Deutsch aktuell. Einführung in die Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache [1] 8843032186, 9788843032181

La lingua si adatta alle mutevoli condizioni di vita. Come strumento per realizzare azioni comunicative, deve tenere con

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German Pages 270/269 [269] Year 2004

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Deutsch aktuell. Einführung in die Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache [1]
 8843032186, 9788843032181

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LINGUE E LETTERATURE CAROCCI

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I lettori che desiderano informazioni sui volumi pubblicati dalla casa editrice possono rivolgersi direttamente a: Carocci editore via Sardegna 50, 00187 Roma, telefono o6 42 81 84 17, fax o6 42 74 79 31

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Deutsch aktuell Einfuhrung in die Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache herausgegeben von Sandro M. Moraldo und Marcello Soffritti

Carocci editore

Il volume è stato pubblicato con un contributo del Dipartimento di Studi Interdisciplinari su Traduzione, Lingue e Culture dell'Università degli Studi di Bologna

ra

edizione, novembre 2004 © copyright 2004 by Carocci editore S.p.A., Roma Realizzazione editoriale: Omnibook, Bari Finito di stampare nel novembre 2004 dalla Litografia Varo (Pisa) ISBN

88-430-3218-6

Riproduzione vietata ai sensi di legge (art. 171 della legge 22 aprile 1941, n. 633) Senza regolare autorizzazione, è vietato riprodurre questo volume anche parzialmente e con qualsiasi mezzo, compresa la fotocopia, anche per uso interno o didattico.

Inhalt

Vorwort

9

Gerhard Stickel (Mannheim) Das heutige Deutsch: Tendenzen und Wertungen

n

Ulrich Ammon (Duisburg) Standardvarietaten des Deutschen: Einheitssprache und nationale Varietaten

33

Werner Kallmeyer l Inken Keim (Mannheim) Deutsch-tiirki sche Kontaktvarietaten. Am Beispiel der Sprache von deutsch-tiirkischen Jugendlichen

49

Christine Bierbach l Gabriele Birken-Silverman (Mannheim) Sprache italienischer Migranten in der Bundesrepublik Deutsch�d



Ulrich Busse (H alle-Wittenberg) Anglizismen in Deutschland: historische Entwi cklung, Klassifizierung, Funktion ( en) und Einstellungen der Sprachteilhaber

8r

Bernhard Kettemann (Graz) Anglizismen allgemein und konkret: Zahlen und Fakten

94

Richard J. Watts (Bern) Einfliisse des Englischen auf die deutsche Schriftsprache in der Schweiz und die Schweizerdeutschen Dialekte

II3

8

I NH ALT

Marco Baschera (Zi.irich) Wie vie] Englisch ertragt di e mehrsprachige Schweiz ?

124

Johannes Volmert (Magdeburg) Jugendsprachen - Szenesprachen

134

Horst Dieter Schlosser (F rankfurt) Die deutsche Sprache in Ost- und Westdeutschland

159

Dieter N erius (Potsdam) Rechtschreibung und Rechtschreibreform

169

Karin M. Eichhoff-Cyrus (Darmstadt) Feminismus - eine gesellschaftspolitische Bewegung verandert die deutsche Sprache

194

Eva-Maria Thi.ine (Bologna) Sprachliche Geschlechterfragen: Wie im Deutschen und Italienischen auf Frauen und Manner Bezug genommen wird

202

Marcello Soffritti (Forlì) Wissenschaft und Sachkenntnis im Internet - Formen der Popularisierung im heutigen Deutsch

216

Dorothee Heller (Bergamo) Deutsch als Wissenschaftssprache

230

Giovanni Gobber (Milano)

Uberlegungen zur Kasus-Markierung im heutigen Deutsch

242

San dro M. Moraldo (Forl ì) Medialitat und Sprache. Zur Verlagerung von Sprachkommunikation auf Datentransfer am Beispiel von SMS und eMail

253

Vorwort

Wenn die Realitat sich andert, andert sich auch die Sprache. Die wachsende Durchdringung der Arbeitswelt mi t leistungsfahigen Informations- un d Kom­ munikationstechniken, die den Wandel von der Industrie- zur Informations ­ und Mediengesellschaft ermoglicht haben, der Fortschritt bei der Weiterent­ wicklung der Mobilfunktechnik, die Globalisierung und der Trend hin zur mul­ ti- bzw. interkulturellen Gesellschaft sind nur einige Beispiele rezenter Ent­ wicklungsstadien, an denen sich auch der Wandel der deutschen Sprache fest­ machen lasst. Man denke etwa an die Anglizismen, die im Zuge der technologi­ schen Entwicklung in immer mehr Arbeitsfelder eindringen, an soziolinguisti­ sche Entwicklungen des gegenwartigen Deutsch in ethnischen Milieus von mi­ grantenstammigen J ugendlichen oder an mediale Stile, die auf kreative Weise sprachliche Wirkungsmoglichkeiten ausschopfen. Sprache passt sich immer wieder wandelnden Lebensverhaltnissen an, da sie als Instrument der Realisie­ rung von kommunikativen Handlungen diesen Veranderungen Rechnung tra­ gen muss. Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer italienisch-deutschen Zusam­ menarbeit und will die Breite des Spektrums und den Entwicklungsstand auf dem Gebiet der Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache reflektieren. Er ha t si eh zum Ziel gesetzt, sowohl instruktiv ii ber wichtige Themenkomplexe wie Standard- und Kontaktvarietaten des Deutschen, Sp rache und Feminismus, Anglizismen und Wissenschafts- und Fachsprache Deutsch zu informieren als auch kompakt in weitere wesentliche Aspekte der deutschen Gegenwartsspra­ che Gugendsprache, Rechtschreibung und Rechtschreibreform, die deutsche Sprache in Ost- und Westdeutschland, Kasus-markierung im heutigen Deutsch und Medialitat und Sprache) einzufiihren. Jeder Beitrag schlie.Bt mit einer aus ­ fiihrlichen Bibliographie, die an die neueste internationale Forschungsliteratur und -diskussion heranfiihren und den Interessierten zu eigenstandigem Arbei­ ten anregen soli. Dass das Buch auf Deutsch in einem italienischen Verlag erscheint, hat meh­ rere Griinde. Um nur den wichtigsten zu nennen: die Ausdifferenzierung des Lehr- und Lerngegenstandes der germanistischen Linguistik an italienischen Universitaten im Zuge der Hochschulreform. Bisher unter der Bezeichnung Lingua e letteratura tedesca (mit eindeutigem Schwerpunkt auf der Litera­ turwissenschaft) eher stiefmiitterlich behandelt, steht diese Teildisziplin der Germanistik vor einer entscheidenden Wende und ihrer definitiven Etablierung

IO

VORWORT

als autonomes Unterrichtsfach. Dies Hisst sich am Entstehen eigenstandiger Studiengange und der Vielfaltigkeit des Lehrangebots im Vergleich zu friiher ablesen, ein Lehrangebot, das selbstverstandlich auch auf eine groBere fremd­ und fachsprachliche Kompetenz als bisher abzielt. Zurzeit zeichnet sich inner­ halb der italienischen Germanistik die Tendenz ab, den Studierenden durch Einfiihrungen und Herausgabe von Sammelbanden wissenschaftliche Leitfra­ gen der germanistischen Linguistik auf hohem un d doch verstandlichem Niveau zu prasentieren. In diese Tendenz reiht sich auch dieser Sammelband ein. Doch richtet er sich nicht nur an italienische Studierende der germanistischen Lin­ guistik in hoheren Semestern, sondern auch an F achgermanisten, Lehrer un d Vertreter des Faches Deutsch als Fremdsprache, die ihr Wissen iiber die neue­ ren Entwicklungstendenzen in der deutschen Gegenwartssprache erweitern wollen. Der Band soll zur wissenschaftlichen Fundierung der deutschen Spra­ che in Italien beitragen, das fruchtbare Spannungsverhaltnis zwischen National­ philologie und Auslandsgermanistik fordern, den wissenschaftlichen Ge­ dankenaustaus ch bereichern und nicht zuletzt auch zur Kenntnisnahme der italienischen Germanistik (nicht nur) in Deutschland fiihren. Die Herausgeber danken dem Institut fiir Deutsche Sprache (Mannheim) fiir die wertvolle Un­ terstiitzung bei der Planung des Bandes, dem Verlag fiir die Aufnahme des Ban­ des in seine Reihe "Lingue e Letterature Carocci" und - last but not least - den Autorinnen und Autoren fiir ihre Beitrage und Kooperationsbereitschaft. Forfi, im November 2004 MARCELLO SOFFRITTI

SANDRO M. MORALDO

Gerhard Stickel

Das heutige Deutsch: Tendenzen und Wertungen

Einleitung J ournalisten

erkundigten si eh vor einigen J ahren beim Institut fur Deutsche Sprache (IDS) wieder einmal besorgt nach dem Zustand der deutschen Sprache. Frohlich reagierte einer meiner Institutskollegen mit der Bemerkung: «Die deut­ sche Sprache ist gut in Schuss». In mehreren Zeitungsartikeln und Briefen wur­ de uns daraufhin vorgehalten, schon die Form einer solchen Alillerung sei symp­ tomatisch fiir die schlechte Verfassung des Deutschen. Offensichdich besteht ein verbreitetes Bediirfnis, das heutige Deutsch und seine Entwicklung insgesamt zu bewerten. Anders als mein Kollege, der nur eine lastige Frage abwehren wollte, scheuen sich aber die meisten Linguisten davor, den Gesamtzustand einer Sprache zu charakterisieren oder gar zu bewerten, und dies mit guten Griinden. Generelle Tendenzen der laufenden Sprachentwicklung festzustellen, ist schwie­ rig, schwieriger wohl noch als die Erfassung anderer komplexer Prozesse, etwa der Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft eines modernen Staates. Es fehlt die Beobachterdistanz. Zudem gibt es im Unterschied zu den monetaren Einhei­ ten, mit denen sich Wirtschaftsprozesse vergleichen und bewerten lassen, fiir ei­ ne Sprache und ihre Entwicklung keine standardisierten Messgro.Ben. Gro.Ben wie Sprecheranzahl, Publikationsdichte, durchschnittliche Satzlange, Wort­ schatzumfang pro Sprecher und ahnliche kann man zwar ermitteln. Daraus lasst sich aber nicht so etwas wie ein sprachliches Bruttosozialprodukt ableiten 1• Hinzu kommt, dass auch der Sprachwandel in der Vergangenheit, zu dem die erforderliche Beobachterdistanz besteht, im Gro.Ben und Ganzen zwar be­ schrieben, bisher aber nur unzureichend erklart werden konnte. Anderungen des Wortschatzes, der morphologischen und syntaktischen Regularitaten, von Stilformen un d Textkonventionen sin d sorgfaltig erfasst un d analysiert worden. Als gesellschaftlicher Prozess ist Sprachwandel aber von so vielen Faktoren ab­ hangig, dass er sich zumindest in einem naturwissenschaftlichen Sinn nicht streng kausal erklaren lasst. Bedingung fiir eine solche Erklarung ware die prin­ zipiell nicht zu leistende Aufdeckung aller Griinde und Motive, wann, warum und wie die vielen einzelnen Mitglieder einer Sprachgemeinschaft nach und nach ihren eigenen Sprachgebrauch andern. Weitgehender Konsens besteht in der modernen Sprachwissenschaft in der Annahme von zwei generellen, gegenlaufigen Bestrebungen, die den Sprachge­ brauch der einzelnen Sprecher und Schreiber bestimmen: Zum einen ist es das

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GERHARD STICKEL

Bemiihen um sprachliche Anpassung, d.h. das Bemi.ihen, moglichst so zu reden und zu schreiben wie die anderen, wie die Menschen der jeweiligen Bezugs ­ gruppe, um problemlos verstanden und akzeptiert zu werden. Dem entgegenge­ setzt ist das Bemiihen um sprachliche Originalitat, d.h. das Bestreben, bemer­ kenswert anders zu reden und zu schreiben als die anderen, um aufzufallen, um von den Adressaten beachtet zu werden. Die relative Stabilita t einer Sprache be­ ruht auf dem Vorherrschen der ersten Bestrebung. Sprachwandel ergibt sich aus einer Mischung beider Bestrebungen. Das erstmals entlehnte Fremdwort zum Beispiel, das neugebildete Kompositum oder die abweichende Wortstellung er­ zeugen Aufmerksamkeit, werden deshalb wiederverwendet und schlie.Blich von anderen iibernommen, die sich der Neuerung anpassen, soweit diese sich als kommunikativ ni.itzlich erweist 2 • Dies gilt im Ù brigen auch fiir sprachliche Neue­ rungen durch explizite Vereinbarung oder Vorschrift. Sie setzen sich auf Dauer nur in dem Ma.Be durch, in dem sie den kommunikativen Bedi.irfnissen der je­ weiligen sozialen Gruppe oder gro.Ber Teile der Sprachgemeinschaft insgesamt entsprechen. So hat sich im au.Berfachlichen Sprachgebrauch zum Beispiel ein verwaltungssprachlicher N eologismus wie Auszubildender (statt dem alten Lehr­ ling) nur in der Kurzform Azubi durchgesetzt. Nie durchgesetzt hat sich im all­ gemeinen Sprachgebrauch das amtlich vorgegebene/ernsprechen anstelle von te­ le/onieren trotz aller Anstrengungen der friiheren Reichs- un d Bundespost 3• Damit soll das Thema aber nicht abgetan werden. Anstelle einer umfassen­ den Bestandsaufnahme, die nur in einem mehrbandigen Werk zu leisten ware, sollen als eine Art Praludium zu den folgenden Beitragen in diesem Band eini­ ge bemerkenswerte Veranderungen des heutigen Deutsch in drei Bereichen vor­ gestellt und kommentiert werden: Beispiele fiir ungesteuerte Veranderungen des Deutschen aus Grammatik, Lexik, Pragmatik, regionaler und sozialer Varianz; Zwei Beispiele fi.ir gezielte normative Sprachveranderungen: Sprachfemi­ nismus und Rechtschreibreform; Deutsch im vielsprachigen Europa. Dabei soli unter anderem zwischen Veranderungen unterschieden werden, die sich ungesteuert, d.h. ohne gezielte Ànderungsbestrebungen erge ben haben, und solchen, die gesteuert durch Bemi.ihungen bestimmter Gruppen oder staat­ liche Normvorgaben bewirkt worden sind. I

Beispiele fiir ungesteuerte Veranderungen des Deutschen

r. r. G rammatik

Die Grammatik einer Sprache im engeren Sinn morphologischer und syntakti­ scher Strukturen andert sich bekanntlich nur sehr langsam, insbesondere im Vergleich zur Lexik, die sich in Teilen rasch wandelt. Von aktuellen grammati­ schen Neuerungen ist deshalb nur wenig zu berichten. Es lassen sich dennoch einige Veranderungsprozesse aufzeigen, deren Anfange zum Teil schon weiter in die Vergangenheit zuriickreichen.

