinigern als Strafe wünschte, Deutsch müßten sie lernen, da meinte er zuerst und vor allem, daß die Nazis die deutsche Sprache malträtierten, ihre Gesetze nicht achteten, weniger, daß sie diese Sprache reglementierten, ihren politischen Zwecken unterwarfen. Wahrscheinlich steht Uwe Pörksens Büchlein über die Plastikwörter politischer Sprachkritik am nächsten. Dabei lasse ich all das außen vor, was sich sofort als parteipolitische Sprachpolemik von links nach rechts - oder häufiger - von rechts nach links zu erkennen gibt. Sie bezieht sich meist auf die politische Semantik, die ich heute ausklammern muß. Auch manche linguistischen Untersuchungen, die in eine pauschale und meist moralische Kritik politischen Redens münden, möchte ich als politische Sprachkritik nicht gelten lassen. Politische Sprachkritik im strengen Sinne des Wortes ist George Orwells Aufsatz aus dem Jahre 1946, dem er den Titel "Politics and the English Language" gab.

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Erhard

EPPLER

Politische Prosa, meinte Orwell 1946, bestehe immer weniger aus Wörtern, die um ihrer Bedeutung willen ausgewählt wurden, sondern immer mehr aus Wortgruppen (phrases), die zusammengenagelt seien (tacked together) wie die Einzelteile eines vorgefertigten Hühnerstalls. Orwell findet ein noch schöneres Bild für jenes Eigenleben fertiger Phrasen. Dem Autor eines Pamphlets über die Zustände im besetzten Deutschland bescheinigt er: "Seine Wörter gruppieren sich, wie Kavalleriepferde beim Hornsignal, automatisch in die gewohnte, immer gleiche Marschordnung" (group themselves automatically into the familiar dreary pattern). Die Pferde wissen selber, wie sie sich aufstellen müssen, sie brauchen nur ein Signal. Sobald ein bestimmtes Thema genannt wird, stellen sich bestimmte "phrases" ein, und zwar immer dieselben. Solche phrases nehmen dem Sprecher einen beträchtlichen Teil des Denkens ab. Die Linguistik unterscheidet, dem Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure folgend, zwischen der "langue", dem Sprachsystem, seinem Wortschatz und seiner Grammatik auf der einen, der "parole", also der Sprachverwendung durch den einzelnen, auf der anderen Seite. Es stimmt aber nur in der Theorie, daß dem Sprechenden die unendlichen Ausdrucksmöglichkeiten der Langue, des Systems Sprache zugänglich sind. Seine Freiheit ist begrenzt durch soziale Sprachnormen. Solche sozialen Normen werden umso rigider, sie zwingen die Sprechenden umso unerbittlicher, je kontinuierlicher diese Sprachnorm auf sie einwirkt. Und kontinuierlicher als durch die Medien am Ende des 20. Jahrhunderts können soziale Sprachnormen kaum aufgedrängt, eingebläut, aufgezwungen werden. Uwe Pörksen dazu: Wenn die technisierte Sprachproduktion zum Schematismus und zu stereotypen Wendungen führt, so hat das den vorteil der Ökonomie, aber den nachteil, dass das jeweils neu in der spräche mitzuteilende in einer vorfabrizierten spräche, in phrasen "verarbeitet" wird. Bei der raschen Produktion durch die Sprecher und der überfütterung der hörer zeigt die spräche tendenzen, sich zu verselbständigen.... Das bewusstsein scheint sich in den sprachlich vorgeformten, gängig verbundenen bahnen zu halten. Genau das hatte Orwell im Sinn, als er von den "phrases" sprach, die zusammengenagelt würden wie vorgefertigte Teile eines Hühnerstalls, die sich in Reih und Glied aufstellten wie Kavalleriepferde beim Hornsignal und dem Redenden einen guten Teil des Denkens abnähmen. Worum es hier geht, hat Orwell auch in jenem verblüffend einfachen Rezept gegen solche unvermeidlichen Wortklumpen deutlich gemacht: Let the meaning choose the word and not the other way around. Wenn nicht mehr das, was jemand zu sagen sich genötigt fühlt, die passenden, angemessenen, richtigen Worte sucht, sondern sich die Stereotypen aufdrängen, durchsetzen und alles erdrücken oder banalisieren, was zu sagen wäre, dann ist in der Tat die Freiheit der "parole" so erbarmungslos und so erbärmlich beschnitten, daß die Norm den Zugang zur Fülle der "langue" versperrt. Herbert Wehner war das klassi-

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Politische Sprachkritik - was kann sie leisten ?

sehe Beispiel für einen Politiker, der zuerst nur wußte, was er anderen übermitteln wollte und der dann, auch während seiner Reden im Bundestag, nach dem richtigen Ausdruck rang. Aber eben diese Art der Reden ist selten geworden. 2. Tod hat etwas mit Erstarrung zu tun. Wie eine Sprache erstarren kann, wissen die Menschen, die sich Tag für Tag, oft Stunde um Stunde von der Sprache der SED berieseln lassen mußten. Im SED-Staat wurde abgelesen. Freie Rede war nicht nur unüblich, sie war auch suspekt. Allzu leicht konnte die Sprecherin oder der Sprecher vom rechten Wege abkommen. Wer in der Volkskammer frei gesprochen hätte, wäre wohl rasch in den Verdacht des "bürgerlichen Subjektivismus" geraten. Was öffentlich gesagt wurde, mußte "stimmen", es mußte im Einklang stehen mit den sprachlichen Vorgaben der SED. Hatte C.G. Jochmann einst, als Karl Marx gerade in die Grundschule ging, davor gewarnt, Gelehrten zu viel Einfluß auf die Sprache zuzugestehen, so wurde in der DDR die öffentliche Sprache genormt nach den Begriffen eines einzigen Gelehrten, der überdies schon lange tot war und sich gegen die Dogmatisierung seiner Begrifflichkeit nicht mehr wehren konnte. Im SED-Staat war die Erstarrung der offiziellen Sprache verordnet. Begriffe mußten so benutzt werden, wie es ihrer Funktion im Lehrgebäude des MarxismusLeninismus entsprach. Der Tod einer Sprache tritt dann ein, wenn die sozial genormte Sprache - und in der DDR war sie staatlich genormt - nicht mehr imstande ist, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu benennen, zu greifen und damit begreiflich zu machen. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR haben schließlich nicht mehr erwartet, daß ihnen in dieser Sprache etwas gesagt würde, was sie wirklich anging. Damit war diese Sprache kein Medium mehr, in dem Herrschende und Beherrschte sich verständigen konnten. Egon Krenz, dem manche Gazetten im Westen nach der Absetzung Honeckers durchaus noch eine Chance gaben, hatte schon verloren, als seine Antrittsreden ihn auswiesen als Gefangenen jener Sprache, in der es für die meisten nichts mehr zu sagen gab. Sie war erstarrt und hatte sich von der Wirklichkeit gelöst. Die SED-Sprache war tot. Damit war die Politik am Ende. Denn Politik, nicht nur demokratische, vollzieht sich in Sprache. 3. Kann, was mit der SED-Sprache geschah, auch dem Politdeutsch zustoßen, das in der alten und neuen Bundesrepublik Deutschland oft mehr abgespult als gesprochen wird? Noch 1990 erschien eine solche Frage absurd, ungehörig, subversiv. Als ich im Herbst 1992 in meinem Buch die Frage aufwarf, ob unsere Politiksprache für immer gefeit sei gegen das Schicksal der kommunistischen Formelsprache, haben manche die Nase gerümpft: Die Linken können eben das Nörgeln nicht lassen. Jetzt, 1993, wird diese Frage plausibler. Alle Welt jammert über Politikverdrossenheit. In Wirklichkeit wird der Verdruß übermächtig darüber, daß Politik kaum

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Erhard EPPLER

mehr stattfindet, sondern allenfalls politics without policy, politische Betriebsamkeit ohne Richtung und Konzept. Theo Sommer denkt in der ΖΕΓΓ darüber nach, wie nun auch den Westen die Krise einholt, und ein Graffiti-Spruch aus Sachsen macht die Runde, wonach der Kapitalismus nicht gesiegt habe, sondern nur übrig geblieben sei. Es geht um die Krise der Politik im Spiegel der Sprache, also darum, wie sich das Verkümmern der Politik zum geräuschvollen und wortreichen Vollzug wirklicher und eingebildeter Sachzwänge in der Sprache niederschlägt, wie das Zusammenschnurren der Politik zu aufwendiger Verwaltung durch diese Sprache verdeckt, entschuldigt, erleichtert, aber auch zum Normalen, Unabänderlichen verfestigt wird. Die Frage, ob auch unsere Politsprache krank sei, ob auch sie sterben könne, erscheint mir als Pflichtaufgabe von politischer Sprachkritik. Aber eben: Was ist politische Sprachkritik? Es gibt dafür noch keine anerkannten Maßstäbe, noch nicht einmal eine Diskussion darüber. Da uns das Suchen nach Maßstäben noch bevorsteht, hier nur ein paar Bemerkungen darüber, wo und wie politische sich von ästhetischer Sprachkritik unterscheiden könnte. Manchen ist aufgefallen, daß ich in meinem Buch einige Modewörter, die der ästhetischen Sprachkritik ein Ärgernis sind, sehr viel milder beurteile. Während die Modewörter der Nazis durchweg das Individuum zum Instrument totalitärer Herrschaft degradieren, es "ausrichten", "einsetzen", "gleichschalten" oder, wenn es dies nicht mit sich machen läßt, als "Volksschädling" "ausschalten" oder gar "ausmerzen", haben viele Modewörter unserer Zeit etwas sympathisch Demokratisches an sich. Etwa das Verbum "einbringen". Wir sind es zwar leid, zu hören, jemand habe sich in diese oder jene Diskussion eingebracht oder sich leider nicht einbringen können. Von Hause aus ist das Wort durch und durch demokratisch, denn die Sprecherin oder der Sprecher haben weder versucht, den anderen ihre Meinung aufzudrängen, noch das Gespräch an sich zu reißen. Sie haben ganz bescheiden, wie andere auch, eingebracht, was sie zu bieten haben. Der reflexive Gebrauch, also das Sicheinbringen hat überdies etwas Persönliches, Menschliches an sich: Da wird nicht nur mit dem Kopf argumentiert, da ist die ganze Person beteiligt, da wird das Gespräch nicht nur durch eine zufällige Meinung, sondern, bei aller Bescheidenheit, durch einen Menschen bereichert, der sich eben "einbringt". Aber eben weil in diesem Wort so viel Erfreuliches mitschwingt, weil es keinen geringen Anspruch erhebt, wirkt es um so peinlicher, wo es zur ewig wiederholten Formel erstarrt. Ähnliches gilt für Verben wie "hinterfragen" oder "umgehen mit". Beleidigt die ewige Wiederholung eines Wortes unser ästhetisches Empfinden, so wird politische Sprachkritik zuerst nach der Funktion dieses Wortes für den demokratischen Diskurs fragen müssen. Schwieriger wird die Abgrenzung da, wo politische und ästhetische Sprachkritik gleichermaßen sich an der Tendenz zur Abstraktion stoßen. Für politische Sprachkritik wird dabei Kriterium sein, daß das immer abstraktere Reden immer mehr Bürgerinnen und Bürger vom politischen Diskurs ausschließt, daß es den Eindruck einer 16

Politische Sprachkritik - was kann sie leisten?

Wissenschaftlichkeit erweckt, die der Politik weder zukommt noch ansteht, daß es nichts mehr bewegt und häufig auch Verantwortung verwischt. Gegen das, was Uwe Pörksen Plastikwörter genannt hat, also gegen jene hochabstrakten Allerweltswörter, welche die politische Sprache überwuchern, läßt sich auch ästhetisch manches einwenden. Sie haben meist dieselbe Geschichte: "Populäre, umgangssprachliche Begriffe werden in die Wissenschaft... übertragen, erhalten hier das Ansehen allgemeingültiger Wahrheiten und wandern nun, autorisiert, kanonisiert, in die Umgangssprache zurück". Und es wäre hinzuzufügen: Dort erdrücken sie ältere, konkurrierende Wörter, aber sie entleeren sich selbst durch inflationären Gebrauch und werden zu leblosen Legosteinen, die der Profi nach Belieben zusammensetzt. Das Plastikwort dient dem Experten und weist ihn aus. "Das Plastikwort signalisiert Wissenschaftlichkeit und bringt zum Schweigen", sagt Pörksen. Dies aber ist nicht ästhetische, sondern eminent politische Kritik. Denn einem Experten oder einem Politiker, der mit Plastikwörtern wie "Problem", "Struktur", "Ebene", "Faktor", "Raum", "Lage", "Prozeß" und natürlich "Entwicklung" um sich wirft, wagen viele nicht zu widersprechen, weil sie seine Sprache nicht imitieren können und ihre eigene, simplere Ausdrucksweise als nicht ebenbürtig, ja als unangemessen empfinden. Aber damit wird eben der Kontakt zwischen Wählern und Gewählten gestört, politischer Diskurs und politische Willensbildung behindert oder gar verhindert, Ressentiment gegen die Schwätzer da oben erzeugt, gegen die der Automechaniker oder die Hausfrau eben nicht ankommt. 4. Wer politische Sprachkritik in Deutschland fördern will, muß einige Furchen pflügen, wo bisher nur Weide war. Ich habe dies vor allem im siebten und längsten Kapitel meines Buches versucht, das der politischen Funktion von Wörtern nachgeht, und zwar solchen, die, seien sie aus Plastik oder nicht, das Politdeutsch unserer Zeit beherrschen. Ich wollte mich nicht damit begnügen, die Ausbreitung von Substantiven, Adjektiven oder auch Verben zu beklagen, nachzuweisen, wieviele andere Wörter sie verdrängen, wieviele sprachliche Nuancen dabei untergehen, sondern von Fall zu Fall herausfinden, warum dies so war, welche politische Funktion diese Wörter im politischen Betrieb so beliebt und so dominant gemacht hatte. Vielleicht wäre an dieser Stelle noch einmal klarzustellen, was mit Funktion gemeint ist. Nicht, daß jede Sprecherin und jeder Sprecher solche Wörter verwenden, weil sie sich dieser Funktion bewußt sind. Das geschieht so gut wie nie. Die meisten reden von "Akzeptanz", von "gezielten Maßnahmen" oder von "unabdingbaren Voraussetzungen", weil alle so reden, weil, wer so spricht, sich als zünftig, zur Zunft gehörig erweist. Trotzdem gibt es diese politische Funktion, sie fördert die Verbreitung dieser Wörter. Ein Beispiel sei die scheinbar harmlose Verbalkonstruktion: "Ich gehe davon aus". Daß Politiker und Journalisten heutzutage von früh bis spät ausgehen, ist nicht nur Sprachkritikern aufgefallen. Inzwischen, meinte Sternberger, habe "diese Epidemie" auch "den alltäglichen Sprachgebrauch der Passanten und Konsumenten ergrif-

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Erhard EPPLER

fen". Sternberger beklagte, daß "die schönen, allerdings bescheideneren Geistestätigkeiten des Annehmens, Vermutens, Erwartens, Fürchtens und Hoffens dem Untergang zu verfallen schienen". Was Sternberger nicht fragte, ist, wie es zu dieser Epidemie gekommen sein könnte, was die "classe politique" dazu veranlaßt haben könnte, all die differenzierenden Verben, die Sternberger nannte - und einige dazu diesem Ausdruck zu opfern. Wer politisch zu entscheiden hat, weiß nur selten alles, was er dazu wissen müßte. Zum einen hat er gar nicht die Zeit, all das vorhandene Wissen zu verarbeiten, das - notwendigerweise - ein Wissen über Vergangenes ist. Und zum anderen kennt er die Zukunft nicht, in der seine Entscheidung Wirkungen zeitigen soll. Soll der Bund den Unternehmern, die in der früheren Sowjetunion investieren, Anlagebürgschaften geben, die, geht die Investition im Chaos unter, den Steuerzahler belasten? Niemand weiß, wie es in Rußland oder Georgien in drei Monaten oder gar in drei Jahren aussehen wird. Aber die Entscheidung will getroffen sein, denn auch die Verweigerung der Bürgschaft hat Folgen, ja, sie kann zu dem Chaos beitragen, das alle fürchten. Kurz: Wer politische Entscheidungen zu fällen hat, muß dies aufgrund von Vermutungen tun. Und eben dies zuzugeben, fällt Politikern schwer. Daß es sich hier um eine Schwachstelle politischen Sprechens handelt, wußte schon Aristoteles. Er stellt ganz unbefangen fest, Rhetorik, auch politische Rhetorik, befasse sich mit dem Wahrscheinlichen, nicht mit dem, was sicher, was beweisbar ist. Und er kommt auf dieses Thema immer wieder zurück: Politische Reden vor Versammlungen zu halten, ist schwieriger als Plädoyers vor Gericht, und zwar natürlicherweise, weil hier über Zukünftiges geredet wird, dort über Geschehenes ... Unser unscheinbarer Ausdruck "ich gehe davon aus", setzt also an einer der wundesten Stellen politischen Redens an: Erstens können die Menschen, mit denen wir zu tun haben, immer so und auch anders handeln - und Politik ist menschliches Handeln - und zweitens haben politische Entscheidungen immer mit "Zukünftigem", nicht mit "Geschehenem" zu tun. Sie sind immer Versuche auf eine Zukunft hin, die niemand kennt. "Ich gehe davon aus" verwischt die Grenze zwischen Wissen und Vermuten, und eben dies macht den Ausdruck so ungeheuer attraktiv. Sagt der Abgeordnete: "Ich hoffe, daß der Bundeskanzler die Regierung bald umbildet", dann wird deutlich, daß er genauso wenig weiß wie andere auch. Daß dies der Wahrheit entspricht, ist keine Schande, denn welcher Kanzler wird schon vorher über eine Regierungsumbildung plaudern? Aber um zu hoffen, brauchen die Bürgerinnen und Bürger keinen Abgeordneten, das können sie selbst. Wenn sie abends zur Versammlung im "Löwen" erschienen sind, obwohl ein berühmter Krimi im Fernsehen läuft, wollen sie mehr geboten haben. Also sagt der Abgeordnete: "Ich gehe davon aus, daß der Bundeskanzler ..." und läßt offen, ob er nicht doch mehr weiß als die Zuhörer.

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Politische Sprachkritik - was kann sie leisten ?

Ein Ausdruck, der die Grenze zwischen Wissen und Vermuten verwischen kann, erlaubt es, ein bißchen wissender zu scheinen, als man ist. Daher kommt er dem Geltungsbedürfnis des Sprechers entgegen. Trotzdem ist er unverbindlich. Niemand hat etwas Unwahres behauptet. "Ich rechne damit, ..." wäre verbindlicher. Der Politiker könnte gefragt werden, was da alles in seine Rechnung eingehe. Und später könnte jemand sagen, er habe sich verrechnet. Wenn nur der Ausgangspunkt sich - leider - verschoben hat, was kann er dafür? "Ich gehe davon aus..." erlaubt also auch, für eigenes Irren veränderte Umstände verantwortlich zu machen. Ursprünglich sollte der Ausdruck, der jetzt alles überwuchert, nur den Ausgangspunkt eines Gedankens oder einer Argumentation markieren. "Die bürgerliche Demokratie geht von der Ansicht aus", sagte August Bebel, "daß die politische Freiheit eigentlich alles sei, was der Mensch verlangen könne". Bebel will den Ausgangspunkt bürgerlichen Denkens bezeichnen. Aber inzwischen ist an die Stelle eines festen Ausgangspunktes immer mehr ein Vermuten, Hoffen, Meinen, Glauben, Argwöhnen oder Befürchten getreten, das eben kein Vermuten, kein Argwöhnen, kein Meinen oder Glauben, kein Hoffen und kein Befürchten sein will. Natürlich hatte Sternberger recht, wenn er deshalb die Verarmung der Sprache beklagte. Wichtiger scheint allerdings die politische Funktion dieser Verarmung. Und die ist für alle Politik zentral: Die Grenze zwischen dem, was der Politiker weiß, und dem, was er nicht weiß und meist auch nicht wissen kann, wird unkenntlich. Wo wir der politischen Funktion von Modewörtern auf die meist verdeckte und verwischte Spur kommen wollen, drängt sich schließlich ein Gedanke auf, der uns erschrecken lassen kann: Gibt es auch Ausdrücke, die, weil sie nun einmal Mode sind, weil sie sich der Sprecherin und dem Sprecher auch da aufdrängen, wo ein anderes Wort exakter, richtiger wäre, die Wirklichkeit so verfehlen, daß dabei etwas politisch Falsches, Unverantwortbares herauskommen muß? Ich habe schon am 17. Juni 1989 vor dem Deutschen Bundestag bezweifelt, daß es politisch klug sei, von einer deutschen Frage zu sprechen, die es zu lösen gelte. Politik ist nicht Mathematik, wo man Probleme definieren und dann lösen muß. Könnte manches von der deutschen Misere des Jahres 1993 nicht auch daher rühren, daß manche am 3. Oktober 1990 meinten, nun sei die deutsche Frage gelöst? Uwe Pörksen erkennt in der Formel vom Problem-Lösen eine Tendenz zur "Mathematisierung der Umgangssprache". Wenn aber Politik etwas fundamental anderes ist als Mathematik, paßt dann diese Denkfigur auf das, was dort zu verhandeln und zu entscheiden ist? Manchmal. Wenn einem Dorfbürgermeister fünf Asylsuchende zugewiesen werden, hat er ein klar umrissenes Problem: Er muß dafür sorgen, daß die Menschen untergebracht werden. Haben sie ein Dach über dem Kopf, ein ordentliches Bett und etwas zu essen, dann ist für ihn dieses Problem erst einmal gelöst. Aber wie sieht es aus, wenn in der Asyldebatte Regierung und Opposition einander vorwerfen, das, was die jeweils anderen wollten, löse das Problem nicht? Wer 19

Erhard EPPLER

eine Ahnung davon hat, wie es auf dieser Welt aussieht, von Rußland über den Vorderen Orient bis Schwarzafrika, wird beiden recht geben und hinzufügen, sie wüßten gar nicht, wie recht sie hätten. Der Einwanderungsdruck auf Westeuropa wird in den nächsten Jahren - und wohl auch Jahrzehnten - eher zunehmen. Solange Hunderte von Millionen Menschen im Elend verkommen, werden weit mehr Menschen die Wohlstandsinsel Westeuropa bedrängen, als beim besten Willen aufgenommen werden können. Man baut nicht ohne Risiko eine Villa inmitten von Hütten aus Blech und Karton. Wenn Regierung und Opposition sich ganz zu recht gegenseitig vorwerfen, sie könnten das Problem nicht lösen, dann bleibt die Frage, ob die Sprache, die hier verwendet wird, der Wirklichkeit gerecht wird. Gibt es hier ein "Problem", das zu lösen wäre - wie beim Landbürgermeister - oder eine höchst gefährliche Wirklichkeit, mit der jede Politik auf lange Zeit leben, mit der jede Politik rechnen, leidlich zurechtkommen und "umgehen" muß? Manchmal kommt es in der Politik nicht darauf an, "Probleme" zu isolieren, zu definieren und zu lösen, sondern eine nach gründlicher Überlegung als richtig erkannte Politik durchzuhalten. Seit es eine europäische Gemeinschaft gibt, werden in Brüssel die "Probleme" der europäischen Landwirtschaft gelöst mit dem Ergebnis, daß immer neue und immer schwierigere "Probleme" auftauchen. Dies geht wohl so lange, bis nicht nur die Landwirtschaftspolitik, sondern der größere Teil der Landwirtschaft am Ende ist. Aber wo ist die durchdachte, ökologisch, ökonomisch und sozial verantwortbare politische Linie, die zum "sustainable development" für Millionen bäuerlicher Familienbetriebe führen kann? Ist sachgemäße Politik möglich, wo etwas als Problem definiert wird, obwohl es keines ist, obwohl also auch eine Lösung nicht denkbar ist? Denn wer Problem sagt, impliziert, daß es eine Lösung gebe. Aber eben dies kann an der Wirklichkeit vorbeiführen, und das hat dann politische Folgen. Noch einmal das Asylrecht. Wenn es nun eine Änderung des Grundgesetzes gibt - und ich halte dies für richtig und nötig - , was sagen wir den Millionen Enttäuschter, die nach einem Jahr verwundert und verbittert feststellen, allzuviel habe sich gar nicht geändert? Es ist eben nicht gleichgültig, wie man eine politische Aufgabe formuliert oder definiert. Aus der falschen Definition ergibt sich die falsche Politik. Politische Sprachkritik ist nicht nur Kritik der politischen Sprache. Solche Kritik kann ästhetisch oder moralisch, vor allem aber gänzlich unpolitisch sein. Politische Sprachkritik ist politische Kritik der politischen Sprache. Daher ist sie immer auch Politik.

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Politische

Sprachkritik - was kann sie

leisten?

Literaturangaben EPPLER, Erhard (1992): Kavalleriepferde beim Hornsignal. Die Krise der Politik im Spiegel der Sprache. Frankfurt/M. HERINGER, Hans Jürgen (Hg.) (1982): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Tübingen. HERINGER, Hans Jürgen (1990): Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Politik, Sprache, Moral. München. JOCHMANN, Carl Gustav (1983): Politische Sprachkritik, Aphorismen und Glossen. Hg. von Uwe PÖRKSEN. Stuttgart. ORWELL, George (1946): "Politics and the English Language." In: ORWELL, George: Collected Essays. London, 1961. PÖRKSEN, Uwe (19882): Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur. Stuttgart. STERNBERGER, Dolf (1991): Sprache und Politik, Schriften IX. Frankfurt/Main. STERNBERGER, Dolf/STORZ, Gerhard/SÜSKIND, W.E. (1957 2 ): Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Hamburg.

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Hans-Werner EROMS (Universität Passau)

Die deutsche Sprache hüben und drüben drei Jahre nach der Wiedervereinigung

1. Zentripetale und zentrifugale Kräfte in der deutschen Sprache Im vierten Jahr der neuesten deutschen Geschichte läßt sich ein sprachliches Phänomen beobachten, das es in dieser Form weder in der deutschen, noch in der Sprachgeschichte eines anderen Volkes bisher gegeben hat: die Wiederherstellung einer Kommunikationsgemeinschaft eines Landes, das vierzig Jahre in zwei Staaten getrennt gewesen war. Wie stets in der Sprachgeschichte ist dies nicht von der allgemeinen Geschichte abtrennbar. Doch gilt diese einleuchtende Grundannahme hier in besonderer Weise: Sie betrifft jedes einzelne Element des eben geäußerten Satzes und macht ihn fragwürdig: 1) Sind wir Deutschen als Beteiligte in der Lage, diese Erscheinung selber zu beurteilen? 2) Sind vierzig Jahre eine genügend lange Zeitspanne, daß eine Sprache sich teilen kann? 3) Ist die Voraussetzung des Satzes, daß eine Trennung wieder aufgehoben worden sei, so zu verstehen, daß vorher eine unbezweifelte Einheit bestanden habe? 4) Läßt sich für die Zeit der Trennung überhaupt von zwei Staaten reden? Alle diese Fragen muß ich kurz berühren, bevor ich die gegenwärtige Situation skizzieren und auf die Perspektiven eingehen kann, die sich daraus ergeben. Zu 1): Alle Deutschen und damit auch alle deutschen Sprachwissenschaftler sind Betroffene. Eine Sicht von außen auf die sich wandelnde Sprachsituation ist so gut wie unmöglich. So läßt sich derzeit beobachten - und das gilt für die deutschdeutsche Sprachproblematik der letzten vierzig Jahre gleichermaßen - , daß die Argumentationen sich auf einer z.T. extrem hohen emotionalen Tonlage vollziehen. In kaum einem anderen Bereich sind derart massiv Meinungen und Bekenntnisse vorgetragen worden wie in diesem. Dies galt in den fünfziger und sechziger Jahren für die unterschiedlichen staatlich geprägten Sichtweisen in der Bundesrepublik und der DDR. Es galt aber auch für die interne Diskussion, jedenfalls in der Bundesrepublik. Ich führe hier nur den kritisch-ironisch gemeinten Titel eines Aufsatzes von Ruth Römer (1988) an: "Die exotische DDR-Sprache und ihre westdeutschen Erforscher". Das Jahr 1989 hat diesen ganzen sprachwissenschaftlichen Untersuchungsbereich 23

Hans-Wemer

EROMS

beendet. Man könnte nun geneigt sein, anzunehmen, daß die Diskussion entemotionalisiert sein müßte. Das Gegenteil ist der Fall. Zwar ist die Bewertung, insbesondere der direkt auf Staatlichkeit bezogenen, öffentlichen Sprache in der früheren DDR kaum kontrovers, aber, wie noch zu zeigen sein wird, die Auswirkungen der staatlichen Trennung über mehr als eine Generation führen zu neuen, viel stärker auf die Verkehrssprache ausgreifenden Unterschiedlichkeiten. Und es geht darum, wie stark auch diese Divergenzen zu bewerten sind. Denn die de /acfo-Gleichheit der sprachlichen Bereiche muß noch lange nicht die Gleichheit in der Identifikation mit Sprache und Staatlichkeit bei allen deutschen Bürgern beinhalten. Es fragt sich, ob dies bei einer Bevölkerungszahl von etwa 80 Millionen überhaupt möglich ist. Damit komme ich zur zweiten und gleich auch zur dritten Eingangsfrage: Sind vierzig Jahre Sprachgeschichte auf dem Hintergrund der etwa eintausend Jahre Geschichte der deutschen Sprache ein Zeitraum, in dem sich überhaupt merkliche Entwicklungen haben vollziehen können? Es will zunächst so scheinen, als ob man diese Zeitspanne vernachlässigen könnte. Es sind 5% der überblickbaren Sprachgeschichte. Für einen solchen Zeitraum kann kein Phonologe oder Morphologe Veränderungen feststellen. Aber Sprache besteht ja wohl aus mehr als Phonemen und Morphemen. Und in der Tat sind die Generations-Unterschiede im lexikalischen Bereich auch in relativ homogenen Sprechergemeinschaften gravierend, wie jedermann weiß. In unserem Fall geht es aber weniger um die diachrone als um die diatopische Komponente in der Sprachentwicklung. Abgesehen davon, daß mit der erzwungenen staatlichen Trennung ab 1949 und gänzlich ab 1961 abrupt der Verkehrsfluß zwischen den Regionen unterbrochen wurde, ist die regionale Diversifikation des deutschen Sprachgebietes mit den Endpunkten eigener Staatlichkeit überhaupt nichts Neues. Von Anfang an ist die Geschichte der deutschen Sprache durch zentripetale und zentrifugale Tendenzen gekennzeichnet, die sich in unterschiedlichen Schüben bemerkbar machen. Sie haben zudem die natürliche Konsequenz, daß die regionalen und registerbezogenen Sprachschichten zu einem Nebeneinander verschiedener Sprachvarianten geführt haben. Wie gesagt, dies ist eine Erscheinung, die von Anfang an in der deutschen Sprachgeschichte vorhanden war: Im Deutschen hat sich, anders als etwa in Frankreich oder Rußland, nicht ein "Prestige-Dialekt" auf Kosten anderer regionaler Formen durchgesetzt, sondern, in Einklang mit der polyzentrischen Machtverteilung, eine echte Ausgleichssprache herausgebildet, die Elemente aller sogenannter Stammesdialekte (Alemannisch, Bairisch, Fränkisch und Altsächsisch/Niederdeutsch) umfaßt, worauf hier nicht näher eingegangen zu werden braucht. Die wichtigsten zentripetalen Schübe sind nicht staatlich-politisch, sondern kulturell bedingt. Hier ist etwa an die mhd. Dichtersprache, die Urkunden- und Geschäftssprache, die Bibelsprache, den Buchdruck und seit dem 17. Jahrhundert an die zunehmende geistige Einheit der Deutschen zu denken. Dies ist ein Prozeß, der ständig in Widerstreit mit Tendenzen liegt, die der Zentralisierung entgegenlaufen. Und diese sind wiederum einerseits Spätfolgen der geschichtlichen Ausgangsbedingungen: Bis heute sind etwa die bairischen Mundarten und die überregionalen verkehrssprachlichen Formen in Süddeutschland stark unterschiedlich zu denen im Norden. Andererseits gibt es unter den nicht zentripetalen

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Die deutsche Sprache hüben und drüben - drei Jahre nach der Wiedervereinigung

Tendenzen auch solche, die zu eigenen staatssprachlichen Varianten geführt haben. Dies sind die eigentlich zentrifugalen, und sie sind völlig unterschiedlich, zudem werden sie kontrovers beurteilt: Das Deutsch in der Schweiz ist auffallig anders als das in der Bundesrepublik. Dennoch ist die Hoch- und Schriftsprache, von phonetischen Varianten abgesehen, identisch. In Österreich ist ein Bestreben zu einem überregionalen Sprachausgleich zu beobachten. Da der vom staatlichen Zentrum, von Wien aus, dominiert wird, werden seine Auswirkungen durchaus kritisch aufgenommen (vgl. insbesondere H. SCHEURINGER, 1992). Das Luxemburgische, das ich trotz der erheblich geringeren Sprecherzahl in seiner Bedeutung nicht zu gering veranschlagen möchte, zeigt, daß Staatlichkeit und Sprachlichkeit auch auf dem Wege von den Dialekten her neu gesucht werden kann. So verwundert es nicht, daß die sogenannte Vier-Variantenthese, nämlich die Annahme einer staatlich geprägten Eigensprachlichkeit des Deutschen der Schweiz, Österreichs, der Bundesrepublik und der DDR in die Diskussion gekommen war. Und längerfristig gesehen - d.h., wenn die DDR überlebt hätte, - hätte sie vielleicht eine reale Grundlage bekommen. Durch diese hypothetische Ausdrucksweise gebe ich aber zu erkennen, daß ich die Ablehnung dieser These für die Zeit, in der sie geäußert worden war, billige. Da ich im ersten Punkt auf die Involviertheit der Sprachwissenschaftler in den Beschreibungsprozeß eingegangen bin, würde es sich erübrigen, darauf hinzuweisen, daß das Abrücken von der These immer auch ein sprachpolitisches Bekenntnis gewesen ist. Das gilt für die Sprachwissenschaftler in der Bundesrepublik und in der alten DDR gleichermaßen. 1 Wir wissen, daß die alte DDR alle sprachlichen Entwicklungen in einer eigentümlichen dialektischen Sicht betrachtet hat: Da die Sprache abbilde, was in Einklang mit der historischen Entwicklung stehe, sei sie "richtig". Da in der Sprache die neuen Verhältnisse verbindlich und ausnahmslos gefaßt wurden, war die Sprache gleichsam ihrer Zeit voraus. Sie markierte immer den Endpunkt einer auch in sozialistischer Sicht nur absehbaren Entwicklung, wenn von "Neuerungen", "Fortschrittlichkeit", "unverbrüchlicher Freundschaft mit den sozialistischen Bruderstaaten" und "Solidarität" gesprochen wurde. Das heißt aber auch, eine neue Variante des Deutschen war damit immerhin postuliert. Wenn DDRSprachwissenschaftler sich dennoch gegen die Vier-Variantenthese aussprachen - und einige haben das ganz unverhüllt getan - , stellten sie sich gegen eine prinzipiell verbindliche Sichtweise. 2 Dieser Mut ist hoch anzuerkennen. Vielleicht hat auch dies ein wenig dazu beigetragen, die Stabilität des Systems zu schwächen. Ich habe damit bereits etwas zur vierten Eingangsfrage gesagt. Zweifellos bestand eine getrennte Staatlichkeit zwischen der DDR und der Bundesrepublik. In sprachlicher und sprachwissenschaftlicher Sicht geht es dabei nicht um verfassungsrechtliche Fragen, etwa, ob die deutschen Länder in der DDR zu unrecht aufgelöst worden waren, sondern um die realen Auswirkungen unterschiedlicher staatlicher Institutionen auf die Sprache. Es ist in einer großen Zahl von Arbeiten dokumentiert worden,

1

2

Vgl. die Bewertung der Variantenthese im Rückblick bei DOMASCHNEW (1990: 8f.) und ASKEDAL (1990: 42). Vgl. dazu EROMS ( 1 9 9 2 : 217).