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Als die Studentenbewegung der "Achtundsechziger" Mitte der siebziger J ahre durch die sogenannte Spontibewegung abgelost wurde, anderten sich auch di e an Mauerwande gespruhten Parolen. An die Stelle politischer Maxi­ men traten allerlei komische und abstruse Aufforderungen. Zu den besonders witzigen Spriichen gehorte der Appell: "Rettet dem Dativ ! " . Ober die Entste­ hungsgeschichte dieses sprachpflegerischen Imperativs weill ich nichts Genau­ es. Vermutlich ging es dabei um ein ironisches Spiel mit der Besorgnis einiger Sprachkritiker, der Dativ als Objektkasus gehe zuriick zugunsten des " inhuma­ nen Akkusativs " , der sich mit be-Verben wie belie/ern, beschenken, begluck­ wunschen, bezuschussen u. a. verbindet. Diese besonders in der Verwaltungs­ sprache beliebten Verben fordern statt eines Dativs ein Akkusativobjekt. Wie sich aber langst herausgestellt hat, ist der Dativ als syntaktische Kategorie hier­ durch nicht gefahrdet (Kolb 196o). Die be-Verben mit Akkusativ ermoglichen lediglich eine andere Mitteilungsperspektive als die einfacheren Verben mit Da­ tivobjekt. Man vergleiche: Er schenkt ihr ein Buch. Er beschenkt sie mit einem Buch.

Falls man Veranderungen im grammatischen System einer Sprache iiberhaupt als Grund zur Sorge ansieht, miisste man sich beim Deutschen weniger um den Da­ tiv als um den Genitiv sorgen. Die zutreffende Mahnung ware also nicht "Rettet dem Dativ ! " , sondern "Rettet des Genitivsl" 4• Tatsachlich geht der Genitiv als Objektkasus immer weiter zuriick, eine Entwicklung, die schon im 19. J ahrhun­ dert begonnen hat (vgl. Sommerfeldt 1980: 218 f.) . Die Anzahl der Verben mit Ge­ nitivobjekt hat sich seitdem stark verringert bis auf einige wenige, die zumeist nur in Texten einer gehobenen Stilschicht verwendet werden. Hierzu gehoren: anklagen, bedur/en, gedenken, harren, sich befleifligen, sieh bemà'chtigen/entledigen/ent­ sinnen/ruhmen/schà'men/vergewissern und wenige andere.

Von einigen dieser Verben gibt es inzwischen auch Verwendungen mit einem Prapositionalobjekt statt eines Genitivobjekts: Er wird des Mordes/wegen Mord angeklagt. Sie erinnert sich des Vor/alls/an den Vor/all.

Andere Verben dieser Gruppe lassen sich allenfalls noch in ironisch altertiimeln­ der Weise verwenden. Zum Beispiel kann man anstelle von Ieh warte au/Ihren Vor­ schlag beute nicht mehr ernsthaft sagen oder schreiben: Ich harre Ihres Vorschlags. Wahrend die verbabhangigen Genitive weniger geworden sind, haben die prapositionsabhangigen Genitive zugenommen. Auch dieser Trend ist nicht neu, setzt sich aber ungebrochen fort. Neben Genitivprapositionen wie statt, trotz, wegen, von denen einige auch mit dem Dativ vorkommen, werden mehr un d mehr W orter nominaler un d adjektivischer Herkunft als Prapositionen mi t Genitiv gebraucht, und zwar nicht nur wie friiher vorwiegend in Rechts- und

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Verwaltungstexten, sondern zunehmend auch in fachlich neutraler Gemein­ sprache. Hierzu gehoren: abzuglich) angesichts) anliisslich) anstelle) aufgrunc4 ausschliefllich) bezuglich) einschliefllich) hinsichtlich) in/olge) innerhalb) ungeachtet) vorbehaltlich

und mehrere andere. Bei einigen dieser Formen konkurriert der Genitiv mit dem Dativ. Konservative Sprachfreunde schatzen den Dativ nach Genitiv-Pra­ positionen weiterhin nicht. Wegen dem Regen klingt nun einmal weniger fein als wegen des Regens 5. Im Ù brigen schwacht sich in der Umgangssprache, aber auch in Zeitungs­ texten, die morphologische Markierung des Genitivs mit -es oder -s ab, z.B. in Fallen wie der An/ang des Mai(s)) die Kursschwankungen des Dollar(s)) die 1\lfuhen des Alltag(s).

Als normgerecht gelten diese suffixlosen Genitivattribute noch nicht. Sie wer­ den vermutlich zunehmend toleriert, weil in solchen Nominalphrasen der Ge­ nitiv eindeutig durch die Artikelform des ausgedruckt wird. (Die Artikelformen der, die, das, den sind anders als die eindeutigen des und dem nicht kasus-genus­ numerus-eindeutig) . Der Ruckgang der flexionsmorphologischen Markierung des Genitivs steht im Zusammenhang mit morphologischen Vereinfachungen in anderen Fallen. So wird mehr und mehr auf die Markierung des Dativs und Akkusativs Singu­ lar mi t -en verzichtet in Fallen wie einen Automat(en) , dem Dirigent(en), den Prii­ sident(en), einem Advokat(en ) . Kaum mehr ublich ist die Dativ- oder Akkusativ­ kennzeichnung mit -e bei dem Mann (e), au/ dem Land(e) , die Tiir(e) . Entgegen gelegentlich vertretener Befurchtungen werden Genitivattribute aber nicht weitgehend durch Nominalgruppen mit von ersetzt, wenngleich der Genitiv auch als Attributskasus etwas zuruckgegangen ist (vgl. Gluck l Sauer I 9 9T 50 ff. ) . Neben dem umgangssprachlichen das Gesicht von diesem Menschen gibt es weiterhin das Gesicht dieses Menschen. Auch hier gilt: Der Genitiv hort und liest sich etwas formeller als das von-Attribut. Bei Eigennamen als Attribu­ ten besteht die Tendenz, kurze N amen im Genitiv voranzustellen, langere oder komplexe N amen als von-Attribut nachzustellen: Peters Vortrag der Vortrag von Dr. Peter Wei&biicker

Noch eine Bemerkung zu den Prapositionen 6, und zwar speziell zur Prapositi­ on iibe r. Seit mehreren Jahren ist ein vermehrter Gebrauch von iiber in Abhan­ gigkeit von Verben und Nomina dicendi et sentiendi zu beobachten. Statt reden von) zweifeln an) bemerken zu) trà·umen von) diskutieren ( + Akk1 Ansicht!Mei­ nung/MitteilunglAnnahme!Theorie/Hypothese von

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liest und hort man zunehmend: reden abe1; zwez/eln abe1; bemerken abe1; tréiumen abe1; diskutieren abe1; Meinung/Mit­ teilung/Annahme/Theorie/Hypothese aber.

Uber ist damit auf dem Weg zu einer Art Universalpraposition zu werden, mit der Inhalte un d Gegenstande der Kommunikation un d d es N achdenkens mar­ kiert werden. Von Sprachkritikern oft beklagt wird der abnehmende Gebrauch des Kon­ j unktivs II. Kaum mehr gebrauchlich ist er bei starken Verben wie hel/en, lugen, fliehen, !aden . Anstelle von ich hulfellogel/lohellude sind langst wurde-Peri­ phrasen allgemein gebrauchlich, also ich wurde hel/en/lugenl/liehen/!aden. Die­ s e Entwicklung ist nicht neu. Dass der Konjunktiv II als morpho-syntaktische Kategorie allmahlich verschwindet, stimmt jedoch nicht. In Konditionalgefi.igen braucht man ihn weiterhin: Hiitte sie mich geru/en, wiire ich so/art gekommen. Andererseits geht der Konjunktiv I zur Kennzeichnung der indirekten Re­ dewiedergabe zuri.ick. Auch in Zeitungen findet man Satze wie: Der Minister er­ k liirte, die Konjunktur erholt sich (statt: die Konjunktur erhole sich ) . Zwingend ist die Markierung durch den Konjunktiv I in solchen Fallen weiterhin, wenn ein geeignetes redeeinleitendes Verb oder Nomen fehlu. Im Beispiel: Der Minister erkldrte, die Konjunktur erholt sich. Dies sei (:�ist) ein Ergebnis der wirt­ scha/tspolitischen Maflnahmen.

Um nicht zu viele grammatische Details anzuhaufen, soli nur noch eine gram­ matische Neuerung erwahnt werden, die seit i.iber zwei Jahrzehnten von Lin­ guisten und Sprachkritikern besonders haufig und lebhaft diskutiert wird 8, die Wortstellung nach weil in Satzen wie: Ieh wollte Sie nicht beleidigen, weil das Ganze war nur ein 1\iissverstà'ndnis (statt: das Ganze nur ein Missverstà'ndnis war) .

. . .

weil

Die Stellung von weil entspricht hierbei der von denn. Die Verbzweitstellung (Hauptsatzwortstellung) nach weil ist in si.iddeutschen Mundarten (bes. im Bai­ rischen) t radi tionell i.iblich. In de n letzten 20] ahren ist si e allmahlich n a eh N or­ den gewandert und dabei auch in die Mediensprache, wenn auch bisher nur in di e gesprochene. M an kann langst von meist ji.ingeren F ernsehjournalisten un d Moderatoren Àu.Berungen horen wie: Seine Frage sollten wir wieder au/grez/en, weil die ist far uns alle sehr wichtig (statt : die far uns alle sehr wichtig ist) .

. . .

weil

Diese Wortstellung erscheint mir weiterhin als soziostilistisch markiert. Sie ist au.Berhalb si.iddeutscher Mundarten bes chrankt auf einen eher j ugendlichen, lockeren Gesprachsstil. Und sie ist beschrankt auf nachgestellte weil-Satze. Bei vorangestelltem weil-Satz ist die Verbletztstellung obligatorisch:

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Weil diese Frage /iir uns alle sehr wichtig ist, sollten wir sie wieder aufgrei/en.

Verbzweitstellung ist unter ahnlichen Gebrauchsbedingungen seit mehreren Jahren auch nach obwohl und w i:ihrend zu beobachten 9. Nur noch in Stichworten seien einige weitere Erscheinungen des gramma­ tischen Sprachwandels erwahnt, der schon vor langerer Zeit begonnen hat 10: Syntaktische "Ausklammerungen", d.h. Besetzungen des Nachfeldes im Satz, haben zugenommen n: Ich habe genug von al! diesen Vorwiir/en statt: Ieh habe von al! diesen Vorwiir/en genug

In formellen schriftlichen À u.Berungen werden zunehmend komplexe No­ minalphrasen anstelle von N ebensatzen verwendet: ein auf die Losung dieses Problems abgestimmtes Verfahren statt: ein Verfahren, das auf die Losung dieses Problems abgestimmt ist

Vorwiegend schriftsprachlich ist auch der Gebrauch von Funktionsverbge­ fi.igen anstelle einfacher Verben 12 : zur Ent/altung kommen statt sich ent/alten, in Erfahrung bringen statt erfahren

Die Wortbildung wird u. a. im Bereich der Derivation ausgebaut durch Suf­ fixoide, d. h. reihenbildende Kompositionsglieder, die wie Suffixe fungieren, z.B. : -m iiflig (zweckmiiflig, planm iiflig, mordsm iiflig, saum iiflig, hundem iiflig, essens­ miiflig, sex-m iiflig usw. ) r3, -/est (klop//est, reifl/est, rutsch/est, koch/est, trottel/est . . . ) , ahnlich auch -arm (biigelarm) , -/rei (alkohol/rei) , -/reudig (dreh/reudig) , -/reund­ lich (magen/reundlich ) , -wiirdig (diskussionswiirdig) u.a. 14• 1.2.