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Hans-Werner EROMS

wie die öffentliche Kommunikation in der DDR funktioniert hat. 3 Erst relativ spät haben sich die Sprachwissenschaftler in der alten Bundesrepublik und aus dem westlichen Ausland auch mit alltagssprachlichen und sonstigen wenig beeinflußten Sprachformen in der DDR b e f a ß t 4 Dabei trat zutage, daß die Divergenzen in vierzig Jahren staatlicher Trennung durchaus schon beträchtlich waren. Es ist aber andererseits auch mehrfach die Auffassung geäußert worden, daß derartige Unterschiedlichkeiten belanglos gewesen seien und die Funktionärssprache eine aufgesetzte, von der Bevölkerung nicht gewollte, nicht die "eigentliche" Sprache gewesen sei. Insbesondere Wolf Oschlies hat mehrfach vehement die offizielle Sprache der DDR auf diese Weise in ihrer Bedeutung zu relativieren gesucht, vor allem dadurch, daß er sie ironisierte. 5 Dabei sollten zwei Dinge nicht vergessen werden: Auch in pluralistisch-demokratischen Gesellschaften werden immer Schichten der öffentlichen Sprache kritisiert, hauptsächlich die der jeweiligen Regierenden. Zwar wurde in der alten Bundesrepublik immer neu versichert, daß man sich solche verbalen Kämpfe deswegen leisten könne, weil der demokratische Grundkonsens bestehe, der sich in einer mit einer gewissen Bandbreite identischen Interpretation von "Demokratie", "Staat", "Freiheit" oder "Marktwirtschaft" und "Gewerkschaft" niederschlage. Dieser Grundkonsens beruhte aber immer auch auf dem Hintergrund der anders gearteten bekannten sozialistischen Auslegung. Nach dem Wegfall der sozialistischen Staatlichkeit fehlt auch die synchrone Interpretationsfolie pluralistisch-demokratischer Wertbegriffe, die nun wieder stärker aus ihrer Geschichtlichkeit leben. Das zweite, was bei der Beurteilung von vierzig Jahren deutscher Sprachgeschichte nicht außer acht gelassen werden darf, ist, daß an der Sprache vorgetragene Kritik, insbesondere jede pauschalierte, leicht als gegen die Menschen selber gewendet aufgefaßt werden konnte, die sie sprachen und schrieben, auch wenn sie sie hatten sprechen und schreiben müssen. Zumindest ein unausgesprochener Vofwurf oder letztlich ein Vorbehalt konnte aus Wendungen wie "die da drüben" herausgehört werden. Und die Frage ist nun, ob die damit gegebene Pauschalierung und Distanzierung nach der Wende, der Wiedervereinigung und drei Jahre danach, beseitigt sind.

2. Die deutsche Sprache in der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung Dies ist nicht der Fall. Es ist bereits zu einem Topos geworden, nach dem Fall der Mauer von "der Mauer in den Köpfen" der Menschen in den alten und in den neuen Bundesländern zu sprechen. Die gegenseitigen Ab- und Ausgrenzungen schlagen sich unter anderem in den Bezeichnungsstereotypen "Ossi" und "Wessi" nieder, 6

3

V g l . i n s b e s o n d e r e HELLMANN (1992) u n d SCHLOSSER (1990).

4

Vgl. insbesondere SCHLOSSER (1991), der auch auf die Gründe eingeht, die dazu geführt hatten, diesen Untersuchungsbereich zu vernachlässigen (1990: 157 ff.). Allerdings auch durch die Aufnahme der Selbstironie in der alten DDR; insbesondere in

5

6

OSCHLIES ( 1 9 8 9 ) . V g l . EROMS ( 1 9 9 2 : 2 2 2 ) .

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Die deutsche Sprache hüben und drüben — drei Jahre nach der Wiedervereinigung

wobei die - kürzlich von H. J. Heringer analysierte - Bildung "Besserwessi" 7 den Spieß, der jahrelang nach Osten gerichtet war, umdreht. Bevor ich zu einer auf Quellen gestützten Bestandsaufnahme für das Jahr 1993 komme, soll ein kurzer Blick auf zwei literarische Zeugnisse, die aktuell rezipiert werden, die Situation vor der Wende beleuchten.

2.1. Die halbierte Sprache Im Jahr 1993 wurde der 1966 erstmals erschienene R o m a n Der Weg nach Oobliadooh von Fritz Rudolf Fries wieder aufgelegt. 8 Er beschreibt das Leben zweier junger Leipziger, die ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrem Staat haben und zwischen den beiden Welten des Ostens und des Westens hin- und herwandern, geistig und mindestens einmal auch real, als sie sich nach Westberlin absetzen. Dort angekommen, bestaunen sie das Warenangebot in den Schaufenstern. Arlecq, der Übersetzer, fragt seinen Freund Paasch, den Zahnarzt, ob er die Geschichte von den Ostschuhen kenne: "Da war der Mann aus der Provinz, sagt Α., der sich hier sein Geld und seine Schuhe eintauschte gegen ein Paar bessere, weil von drüben. Hüben aber fiel er der Polizei damit ins Auge, als diese ihre Stiefel neben das Schwindelkursprodukt stellte" (S. 182). Er muß die Schuhe abgeben, es erfrieren ihm zwei Zehen. Doch bekommt er die Schuhe wieder. Ein Paar Plastezehen wären ihm von größerem Nutzen gewesen, denk ich, sagte P. und schwang seinen Schirm. Sicher hätte er unsere Plaste verschmäht..., sagte A. Deren Plaste mußt du jetzt sagen, korrigierte P. Ostplaste von drüben. Wir sind jetzt hüben. Drüben oder hüben, sagte A. Jedenfalls riecht es hier besser (S. 183). Doch A. kann sich mit der rein geographisch-referentiellen Verwendung des "hüben und drüben" nicht anfreunden: Er legt es für sein Heimatgefühl fest: Der stalinistische Zuckerguß in Architektur, Musik und sonstwo, der Käsegeruch von hüben wird uns fehlen (S. 183). Das Spiel mit dem "hüben" und "drüben" dauert auch nicht lange. Die beiden gehen zurück, beantworten die Fragen "der Westpresse, der Reporter von drüben, nun da sie wieder hüben waren" im Sinne ihres Staates, der "sie in seine väterlichen Arme geschlossen hatte" (S. 192). Später legen sie sich Rechenschaft ab: "Hier war er sicherer in seiner Labilität", räsoniert A. über P. "Schule, Studium, Beruf: andere hatten für ihn vorgesorgt... Die Unterschiede waren zu groß...: dreizehn Jahre andere Gewohnheiten..". (S. 230). Aus der Sicht von 1993, in der nicht dreizehn, sondern über vierzig Jahre andere Gewohnheiten zwischen "hüben" und "drüben" liegen, muß der Roman zwangsläufig ein nostalgisches Bild von der vergangenen D D R entwerfen. Die Berufung auf die größere Sicherheit wird uns noch beschäftigen.

7

HERINGER ( 1 9 9 1 ) .

8

Leipzig, 1993.

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Hans-Werner

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Eine viel härtere Sicht der Dinge entwickelt kurz vor der Wiedervereinigung Martin Walser in seinem deutsch-deutschen Spionageroman Dorle und Wolf. 9 Wolf, die Hauptperson, leidet an der deutschen Teilung. Die Schlüsselstelle dafür ist die ihm auf einem westdeutschen Bahnhof plötzlich aufgehende Erkenntnis, daß die Menschen in Deutschland wegen der Teilung nur halb existierten: Die anderen Reisenden auf dem Bahnsteig in ihrer Kompaktheit, Adrettheit, Gepflegtheit, Zielgerichtetheit kamen ihm plötzlich vor wie halbe Menschen. Lauter Halbierte strebten da hin und her. Die anderen Hälften liefen in Leipzig hin und her. Die hier leuchteten, gleißten geradezu in ihrer Entwickeltheit und Fortgerissenheit... Aber sie sind wie verloren in ein Extrem. Und die drüben sind verrannt ins andere Extrem. Das teilt mehr als der böse Strich durch die Geographie (S. 54 f.). Ich belasse es bei diesem Zitat und verzichte auf eine Bewertung des mit dem letzten Satz gegebenen Quasizitats Walsers aus der öffentlichen Sprache. Walser spielt das Halbierungsmotiv bei Wolf bis zu dessen Zerbrechen durch. Wolf kann sich nicht in der einen Hälfte einrichten, er identifiziert sich mit keiner von beiden, dafür verklärt er das Ganze; das aber war noch 1987 außerhalb jeder realistischen Denkvorstellung. Dieses geradezu utopische Wunschbild ist plötzlich verwirklicht. Aber es wäre unrealistisch anzunehmen, daß die Illusionen, Regressionen und Verdrängungen mit einem Schlage gelöst oder aufgearbeitet werden könnten. 2.2. "Aufarbeitung" durch Motzki Verdrängte Vorbehalte kleinbürgerlicher "Wessis" gegen die "Ossis" sind kürzlich in der kontroversen Fernsehserie Motzki zum Ausdruck gekommen. In der Leipziger Volkszeitung (= LVZ), deren redaktionelle Tendenz gleich noch zu beleuchten sein wird, findet sich am 13./14. Februar 1993 dazu folgender Leserbrief: Gefahren bei "Motzki" Zur gleichnamigen Fernsehserie Die Kunstfigur Motzki als verspätetes Outing eines Ex-DDR-Schauspielers, als quasi postpubertäre Vergangenheitsbewältigung mit dem Drang, um jeden Preis Aufsehen zu erregen? Das wäre wohl eher ein Fall für den Psychiater und wirklich eine bewußte Beleidigung vieler Ostdeutscher. Aber vielleicht ist alles ganz anders - und da hält der sich beim Zusammenwachsen so schwer tuenden Nation ein Ossi in Eulenspiegelmanier einen Spiegel vor, konterkariert durch die Biographie seiner realen Person all seine Aussagen als Motzki. - Also etwas für West-Intellektuelle und "gelernte" DDR-Bürger, die ohnehin 40 Jahre lang zwischen den Zeilen zu lesen und zu verstehen gewöhnt waren?

9

Frankfurt (1987). Zitate nach: suhrkamp taschenbuch 1700. Frankfurt 1990. 28

Die deutsche Sprache hüben und drüben - drei Jahre nach der Wiedervereinigung

Aber es gibt eben eine ernstzunehmende Gefahr: Daß all die zynischen Aussagen von zu vielen für bare Münze genommen, ja im Westen unseres Landes gar beklatscht werden und so der Graben, der sich nach dem Abriß der Mauer auftut, weiter vertieft wird. Zu unser aller Schaden. In diesem Leserbrief wird brennpunktartig die gegenwärtige sprachliche Situation zwischen Ost und West deutlich: Im ersten Absatz finden sich aktuelle West-Vokabeln, "Outing" oder "postpubertär", im zweiten gibt es Aussagen über die sprachlichen Gewohnheiten der DDR-Bürger, die auch eine alte Ausdrucksweise aufweist, wenn von der "real" existierenden Person die Rede ist. Man habe zwischen den Zeilen lesen können. Beide Wortschatzbereiche sind nur amalgamiert, d.h. ihre Herkunft ist noch deutlich zu erkennen. Berufen wird nach dem Versuch, die Art der Aufarbeitung durch den mäkelnden Motzki zu akzeptieren, die damit verbundene Gefahr, eben die Mauer durch den Graben zu ersetzen. Im Leitartikel der LVZ vom 04.02., S. 1, wird das mit sprachlichen Versatzstücken einschließlich des Ausdrucks "Vereinigung" statt "Wiedervereinigung" deutlich ausgesprochen: Deutsch-deutsche Szenen von gestern: Der Kanzler erklärt, es sei nicht die Zeit für Verteilungskämpfe; das Meinungsforschungsinstitut Info ermittelt zunehmenden Pessimismus unter ostdeutschen Arbeitslosen; die Nation regt sich über Motzki auf. Alle drei Meldungen zeigen, daß die Deutschen drei Jahre nach der Vereinigung längst nicht einig sind, daß es ein wirtschaftliches Gefälle und eine Mauer in den Köpfen gibt. Es wird dann im folgenden davon gesprochen, daß sich auch innerhalb der neuen Bundesländer "neue Grenzen" gebildet hätten, daß es "auch hierzulande Leute [gäbe], die mit der Wende ihr Glück gemacht haben", daß die auch anderswo geäußerte Kritik am "real existierenden Sozialismus" ihre Berechtigung habe und daß aber auch nicht jeder "Wessi ein Besserwessi" sei. Nicht nur hier ist die Absicht der Redaktion, ein positives Bild der Lage zu zeichnen, deutlich zu bemerken. In Leserbriefen und Anrufen bei der Redaktion finden wir ganz andere Äußerungen. Die Ablehnung überwog deutlich. Daraus einige Beispiele (LVZ vom 4.2.1993, S. 12): Obwohl ich gute Darsteller sah, verletzt die Serie meine Gefühle. Was da über unsere Arbeit gesagt wird, ist einfach unwahr. Was bezweckt man damit? Die Mauer zwischen uns Deutschen ist jetzt noch höher. Die ARD ist für mich gestorben. Ich lebe seit zwei Jahren hier in Mittelfranken und lese nach wie vor meine Heimatzeitung. Es ist sehr traurig, aber es stimmt: Ich bin hier vielen Motzkis begegnet. Die Stimmung gegen den Osten hat sehr zugenommen. So eine Volksverdummung ist eher einem Schnitzler zuzumuten. Motzki ist wohl der mieseste Westtyp. Zum Glück gibt es viele andere. Ich möchte lieber das Versöhnende zwischen uns sehen.

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Über sich selbst lachen können - das ist bei "Motzki" wunderbar möglich. Mir gefällt's. Mich überzeugt die Serie mit ihrem arroganten Besserwessi nicht. Da werden nur schlechte Eigenschaften gezeigt. Ich halte die Serie für mißraten. So viele Ungenauigkeiten, auch das Sächseln, kann sich Satire nicht leisten. Wir Ostdeutschen hatten durchaus gelernt zu arbeiten - und zu verzichten. Ich empfinde diesen widerlichen Motzki als Schlag ins Gesicht von uns ehemaligen DDR-Bürgern. Da heißt es immer, wir Deutschen sind ein Kulturvolk. Doch hier begibt sich die ARD auf Kneipenjargon. Ich habe mich köstlich amüsiert. Motzki ist der typische Westspießer und Schaumschläger. Die Schwägerin dagegen verkörpert den Ossi mit seinem gesunden Selbstvertrauen und Stolz. Die reale Situation ist nicht so. Da sind eher höhergestellte Menschen die Motzkis, die für eine Mark ganze Betriebe bekommen. Die Serie trifft die Ostdeutschen an lauter empfindlichen Stellen. Sie verstößt über die vermeintliche Kritik an der Arbeitsmoral und der Lebenshaltung hinaus gegen die Erwartung, daß im Fernsehen gewählte Sprache und kein "Kneipenjargon" zu sprechen sei. Andererseits wird das "Sächseln" als unangemessenes Zunahetreten empfunden.10 Demnächst soll nun mit der Serie Die Trotzkis vom Mitteldeutschen Rundfunk ein Gegenbild entworfen werden. Vater Trotzki sei "ein echt ostdeutsches Stehaufmännchen" (Süddeutsche Zeitung vom 20.10.1993, S. 21). Ich nehme die sich hier zeigende Empfindlichkeit ernst: Es kann nicht angehen, vierzig Jahre gewollte und auch ungewollte Identitätssuche, zu der immer auch die Schwächen gehören, streichen zu wollen. Das kann nur zum Versuch führen, die alten identitätsstiftenden Symbole wieder zu ergreifen. Dafür lassen sich durchaus Anzeichen finden, die sich, wie bereits angedeutet, in einer gewissen DDR-Nostalgie niederschlagen. Sie nehmen damit auch identitätsstiftende Stränge auf, die in der Wendezeit mit der Maßgabe "Bewährtes erhalten"11 zum Teil erst entstanden sind. 2.3. Anzeichen für eine DDR-Nostalgie 2.3.1. Als Beispiel für nostalgische Elemente zunächst in der materiellen Kultur greife ich die Renaissance des Trabi heraus. "Der Trabi ist tot, es lebe der Trabi!" beginnt ein Artikel in der LVZ vom 07.05.93, S. 18; der Trabi also, wenn schon 10

Da berührt eine Meldung in der LVZ vom 11.6.1993, S. 4, daß die Dresdner Volkshochschule Kurse anbiete, in denen man lernen kann, sein "Sächsisch abzulegen", merkwürdig. Dagegen kämpft das Kabarett Gohglmosch in Leipzig für die sächsische Mundart (LVZ vom 11./12. 9. 1993, S. 21). 11 Vgl. dazu SCHLOSSER (1993a: 2 2 4 ) . 30

Die deutsche Sprache hüben und drüben - drei Jahre nach der Wiedervereinigung

nicht König, dann doch wenigstens Erlkönig, um im Jargon der Automobilbranche zu bleiben. In dem angeführten Artikel erfährt man, daß manche Typen dieses wie kein anderes die sichtbare Welt der DDR repräsentierenden Symbols auf dem Gebrauchtwagenmarkt hohe Preise erzielen. Besonders beliebt seien "Kübelwagen der NVA mit Originallack und nach Möglichkeit mit Armee-Emblem" und auch die Ρ 50Modelle, die sogenannten "Rundgelutschten". Gesucht werden die Trabis allerdings nicht nur aus nostalgischer Sammlerleidenschaft, sondern auch wegen ihrer "Zuverlässigkeit". Es gibt Clubs und Fan-Zeitschriften. Ein "Typenreferent" beantwortet Anfragen der Fans. Er wird folgendermaßen zitiert: In den Clubs hat man hohe Achtung vor den Leistungen der Automobilindustrie in der ehemaligen DDR, da kennt man die Entwicklungen, die nie hergestellt werden durften. Bei derartigen Meldungen ist der Leser geneigt, auf unpolitische nostalgische Technikbegeisterung zu schließen, zumal ausdrücklich auf die Schwierigkeiten der Automobilbauer in der DDR hingewiesen wird. 12 2.3.2. Bedenklicher sind - allerdings sehr vereinzelte - Glorifizierungen führender Gestalten der DDR-Geschichte. So wird der DDR-Spionagechef Markus Wolf in einem Porträt-Artikel der LVZ mit der Überschrift "Stasi-General und lebende Legende" vom 05.05.93, S. 3, vorgestellt. Am Schluß heißt es: In den letzten Jahren der DDR wandelte sich der Spionagechef dann unter dem Eindruck der Reformen Gorbatschows vom Stasi-General zeitweise zum Hoffnungsträger der Reformwilligen in der DDR. Auch hier wird der Eindruck hervorgerufen, als ob unter der Oberfläche sozusagen eine "bessere DDR" als Möglichkeit bestanden habe. 2.3.3. Es finden sich auch direkte Vergleiche der jetzigen mit den früheren Verhältnissen, die die alte DDR auch in ihrer politischen Qualität hervorheben. In einem Leserbrief vom 15.04.93, S. 32, heißt es: Frauen mit Kindern haben doch nur Nachteile. Und auch bei Kindereinrichtungen wird gespart. Im Gegensatz zur DDR, da gab es einen reichen Kindersegen und jede Menge Kindereinrichtungen. In seiner de facto-Beschreibung wird man dem nicht widersprechen können. Doch hier wird ein Einzelelement isoliert und trägt zur Verklärung der Vergangenheit bei. Das zu Anfang dieses Abschnitts Gesagte soll noch einmal angefühlt werden: Die sich hier zeigende rückwärts gewandte Orientierung ist begreifliche Reaktion auf ein Identifikationsvakuum. Das gilt auch für Ausdrucksweisen wie "Ich habe mich damals sicherer gefühlt" (LVZ vom 28.04.93, S. 13). Daß mit diesen Worten ein farbiger Student zitiert 12

Auch dem DDR-Kleintransporter Barkas soll "ein Denkmal gesetzt werden" (LVZ vom 13. 4. 1993, S. 28): In Frankenberg soll ein Museum eingerichtet werden, das "die sächsische Transportergeschichte dokumentieren" soll. 31

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wird, nimmt den möglichen Einwänden zunächst den Wind aus den Segeln. In der Tat ist Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus in der alten DDR mit drakonischen Strafen verfolgt worden. Allerdings waren die Strafmaße für die meisten Vergehen und Verbrechen insgesamt höher als in der Bundesrepublik. Vor allem ist "Rechtssicherheit" ein Begriff, der erst in der Wendezeit eine neue Qualität erlangt hat. 13 H. D. Schlosser bemerkt zu ähnlichen Fällen, in denen Ostdeutsche "Sicherheit" in den alten Verhältnissen sahen: Fast wehmütig erinnert man sich an eine Parole aus der "Wendezeit", die mutig forderte: "Rechtssicherheit statt Staatssicherheit" (SCHLOSSER 1993: 145). Daß die Wendezeit ihrerseits bereits einem Mythisierungsprozeß unterliegt, führe ich in diesem Zusammenhang nur am Rande an. Schlosser weist im übrigen darauf hin, daß Erich Honecker in seiner Moskauer Rechtfertigungsschrift von 1992 davon gesprochen hatte, daß die Menschen in der DDR "besser und 'vor allem sicherer' als in der Marktwirtschaft" hätten leben können (SCHLOSSER 1993: 145). Wenn solche Aussagen rezipiert werden, bestätigt sich die alte DDR gleichsam selbst. Dagegen gehen Vorstellungen, die sich gegen die geäußerten Meinungen wenden, ehemalige Stasi-Mitarbeiter sollten nicht als waffentragende Wachleute eingesetzt werden, mit law-and-order-Rufen aus dem Westen eine fatale Verbindung ein: So heißt es in einem Leserbrief in der LVZ vom 07.05.93, S. 21: Wenn sich Wachmänner und -frauen heute in unserem von Kriminalität geschockten Deutschland für Ordnung und Sicherheit einsetzen, so sollen sie wenigstens eine Dienstpistole tragen dürfen. Ordnung und Sicherheit sind heute ein Hauptproblem im Nachwende-Deutschland. 2.3.4. Eigentümliche Mischungen aus DDR-Nostalgie und Verklärungen der Wendezeit finden sich in bestimmten Rock-Konzerten. Die Leipziger Volkszeitung berichtet zum Beispiel am 22.04.93, S. 23, über ein solches unter der Überschrift "Ein Ostival, aber ohne Ostalgie", bei dem unter anderem "Nachwende-Ostbands" spielen und "das zarte anhaltinische Mädchen Bobo auftritt". In Berlin soll ein "Ossi-Park" eingerichtet werden und in der Süddeutschen Zeitung vom 02.09.93, S. 6, werden Plakate einer "DDR-Party" abgebildet mit folgender Unterschrift: "Ostalgie": Drei Jahre nach der Wende kann man mit der DDR offenbar wieder Staat machen. Eine Dresdner Diskothek, die für eine DDR-Party wirbt, fordert die "Ostalgie"-Fans auf, in "zonengemäßer Kleidung" zu erscheinen. Beim Tragen eines FDJ-Hemdes wird angeblich freier Eintritt gewährt. Auf die Bewertung dieser spezifischen nostalgischen Strömungen gehe ich gleich noch näher ein. Zunächst darf man festhalten: Mit dem Ausdruck "Ostalgie" hat sie

13

Vgl. EROMS (1991). 32

Die deutsche Sprache hüben und drüben - drei Jahre nach der Wiedervereinigung

einen Ausdruck gefunden, der in jedem Fall die Erinnerung an die alte D D R festhält - ein bemerkenswertes Phänomen. 2.3.5. Unter die nostalgischen Tendenzen ist schließlich eine Erscheinung zu rechnen, die zwar keine unmittelbare Auswirkung auf die Sprache zeigt, aber ein deutliches Symptom für ein gänzlich unterschiedliches Verhalten der heranwachsenden Generation ist: Ich meine das Fort- bzw. Wiederaufleben der Jugendweihen. In der LVZ findet sich am 08.04.1993, S. 4, die unkommentierte, damit doch wohl Normalität signalisierende Meldung, daß in Leipzig 1993 daran 3500 Jugendliche teilgenommen haben, während die Zahl der Konfirmanden offenbar viel geringer war; der angesprochene Pastor wollte sich nicht genauer äußern. In dem Artikel "Ein pervertiertes Ritual lebt weiter. Jugendweihe in Ostdeutschland" von Matthias Hartmann in den Deutschlandberichten

(1993: 563-565) liest man, daß 1992 über

80 000 Jugendliche in Ostdeutschland daran teilgenommen haben, das sind 50% aller Jugendlichen - eine Zahl, die für sich spricht. Nur etwa 10% der Jugendlichen lassen sich konfirmieren. Zwar sind die Jugendweihen jetzt entpolitisiert, doch ist die Kontinuität mit der DDR-Zeit deutlich. Hartmann schreibt: Ideologischer Ballast wurde nach dem Sturz der SED eilig über Bord geworfen. Die gewendeten Akteure blieben freilich dieselben. Ob und wieviel von dem Vermögen des Zentralausschusses aus der alten Zeit in die neue "Interessenvereinigung" [Jugendweihe e.V., die die Feiern ausrichtet] herübergerettet wurde, versucht die Treuhand derzeit noch zu ermitteln (S. 564). Offenbar wird in der Jugendweihe einerseits ein allgemeines Bedürfnis nach staatlich-öffentlichen Ritualen, in die der einzelne eingebunden wird, gestillt, was durchaus verständlich ist. In den alten Bundesländern erfüllen neben der Kirche Vereine und Verbände diese Funktion. Andererseits wird mit dem Festhalten an Ritualen und Formen, die anstelle der kirchlichen in der D D R zur Normalität geworden waren, ein deutliches Signal gesetzt, das auf die Dauer zu einem merklichen Moment der Unterschiedlichkeit im Verhalten der Menschen in den alten und den neuen Bundesländern führen muß. Ulla FIX (1992) hat die sprachlichen Prägungen in der rituellen öffentlichen Kommunikation der ehemaligen D D R eindrucksvoll herausgearbeitet. Bei Hartmann heißt es: Es scheint, als helfe sich ein großer Teil der Menschen mit dem Rückgriff auf die Feier der Jugendweihe über den Verlust der Vertrautheit der verlorenen Nischen in der immer stärker idealisierten DDR-Vergangenheit hinweg. So ist die Belebung der Jugendweihe vor allem ein Hinweis auf die weitverbreitete Resignation und große Sinnleere in der ostdeutschen Gesellschaft (S. 565). Mag dies vielleicht eine etwas weite Folgerung sein, ein Hinweis auf Momente der Fremdheit und Unvereinbarkeit zwischen Ost und West ist dies in jedem Fall. So ist es kein Wunder, daß eine Befragung von 1 200 Berliner Schülern ergeben hat, daß es bisher kein Zusammengehen von Jugendlichen aus Ost und West gibt. Die L V Z bringt die Meldung darüber - naheliegend - unter der Überschrift "Ost- und West-Kids haben noch die Mauer im K o p f ' (07.09.93, S. 18).

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Vergleichende Begriffsanalysen belegen ähnliches: Unter dem Begriff "Heimat" versteht ein Ostdeutscher, so hat eine Umfrage ergeben, etwas anderes als ein Westdeutscher. Die spontanen Erstnennungen belegen für die Westdeutschen die Gegend ihrer Geburt, für die Ostdeutschen die Gegend ihres aktuellen Wohnorts. Die LVZ faßt das in einer Artikelüberschrift als "Heimat (Ost) nicht gleich Heimat (West)" (17./18.07.93, S. 2). Nur noch zwei weitere Beispiele, von denen das letztere zeigt, daß auch die Ambivalenz nostalgischer Strömungen verbalisiert wird: In der LVZ vom 19.08. 1993, S. 9, wird über den Berliner Spotless-Verlag berichtet, der "vielfältig bedingte DDR-Nostalgie [bediene], indem er sich beispielsweise heutzutage sehr ungeliebter DDR-Autoren annimmt" - Ein Hungerstreiker aus Bischofferode wird mit folgenden Worten zitiert: Wir sehen es mit gemischten Gefühlen, wenn linke Gruppen ihre Werbematerialien verteilen und DDR-Nostalgie beschwören. (LVZ vom 23.08.1993, S. 3). Es ist hier nachdrücklich festzuhalten, daß die nostalgischen Bedürfnisse in den neuen Bundesländern auch aus einer gewissen kommunikativen Verunsicherung zu erklären sind. Gotthard Lerchner hat davon gesprochen, daß ein (unbewußter) das defizitäre Selbstbewußtsein entlastender Orientierungsbedarf in einer als fremd empfundenen neuen öffentlichen Kommunikationskultur [besteht], der sich in dem genannten Rückgriff auf die "alte" kommunikative Kompetenz realisiert. (LERCHNER 1992a: 317). 2.4. Das Aufeinanderprallen zweier "Wirklichkeiten" Das Ausweichen vor dem Realitätsschock ist die eine Seite des kommunikativen Reagierens, die andere ist die Annahme der "realen" Verhältnisse. Diese dominiert deutlich, das ist keine Frage. Was jedoch manchmal auffallt, sind die teilweise pathetischen, und sogar darin doch wiederum nostalgischen Ausdrucksweisen, die an solche der alten DDR anknüpfen. So trägt ein Artikel über Heimvolkshochschulen in der Leipziger Volkszeitung vom 15.04.93, S. 4, die Überschrift "Lernen, Schicksal selbst in die Hand zu nehmen". Im Artikel wird diese Einrichtung dann als "eine Errungenschaft der Wende" bezeichnet, eine hochgradig paradoxe Formulierung, wird hier doch ein sozialistisches Kernwort mit dem Schibboleth seiner Ablösung verbunden. Was das Fortleben der alten Ausdrucksweisen betrifft, ist eine Artikelüberschrift in der LVZ vom 05.02.93, S. 4 auffällig: "Werft die liebgewordenen Lehrsätze über Bord", womit eine kritische Äußerung des sächsischen Wirtschaftsministers Kajo Schommer in eine Form zugespitzt wird, die dem alten DDR-Spruchbänderdeutsch sehr ähnlich sieht. Es geht darum, daß der zunächst wegen seines "schroffen Tones" als "typischer Wessi" apostrophierte Politiker die marktwirtschaftliche Ausrichtung der Wirtschaft durch "eine staatliche Industriepolitik" ergänzt wissen wollte. Hier entspricht auch der Inhalt den Assoziationen der Formulierung.

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Sonst finden sich in der Leipziger Volkszeitung nur sehr wenige alte Ausdrucksweisen, etwa die Artikelüberschrift "Koalition und SPD einig über höhere Intelligenzrenten" (22.04.93, S. 1). Am 29.04.93, S. 1 wird berichtet: Ein vertrauter Sender erhält einen neuen Namen, behält aber sein Konzept: Aus DT 64 wird MDR Sputnik. Ab Sonnabend sendet das Jugendradio über den Satelliten ASTRA 1 Β. Der Artikel trägt die Überschrift: "DT 64 überlebt als MDR Sputnik". Im Kommentar dazu heißt es unter anderem (S. 3): Was nach dem Aus der einstigen DDR-Medien befürchtet wurde und weswegen Tausende DT 64-Anhänger auf der Straße marschierten und Mahnwachen hielten, das trat nicht ein: Der Sender wurde nicht abgeschaltet. Obwohl es Politiker immer wieder wollten. Doch die verantwortlichen MDRChefs hatten ein erstaunliches Feeling für die Stimmung der jungen Hörer und das Ambiente des Senders, der sogleich nach der Wende zum unentbehrlichen Beistand vieler junger Ostdeutscher wurde. Dies ist ebenfalls ein deutlich nostalgischer Beleg, wenn auch in der Wortwahl westlich angepaßt. Dagegen wird im redaktionellen Teil der Leipziger Volkszeitung - man kann es kaum anders nennen - bereits hergestellte neue Realität beschworen und Optimismus verbreitet. Die Masse der Artikel beschreibt eine sich vom Westen nur graduell unterscheidende Normalität. Daß diese Vorstellung nur ein Teil der Realität ist, zeigen die Leserbriefe, die, wie bereits angeführt, ein anderes Bild vermitteln. Da wird etwa vom Desinteresse der Lehrer gesprochen, das daher komme, daß sie glaubten, sie bekämen "im Vergleich zu ihren westdeutschen Kollegen zu wenig Geld" (07.05.93, S. 21). Gegen diese "Jammerfront", wie sie es nennt, geht die sonst auch nicht gerade die Situation im Osten in rosigen Farben schildernde Wochenpost in einem Artikel vom 22.09.93, S. 20 an, wobei allerdings nicht ganz deutlich wird, ob die "Fakten" etwa daß trotz der Massenentlassungen in der ostdeutschen Industrie die Gesamtbeschäftigungsquote mit 50% immer noch deutlich höher ist als im Westen (44%) oder daß das Netto-Einkommen der Haushalte im letzten Jahr im Osten um 25% gestiegen sei, - nicht doch durch Ausdrucksweisen wie "Trümmerland" wieder konterkariert werden. Ambivalent ist jedenfalls auch der Hauptartikel in dieser Ausgabe, "Ricarda, ich geb dich nicht auf' (S. 4-6). Dieser Artikel verbreitet Aufbruchsoptimismus - und liest sich streckenweise fast wie Strittmatters Ole Bienkopp! Zwischenzeit. Drei Jahre nach der Wende spannt sich im Osten frische Außenhaut über den alten DDR-Knochen. Es paßt noch nicht. Aber die Sehnsucht nach Ebenbürtigkeit ist groß. Die Leute sind sich einig im hektischen Eifer, die Regeln der neuen Ordnung zu lernen... Ja wir sind durcheinander. Zerrissen bis zur Lächerlichkeit... Bei uns ist kein Stein auf dem andern geblieben. Nichts ist, wie es war, neue Worte, neue Regeln, neue Zukunft... Das ganze Land riecht nach Anfang. Wie geht es den Anfängern? (S. 4).

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Die werden dann in einigen Porträts, die als typisch ausgegeben werden, vorgestellt und erweisen sich selber als "Stehaufmännchen" (S. 4) - dieser Ausdruck ist uns schon in der Selbststilisierung der Ostdeutschen bei den Trotzkis begegnet oder geben der Reporterin mit auf den Weg: "Und schreiben Sie in Ihrer Zeitung nicht aufgeben!" Das scheint das Motto der Zeitung zu sein. Das Resümee eines Artikels "Deutschland, 'einig Vaterland'?" vom 25.09.93, S. 7 lautet: Deutschland einig "Vaterland"? Geht das noch? Warum nicht? Denn Patriotismus ist (wie Dolf Sternberger einmal hervorhob) älter als Nationalismus. Vielleicht kann er ihn überdauern - als die Liebe zu einer Republik, die wir uns jetzt schaffen. Einigkeit durch Recht und Freiheit. Hier ist das Wende- und Nachwendevokabular gleichsam auf der höchsten Stufe, nämlich in der für die Menschen in den neuen Bundesländern alten und neuen Nationalhymne eingebunden in eine so formulierte neue gemeinsame Aufgabe. Die Gegensätze zwischen Ost und West werden als deutscher "Familienkrach" dargestellt, der - als regionaler seit langer Zeit unterdrückt - sich nun als "Ossi-Wessi-Streit" ganz natürlich entlade, aber dann doch letztlich zu einem Volk führen werde. In der Wochenpost wird der Prozeß der Wiedervereinigung ständig thematisiert. Er ist die alles bestimmende Grundthematik. Und das Wendevokabular wird darüber hinaus nach allen Seiten hin- und hergewendet bis zu solchen Artikelüberschriften wie "Zusammengehängt, was zusammengehört. Die Sammlungen Morosow und Schtschukin in Essen 'wiedervereint'" (15.07.93, S. 26). Ähnliches findet sich auch in der LVZ: Statt überhastetem Beitritt eine glückliche Vereinigung. Ostdeutsches Bündnis 90 und westdeutsche Grüne wagten Bund fürs Leben (LVZ vom 21.04.1993, S. 3). In der LVZ kann man das die Empfindung des Ausgeliefertseins an den Westen am prägnantesten ausdrückende Verb "plattmachen" in einem Leitartikel finden (z.B. LVZ vom 29.04.1993, S. 1, auch Wochenpost 29 vom 29.04.1993, S. 16). Etwas später wird eine ganz analoge Wortbildung für die unterbleibende Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit verwendet: Mit der Nicht-Strafe für Modrow und dem Ruf nach Amnestie soll Vergangenheit plattgebügelt werden (LVZ vom 28.05.1993, S. 1). Ganz neutral wird der Ausdruck "Filetstück", der sich bis vor kurzem ebenfalls nur in für den Osten negativen Zusammenhängen fand, auf ein für die Magdeburger Stadtentwicklung geeignetes Grundstück angewendet (LVZ vom 22./23.05.1993, S. VII). Kabarett- und Tanztheatertitel wie Lothar Kusches "Ostsalat mit Westdressing" (vgl. LVZ vom 22.04.1993, S. 24) oder Johann Kresniks "Wendewut" (LVZ vom 24.05.1993, S. 8) thematisieren die bedrückenden Aspekte der Wiedervereinigung und arbeiten auf ihre Weise den Einbruch westlicher Kommunikationskultur in den Osten auf. Aus dem Westen kommen aber nicht nur besserwisserische Ratschläge,

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Die deutsche Sprache hüben und drüben - drei Jahre nach der Wiedervereinigung

sondern auch Beweise der "Solidarität", zum Teil rührend-kuriose. So findet sich ein Leserbrief in der Wochenpost, in dem der Schreiber aus Hofgeismar seine Vorliebe für Gothaplast erklärt: Ich habe schon vor der Wende meinen Bedarf an Heftpflaster in der damaligen DDR gedeckt. Meine ganzen Sympathien sind also bei "David", dem ich gegen den "Goliath" Beharrlichkeit und Erfolg wünsche (Wochenpost 29 vom 15.07.1993, S. 29). Die Wiedervereinigung hat für Ost und West neue Begriffe erbracht. Aus dem Bereich des Wohnungsbaus und der Landwirtschaft etwa sind Ausdrücke wie "Platte", aber auch "Rückübertragungsansprüche", "Restitutionsansprüche" (LVZ vom 30.04. 1993, S. 15) oder der sprachliche und sachliche Unterschied zwischen "LPG-Nachfolgern" und "Neu- bzw. Wiedereinrichtern" (Süddeutsche Zeitung vom 27.09.1993, S. 10) zu lernen. Für alle neu ist - das Anekdotische streifend - die Ausdrucksweise "Stino", die ein Ostberliner Psychologe geprägt hat für die aus "DDR-typischer "Anstell-Mentalität1" zu erklärende Verhaltensweise der "stinknormalen" Autofahrer, die zu plötzliche und gefährliche Fahrmanöver vornehmen, weil sie das Ausscheren anderer Fahrer nicht ertragen können.

3. Die Herstellung einer Kommunikationsgemeinschaft Symptomatisch für die sich dennoch aufeinander zu bewegenden Kommunikationsgemeinschaften scheinen mir einige sprachliche Formulierungen in Bestandsaufnahmen zum Tag der deutschen Einheit in der LVZ zu sein: Drei Jahre nach der Wiedervereinigung herrscht am Feiertag für die deutsche Einheit kaum Festtagsstimmung... Vielmehr ist das einig Vaterland für die meisten Deutschen längst nicht mehr eine Plattform für ausgelassene Fröhlichkeit oder weihevolle Ansprachen. Hier im Osten sehen immer mehr Menschen die "Errungenschaften" des übernommenen bundesdeutschen Gesellschaftssystems nur noch in wachsender Unsicherheit vom Arbeitsplatz bis zur Kriminalität. Die Einheit als langwierige Geduldsprobe... war nicht Bestandteil ihres Lebensplanes (LVZ vom 02./03.10.1993, S. 1). Die Formulierungen sind aufschlußreich: Das Vokabular von vor und nach der Wende wird unbefangen verwendet. Und so ist auch bei 79% der Bundesbürger die Wiedervereinigung akzeptiert. Das Wort "Errungenschaften" findet sich zum Beispiel auch in einem Leserbrief in der LVZ vom 29.03.93, S. 11, und zwar hier ohne Anführungszeichen: Eine der bedeutendsten Errungenschaften nach 1989 ist, daß alle Gruppen ihre unterschiedlichen Meinungen, Forderungen und Wünsche zum Ausdruck bringen dürfen. Die Bezeichnung vom jammernden Ossi, kürzlich auch von einer sehr schnell angepaßten Schriftstellerin benutzt, ist daher eine sehr flache Einschätzung der Situation.

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In ihrem Stimmungsbild zur "Grenze in Deutschland, vier Jahre danach", die das Einigende betont, verwendet die Frankfurter Allgemeine Zeitung dann aber doch noch das trennende "hüben wie drüben" (02.10.93, S. 3). So finden wir ein ambivalentes Bild von der sprachlichen und damit der realen Situation drei Jahre nach der Wiedervereinigung. Es wäre unrealistisch, etwas anderes erwarten zu wollen. Das Trennende, in den offiziellen Politikerreden im Westen vor der Wende immer heruntergespielt, war eben doch ausgeprägter, als viele es auch jetzt wahrhaben wollen. Zudem hat die Erfahrung der Wende in der "Noch-DDR" nicht zuletzt durch die Form ihrer sprachlichen Bewältigung ein Gemeinschaftsgefühl gestiftet, 14 das sich gerade nicht auf das ganze Deutschland bezog. Und allzu leicht wird vergessen, daß die Bundesrepublik Deutschland auch vor der Trennung ein Staat mit starken Unterschiedlichkeiten gewesen ist. So mag am Schluß meiner Betrachtung zunächst ein Auszug aus einem Kommentar des sächsischen Ministerpräsidenten Biedenkopf stehen, der in seiner Bilanz zum Jahrestag der Wiedervereinigung dieses Wort nur einmal verwendet, sicher eine Konsequenz der von STÖTZEL (1991) dokumentierten Vermeidungsstrategie. 15 Biedenkopf spricht vom "Prozeß der inneren Vereinigung" und betont dabei das "traditionell stark ausgeprägte Regionalbewußtsein" Deutschlands. Am Schluß schreibt er: Aber auch wenn wir über die Entwicklung der deutschen Einheit reden, sollten wir im Auge behalten, daß Deutschland nie ein vollkommen homogenes Gebilde war - und daß es nie ein solches sein wird. Deutschlands Stämme und Regionen - die Bayern und die Rheinländer, die Mecklenburger und die Sachsen - haben immer ihre Eigenarten gepflegt. Von dieser gelebten Vielfalt in der Einheit profitieren die Menschen in Deutschland wie die in Europa (.LVZ vom 09./10.10.1993, S. 3). Sprachwissenschaftler geben die Prognose, daß die verbleibenden lexikalischen Unterschiede zwischen Ost und West "in den Bereich der Regionalismen wechseln werden" (DROSDOWSKI 1991: 33). Regionalität wird im vereinten Europa zweifellos eine neue Qualität gewinnen. Offen bleibt hier die Frage, ob eine verbindende Kommunikationsgemeinschaft, was die Bundesrepublik Deutschland betrifft, bereits besteht oder ob sie gar übersprungen werden soll.16

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Vgl. dazu v. POLENZ (1993: 136f). KINNE weist darauf hin ( 1 9 9 1 : 4 9 ) , daß dieses Wort "viele Politiker und Journalisten aufgrund, wie ich meine, allzu spitzfindiger semantischer Interpretation nicht verwenden mochten". Das Neue Deutschland spricht 1993 vom "Anschluß Ost" (Neues Deutschland vom 2 . / 3 . 1 0 . 1 9 9 3 , S. 9 ) . Auch der Sammelband von B U R K H A R D T / FRITZSCHE ( 1 9 9 2 ) verwendet im Titel den Begriff "Vereinigung". 16 Für die kritische Durchsicht des Manuskripts danke ich Sven KEIENBURG, Passau. 15

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Die deutsche Sprache hüben und drüben - drei Jahre nach der

Wiedervereinigung

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Georg

STÖTZEL (Universität Düsseldorf)

Der öffentliche Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945. Entwicklungen und Auseinandersetzungen

Das Thema meines Vortrage ist der Titel eines der aktuellen Projekte an meinem Düsseldorfer Lehrstuhl. Es handelt sich um ein Projekt zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte der Gegenwart, das wir in Kürze als Geschichte des öffentlichen Wortschatzes publizieren werden. Ich setze voraus, daß Sie den einen oder anderen Ansatz zur Sprachgeschichte der Gegenwart - etwa von Glück und Sauer oder von Hugo Steger kennen - und charakterisiere das Düsseldorfer Projekt sozusagen im impliziten Vergleich. Soweit die bisherigen Ansätze zur Sprachgeschichte der Gegenwart über Programmatisches hinausgehen, stellen sie einige interessante Beobachtungen der bisherigen Einzelforschungen zusammen oder sie behandeln einzelne Themensektoren wie das deutsch-deutsche Sprachproblem während der Zweistaatlichkeit von 1949 bis 1989 bzw. die Zeit nach der sogenannten Wende, oder etwa den Sektor Jugendsprache, den englischen Spracheinfluß usw. Das in Düsseldorf entwickelte Konzept einer Sprachgeschichte unterscheidet sich insofern grundlegend von anderen, als es nicht auf der Zusammenschau bisheriger Forschungsansätze und mosaikhafter Beiträge zur Sprachgeschichte der Gegenwart beruht, sondern weitgehend auf eigener, methodisch geleiteter Quellenauswahl und Quellenanalyse. Um überhaupt einen Maßstab für die Materialauswahl zu finden, gingen wir von folgenden Überlegungen aus. Wir wollten in unserer Sprachgeschichte Sprache in einer ihrer wesentlichen Funktionen deutlich machen: in der auf die Arbitrarität sprachlicher Zeichen beruhenden realitätskonstitutiven und handlungsorientierenden Funktion. Wir haben uns also - systemlinguistisch betrachtet - auf die semantischpragmatische Ebene beschränkt und keine umfassende Sprachgeschichte angestrebt. Wir wollten nicht die fachwissenschaftlichen Kategorien aller möglichen Analyseebenen - von der phonetisch-phonologischen bis zur Textebene - an inhaltlich neutrales sprachliches Material herantragen. Wir haben sowohl den Textbereich wie auch die Auswahl des Sprachmaterials methodisch begrenzt, um zur Erkenntnis gesellschaftlich wichtiger Erscheinungen und Themenbereiche zu kommen. Wir wollten zeigen, wie Sprachgebrauch in das Handeln gesellschaftlicher Gruppen eingebettet

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Georg STÖTZEL

ist, d.h. wir wollten zu konkreten Interpretationen über die Rolle der Sprache im sozialen Handeln kommen. Als ersten heuristischen Ausgangspunkt zur Erfassung und Veranschaulichung der oben genannten Sprachfunktionen wählten wir Pressetexte, weil sie unserer Meinung nach am besten die konstitutive Rolle der Sprache für Zustände und Veränderungen des öffentlichen Bewußtseins erkennen lassen. Da Pressetexte der großen Zeitungen auf den überregionalen Nachrichtenseiten zu ca. 85 % aus Agenturmeldungen bestehen, die nur relativ wenig verändert in die Zeitungstexte eingehen, erschien uns für den ersten Schritt der Materialgewinnung die Berücksichtigung der Nachrichtentexte einer großen Tageszeitung ausreichend. Wir wählten die traditionell CDU-nahe Rheinische Post, die in Düsseldorf erscheinende größte Regionalzeitung der BRD mit einer Auflage von ca. 450.000 Exemplaren. Bezüglich der Bestimmung des Relevanzkriteriums für die Wort- und Textauswahl stützen wir uns vor allem auf Aspekte des allgemeinen Sprachgebrauchs, insbesondere auf das Kriterium der öffentlichen Thematisierung von Sprache, d.h. von unterschiedlichem Sprachgebrauch. Dies Relevanzkriterium führt zu einem Neuansatz einer Sprachgeschichte. Nicht subjektive Beobachtungen und Einschätzungen von Wissenschaftlern, nicht heterogene Auswahlkriterien und Forschungszusammenfassungen führen zur Herstellung einer Sprachgeschichte, sondern ein objektives Kriterium, eine sprachliche Selbstindikation dient als Problem- und Relevanzanzeige. Unser Verfahren hat also Ähnlichkeit mit der empirisch fundierten Fehleranalyse und ihren Typologisierungen von Fehlern. Das Kriterium der expliziten Thematisierung hat den Vorteil, daß es verdeutlicht, daß in bestimmten Handlungszusammenhängen das Sprachverhalten so wichtig ist, daß es zum Gegenstand öffentlicher Diskussion wird. Auf dieses Kriterium hingelenkt hatten uns einerseits große öffentliche Diskussionen wie die über die Rolle der Sprache für die Entstehung der Nazi-Herrschaft und für die Vorbereitung der NaziVerbrechen, ferner die öffentliche Diskussion und die regierungsseitigen Sprachregelungen (Richtlinien) im Rahmen des Ost-West-Konfliktes und speziell im Rahmen des Verhältnisses der beiden deutschen Staaten und schließlich auch die öffentlichen Sprachdiskussionen über das generelle bzw. politisch-strategische "Besetzen von Begriffen" und über die sprachliche Diskriminierung von Frauen. Theoriegeschichtlich gesehen hat uns Harald Weinrich mit seinem Aufsatz "Von der Alltäglichkeit der Metasprache" besonders beeinflußt. Weinrich hat die Tradition des Konzepts von Sprache als selbstreflexives Medium in die aktuelle Diskussion über die Gegenstandsbestimmung einer kommunikativ orientierten Sprachwissenschaft eingebracht. Er hatte darauf hingewiesen, daß Thematisierung von Sprache auch in der Allagskommunikation - ein Indikator für Kommunikationsprobleme sei. Eine Linguistik, die sich derart an von den Sprechern selbst deklarierten kommunikativen Problemen orientiere, entgehe dem Vorwurf, daß sie sich ihre "Probleme selber mache", indem sie sich nur an den traditionellen, fachwissenschaftlich anerkannten Fragestellungen und Problemen orientiere.

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Der öffentliche Sprachgebrauch

in der Bundesrepublik

Deutschland

seit 1945

Wie wirkten sich diese Vorüberlegungen und Anregungen konkret aus? In einem ersten Schritt wurden zunächst die einzelnen Jahrgänge der RP seit ihrem ersten Erscheinen am 2.3.1946 bis zu den deutschen Staatsgründungen im Jahr 1949 systematisch auf explizite Thematisierungen untersucht. Diese erste Recherche ergab, daß auf dem wiedererstandenen "Sprachmarkt" (Steger) explizite Thematisierungen vorlagen aus wichtigen Themen- bzw. Problembereichen wie Entnazifizierung (auch der Sprache), (Kollektiv-) Schulddiskusssion, Jugendfragen (HJ, verlorene Generation), Fragen der Wirtschaftsordnung (freie/soziale Marktwirtschaft, Sozialismus, Sozialisierung, Sozialpartner) bzw. der Wirtschaftsentwicklung (Demontage, Reparationen, Exporte, Wirtschaftsaufschwung), Fragen der Flüchtlings-Integration, Grenzfragen (im Westen und im Osten) und zum Verhältnis der Nachbarn in Europa (deutsche Gefahr, Viertes Reich usw.). Explizite Thematisierungen offenbaren die Interpretation des eigenen und des fremden Sprachgebrauchs und stellen somit intrakommunikative Auslegungen des aktuellen Sprachgebrauchs und auch der Sprachgebrauchs-Geschichte dar. Zugleich zeigte sich, daß auch eine nur dem Theoretiker erkennbare sog. implizite Thematisierung von Sprachgebrauch, d.h. der heterogene Sprachgebrauch als Problemindikator anzusehen war: heterogener Sprachgebrauch als Bezeichnungskonkurrenz (Oder-Neiße-Linie vs. Oder-Neiße-Grenze bzw. Friedensgrenze) bzw. als Polysemie (Sozialismus im Sinne des christlichen bzw. marxistischen Sozialismus) verweist ebenso wie die explizite Thematisierung auf das (bewußte oder nichtbewußte) Bestreben sozialer Gruppen, mithilfe von gruppenspezifischem Sprachgebrauch ihre Interpretation von Problemverhalten oder ihr Verständnis von bestimmten Ausdrücken zur allgemein akzeptierten Norm werden zu lassen. Dieser unterschiedliche Sprachgebrauch wird oft von Journalisten und Wissenschaftlern, die unterstellen, es gebe nur einen einzigen "richtigen" und "wahren" Sprachgebrauch, denunziert als "babylonische Sprachverwirrung" und "unklare Bedeutung". Schließlich haben wir zwei weitere Erscheinungen als Wandel- bzw. Problemindikatoren berücksichtigt. Ihre Beachtung entspricht den von von Polenz formulierten "Erkenntnisinteressen der Sprachgeschichtsschreibung" (VON POLENZ 1991: 17ff.) und dem "modernen politischen Geschichtsbegriff'(S. 19), der entwicklungsmäßig bedeutsame und für die Handelnden und Betroffenen wichtige Erscheinungen umfaßt: es handelt sich einmal um die auffällige Häufigkeit von sog. Gelegenheitskomposita, - oft mit gleichem Grund- oder Bestimmungswort (z.B. Bildungsfrage, Bildungsgefälle, Bildungskatastrophe, Bildungschancen, Bildungsreform usw.). Solche Gelegenheitskomposita zeigen an, wie intensiv das aktuelle Wissen über den in Rede stehenden Problembereich ist, da ja die Bedeutung der Komposita übersummativ gebildet wird und nicht durch die Bedeutung der Kompositumsteile determiniert wird bzw. nicht darstellbar ist: so bedeutet z.B. Bildungskatastrophe 1964 zu wenig Lehrer höherer Schulen (und zu wenig Bildungschancen für Schüler besonders unterer sozialer Schichten), während 1982 unter Bildungskatastrophe der Überschuß, die Arbeitslosigkeit der Lehrer, die sog. Lehrerschwemme verstanden wird.

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Darüber hinaus zeigt die Häufigkeit von bestimmten Grund- oder Bestimmungswörtern an, welcher Problembereich zu bestimmten Zeiten so aktuell ist, daß eine Menge von allgemeinem Wissen vorausgesetzt werden kann: d.h. viele BildungsKomposita zu einer bestimmten Zeit zeigen eine Hochphase einer Bildungs-Diskussion an. Die vierte und letzte sprachliche Erscheinung, die Indikatorfunktion für geschichtliche Bedeutsamkeit hat und die traditionellerweise auch schon immer als Beleg für geschichtlichen Wandel gesehen wurde, sind Neologismen: z.T. handelt es sich hierbei um lexikalisierte (also ehemalige Gelegenheits-)Komposita (z.B. Reformpolitik, Restrisiko), um Neubedeutungen (z.B. Umwelt oder grün, Grüne) oder um Neuwörter im vollen Sinne (Aids usw.). Die letztgenannten Erscheinungen sind in Zeitungstexten nicht ohne weiteres erkennbar. Oft aber sind Neuwörter, neue Gebrauchsweisen in den Zeitungstexten durch Anführungsstriche gekennzeichnet oder durch Hinzufügung von Bedeutungsangaben oder durch Erläuterungen bzw. Hinweise auf ihre Neuheit markiert. Was die textanalytische Anwendung dieser Kriterien angeht, hatte ich in den späten 70er und den 80er Jahren bereits in mehreren Studien die Bedeutsamkeit von expliziten Thematisierungen und von heterogenem Sprachgebrauch bezüglich der Konstitution von Wirklichkeit durch öffentlichen Sprachgebrauch nachgewiesen. Diese Studien betrafen meist einzelne sog. semantische Kämpfe (z.B. Zensur, Berufsverbot, KZ-Ei, Aggression/Befreiung, Aufschwung, Miezen, Wiedergutmachung, Deutsche). In diesen Analysen kamen die einzelnen sprachlichen Daten lediglich als Belege für den Nachweis der realitätskonstitutiven Kraft der Sprache und für die - aufgrund der Arbitrarität der Zeichen möglichen und notwendigen - Auseinandersetzungen über soziale Normen des Sprachgebrauchs vor. Daß sich solche sprachlichen Thematisierungen und Auseinandersetzungen jeweils bestimmten historischen Problemkreisen zuordnen lassen bzw. sich auch in ihrem spezifischen öffentlichen (und zum Teil fachsprachlich vorgeprägten) Vokabular in abgrenzbaren Problemkreisen erst ausprägen, hatte sich anhand des durchgängig virulenten Problems der deutschen Zweistaatlichkeit seit 1949 gezeigt; eben deshalb war dieser "deutsch-deutsche" Problemkreis auch schon als ein eigenes "Kapitel" der deutschen Sprachgeschichte bewußt geworden. Daneben ist ebenso bewußt geworden, daß einzelne soziale Gruppen ihre eigenen "Sprachen" - d.h. hier: gruppenspezifische Seh- und Ausdrucksweisen - entwickelt haben: so sprach man von der Sprache der Jugend und stellte jugendsprachliches Vokabular zusammen, man sprach von der Sprache der Linken (und auch der Sprache der Rechten) und versuchte, deren Strategien des "Begriffe-Besetzens" und der Sprachveränderung nachzuweisen, man sprach von der Sprache der Umwelt-, der Friedensbewegung, von der Sprache (und der Sprachkritik) der Feministinnen. Erste Versuche, bestimmte Problemsektoren als Kapitel der Sprachgeschichte der Gegenwart darzustellen, haben wir in vorläufiger Form in den beiden SuL-Heften "Sprachgeschichte nach 1945" zur Vierzig-Jahr-Feier der BRD 1989 zusammen mit der Überblicksskizze von Steger vorgelegt. Dort wurde versucht, die Entwicklung der

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Der öffentliche Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945

sog. Jugendsprache seit der frühen Nachkriegszeit darzustellen, ebenso den öffentlichen Sprachgebrauch der Umweltdebatte in der BRD; die Begriffsgeschichte der ersten Phase der deutschen Spaltung wurde u.a. aufgrund der Parteiprogramme rekonstruiert, ebenso wurde die sog. Wiederbewaffnungsdebatte als ein Sektor der Frühphase der Geschichte der BRD aufgearbeitet, desgleichen wurde die für die Zäsursetzung der Sprachgeschichte wichtige Hypothese vom "Eindringen von 68er-Vokabular in die Gemein- und Bildungssprache" auf ihre Haltbarkeit hin untersucht; ebenso wurden in drei pragmatisch orientierten Analysen die Verwendungen von Sozialismus, konservativ und Sympathisant innerhalb ihrer jeweiligen Diskussionskontexte und mit genauer Zuschreibung zu den jeweiligen parteilichen Verwendern analysiert. Ich selbst habe damals versucht, einen Problemsektor als Kapitel der deutschen Sprachgeschichte durchgängig zu konzipieren: Die Geschichte (und die Diskussion) der Weiterverwendung von Nazi-Vokabular und die Geschichte der Nazi-Vergleiche von 1945 bis 1989. In ähnlicher Weise haben wir erkennbare bzw. durch das öffentliche Bewußtsein quasi "vorgegebene" Problemsektoren untersucht: u.a. die "Bildungsdiskussion", "Nachrüstungsdiskussion", "Umweltdiskussion" bzw. "Atomdiskussion" und "Abtreibungsdiskussion" genannten, länger andauernden öffentlichen Debatten. Es entstanden Magisterarbeiten und Dissertationen, die die jeweiligen Problemstellungen in ihren Vorlaufphasen, ihren Höhepunkten der Auseinandersetzungen und in ihrem Abklingen bzw. den Neuauflagen untersuchten. Die Ergebnisse dieser Vorarbeiten von Hahn, Wengeler, Jung und Boke können hier aus Platzgründen nicht dargestellt werden. Um jedoch nicht auf schon öffentlich bekannte "Diskussionen" beschränkt zu bleiben und um nicht bestimmte Problemsektoren als unentdeckte zu überspringen, haben wir systematisch Quellenstudien nach dem Kriterium der Thematisierung durchgeführt, die über den in der ersten Recherche behandelten Zeitraum von 1945 bis 1949 hinausgingen und die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland insgesamt abdecken. Dadurch entstand die hier abgedruckte vorläufige Kapitelgliederung. Die Kapitelüberschriften sind hier erläutert und anschaulicher gemacht worden, teilweise durch die Angabe von Zwischentiteln, von Argumentationsmustern, von Analysebegriffen und einigen Belegwörtern.

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Georg STÖTZEL

Inhaltsverzeichnis

Zur Vorgeschichte der Bundesrepublik • Das Jahr 1945 Nazis gegen rote Flut, gegen marxistischen Sozialismus. Westalliierte nicht als Befreier in Westdeutschland. Der 8. Mai 1945 als Niederlage (1985: Tag der Befreiung). Kollektivschuld-Diskussion. Entnazifizierung - auch der Sprache (Herrenrasse, Untermenschen, Parasiten). • Die frühe Nachkriegszeit (1945-49) • Gesellschafts- und Wirtschaftsform-Diskussion Sozialisierungs- und Sozialismusbegriffe (christlicher vs. marxistischer Sozialismus', sozialisiertes vs. freies Arzttum)·, Klassenkampf vs. Sozialpartner', konkreter Wirtschaftsablauf (Terminus- und Begriffsdiskussion), Demontage, Reparationen, Exporte, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Komfort, soziale Marktwirtschaft, Nationalismus, deutsche Gefahr. • Einheits-, Spaltungs- und Grenzfragen ON-Linie/Grenze, Friedensgrenze, Eiserner Vorhang, Einheit des Reichs, Viertes Reich, Grenzberichtigung, Annexion.

Reich,

• Wiederaufrüstungsdebatte Remilitarisierung, Wiederbewaffnung, Selbstschutz (Feindbild), Militarismus, Verteidigungsbeitrag, (absoluter) Pazifismus, Neutralität, Wehrmacht - Bundeswehr, Atomrüstung, -angst, -tod, -mord, -waffen, -terror, -panik, -psychose.

Wirtschaftspolitische

Diskussionen

• Zeittypisches Vokabular der frühen Nachkriegszeit Dekartellisierung, Entflechtung, Demontagen, Verbotene Industrie oder Friedensindustrie?, Reparationen, Internationalisierung der Ruhr. • Auseinandersetzung um die Wirtschaftsordnung und ihre Bezeichnung Christlicher Sozialismus; Planwirtschaft, Planung, Zwangswirtschaft; Marktwirtschaft.