Regionale Varietaten

Mi t der friiher nur regional i.iblichen Verbzweitstellung nach weil wurde schon die Frage der regionalen Varianz der deutschen Gegenwartssprache angespro­ chen. Bei den regionalen Varietaten ist es durch die gro.Ben Bevolkerungsbewe­ gungen im ersten Nachkriegsjahrzehnt, aber auch durch die Verbreitung von Radio und Fernsehen, zu starken Veranderungen gekommen. Eine Bestands­ aufnahme der gegenwartigen Verhaltnisse wurde bei der J ahrestagung 1996 des Instituts fi.ir Deutsche Sprache versuchP5• Die Tagung schloss mit einer Diskus­ sion der Frage: " Mundartsterben oder Dialektrenaissance? " . Dabei zeigte sich, dass es zu dieser Frage offensichtlich keine Wahl der Antwort gibt, dass viel­ mehr beides zutrifft: Es gibt sowohl Mundartsterben als auch Dialektrenais ­ sance. Zumindest fi.ir gro.Be Teile Deutschlands lasst sich sagen, dass die deutli­ che Auspragung kleinregionaler, oft an einzelne Dorfer oder Stadtteile gebun-

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dener Mundarten zuri.ickgeht. Dies gilt besonders fi.ir die Hindlichen Gebiete in den immer gro.Beren Einzugsbereichen der Gro.B- und Mittelstadte. Die Be­ wohner verschiedener Dorfer fahren zur Arbeit oder zum Einkaufen in diesel­ be Sta dt. J edoch schwinden die morphophonologischen un d lexikalischen Be­ sonderheiten der gro.Beren Regionen damit nicht. An die Stelle lokaler Mund­ arten treten gro.Berraumige Ausgleichsmundarten. Als Folge eines kaum beabsichtigten Zusammenwirkens von kulturkon­ servativen Haltungen und gri.in-okologischen Einstellungen sind Dialekte fi.ir viele Menschen zu besonders geschatzten Sprachauspragungen geworden. Auch gilt ein mundartlich i.iberformtes Hochdeutsch beson ders in Si.id­ deutschland gerade unter ji.ingeren Intellektuellen als chic, als " authentis ch" . Eine Reprasentativumfrage16 vor wenigen J ahren ergab, dass knapp zwei Drit­ tel der Deutschen mundartlich gep ragten Sprachgebrauch positiv bewerteten. Zu beachten ist auch, dass orthoepische Normen in Deutschland generell et­ was lockerer sind als in Frankreich oder Gro.Bbritannien. Auch viele deutsche Spitzenpolitiker lassen ihre sprachliche Herkunft erkennen . Nicht nur dem fri.iheren Kanzler Kohl war anzuhoren, aus welcher Region er stammt. Auch seinen Vorgangern war dies anzumerken un d seinem N achfolger Schroder ebenfalls. Bemerkenswert sind auch Erscheinungen eines gro.Bregionalen Ausgleichs. Die heute noch auf der Bi.ihne und im Rundfunk als Standard geltende Aus­ sprache des -ig geschriebenen Suffixes mit Frikativ [iç] in Satzen wie Der Konig hat zu wenig verliert an Boden zugunsten der si.iddeutschen Aussprache [ik] mi t Auslautverhartung Der Konik hat zu wenik. In Norddeutschland, wo man Gu­ ten Tach statt Guten Tag sagt, ist diese Aussprache noch selten, aber sie dringt weiter vor. Deutlicher noch sind lexikalische Ausgleichsprozesse, und zwar besonders in informellem gesprochenem Deutsch. Die bis vor etwa zwanzig J ahren auf si.iddeutsche Mundarten beschrankte Partikel halt (Das ist halt so ) hat langst den Norden erobert. Auch Hamburgern und Berlinern (besonders ji.ingeren) gehen inzwischen À u.Berungen wie Das ist halt ein Problem /iir uns alle locker vom Munde. Im Gegenzug ist die urspri.inglich ki.istenlandische Gru.Bform Tschiis ( < nddt. adjiis < span. adi6s) von Hamburg un d Bremen bis Bayern vor­ gedrungen und soll sogar schon bei jungen Tirolern zu horen sein. Man konnte sagen: Tschiis ist die Rache der N orddeutschen fi.ir das si.iddeutsche halt. Umfangreiche sprachliche Ausgleichsprozesse gab es und gibt es zwischen Ost- und Westdeutschland als Folge der staatlichen Vereinigung, wobei dieser Ausgleich weitgehend asymmetrisch verlauft. Mit der O bernahme der west­ deutschen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhaltnisse i.ibernehmen die Mens chen in den ostdeutschen Bundeslandern auch die entsprechende westdeutsche Lexik. Dass damit die Ausdri.icke fi.ir DDR-spezifische Gegenstan­ de und Sachverhalte vollig verschwinden, wie oft angenommen wird, ist aber falsch. Worter wie Volkspolizei, Staatssicherheit (Stasi) , Volkskammer, Neuerer, Sera, Kaderakte, Subbotnik, FDJ und viele andere sind so lange in Gebrauch, wie von der Zeit der DDR erzahlt wird, un d das wird sicherlich noch lange sein, be­ sonders auch in den Werken von Schriftstellern aus der DDR.

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N eben den genannten Sachspezifika bleiben auch oberhalb der Dialekte ei­ ne Reihe von apolitischen ostdeutschen Lexemen in Gebrauch: die ostdeutsche Zielstellung neben der westdeutschen Zielsetzung, Plaste neben Plastik, Kauf halle neben Kau/haus. Auch der Broiler erweist sich in einigen ostdeutschen Ge­ genden gegeniiber dem westlichen Brathiihnchen als ziemlich resistent. Einige wenige DDRismen sind auch in Westdeutschland in Umlauf gekom­ men. Vor mehreren J ah ren schon das Exponat (Ausstellungsstuck) , seit der "Wende" unter anderen abnicken, andenken, andiskutieren, Betonkop/, Zielstel­ lung (statt Zielsetzung) , ironisierend auch Datsche (statt Wochenendhaus/Gar­ tenhaus) 17• Zu beachten ist, dass die genannten À.nderungen der regionalen Sprachva­ rianz in Deutschland nicht in gleicher Weise auch in O sterreich und der Schweiz anzutreffen sind. Dort sind die Dialekte meist etwas bestandiger als in Deutsch­ land. Unter dem Einfluss deutscher Touristen werden seit mehreren Jahren in O sterreich neben heimischen Bezeichnungen z.B. fiir bestimmte Speisen auch aus Deutschland importierte Ausdriicke gebraucht: also P/annkuchen ne ben Pa­ latschinke, Tomate neben Paradeiser oder Blumenkohl ne ben Kar/iol. Dies wird von vielen sprachbewussten O sterreichern kritisiert, wie generell die sprachli­ chen Spezifika der deutschen Sprache in O sterreich neuerdings deutlicher ge­ geniiber dem "bundesdeutschen" Deutsch hervorgehoben werden 18• Die Situation in der deutschsprachigen Schweiz ist im Unterschied zu den beiden anderen Staaten durch eine klar bestimmte Diglossie aus miindlichem Dialekt und schriftlicher Hochsprache gekennzeichnet. D.h. iiberregional gibt es nur einen schriftsprachlichen Standard, der mit Ausnahme einiger lexikali­ scher Helvetismen (schweizerische Spezifika) mit der Standardsp rache in Deutschland und O sterreich weitgehend iibereinstimmP9. Fiir die miindliche Kommunikation zwischen Deutschschweizern verschiedener Gegenden gilt weiterhin aber, vereinfacht gesagt: J eder spricht seine lokale Mundart. In allen deutschsprachigen Staaten und Regionen verandert sich der Wort­ schatz nicht nur durch neue Wortbildungen, sondern auch durch Entlehnun­ gen, und zwar iiberwiegend aus dem Englischen. 1.3.

Anglizismen

Der deutlichste Entwicklungszug im lexikalischen Sprachwandel der letzten Jahrzehnte ist die Anglisierung von Teilen der deutschen Lexik durch die Ù ber­ nahme von Wortern und Wendungen vorwiegend aus dem amerikanischen Englisch. Wie Sprachumfragen 20 erge ben haben und wie sich auch Sprachglos­ sen und Leserbriefen in den Zeitungen entnehmen lasst, wird die Zunahme von Anglizismen im Deutschen von vielen Menschen lebhaft kritisiert. Sie soli des­ halb auch nicht bagatellisiert werden. Mit den Anglizismen, die besonders seit dem Kriegsende ins Deutsche entlehnt worden sin d un d weiterhin entlehnt wer­ den, sind in manchen Lebens- und Kommunikationsbereichen Probleme ver­ bunden. Altere Menschen etwa, die in der Schule kein Englisch gelernt haben, verstehen englische oder pseudoenglische Ausdriicke, die ihnen von Bahn, Post oder in Kaufhausern angeboten werden, einfach nicht.

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Auch auf die Zunahme von Anglizismen im Sprachgebrauch bestimmter Sportarten, im Freizeitgeschaft, in Werbung und massenmedial verbreiteter Tri­ vialunterhaltung ist schon oft hingewiesen worden. Symptomatisch ist, dass ei­ nige der fri.iher gebrauchlichen Romanismen durch Anglizismen ersetzt werden: Appartement durch Apartment, Bankier durch Banker, Mannequin durch Model, Rendezvous durch Date. Der Anteil an Anglizismen ist aber weiterhin nicht so groE wie der Anteil der Romanismen im deutschen Wortschatz. Seit dem Kriegsende sind bis An­ fang der 9oer ] ah re etwa 3· 500 neue Anglizismen in Gebrauch gekommen 21• Die Neologismengruppe am Institut fi.ir Deutsche Sprache (IDS) hat gerade eine le­ xikographische Darstellung der Neuworter von 1991 bis zur Jahrhundertwende abgeschlossen 22• Abgesehen von lexikalischen "Eintagsfliegen " , Regionalismen und von Termini, die nur von Fachleuten gebraucht werden, hat diese For­ schungsgruppe fi.ir die 9oer Jahre rund r.ooo Neuworter ermittelt, die mehr als gelegentlich verwendet werden. Davon sind etwa 4o o/o reine Anglizismen wie Blind Date, Body-Painting, Burnout, Couch-Potatoe, Inline-Skates, Mobbing, Online, Ranking und Shareholder-Value; weitere 20°/o Mischbildungen wie abspacen , A rzte-Hopping, Chat-Raum, Ku­ schelrock, Mobbing-Beratung, Online-Kaufhaus, Push-up-BH, Semesterticket und Web-Seite; die i.ib rigen 40% Neubildungen ohne englischsprachige Anteile wie Ar­ muts/alle, Besserwessi, Datenautobahn, Dosenp/and, Euro-Land, Gentomate, Mauerschutze, Ostalgie, Quengelware, schonrechnen, Warmduscher und andere. Auch diese Neuworter, oh Anglizismen oder andere, verbreiten sich nicht gleichmaEig i.iber den ganzen Wortschatz, sondern konzentrieren sich auf den Sprachgebrauch in einzelnen fachlichen Domanen un d sozialen Szenen, darun­ ter die Werbesprache und die Unterhaltungsindustrie. Von sprachpflegerischen Gruppen, besonders dem erst 1997 gegrundeten, mitgliederstarken "Verein Deutsche Sprache " 23, werden unter anderem staatli­ che AbwehrmaEnahmen gefordert. Die Aussicht aber, dass es zu staatlichen MaEnahmen gegen Anglizismen kommt, ist derzeit gering. Zum einen ist in Deutschland mit der Geschichte puristischer Bewegungen auch die Erinnerung an den N ationalsozialismus verbunden, der sich in den ersten ] ahren seiner Herrschaft sprachpuristisch gab. Zum anderen ist die schulische Spracherzie­ hung, i.iber die sich am ehesten Sprachvorschriften umsetzen lieEen, in Deutsch­ land anders als in anderen europaischen Staaten dezentral nach den 16 Bundes­ landern organisiert. Es gibt weder ein zentrales Bildungsministerium noch eine traditionsreiche Sprachakademie wie etwa di e Accademia della Crusca in I tali­ en. Das Institut fi.ir Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim ist die zentrale For­ schungseinrichtung fi.ir das Deutsche , hat aber keine normativen Kompeten­ zen 24. Ein "Gesetz zum Schutz der deutschen Sprache" analog zu den Sprach­ gesetzen in Frankreich, neuerdings auch in Polen, lieBe sich deshalb in Deutsch­ land nur schwer vorbereiten, noch schwerer beschlieEen und wohl kaum prak­ tis ch durchfi.ihren. Es gibt jedoch Anzeichen dafi.ir, dass die zeitweise kritik- un d bedenkenlo­ se Ùbernahme von Anglizismen im Bereich der Dienstleistungen und Produkt-

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werbung nachHisst. Der Versuch der Deutschen Telekom, traditionelle Tarifbe­ zeichnungen wie Ortsgespriich, Inlandsgepriich, Auslandsgesprlich durch Aus ­ driicke wie City Ca!!, German Ca!! un d Global Ca!! zu ersetzen, ist vor vier J ah­ ren gescheitert, nach dem diese Telefongesellschaft offentlich kritisiert worden war und viele Leute sich weigerten, ihre Telefonrechnungen zu bezahlen. In Sprachglossen und Kabaretts finden sich vermehrt Satiren auf den modischen Anglizismengebrauch besonders in der Produktwerbung. Gezielte staatliche MaBnahmen durch Gesetze oder Richtlinien sind aber derzeit und wohl auch auf langere Sicht kaum zu erwarten. 1.4.