Soziale

• Auseinandersetzung um die Bezeichnung konkreter wirtschaftspolitischer Maßnahmen Sozialismus; öffentliche Kontrolle; Überführung in Gemeineigentum, Mitbestimmung, Wirtschaftsdemokratie, Wirtschaftsbürger. • Die Diskussion um die Soziale Marktwirtschaft Orientierungsvokabeln Leistungswettbewerb, Wohlstand für alle, Wohlfahrtsstaat, Sozialpartner(schaft), Klassenkampf von oben, Funktionär als Stigmawort, Vollbeschäftigung, Lastenausgleich.

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Der öffentliche Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945

Europa • Europa als Ersatz-Nation Europarat, Europa-Tag, Europa-Universität, Europa-Soldaten, europäischer Verteidigungsbeitrag, Europa = Westeuropa, Montan-Union, Europa-Begeisterung, Europäisches Vaterland vs. Europa der Vaterländer (de Gaulle), Europaarmee (Churchill 1950), Europa-Ideal, Europa-Idee, europäischer Gedanke. • Ende der Euphorie und Probleme des "Zusammenschlusses" (Großbritannien und die BRD als "Zahlmeister") Europa-Krise, Butterberg, Milchsee, Milchquoten, Obstvernichtung, EuropaWahlen. • Neue Diskussion des Europa-Begriffs Gemeinsames Haus Europa (Gorbatschow), europäischer Markt '93, Europäisierung der deutschen Frage, 2+4-Verhandlungen, Mitteleuropa.

Jugend und Jugendsprache • Verlorene Generation Jugendnot, Jugendkriminalität, Halbstarken-Bewegung, Jugend von heute.

(Kollektiv)Schuldfrage,

• Jugendsprache abknutschen, fummeln, hotten, stenzen, gammeln, pfundig, wuchtig, aufreißen, cool, top, astrein, echt, stark, abgeschlafft, irgendwie, sich einbringen, checken, power. • Subkultur, Beat-Generation, Beatniks, Vietniks, Hippies, Blumenkinder, Protestbewegung, APO, Pseudo-, Kommune, Sit-in, Establishment, Punks, No-Future, Disco-Kids, Hausbesetzer, Autonome, Jungnazis

Der DDR-Komplex • 1946-66 SBZ, Zone, Sowjetzonenrepublik, Satellitenregime, Mitteldeutschland vs. Eastern Germany, Hallstein-Doktrin, Alleinvertretungsanspruch und Anführungsstriche ("Armee", "Polizei" usw.), die Mauer, Schandmauer, antifaschistischer Schutzwall, KZ-Zaun. • 1966-89 Von der "DDR" zur DDR, de facto-, de jure-Anerkennung, Staatsbürgerschaft DDR, Ostdeutschland, DDR als Ausland, deutsch = westdeutsch. • a b 1989 Friedliche Revolution, (Wiedervereinigung, bankrott, Mauer in den Köpfen.

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runder Tisch, Wende,

Staats-

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Fremde Integrationsprobleme und Einwanderungspolitik • Flüchtlinge, Vertriebene, Aussiedler, echter Flüchtling, Mischung der Regionalsprachen, Sozialprestige, Überbevölkerung Restdeutschlands, Wohnungseinweiser. • Gastarbeiter, Arbeitsplatzräuber, Anwerbestop, Dauergäste, Fremdarbeiter, Gastland, Mitbürger, multikulturelle Gesellschaft, multikulturelles Chaos. • Ausländer, Asylbewerber, Asylanten, Armutsflüchtlinge, Asylantenflut, -ström, -zufluß, Asyltourismus, Deutschland den Deutschen, Fremdenhaß, Scheinasylanten, Überfremdung, Unterwanderung, Einwanderungsland.

Kulturelle Amerikanisierung und sprachliche Anglisierung Englisch für jedermann, Anglizismen in BRD und DDR, Fremdwortdiskussion. • Lexikalische Folgen des "American Way of Life" Blue-jeans, Sweat-Shirt, Drink, Jogging, Beat, Feature, After-Shave, Make-up, Bar, Job, Teenager.

Talkshow,

Western,

• Übernahme und Verwendung von Prä- und Suffixen Exaußenminister, Exfrau, Supermarkt, Koexistenz, Ko-Autor, Allradantrieb, Allzweckmantel, Subdirektor, Subunternehmen, Adapter, Ghostwriter, Besatzer, Entwicklungshelfer, testen, tippen, managen. • Entlehnung Gipfelkonferenz, weltweit, Luftbrücke, etwas machen, grünes Licht geben. • Mischkomposita Nonstop-Flug, Gallup-Umfrage, rungsteam, Fernsehspot.

1968 als zweite Zäsur? Die Studentenbewegung

Untertreibung,

Fernsehteam,

Autokino,

das Beste aus

Werbegag, Discountpreis,

(Revolte, Rebellion,

Füh-

Revolution)

Gesellschaftskritik, Sprachkritik, Sprachsensibilität, Ideologiekritik, Frankfurter Schule, Kritische Theorie, Reformpolitik, "eindimensionale Begriffe" hinterfragen, herrschender Sprachgebrauch, progressiv, konservativ, Demokratisierung, strukturelle Gewalt, reflektieren, artikulieren, umfunktionieren, internalisieren, Manipulation, Systemüberwindung, Happening, teach-in, sit-in, linke Sprache, Establishment, Verfassungsanspruch, Verfassungswirklichkeit, Besetzen von Begriffen, Emanzipation.

Bildungsdiskussion Bildungspolitik. Vom Bildungsboom zur Schulmisere. Die Sprache der Bildungspolitik 1964-1980. Bildungsboom, Bildungsdefizit, Bildungsgefälle, Bildungskatastrophe, gleichheit, Chancengerechtigkeit, Demokratisierung, Emanzipation, schwemme, Leistungszwang, Reformübereifer, Schulmisere.

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ChancenLehrer-

Der öffentliche Sprachgebrauch

in der Bundesrepublik

Deutschland

seit 1945

Von der Wohlstands- zur Wegwerfgesellschaft. Konsumkritik Absatzgier, Energiekonsum, Gesellschaft im Überfluß, Grenzen des Wachstums, Konsumlenkung, -kritik, -terror, -verhalten, -freiheit, -idiotie, -rausch, -sucht, -welle, -zwang, Maßhalten, Nullwachstum, Überfluß, Wegwerf-, WohlstandGesellschaft.

Die Terrorismusdiskussion 1968-1992

in der Bundesrepublik

Deutschland

Außerparlamentarische Opposition (APO), Kritische Theorie, BENNO OHNESORG, Vietnam-Krieg, Klassenfeind, Krieg, Terror, Gegengewalt, Kapitalistischer Imperialismus, bewaffneter Kampf, Kaufhausbrandstiftungen, Rote Armee Fraktion (RAF), Volkskrieg, Bürgerkrieg, Stadtguerilla, Baader-Meinhof-Gruppe/ Bande, Sympathisant, Radikalenerlaß, verfassungsfeindlich, verfassungswidrig, extremistisch, freiheitlich-demokratische Grundordnung (FDGO), Kriegsgefangene, Isolationsfolter, Selbstkritik, Zerstörungskrieg, Hinrichtung, Bullenschwein, klammheimliche Freude, Braunmühl-Brief.

Frauen • Feminismus und feministische Sprachkritik: Sexistischer Sprachgebrauch, Rollenklischees, Namensrecht. • Von der Gleichberechtigung zur Emanzipation: Trümmerfrauen, Männermangel, dazuverdienen, Doppelverdiener, stung, Familienlohn, Frauenarbeit, Leichtlohn, Schlüsselkinder, für weibliche Beamte.

DoppelbelaZölibatsklausel

• Die Abtreibungsdiskussion: Abtreibung, Beginn des Lebens, Endlösung, Fristenlösung, Ichsucht, Indikation, Leben, Massenmord, Mein Bauch gehört mir, Mord, werdendes Leben, Schwangerschaftsabbruch, -Unterbrechung, Schreibtischmörder.

Atom- und Umweltdiskussion •Atomeuphorie, Atomangst, Störfall, Restrisiko, gungspark, Atom-, Kern-, Friedliche Nutzung, zivile

GAU, entsorgen, Nutzung.

Entsor-

• Naturschutz, Heimatschutz, Umweltschutz, Giftkrieg, Smog, Schadstoffe, Rauchnebel, environment, ecology, Ökologie, Fischsterben, Waldsterben, umweltfreundlich, Umweltbewußtsein, Umweltverschmutzung, Müll-, Gift-, Umwelthysterie, Seveso, Tschernobyl, Sandoz-Rheinvergiftung, Lebensqualität.

Friedensbewegung Abrüstung, Aufrüstung, Atompanik, Bedrohungsgefühl, Cruise missiles, Doppelbeschluß, Entspannungseuphorie, Ersatzdienst, Friedensdienst, Verteidigungsbereitschaft, Modernisierung, Nachrüstung, Null-Option, Ostermärsche, Pazifismus, Soldaten als potentielle Mörder, Wehrwille, Zivildienst, Friedenserziehung.

Tendenzwende Reform, Leistung, Sicherheit, liberal, modern, fortschrittlich, "Wende" 1982.

Heimat, Fortschritt, Sozialismus, konservativ, Vaterland, Wertediskussion, Heimattümelei, die

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Die neue Rechte NPD, Reps, Postfaschismus, Rechtsradikale, Rechtsextremisten, antisemitische Schmierereien, Deutschnationale, Nationaldemokraten, Patriotismus, Zwangsinternationalismus, Neonazis, Rechtskonservative, Überfremdung, Grenzdiktat.

Der Nazi-Komplex • Lingua Tertii Imperii - Das Wörterbuch des Unmenschen und die öffentliche Diskussion über "belastete" Vokabeln. Die "frühe" Sprachkritik. • Sprachwissenschaftliche Analyse der sog. Nazi-Sprache. • Die Weiterverwendungdiskussion. • Nazi-Vergleiche und ihre öffentliche Thematisierung.

Partnerschafts· und Sexualethik Kriegsehe, Heimkehrerehe, Mischehe (Flüchtling und Einheimische(r)), OnkelEhe, wilde Ehe, Genußliteratur (Pornographie), Sex-Welle, Unzucht, Dirne, Pille, Enttabuisierung, Porno-Welle, Oben-ohne-Mädchen, Kuppelei, sexuelle Revolution, voreheliche Sexualität. Offene Ehe, Kameradschaftsehe, eheähnliches Verhältnis, Ehe ohne Ehebruch, Zerrüttung, Konventionalscheidung, Hausmann-Modell, Aids.

Globale Verantwortung.

Entwicklungspolitische

Trauschein, Schwule,

Diskussion.

Eine Welt für alle. Dritte Kraft, Dritte Welt, Entwicklungshilfe, Geburtenregelung, Nord-Süd-Dialog, Ost-West-Konflikt, Schuldenerlaß, Schwellenländer, Überschuldung, unterentwickelte Länder, Entwicklungsländer, Vierte Welt, Weltbund.

Das hier vorgestellte Konzept einer Sprachgeschichte der Gegenwart als Problemgeschichte kann einerseits die bisher z.T. isolierten Forschungsansätze integrieren. Andererseits erscheint dies Konzept so offen, daß bisher nicht berücksichtigte Problem- oder Themenkreise hinzugefügt werden können. Im zweiten Teil meines Vortrag möchte ich Ihnen einige Problemsektoren veranschaulichen, wobei ich besonders aktuellere Erscheinungen der unmittelbaren Gegenwart betone; z.T. aber zeige ich auch, daß ein Rückblick auf die frühe Nachkriegszeit lohnt. Es handelt sich hierbei um Problemsektoren, die z.T. auch in Frankreich brisant sind. Als kleinen kontrastierenden Farbtupfer zur vorherrschenden Analyse politischer Sprache auf dieser Tagung möchte ich eingangs den Sektor Sexualität und Ehe in seinen neuesten Entwicklungen skizzieren. Ich stützte mich in diesem Teil weitgehend auf einen Kapitel-Entwurf meiner Mitarbeiterin Cornelia Tönnesen. In unserer Längsschnitt-Studie ab 1945 haben wir festgestellt, daß einerseits auf dem Sektor der Bezeichnungen abweichender Sexualität nach 1945 öffentliche Tabui-

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Der öffentliche Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945

sierung und wirklicher Sprachmangel herrschte und daß andererseits angesichts der Kriegsfolgen beim Begriff und bei der Institution "Ehe" Veränderungen bzw. Auflösungserscheinungen einsetzen, die in der Gegenwart kulminieren: beide Sektoren treten neuerdings in Konvergenz angesichts der sowohl in Deutschland wie in Frankreich wie sonst auch in Europa geführten Diskussionen über die juristische Anerkennung von sog. eheähnlichen Gemeinschaften und von homosexuellen bzw. lesbischen Partnerschaften als Ehegemeinschaften. Nach 1945 wurde in Westdeutschland nach der 'moralischen Enthemmung' im Ausnahmezustand des Krieges, eine allgemeine "sittliche Verwahrlosung" befürchtet. Es wurden Hochwertvokabeln wie "Anstand", "Sitte", "Zucht" in der allgemeinen Berichterstattung betont und man bemühte sich zu "geordneten Verhältnissen" zurückzukehren und den traditionellen Moralkodex erneut zu festigen. Allerdings, die sog. Kriegsehen, die z.T. übereilt - manchmal per Ferntrauung - zur Absicherung der Partnerin geschlossen worden waren, dann die sog. Heimkehrer-Ehen - d.h. während der Kriegszeit durch Entfremdung zerbrochene Ehen - und schließlich auch die sog. Onkel-Ehe - d.h. nicht vollzogene Ehen von rentenberechtigten Witwen mit einem aus der Perspektive der Kinder Onkel genannten Mann - sie alle waren Anzeichen von Auflösungsserscheinungen der Ehe, die nicht ignoriert werden konnten. Solche noch traditionell "wilde" (d.h. ungesetzliche) genannte Ehen wurden angesichts der finanziellen Not stillschweigend geduldet. Derartige "Fälle des Konkubinats", die gesetzlich verboten waren, kamen zum Beispiel in Niedersachsen so häufig vor, daß die Polizei nicht mehr eingriff und eine neue Verhaltensrichtlinie entwickelte: "Eine ernstgemeinte und von sittlicher Reife getragene Kameradschaftsehe kann nicht als ärgerniserregend und anstößig empfunden werden"(vgl. Die Welt, 21.01. 1953). Andererseits wurden "Onkel-Ehen", die sich "bedrohlich ausweiteten" auch als "gefährlicher Ansatzpunkt zur Verwilderung und Verwahrlosung der Jugend" sowie als "Teilhaberschaften zwischen Witwen und männlichen Untermietern" betrachtet (vgl. Allgemeine Zeitung Neuer Mainzer Anzeiger, 14.11.1953). Im Zuge der Diskussion über die Gleichstellung von kirchlicher und ziviler Eheschließung, die die Onkel-Ehen "wenigstens in den Augen von Kirche und Öffentlichkeit" legitimiert hätten, wird der Terminus zunehmend hinterfragt (vgl. RuhrNachrichten Dortmund, 09.03.1954). Der Abgeordnete Hoogen von der CDU/CSUFraktion kritisiert in einer Bundestagsdebatte die "sogenannten Onkel-Ehen, wie man sie verniedlichend nennt", die in Wirklichkeit "Rentenkonkubinate" seien (vgl. Sitzungsprotokoll des Dt. Bundestages, 111. Sitzung, Bonn, 10.11.1955). Der Ausdruck Rentenkonkubinat, der in die öffentliche Berichterstattung einfließt, kritisiert im Gegensatz zu der Verwendungsweise von "Onkel-" oder "Kameradschafts-Ehe" deutlich die Vorrangigkeit finanzieller Absicherung vor religiöser und staatlicher Legitimation. Auch die Vokabel wilde Renten-Ehe beinhaltet diese Argumentation (vgl. Hamburger Anzeiger, 15.02.1956). Im Beamtenrecht wurde ohnehin die sog. wilde Ehe mit Sanktionen belegt, insofern ein Beamter, der in wilder Ehe lebte, strafversetzt werden konnte. Auch die katholische Kirche hielt an ihrem traditionellen Ehebegriff fest, der im Bewußtsein der konfessionell gemischten westdeutschen Bevölkerung überholt war: 51

Georg STÖTZEL

Die negativ konnotierte Vokabel Mischehe galt im öffentlichen Sprachgebrauch als die eheliche Verbindung zwischen Katholiken und Protestanten. Die katholische Kirche weigerte sich, diese sogenannten "Mischehen" als vollwertige "Ehen" zu bezeichnen. Die "Mischehe" galt bestenfalls als "eheähnliche Verbindung" oder "eheähnliche Gemeinschaft". Kinder aus ungültigen "Mischehen" galten kirchenrechtlich als "unehelich" (vgl. Der Spiegel, 07.03.1962, Nr. 10). Auch die vorgesehene Eherechtsreform im Entwurf des neuen Strafgesetzbuches von 1962 festigte juristisch im öffentlichen Bewußtsein überholte Traditionen: Er erschwerte die Scheidung auch nach dreijähriger Trennung, er behielt die Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung des Ehebruchs wegen der "sittenprägenden und sittenerhaltenden Wirkung" bei. Im Zusammenhang mit der rechtlichen Gleichstellung des unehelichen Kindes polemisiert ein Bonner Familienrechtler mit pejorisierendem Sprachgebrauch gegen die außereheliche sexuelle Beziehung (vgl. Der Spiegel, 26.02.1964, Nr. 9). Die rechtlich vollgültige Verwandtschaft zwischen dem Vater und seinem unehelichen Kind, dem sogenannten "Kegel", sei dekadent und gegen die christliche Morallehre. Die "Frucht außerehelicher Unzucht" könne nicht mit der "Frucht ehelicher Pflicht" gleichgestellt werden. Die in der frühen Nachkriegszeit bereits bemerkbare Relativierung des traditionellen Ehebegriffs (der die Benachteiligung sog. unehelicher Kinder beinhaltete) mündete schließlich in den 90er Jahren in Neuerungen, bei denen - wie immer Änderungen des Sprachgebrauchs und der Lebensform "Hand in Hand" gehen (wenn Sie mir diese Metaphorik hier erlauben). Bevor ich Ihnen dies anhand von Beispielen belege, möchte ich Ihnen aber die Phase des Umschlags (sozusagen die Sattelzeit im Sinne von BRUNNER/CONZE/KOSELLEK) in den 60er Jahren gründlicher verdeutlichen. Die Einführung der hormonalen Kontrazeption (auch "orale Empfängnisverhütung", "Pinkus-Pille", "Anti-Baby-Pille", heute nur lexikalisiert die "Pille" genannt) bewirkte nicht nur den sog. Pillenknick (d.h. eine drastische Senkung der Geburtenrate), sondern auch eine Bewußtseinsveränderung der Gesellschaft. Die Einführung der hormonalen Kontrazeption entzog der traditionellen Ehe- und Sexualethik mit ihren Sicherungs-Sanktionen des vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehrs - einschließlich der öffentlich-moralischen und juristischen Diskriminierung unehelicher Kinder - ihre materielle Basis. Ab 1962 verschärfte sich deshalb die Frontenbildung innerhalb der Diskussion über eine - nunmehr - mögliche Liberalisierung der Ehe- und Sexualethik. Während die Gegner umso vehementer eine restriktive Moral verteidigten, markieren die Befürworter einer zuverlässigen Geburtenkontrolle eine (allmähliche) Tendenzwende. Auch Unverheirateten stand nun dieser Weg zur Empfängnisverhütung offen. Doch war der außer- und voreheliche Kontakt immer noch verpönt, obgleich er ja nun nicht mehr kontrolliert und begrenzt wurde durch die Gefahr einer Schwangerschaft und die außereheliche Beziehung nicht mehr wie früher durch Schwangerschaft in eine sog. "Muß-Ehe" zu münden drohte. Die sichere orale Empfängnisverhütung ermöglichte den außerehelichen Kontakt ohne öffentlich sichtbare Folgen und korrelierte mit einer sinnlich-erotischen Auffassung von Sexualität, die bisher, und zumindest offiziell weiterhin, tabuisiert war. 52

Der öffentliche Sprachgebrauch

in der Bundesrepublik

Deutschland

seit 1945

Man befürchtete eine um sich greifende sexuelle Zügellosigkeit, den archaischen Zustand der Promiskuität. Die katholische Kirche bezeichnete die hormonale Empfängnisverhütung als "direkte Sterilisation", wodurch die intendierte Erzeugung der weiblichen Unfruchtbarkeit hervorgehoben wurde. Der Terminus verdeckt jedoch, daß die eigentliche Sterilisation unaufhebbar ist, während die Wirkung der Ovulationshemmer mit dem Absetzen beendet ist. Nur die sogenannte "indirekte Sterilisation", nämlich die Einnahme oraler Verhütungsmittel zur Verhinderung von Krankheiten, akzeptierte die katholische Kirche (vgl. Der Spiegel, 26.02.1964, Nr. 9, S. 77). 1968 erließ Papst Paul VI. die Enzyklika "Humanae Vitae", "über die rechte Ordnung und Weitergabe des menschlichen Lebens". Die Einnahme von Ovulationshemmern wurde als "vorweggenommener Mord" stigmatisiert und gläubigen Katholiken verboten (vgl. Der Spiegel, 05.08.1968, Nr. 32, S. 84). Der moraltheologische Anspruch der sogenannten "Pillen-Enzyklika" des "AntiPillen-Papstes" wurde von großen Teilen der Gesellschaft, auch von gläubigen Katholiken nicht mehr akzeptiert. Im Zuge dieser Diskussion wird das Kompositum "Anti-Baby-Pille" auf das Wort "Pille" verkürzt. Der Ausdruck "die Pille" etabliert sich in den Folgejahrzehnten als Quasi-Terminus für die orale Empfängnisverhütung, die sowohl in moraltheologischer als auch medizinischer Hinsicht ein Streitthema bleibt. Während man also Ende der 60er Jahre einerseits noch mit Restriktionen versuchte, die sittliche Ethik der 50er Jahre aufrechtzuerhalten, wurde andererseits schon ab Mitte der 60er Jahre die sogenannte "Sex-Welle" in der Berichterstattung thematisiert. Diese spektakuläre Metapher umschrieb zunächst sämtliche Facetten und Erscheinungsformen der neu entdeckten Sexualität; dazu gehörte die Idee der sexuellen Aufklärung sowie die Verbreitung sexualwissenschaftlicher Literatur aber auch neue sexuelle Praktiken wie Gruppensex, die Schweden-, Kolle- und Bergmann-Filme neben ersten Ansätzen einer kommerzialisierten Erotik. Innovative Ansätze für eine sich wandelnde Sexualethik entwickelte Mitte und Ende der 60er Jahre die Studentenbewegung (vgl. Der Spiegel, 02.05.1966, Nr. 19, S. 50-69). Die 68er Bewegung formulierte erstmalig eine Auffassung der menschlichen Sexualität als Bestandteil eines gesellschaftspolitischen Gesamtkonzepts und orientierte sich insbesondere an Wilhelm Reichs Arbeiten der 30er Jahre (ζ. B. REICH, Wilhelm: Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral, Köln, 1972 u. derselbe: Die sexuelle Revolution, Frankfurt a.M., 1966). Maßgeblich für diesen Wertewandel war die Repressionsthese, nach der die bürgerlich kapitalistische Gesellschaft Sexualität zur Wahrung der Macht unterdrückte. Die sexualmoralischen Grundpfeiler Monogamie, Heterosexualität und Stabilität wurden infragegestellt und dies wurde vor allem von der Berliner Kommune I und dem Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler (AUSS) vorgelebt. Das Modell der sexuellen Dauerbeziehung auf Zeit war für sie auf jede Mann-Frau-Beziehung übertragbar. Was mit Protesten, wie zum Beispiel 1965 gegen die Weigerung von Vermietern, sog. Damen- und

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Herrenbesuche zu erlauben, begann, endete in der Ablehnung der "Zweierkiste" und des "Besitzanspruchs" der Partner (vgl. Der Spiegel, 07.04.1965, Nr. 15, S. 108). Die Kritik der Intellektuellen fand auf sprachlicher Ebene außer in soziologischer Terminologie auch durch bewußt vulgär gehaltenes Vokabular seinen Ausdruck, das die Vertreter der bürgerlichen Moral provozieren sollte (vgl. Der Spiegel, 07.04. 1965, Nr. 15). Dieser Prozeß wurde von Teilen der Gesellschaft als "sexuelle Revolution" empfunden, ein Ausdruck, der in der Berichterstattung als Streitvokabel fungiert. Der Terminus impliziert die Erwartung einer "sexuellen Befreiung" und deren Auswirkungen auf die Gesellschaftsstruktur. Die Assoziation von "sexuell" und "Revolution" in der öffentlichen Berichterstattung beschreibt einen Wandel der Auffassung von Sexualität, die nicht mehr als "Privatangelegenheit", sondern als Politikum gewertet wurde (vgl. Die Zeit, 27.12.1991, Nr. 1): ...Dies war die Botschaft, die sich Wilhelm Reichs Buch Die sexuelle Revolution entnehmen ließ und sie war kein Mißverständnis: "Fickt Euch frei"! oder in einem ihrer Slogans, der sinngemäß noch heute an den beschmierten Wänden der Westberliner Politologie zu lesen ist: "Gegen Bullen hart, im Bett zart". (Wenn es trotz 1968 noch Leser geben sollte, die sich an dieser Sprache stören, muß ich um Duldung bitten. Jede Umschreibung verfälscht den Geist der Stunde.) 1968 erschien Gieses und Schmidts Dokumentation zur Sexualität der Studenten, worin die Sexualwissenschaftler bestätigten, daß Studenten Verhaltensweisen praktizierten, "die nach der offiziellen Moral als unsittlich oder unzüchtig gelten" (vgl. Der Spiegel, 18.11.1968, Nr. 47, S. 67). ...Sie entsprechen am ehesten dem, was man den "skandinavischen Typ" ehelicher Standards genannt hat... Man kann diesen skandinavischen Standard mit drei Schlagwörtern umreißen: freizügig, egalitär und partnerbetont. (GIESE, Hans/SCHMIDT, Günter: Studentensexualität, Reinbek, 1968). Durch diese Interpretation relativierte Giese das Schlagwort der "sexuellen Revolution": 'Revolution' aber bestehe per definitionem gerade in einer Veränderung der Grundlagen, und so kann man 'revolutionär' nur eine Moral nennen, die die Bedeutung von Ehe und Familie erheblich relativiert... Damit ist die Sexualität der meisten unverheirateten Studenten im Wortsinn 'vorehelich': Sie kopieren und antizipieren 'Ehe', während sie noch ledig sind (vgl. Der Spiegel, 26.08.1968, Nr. 35). Auch nach der Terminologie des Sexualwissenschaftlers Leunbach, den der Spiegel zitiert, führten die Studenten nur eine "bürgerliche Sexualreform" durch. Die sexual- und partnerschaftsreformerische Idee der "Kommune" ist bereits zu Beginn der 70er Jahre in den Hintergrund geraten. Die meist pejorisierend verwendete Vokabel "Kommune" ist in der Berichterstattung bereits durch das neutralere Kompositum "Wohngruppe" abgelöst worden (vgl. Der Spiegel, 23.03.1970, Nr. 13). 54

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Der Ansatz der Kommune, Sexualethik und Politikverständnis zu verbinden und damit neue Lebens- und Partnerschaftsformen zu kreieren, wird häufig auf den Aspekt der Promiskuität reduziert. Stigmatisierende Ausdrücke für die Kommune sind zum Beispiel "linke Sex-Gemeinschaften", "fehlgeschlagene Kommune-Sexexperimente", "Bettchen-wechsle-Dich-Kommunen" oder "Sexual-Gemeinschaften". Daß sich aus den Kommunen wirtschaftlich nützliche studentische "Wohngemeinschaften" entwickelten, wurde hingegen positiv bewertet. Die Vokabel "Wohngemeinschaft" ist im Gegensatz zu "Kommune" nicht negativ konnotiert. Der Ausdruck impliziert in diesem Kontext die zeitliche Begrenztheit und den wirtschaftlichen Aspekt dieser Lebensform; das asoziale, unsittliche Stigma wird ausgeklammert. Zukunftsweisend erschienen, im Gegensatz zu den Kommunen, auch die sogenannten "Familienfamilien", worunter man Familiengruppen verstand, die einen gemeinsamen Haushalt führten aber die Intimität der heterosexuellen Zweierbeziehungen bewahrten (zu allen Belegen vgl. Der Spiegel, 23.03. 1970, Nr. 13). Für diese Form des Zusammenlebens wird 1970 in der Rheinischen Post ebenfalls der Ausdruck "Wohngemeinschaften" verwendet: 'Wohngemeinschaften', auch 'Großfamilien' genannt, sind jetzt durch Schweden und Dänemark einigermaßen populär geworden. Sie haben einiges für sich, wenn die Privat- und Intimsphäre der einzelnen Familie gewahrt bleibt. Sie ersetzen die Großfamilien alten Stils, die Sippen, die in einem Haus zusammenlebten, (vgl. RP, 24.12.1970) Durch die Nivellierung der avantgardistischen Ideen erreicht Mitte der 70er Jahre die kritische Diskussion der traditionellen Ehe breitere Gesellschaftsschichten. Obwohl nicht mehr mit dem Vokabular der Studentenbewegung gegen die Institution der Ehe polemisiert wird, wächst zunehmend die Akzeptanz der vorehelichen sexuellen Beziehung. Der Spiegel beschreibt das Sexualverhalten der jungen Generation als "Ehe vor der Ehe", wodurch einerseits die Stabilität der Zweierbeziehungen indiziert wird, andererseits das Ideal der vorehelichen sexuellen Enthaltsamkeit negiert wird (vgl. Der Spiegel, 22.03.1971, Nr. 13, S. 188). Populär wird in den 70er Jahren der Terminus der "offenen Ehe", der bürgerliche Eheideale und progressive Ehekritik synthetisiert (vgl. O'NEILL, Nena/George: Die offene Ehe. Konzept für einen neuen Typus der Monogamie, Hamburg, 1975). In der "offenen Ehe" wird sexuelle Untreue nicht ausschließlich negativ bewertet und muß nicht unweigerlich zum Bruch der Beziehung führen. Erotik und Sinnlichkeit avancieren zu eigenständigen Werten, losgelöst von einer übergeordneten Ethik. Sexuelle Beziehungen sollen ausgelebt werden (vgl. SCHENK, Herrad: Freie Liebe, wilde Ehe, München, 1987). Trotz dieser Versuche, neue Formen der Ehe zu etablieren, steigt in den 70er Jahren die Zahl der freien Lebensgemeinschaften kontinuierlich. Im Zuge dieser Entwicklung wird der pejorisierende Terminus der "wilden Ehe" abgelöst durch neutralere Wortschöpfungen wie "eheähnliches Verhältnis", "nicht-eheliche Lebensgemeinschaft", "unverheiratetes Paar" oder "Ehe ohne Trauschein". Auf einer Tagung der evangelischen Akademie Loccum 1980 zum Thema nicht-eheliche Lebensgemein-

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Schäften äußert sich Peter Lindemann, FDP-Mitglied, zur Entstehung der Wortschöpfung: Ich will noch eine Bemerkung machen zur Wortwahl. Schon das Programm hat, mir sehr zusagend, von "nicht-ehelicher Lebensgemeinschaft" gesprochen. Es ist dann im Verlauf der Unterhaltungen hier und der Diskussion auch von "Ehe ohne Trauschein" und "ehegleichem Verhältnis" gesprochen worden. Aber in Anknüpfung an das eheliche Kind und das nicht-eheliche Kind ... halte ich es für richtig, von nicht-ehelicher Lebensgemeinschaft zu sprechen... Am Rande sei bemerkt, daß man in der Karlsruher Juristischen Bibliographie, im Findex bei "nicht-ehelicher Lebensgemeinschaft" auf "Konkubinat" verwiesen wird. (vgl. Loccumer Protokolle, 3/80, Partnerschaft und Identität, Hans MAY, (Hg.), Evangelische Akademie Loccum). Doch diese Termini implizieren noch den Maßstab der konventionellen Ehe und setzen die stabile, heterosexuelle Beziehung voraus. Auch das neue Scheidungsrecht, das 1977 in Kraft tritt, signalisiert eine liberalere Ehe- und Sexualmoral. Die Rheinische Post schreibt am 14.01.1971: "Die Formel 'Weg vom Schuldprinzip' (mit all seinen Unfreundlichkeiten und auch Unappetitlichkeiten, die vor Gericht ausgebreitet werden) hin zum 'Zerrüttungsprinzip' wird allgemein gebilligt". Durch die Aufhebung des "Schuldprinzips" wird auch das moralisierende Kriterium der sogenannten "Eheverfehlungen" hinfällig. Nicht mehr der "Ehebruch", sondern das "Trennungsjahr" gilt als "unwiderlegbare Zerrüttungsvermutung" (vgl. Der Spiegel, 27.06.1977, Nr. 27). Indem der Gesetzgeber das Schuldprinzip der Konventionalscheidung aufgibt, überläßt er es zum Teil den Ehegatten selbst, sittliche Normen einer individuellen Eheauffassung zu entwickeln. Machen wir nun einen Sprung zu den beobachtbaren Erscheinungen der unmittelbaren Gegenwart und zu den vorgelegten Pressetexten:

Texte RP 1989 (1) Steuerreform 1990 Neuerungen für "wilde Ehen" MÜNCHEN (ap). Eine Lebensgemeinschaft mit gemeinsamem Kind wird mit Inkrafttreten der letzten Stufe der Steuerreform 1990 als "doppelter Haushalt" anerkannt. Wie der Bundesverband der Lohnsteuerhilfevereine gestern in München in einer Pressekonfernz mitteilte, betrifft diese Neuerung "Partner", die in eheähnlichen Lebensgemeinschaften" zusammenleben. Bisher konnten unverheiratete Paare die Verheirateten zugesprochenen Vergünstigungen nicht

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in Anspruch nehmen. Durch die jetzt erfolgte steuerliche Anerkennung können der Verpflegungsmehraufwand, anfallende Unterhaltsleistungen und Fahrtkosten zum Arbeitsplatz unter bestimmten Bedingungen abgesetzt werden. RP 18.06.92 (2) Donnerstag, 18. Juni 1992 - Nr. 140 Immer mehr "wilde Ehen" KÖLN (dpa). Immer mehr Paare werden nicht mehr getraut. In den vergangenen 20 Jahren sank die Zahl der Hochzeiten in Deutschland um zehn Prozent. Gleichzeitig stieg die Zahl der "wilden Ehen" um das Siebenfache, auf mittlerweile eine Million. Das berichtete gestern das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Im Trend liegt auch die Ehe ohne Nachwuchs. So stieg die Zahl kinderloser Ehepaare von fünf Millionen 1972 auf knapp 6,6 Millionen 1990. Rund 9,8 Millionen Haushalte gehören Singles - fast zwei Drittel mehr als noch 1972. SZ 28.05.93 (3) Keine Hinterbliebenenrente für Partner in "wilder Ehe" Mainz (dpa) - Partner einer "wilden Ehe" haben beim Tod des Lebensgefährten keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente. Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz in Mainz begründete das Urteil damit, die sogenannte Witwenrente habe Unterhaltsersatzfunktion. Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft schuldeten einander jedoch keinen gesetzlichen Unterhalt (AZ: L 5 A 62/92). RP 17.09.92 (4) Deutscher Juristentag diskutiert über Kindschaftsrecht Ehelich oder unehelich - keine Unterschiede mehr? Mittelalterlich In diesem Sinne lautet eine der wesentlichen Thesen des namhaften Familienrichters Siegfried Willutzki (Brühl). "Die unterschiedliche rechtliche Behandlung von ehelichen und nichtehelichen Kindern muß schon aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben werden. Eine Differenzierung sollte sich nur danach richten, ob ein Kind mit beiden Elternteilen, einem Elternteil oder keinem von beiden zusammenlebt." Prof. Michael Coester (Göttingen) empfand die Statusunterscheidung "mittelalterlich", sie habe einst der Kirche und den Interessen vermögender Familien gedient, die sich durch unehelich geborene Kinder nicht beeinträchtigen lassen wollten. Heute ist das unakzeptabel, man darf die Kinder nicht mehr dafür heimsuchen, was ihre Eltern getan beziehungsweise nicht getan haben. Coesters Regensburger Fachkollege Schwab: " Was wird dann aus dem staatlich geregelten Eherecht?" Das Zusammensein von Mann und Frau sei ja

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überhaupt nur deshalb als Rechtsinstitut von Interesse, weil an die in der Ehe geborenen Kinder gedacht worden sei. FR 28.10.89 (5) "Schwule" und "Lesben" im Bundestag verpönt Koalitionsfraktionen lehnen Vorstoß der Grünen ab, Bezeichnung auf Vorlagen zu ändern BONN, 27. Oktober (dpa). Die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP haben am Donnerstag im Bundestag einen neuen Vorstoß der Grünen abgelehnt, auf Parlaments vorlagen die Begriffe "Schwule" und "Lesben" zuzulassen. Die Fraktionen unterstützten auch die Haltung der Regierung, die auf eine Große Anfrage der Grünen erklärt hat, sie sehe keinen Anlaß für besondere Strafvorschriften gegen sexuelle Diffamierung. Die Grünen hatten ihren Antrag damit begründet, daß "Schwuler" und "Lesbe" die "emanzipatorische Selbstbezeichnung gleichgeschlechtlich orientierter Menschen" in der Bundesrepublik sei. Mit dem medizinisch klingenden Begriff "Homosexuelle", der aus der Lehre der Sexualkrankheiten stamme, könnten sich die damit bezeichneten Menschen nicht identifizieren. Für die CDU/CSU meinte der Abgeordnete Horst Eylmann, der "militante Kreuzzug" der Grünen für die "Verbreitung der Homosexualität" habe groteske Züge. Die Union lehne es ab, die für die meisten Bürgerinnen und Bürger negativ besetzten Worte "Lesben" und "Schwule" in Bundestagsvorlagen aufzunehmen. Der FDP-Abgeordnete Rainer Funke sagte, nicht alles, "was man umgangssprachlich am Biertisch ausspricht", müsse auch schriftlich in den Parlamentsvorlagen erscheinen. Der SPD-Abgeordnete Dieter Wiefelspütz sagte, seine Fraktion habe noch keine feste Haltung zu der Forderung der Grünen. Im übrigen sei Sprache im Wandel begriffen. Der Parlamentarische Staatssekretär beim Justizminister, Friedrich-Adolf Jahn (CDU) sagte, das Strafrecht biete den erforderlichen Schutz gegen sexuelle Diffamierung. Ein gedeihliches Miteinander sei in einer freiheitlichen Gesellschaft nur möglich, wenn Toleranz geübt werde. Die Grünen-Abgeordnete Jutta Oesterle-Schwerin forderte eine aktive Gleichstellungspolitik. Es fehle nicht an schwulen Abgeordneten im Bundestag, meinte sie, wenn auch die Situation bei den Lesben wegen des geringen Frauenanteils wesentlich schlechter aussehe. "Aber nicht einer meiner schwulen Kollegen bei den anderen drei Fraktionen wagt ein öffentliches Comingout - obwohl es doch die Spatzen von den Dächern des Bundeshauses pfeifen."

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SZ 06.08.93 (6) Homosexuelle Paare von Versicherung anerkannt Paris (AFP) - Die französische Sozialversicherung erkennt künftig "gleichgeschlechtliche Partner" an. Sie billigt damit den Homosexuellen zu, was ihnen die Justiz bislang verweigert hat: die de facto-Anerkennung ihrer Lebensgemeinschaft zumindest im Krankheitsfall. Im Zuge einer Reform der staatlichen französischen Krankenkassen, die Anfang August in Kraft getreten ist, kann sich jeder Sozialversicherte die Pflege- und Krankheitskosten einer Person, für deren Unterhalt er aufkommt, zurückerstatten lassen. Die neue gesetzliche Regelung gilt für Homosexuelle, aber auch für Geschwister oder Kinder, die von ihren Großeltern aufgezogen werden. RP 27.04.93 (7) Dienstag, 27. April 1993 - Nr. 97 Streit um neues EKD-Zentrum für Frauenstudien Evangelikaie wollen keine Feministische Theologie Die Arbeit wurde noch gar nicht aufgenommen, doch bereits jetzt erregt das neue Frauenstudien- und Bildungszentrum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) die Gemüter. Vor allem von den theologisch konservativen Evangelikaien werden in ganz Deutschland schwere Geschütze aufgefahren. Dabei entzündet sich die Kritik am Beschluß des EKD-Rates, die Diplompädagogin Herta Leistner, Evangelische Akademie Bad Boll, und die Pfarrerin Renate Jost, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Frankfurt, zu Studienleiterinnen des Zentrums in Gelnhausen zu berufen. Weibliche Synodale aus allen drei Gesprächsgruppen der Synode haben inzwischen den Rat aufgefordert, diese Entscheidung zurückzunehmen. Die Studienleiterinnen, die unter 107 Bewerberinnen ausgewählt worden waren, zählen zu Vertreterinnen der "Feministischen Theologie". Besonders umstritten ist Herta Leistner - sie hat bekannt, lesbisch zu sein und befürwortet den kirchlichen Segen für homosexuelle Partnerschaften. Lesbischer

Lebensstil

Nachdem Vertreterinnen der konservativen "Synodalen Arbeitsgemeinschaft" und des kirchenpolitisch in der Mitte angesiedelten "Gesprächskreises" bereits "große Sorge" über die Besetzung zum Ausdruck gebracht hatten, unterstützt nun auch eine Sprecherin der Gruppe "Offene Kirche" die Forderung nach Rücknahme der Berufung. Angelika Dreikopf aus Leipzig erklärte jüngst, das Studienzentrum werde durch das Eintreten für den lesbischen Lebensstil "so eindeutig positioniert", daß sich viele Frauen ausgeschlossen fühlten.

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RP 27.04.93 (8) Gericht: Keine Ehe unter Homosexuellen FRANKFURT (RP). Auch in Hessen wird es vorerst keine Ehen unter Homosexuellen geben. Anders als das Amtsgericht Frankfurt, das solche Verbindungen im Dezember für zulässig erklärt hatte, lehnte dies das örtliche Landgericht nun ab (Az. 2/9/ Τ 18/93). Es gab der Stadtverwaltung Frankfurt recht, die im vergangenen Jahr das Aufgebot mehrerer homosexueller Paare zurückgewiesen hatte. Die 9. Zivilkammer stützte sich bei ihrer Entscheidung auf die Rechtstradition im europäischen Kulturkreis. Danach lasse sich die Vereinigung von Mann und Frau zu einer "umfassenden, grundsätzlich unauflösbaren Lebensgemeinschaft", wie sie vom Bundesverfassungsgericht umrissen worden sei, bis ins Kanonische Recht zurück verfolgen. Seither hätten alle Eherechtsreformen daran festgehalten, daß unterschiedliches Geschlecht der Partner eine materielle Ehe Voraussetzung sei. Dem stehe auch der Gleichheitssatz des deutschen Grundgesetzes nicht entgegen. Ähnlich hatten zuvor bereits alle mit entsprechenden Klagen befaßten Landgerichte entschieden. RP 16.07.93 (9) Absage vom Landgericht Kein Trauschein für von Sinnen KÖLN (dpa). Der Ehesegen bleibt Fernsehmoderatorin Hella von Sinnen und ihrer Freundin Cornelia Scheel weiter versagt: Auch das Landgericht Köln hat nun den Heiratswunsch von Deutschlands wohl prominentestem lesbischen Liebespaar abgelehnt. Das teilte ein Justizsprecher auf Anfrage mit. Das Gericht bestätigt damit den Beschluß eines Kölner Amtsrichters vom November vergangenen Jahres. Die Anwältin des prominenten Paares hat allerdings angekündigt, bis vor das Bundesverfassungsgericht zu gehen. Wie zuvor bereits der Amtsrichter verwiesen nun auch die Berufungsrichter des Landgerichts darauf, daß eine "Eheschließung zwischen zwei Frauen nicht mit geltendem Recht vereinbar" sei. Die gleichgeschlechtliche Ehe - so Kölner Richter - entspreche nicht dem "Begriffsverständnis" der Ehe des Grundgesetzes und des Bürgerlichen Gesetzbuches. Dies werde auch von einem Urteil des Amtsgerichts Frankfurt verkannt, das dem Antrag zweier gleichgeschlechtlichen Partner auf Eheschließung stattgegeben hatte. RP 14.10.93 (10) "Serie von Musterprozessen" Karlsruhe: Kein Trauschein für Homosexuelle KARLSRUHE (dpa). Gleichgeschlechtliche Paare dürfen nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch in Zukunft in Deutschland nicht standesamtlich heiraten. Die Karlsruher Richter halten allerdings eine rechtliche Absicherung von homosexuellen und lesbischen Lebensgemeinschaften für ein Thema, das den Gesetzgeber beschäftigen sollte. Der 60

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Schwulenverband in Deutschland kündigte daraufhin eine Serie von Musterprozessen gegen die einzelnen Benachteiligungen von schwulen und lesbischen Paaren an. Verfassungsklage In dem jetzt entschiedenen Fall ging es zunächst nur um die Frage, ob ein gleichgeschlechtliches Paar Anspruch auf die Eheschließung hat. Die Verfassungsklage eines homosexuellen Paares aus Nürnberg wurde von Karlsruhe gar nicht erst zur Entscheidung angenommen. Dem Fall komme "keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung" zu, heißt es in dem gestern veröffentlichten Beschluß. Damit ist die "Aktion Standesamt" vorerst gescheitert, für die das lesbische Paar Hella von Sinnen und Cornelia Scheel den Weg bereitet hatte. In der nur dreiseitigen Begründung weisen die Richter die Ansicht zurück, mit der Verweigerung der Trauung würden homosexuelle und lesbische Paare in ihrer "Eheschließungsfreiheit" beeinträchtigt. Die Frage sei überhaupt "nicht klärungsbedürftig", da sich nach ständiger Rechtsprechung der Begriff "Ehe" im Grundgesetz auf Lebensgemeinschaften von Mann und Frau beziehe. Es gebe keine ausreichenden Anhaltspunkte für einen grundlegenden Wandel dieses Eheverständnisses in diesem Punkt, erklärte das Gericht. Rechtliche Absicherung Anders verhalte es sich bei der Frage, ob Behinderungen der Beschwerdeführer in ihrer privaten Lebensgestaltung und Benachteiligung gleichgeschlechtlicher Paare gegenüber Ehepaaren mit dem Grundgesetz vereinbar seien. Diesem Problem könne grundsätzliche Bedeutung zukommen. In diesem Zusammenhang könnte sich dann auch die Frage stellen, ob der Gesetzgeber verpflichtet sei, homosexuellen Partnern eine rechtliche Absicherung ihrer Lebensgemeinschaft zu ermöglichen. Karlsruhe wies darauf hin, daß der Gesetzgeber eventuell betroffene Grundrechte (Persönlichkeitsrecht und Gleichheitsgrundsatz) anders schützen könne als durch Eröffnung "des Zugangs zur Ehe" (Az.: 1 BvR 640/93). RP 02.06.93 (11) Bei der doppelten Staatsbürgerschaft wächst der Druck auf die Union "Mitbürger" soll mehr als Floskel sein

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Georg STÖTZEL RP 11.02.92 (12) Einwanderer-Diskussion erhitzt Franzosen Von der Immigration zur Invasion: Die Ausländer Von RP-Korrespondent Werner Kern Bei der Einwanderer-Diskussion in Frankreich fallen links und rechts die Tabus. "Entweder trägt der Islam französische Farben oder es wird ihn nicht geben in Frankreich." Das hat nicht etwa ein nostalgischer französischer Nationalist verkündet, sondern der aus Togo stammende Staatssekretär für Soziales und Integration, Kofi Kamgnane, bekannt geworden als schwarzer Bürgermeister in einem Nest der Bretagne. "Nur Dummköpfe ändern sich nicht", wies Premierministerin Edith Cresson in Radio Europa 1 die Kritik zurück, sie stelle traditionelle Werte der französischen Nation in Frage. Sie hatte nämlich angeregt, daß in Zukunft vielleicht die von Ausländern in Frankreich geborenen Kinder, die bisher fast automatisch Franzosen waren oder wurden, die französische Staatsbürgerschaft zuerst einmal auf der "mairie" beantragen sollten. SZ 04.06.93 (13) Trauerfeiern für die ermordeten... Weizsäcker: ... Zwar könne niemand im Ernst glauben, daß durch die doppelte Staatsbürgerschaft ein Rechtsextremist bekehrt werden könne. Aber es gehe darum, der großen Verunsicherung und Zukunftssorge der Türken im Lande zu begegnen, sagte Weizsäcker. "Sie leben unter den Regeln des deutschen Staates, aber ohne darauf, wie andere Bürger, Einfluß zu haben. Soll das immer so bleiben?", fragte der Bundespräsident. "Für ihr Selbstbewußtsein und ihr ganzes Lebensgefühl hat es ein elementares Gewicht, wie sich ihre staatsbürgerliche Stellung entwickeln wird und ob sie eines Tages endlich die Empfindung loswerden können, mitarbeitende Bürger zweiter Klasse zu sein", sagte Weizsäcker. Nicht abstrakte Theorien schafften Heimat, sondern das Leben. Weiter sagte Weizsäcker, "Wir möchten, daß Sie, die Sie aus Ihrer Heimat zu uns gekommen sind, sich bei uns, wenn Sie es wollen, zu Hause fühlen können, als unsere wahren Mitbürger." Die Morde von Mölln und Solingen seien nicht vereinzelte Untaten, sondern entstammten einem rechtsextremistisch erzeugten Klima, sagte Weizsäcker. Die rechtsextreme Gewalt habe zugenommen. Dies sei ein "anarchischer Terrorismus", der sich wehrlose Opfer suche, "um den demokratischen Staat zu treffen".

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SZ 15.07.93 (14) "Gefängnis!" rufen Erzürnte bei Solidaritätskundgebungen für OM. Fast täglich polemisieren Montgolfier und Beffy auf der einen, Tapie und seine Getreuen auf der anderen Seite in den Medien. Durch maßlose Beschuldigungen provoziert der OM-Präsident die Justiz zu immer neuen Stellungnahmen. In seinem jüngsten Interview mit der Wochenzeitung VSD behauptet Tapie, das Vorgehen der Justiz erinnere ihn "an die Juden-Razzien während des Krieges", und an "die Methoden der Gestapo". Auf die Journalisten ist er so wütend, daß er letzte Woche sein Auto auf einen Kameramann des Fernsehsenders Antenne 2 zusteuerte. Der Reporter sprang zur Seite - und Tapie beschädigte sein Auto. Grund nervös zu sein, besteht für ihn genug. Bei Christian Robert fand Beffy während einer Haussuchung eine von Tapies persönlichen Telephonnummern. Zusammen mit einem anderen der bestochenen Spieler, dem Argentinier Jorge

SZ 29.09.92 (16) Kohl nennt Brandstiftung in KZ-Gedenkstätte Terror BONN (AP) - Bundeskanzler Helmut Kohl hat den Brandanschlag auf die jüdische Baracke des früheren Konzentrationslagers Sachsenhausen nördlich von Berlin schärfstens verurteil. Kohl sagte am Montag in Bonn, der Brand müsse jeden aufrütteln, dem die freiheitliche Demokratie am Herzen liege. "Diese Brandstiftung und die immer wieder aufflammende Gewalt gegen Asylbewerber in Deutschland sind Formen des Terrors, die den Gewalttätigkeiten linksextremistischer Mörderbanden in nichts nachstehen". Extremistische Gewalttäter könnten nur dadurch abgeschreckt werden, daß sie unnachsichtig verfolgt würden und die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekämen, erklärte der Kanzler. (Seite 2) RP 14.10.92(17) "Rechte Gewalttäter sind keine Terroristen" DÜSSELDORF. Der frühere Generalbundesanwalt Rebmann will im Zusammenhang mit den Gewalttaten gegen Ausländer nicht von "Rechtsterrorismus" sprechen. Im RP-Gespräch lehnte er eine Gleichsetzung mit dem Terror der RAF ab. (Seite 2)

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RP 31.08.93 (18) Steffen Heitmann aussichtsreichster Kandidat für WeizsäckerNachfolge "Hochintelligent und gebildet, sehr effizient und konservativ" Von Reinhold Michels DÜSSELDORF. Im Zimmer des sächsischen Justizministers Steffen Heitmann steht ein Bronzekopf des Dichters und Juristen E.T.A. Hoffmann, modelliert von der Bildhauerin Christine Heitmann, mit der der CDU-Politiker seit 1965 verheiratet ist und zwei Kinder hat. Es ist möglich, daß der Kopf des romantischen Poeten ab 1. Juli 1994 in der Bonner Villa Hammerschmidt oder im Berliner Schloß Bellevue einen neuen Platz hat. An diesem Tag wird der siebte Bundespräsident sein Amt antreten, und der Dresdner Heitmann, ein glühender Verehrer seiner Vaterstadt, ist nach wie vor der aussichtsreichste Kandidat als Weizsäcker-Nachfolger. Nicht nur politische Widersacher, sondern auch vereinzelt Parteifreunde melden Bedenken an, der Dresdner Justizminister sei zu konservativ, wenn er sich etwa über die Rolle der Frau oder den Zuzug von Ausländern auslasse. Ungeniert hat er das Wort "Überfremdung" mit warnendem Unterton in den Mund genommen und manche Frauen mit offenem Bekenntnis zur Mütterlichkeit geärgert. Als ausdrücklich falsch werden in Sachsen Meldungen bezeichnet, wonach Heitmann die Frau ins Heim und an den Herd wünsche. Richtig sei aber, daß er entschieden die Unterschiedlichkeit der Geschlechter und das damit verbundene jeweilige Rollenverständnis verfechte. Später war er maßgeblich beteiligt an der Stasi-Auflösung im Bezirk Dresden. Sein großes Thema als Landesjustizminister im Osten war und ist der Aufbau einer intakten, unabhängigen Justiz und das Schärfen des Bewußtseins seiner SED-geschädigten Mitbürger für den Rechtsstaat und dessen manchmal quälende Prozesse. Er selbst hat unter dem alten Regime nicht mehr gelitten als andere Ostdeutsche auch. Der Theologe und spätere Pfarrer, der sich von der Kirche zum Juristen ausbilden ließ, ist an der Wehrpflicht gerade noch vorbeigekommen, weil er für den Grundwehrdienst zu alt war. Dafür, daß er Reserveübungen und den Dienst an der Waffe verweigerte, wurde er nicht eingesperrt. Seine Treue galt Dresden... SZ 24.09.93 (19) Streit um Wanzeneinsatz. CSU besteht darauf SPD weiter uneins. MÜNCHEN (Dpa) - Die CSU besteht auf dem Einsatz von Wanzen in privaten Wohnungen zur Bekämpfung organisierter Verbrechen! Die bayerische SPD ist dagegen in dieser Frage uneins. Während SPD-Landeschefin Renate Schmidt Abhöraktionen nicht völlig ausschließen will... 64

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SZ 13.09.93 (20) Nr. 211 / Seite 5 Streit um Lauschangriff setzt FDP unter Druck BONN (Reuter) - Nach der Annäherung von SPD und Union im Streit um den großen Lauschangriff gerät die FDP zunehmend unter Druck. BadenWürttembergs Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) forderte am Wochenende, die Erweiterung der Abhörmöglichkeiten in ... RP 09.09.93 (21) Lauschangriff erregt Gemüter BONN. (dpa). Der Streit um den sogenannten Großen Lauschangriff geht weiter. Auch nach der Zustimmung des SPD-Präsidiums zum elektronischen Abhören von Privaträumen in begrenzten Ausnahmefällen lehnen FDP, Teile der SPD und Datenschützer dies weiterhin ab. Der FDP-Rechtsexperte Hirsch kündigte gestern Verfassungsklage für den Fall an, daß der "Große Lauschangriff' vom Bundestag beschlossen wird. SZ 26.08.93 (22) Ein hellhöriger Staatssekretär MÜNCHEN (BI) - Sprachregelungen bringen wir im allgemeinen mit totalitären Systemen in Verbindung. Um so überraschender liest sich daher eine Pressemitteilung aus dem bayerischen Justizministerium, mit der die Öffentlichkeit auf "ein besonderes Anliegen" des Staatssekretärs Gerhard Merkl aufmerksam gemacht werden soll. Der möchte nämlich den "Großen Lauschangriff' abschaffen, bevor er überhaupt abgesegnet ist. Er findet nämlich, daß der "Einsatz optischer und akustischer Mittel zur elektronischen Raumüberwachung", also die "verdeckte Informationsgewinnung" zur "Bekämpfung organisierter Kriminalität", nicht länger mit "falschen Schlagworten diffamiert" werden dürfe, die "unpräzise und sachlich unangemessen sind". Präziser und sachlich angemessener findet der Staatssekretär den Begriff "Hellhören", der künftig den "Großen Lauschangriff' zum Ohrenschmaus machen soll. Da kann man nur sagen: Alles mal weghören ... RP 10.04.92 (23) Scharfe Kritik an Waigels "Sozialumbau" BONN (dpa). Der Vorschlag von Bundesfinanzminister Waigel (CSU), durch einen "Sozialumbau" neue Leistungen zu finanzieren, ist gestern von der SPD und dem Verband der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Sozialrentner Deutschland (VdK) zurückgewiesen worden. Waigel hatte im ZDF angekündigt, zur Entlastung der öffentlichen Haushalte und für den Aufbau Ost sollten bisherige Sozialleistungen gekürzt werden, falls neue in Kraft 65

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treten. Außerdem kündigte der Minister an, er halte an der zweiten Stufe der Unternehmenssteuerreform 1994 oder 1995 fest. Waigel verlangte ferner einen Verzicht auf reale Lohnzuwächse für die kommenden zwei, drei Jahre und forderte den Verzicht auf die Expo 2000 in Hannover sowie Nachdenken über die Olympischen Spiele im Jahr 2000 in Berlin (Politische Umschau). RP 09.09.93 (24) Generalaussprache in der Haushaltsdebatte SPD: Einheit dient als Vorwand für Sozialabbau BONN (dpa/ap). Der SPD-Vorsitzende Scharping hat der Bundesregierung vorgeworfen, die deutsche Einheit als Vorwand für die Kürzung von Sozialleistungen zu benutzen. Am zweiten Tag der Haushaltsdebatte im Bundestag wurde deutlich, daß zwischen Regierung und Opposition die trennenden Gräben in den Kernpunkten deutscher Politik bestehen bleiben. Unterschiedliche Auffassungen auch über die Pflegeversicherung, den Wirtschaftsstandort Deutschland und Bundeswehreinsätze kennzeichneten das Rededuell zwischen Bundeskanzler Kohl und Scharping, der erstmals als SPD-Chef in der Haushaltsdebatte das Wort ergriff. SZ 26.08.93 (25) Sozialstaatssekretärin Stamm verbreitet Optimismus Frauen sind keine stille Reserve Ruf nach flexibleren Arbeitszeiten und mehr Teilzeitstellen Von Martin Meggle MÜNCHEN - Damit Frauen nicht zu Hauptleidtragenden der Rezession werden, fordert Sozialstaatssekretärin Barbara Stamm eine stärkere betriebliche und individuelle Flexibilisierung der Arbeitszeit. Bei einer Pressekonferenz in München zum Thema "Frauen und Arbeitsmarkt" betonte Stamm erneut, daß Frauen keine "industrielle Reservearmee" seien, sie "dringen in immer mehr einstige Domänen der Männer ein, holen auf und ziehen mit ihnen gleich", sagte die Staatssekretärin. Das sei unter anderem auf die verbesserte berufliche Qualifikation der Frauen zurückzuführen: Die Zahl der erwerbstätigen Frauen mit Hochschulabschluß hat sich in den letzten zehn Jahren fast verdreifacht, die Zahl der Frauen mit einer abgeschlossenen Fach- oder Fachhochschulausbildung hat sich sogar um 140 Prozent erhöht, teilte Stamm mit. Gleichzeitig wies die Staatsekretärin auf den positiven Trend bei Teilzeitstellen hin: Seit Ende der 70er Jahre habe sich die Zahl der teilzeitbeschäftigten Frauen verdoppelt. Obwohl die Frauen, wie sie sagt, "zuversichtlich und selbstbewußt" in die Zukunft schauen können, müsse einiges getan werden, um deren Position auf dem Arbeitsmarkt zu festigen. Kritisch würdigte Stamm die Politik von Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP), der "am liebsten die ganze Familienpolitik und die Geburtenprämie abschaffen würde". Das Grundgesetz 66

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stelle die Ehe ausdrücklich unter Schutz; das bedeute, daß die berufliche Wiedereingliederung von Frauen nach der Schwangerschaft gewährleistet sein müsse, und "Doppelverdiener" nicht als erste gefeuert werden dürften. Darüber hinaus ist die Staatssekretärin jedoch überzeugt, daß wirtschaftliche Maßnahmen Priorität haben müssen, denn Wettbewerbssicherung durch Kostensenkung beziehungsweise Produktivitätssteigerung bedeute auch Sicherung von Arbeitsplätzen für Männer wie für Frauen. Sie versicherte, sie werde sich im Bundesrat für die Abschaffung des Nachtarbeitsverbots für Frauen stark machen. Nur so gelinge es, überkommene Rollenzuweisungen für Mädchen und Frauen abzubauen.

Was verdeutlichen uns die Texte aus den Jahren 1989 bis 1993? Am auffälligsten ist sicher auch Ihnen, daß die eheähnlichen Partnerschaften sowohl von der konservativen Rheinischen Post wie auch von der Süddeutschen Zeitung mit der alten Öffentlichkeitsvokabel "wilde Ehe" bezeichnet werden, allerdings mit distanzanzeigenden Anführungsstrichen, die die historische Ferne anzeigen und zugleich durch die Distanzierungsstriche die implizite negative Bewertung relativieren. Zugleich belegt aber diese Schreibpraxis, daß noch keine allgemein anerkannte neue Institution mit neutraler Bezeichnung existiert. Der Beleg von 1989 verdeutlicht, daß steuerrechtlich "eheähnliche Lebensgemeinschaften" - falls sie ein gemeinsames Kind haben - in bestimmten Fällen bereits mit Normal-Ehen gleichgestellt werden. Der Beleg von 1992 thematisiert und dokumentiert zahlenorientiert den gesellschaftlichen Wandel der grundlegenden Lebensform des partnerschaftlichen Zusammenlebens. Der Beleg von 1993 schließlich zeigt, wie weit inzwischen die Gleichstellung von Ehe und "eheähnlicher Gemeinschaft" gediehen ist bzw. diskutiert wird (wenn auch das Gericht auf Nicht-Anerkennung urteilt). Der Bericht des Chefredakteurs der RP vom 17.09.92 über die juristische Diskussion und das Nachhinken des öffentlichen Bewußtseins hinter dem geltenden Recht bezüglich der Unterscheidung von ehelichen und unehelichen Kindern thematisiert den Zusammenhang zwischen Kindschaftsrecht und Eherecht und stellt die Entwicklung in Deutschland in einen internationalen Zusammenhang. Wie stark der Ehebegriff heute zur Diskussion steht, geht auch daraus hervor, daß der im GG Artikel 6 noch als fraglos unterstellte Terminus Ehe gegenwärtig von der Verfassungskommission neu definiert werden soll als "auf Dauer angelegte Gemeinschaft heterosexueller Partner" (Nachrichtenbericht Sommer 1993 über einen Vorschlag der Bundesjustizministerin Leuthäuser-Schnarrenberger). Damit wird deutlich, wie sich seit 1945 in zwei Phasen die moralische und rechtliche Diskriminierung von nicht verheirateten Paaren zur Fast-Anerkennung gewandelt hat und somit moralisch und juristisch neutrale Vokabeln wie eheähnliche

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Gemeinschaft mit der alten - nur noch zitierten - Verurteilungsvokabel wilde Ehe im öffentlichen Sprachgebrauch konkurrieren. Die Veränderung der partnerschaftlichen Lebensform geht einher mit auffälligen sprachlichen Veränderungen. Der öffentliche Wortschatz wird so erkennbar als Teil der Lebensform im Wittgensteinschen Sinne: als Symptom und Ausdruck ζ. B. der ehemaligen gesellschaftlichen Verurteilung oder der aktuellen gesellschaftlichen Duldung bzw. Anerkennung einer bestimmten Lebenspraxis; zugleich ist der Sprachgebrauch selbst Faktor der Lebenspraxis, indem er die positive oder negative gesellschaftliche Interpretation und Beurteilung einer bestimmten Lebenspraxis weiter transportiert, d.h. implizit zu ihrer Nachahmung oder zur Distanzierung von ihr auffordert. Meine zweite Textpräsentation belegt einen ähnlich deutlichen Wandel bzw. eine ähnlich deutliche Infragestellung wesentlicher Merkmale des traditionellen Ehebegriffs wie die bis jetzt analysierte Suspendierung des traditionellen Vertragscharakters mit allen versorgungsrechtlichen, kinderrechtlichen und namensrechtlichen Konsequenzen. Allerdings hat diese zweite Diskussion erst in der Gegenwart ihre heiße Phase erreicht und sie setzt auch nicht schon nach 1945 ein - wie die Vertragscharakterdiskussion z.B. mit den sog. Onkel-Ehen. Diese zweite Diskussion betrifft das wesentliche Merkmal der Heterosexualität der Ehepartner. Daß diese Entwicklung nicht nur auf Deutschland beschränkt ist, demonstriert mein Beleg vom August dieses Jahres aus der Süddeutschen Zeitung mit einer Meldung der Agence France Presse aus Paris mit dem Titel "Homosexuelle Paare von der Versicherung anerkannt". Daß das wesentliche Merkmal der Heterosexualität viel später thematisiert und in Frage gestellt wird als das Merkmal des traditionellen Vertragscharakters der Ehe hängt damit zusammen, daß der gesellschaftliche Wertewandel der Sexual- und Partnerschaftsethik bezüglich homosexueller Partner, d.h. bezüglich sog. abnormaler Sexualität eben später einsetzte. Die Sexualethik der 50er Jahre, vielfach als "Prüderie der Adenauer-Ära" zitiert, tabuisierte vor- und außereheliche sexuelle Beziehungen und teilte sexuelle Praktiken in "normal" und "abnormal" (vgl. Der Spiegel, 29.11.1950, Nr. 48, S. 7). Jede Form der "Unzucht" versuchte man mit Hilfe des Strafrechts zu unterdrücken. Die sexualrepressive Ethik und die Tabuisierung sexueller Themenbereiche verhinderten eine öffentliche Diskussion und damit auch die Entwicklung eines angemessenen Sprachgebrauchs. Euphemisierungen und verlegene Andeutungen werden stattdessen zu Platzhaltern für Unaussprechliches. "Drei Burschen wegen Erpressung gegenüber Männern verhaftet. Geschädigte werden gebeten, sich vertrauensvoll an die Polizei zu wenden" (so die Rheinische Post vom 07.05.1953). Die Ausdrucksweise läßt auf die Homosexualität der "Burschen" und der "Geschädigten" schließen. Die Pönalisierung und strafrechtliche Verfolgung der männlichen Homosexualität findet auf sprachlicher Ebene durch stigmatisierendes Vokabular seine Fortsetzung. Es dominieren Ausdrücke des medizinisch-biologischen Sprachbereichs sowie von sittlich-ethischem Empfinden motivierte Negativ-Vokabeln. Männliche Homosexualität wird als "gleichgeschlechtliche Unzucht" (so die Meldung der Katholischen Nachrichtenagentur, Nr. 111, 11. Mai 1957) oder als "seelische Verirrung" (vgl. Der 68

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Spiegel, 13.12.1950, S. 41) bezeichnet. Homosexuelle Männer werden in Anspielung auf den Strafrechtsparagraphen 175 "175er" genannt (vgl. Der Spiegel, 06.07. 1950, Nr. 27, S. 10) und gelten als "abseitig veranlagte Menschen", die "krank" seien (vgl. Der Spiegel, 10.7.1957, Nr. 28, S. 8). Homosexuelle Männer werden auch als "Invertierte" oder "Homoeroten" bezeichnet (vgl. Der Spiegel, 08.09.1949, Nr. 38, S. 8). In Leserbriefen beschreiben homosexuelle Männer ihr Empfinden als "Krankheit", als "Anderssein" und drücken ihren Wunsch aus, "ein normaler Mensch" zu sein (vgl. Der Spiegel, 27.10.1949, Nr. 44, S. 38). Homosexualität als sogenannte "Krankheit" bildet eine Konstante der Status-quoMoral, die von Homosexuellen internalisiert werden mußte, wenn sie den öffentlichen Diskurs suchten. 1949 wird in einem Spiegel-Artikel unter der Überschrift "Gemacht wird's ja doch - In lila Nächten" die strafrechtliche Verfolgung der männlichen Homosexualität hinterfragt. Ein Leser kritisiert die Verwendungsweise des Ausdrucks "in lila Nächten" als Inbegriff von "Halbseide, Verweichlichung und Weibischkeit" (vgl. Der Spiegel, 27.10.1949, Nr. 44, S. 38). Homosexualität wird sogar als nationenspezifisch etikettiert; sie gilt zum Beispiel als die "in der ganzen Welt berüchtigte ... deutsche Krankheit" (vgl. Der Spiegel, 06.07.1950, Nr. 27, S. 10, zitiert wird die Schriftstellerin Ada Baronin von Böselager, die angeblich Adenauer brieflich mitgeteilt hatte: "Die in der ganzen Welt berüchtigte und so betitelte 'Deutsche Krankheit' sollte man noch mehr bestrafen und dem amerikanischem Beispiel folgen, daß alle im Ruf der Homosexualität stehenden Regierungsbeamten entlassen werden."). Andererseits wird der sogenannte "Pansy" als eine typische "Gestalt" der englischen Gesellschaft bezeichnet (vgl. Der Spiegel, 03.12.1958, Nr. 49, S. 57/58: "Auf dem Kontinent gilt sie geradezu als typisches englisches Laster, während man auf der Insel meint, sie sei eine deutsche Unart. Jedenfalls ist der sogenannte 'Pansy' (zu deutsch: Stiefmütterchen) im Londoner Theaterleben, unter Schriftstellern und Künstlern eine vielbeachtete, sehr einflußreiche Gestalt."). Reformversuche hinsichtlich einer gesellschaftlichen Akzeptanz der Homosexualität konnten sich in der Nachkriegszeit und in den 50er Jahren nicht durchsetzen. Die Gründung eines männlichen "Freundschaftsbundes" wurde 1949 verboten; eine Verfassungsbeschwerde gegen den Paragraphen 175 wurde 1957 zurückgewiesen. Der Kläger hatte geltend gemacht, daß die Paragraphen 175/175a nationalsozialistisches Gedankengut enthielten, da sie in ihrer aktuellen Fassung auf Grund des sogenannten Ermächtigungsgesetzes von 1933 erlassen wurden. Die Untersuchungen des amerikanischen Sexualwissenschaftlers Alfred Kinsey, die im typischen 50er Jahre-Vokabular als "eine Atombombe für Sitte und Moral" markiert wurden, ermöglichten erste Ansätze öffentlicher Thematisierungen von Sexualität und Partnerschaft. Die repressive Funktion stereotypischer Antinomien wie "natürlich" und "unnatürlich" oder "normal" und "anormal" wurde kritisiert (vgl. Der Spiegel, 03.08. 1950, Nr. 31, S. 24,27). Die Ausdrücke "Sexus" oder "sexuelles Benehmen" werden synonym für eine Form der Sexualität verwendet, die mehr als ein Mittel der Fortpflanzung war (vgl. Der Spiegel, 03.08.1950, Nr. 31, S. 24ff.). 69

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Noch Mitte der 60er Jahre ist Homosexualität weiterhin geächtet und wird strafrechtlich verfolgt, trotz zunehmender Kritik am Paragraphen 175. Generell klammert der Ausdruck "Homosexualität" die weibliche Homosexualität aus, die nicht strafbar war, aber als "Unzucht" galt. Weibliche Homosexualität wird auch in der seriösen Berichterstattung vorwiegend mit der umgangssprachlichen Formulierung "lesbische Liebe" umschrieben; homosexuelle Frauen werden als sogenannte "Lesben" oder "Lesbierinnen" bezeichnet (vgl. Der Spiegel, 04.12.1967, Nr. 50, S. 124). Im Gegensatz dazu wird für männliche Homosexualität - trotz der Kriminalisierung - der umgangssprachliche Ausdruck schwul gemieden (vgl. SCHWARZER, Alice, in: DANNECKER, M. u.a. (Hg.), Sexualpolitische Kontroversen, Stuttgart, 1987, S. 55). Homosexualität bleibt auch in den folgenden Jahrzehnten der Quasi-Terminus für männliche Homosexualität. Im Zuge der Diskussion einer Strafrechtsreform 1964 argumentieren Ärzte, Gegner einer Legalisierung der Homosexualität, mit nazistischem, biologistischem Vokabular: "Abartiger Geschlechtstrieb hat biologisch keine Existenzberechtigung und merzt sich selbst aus ... Der Selbstmord in sexuell ausweglos erscheinender Notlage bei homophilen Versagern ist letztlich von der Natur aus entelechisch, zweckdienlich, als wirksamste Ausmerze, auch dann, wenn man den Selbstmord aus religiösen Gründen nicht billigen kann". Männliche Prostituierte, "Strichjungen" werden als "minderwertige Elemente" bezeichnet (vgl. Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 07.08.1964). Transvestiten und homosexuelle Männer werden auch dem sogenannten "dritten Geschlecht" zugeordnet (vgl. Der Spiegel, 19.08.1964, Nr. 34: Die Anzahl homosexueller Männer und Transvestiten wird in Berlin besonders hochgeschätzt. Wegen der "Tanzerlaubnis für Männerpaare" sei es zu einer "Invasion homoerotischer Jünglinge in die deutsche Frontstadt" gekommen.). Die ab Mitte der 60er Jahre zu beobachtende Thematisierung der Sex-Welle erreicht gegen Ende der 60er Jahre ihren Höhepunkt. Diese Entwicklung, die nach der gewohnten Praxis der Tabuisierung, den größten Teil der Gesellschaft noch überfordert haben dürfte, wird auch als "Sexpansion" oder als "Sexplosion" bezeichnet (vgl. Der Spiegel, 03.07.1963, Nr. 27, S. 38). 1969 mündet der beginnende Bewußtseinswandel unter anderem in die Reform des Sexualstrafrechts. Die einfache männliche Homosexualität wurde nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Als Straftatbestände entfielen außerdem der Ehebruch, die Unzucht mit Tieren sowie die Erschleichung außerehelichen Beischlafs. In der Berichterstattung über männliche Homosexuelle werden einige Vokabeln der Homosexuellen-Szene verwendet, zum Beispiel "Homo-Treff 1 , "Homo-Bar", "Klappen" und "Sub-Kultur" (vgl. Der Spiegel, 26.08.1968, Nr. 35). Die Eigenattribuierung "schwul" wird noch in Anführungszeichen gesetzt, um sich von der beleidigenden Verwendungsweise zu distanzieren (vgl. Der Spiegel, 12.05.1969, Nr. 20).

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In den 70er Jahren wird der Terminus "Sex-Welle", der Aufklärung und Kommerzialisierung verquickte, zunehmend pejorisierend verwendet. Die Abwertung der Termini "Sex" und "Sex-Welle" wird durch die Zunahme erotisch-pornographischer Darstellungen in Presse, Film und Theater intensiviert. "Sex-Welle" und Pornographie werden in der Berichterstattung nicht mehr differenziert. "Die Sex- und Pornowelle ist ein heikles Thema, über das heute in der Bundesrepublik die Menschen leicht in Streit geraten können" (Rheinische Post, 01.12. 1970). Der Spiegel kritisiert die "Sex-Film-Welle" und verwendet dafür auch den Ausdruck "Porno-Welle" (Der Spiegel, 19.08.1968, Nr. 34, S. 161). Andere stigmatisierende Ausdrücke für die Produkte kommerzieller Erotik sind "Bordellblätter", "Schweinezeitungen", "Porno-Presse". In Frankreich symbolisierte das Musical Hair die "schlimmsten Auswüchse" der französischen "Sex-Schwemme", die auch als "erotische Aggression" oder "pornographischer Terror" bezeichnet werden (vgl. Der Spiegel, 09.02.1970, Nr. 6). Im Zuge der Liberalisierungen des Paragraphen 175, 1969 und 1973, leiten gesellschaftliche Aktivitäten der männlichen Homosexuellen die beginnende Emanzipation der männlichen Homosexualität ein. Volkmar Sigusch, der 1972 Deutschlands Ärzte ermahnt, ihre Rolle "als Hüter und Dienstmänner der amtierenden Sexualideologie aufzugeben", kritisiert Ausdrucksweisen wie "normal", "krank" und "schädlich" (vgl. Der Spiegel, 22.05.1972, Nr. 22, S. 54). In der kritisch-aufklärerischen Berichterstattung der Medien wird die Antinomie von Homosexualität und "normaler" Sexualität zum Teil überwunden. Im Zuge dieser Liberalisierungstendenzen werden die Attribuierungen "homosexuell" und "schwul", als Eigenbezeichnung männlicher Homosexueller, thematisiert. Die Zeitung Die Welt verwendet "szenemäßige" Ausdrücke wie "Schwulenkneipe", "Gay-Pride-Parade" oder "Subkultur", die noch mit Anführungsstrichen markiert werden (vgl. Die Welt, 25.07.1979). Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung verwendet bereits den Ausdruck "Schwule" ohne distanzierende Anführungsstriche und übernimmt die Eigenbezeichnung der männlichen Homosexuellen ohne negative Konnotation (vgl. WAZ, 25.07. 1979). Indiz für die Tabuisierung verschiedener sexueller Identitäten sind in den 80er Jahren konfligierende Strategien bezüglich der Bezeichnung homosexueller Männer (vgl. Der Spiegel, 02.07.1984: "Ein Kampfwort wird da geprägt für die eigentlich namenlose Liebe, die zwar lange Sodomie oder Päderastie genannt wurde und etwa zur gleichen Zeit den heute geläufigen, medizinisch und nach Krankheit klingenden Namen 'Homosexualität' verpaßt bekam, für die es aber (bis heute) keinen nichtdiskriminierenden oder nicht-kämpferischen Begriff gibt"). Während die linksliberale Presse häufig die Ausdrücke "schwul" und "Schwule" verwendet, die die Schwulengruppen seit den 70er Jahren im Sinne einer positiven Eigenschaft gebrauchen, vermeidet die konservativere Berichterstattung diese Vokabel. Im November 1988 wird der Antrag der Grünen-Fraktion im Bundestag, ein "Schwulen- und Lesben-Referat" im Familienministerium einzurichten, abgelehnt 71

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(vgl. Frankfurter Rundschau, 25.11.1988, Titel: "Das Wort 'schwul' bleibt pfui"). Ausschlaggebend ist - das zeigt mein Beleg - die Wortwahl der Grünen, denn die Ausdrücke "Schwule" und "Lesben" dürfen in Anträgen des Deutschen Bundestages nicht auftauchen. Im vorhergehenden Streit der Bundestagsfraktionen hatte der CSUAbgeordnete Fritz Wittmann sich über eine "Verwilderung der Sprachkultur" beschwert und die Ausdrücke "Schwule" und "Lesben" als "unwürdige", der "Gosse zugehörige" Vokabeln charakterisiert (vgl. Frankfurter Rundschau, 24.11.1988). Obwohl homosexuelle Frauen und Männer in den 80er Jahren gegen das ihnen auferlegte Verbot der Eheschließung protestieren, bleibt die Ehe unumstrittenes Privileg der heterosexuellen Beziehungen, denn "es gehöre zum unantastbaren Kern des Begriffs Ehe, daß nur Partner unterschiedlichen Geschlechts heiraten dürfen" (Der Spiegel, 28.03.1983 zitiert Willutzki, Familienrichter und stellvertretender Vorsitzender des deutschen Familiengerichtstages). Die Termini "lesbische" oder "homosexuelle Lebensgemeinschaft" bzw. "gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft" signalisieren jedoch die Aufwertung dieser Beziehungen zumindest als Alternative zu den eheähnlichen Lebensgemeinschaften (vgl. FR, 05.05.1983 und NRZ, 11.04.1988). Meine kopierten Belege veranschaulichen Ihnen erstens, daß Ausdrücke wie Schwule und Lesben, obgleich sie von den öffentlichen wirksamen Gruppen als Selbstbezeichnungen verwendet werden, noch 1989 als Sprachgebrauch des Bundestages abgelehnt werden, die Belege veranschaulichen aber auch die Sensibilität der Presse - hier der Frankfurter Rundschau für solche sprachindizierten Wandlungen der Lebensformen. Im Juni 1993 allerdings berichten die Fernsehnachrichten (ZDF, HEUTE-Sendung am 26.06.93, 19,00 Uhr) über den - so wörtlich - "Marsch der Lesben und Schwulen" in Berlin und deren Forderung nach juristisch "eingetragener Partnerschaft". Auch wenn es eine Art Zitat der Veranstaltungsbezeichnung ist, bleibt festzuhalten, daß im Nachrichtentext einer öffentlich rechtlichen Sendeanstalt vier Jahre nach der Ablehnung für Bundestagstexte die Bezeichnung "Lesben" und "Schwule" ohne Distanzierungsindikatoren vermittelt werden. Die vier weiteren Belege stammen alle aus dem Jahr 1993 und zeigen, welche Widerstände homosexuelle Paare überwinden wollen und wie die inzwischen stillschweigend geduldeten homosexuellen Partnerschaften - ähnlich wie die sog. OnkelEhen der frühen Nachkriegszeit - bekämpft werden. Der Beleg vom 27.04.93 verdeutlicht, daß neben der Anerkennung homosexueller Paare in Zivilehe-ähnlicher Form von "feministischen Theologinnen" sogar der Segen der Kirche beansprucht wird, - sozusagen als Anerkennung auch der homosexuellen Veranlagung als Gottesgabe. Der Beleg verdeutlicht zugleich aber, wie die Repräsentantinnen solcher Theorien und Lebensformen von den "konservativen Evangelikaien" bekämpft werden, - nämlich mit der Forderung nach Ämterentzug. Die letzten drei Belege betreffen Bemühungen um die juristische Anerkennung von "Ehen unter Homosexuellen" und demonstrieren, wie jetzt selbst die historischen Argumentationen des Kanonischen Rechts und das Argument der Verträg-

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lichkeit solcher Ablehnung mit dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes (Art. 3,2) der Öffentlichkeit vermittelt werden. Den Abschluß bilden Belege über das in Deutschland prototypisch für die Anerkennung lesbischer Ehen kämpfenden Lesbenpaar: die bekannte Fernsehmoderatorin Hella Kemper mit dem beziehungsreich anmutenden Künstlernamen Hella von Sinnen und die Tochter Cornelia des ehemaligen Bundespräsidenten Walther Scheel. Hier wird deudich, wie die sozialen Tatsachen der Sitten, Gebräuche, Moraltraditionen wie auch die des Sprachgebrauchs, d.h. ζ. B. der öffentlichen und juristischen Begriffe prinzipiell arbiträr sind und in dynamischen öffentlich-gesellschaftlichen und juristischen - letztlich "rechtsschöpfenden" - Prozessen dauernden Veränderungen offenstehen. Die Waagschalen von Beharrung und Veränderung werden dauernd gefüllt in öffentlichen Diskussionen, wobei jede Partei ihre Interessen und Argumente bei der öffentlichen Begriffskonstitution in die Waagschale wirft (eine schöne Syllepse!). Insofern plädieren die Kölner Richter (RP 16.07.93) allein für Beharrung auf dem status quo, wenn sie sagen, die "gleichgeschlechtliche Ehe [...] entspreche nicht dem 'Begriffsverständnis' der Ehe des Grundgesetzes und des Bürgerlichen Gesetzbuches". Es ist ja gerade das Wesen von gesellschaftlichen Wertorientierungsdiskussionen, daß grundlegende Begriffe, d.h. bisher grundlegendes Weltverständnis zur Disposition gestellt wird, - wie etwa der Begriff "Leben", der in der Diskussion über den § 218 von einer der Parteien extensional ausgeweitet werden soll vom bisherigen Bereich des "geborenen Lebens" auf den Bereich des "ungeborenen Lebens", so daß auch "ungeborenes Leben" bzw. "keimendes Leben" unter dem Begriff "Leben" subsumiert wird und die menschliche Leibesfrucht ab der Nidation durch das "Recht auf Leben" nach GG Art. 2, Abs. 2 vor Abtreibung geschützt ist. Offensichtlich stehen also grundlegende Werte in Deutschland zur Diskussion und Disposition, wenn das Bundesverfassungsgericht rechtsschöpfend Lebens- und Ehebegriff festlegen soll. Sie haben selbst feststellen können, wie zeitaufwendig eine noch so skizzenhafte historische Vertiefung eines Themensektors ist, der in der Gegenwart auffällige Indikatoren gesellschaftlichen Wandels in der Sprache präsentiert. Die folgenden Hinweise auf weitere derartige Themensektoren mit noch größeren zeitgeschichtlichen Sprüngen dienen vielleicht als Anreiz zur Lektüre unserer Publikation bzw. vielleicht auch als Anreiz zu Beobachtungen, die Sie selbst auch im Französischen machen könnten. Auffällig und eine Folge der Bemühungen um ein "gemeinsames Europa" ist ja, daß allmählich eine öffentliche (Presse-)Sensibilität entsteht, die die gegenseitige massenmediale Wahrnehmung der europäischen Nachbarn ermöglicht und z.T. die Tradition alter nationaler Vorurteile und Feindbilder abbaut. Diese gegenseitige Wahrnehmung artikuliert sich z.B. dann, wenn zwei Nachbarstaaten ähnliche Probleme haben und wenn bezüglich der fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Deutschland und der Einwanderungsprobleme darauf hingewiesen wird, daß auch in Frankreich Einwanderungsvorgänge, die früher als "Immigration" bezeichnet wurden, nunmehr von einem Teil der Presse und von einer bestimmten Partei als "Invasion" bzw. "Okkupation" bezeichnet und somit abgelehnt (RP 11.02.92) werden. Solche 73

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gegenseitige Wahrnehmung von Nachbarn wird darüber hinaus in der (deutschen) Presse artikuliert, wenn gemeinsame Aktionen die Kooperations- und Kompromißbereitschaft herausfordern (z.B. Golfkrieg und GATT-Verhandlungen) und wenn große Ereignisse in einem Nachbarland in der heimischen Presse je nach politischer Richtung des Massenmediums gebrochen und unterschiedlich bewertet werden (z.B. Kanzler-Wahl oder das Abschneiden bestimmter Parteien bei Wahlen im Nachbarland). Ein solches Ereignis war sicherlich eine Vereinigung von BRD und DDR, die übrigens heute problemlos als Wiedervereinigung bezeichnet wird. Bekanntermaßen war aber in den 80er Jahren und auch 1989 höchst umstritten, ob damals Wieder-Vereinigung gesagt werden dürfe, da das Wieder einerseits bei den östlichen Nachbarn im Frühjahr 1990 wegen Kanzler Kohls Zögern, eine Erklärung zur Endgültigkeit der polnischen Westgrenze abzugeben, Ängste auslöste und andererseits das Wieder insinuierte, BRD-Volk und DDR-Volk seinen ursprünglich eins gewesen und leicht wieder (d.h. ohne Mauer in den Köpfen) zu vereinigen. Diese heute oft selbst von DAAD-Lektoren vergessene Diskussion hat in der Vertragsbenennung zum 3. Oktober eine Spur hinterlassen, insofern das Vertragswerk "Einigungsvertrag" und nicht "Wiedervereinigungsvertrag" genannt wird. Im europäischen Zusammenhang und mit Blick auf Frankreich ist eine Erscheinung im öffentlichen Sprachgebrauch der BRD interessant, die angesichts der Vorund Nachwendevokabeln-Analysen wenig berücksichtigt wurde. Angesicht der 1989 mit der Maueröffnung begonnenen deutschen Vereinigung sahen sich Bundesregierung und Opposition ebenso angstgesättigten wie pauschal diffamierenden Bezeichnungen für den sich abzeichnenden größeren Staat gegenübergestellt, gegen die sich - und das meldeten die deutschen Massenmedien - sowohl Kanzler Kohl wie auch Willy Brandt vehement wandten: ich meine besonders die von europäischen Nachbarn und von Israel verwendeten Bezeichnungen "Großdeutschland" und "Viertes Reich", die implizit Vergleiche mit dem Dritten Reich darstellen, wie etwa auch der Kohl-Hitler-Vergleich von Nicklas Ridley aus dem Thatcher-Kabinett; Ridley formulierte beispielsweise, im Oktober 1989 hätten die Deutschen in einem "Blitzkrieg" (wie weiland im September 1939 die Polen) gar sich selber (d.h. die Ostdeutschen) überfallen. Die französische Verbalreaktionen auf die deutsche Vereinigung haben wir anhand der französischen Tages- und Wochenpresse in der Zeit vom Herbst 1989 bis Herbst 1990 dokumentiert (s. D. DENGEL in SuL 22 (1991), H. 68, S. 86-92). Für den deutschen öffentlichen Sprachgebrauch und in der Beziehung zu Frankreich sind diese Erscheinungen insofern relevant, als es eine in Pressemedien dokumentierte Tradition einer deutsch-französischen Diskussion (bzw. Sensibilisierung) darüber (bzw. dafür) gibt, wie Deutschland oder Teile Deutschlands in Frankreich bezeichnet werden. Diese Fremdbezeichnungen werden im deutschen öffentlichen Sprachgebrauch thematisiert und vom deutschen Selbstverständnis her z.T. abgelehnt. Insofern gehören diese Thematisierungen zum öffentlichen deutschen Sprachgebrauch. Die jüngsten dieser Thematisierungen habe ich in einem Aufsatz des Jahres 1991 (SuL, Heft 67) analysiert. In früheren Aufsätzen hatte ich die schon sofort nach 1945 einsetzende öffentliche Sensibilisierung nachgewiesen gegenüber der Tradition von 74

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sog. Naziwörtern wie Herrenrasse, gegenüber Bezeichnungen von Nazi-Institutionen wie Wehrmacht oder auch der Staatsbezeichnung Reich (die in der französischen Besatzungszone auch in juristischen Texten und Eidesformeln gestrichen wurde), wie auch die nach 1945 einsetzende Tradition der Instrumentalisierung von historischer Erfahrung in sog. Nazi-Vergleichen, in denen z.B. von Gestapo-Methoden, NaziMethoden, neuen KZs usw. die Rede ist. Bei dieser Analyse stellte ich fest, daß in Frankreich bereits bei Einsetzen der Marshallplanhilfe für Westdeutschland und angesichts des Zusammenschlusses der britischen und amerikanischen Zone zur Bizone in der frühen Nachkriegszeit nicht nur immer wieder von der "deutschen Gefahr" die Rede war, sondern auch die deutschen Zeitungen davon berichteten, daß französische Politiker vor der Entstehung eines "Vierten Reiches" warnten. Die Relativierung der Nazi-Verbrechen durch instrumentelle Parallelisierungen mit Erscheinungen nach 1945 hat sowohl in Deutschland wie in Frankreich eine unselige Tradition: in diese Reihe gehören sowohl die Nach-Wende-Belege in Frankreich bezüglich des "Vierten Reiches" wie auch etwa Tapies Vorwurf in der Wochenzeitung VSD im Rahmen der OM-Bestechungsaffäre, das Vorgehen der Justiz erinnere ihn an die "Judenrazzien während des Krieges" und an "die Methoden der Gestapo" (so berichtet die SD am 15.07.93, S.3). Zum Schluß möchte ich Ihnen etwas leichtere Kost verabreichen. Die behandelten Belege liegen nur z.T. im Problemzentrum, z.T. sind sie eher periphere Symptome für bestimmte Problemkreise. Die Problemkreise sind 'Einwanderung' mit der Zentralvokabel Einwanderungsland und der Periphervokabel Mitbürger, der Problemkreis 'Sozialabbau' mit der Periphervokabel Doppelverdiener und der Problemkreis 'Bekämpfung des organisierten Verbrechens' mit der zeitweise brisanten Vokabel großer Lauschangriff. Ich will Ihnen also ein eher unscheinbares und peripheres aber doch wohl charakteristisches Sprachphänomen der Integrations- und Ausländerproblematik, das mit unserer Methode erkennbar ist, hier demonstrieren: nach dem fünffachen Mord von Solingen Ende Mai 1993 wird angesichts der relativ schwachen Rechtsstellung in der politischen Mitwirkung die Bezeichnung Mitbürger als unangebrachter Euphemismus thematisiert und zwar auch vom deutschen Staatsoberhaupt selbst: als Euphemismus, der das Nicht-Bürgerrecht der Ausländer bewußtseinsmäßig zudecken soll, kritisiert von Weizsäcker den rechtlich unverbindlichen Gebrauch des Wortes Mitbürger, wenn er sagt, die Ausländer müßten wahre Mitbürger werden, d.h. rechtlich Gleichberechtigte im echten Wortsinn werden. Die Diskussion bzw. Thematisierung des rechtlichen Status als Bürger ist eng verbunden mit anderen rechtlichen Problemen, besonders dem des politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik als Nicht-"Einwanderungsland" und dem seit der Kaiserzeit 1913 im Einwanderungsgesetz festgeschriebenen "ius sanguinis" statt des sonst - wohl auch in Frankreich praktizierten-Territorialprinzips des "ius solis" (RP, 02.06.93, "Meinung und Bericht"). Um Ihnen zu veranschaulichen, wie diese Problematik sich sprachlich im Meinungsstreit niederschlägt und wie wir in unserer Wortschatzgeschichte die öffentliche Diskussion seit der Nachkriegszeit mit ihren

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Fremd- und Gastarbeitern und ihre Heterogenität zu erfassen versuchen, habe ich Ihnen einige Manuskriptpassagen fotokopiert. Wie hochsensibilisiert Presse und Öffentlichkeit für diesen Problemsektor angesichts der ausländerfeindlichen Gewalt von rechts sind, erkennt man u.a. im Herbst 1992 am titelzeilenfüllenden Streit um die öffentliche Etablierung der Bezeichnung Terror für die Gewalttaten von rechts. Die RP zitiert im Oktober 1992 (14.10.92, S. 1) den ehemaligen Generalbundesanwalt noch mit der Titelzeile: "Rechte Gewalttäter sind keine Terroristen", da Rebmann die Gleichsetzung mit dem Terror der RAF ablehne, während Helmut Kohl genau zwei Wochen vorher mit der Aussage zitiert wird, die "immer wieder aufflammende Gewalt gegen Asylbewerber in Deutschland sind Formen des Terrors, die den Gewalttätigkeiten links-extremistischer Mörderbanden in nichts nachstehen" (Süddeutsche Zeitung 29.09.92, S. 1). Wie umstritten die Selbstinterpretation der Deutschen bzw. Deutschlands gegenüber Fremden und gegenüber der Immigration ist, belegt die Aussage des NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau am 16.06.93 im Bundestag, es sei eine "Lebenslüge" der Deutschen, daß Deutschland kein "Einwanderungsland" sei. Die aktuelle Hochsensibilisierung für jede öffentliche immigrationsrelevante Äußerung zeigte sich zuletzt Ende August/Anfang September 1993, als auch die konservative deutsche Presse verurteilend davon sprach, der umstrittene Bundespräsident-Kandidat Heitmann habe "ungeniert [...] das Wort 'Überfremdung' mit warnendem Unterton in den Mund genommen" (RP 31.08.93, S. 2). Wenn die Berichte in der deutschen Presse über die Einwanderungsdiskussion in Frankreich zutreffen, werden z.T. sehr ähnliche Begriffe und Einstellungen gegenüber der Immigration von Ausländem in beiden Ländern verwendet. Zu den aktuellen Problemen der Bundesrepublik zählt auch die Bekämpfung von "organisiertem Verbrechen", das zum Thema "innere Sicherheit" gehört; die Bekämpfung wirft z.T. gleiche Probleme des Schutzes der Bürger vor Ermittlungsmaßnahmen des Staates auf, wie sie bereits in den 70er Jahren bei der Verfolgung der sog. Linksterroristen und ihrer angeblichen linken Sympathisanten (wie ζ. B. Heinrich Boll!) diskutiert wurden. In der heißen Phase der Diskussion, in der SPD, CDU/CSU und FDP um eine jeweils parteieinheitliche öffentliche Linie stritten, fallen folgende unterschiedliche Bezeichnungen bzw. Schreibungen für die im Zentrum der Auseinandersetzung stehenden Bekämpfungsmaßnahme des "Wanzeneinsatzes" (so die SZ 24.09.93, S. 20) in Privatwohnungen auf: Lauschangriff (SZ 13.09.93, S. 5), "großer Lauschangriff" (in Anführungszeichen, beide Belege RP 10.09.93, S. "Politische Umschau" und RP 8. und 9.09.93, S. 1), sogenannte Lauschangriffe (SZ 24.9.93, S. 20), großer Lauschangriff (ohne Anführungszeichen, RP 14.09.93, S.l). Die FDP droht am 9.9.93 (RP 9.09.93, S. 2) Verfassungsklage gegen einen möglichen Beschluß des Bundestages gegen die geplante Maßnahme an, wodurch die Grundrechte-Relevanz des Problems verdeutlicht wird. Aber abgesehen davon wird im September 1993 der Quasi-Terminus "Großer Lauschangriff' explizit und implizit thematisiert. Dies liegt sicherlich daran, daß die Bezeichnung geprägt wurde als

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Deutschland

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Kritik-Vokabel am Eingriff des Staates in die Privatsphäre in der Zeit der sog. Sympathisantenverfolgung während des linken Terrorismus u.a. gegen den Atomforscher Klaus Traube. Die Vokabel hat offensichtlich ein historisch erinnerungsträchtiges semantisches Potential, das ungute Überreaktionen des Staates ins Gedächtnis zu rufen imstande ist und damit geeignet erscheint, den Legitimitätscharakter, den SPD und CDU/CSU gemeinsam nun der Maßnahme zuschreiben, in Frage zu stellen. Wie sensibel Zeitungen auf die Offizialität, d.h. ζ. B. auf die Absicherung ihres Sprachgebrauchs durch den Sprachgebrauch bzw. durch Beschlüsse der ihr nahestehenden Partei bedacht sind, belegt z.B. die konservative Rheinische Post: genau am Tag nach dem öffentlichen Bekenntnis der CDU zu "Law and Order" als positiv zu wertende Grundgesetzmaxime "Recht und Ordnung" wechselt die Rheinische Post vom distanzierenden "sogenannten großen Lauschangriff 1 (13.09.93, S. 2) zum undistanzierten Wortgebrauch großer Lauschangriff (14.09.93, S.l) ohne Anführungsstriche. Wie stark andererseits die Pressesensibilität gegen alle Versuche euphemistischer Bezeichnungssetzung für diese grundrechtrelevante Maßnahme ist, verdeutlicht ein sarkastischer Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 26.08.93. Sie berichtet über einen "hellhörigen Staatssekretär im bayerischen Justizministerium", der fordert, "daß der Einsatz optischer und akustischer Mittel zur elektronischen Raumüberwachung f...] nicht länger mit 'falschen Schlagworten diffamiert' werden dürfe" (SZ 26.08.93, S.35), daß man vielmehr statt vom "Großen Lauschangriff' präziser und angemessener von "Hellhören" sprechen solle. - Hier wird übrigens deutlich, wie effektiv die politische Sprachkritik der Presse sein kann, die nie pauschal, sondern immer speziell sich auf einen bestimmten Fall richtet und so den unauflösbaren Zusammenhang von Sache und Sprache öffentlich bewußt hält. Die gleiche Sensibilität gegenüber Euphemismen beweist die deutsche Presse und Öffentlichkeit auf dem hier abschließend demonstrierten Sektor der Wirtschaftspolitik und hier speziell der aktuellen sozialen Problematik, die sich z.T. aus der weltweiten wirtschaftlichen Rezession und - und hier beginnt schon der Streit in Deutschland - sich angeblich ζ. T. auch ergibt aus den sog. "Kosten der Einheit". Bezüglich des letzteren Arguments berichten auch konservative Zeitungen auf der Titelseite über die SPD-These während der Haushaltsdebatte des Bundestages 1993: "Einheit dient als Vorwand für Sozialabbau" (RP 09.09.93, S. 1). In unserer Wortschatzgeschichte haben wir die wirtschaftlichen Krisen der 70er und 80er Jahre analysiert und die in dieser Zeit umstrittenen Orientierungs- und Leitvokabeln wie "Neue Armut" und "Zwei-Drittel-Gesellschaft". Schon bei der ersten Ankündigung des Finanzministers im April 1992, er wolle den Aufbau Ost durch Kürzungen und Sozialleistungen finanzieren, lehnt selbst die konservative Presse die von Waigel verwendete Bezeichnung der Maßnahme, nämlich den Ausdruck "Sozialumbau" ab (RP 10.04.92, S. 1). Offensichtlich im Bewußtsein der schon etablierten Vokabel "Sozialabbau" und als Distanzierungszeichen für die versuchte Verharmlosung der Maßnahme setzt selbst die regierungsfreundliche konservative RP die 1992 benutzte Vokabel "Sozialumbau" in distanzierende Anführungsstriche.