Domanenverlust

Weniger auffallig, aber fiir die weitere Sprachentwicklung erheblicher ist, dass Deutsch seit einigen J ahrzehnten aus bestimmten kommunikativen Domanen, d.h. Lebens- und Fachbereichen, verdrangt wird. Dabei geht es nicht um Ersatz oder Erganzung von Teilen des Wortschatzes durch Anglizismen, sondern um die partielle oder vollige Aufgabe der deutschen Sprache zugunsten des Engli­ schen. Dies gilt vor allem fiir einen Teil der Wissenschaften, besonders die Na­ turwissenschaften und die Medizin, aber auch einige der Sozialwissenschaften, wo Deutsch als Publikationssprache mehr un d mehr durch Englisch ersetzt wird oder schon ersetzt worden ist. Wahrend Deutsch bis in die erstenJ ahrzehnte des 20. J ahrhunderts in vielen Fachern eine wichtige Stellung auch in der interna­ tionalen wissenschaftlichen Kommunikation batte, hat seine Verwendung in dieser Funktion besonders seit dem Ende des 2. Weltkriegs stark abgenom­ men 2 5• À hnliches gilt aber auch fiir andere europaische Sprachen mit Ausnah­ me des Englischen, das zunehmend die Stellung einer wissenschaftlichen lingua franca einnimmt. Auch im Bereich der Wirtschaft gibt es eine Tendenz zu einem " globalisierten " Englisch. Einige groBere international operierende Firmen mi t Sitz in Deutschland haben auch in ihren deutschen Zentralen Englisch als Kon­ zernsprache eingefiihrt 2 6• 1.5. Anredeformen Als ein bemerkenswertes Beispiel fiir pragmatische Ànderungen des heutigen Deutsch sei noch der Wandel in den Konventionen fiir die Anrede von Horern und Lesern erwahnt, insbesondere fiir den Gebrauch von du und Sie und der entsprechenden Possessiva dein und Ihr. Die Gebrauchsbedingungen fiir diese Anredepronomina ha ben sieh in den letzten drei bis vier J ahrzehnten geandert, und zwar tendenziell zweimal. Bis Mitte der 6oer J ahre galten im GroBen und Ganzen folgende Konven­ tionen: Die Distanzform Sie war die normale reziproke (wechselseitige) Anre­ deform unter biirgerlichen Erwachsenen auBerhalb von Familie und Freundes­ kreis. Sie war die iibliche pronominale Anrede auch unter Studenten, die sich nicht naher kannten. Die vertrauliche Form du gebrauchten Erwachsene ge­ geniiber Verwandten und Freunden reziprok und auch gegeniiber Kindern und J ugendlichen (bis etwa 16 J ahren), reziprok aber nur innerhalb der Verwandt-

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schaft; d.h. Erwachsene wurden und werden weiterhin von den eigenen und von verwandten Kindern geduzt. Nichtreziproke Anrede zwiscben Kindern und er­ wachsenen Verwandten ist in Deutschland schon sei t langem nicht mehr iiblich. Nichtreziprok ist jedocb das du von Erwachsenen gegeniiber nicbtverwandten Kindern. Das beillt, von Kindern (sofern sie nicht sebr klein sind) und Jugend­ lichen erwarten Erwachsene aucb beute noch eine Anrede mit Sie. Reziprokes du war und ist weiterbin die normale " solidariscbe " Anredeform unter Arbei­ tern un d unter bauerlichen N acbbarn auf dem Land. Wabrend der Studentenbewegung Ende der 6oer]ahre breitete si eh das bis dahin auf die Arbeiterschaft beschrankte solidarische du rascb aus . Zunacbst duzten sich nur die "linken" (progressiven) Studenten untereinander und siez­ ten weiterhin die " recbten" oder fiir " rechts " gebaltenen Kommilitonen. Bald wurde das du aber zur unmarkierten reziproken Anredeform aller Studierender und anderer junger Leute. Es griff auch iiber auf einen Teil der Lehrer und Do­ zenten, die sich untereinander und mit ihren Studenten zu duzen begannen. Die gesellscbaftlicbe Ausbreitung des du verlangsamte sicb aber scbon Mit­ te der 7oer ] ahre und setzte sich in den 8oer Jahren nicht weiter fort 2 7• Inner­ balb der Universitaten hatte sicb das "solidariscbe " du obnebin nicbt auf alle Facher in gleicher Weise ausgedehnt. Wahrend in den Geistes- und Sozialwis ­ senscbaften auch die Dozenten sehr duzfreudig waren, blieben die Mediziner und Juristen relativ Sie-orientiert. Bis beute hat die du-Sie-Verteilung auch eine politiscbe Dimension. "Griine " und Mitglieder linker Parteien duzen sich im In­ nenverbaltnis, wahrend sich Mitglieder anderer Parteien baufiger mit Sie anre­ den, wenn sie nicbt befreundet sind. Die Gebrauchsbedingungen fiir du und Sie haben sich bis heute nicht sta­ bilisiert. Man kann vereinfachend sagen: Fiir Begegnungen jiingerer Menschen bis etwa zum Alter von 28 ] abren gilt generell reziprokes du. Dariiber sin d die Verhaltnisse uneinheitlich. Zwar gehen aucb altere Erwachsene im Berufsleben leicbter zum du iiber als friiber, aber das Sie wird eber wieder zur Normalform. Die in die ] ahre gekommenen " 68er" ha ben entweder das du mi t in ibre Ar­ beitswelt iibernommen oder sich seit einigen Jahren gegen den "Terrorismus der N abe" 2 8 entscbieden un d benutzen seitdem wieder die Distanzform Sie als re­ ziproke Anrede unter nichtverwandten, nichtbefreundeten Erwachsenen. Die­ se Entwicklung ist nacb der "Wende" auch durcb die Aversion vieler Ostdeut­ scber gegeniiber dem " Genossen-du " der SED-Mitglieder verstarkt worden. In einigen Lebensbereicben ist neben die Distanzanrede mit Sie + Frau/Herr Muller die Verwendung einer halbformlicben Anrede mi t Sie + Vorname zu be­ obacbten, z.B.: Was sagen Sie zu dem neuen Entwuri Oliver? 29• Diese Anrede­ weise soli u.a. in Fiihrungsetagen einiger groBer Firmen und in manchen Zei­ tungsredaktionen in Gebraucb sein. Die Form selbst ist nicbt neu. In Hamburg ist sie seit alters die wecbselseitige Anredeweise Hamburger Kaufleute. Manche biirgerliche Eltern reden die erwachsenen F reunde ibrer Kinder un d auch das Hausmadcben mit Vornamen und Sie an. Ob diese "Kompromissform" langer­ fristig in Gebrauch bleibt, muss sich zeigen. Die miindlichen Anreden im Sie-Verhaltnis mit Namen, Titeln und!oder Funktionsbezeicbnungen baben sicb aucb in der offentlicben Kommunikation

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durchweg vereinfacht un d vereinfachten sich weiterhin zugunsten der einfachen " bi.irgerlichen " Form Frau!Herr + Nachnamen. Anreden mit Herr Professar, Frau Ministerin, Frau Doktor, Herr Burgermeister sind zwar in formellen Situa­ tionen noch gebdiuchlich, werden aber im weiteren Dialog haufig durch Herr Muller, Frau Ho//mann usw. ersetzt. Vorbildfunktion haben hierbei die Medien, besonders das Fernsehen, wo in Interwiews und Gesprachs runden (Talkshows) Titel und Funktionsbezeichnungen oft nur noch bei der Vorstellung der Ge­ sprachspartner genannt werden. Weiterhin i.iblich ist der Gebrauch von akade­ mischen Titeln im Umgang mit À rzten (Herr Dokto1; ich habe Schmerzen). Die bisher behandelten Veranderungen un d Veranderungstendenzen lassen sich nicht auf gezielte Ma.Bnahmen der Sprachplanung oder gar Sprachregelung zuri.ickfi.ihren. Es gibt jedoch Beispiele dafi.ir, dass sich bestimmte Sprachveran­ derungen auch gezielt herbeifi.i hren lassen, zumindest mit Teilerfolgen. Zwei da­ von sollen im F olgenden kurz vorgestellt werden. 2

Zwei Beispiele fiir gezielte normative Sprachveranderungen 2.1 .

Sprachfeminismus

In Tages- und Wochenzeitungen finden sich seit mehreren J ahren in den Stel­ lenanzeigen Ausdri.icke und Schreibweisen, wie sie vorher in deutschen Texten nicht vorkamen. Es sind Ausdri.icke mit Schragstrichen und Klammern, seit ei­ nigen J ahren auch einem gro.Ben I im Wortinnern wie: Gesucht wird ein Mitarbeiterleine Mitarbeiterin ein(e) J.Vfitarbeiter(in) ein/e Mitarbeiterlin ein/e Mitarbeiterln

In anderen Anzeigen erscheinen auch vorlesbare Ausdri.icke wie z.B.: Gesucht wird eine J.Vfitarbeiterin oder ein Mitarbeiter.

Oder es wird formuliert: Gesucht wird eine erfahrene Lehrkra/t.

Und im nachfolgenden Text hei.Bt es dann: Interessierte Damen und Herren werden gebeten, ihre Bewerbung an die Schulleitung zu richten . . .

I n allen Fallen haben sich die Verfasser der Anzeigen bemi.iht, einer seit 1980 gel­ tenden gesetzlichen Bestimmung zu entsprechen: «Der Arbeitgeber soll einen Arbeitsplatz weder offentlich noch innerhalb des Betriebs nur fi.ir Manner oder

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nur fiir Frauen auss chreiben» (§ 6 n b BGB) . Das Motiv des Gesetzes ist ein­ leuchtend. Es soli dazu beitragen, die Chancengleichheit von Frauen und Man­ nern im Berufsleben zu verwirklichen. Tatsache ist, dass bis heute Frauen noch in vielen Berufen unterreprasen­ tiert sind, besonders in Berufen mit hoherem Einkommen oder hoherem Anse­ ben. Die Unterreprasentation von Frauen ist jedoch keine deutsche Besonder­ heit. Unabhangig von der Staatsform und der politischen Ideologie sind in den allermeisten Landern in politischen und wirtschaftlichen Fiihrungspositionen weitaus weniger Frauen als Manner anzutreffen. Zu den Bemiihungen, diesen Zustand im Interesse der Frauen ZU andern gehort auch der Sprachfeminismus. Damit ist nicht die Frauenbewegung insgesamt gemeint, sondern nur die Teile der Bewegung, die mit der Forderung nach geregelten Sprachveranderungen fiir die Frauen eintreten. Sofern Sprachfeminismus in der Sprachwissenschaft ver­ treten wird, spricht man auch von feministischer Linguistik 30• Ende der 7oer ] ah re wurden die wesentlichen Anregungen von einigen deutschen Linguistinnen gegeben, die in den Vereinigten Staaten die Sprach­ kritik der dortigen Frauenbewegung erlebt hatten. Sie iibertrugen den sprach­ kritischen Ansatz der amerikanischen Kolleginnen auf die deutsche Sprache. Kritisiert wurde der vorherrschende Gebrauch des Deutschen als mà'nnlich ge­ prà'gt, androzentrz'sch oder als sexistisch. Hauptpunkte der Kritik sind: Der vorherrschende Sprachgebrauch benachteilige Frauen, insbesondere im offentlichen Leben. Zur Bezeichnung von Menschen nach Beruf, Amt oder anderen funktionalen Rollen werden iiberwiegend maskuline Substantive ver­ wendet wie z.B. Lehrer, Professar, Minister, Burger, Kà'ufer usw. , und zwar auch dann, wenn es um Personen beiderlei Geschlechts geht. Frauen werden hierbei nicht ausdriicklich benannt, sondern, wie es oft hei.Bt, allenfalls "mitgemeint " . Frauen werden sprachlich haufig in Abhangigkeit von Mannern oder als zweitrangig dargestellt, etwa in Formulierungen wie Herr Meier mit Frau oder in Doppelformeln, in denen jeweils die mannlichen vor den weiblichen Personen genannt werden wie ]ungen un d Mà'dchen, Partner un d Partnerin , Ada m un d Eva. Sei t Anfang der 8oer ] ah re erschienen vers chiedene "Richtlinien " zur "sprachlichen Gleichbehandlung von Mannern und Frauen" oder zur " Vermei­ dung sexistischen Sprachgebrauchs " 31• Einher ging damit das Bemiihen um einen "femininen" Sprachgebrauch in einigen Gruppen. Charakteristisch ist das pro­ nominale frau , das schon 1976 von der Schriftstellerin Verena Stefan als Stilmittel erfunden worden war und nun in Frauengruppen und einigen Frauenzeitschrif­ ten neben das als "mannlich" gedeutete Pronomen man gestellt wurde. Statt Dariiber kann man ruhig sprechen

war nun auch zu horen und zu lesen: Daruber kann frau ruhig sprechen.

Dieses pronominale frau ha t sich a ber nicht weiter durchgesetzt und ist auch nach Auskunft derzeitiger Studentinnen kaum mehr in Gebrauch.

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Die Bemi.ihungen um Sp rachanderungen konzentrierten sich auf den Sprachgebrauch im Rechtswesen und der offentlichen Verwaltung 3 2 • In Deutschland wurden in mehreren Landerparlamenten und auch im Bundestag Antrage auf " Gleichbehandlung von Frauen und Mannern in Gesetzestexten und in der Amtssprache " gestellt und in einigen Fallen auch angenommen. Das Formulierungsprinzip dabei ist stets die Vermeidung der grammatischen Kate­ gorie "Maskulinum " bei allen Ausdri.icken, die sich auf Menschen beider Ge­ schlechter beziehen konnen. Die vom Sprachfeminismus angenommene und propagierte weitgehende Ù bereinstimmung von Genus und Sexus, d.h. der formalen Kategorie Maskuli­ num mi t der semantischen Eigenschaft " mannlich " , fi.ihrt a ber bei manchen Vorschlagen und Versuchen zur Um- und Neuformulierung zu Schwierigkeiten. Das Hauptproblem besteht darin, dass im Deutschen (wie im Italienischen) die allermeisten Berufs- und Funktionsbezeichnungen in ihrer morphologisch ein­ fachen Form Maskulina sin d, darunter di e vielen N omina agentis auf -er wie Schuler, Lehrer, Mitarbeiter, Kiiu/er usw. Nominale Ausdri.icke zur zweifelsfrei geschlechtsindifferenten Personenbezeichnung gibt es nur wenige: einige Neu­ tra wie Mitglied und Kind und nominalisierte Adjektive und Partizipien im Plu­ ral wie die Alten , die Angestellten, die Studierenden. Mensch und Person werden ebenfalls als geschlechtsindifferent akzeptiert, obwohl Mensch maskulin und Person ein Femininum ist. In entsprechend formulierten Texten erscheinen anstelle maskuliner Nomina haufig Paarformeln aus je einem femininen un d einem maskulinen N omen; z.B. die Burgermeisterin oder der Burgermeister die Vertreterin bzw. der Vertreter die Richterin oder der Richter eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter die bzw. der Vorsitzende

Komplikationen treten auf, wenn solche Ausdrucke in satzsyntaktischen Zu­ sammenhangen gebraucht werden. Anstelle eines schlichten Satzes wie Der Burgermeister ernennt seinen Stellvertreter

kann wegen der morphologischen Kongruenzforderungen ein Gebilde entste­ hen wie: Die Burgermeisterin ernennt ihre Stellvertreterin oder ihren Stellvertreter bzw. der Burger­ meister seine Stellvertreterin oder seinen Stellvertreter.

Solche syntaktischen Monstren liest man zwar nur selten, aber einige der neue­ ren Rechts- und Verwaltungstexte sind durch das Bemi.ihen um sprachliche Gleichstellung der Geschlechter schon recht kompliziert geworden. Etwas ver­ hi.illt werden die morphologischen und syntaktischen Komplikationen durch abki.irzende Schreibungen. Die Schreibung mit gro.Bem I wie in Studentlnnen

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als Abkiirzung von Studenten und Studentinnen hat sich in Deutschland in Rechts- und Verwaltungstexten bisher nicht durchgesetzt 33• Diese Schreibweise ist aber besonders beliebt auf Ankiindigungen und Plakaten im Universitatsbe­ reich, wobei Komplikationen, die damit verbunden sind, leicht iibersehen wer­ den. Eine Notation mit groBem I lasst sich nur schwer verwenden zur Abkiir­ zung von Ausdriicken wie z.B. der Vorschlag der Vertreterin oder des Vertreters ­ der Vorschlag der/des? Vertreter(s )In ?. Zur Zeit ist nicht abzusehen, oh sich diese Notation auf den allgemeinen Schreibgebrauch ausdehnt, wie generell nicht vorherzusehen ist, wieweit sich die gut gemeinten, aber in ihren linguistischen Voraussetzungen und Konse­ quenzen nicht immer zu Ende gedachten sprachfeministischen Formulierungs ­ normen langerfristig im allgemeinen Sprachgebrauch stabilisieren. Die staatli­ che Vereinigung Deutschlands hat die Verbreitung solcher Sprachregelungen eher gebremst als gefordert. Manche ostdeutsche F rauen, die si eh selbst weiter­ hin als Lehrer oder Wissenschaftler bezeichnen, stehen dem westdeutschen Sprachfeminismus ablehnend oder verstandnislos gegeniiber. Ein Teil der Wir­ kungen der gezielten Bemiihungen um Sprachveranderung wird sich aber wohl halten, so etwa die haufige Verwendung von Paarformeln wie Burgerinnen und Burger, Studentinnen und Studenten usw. 2.2.

Zur Rechtschreibreform

Bescheidener sind Motive und Ziele einer normativen Sprachanderung, die nur die graphische AuBenseite der deutschen Sprache betrifft: die Neuregelung der bis 1996 geltenden orthographischen Norm. Wenngleich es dabei nur um die Anderung einiger Details der Schreibnorm geht, hat die meist so genannte Rechtschreibreform in Deutschland zu einem mehrjahrigen offentlichen Streit gefiihrt, der zeitweise Merkmale eines orthographischen Biirgerkriegs batte. Da­ zu nur wenige Bemerkungen. Seit dem L August 1998 wird eine geanderte Rechtschreibung offiziell in den Schulen des gesamten deutschen Sprachgebiets eingefiihrt. Grundlage ist ein Regelungsvorschlag, der in jahrelanger Zusammenarbeit von Expertengruppen aus Deutschland, Ò sterreich und der Schweiz erarbeitet worden war. Er wurde 1996 zwischen den deutschsprachigen Staaten und Regionen abschlie.Bend ver­ einbart. Seitdem wird iiber das Thema "Rechtschreibreform" in wissenschaftli­ chen Publikationen, in der deutschsprachigen Presse und im Fernsehen immer wieder diskutiert, gestritten un d berichtet, manchmal sogar zutreffend 34• Es gab un d gibt Erklarungen namhafter Schriftsteller, es gab Biirgerinitiativen un d Pro­ testresolutionen gegen die Reform, aber auch dafiir. Ù ber 3 0 Prozesse wurden gefiihrt und in der Mehrzahl der Falle fiir die Reform entschieden. SchlieBlich erklarte das oberste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht, im Som­ mer 1998 das Reformverfahren fiir rechtlich unbedenklich, entschied damit also zugunsten der N euregelung. In den Schulen un d neuerdings auch den Behor­ den wird di e N euregelung konsequent eingefiihrt un d umgesetzt. Auch die Presseagenturen und danach die meisten Zeitungen haben sich auf die Reform eingestellt.

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Durch die Neuregelung 35 andert sich das bisherige Schriftbild nur wenig. Am deutlichsten ist, dass das Prinzip der Stammschreibung klarer durchge­ halten wird als bisher. Das hei.Bt, der Stamm aller Worter eines Flexionspara­ digmas oder einer Wortfamilie wird moglichst gleich oder in geregelter Ab­ wandlung geschrieben. Dies betrifft unter anderem die ss- und .B-Schreibung. Nach der alten Regelung wurden z.B. der Wortstamm von haSJ.en und Ha/3. oder AdreSJ.e und Adre/3.buch mal mit ss, mal mit j5 geschrieben, je nachdem, ob auf den s-Laut ein Vokal folgt oder nicht. Nach der Neuregelung wird der Wortstamm stets gleich geschrieben, also auch Hass und Adressbuch mit ss. Das .B entfallt dami t nicht, wird a ber konsequent nur fiir die Schreibung des s­ Lautes nach langem Vokal oder Diphthong beibehalten wie in Maj5, Straj5e, heiflen, heifl. Anders als in der schweizerischen Rechtschreibung, die schon J ahrzehnte ohne j5 auskommt, wird in den anderen deuts chsprachigen Staaten und Regionen weiterhin zwischen Maflen und Massen unterschieden. Weitere Anderungen betreffen u.a. die Getrennt- und Zusammenschreibung (z.B. Au­ to /ahren statt auto/ahren) , die Worttrennung (piida-gogisch neben piid-ago­ gisch) , den Kommagebrauch und die Gro.B- und Kleinschreibung (im Ubrigen statt im iibrigen) . Das vollstandige neue Regelwerk findet sich in den Neuauf­ lagen der Rechtschreibworterbiicher vom Dudenverlag, Bertelsmann un d an­ deren Verlagen. Geandert wurde auch die institutionelle Zustandigkeit fiir die Weiterent­ wicklung der Rechtschreibung. Wahrend bis 1996 im Zweifel die Schreibweise des Dudens galt, also eines kommerziellen Verlags, ist nun eine Kommission aus deutschen, osterreichischen un d schweizeris chen F achleuten zustandig, di e ihren Sitz am Institut fiir Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim hat. Die fachli­ chen Auseinandersetzungen iiber die Rechtschreibreform sind damit aber noch nicht ganz beendet. Der Streit flammte im August 2001 wieder auf, als eine an­ gesehene Zeitung, die Frank/urter Allgemeine, ihre Riickkehr zur alten Ortho­ graphie inszenierte. Das offentliche Interesse hat aber nachgelassen, zumal die Frank/urter Allgemeine nur wenige Nachahmer bei anderen deutschen Zeitun­ gen fand und die Kultusminister der Bundeslander 2004 ihren Reformbeschluss bestatigten, dies vor allem im Hinblick auf die 14 Millionen Schiiler, die die neue Rechtschreibung lernen. Eine Riickkehr zur alten Orthographie ist extrem un­ wahrscheinlich. Moglicherweise werden aber vor Ablauf der O bergangsfrist Ende Juli 2005 no eh einige wenige Details der neuen Regelung nachgebessert. Die Rechtschreibreform und der offentliche Streit in Deutschland sind letztlich auch ein Indiz dafiir, dass normative Eingriffe in eine Sprache unter den Bedingungen einer offenen demokratischen Gesellschaft au.Berordentlich schwierig sind, selbst wenn sie nicht den Kern der Sprache betreffen, sondern nur Details ihrer graphischen Au.Benseite. Der verbreitete Widerstand gegen die Reform hat auch einen positiven Aspekt: Er kann auch als symptomatisch fiir ein zunehmendes sprachliches Interesse gesehen werden. So argerlich man­ che Argumente der Reformgegner fiir die Reformer sein mogen , so bemer­ kenswert ist es aber auch, dass viele sprachinteressierte Deutschen nicht bereit sind, Teile ihrer Sprache aufzugeben, und seien es auch nur orthographische Kleinigkeiten.

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Deutsch im vielsprachigen Europa

Wie geht es weiter mit der deutschen Sprache? Die kiinftige Entwicklung einer Sprache vorherzusagen, ist ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen36. Nur kurz soll aber noch die Frage kommentiert werden, wie es um die deutsche Sprache in einem Europa zur Zeit bestellt ist und wie es weitergehen konnte oder wei­ tergehen solite. Auch die deutsche Sprache andert sich nicht von sich aus, son­ dern wird von den Menschen geandert, die sie sprechen und schreiben. Die wie­ derum kommunizieren unter ihren kulturellen, okonomischen und politischen Lebensbedingungen. Deutsch wird sich deshalb weiterhin in Abhangigkeit von den sich andernden Lebens bedingungen der deutschsprachigen Menschen an­ dern: sicherlich in der Lexik durch Neubildung und Entlehnung von Wortern und Wendungen aus anderen Sprachen, langerfristig wohl auch in Flexions­ morphologie und Syntax, beeinflusst unter anderem durch das Entstehen neu­ er Textsorten und Dialogformen mit der zunehmenden Nutzung neuer Medien wie dem Internet 37. Zu den auBeren Bedingungen fiir den Sprachgebrauch gehort fiir Deutsch­ land wie fiir Italien auch die Zugehorigkeit zur Europaischen Union (EU) 38• Mi t etwa 95 Millionen Menschen, die Deutsch als Erstsprache erworben haben 39, ist Deutsch die sprecherstarkste Sprache in der EU und die zweitstarkste (nach Rus­ sisch) in Europa insgesamt. Dass diese Menschen - ahnlich wie manche kleine Indianerstamme in N ordamerika - in den nachsten ] ahrzehnten die deutsche Sprache zugunsten der englischen aufgeben konnten, ist ziemlich unwahr­ scheinlich. Die Annahme aber, dass die vorhandenen Sprachen und darunter besonders die entwickelten Kultursprachen Europas auch in der weiteren Zu­ kunft erhalten bleiben, ist keine si eh ere Prognose. Es gibt Auguren, die meinen, dass mit der zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Integration der Eu­ ropaischen Union sich unausweichlich eine Sprache zunachst als provisorische lingua franca und schlieBlich als dominante Standardsprache durchsetzen wer­ de, und zwar Englisch oder eine Art Englisch. Es gibt politische Planer, die dies auch wollen, und zwar aus durchaus respektablen Griinden. Vor einigen ] ahren habe ieh mi eh an einer Kontroverse in der Zeitschrift F okus 40 beteiligt, die durch A uBerungen eines Politikers ausgelost worden war. Dieser Politiker batte offentlich erklart, «Das babylonische Sprachgewirr» in Europa sei wegen der hohen Ù bersetzungskosten sehr teuer. Es sei vor allem «ursachlich fiir das Entstehen von Vorurteilen, Rassismus und letztendlich Hass». Deshalb miisse moglichst rasch eine einzige Amtssprache fiir die ge­ samte Europaische Union eingefiihrt werden. Ich habe auf diesen Vorschlag nur ironisch geantwortet, dass bekanntlich die Danen groBe Vorurteile ge­ geniiber den Griechen hatten un d di e Portugiesen die Finnen hassten, weil ih­ re Sprachen so verschieden seien. Andererseits sei ja auch bekannt, dass Ser­ ben und Kroaten sich herzlich liebten, weil ihre Sprache sich so ahnlich sind. Bei Diskussionen iiber den Zusammenhang zwischen sprachlicher Verschie­ denheit und Vorurteilen wird leider immer wieder vergessen, dass man vieler­ orts gerade von den Menschen in der nachsten StraBe o der im N a eh bardorf

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trotz gemeinsamer Sprache eine besonders beharrlich schlechte Meinung hat. Dass mit der Aufgabe der Mehrsprachigkeit und der Einfiihrung einer ge­ meinsamen Sprache die Vorurteile zwischen den N ationen abnahmen un d die wechselseitige Sympathie gro.Ber werde, ist also durchaus zweifelhaft. Die Geschichte lehrt im O brigen, dass sich nach Ablosung der mittelalterlichen Einheitssprache fiir Politik, Kirche und Wissenschaft in Europa, namlich des Lateinischen, durch die " Volkssprachen" Italienisch, Spanisch, Franzosis ch, Deutsch und andere sich eine besondere Kreativitat in der Wissenschaft und den Literaturen der europaischen Regionen entfalten konnte, die Entwicklung der europaischen Moderne also nicht auf einer Einheitssprache, sondern auf sprachlicher Vielfalt beruht. Ziemlich wahrs cheinlich ware , dass mit der Einfiihrung einer einzigen Amtssprache in der Europaischen Union diese Sprache nicht auf die Behorden in Briissel und Stra.Bburg beschrankt bliebe, sondern sich nach und nach iiber die nationalen politischen Instanzen und Verwaltungen auch in den einzelnen Landern verbreiten wiirde, selbstverstandlich zu Lasten der bisherigen Lan­ dessprachen. Hinzu kommt der okonomische Druck aus Industrie und Wirt­ schaft Zu sprachlicher Vereinheitlichung. Unter diesen Bedingungen wird sich die sprachliche Vielfalt in Europa auf langere Sicht nicht ohne weiteres erhal­ ten lassen, es sei denn, sie wird auch durch sprachpolitische Anstrengungen gefordert. Die Politik fiir die eigene Sprache in Deutschland schwankt bisher zwi­ schen sprachlicher Zuriickhaltung aus Sorge, fiir nationalistisch gehalten zu werden, un d gelegentlichen F orderungen n a eh starkerer Beriicksichtigung der deutschen Sprache als dritter Arbeitssprache bei den europaischen Behorden. Die derzeitige Regierung au.Bert ihre Vorstellungen in dieser Richtung etwas entschiedener als die Vorgangerregierungen. Im Unterschied zu traditioneller Sprachpflege und -forderung, die lediglich eine sprachliche Binnenorientie­ rung hat, muss eine zukunftsorientierte Sprachpolitik die Entwicklung der ei­ genen Sp rache stets im Kontakt dieser Sprache zu anderen Sprachen, beson­ ders auch den Nachbarsprachen, sehen. Dies legt auch eine partielle Umorien­ tierung der Germanistik nahe, die starke r als in der Vergangenheit ihren sprachlichen Gegenstand im Kontakt und Kontrast mit den anderen europai­ schen Sprachen untersuchen solite. Sprachpolitik und Sprachpflege solite es ohnedies in Europa kiinftig nicht jeweils nur fiir die einzelnen Sprachen geben, sondem auch im Hinblick auf die europaische und die staateninterne Mehrspra­ chigkeit. Es sei denn, man iiberlasst die weitere Sprachentwicklung in erster Linie den okonomischen und dami t auch kommunikationsokonomischen Einfliissen der Wirtschaft. Wissenschaftler un d Politiker, die sich mit diesem Thema naher befasst ha­ ben, sind sich nach meinen Beobachtungen darin einig, dass die kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt Europas ganz wesentlich sprachlich basiert ist. Und wenn diese sprachliche und kulturelle Vielfalt als wertvoll, als Reichtum aner­ kannt wird, ist die bisher eher wirtschaftsliberale Haltung gegeniiber der Sprachentwicklung zu korrigieren. Vorschlage hierzu gibt es 41 .