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Georg STÖTZEL

Genau auf diesem Sektor der Bewußtseinsbeeinflussung der Öffentlichkeit durch euphemistische Orientierungsvokabeln macht der Finanzminister ein Jahr später 1993 bei der Verkündung der konkreten Maßnahmen, die er 1992 angekündigt hatte - einen weiteren sprachbezogenen, sozusagen prophylaktischen Normsetzungsversuch: als er am 11. 08.93 das sog. Sparpaket von ca. 20 Milliarden verkündete, "untersagt" er vorweg schon Kritikern und Opposition, diese Maßnahme mit seiner Meinung nach unangemessenen Negativ-Vokabeln wie "Armutsfalle" und "Sozialabbau" zu bezeichnen. - Offensichtlich sind bei unmittelbar von den Betroffenen erfahrbaren sozialen Maßnahmen Versuche von Politikern, "harmlose" öffentliche Vokabeln zu etablieren, zum Scheitern verurteilt (man denke etwa an Thatchers community-charge und die öffentliche Vokabel poll tax). Wie der aktuelle finanzielle Beschaffungsdruck des Staates ausstrahlt in andere Bereiche, die sozusagen auf weiche Stellen abgeklopft werden, macht der aktuelle Stand der seit 1945 geführten Debatte über Gleichberechtigung und Benachteiligung von Frauen deutlich: Schon wird im Verfassungsausschuß wieder einmal um den schon vor Jahrzehnten diskutierten Unterschied zwischen "Gleichberechtigung" und "Gleichstellung" gestritten (SZ 29.04.93, S. 2), mit dem man die faktische Gleichstellung von Frauen verhindern will, schon warnt eine bayerische "Sozialstaatssekretärin" wieder davor, daß abermals Frauen als sogenannte "'Doppelverdiener' [...] als erste gefeuert werden" (SZ 26.08.93, S. 35). D.h. Termini wie Doppelverdiener, die wir bereits bei den Nazis, dann in der frühen Nachkriegszeit und bei späteren Wirtschaftsrezessionen beobachteten, zeigen seismographisch aktuelle tiefliegende gesellschaftliche Tendenzen an. Damit habe ich über einige unserer Fragestellungen berichtet. Ohne daß ich es von vornherein wollte, bin ich beim Schreiben durch die aktuellen Belege auf grundlegende Verfassungs- und staatliche Identitätsprobleme gestoßen worden, die ich Ihnen bezüglich der Bedeutung der Sprache zu vermitteln suchte: Ehe und VertragsPartnerschaft, das Recht der Homosexuellen auf "anerkannte Partnerschaft", den Streit um den Begriff und den Schutz des Lebens, das Selbstverständnis von Deutschland als Einwanderungsland, das Verfassungsproblem der Grenzziehung für staatliche Kontrolle in der Privatsphäre und schließlich das Problem der Gleichberechtigung von Frauen in sozialen Krisenzeiten.

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Manfred MUCKENHAUPT (Universität Tübingen)

Von der Tagesschau zur Infoshow Sprachliche und journalistische Tendenzen in der Geschichte der Fernsehnachrichten

1. Einführung "Was wir hinzudichten, ist nicht so schlimm wie das, was wir weglassen", sagt ein erfahrener Nachrichtenredakteur in Kästners "Fabian" zu seinem Volontär. In Kästners Geschichte ist der Volontär fürs erste beruhigt. Das ist menschlich und ganz normal. Jeder fühlt sich zuerst für das verantwortlich, was er schreibt. Wie dem Volontär hat auch mir der Satz einen kurzen Trost gespendet. Das, was ich Ihnen über die Geschichte der Nachrichten erzähle, ist in der Tat nicht so schlimm, wie das, was ich weglasse. Und ich lasse ganz bestimmt mehr weg, als ich erzählen kann. Aber schon nach dem ersten Trost stellt sich die Unruhe ein. Wer sich mit Trends der Nachrichtenberichterstattung beschäftigt, sollte sich vielleicht tatsächlich mehr den Informationen zuwenden, die verschwiegen werden, und den Themen, über die man in den Nachrichtensendungen schweigt. Auf jeden Fall stimmt das Relevanzkriterium des Redakteurs nachdenklich, weil es die eigene Perspektive in Frage stellt. Am Anfang meiner Exkursion durch die Geschichte der Fernsehnachrichten steht der produzierte Teil der Nachrichtenrealität, am Ende wende ich mich auch dem weggelassenen, in den Worten des Redakteurs dem schlimmeren Teil zu. Die Tagesschau des Ersten Deutschen Fernsehens hat gerade ihr 40jähriges Jubiläum hinter sich, und die Äeu/e-Sendung des Zweiten Deutschen Fernsehens wird im 30. Jahr ausgestrahlt. Vor fast zehn Jahren, 1984, begann mit den Bildern des Tages von RTL plus die Nachrichtenberichterstattung des privat-kommerziellen Fernsehens, und vor einem Jahr, im November 1992, ging der erste Nachrichtenkanal, n-tv, mit Nachrichten im Viertelstundentakt auf Sendung (vgl. Abb. 1). Aus dieser Übersicht über 40 Jahre Nachrichtengeschichte sehen Sie schon, daß ich vor einer fast unlösbaren Aufgabe stehe. 40 Jahre Nachrichtengeschichte und 40 Jahre Nachrichtensprache kann man eigentlich nicht auf wenigen Seiten erzählen. Wo soll man beginnen und was soll man herausheben? Ich habe mich für einen Zugriff entschieden, der von den Jubiläumsdaten ausgeht und von dort aus die weitere Entwicklung verfolgt. Es ist die Perspektive des Betrachters, der vor allem auf das Neue, das Auffallige und nicht so sehr auf das immer Gleiche schaut. Tendenzen des 81

M a n f r e d MUCKENHAUPT

sprach- und mediengeschichtlichen Wandels formuliere ich auf drei Ebenen der Nachrichtenkommunikation: - auf der Ebene der Sendungskonzepte und der journalistischen Darstellungsformen: Welche Spielarten der Nachrichtenberichterstattung sind im Verlauf der Nachrichtengeschichte entwickelt worden? - auf der Ebene der Handlungsmaximen: Welches Nachrichtenverständnis kommt in den Sendungen zum Ausdruck? - auf der Ebene der journalistischen Beiträge (der Text- und Bildfunktionen, der Inhalte und der spezifischen Ausdrucksformen): Welche sprachlichen und welche journalistischen Entwicklungstendenzen sind mit den Nachrichtentrends verbunden oder gehen mit diesen Trends einher? Dieser Betrachtung liegt ein Konzept zugrunde, das Sprach- und Mediengeschichte als Kommunikationsgeschichte begreift. Die Ebene der Sendungskonzepte schließt bis zu einem gewissen Grad die anderen Ebenen ein. Auf dieser Ebene ist der historische Wandel auch am deutlichsten wahrnehmbar. Die Gliederung des Textes folgt deshalb dem sendungsgeschichtlichen Aspekt. Im ersten Teil beschreibe ich die Entwicklung von der Kinowochenschau zur Tagesschau in den 50er Jahren. Ich beginne mit der Pionierzeit der Tagesschau, ihrem Start im Jahre 1952, erläutere die Programmreform im Jahre 1960, die entscheidend für die gesamte weitere Entwicklung der Fernsehnachrichten ist, und skizziere an einem Beispiel von 1992 den heutigen Stand. Die sendungsgeschichtliche Schlagzeile lautet: "Von der Tagesschau der Filmberichte zur Tagesschau der Nachrichtensprecher". Im zweiten Teil bleibe ich in der Neuzeit der Nachrichtenberichterstattung, die Mitte der 80er Jahre beginnt. Das duale Rundfunksystem wird in der Bundesrepublik eingeführt. Die öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen erhalten privat-kommerzielle Konkurrenz. Inzwischen gibt es in der Bundesrepublik auf öffentlich-rechtlicher Seite zwei nationale Hauptprogramme (ARD, ZDF), zwei nationale Satellitenprogramme (3sat, lPlus) und acht regionale Dritte Programme (Bayern 3, Hessen 3, Nord 3, Südwest 3, West 3, MDR, ORB, Bl). Hinzu kommt der deutsch-französische Kulturkanal arte. Ihnen stehen zehn nationale privat-kommerzielle Programme gegenüber (RTL, SAT.l, PRO 7, Kabelkanal, n-tv, VOX, RTL 2, DSF und das Pay-TV-Programm Premiere). Dabei habe ich nur die deutschsprachigen Programme erwähnt. 1 Ich konzentriere mich im wesentlichen auf die Hauptnachrichtensendung von RTL. Bei VOX und n-tv ist derzeit nicht absehbar, wie lange es die Programme noch geben wird, und SAT.l verändert seit 1985 die Nachrichtensendungen schneller, als man sie analysieren kann. Meine Schlagzeile für diesen zweiten Teil lautet: "Von der Tagesschau zur Infoshow". Im Mittelpunkt stehen die Boulevardisierungstendenzen in der Nachrichtenberichterstattung. Im dritten und letzten Teil kehre ich noch einmal in die Geschichte der Nachrichtensendungen zurück. Ich konzentriere mich auf zwei historisch bedeutsame Ereignisse: Am 1. April 1963 wird die erste heute-Sendung ausgestrahlt. Das ZDF 1

Das ist der Stand im November 1993. Vgl. KRÜGER, Udo 1993: 246.

82

Von der Tagesschau zur Infoshow

macht der ARD öffentlich-rechtliche Konkurrenz. Das zweite Ereignis fallt in das Jahr 1978. In diesem Jahr sind die ersten Nachrichtenmagazine zu sehen, in der ARD die Tagesthemen und im ZDF das heute journal. Auf den ersten Blick hängen die beiden Ereignisse nicht miteinander zusammen, wir werden aber später sehen, daß ein sehr enger historischer Zusammenhang zwischen den Pionier- und Experimentieijahren der heute-Sendung und der Entwicklung der Nachrichtenmagazine besteht. Diesen Teil habe ich mit der Schlagzeile überschrieben: "Auf der Suche nach journalistischen Alternativen. Von der Tagesschau zum Nachrichtenmagazin". Einen vierten Aspekt der Nachrichtenentwicklung habe ich bisher nicht erwähnt. Es geht um die Erklärung des historischen Wandels, warum etwas passiert: Weshalb sind Boulevardisierungskonzepte entstanden? Warum wurde ein Nachrichtenkonzept reformiert? Bei der Beantwortung solcher Fragen bin ich aus ganz verschiedenen Gründen zurückhaltend. Eine Reihe von Veränderungen hängen mit technischen, ordnungspolitischen und ökonomischen Entwicklungen auf dem Nachrichtenmarkt zusammen, die ich hier nicht darstellen kann. Das ist aber nur die eine Seite des Problems. Ich arbeite seit vielen Jahren mit Nachrichtenredaktionen zusammen, gerade auch in der Sendungsentwicklung. Aus der unmittelbaren Erfahrung weiß ich, daß oft das eher Zufällige den Wandel definiert. Eine Sendung erhält ein neues Design, nur weil der Wetterbericht gesponsert wird, durchdachte Konzepte setzten sich nicht durch oder werden wieder abgebrochen, weil eine bestimmte Personalentscheidung getroffen wird und vieles mehr. Natürlich kann man sagen, auch solche eher zufälligen Weichenstellungen liegen im Trend, aber es hätte auch anders kommen können. Meine historische Darstellung orientiert sich an der Einführung neuer Programme und an Programmreformen, also an den Nachrichtensendungen, die für den Zuschauer auf dem Fernsehschirm zu sehen sind (erste Tagesschau, Tagesschau nach der Programmreform 1960, erste heute-Sendung usw.). Da es hier nicht nur um Sendungsgeschichte, sondern auch um Tendenzen der Nachrichtensprache gehen soll, muß ich eine weitere Einschränkung formulieren. Entwicklungstendenzen der Nachrichtensprache müssen nicht mit der Entstehung neuer Programme einhergehen. Ein typisches Beispiel ist die Abhängigkeit der Nachrichtensprache von der Sprache der Wortagenturen, die unabhängig von der Entwicklung der Sendungskonzepte besteht. In meiner Darstellung vertraue ich aber ein wenig darauf, daß die Einführung neuer Nachrichtenkonzepte auch Auswirkungen auf die Nachrichtensprache hat bzw. daß sprachlicher Wandel sich an diesen Schnittpunkten am deutlichsten zeigt.2

2

Auf eine eher unerwartete Schwierigkeit bin ich in den Archiven gestoßen. In einem der besten Archive, der Dokumentationsabteilung des ZDF, werden Nachrichtensendungen erst seit 1981 vollständig archiviert. Aus den Jahren 1970 bis 1981 ist keine einzige Nachrichtensendung erhalten. In den Jahren davor, also von 1963-1969 gibt es gerade noch 47 Sendungsmitschnitte, darunter zahlreiche Versuchssendungen. Noch unbefriedigender ist die Situation bei der ARD. Aus den Gründerjahren der Tagesschau gibt es offenbar kein einziges Sendungsbeispiel mehr. Mein eigenes Archiv beginnt Ende der 70er Jahre. Mit einigem Entsetzen habe ich bei der Vorbereitung auf dieses Thema feststellen müssen, daß sich meine frühen Beispiele inzwischen in magnetisierten

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Manfred MUCKENHAUPT

Das Thema meines Vortrags habe ich etwas salopp auf die Schlagzeile gebracht "Von der Tagesschau zur Infoshow". Die Formulierung deutet schon eine historische Entwicklung an, von der sog. ernsten zur unterhaltsamen Information, von der sog. seriösen politischen Berichterstattung zu den Nachrichten im Boulevardstil. Dieser Trend trifft in etwa die Entwicklung der letzten zehn Jahre. Mit Infotainment- und Boulevardisierungs-Konzepten wollen vor allem die Nachrichtensendungen von SAT. 1 und RTL Anteile am Nachrichtenmarkt gewinnen. Für die ersten zehn Jahre der Tagesschau, die Pionierjahre der Nachrichtenberichterstattung, mit denen ich hier beginnen will, muß die Schlagzeile genau umgekehrt lauten: "Von der Infoshow zur Tagesschau".

1952-1963 1963 1978 1984 1985 1992

Abb. 1: Stationen der Nachrichtengeschichte Monopolstellung der Tagessebau (ARD) Beginn der Aewte-Sendung des ZDF Start der moderierten Nachrichtenmagazine Tagesthemen (ARD) und heute journal (ZDF) RTL plus strahlt die erste privat-kommerzielle Nachrichtensendung Bilder des Tages über Kabel aus (später umbenannt in RTL aktuell) Sendebeginn von SAT.l, dem ersten privaten Satellitenprogramm mit AFPBlick Start des ersten Nachrichtenkanals n-tv

2. Von der "Tagesschau der Filmberichte" zur "Tagesschau der Nachrichtensprecher'' Die Infoshow Anfang der 50er Jahre war die Neue Deutsche Wochenschau. Bis 1955 belieferte die Wochenschau (im Französischen sagt man zu dieser Gattung "Journal Film") die Tagesschau mit ihrem Aktuellen Filmdienst. Die Neue Deutsche Wochenschau lieferte das Rohmaterial, die Tagesschau entschied über Thema, Schnitt, Text, Vertonung und Reihenfolge. 3 Das Milieu der Wochenschau war das Kino und der Film. Die Wochenschau war "ein wenig Information, aber weit mehr Film". 4 Rein journalistische Kriterien hat sich die Wochenschau nicht zu eigen gemacht. Sie wollte vor allem publikumswirksam, unterhaltsam und, wenn mögStaub auflösen. Beruhigend an dieser Situation ist allenfalls, daß wir die Informationsüberflutung doch noch im Griff haben. Menschliche Vergeßlichkeit und technische Unzulänglichkeit reduzieren die Flut der Nachrichten, zumindest im nachhinein betrachtet, wieder auf ein erträgliches Maß. Immerhin zwei Raritäten habe ich gefunden: Nicht die erste Tagesschau, dafür aber die älteste, die es im Archiv des Norddeutschen Rundfunks noch gibt, eine Tagesschau aus dem Jahre 1960, und die allererste Nachrichtensendung von heute aus dem Jahr 1963. Einige weitere Raritäten stammen aus den Jahren 1963-1969. Sie haben mein Bild der Nachrichtengeschichte doch an einigen wichtigen Stellen revidiert. 3 4

SVOBODA 1 9 8 3 : 1 3 1 . WIERS 1983: 115.

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Von der Tagesschau

zur

Infoshow

lieh, exklusiv sein. 5 Auch die Wochenschau-Produzenten standen in kommerzieller Konkurrenz, und schon damals galt wie heute bei den privat-kommerziellen Sendern der Grundsatz: Der Wert einer Nachricht wird durch ihren Verkaufserfolg bestimmt. Ich will einen Filmbericht aus einer Kinowochenschau an den Anfang stellen. Gezeigt wird die Totenfeier für Ernst Reuter im Oktober 1953. Selbst aus heutiger Sicht kann man sich der Darstellung nicht entziehen. Wochenschauberichte sind darauf angelegt, den Zuschauer am Ereignis zu beteiligen. Ihr filmisches Konzept erkennt man daran, daß Ereignisse gemacht, bisweilen inszeniert werden. Bildgestaltung, Ton, Musik und Sprache werden in der Produktion noch aufeinander abgestimmt. Ein typisches Beispiel ist, wie die Satzmelodie in der Rede von Heuss in einer Schnittfrequenz von Großaufnahmen nachvollzogen wird. Sprachliche Nennungen ("Und wenn dieser Tag gekommen sein wird, wandert jener Mann aus Dresden und diese Frau aus Rostock, aus Halle und Magdeburg an das Grab nach Zehlendorf') erhalten im Bild eine visuelle Konkretion (Menschen werden in Großaufnahme gezeigt). Die letzte Großaufnahme einer Frau unterstreicht das "Sagt Dank, Dank" von Heuss. An die Stelle des dritten "Dank", das man im Text erwartet, tritt die Kopfbewegung der Frau, mit der zugleich der Einsatz für die Trauermusik gegeben wird. Solche Verfahren tragen zur Emotionalisierung des Zuschauers bei. (1) Welt

im Bild

vom

Oktober

1953

[Filmbericht] [Sprecher:] Berlin nahm Abschied von seinem Bürgermeister Prof. Ernst Reuter. Tausende aus Ost und West kamen zu einem letzten Gruß vor das Schöneberger Rathaus. Den Tag der Deutschen Einheit noch zu erleben, war ihm nicht mehr vergönnt. [Heuss:] "Und wenn dieser Tag gekommen sein wird, wandert jener Mann aus Dresden und diese Frau aus Rostock, aus Halle und Magdeburg an das Grab nach Zehlendorf. Legt eine Blume nieder, eine Nelke, eine Rose, eine Aster und sagt: 'Dank, Dank'." [Sprecher:] Unter den Klängen des "Guten Kameraden" trat Ernst Reuter die letzte Fahrt durch die Straßen seiner Stadt an. Die filmische Konzeption der Wochenschau hat die Anfangsjahre der Tagesschau geprägt. Nicht ohne Stolz verkündete der erste Chef der Tagesschau, Svoboda: "Ich sorgte dafür, daß der Filmbericht die Nr. 1 der Tagesschau wurde".6 Der Unterschied zur Wochenschau lag vor allem darin, daß die Tagesschau mit drei Sendungen in der Woche aktueller und schneller als die Wochenschau war. Die Tagesschau Nr. 1 vom 26. Dezember 1952 ist uns leider nicht mehr im Film, dafür aber wenigstens im

5

WIERS 1983: 115.

6

SVOBODA 1983: 130. Vgl. zur Vorgeschichte die Einleitung von Wagenführ, S. 125126: Am Anfang der Testphase (ab 1951) standen illustrierte Wortnachrichten. Zu etwa 5-10 Bildern formulierte die Nachrichtenredaktion des NWDR ihre Texte. 85

Manfred MUCKENHAUPT

Text erhalten. Aber noch am Duktus des Textes erkennt man ihr filmisches Konzept. Ich stelle hier den Aufmacher der allerersten Sendung vor.7 (2) NWDR

Tagesschau

Nr.

1 vom 26. Dezember

1952

[Filmbericht] Dieser schwere Kreuzer brachte den zukünftigen amerikanischen Präsidenten Eisenhower aus Korea zurück. - Nach dem Schlachtenlärm am 38. Breitengrad ein erholsames Tontaubenschießen an Bord. Es gab an Bord aber auch schwerwiegende Beratungen: über Korea. In Hawai angekommen, wurde Eisenhower nach alter Landessitte zur Begrüßung ein Blumenkranz umgehängt. Das etwas ernüchternde Resultat seiner 35.000-Kilometer-Reise nach Korea faßte Eisenhower in New York in der Erklärung zusammen: "Für die KoreaFrage gibt es keine Patentlösung. Ich bin aber zuversichtlich im Hinblick auf eine befriedigende Lösung". Auch wenn man nur den Text hört, kann man sich die Szenen vorstellen, die die Bildern zeigen: den amerikanischen Kreuzer auf See, das erholsame Tontaubenschießen an Bord; man kann sich vorstellen, wie Eisenhower in Hawai mit einem Blumenkranz begrüßt wird, und ist dabei, als er in New York seine "bedeutsame" Erklärung abgibt. Das Bild macht den Zuschauer zum Augenzeugen des Geschehens. Auch der Redeausschnitt Eisenhowers wird "authentisch" wiedergegeben. Der Text folgt in allen Passagen der Chronologie der Geschichte, die die Bilder erzählen. Die Tagesschau der Pionierjahre war die "Tagesschau der Filmberichte". Die Sprache der Filmberichte war die Sprache des Films: "Das Bild war stärker als das Wort. Das Wort mußte daher sparsam verwendet werden, es durfte nur unterstützen nicht fremdgehen und Gedanken bieten, die wohl mit der Story, aber nichts mit dem Bild zu tun hatten, also parallel nebeneinander hertrabten und sich nicht vereinigten".8 Eine Tagesschau bestand in den Pionierjahren aus etwa vierhundert Metern Film, das entsprach im Durchschnitt vier Filmberichten und knapp 15 Minuten Sendezeit. Mehr Filmmaterial stand gar nicht zur Verfügung. In der Tagesschau Nr. 1 folgten dem Filmbericht über Eisenhower drei weitere Filmberichte, in denen ein Richtfest, eine Eisrevue und ein Fußball-Länderspiel zu sehen waren (vgl. Abb. 2). Schon die Zahl der Beiträge und die Themenwahl verdeutlichen, daß die Tagesschau der Gründerzeit nicht primär journalistisch definiert war. Wie in der Kinowochenschau sollte dem Zuschauer vor allem etwas geboten werden. Erst in der Folgezeit hat sich das Nachrichten Verständnis geändert. Im Jahre 1955 trennte sich die Tagesschau von der Neuen Deutschen Wochenschau, und ein Jahr später erschien die Tagesschau zum ersten Mal werktäglich. Spätestens von da an war sie mit den tagesaktuellen Nachrichtenansprüchen des Hörfunks und der Tageszeitung konfrontiert (vgl. Abb. 3).

7

Der Text findet sich in SVOBODA 1983: 133. Bei der Datumsangabe im Original (20. 12. 1952) dürfte es sich um einen Druckfehler handeln.

8

SVOBODA 1983: 135.

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Von der Tagesschau zur Infoshow

Eine der wichtigsten Entscheidungen für die weitere Entwicklung der Fernsehnachrichten ist Ende der 50er Jahre gefallen. Die Tagesschau war keine zehn Jahre alt, da stand die erste gravierende Programmreform ins Haus. Es ging nicht einfach um eine Formatänderung, Weltanschauungen über den Sinn des Fernsehens standen zur Disposition: "War das Fernsehen erfunden worden, um uns zu zeigen, wie Hörfunksprecher ihre Texte ablesen?"9 oder "War das Fernsehen nicht für das drahtlose, bewegte, lebendige Bild ins Feld gezogen?"10 Ich glaube, auch damals haben die Programmverantwortlichen die erste Frage mit "Nein" und die zweite mit "Ja" beantwortet, trotzdem haben sie sich für den "Hörfunksprecher" und damit gegen die Vorherrschaft des "bewegten, lebendigen Bildes" entschieden. Das Jahr 1960 war das Geburtsjahr einer eigenen Tagesschauredaktion und zugleich das Geburtsjahr des heutigen Tagesschau-Formais. Ich stelle zuerst das Ergebnis der Programmreform vor und gehe dann auf die längerfristigen Folgen des neuen Konzepts ein. Die Überlieferungsgeschichte ist nicht ohne Ironie: Ausgerechnet die älteste noch erhaltene Sprechersendung kann ich heute noch in Bildern zeigen und die erste filmische Tagesschau muß ich als Text verlesen. (3) ARD Tagesschau vom 17. November 1960 - Seato Hier ist das Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. Anschließend die Wetterkarte. [Sprechermeldung] Guten Abend. In Bangkok ist heute der Militärausschuß der acht Mitgliedstaaten des Südostasien-Paktes zusammengetreten. Der Seato gehören neben den südostasiatischen Mitgliedsstaaten auch die USA, Großbritannien und Frankreich an. Hauptthema der dreitägigen Konferenz dürfte die Lage in Laos und Südvietnam sein. Diese beiden Länder sind zwar nicht Mitglied des Paktes, sollen jedoch im Falle eines Angriffs von außen unter den Schutz der Seato gestellt werden. Schon der Aufmacher zeigt den neuen Trend. Aus der filmischen Nachricht wird die illustrierte Wortnachricht, aus dem erzählenden Text die Faktenmitteilung. Die einzige Neuigkeit, die uns die Tagesschau in ihrem Aufmacher mitzuteilen hat, lautet, daß in Bangkok ein Militärausschuß tagt. In der frühen Presse, Anfang des 17. Jahrhunderts, hat man solche Nachrichten mit der Formulierung abgeschlossen: "Was aber die Herren beschlossen, mög die Zeit eröffnen". Die Tagesschau kehrt in der Tat zu den Anfängen der Nachrichtenberichterstattung zurück. Die Faktenmitteilung, daß etwas passiert ist, wann und wo sich ein Ereignis zugetragen hat und wer daran beteiligt war, wird zum Kern der Nachrichtendarstellung. Je nach Ereignistyp und verfügbarem Ereigniswissen wird dieser Kern in faktenerläuternden Passagen auf unterschiedliche Weise ausgeführt. In der SeatoMeldung wird z.B. das Thema der Konferenz spekulativ erläutert: "Hauptthema (...) dürfte die Lage in Laos und Südvietnam sein". Außerdem wird erläutert, was diese

9 10

SVOBODA 1 9 8 3 : 1 3 6 . S V O B O D A 1983: 130.

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beiden Länder mit der Konferenz zu tun haben: "Diese beiden Länder sind zwar nicht Mitglied des Paktes, sollen jedoch im Falle eines Angriffs von außen unter den Schutz der Seato gestellt werden", und es wird schließlich erläutert, wer Mitglied des Südostasien-Paktes ist. Für die Darstellung weitergehender Zusammenhänge bleibt in einer Viertelstundensendung keine Zeit. Aus der Sicht der "Tagesschau der Filmberichte" ist die Reform von 1960 ein Nachrichtenstreich der Wortredakteure. Aus den vier Filmberichten der ersten Sendung werden 20 Nachrichteneinheiten. Von diesen 20 Einheiten sind 13 reine Wortnachrichten. Sechs Themen werden als Filmnachricht vorgestellt, und ein Thema wird in einem Korrespondentenbericht behandelt (vgl. Abb. 4). Die Entwicklung zu dieser Mischform aus Wort- und Filmnachrichten zeichnete sich bereits ein Jahr früher ab. Schon damals wurde die Tagesschau um einen fünfminütigen Wortnachrichtenblock erweitert, den die Hörfunk-Nachrichtenabteilung des Norddeutschen Rundfunks geliefert hat. Das Fernsehen war also tatsächlich erfunden worden, "um uns zu zeigen, wie Hörfunksprecher ihre Texte ablesen". Die "Tagesschau der Filmberichte" hat sich zur "Tagesschau der Nachrichtensprecher" gewandelt. Auch in der filmischen Nachricht entfernt sich die Tagesschau von den Gestaltungsprinzipien der Wochenschau. Das Textmuster der Wortnachricht wird auch zum Textmuster des Nachrichtenfilms. Der Filmbericht entwickelt sich zum illustrierten Wortbericht. In dem folgenden Beispiel erkennt man das vor allem im zweiten Teil des Nachrichtenfilms: "Inzwischen hat sich der Rassenstreit in Louisiana zu einer schweren Krise ausgeweitet". Für diesen Teil der Nachricht steht gar kein Filmmaterial zur Verfügung. Der Text wird deshalb einfach auf die Bilder abgesetzt, die den Rassenkonflikt vor einer weißen Schule zeigen. (4) ARD Tagesschau vom 17. November 1960 · Rassentrennung [Nachrichtenfilm] So reagierten weiße Einwohner von New Orleans auf den ersten Schritt der US-Regierung, die Rassentrennung in den Schulen des Bundesstaates Louisiana zu beseitigen. Vier kleine Negermädchen mußten unter Polizeischutz in zwei bisher nur von weißen Kindern besuchte Schulen zum Unterricht gebracht werden. Aus Protest gegen diese Maßnahme des amerikanischen Bundesgerichtes holten viele weiße Eltern ihre Kinder aus den Schulen. Inzwischen hat sich der Rassenstreit in Lousiana zu einer schweren Krise ausgeweitet. Der Schuldezernent von New Orleans hatte allen weißen Kindern, die nicht zur Schule kommen, Strafen angedroht. Er betonte, daß die Behörden entschlossen seien, das Rassenproblem in den Südstaaten zu lösen - und wenn es Jahre dauern sollte. Ein wichtiger Grund für die Entwicklung der filmischen Nachricht zur illustrierten Wortnachricht ist, daß die Texte der Nachrichtenfilme aus dem gleichen Rohstoff formuliert werden wie die Wortnachrichten, nämlich aus den Wortmeldungen der Nachrichtenagenturen. Die Wortagenturen liefern nicht nur den Stoff für die Nachrichtensendungen, sie sind zugleich die wichtigsten Sprachgeber der Nachrichten-

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Von der Tagesschau zur Infoshow

Präsentation. Ihre Meldungen werden gekürzt, umformuliert, komprimiert und im Wortlaut von den Nachrichtenredakteuren übernommen. Abb. 2: NWDR Tagesschau vom 26.12.1952 - Sendungsprofil Zeit

Länge

Text-/ Bildsorte

Thema

Eisenhower aus Korea zurück 1'37"

11||·1·Ι ifiiiiiiiiiii

m

1'49"

Richtfest in Hamburg-Lokstedt

aflEagMs iillliliisIlSis?