DAS HE TIGE DEUTSCH: TENDENZE

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Anmerkungen 1. Zu einer okonomischen Bewertung der deutschen Sprache vgl. Coulmas (1993 ). 2. Hierzu im Einzelnen Keller (1990 ). Kellers Reduktion von Sprachwandel als Phanomen der "unsichtbaren Hand" auf interessengesteuerte Anderungen des individuellen Sprachverhaltens ist eine starke Vereinfachung und letztlich nur ein Erklarungsschema. Ùber die sozialen Prozesse der Durchsetzung sprachlicher Neuerungen ist damit nur wenig gesagt. 3· Zum misslungenen Versuch der inzwischen privatisierten Telefongesellschaft Telekom, eine Reihe von kuriosen Anglizismen einzufuhren, vgl. ABSCHN. I . J . 4· Solche Satze sollten aber tunlichst nicht im Deutschunterricht vorgestellt werden; denn das Verb retten lasst sich im Standarddeutschen weder mit Dativ noch mit Genitiv verwenden . 5 . Wegen mit Dativ ist schon in klassischer Literatur belegt, gilt beute aber als umgangs­ sprachlich. 6. Zu den Prapositionen, einschlieElich ihrer z.T. schwankenden Kasusrektionen vgl. Zifonun et al. (1997), S. 2073-154. 7· Hierzu im Einzelnen Bausch (1979), bes. S. 70 ff. 8 . Ausfiihrlich in Pasch (1983 ); Gaumann (1983 ); Giinthner (1993). 9· Naheres in Wegener (1999). 10. Ein kompakter, aber faktenreicher Ùberblick ii ber die morphologischen un d syntaktischen Veranderungen im heutigen Deutsch mit einschlagigen Literaturhinweisen findet sich in Polenz (1999) , S. 342-69. n. Hierzu im Einzelnen: Zifonun et al. (1997), S. 1649 ff. 12. Hierzu Gliick l Sauer (1997), S. 6o ff. 13 . Mit Ausnahme von zweckmiiflig und planmiiflig nur in Umgangs- und Jugendsprache verwendbar. 14· Hierzu Kiihnhold et al. (1978) , S. 427- 54. 15. Vgl. Stickel (1997), S. 384-410. 16. Vgl. Stickel l Volz (1999 ). 17· Zu diesem Themenbereich vgl. Hellmann (1990); Schlosser (1990) ; Polenz (1993); Miiller (1994) . 18. Vgl. hierzu die Beitrage in Rudolph Muhr (1993). 19. Zu den standardsprachlichen Spezifika der drei deutschsprachigen Staaten vgl. Ammon (1995). Einen guten Ùberblick iiber die groEregionalen Auspragungen des Deutschen gibt auch der Sammelband von Knipf-Koml6si l Berend (2001). 20. Vgl. Stickel l Volz (1999), S. 20 f. 21. Si e sind in dem dreibandigen Anglizismen-Worterbuch von Carstensen l Busse (1993-96) do­ kumentiert. 22. Herberg et al. (2004). 23. Nach eigenen Angaben hat dieser Verein 15.000 Mitglieder. Ùber seine Ziele und Aktivitaten informiert er im Internet unter http:/ /www.vds-ev.de. 24. Naheres zum IDS im Internet unter http://www.ids-mannheim.de. 25. Hierzu ausfuhrlich Skudlik (1990) . 26. Hierzu gehort die fruhere Firma Daimler-Benz nach ihrem Zusammenschluss mit Crysler zur DaimlerCrysler AG und auch der Verlagskonzern Bertelsmann. Im beruflichen Alltag der Kon­ zernverwaltungen soll aber die Einfiihrung von Englisch zu Problemen gefiihrt haben. 27. Zur Entwicklung bis dahin vgl . Bausinger (1979); danach Bayer (1979 ). Eine eingangige Ge­ samtdarstellung bietet Besch (1996). 28. So der "Alt-Achtundsechziger" Gerhardt Amendt in einem Interview mit der Suddeutschen Zeitung, 17. Juli 1995. 29. Beispiel von Helmut Gliick (Pressebericht in der Morgenpost 9· November 1994: 6). 30. Einen Ùberblick aus sprachfeministischer Perspektive mit reichen Literatu rhinweisen bie­ tet Samel (1995). Zur linguistischen Kritik am Sprachfeminismus vgl. Ulrich (1988); Stickel (1988) . 31. Hierzu Samel (1995), S. 138 ff. 32. In Osterreich wird in dem 1990 vom Bundeskanzleramt herausgegebenen "Handbuch der Rechtsetzungstechnik" der Gebrauch von "geschlechtsneutralen Ausdriicken" empfohlen; vgl. Sa­ mel (1995), S. 143 f. 33· Sie wurde 1990 vom Berliner Innensenator fiir seinen Verwaltungsbereich eingefiihrt, aber schon ein Jahr spater ohne Begriindung wieder aufgehoben.

GERHARD

30

STICKEL

34· Reiche Literaturangaben zur Entwicklung der deutschen Orthographie und die Vorberei­ tung der Rechtschreibreform finden sich in Nerius l Rahnenfi.ihrer (1993 ) . Die "Reformer" Augst l Schaeder (1997) setzen sich mit den wichtigsten Argumenten der Kritiker der Reform auseinander. Zu den entschiedensten Reformgegnem gehort Ickler (1997 ) . 3 5 · Eine knappe ùbersicht i.iber die Neuregelung bietet Heller (1996). 36. Vgl. hierzu Weinrich (1985). 37· Vgl. zu diesem Themenbereich die Beitrage in Kallmeyer (woo) . 38. Hierzu Clyne (1995) . 39· Dies schlieEt die deutschsprachigen Schweizer mit ein, wenngleich die Schweiz (bisher) kein Mitglied der EU ist. Nicht beri.icksichtigt sind die Angehorigen deutschsprachiger Minderhei­ ten in mittel- und ostdeutschen Landem und in Ubersee, da es hierzu keine aktuellen Zahlen gibt. Zu den Minderheiten vgl. Born l DickgieEer (1989). 40. Pro & Contra: Eine einzige Amtssp rache in Europa ?. In: Fokus 1995(ro), S. 66. 41 . Unter anderem die Mannheim-Florentiner Empfehlungen/Raccomandazioni di l'vfannheim­ Firenze in Stickel ( 2002 ) , S. 230 ff. bzw. 245 ff. Eine Sammlung von sprachpolitisch einschlagigen Tex­ ten bietet Rutke ( 2002 ) .

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GERHARD

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Ulrich Amman

Standardvarietaten des Deutschen: Einheitssprache und nationale Varietaten

I

Standarddeutsch ist nicht Einheitsdeutsch

Standardisierung bedeutet auch "Vereinheitlichung" . Dementsprechend ist fi.ir das, was h eute meist Standarddeutsch heiEt, auch die Bezeichnung Einheitssprache gangig, neben Bezeichnungen wie Hochsprache, Schrz/tsprache oder Literaturspra­ che. Die Vorstellung von Einheitlichkeit des Standarddeutschen ist in ji.ingster Zeit erschi.ittert worden. Am r. Januar 1 9 9 5 wurde Ò sterreich Mitglied der Europai­ schen Union (EU). Dadurch hat sich das Zahlenverhaltnis weiter zugunsten der Deutschsprachigen verschoben, die dort schon zuvor die zahlenstarkste Sprach­ gruppe in der EU bildeten. In den Beitrittsverhandlungen ist allerdings auch zuta­ ge getreten, dass die Ò sterreicher nicht genau dasselbe Deutsch sprechen wie die Deutschen. Die osterreichische Verhandlungsdelegation hat 23 typisch oster­ reichische Worter vorgelegt (TAB. r) und darauf bestanden, dass sie ki.inftig in den amtlichen Texten der EU verwendet werden diirfen, ne ben den in Deutschland i.ib­ lichen Wortern. Sie hat ihre Forderung durchgesetzt und sogar erreicht, dass zuki.inftig bei Bedarf noch mehr osterreichische Sprachbesonderheiten (Austria­ zismen) in das Amtsdeutsch der EU aufgenommen werden konnen. Alle Worter sin d aus dem kulinarischen Berei eh, woran manche Beobach­ ter ablesen wollen, dass den Ò sterreichern ihre Speisen, genauer: deren Be­ zeichnungen, eben i.iber alles gehen. Mit dem Versprechen, die osterreichischen Speisenbezeichnungen wi.irden bestehen bleiben, hat auch der damals noch amtierende Wiener Bi.irgermeister Zilk zur Zeit der Volksabstimmung den Wahlern ihre Angst vor dem EU-Beitritt zu nehmen versucht. An den Autobahnen in Richtung Wien prangte ein groEes Plakat mi t der O berschrift "Erdapfelsalat bleibt Erdapfelsalat " , das auch mehr­ fach noch als Zeitungsannonce erschien. Auf dem Plakat waren auBer einer Por­ tion Kartoffelsalat, wie er in Deutschland heiEt, vier weitere Gerichte mit oster­ reich-spezifischen Bezeichnungen abgebildet. Die Aufmerksamkeit der Leser wurde ausdriicklich auf diese Bezeichnungen gelenkt. Verbunden dami t war die Aufforderung, die osterreichische Bezeichnung weiterhin zu verwenden. So hieE es etwa bei einem Gericht mit Tomaten: «Sagen Sie bitte [. ] Paradeiser. Sie diirfen es auch als EU-Bi.irger>>. Es folgte ein Lobeswort an den Minister, des­ sen Verhandlungsdelegation sich mit Erfolg fiir die EU-Amtlichkeit des Wortes eingesetzt habe: «Danke, Herr AuEenminister, fi.ir Ihre Zahigkeit ! » . ..

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ULRICH AM M O N

TABELLE 1 Die 23 Austriazismen des Amtsdeutschen in der EU

Osterreich

Amtsblatt der Europaischen Gemeinschaft (Bezeichnung in Deutschland) Roastbeef Pfifferlinge Kartoffeln Hackfleisch Griine Bohnen Grieben Hiifte Blumenkohl Rosenkohl Meerrettich Filet Aprikosen Aubergine Kugel Sahne Tomaten Pflaumenmus Johannisbeeren Hochrippe Keule Quark Feldsalat Sauerkirschen

Beiried Eierschwammerl Erdapfel Faschiertes Fisolen Grammeln Hiifterl Karfiol Kohlsprossen Kren Lungenbraten Marillen Melanzini Nuss Obers Paradeiser Powidl Ribisel Rostbraten Schlogel Topfen Vogerlsalat Weichseln

Diese sprachlichen Begleitumstande des osterreichischen EU-Beitritts haben die verbreitete Vorstellung von der Einheitlichkeit des Standarddeutschen weithin erkennbar als Fiktion entlarvt. Nicht nur auf den darunterliegenden Ebenen der Umgangssprachen, und erst recht der Dialekte oder Mundarten mi t ihrer au.Berordentlichen Differenziertheit, gibt es regionale Unterschiede, sondern auch im Standarddeutschen. Sie sind hauptsachlich bedingt durch die nationalen Va rianten , wie die nationsspezifischen einzelnen Sprachfor­ men in der Fachsprache hei.Ben. Mit dem Ausdruck nationale Varianten be­ zeichnet man dagegen die Gesamtheit der sprachlichen Besonderheiten einer Nation. 2

Di e nationale Vielfalt des Standarddeutschen

In allen sieben Nationen oder Teilen von Nationen, in denen Deutsch Amts­ sprache ist (vgl. KARTE r) , gibt es gewisse standarddeutsche Besonderheiten (vgl. Variantenworterbuch des Deutschen 2004) . Ihr standardsprachlicher Status ist unter anderem daran zu erkennen, dass die Lehrer sie im Schulaufsatz gelten las­ sen sollen oder zumindest diirfen. In der deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien z.B. hei.Bt ein bestimmtes Geback Rollkuchen, das man ansonsten Schnecke nennt, und in Luxemburg bezeichnet man einen Prozess vor Gericht

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STANDARDVARIET.ÀTEN DES DEUTSCHEN

als A//à're oder Af/aire. I n der Provinz Bozen-Siidtirol in Norditalien hei.Bt der Klempner Hydrauliker, un d die Liechtensteiner nennen ihre Biìrgermeister ( Ge­ meinde) Vorsteher. Allerdings beschranken si eh in diesen Fallen di e nationalen Varianten weitgehend auf einzelne Worter. KARTE 1