•iSlIIli 3Ό1"

Eisrevue Baier

SSSSS lliailiiBpie

1

iiiiiiiii Iιβιιιιιΐ» llilll iiiiiiiiii liiiiiiiiiiii

Fußballspiel Deutschland- Jugoslawien

'mm 8'33"

Legende:

[

] Wortnachricht

K l Filmnachricht/ Filmbericht

Hfsendungskennung/ Abspann

Was hat die Tagesschaureform von 1960 gebracht? Die filmdominante Nachrichtensendung hat sich zu einer wortdominanten gewandelt, die sich am Nachrichtenverständnis des Hörfunks und der Tageszeitung orientiert. Zu dem Anspruch, schnell 89

Manfred MUCKENHAUPT

und aktuell zu berichten, tritt der Anspruch, das Weltgeschehen möglichst vollständig (umfassend) darzustellen. Genau dieser Anspruch übersteigt die Möglichkeiten der filmischen Nachricht (mangelnde Verfügbarkeit und prinzipieller Unterschied in der Multiplizität von Sprache und Bild) und erzwingt fast zwangsläufig das Sprecherkonzept. Das praktische Problem des filmischen (fernsehadäquaten) Konzepts verdeutlicht die Louisiana-Nachricht. Über die Unruhen gibt es keine aktuellen Bilder. Das prinzipielle Problem verdeutlicht die Seato-Nachricht. Komplexe sprachliche Ereignisse sind mit filmischen Mitteln nur sehr begrenzt darstellbar. In der Folgezeit werden solche Meldungen einfach mit Bildern unterlegt, auf denen die Entscheidungsträger und ihre Limousinen zu sehen sind. 11 Abb. 3: ARD Tagesschau - Stationen der Sendungsentwicklung Tagesschau der Filmberichte 26. Dezember 1952

Erste Tagesschau-Sendung im Programm des NWDR, von da an drei Ausgaben pro Woche

1. November 1954

Die übrigen Landesrundfunkanstalten beginnen sich an der Tagesschau zu beteiligen; sie liefern Filme über inländische Ereignisse

1. April 1955

Umstellung von 35-mm auf 16-mm-Film; Trennung von der Neuen Deutschen Wochenschau

1. Oktober 1956

Die Tagesschau erscheint werktäglich

Tagesschau der Nachrichtensprecher 2. März 1959

Erweiterung der Tagesschau um einen fünfminütigen Wortnachrichtenblock, den die Hörfunk-Nachrichtenabteilung des Norddeutschen Rundfunks liefert

1. Oktober I960

Einrichtung einer eigenen 7agessc Adj: Die Gruppe ist Sahne —> Das ist ne sahne Gruppe. Adj —» V: Ich faule heute. II. Nach BENEKE (1982, 1985) (1) Mode- und Lieblingswörter: fetzen, schocken (2) lexikalische Varianten: Kralle für Hand (3) Begrüßungsformen: Tach Piepels (4) Sprachspiele, Sprüche: Ich geh kaputt, Rassabomba (5) Partikeln: äh, ej (6) Phraseologismen: auf die Kacke (den Putz) hauen Neben diesem "produktiven Kern": Hyperbeln, Kraftausdrücke, Schimpfwörter, Spitznamen, Anglizismen und Russizismen III. HENNE (1986) (1) Grüße, Anreden und Partnerbezeichnungen (2) griffige Namen- und Spruchwelten (3) flotte Redensarten und stereotype Floskeln (4) metaphorische, zumeist hyperbolische Sprechweisen (5) Repliken mit Entzückungs- und Verdammungswörtern (6) prosodische Sprachspielereien, Lautverkürzungen und Lautschwächungen sowie graphostilistische Mittel (7) Wortbildung: Neuwörter, Neubedeutung, Neubildung (8) Präfix- und Suffixbildung

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Marlies

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5. Das Modewort "cool" im Spiegel von JugendspracheWörterbüchern Cool(man) engl. = kühl, kalt; jugendsprachl.: 1. ruhig, gelassen, überlegen; 2. hervorragend, besonders gut - in dieser Bedeutung einer der zentralen Begriffe der Jugendsprache; auffällig ist die Bedeutungserweiterung gegenüber dem Englischen; Bsp.: Immer cool bleiben, Django! Lieber cool als schwul! Da hab ich mir wieder mal 'nen ganz —» coolen Job gekrallt. Aus: EHMANN, Hermann: Affengeil. Ein Lexikon der Jugendsprache. 1992.

München

cool (1) Der kann unheimlich cool sein, ist überhaupt 'n cooler Typ. (2) Die hört den ganzen Tag nur ihre coole Musik. t> Ein cooler Typ wird sowohl von Mädchen wie von Jungen bewundert, weil er Selbstbewußtsein und Überlegenheit ausstrahlt und damit unantastbar wirkt (1); davon wird eine allgemeine positive Wertung für einen bestimmten Musiktrend abgeleitet (2). Aus: HEINEMANN, Margot: Kleines Wörterbuch der Jugendsprache. Leipzig 1989. cool Hier ist er, der zentrale Begriff der Jugendsprache - allerdings nicht selbst erfunden, sondern gepumpt. Cool bleiben heißt, sich die Kernhaltung des Stoizismus zu eigen machen: Die ganze Gegenwart ist ein Pünktchen in der Ewigkeit. Nimm die Dinge mit Gleichmut und Gelassenheit! Auf der Szene ist man gern ein kleiner Marc Aurel - also ein cooler Typ. Manchmal ist dies allerdings mit erheblichen Gefühlsstrapazen verbunden - zum Beispiel, wenn ein echt cooles Mädchen auf der Bildfläche erscheint. Dann heißt es, den eventuellen Adrenalinausstoß nicht nach außen erkennen zu geben, also total cool zu bleiben. Die Torte wird das schon richtig zu deuten wissen, nämlich als "absichtsvolle Absichtslosigkeit". s. easy. Aus: MÜLLER-THURAU, Claus Peter: Lexikon der Jugendsprache. Düsseldorf, Wien 1985.

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6. Das Modewort "cool" im Urteil von Schülern im Unterrichtsgespräch 1 3 Gespräch zwischen Schülern eines Deutsch-Grundkurses (17 bzw. 18 Jahre, männlich; L = Lehrerin), aufgenommen am 5.9.1990: 1 S: Ganz cool die Lage checken - Er versucht, die Situation zu überblicken. 2 K: Ich würde nicht sagen, daß das cool in der Bedeutung von cool steht, also daß man locker bleibt, sondern nach dem Motto: Mal eben die Lage checken, also daß es eine ganz andere Bedeutung hat. 3 Th: Ja, das wollte ich auch sagen, daß man es nur einfach so macht, ohne wichtigen Grund. 4 L: Was bedeutet denn cool? K. hat von einer Bedeutung, die es eigentlich hat, gesprochen. 5 K: Naja, wenn man das jetzt aus dem Englischen übersetzen würde. 6 T: Normal heißt das ja 'kühl' oder so. Aber ich meine, wir sehen das so als 'locker' an, so "ganz locker bleiben". 7 S: Das machen die Engländer aber auch so. 8 J: Ich würde sagen, cool hat überhaupt keine ganz spezielle Bedeutung. Du kannst ja sowohl als - ich mein jetzt im Deutschen (...) - Du kann ja cool als abwertend und als aufwertend benutzen. Wenn du sagst: Mann, ist der cool, ej oder Mann, der fühlt sich ganz cool oder Spiel doch nicht den Coolen, Mann, da hast du doch damit massenweise verschiedene Arten, Beschreibungen eingebracht, und du hast bloß ein einziges Wort benutzt. 9 K: Ich würde nicht sagen, daß es herabwertend oder heraufwertend ist, aber ich meine, man sagt ja, wenn man über einen anderen herzieht, wenn man sagt Mann, ist der cool, dann hat man irgendwie, na ja, man hat halt Respekt vor demjenigen. GEMURMEL DER ANDEREN SCHÜLER 10 K: Wenn man sagt: Mann, ist der cool, dann denke ich ja Mann, ist der 'n Heini oder so. I I A : Dann hast du doch keinen Respekt. 12 K: Doch, indirekt schon. 13 J: Entweder meinst du das ironisch oder du meinst es nicht ironisch.

13

Vgl. oben S. 302-303.

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7. Lexikalische Aspekte der "Jugendsprache": Positive Wertung "Sahne" Aus: MÜLLER-THURAU, Claus Peter: Lexikon der Jugendsprache. Düsseldorf, Wien 1985. Sahne eine Single (Schallplatte) kostet fünf bis sechs Mark. Wer gut zu wählen weiß, kriegt dafür die absolute Sahne einer Band, s. sahnemäßig, Sahneschnitte. sahnemäßig Ein Prädikat, das nur das Wahre, Schöne und Gute (freilich aus jugendlicher Sicht) verdient. Sahnemäßig in Kombination mit dem Wörtchen echt gilt als ganz besondere Auszeichnung: "Das Cafe Kaputt? Kenn ich - is' echt sahnemäßig.'« s. absahnen, Sahne, Sahneschnitte. Sahneschnitte Eine keineswegs »chauvihaft« gemeinte Bezeichnung für ein hübsches Mädchen auch wenn sie Assoziationen an etwas alsbald zu Verzehrendes hervorruft. Die Gruftis werden sich erinnern: Früher begnügte man sich mit dem Wort Schnitte für eine, die als besonders hübsch galt. S. Torte. saugeil Ausgezeichnet, toll, wunderbar, hervorragend, himmlisch etc. Obwohl unsere Hochsprache eine ausreichende Anzahl an Wörtern zur Kennzeichnung des Erfreulichen bereithält, konnte sich saugeil durchsetzen. Es hat allerdings kürzlich arge Konkurrenz durch die Vokabel turbogeil erhalten. S. affengeil, geil.

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"Jugendsprache"

8. Lexikalische Aspekte der "Jugendsprache": Positive Wertungen Aus: HEINEMANN, Margot: Kleines Wörterbuch der Jugendsprache. Leipzig 1989. riesig Du hast mir was mitgebracht? Das find' ich riesig. > etwas sehr gut finden; syn.: sahnig Sahne/sahne (1) Das hast du gut gemacht, wirklich, volle Sahne. (2) Das ist ein sahne Einfall. t > etwas gefällt sehr gut und wird mit großer Sympathie aufgenommen (1), auch als zustimmende Wendung (2); syn.: der blanke Rahm, die blanke/volle Sahne. sahnig Von den sahnigen Jungs bin ich ein großer Fan. [> sehr sympathische/gut aussehende Personen, seltener auch für Dinge. satt (1) Das ist mal 'ne satte Orgel. (2) Guck mal, die satte Käte da. \> beeindruckend, über das Gewöhnliche hinausgehend, das kann sich auf einen Musiktitel beziehen (1) oder ein Mädchen (2). sauber A: So, jetzt bin ich fertig damit. Wie sieht es aus? B: Sauber! \> als feste Wendung zustimmende Bestätigung, daß etwas sehr gut ist. scharf Das ist 'n echt scharfes Gefühl. [> sehr gut, ungewöhnlich; auch: gut aussehend. schocken Hast du das gesehen? Das schockt, was? t > etwas gefällt sehr gut, als feste Wendung gebraucht. geil Ich finde eure Idee echt geil. [> positive Bewertung einer Sache, seltener für eine Person, weil damit die ursprüngliche Bedeutung gekoppelt wird, die in der Bedeutung ,gut' verlorengegangen ist. steigernd: affengeil, edelgeil, oberaffengeil, ottigeil, absolut, echt, total.

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9. Lexikalische Aspekte der "Jugendsprache": Negative Wertungen Aus: HEINEMANN, Margot: Kleines Wörterbuch der Jugendsprache. Leipzig 1989. Asche Die Musik von denen ist doch Asche. E> etwas taugt nichts, ist sinnlos; entspricht einem müden Abwinken oder ist damit verbunden, seltener bei Personen. astronomisch Der Unterricht war wieder mal astronomisch. Ο realitätsfern, langweilig; auch: übergroß. ätzend (1) Ich koche ganz gern mal, nur der Abwasch ist ätzend. (2) Den Film mußte gesehen haben, der ist unheimlich ätzend. (3) Auf meine Alte laß ich nichts kommen, die ist echt ätzend. > etwas ist sehr schlecht, anstrengend (1); oft eine Zwischenstellung zwischen 'gut' und 'schlecht' einnehmend (2); kann auch ironisch gemeint sein (3). beeumelt Der ist ja beeumelt, der sammelt noch Autos. D> albern/dumm sein, sich lächerlich machen; syn.: beknackt sein. belastend (1) Der Typ ist heute wieder mal echt belastend. (2) Und dann gibt's nicht den richtigen Draht - das ist belastend. Ο etwas wird als unzumutbar empfunden (1); als feste Wendung drückt es allgemeinen Unmut über ein Problem aus (2); steigernd: echt, wahnsinnig. etwas geht ... Das geht mir enorm auf die Ketten! [> etwas stört sehr, was verschiedene Gründe haben kann syn.: den Docht, den Keks, den Kranz, den Sack, aufs Schwein, auf den Senkel.

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"Jugendsprache"

10. Lexikalische Aspekte der "Jugendsprache" - wörterbuchreif? Aus: EHMANN, Hermann: Affengeil. Ein Lexikon der Jugendsprache, 1992.

München

abtörnen in der angloamerikanischen Slum- und Rauschgiftszene ("to turn by dope") entstandenes Verb mit subversivem Charakter, Ggs. —» antörnen; enttäuschen, enttäuscht sein/werden, (sich) sehr langweilen; auffällig die eingedeutschte Schreibweise des englischen turnen. (Eindeutschung auch bei —» Konnäcktschens, —> Äcktschen etc.); in einigen Jahren höchstwahrscheinlich (fester) Bestandteil auch der Umgangssprache; Bsp.: Dein ewiges —> Sülzen/Gesiilze törnt doch jeden —» Macker ab, —> ey. Die Stimmung in dem Laden hier törnt —» echt ab. Als der —> Freak mich —> angemacht hat, war ich —> radikalo abgetörnt. abziehen stammt aus der Militärfachsprache (abziehen = losfeuern, abschießen); seit dem Zweiten Weltkrieg in der Jugendsprache belegt: 1. jemanden (mit oder ohne Gewaltanwendung) übers Ohr hauen, ausnehmen, betrügen; 2. In der Sportsprache: jemanden vernichtend besiegen, keine Chance lassen; 3. sich gelungen produzieren (ohne daß allzuviel dahintersteckt), etwas vor- bzw. darstellen; auch umgangssprachlich gebraucht; Bsp.: Den/die —» Laschi/Lusche kannst du leicht abziehen, der —> checkt nichts. Die "Löwen" haben die "Bayern" abgezogen (Das muß aber schon Ewigkeiten her sein!). Der —> olle —> Fischkopf zieht vielleicht 'ne —> irre Show ab! Action/Äcktsch(e)n syn. Power; viel (gute) Stimmung; aus dem Lateinischen (agere = tun, handeln, etwas verrichten) stammende Vokabel, die über das Englische nach Deutschland kam; bedeutet eigentlich: Tat, Handlung, Einsatz, Bewegung, Tätigkeit; besonders beliebt als Imponiergehabe bei Großstadtjugendlichen; die zu Anfang der 80er Jahre häufige negative Bedeutung (no action) ist sehr selten geworden, es dominieren heute positive Superlative; Bsp.: In der —» Preßlufthüttn war —» totale Äcktschn. Äcktschn full, immer —» cool. Der Lindenberg bringt immer noch —» volle action rüber. ätzend 1. (besonders) schlecht, unangenehm; 2. seit etwa 1990 auch das genaue Gegenteil: (besonders) gut, angenehm; neuerdings auch syn. aidsend; meist superlativisch gebraucht; stammt aus der Chemikerfachsprache (ätzende Säuren); Bsp.: Die Bee Gees sind —> echt ätzend (negativ). Sich —» vollknallen ist —» echt ätzend (positiv). Affe die mit Abstand beliebteste Vokabel aus dem Bereich der "tierischen" Vokabeln (—» Bock, —> Fliege, —> Katze/Kätzchen, —» Hündi, —» saustark/saugut, —¥ schweinegeil, rabenstark, stiermäßig; ich denk, mich knutscht ein —» Elch, etc.); in den verschiedensten Ableitungen wie —> affengeil, affenhart, Affenarsch, Affenkopf, Affenfraß, Affenkasten (= Schulgebäude), Affenkäfig (= Turnhalle), Affenpinscher (—> Fuzzi etc.) gebräuchlich; 1. Dummkopf, Tölpel, Tolpatsch; Person, mit der man nahezu alles ungestraft machen kann; 2. In der Drogensprache: auf Entzug sein, kör-

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perliche Entzugssymptome spüren; 3. Homosexueller; 4. In der Schülersprache: Schultasche, Büchermappe; 5. in bestimmten Wendungen: sich ungesittet benehmen, nicht ganz bei Trost sein; Bsp.: Ich soll hier immer nur für euch den Affen machen. Der Joe hat grad 'nen Affen/ist grad auf dem Affen. —» Ey Mann, sag bloß, der Boy George ist auch so'ne Affensuse? Mensch, dein —> Alter ist wohl vom wilden Affen gebissen? affengeil besonders gut, schön, interessant; vor allem bei 13-18jährigen Kids beliebtes überregionales Steigerungswort für —» geil (auch —> saugeil, schweinegeil); eignet sieh besonders für die Superlativierungstendenzen des Schülerjargons; siehe auch —» Affe; Bsp.: Der —* Typ ist überultraoberaffengeil. Alka-Sülzer Person, die im alkoholisierten Zustand nicht gerade druckreifes Zeug —» sülzt; läßt sich ableiten von den Alka-Seltzer-Tabletten, zu denen man vor allem nach Alkoholexzessen zu greifen pflegt; Bsp.: Schaut auch die beiden Alka-Sülzer an! Alk(i) (norddt.) meist geringschätzig: Alkoholiker; Person die stets etwas zu trinken organisiert; Bsp.: Wenns gar nicht anders geht, —> penn ich halt ein paar Nächte bei den Alkis unter der Brücke. also tatsächlich, wirklich; wird oft als stereotyper Nachtrag zu einem Satz verwendet und meint eine nachdrückliche Bestätigung des Gesagten; gelegentlich als "Verlegenheitsfloskel"; auch in der Umgangssprache häufig anzutreffen; Bsp.: Das fand ich —» echt ganz —» toll, also. —» irgendwie war das also ganz okay. Alte(r) 1. syn. —» Erzeuger, —> Mumien; Eltern; 2. fester Freund, feste Freundin; 3. guter Kumpel, Kumpan; weit verbreitet, meist geringschätzig gemeint (im Gespräch mit Dritten), gelegentlich aber auch zärtlich (im persönlichen Gespräch); Bsp.: Meine Alten sind —> echt das Letzte. Meine Alte hat heute keinen —> Bock auf eure —» Fete. Mensch Alter, wenn ich dich nicht hätte!

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11. Lexikalische Aspekte der "Jugendsprache" - ostdeutsch? urst (ostdt.) syn. —> galaktisch, irre, kosmisch, —¥ toll; hervorragend, klasse; ausschließlich bei ostdeutschen Jugendlichen gebräuchlich; die etymologische Herkunft liegt im Dunkeln; Bsp.: Die Feten am letzten Wochenende waren —» echt urst. Der Golf ist ein urster —» Schlitten. Aus: EHMANN, Hermann: Affengeil. Ein Lexikon der Jugendsprache. München 1992. urst (1) Die Antwort ist doch urst logo. (2) Die Käte sieht doch urst gut aus. (3) Ich habe urst abgestunken. (4) Ich glaube, erfreut sich urst sehr darüber. [> Die Allgemeinbedeutung ist ein positives Unterstreichen einer Aussage; Varianten dazu sind 'absolut/vollkommen' (1), sehr (2), 'groß' im Sinne von 'große Wut haben' (3); nur noch unterstützenden Charakter einer schon formulierten Aussage (4). Aus: HEINEMANN, Margot: Kleines Wörterbuch der Jugendsprache, Leipzig 1989. deli (ostdt.) delikat, kapriziös, angenehm; jugendsprachliche Abkürzung des Adjektivs "delikat"; die Vokabel ist schwerpunktmäßig in Sachsen bzw. Thüringen im Umlauf; Bsp.: —> Also das Essen war —> ehrlich deli. Der Lindenberg bringt immer noch 'ne deli Show, obwohl der ja auch schon ein —> Grufti ist. Aus: EHMANN, Hermann: Affengeil. Ein Lexikon der Jugendsprache, München 1992. deli Die Platte ist einfach deli, wirklich. D> positive Wertung Aus: HEINEMANN, Margot: Kleines Wörterbuch der Jugendsprache, Leipzig 1989.

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12. Jugendliche in der Gruppe · Thema "Überraschungseier' Nach: H E I N E M A N N , Margot: Zur Varietät "Jugendsprache". In: Praxis Deutsch. 18. Jg. (H. 110). Nov. 1991, S. 8. Das Gespräch ist 1991 in Leipzig aufgenommen worden. Hier eine stark vereinfachte Transkription: Sprecher und Sprecherinnen: C und H: weiblich Α und K: männlich 1 C: 2 K: 3 C: 4 K: 5 H: 6 K:

K, weißte, was wir neulich wieder gegessen haben? Überraschungseier. Ja, ich hatte mir in letzter Zeit auch welche gekauft. Ich hab 'n Turtle drin gehabt. Ich noch nie!! Ich hätte abkotzen können. Ich hab auch keine drin gehabt. Die Alte zieht immer die richtigen Dinger! Weißte, wie mich das aufregt, geh, ich hab jetzt so 50- 60, eh, solche Viecher auf 'm Schrank stehen, und jedesmal, wenn ich am Freitag staubwischen muß, da frag ich immer, ob ich jetzt 'n Staubsauger nehmen und rrtsch drübergehe, oder - da sind ja immer alle weg, 's is ja Scheiße. Da muß ich immer alles umbauen, eh, (...) Aber so einen hab ich noch nicht, leider. 7 H: Die wollen dir 'n abluchsen! 8 K: Ja, ja, was war's für'n Vieh? 9 A: Sag mal, sag mal! 10 H: Einer mit 'n Schirm, geh?! 11 K: Ohh, hast du einen?! 12 H: Und einer mit 'ner Melone oder so was, geh? 13 K: Da gibt's noch einen, der liegt so, und der hat hinten Blumen oder so was drauf. Der sieht geil aus! 14 A: Was is'n eigentlich mit 'm Fahrstuhl? 15 H: Der geht wieder, hat 'se heute festgestellt, als wir gefahren sind. In der 6. Etage hat 'se festgestellt, eh, Mann, der Fahrstuhl geht ja wieder!! 16 C: Oh, na, das war so (...) Die war's ganze Wochenende nicht bei mir. Und weißte warum. Weil 'se nicht hochlaufen wollte! 17 H: Stimmt gar nicht, erzähl nicht so'n Scheiß! Du warst gar nicht da, du hattest ja anderweitig zu tun!

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13. Jugendspezifischer

Sprechstil

Aus: SCHLOBINSKI, Peter/KOHL, Gaby/LUDEWIGT, Irmgard: Jugendsprache. Fiktion und Wirklichkeit, Opladen 1993:139f. 1 Darek: 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Schüler: 11 Detlef: 12 Darek: 13 14 Detlef: 15 Schüler: 16 Darek: 17 18 Detlef: 19 Schüler: 20 21 Darek: 22 I: 23 Schüler: 24 Darek: 25 26 Darek: 27 Schüler: 28 I: 29 Schüler: 30 Darek: 311: 32 Darek: 33 Detlef: 34

hille ne? steht vor der turnhalle (.) hille hörst du? sie steht vor der turnhalle da ne (.) macht mich voll an (.) ich so zu ihr was willst du denn du kampfschwein? sie kommt so auf mich zu packt mich so ne (.) ich könnt lösen ne (.) ich hab mich gelöst ne (.) ihr einen in nen bauch gehaun (.) sie weggeschubst (.) voll umgedrehtf.) mit nemfuß voll ans auge sie merkt nichts sone beule (.) und sone schramme voll am auge ne = die merkt auch gar nichts = da hauste der in bauch bumh voll mit der hacke voll ein aufs auge getreten (.) sie die ganze sportstunde voll am heulen ey hille am heulen? nur weil sie einen mit nem fuß gekriegt hat? ja (.) ich zu ihr ja was is denn? ja du hast mich geohrfeigt (.) bei soner beule ey von ner ohrfeige was meinste die zerdrückt dich mal? ey ooh junge ey (.) die und heulen ey (.) bei som kleinen fußtritt ey ich haue ihr in den bauch (.) sie merkt nichts ey wer ist hille? sone ganze fette hille (.) unser kampfschwein ((Lachen)) die is aber nich mehr normal ey echt (.) ey lehrerin (.) oder was ist sie? diese andere (.) stein (.) annika oder wie sie heißt Schülerin ne Schülerin? ne Schülerin (.) vierzehn ist die (.) vierzehn echt die trägt schwangerschaftsklamotten (.) obwohl se nich schwanger is

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35 Darek: 36 37 38 39 Schüler: 40 Darek: 41 42 43 44 Schüler: 45 Darek: 46

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= ich hau ihr in bauch ne? ich hau ihr in bauch ey (.) fühlt sich genauso an als wenn de auf nen trampolin schlägst bschuch bschch (.) ich schwörs dir du (.) und im sport die ganze zeit am heulen (1 sec) echt ey die ey hat mich voll gepackt ey (.) einmal ich (.) sie hat mir voll gegens Schienbein getreten (.) ich dachte das bein ist durchgebrochen (.) junge bei soner keule ev sone waden ev(.) da kannste kannste da träumen wir nur von ((lacht)) = da kannste arnold nich mehr mit vergleichen ey ((Lachen))

14. Jugendsprache als Zugang zu Jugendlichen? Aus: "... na bitte" ... Berufe, an die man nicht gleich denkt! Broschüre, hrsg. vom Parlamentarischen Staatssekretär für Jugend und Sport des Landes Schleswig-Holstein. 1986:108. Programmierer/Programmiererin Diese Leute kochen das Futter für die Computer. So gut wie sie sind (oder so schlecht), so gut (oder schlecht) ist auch die Maschine. Voraussetzungen: Lust auf Logik und straightes Lernen. Viele, die einmal draufkamen, kommen bis heute nicht mehr davon los. Was Sache ist Mit der offiziellen Seite des Berufes haperts noch. Es wimmelt nur so von Überfliegern mit den tollsten Titeln. Die Realisten fahren auf Sachlichkeit ab. Die bekanntesten beim staunenden Publikum sind die Programmierer. Die sind schuld, wenns klappt und auch schuld, wenns nicht klappt. Merke: Computer sind doof. Köpfchen hat der Programmierer. Jede Menge Einstiegschancen. Sich umsehen: Ist gefragt. Wie man's wird Am besten einen Basisberuf lernen, ζ. B. jede Art der kaufmännischen/technischen Ausbildung. Begabung für Zahlen und Logik mitbringen, computermäßig denken können. Ist das überstanden, geht es derzeit zumeist über Eigeninitiative weiter. Computersprachen lernen geht ζ. B. über Firmen, die Computer verkaufen. Oder der Betrieb schickt den zukünftigen Programmierer zu Lehrgängen. Auch private Schulen offerieren Ausbildung. Die ist manchmal teuer und schlecht, manchmal preiswert und gut. Vorher genau erkundigen. Die Profis vom Arbeitsamt wissen, was Sache ist. Vorher fragen lohnt. Leute mit Abi studieren häufig Informatik. Auch das ist eine Klasse-Eintrittskarte in die Welt der Computer. Dann geht es in die Praxis. 320

"Jugendsprache"

Das sogenannte Hardware-System am Arbeitsplatz kennenlernen. Die Anwendersprachen, die das System verarbeiten kann, checken. Maschinenprogramme entsprechend den gestellten Aufgaben entwerfen. Neue, eigene Programme "erfinden". Diese testen, testen, nochmals testen. Was ist was? Hardware: Die Geräte selbst. Software: Die Programme, mit denen die Hardware erst ihr Geld wert ist. Byte: Speichereinheit. BASIC-Fortran/Algol/DBASE: Maschinensprachen. Kleine Kurse zwischendurch Wer denkt, einmal ein Programm gefahren, hält für lange, wird sich wundern. Die Entwicklung ist schnell wie Speedy Gonzales. Wer am Ball bleiben will, muß eigentlich ununterbrochen weiterlernen. Wer erst mal Computerblut geleckt hat, wird sowieso zum Freak, der weiß auch, wo es bildungsmäßig weitergeht. Nichts für lahme Langsamschalter.

15. Stilisierung jugendlicher

Sprechweisen

Aus: CLAUS, Uta/KUTSCHERA, Rolf: Bockstarke Klassiker. Frankfurt/M. 1988. S. 10 (Auszug aus "Faust"): PROLOG im HIMMEL Der Herr: Mensch, Mephi, das nervt mich ungeheuer, daß Du immer nur rummotzt! Im Himmel sind zu sinnierend Red' vereint der Herr und Mephistopheles, der Böse, der unzufrieden mit dem Umstand ist, daß Gott dem Menschen gab Vernunft. Mephisto: Echt ätzende Chose! Versaut doch total jede geile Action. Da faßt Mephisto einen Plan. Den Doktor Faustus, den studierten Mann, der gerade nach dem rechten Lebensweg noch sucht, will er vom Pfade der Vernunft abbringen und hinführen in sein eigen teuflisch Reich. Mephisto: Wetten, daß ich Dir den Doc abluchse, Big Boss? Der Herr geht auf die Wette ein. Solange Faust auf Erden lebt, darf Mephisto sein Glück an ihm versuchen. Im Tode aber will der Herr den Faust zu sich ins Reich hinnehmen. Der Herr: Ist gebongt, Mephi, leg Dich ruhig ins Zeug. Aber sobald der Doc vom Schlitten rutscht, hast Du bei ihm nix mehr zu melden. Dann bin ich am Drücker! So ward die Wett' geschlossen. *

In dunkler Nacht sitzt Faust in seinem Zimmer. Ihm ist der Kopf vom Grübeln schwer. Des Lebens Sinn und Zweck will er erforschen. Doch kann es ihm gelingen nicht, trotz seiner vielen Studien.

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Marlies REINKE

Faust: Sämtliche ätzenden Infos hab ich mir reingepfiffen. Und was ist Sache? Ich häng in der Landschaft wie ein Hirni und blick's genauso bescheiden wie vorher! Um zu erkennen, was die Welt im innersten zusammenhält, tat der Magie er sich ergeben. Doch als er dort selbst keine Lösung seiner Fragen find', er greifen will zum Letzten. Ein Fläschlein Gift grüßt vom Regale hoch hinab zu ihm. Faust: Null Bock auf Future! Ich glaub, ich geb den Löffel freiwillig ab. Her mit dem Stoff und ab in die Kiste. Ex und hopp! Doch eh' es naht der Mund der gift'gen Schale sich, setzt ein gewaltig Tösen an: des Osterfestes erste Feierstunde beginnt mit Glockenschlägen und hält den Faust von seiner Tat zurück. Faust: Echt geile Nummer, kerniger Sound. Das törnt ja wahnsinnig an! Ich glaub, ich mach doch noch ein paar Takte länger mit. Gerettet ist der verzweifelt' Mann vorerst. Am Ostermorgen tritt er vor das Tor der Stadt, wo's Volk den Frühling feiert mit Tanz und Sang und Lachen. Faust: Die Peoples hier sind ja brutal gut drauf heute und die Vibs springen total rüber. Doch obwohl ihm wird das Herze weit und Lebensfreude will ihn greifen, ist noch der nächtlich Geist in ihm, der ihn nicht läßt. Zwei Seelen spürt er ach in seiner Brust: Verzweiflung und auch Freude. Faust Ich hab ein Feeling wie der letzte Schizo drauf. Als er den Schritt nach Hause lenkt, folgt ihm ein Pudel von dem Feld bis in die dunkle Stube. Erst achtet er ihn kaum und sitzt gebeugt am Tisch. Die Leichtigkeit des Tags verflog, kein Freude will mehr aus dem Busen quellen. Zudem das Tier noch unruhig wird - das Denken tut 's ihm stören. Faust: Schnauze, Du abgefuckte Mist-Töle, jetzt nerv mich nicht auch noch! Dein Gekläff geht mir irre auf die Eier! Da plötzlich wird der Hund zum Mann in einem großen Krach und Nebel. Mephisto tritt auf Faust hinzu, er war des Pudels Kern.

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