Amtssprachregion des Deutschen

o Deutsch als nationale Amtssprache Deutsch als regionale Amtssprache

2oo km

ULRICH AM M O N

In O sterreich, der deutschsprachigen Schweiz und Deutschland ist dagegen nicht nur die Zahl der Wortschatzbesonderheiten viel gro.Ber, sondern finden sich dariiber hinaus Spezifika auf allen grammatischen Ebenen (vgl. TAB. 2) . Dies e Spezifika heiBen im Falle von O sterreich Austriazismen un d im Falle der Schweiz Helvetismen. Im Falle von Deutschland kann man von Teutonismen sprechen, doch ist dieser Terminologievorschlag wegen seiner unvorteilhaften Konnotationen umstritten . Die Deutschen - in Wirklichkeit vor allem die Norddeutschen - erkennt man z.B. an der stimmhaften Aussprache ihrer Rei­ belaute (stimmhaftes s) , die Schweizer daran, dass sie die Endsilbe in Wortern wie Department voli aussprechen (-mcint), und die O sterreicher an der beson­ deren Aussprache einzelner Worter, z . B . Giraffe (Schira//e ) . In der Recht­ schreibung bestehen ebenfalls Eigenheiten, z . B . haben die Schweizer den Buchstaben ./? ganz aufgegeben. Sogar Wortbildung und Grammatik weisen na­ tionale Besonderheiten auf. In O sterreich und teilweise auch in Siiddeutsch­ land heiBt es z.B. Ferialarbeit statt Ferienarbeit oder der Sellerie neben die Sel­ lerie (Genus) und die Wti'gen neben die Wagen (Plural) . In der Schweiz sagt man statt Rechenau/gabe oder Rechen/ehler Rechnungsau/gabe bzw. Rechnungs/eh­ ler, ferner hei.Bt es die E/eu neben der E/eu (Genus) und die Abonnemente statt die Abonnements (Plural) . Die nicht umgelauteten Pluralformen Bogen) Gene­ rale sind typisch deutsches Deutsch. Sogar bei den Redewendungen gibt es Ei­ genheiten: Beim entsprechenden Gefiihlszustand steckt einem in Deutschland ein Kloj? im Hals, in O sterreich ein Knodel und in der Schweiz sogar ein Klum­ pen (ausfiihrliche Darstellung der nationalen Varianten in Ammon 1995: 142-78, 251- 80, 326-57) . TABELLE 2 Beispiele nationaler Varianten des Deutschen auf verschiedenen Sprachebenen Osterreich

Schreibung

Ki.icken Praliné (das) FuB

Aussprache

[31' raf(a) ] Giraffe - [o:n]

BRD

Schweiz

Ki.iken Praline (die) F uB

Ki.iken Praliné (das) Fuss (kein B)

[gt'raf(8)]

u;1'raf(8)] - [o:n]

['al3i:r] Algier

- [OIJ ] in Balkon etc. ['al3i:rJ

Grammatik

Moser Kragen Zubehore

Moose Kragen Zubehore

Moose Kragen Zubehor/den

Wortbildung

F erialarbeit Schweinsbraten Sonnenseite

Ferienarbeit Schweinebraten Sonnenseite

Ferienarbeit Schweinsbraten Sonnseite

Wortschatz

Vogerlsalat Schneerute

Rapunzel Schneebesen

Niisslisalat Schwing-besen

['algi:r]

STANDARDVARIET.ÀTEN DES DEUTSCHEN

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Die Hauptmenge der nationalen Sprachbesonderheiten findet sich jedoch im Wortschatz. Eine Reihe von Beispielen finden sich in TAB. 3 · Fiir die Landerzu­ ordnung wurden jeweils die fiir Autor iiblichen Kennzeichen verwendet, also A = Austriazismen, CH = Helvetismen und D = Teutonismen. Begrenzte Geltung innerhalb eines Landes wird jeweils durch einen Zusatz spezifiziert. "D-sudest" bedeutet also z.B. , dass das Wort im Siidosten Deutschlands gebrauchlich ist und als standardsprachlich gilt. TABELLE 3 Beispiele von Austriazismen, Helvetismen und Teutonismen im Wortschatz

(I

AUSTRIAZISME

(A)

SPEISE , MAHLZEITEN

die Aranzini (Pl.) die Bà'ckerei/das su./Se Gebà'ck bà'henlrosten [ von Brot] das Beiried [Rindfleischsorte] das Beuschel/die Lunge das Blaukrautldas Rotkraut

die Blunze die Bo/ese/die Pa/ese/die Po/ese die Buchtel die Dille der Eierschwamm/das Eierschwammerl die Eierspeis(e) das Eiklar die Einbrenn der Erdapfel/die Kartof/el das Erdàpfelpuree

das Faschierte das /aschierte Laibchen/das Fleischlaibchen

der Filzlder (rohe) Schweinespeck die Fisolen der Fogoschlder Schill/der Zander das Frank/urter ( Wurstel) (Wiener steht fiir Wiener Schnitzel) die Gerosteten/die gerosteten Erdàpfel das Gerstel geselchtlgerà'uchert

)

eH/D das Orangeat eH das Biskuit, D das su./Se Gebà'ck eH/D-siid, eH/D rosten eH/D das Rzppstuck eH/D die Lunge eH der Blaukabislder Rotchab is, eH/D-mittel/ siidwest das Rotkraut, D-mittel/nord der Rotkohl, D-siid das Blaukraut eH/D die Blutwurst eH die Fotzelschnitte, D der arme Ritter eH/D-siidwest die Damp/nudel, D-siidost die Wuchtel D-siidost, eH/D der Dill eH der Eierschwamm, eH/D der Pfifferling, D-siid­ ost der P/z//er eH/D das Ruhrei, D-siidost der Eierschmalz eH/D das Eiweiss D-siidost, eH die Mehlsauce, eH/D ohne siidost die Mehlschwitze, D-siid die Einbrenne eH/D die Kartoffel, D-siidost der Erdapfel eH der Karto//elstock/der Stocki, D der Karto//el­ brei, D ohne ostmittel!siidwest das Karto//el­ puree, D-nordlostmittel das K.artoffelmus, D-nord­ est die Stamp/karto/felnldie Quetschkarto/feln eH/D das Hackfleisch, eHID-mittel/nord das Ge­ hackte, D-mittel/nordost der Hackepeter eH das Hacktiischli, D-mittellost der Klops, D­ nordwest/westmittel die Frikadelle, D-siidost das Fleischpflanzerl, D-siidwest das Fleischkuchle, D­ ost die Bulette eH/D der (rohe) Schweinespeck eH/D die grunen Bohnen eH/D der Zander eH das Wienerlzldas Frank/urterli, D das Wiener (Wurstchen)ldas Frank/urter ( Wurstchen) eH/D die Bratkartoffeln eH/D die Graupe D-siidost, eH gerà'ucht, D gerà'uchert =

=

=

ULRICH AM M O N

TABELLE 3 HELVETISME (CH) (IN HAUSHALT, KLEIDU G)

abtischen der Anzug/ der Bezug der Ausbau (einer Wohnung) (Wasche) ausschwingen auswallen (von Teig) auswinden die Bettstattl das Bettgestell/die Bettstelle das Dreierzimmer die Echarpe der Estrich der Flaumer der Gartenhag der Gartenhag/der Gartenzaun genera lrevidiert gliittenlbugeln der Hahnen/ der Hahn (an Wasserleitung) der Hosensack dasider Jupe [3yp] (fiir Frauen) der Ab/allider Kehricht der Kehrichtkubel der Kittel/der Veston

AID (den Tisch) abriiumen A!D der Uberzug, D der Bezug AID die Ausstattung A!D schleudern A/D ausrollen, A-siidost/D auswalken, D-siidwest auswellen A/D-siid, D-mittel/nord auswringen A die Bettlade, AID das Bettgestell/die Bettstelle A!D das Drezbettzimmer (entsprechend bei ande­ =

ren Bettenzahlen) AID das Halstuchldie Schà'rpelder Schal

A!D der Dachboden AID der Mop A!D die Gartenhecke A/D der Gartenzaun AID genera!Uberholt/gesamtuberholt A!D bugeln, D-ostmittel/nord plà'tten A!D der Hahn, D-slidwest der Kran A!D die Hosentasche A!D der Rock D-siidwest, A der 1\1.ist, AID der Mull A der Mistkubel, D der Miilleimer A!D die Jacke/das Jacket =

[Teil des Herrenanzuges]

das (Unter)Leibchen das Nastuch der Putzlumpen/ der Scheuerlappen

A!D das Unterhemd

A das Sacktuch, AID das Taschentuch, AID-slidost das Schnà'uztuch, D-mittel/ost das Schnupftuch A der Putz/etzenl der Reib/etzen/das Reibtuch, AID das Putztuch, D-mittel/nord der Scheuerlap­ pen, D-nord der Feudel, D-siid der (Putz)lappen A das Reibeisen, D die Reibe, D ohne ostmittel die

Raspel

TEUTONISMEN (D) (IN GESCHAFTSLEBEN, HANDWERK, LANDWIRTSCHAFT, VERKEHR)

der Anschluss (bei zentraler Telefonanlage) der Aufpreis die Blaheldie Plane der Burgersteig/der Gehsteig, D-siid das Trottoir, D-nord/mittel der Gehweg der Fehlbetrag der Fernsprecherldas Tele/o n der Friseurlder Frisar der Fu/Sgà'ngeruberweg/der Zebrastrez/en dasider Gully, D-siidwest die Dole der Karosseriebauer die Krampe

A die Klappe, CH intern A!CH die Au/zà'hlung AICH die Plache, CH die Blache A!CH der Gehsteig, CH das Trottoir

A!CH der Abgang, CH der Minderertrag AICH das Telefon AlCH der Coiffeur A der Fu/Sgà'ngerubergang/der Schutzweg, A ohne west der Fu/Sgeherubergang, AleH der Zebrastrei­ /en, CH/LUX der Fussgà'ngerstrez/en A der!das Gully!der Kanal(abfluss) , CH die Dole A der Karosseurl der Karossiespenglerl der KFZ­ Spengler, AICH der Autospengler, CH der Carosse­ riespengler A CH die Agraffe!der U-Haken =

,

STANDARDVARIET.ÀTEN DES DEUTSCHEN

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TABELLE 3

der Lageristlder Magazinverwalterl der Lagerverwalter das Mietshaus der 0/ensetzer, D-si.id der Hafner die Plastik, D-ost die Plaste die Ruckfahrkarte der Schornstein/egerlder Kamin/eger, D-mittellost der Essenkehrer, D-si.idost der Kaminkehrerlder Rauch/angkehrer der Tischler, D-si.idlwestmittel der Schreiner die UmgehungsstraBe einkau/en , D-mittellnord einholen der Rechen, D-nord die Harke das kleine Bauernhaus, D-si.idost die Kaluppe, D-nord die Kate die Kirchweihldie Kirmes, D-nordlost

der Rummel der Pinsel, D-nord der Quast der Fleischer, D-nord der Schlachter, D-westmittel/si.id der Metzger

A der Magazineurlder Lagerverwalter, CH der

Lageristlder Magaziner A das Zinshaus, CH das Renditenhaus = A, AleH der Hafner, CH der Ofenbauer AICH das Plastik A die Retourkarte, CH das Retourbillet A der Rauch/angkehrer, A-west der Kaminkehrer, CH der Kamin/eger AICH der Schreiner AICH die Umfahrungsstrafle (CH mit ss) AlCH einkau/en AlCH der Rechen A die Keusche, A-ost die Kaluppe, A/eH das kleine Bauernhaus, CH das Rustico A die Kirchwezh, A-west die Kilbi, CH die

Chilbzl die 1\tfesse

AICH der Pinsel A der Fleischer, A-ost der Fleischhackerlder Fleischhauer, A-westiCH der Metzger

Die Beispiele in TAB. 3 zeigen, dass es viele Worter gibt, die nicht nur in einem der drei deutschsprachigen Lander gelten, sondern gleich in zwei. Man kann dementsprechend unterscheiden zwischen spezzfischen und unspezi/ischen na­ tionalen Varianten. Die spezifischen nationalen Varianten gelten nur in einem nationalen Zentrum des Deutschen, fiir das sie eben spezifisch sind; die unspe­ zifischen nationalen Varianten gelten in zwei Zentren - aber selbstverstandlich nicht in allen - sonst waren sie gemeindeutsch oder einheitssprachlich. Die meis ­ ten Worter der deutschen Sprache sind in der Tat gemeindeutsch. Daher ist die Idee vom Einheitsdeutschen natiirlich nicht vollig falsch. Das Standarddeutsch Deutschlands und dasjenige Osterreichs und der Schweiz stimmen gro.Benteils iiberein; die Besonderheiten machen nur einen kleinen Teil aus . Deshalb gehoren ja alle drei Varietaten zur gleichen Sprache. Allerdings gibt es e ben zwi­ schen den deutschsprachigen Nationen die " Lust am kleinen Unterschied" . Um festzustellen, ob eine spezifische oder nur eine unspezifische nationale Variante vorliegt, muss man stets nach allen S.n vergleichen. Bei drei nationalen Zentren des Deutschen ist also bei jedem Wort und bei jeder Sprachform ein dreiseitiger Vergleich erforderlich. 3

Die Herkunft der nationalen Varietaten

Woher kommen die sprachlichen Besonderheiten der verschiedenen deutsch­ sprachigen N ationen? Die Wortschatzbesonderheiten stammen zu betrachtlichen Teilen aus der eigenen staatlichen Verwaltung (Deutschland das Abitur, Osterreich die Matu­ ra, Schweiz di e Matur oder Matura).

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KARTE 2

Die fur die nationalen Varietaten des Deutschen wichtigsten Dialektregionen

o

2oo km

Eine andere Gruppe stammt aus den verschiedenen Kontaktsprachen, die sich nicht nur aus der unterschiedlichen geographischen Lage, sondern auch aus der jeweiligen politischen Geschichte ergeben haben. Ein Beispiel sind die vielen Entlehnungen aus den Zeiten der k. u.k. Monarchie in den osterreichischen Speisebezeichnungen, vor allem aus dem Italienischen (Kar/iol Blumenkohl) , aus dem Ungarischen (Fogosch Zander) und aus dem Tschechischen (Buchteln Dampfnudeln) .

STANDARDVARIET.ÀTEN DES DEUTSCHEN

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Ein nicht unbetrachtlicher Teil der Unterschiede auf allen grammatischen Ebenen stammt au.Berdem von den jeweiligen Dialekten, aus denen die Formen ins Standarddeutsch aufgeriickt sind. Wie aus KARTE 2 ersichtlich ist, kongruieren die Dialektgrenzen jedoch nicht mit den nationalen Grenzen. Dies fiihrt auch zu gewissen Unsicherheiten in der Abgrenzung der nationalen Varietaten voneinander sowie vom Dialekt. So sind manche aus den niederdeutschen Dialekten entlehnten Formen nur in Nord­ deutschland gelaufig, z.B. Laken (Leintuch) oder Harke (Rechen) . In anderen Fallen sind die gleichen Formen auf schweizerischer oder osterreichischer S. standarddeutsch und auf deutscher S. nicht, was fi.ir manche Sprachbenutzer verwirrend ist. So ist z.B. das Stockerl (der Hacker) in O sterreich standard­ deutsch, im deutschen Bayern aber dialektal, entsprechend ist ein Guetzli, das in Deutschland Plà'tzchen und in O sterreich Zeltel hei.Bt, auf der einen S. der Grenze " schweizerhochdeutsch " , also Standard, und auf der anderen S. ale­ mannischer Dialekt. Kein Wunder, dass es ob dieser Sicht der Dinge gelegent­ lich Kontroversen um die Standardsprachlichkeit von Sprachformen gibt. 4

Wer bestimmt iiberhaupt, was "richtiges Deutsch" (Standarddeutsch) ist?

Wie wird denn festgelegt, welche F ormen standardsprachlich sind un d welche nicht? Dies geschieht durch das Zusammenspiel mehrerer gesellschaftlicher In­ stanzen. Ein volies nationales Zentrum einer Sprache muss iiber alle ma.Bgebli­ chen sozialen Instanzen verfiigen, die eine Standardvarietat setzen. Nur auf ihrer Grundlage kann sich eine eigenstandige nationale Varietat entwickeln und er­ halten. Die meines Erachtens wichtigsten Instanzen sind in der folgenden Abbil­ dung genannt (ausfi.ihrliche Darstellung und Begri.indung in Amman 199s: 73-88). Diese Instanzen, die den Standard einer Sprache setzen, lassen sich z.B. in Bezug auf O sterreich folgenderma.Ben spezifizieren. Der Sprachkodex ist im We­ sentlichen das Osterreichische Worterbuch, das seit 1951 im Auftrag des Unter­ richtsministeriums erscheint (39. Aufl. , 2001). Zu beachten ist, dass nicht jede linguistische Beschreibung einer nationalen Varietat Bestandteil ihres Kodexes ist. Voraussetzung dafi.ir ist vielmehr eine gewisse amtliche Gi.iltigkeit des be­ treffenden Werkes, z.B. eines Worterbuchs. Diese amtliche Gi.iltigkeit besteht ­ vereinfacht gesagt - darin, dass Lehrer sich bei ihren Korrekturen von Amts we­ gen, gesti.itzt durch das Schulministerium, auf den Kodex berufen di.irfen und dass ihre sprachlichen Vorschriften (Korrekturen) mit dem Kodex im Einklang stehen sollten. Di e Kodzfizierer sin d im Falle O sterreichs die Bearbeiter d es Osterreichi­ schen Worterbuchs. In Deutschland ist es die Dudenredaktion - die Dudenban­ de bilden den Kern des Sprachkodexes fiir Deutschland. Die wichtigste Gruppe der Normautoritaten, genauer Sprachnormautorità'ten, sind die Lehrer gegeni.iber ihren Schiilern. Aber auch Vorgesetzte auf Amtern und andere gehoren dazu, soweit sie befugt oder sogar verpflichtet sind, das Sprach­ verhalten anderer Personen, ihrer Mitarbeiter oder Untergebenen, zu korrigieren.

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Soziales Kraftefeld einer Standardvarietat , - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -� ' , ' .. , ,

',

Bevolkerungs-

,

Normautoritaten : Korrekturen

Sprachkodex (Kod.ifizierer)

l

l

Modellsprecher/ -schreiber: Modellt exte , ,'

Sprachexperten: Fachurteile

mehrheit

''

,

.. .. , .. l 1- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -\ ,

,

/

Zu den Modellsprechern und -schreibern gehoren in erster Linie professionelle Sprachbenutzer; in der gesprochenen Sprache die Sprecher in den Medien und die Schauspieler bzw. in der geschriebenen Sprache die Autoren, vor allem die Sachtextautoren einschlie.Blich der J ournalisten. Sie alle produzieren die Mo­ delltexte, an denen sich wiederum die Kodifizierer orientieren. Die Sprachexperten sin d vor allem di e F achlinguisten, un d zwar - um di e In­ stanzen auseinander zu halten - nur die nicht unmittelbar mit der Kodifizierung befassten. Auch ihre U rteile spielen eine Rolle da bei, wel che Sprachvarianten als standardsprachlich gelten. Damit wird schon erkennbar, dass die vier Komponenten, und zwar alle vier, aufeinander einwirken, was durch die Pfeile angezeigt ist. Ein Beispiel fi.ir dieses Wirkungsgeflecht bietet die Auseinandersetzung um die 35· Auflage des Osterreichischen Worterbuchs (1979 ) . Diese Auflage wurde von renommierten Linguisten un d von Lehrerverbanden scharf kritisiert. Dies e Kritik von Sprach­ experten wie den Germanistikprofessoren Peter Wiesinger (Wien) und Ingo Reiffenstein (Salzburg) und der Widerstand von Sprachnormautoritaten, vor al­ lem des gymnasialen Lehrerverbandes, haben die Kodifizierer zur Rucknahme der meisten Neuerungen in der 36. Auflage (r985) bewogen. An dieser Auseinandersetzung lasst sich auch zeigen, dass sich die ver­ schiedenen standardsetzenden Krafte in unterschiedlicher Weise auf die Bevol­ kerungsmehrheit bzw. deren Sprachgebrauch und Sprachwertvorstellungen be­ rufen konnen. Die Bevolkerungsmehrheit ist jedoch in der Regel nicht direkt an der Setzung der Standardvarietat beteiligt. Allerdings ware es wohl grundsatz­ lich moglich, sie durch Ermittlung ihrer Vorlieben, z.B. mittels geeigneter Be­ fragungen, in den Prozess der Setzung einer Standardvarietat einzubeziehen.

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5

Asymmetrien zwischen den nationalen Zentren des Deutschen

Das Modell der standardsetzenden Instanzen ermoglicht die Unterscheidung zwischen nationalen Vollzentren und nationalen Halbzentren einer Sprache. Nur die Vollzentren verfiigen iiber samtliche normsetzende Instanzen. Im Falle der deutschen Sprache sind nur Deuts chland, Òsterreich und die deutschsprachige Schweiz solche Vollzentren. AuBerdem eignet sich das Modell zur weiteren ty­ pologischen Differenzierung der Vollzentren. Im Falle der deutschen Sprache gibt es vor allem auffallige Unterschiede beim Sprachkodex. So sind der oster­ reichische und der schweizerische Sprachkodex im Vergleich zum Sprachkodex Deutschlands liickenhaft und teilweise auch methodisch unbefriedigend abge­ sichert. Dies zeigt sich beim Vergleich mi t den Duden-Banden einschlieBlich des groBen Worterbuchs des Dudenverlags (L Aufl., 1976-8r: 8 Bde. bzw. 3· Aufl. , 1999: ro Bde.) . Einige Hinweise auf Liicken und Mangel des osterreichischen Kodexes sol­ len hier geniigen. Fiir die Schweiz lieBe sich Àhnliches feststellen. In Ò sterreich fehlen insbesondere ein eigenes Ausspracheworterbuch, eine eigene Gramma­ tik und ein Bedeutungsworterbuch, und erst recht speziellere Kodexteile wie et­ wa die Zusammenstellung der sprachlichen Hauptschwierigkeiten, der Rede­ wendungen und dergleichen. AuBerdem ist das Osterreichische Worterbuch in­ soweit methodisch unbefrie digend abgesichert, als bisher eine geeignete Sprachkartei fehlt. Als Quelle dienen hauptsachlich die Materialien des Wor­ terbuchs der bairischen Mundarten in Osterreich (r963 ff. ) und die - allerdings be­ achtliche - personliche Materialsammlung von Jakob Ebner (1998) . Die Mate­ rialien fii r das Mundarten-Worterbuch (Dialektworterbuch) sind jedoch als Ba­ sis fiir die Kodifizierung einer Standardvarietat ungeeignet; ihnen lassen sich keine Standardvarianten entnehmen. Die Kodifizierer konnen sich groBenteils nur intuitiv - ohne giiltige un d zuverlassige methodische Absicherung - auf die Modellsprecher und -schreiber bzw. die Modelltexte stiitzen. Die Li.ickenhaftigkeit und die mangelnde methodische Absicherung haben das Ansehen des osterreichischen Sprachkodexes untergraben. Dies konnten auch Appelle an die nationale Loyalitat nicht verhindern. Vor allem sind an­ spruchsvolle Sprachbenutzer darauf angewiesen, den Sprachkodex Deutsch­ lands hinzuzuziehen, wo der Kodex Ò sterreichs keine Auskunft gibt. Dieser Um­ stand schmalert letztlich sogar die Autonomie der eigenen nationalen Varietat. Ein Indiz fi.ir die instabile Autonomie ist z.B., dass die im osterreichischen Sprachkodex ausgewiesenen nationalen Varianten Ò sterreichs nicht selten in ih­ rer Standardsprachlichkeit angezweifelt werden. In Aufsatzen, die ich oster­ reichischen Lehrern zur Korrektur vorgelegt habe, wurden die Worter aper und Tiirschnalle von einem Viertel und das Wort Eiskasten von einem Fi.inftel der Befragten beanstandet, obwohl sie in der damals neuesten Auflage des Oster­ reichischen Worterbuchs unmarkiert und damit als uneingeschrankt standard­ sprachlich ausgewiesen waren (vgl. Ammon 1995: 436-47). AuBerdem wurden Worter wie Indian) Ge/rorenes oder Gewinnst von mehreren von mir informell

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befragten osterreichischen Sprachexperten einstimmig als unzweifelhaft veral­ tet eingestuft, obwohl die damals neueste Auflage des Osterreichischen Worter­ buchs auch sie unmarkiert fiihrte. Vermutlich hangen die methodisch unbefrie­ digende Bearbeitung des Kodexes und die abweichende Bewertung durch die verschiedenen standardsetzenden Instanzen miteinander zusammen. Derzeit wird in Zusammenarbeit von Expertengruppen aus Deutschland (Universitat Duisburg) , O sterreich (Universitat Innsbruck) und der deutsch­ sprachigen Schweiz (Universitat Basel) ein methodisch sorgfaltig abgesichertes Worterbuch erarbeitet, das samtliche nationalen Varianten der deutschen Spra­ che enthalt (Beschreibung in Ammon l Kellermeier l Schlo.Bmacher 2001) . Auf diesem Materia! beruht auch TAB. 3 oben. Es handelt sich dabei allerdings nicht um ein Vollworterbuch, da die gemeindeutschen Worter nicht enthalten sind. Diese bilden ja die Hauptmenge des Standarddeutschen. Inwieweit dieses neue Worterbuch amtliche Giiltigkeit erlangt, bleibt abzuwarten. Immerhin liegt dann eine weitgehend vollstandige Beschreibung der nationalen Varianten des Deutschen vor. 6 Ò sterreichischer N ati onalvarietats-Purismus gegeniiber deutschem Alleinvertretungsanspruch

Die Unterschiede zwischen Deutschland auf der einen S. und O sterreich sowie der Schweiz auf der anderen S. , die Liickenhaftigkeit und unzureichende me­ thodische Fundierung des Sprachkodexes sowie die Unsicherheit bei der Aner­ kennung der nationalen Varianten als Standard, sind Teil der Asymmetrie zwi­ schen den nationalen Zentren des Deutschen (vgl. z.B. Clyne 1989). In ziemlich allen plurinationalen Sprachen gibt es solche Asymmetrien zwischen den natio­ nalen Zentren. Ein Ausdruck solcher Asymmetrie sin d auch di e sogenannten Sternchen­ Worter des Osterreichischen Worterbuchs. Dies sind Worter, die mit einem Stem­ chen markiert sind, was nach Auskunft des Worterbuchs bedeutet, dass es «Wor­ ter [sind] , die speziell dem , das heillt dem Sprachgebrauch Deutschlands angehoren [ . . . ]» (1990: 15) . Diese Auskunft verrat sogar die Aner­ kennung der Asymmetrie seitens des Osterreichischen Worterbuchs (1990: 15) . Mit dem Ausdruck Binnendeutsch fiir das deutsche Deutsch stuft das Osterreichische Worterbuch das eigene osterreichische Deutsch implizit selbst als eine Art Rand­ deutsch ein. Erst ab der 38. Auflage (1997: 14) sind die Angaben differenziert in un d in . N och bemerkenswerter ist aber, dass das W orterbuch keinerlei Angaben zu anderen nationalen Varietaten macht als nur zum deutschen Deutsch. Varianten der deutschsprachigen Schweiz fehlen ganzlich. Au.Berdem wird nicht ernsthaft versucht, die nationalen Varianten Deutschlands vollstandig zu erfassen. Genannt sind vielmehr nur diejenigen Varianten Deutschlands, die in O sterreich schon einigermaBen bekannt oder gelaufig sind. Das Sternchen, und spater zu­ satzlich das «D», sind zu verstehen als Warnung an die Worterbuch-Benutzer, die­ se in Osterreich teilweise schon eingedrungenen Worter unbesehen zu verwenden. =

=

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Die Sternchen-Markierung im Osterreichischen Worterbuch ist eine Art Sprachpurismus. Genauer lasst sich dieser spezifizieren als Nationalvarietà"ts-Pu­ rismus. Die Sternchen-Markierung soll die eigene nationale Varietat vor dem Ein­ dringen von Varianten aus einer anderen nationalen Varietat schiitzen. Sprachpu­ rismus ist ein typisches Verhalten einer Sprachgemeinschaft, deren Sprache ei­ nen niedrigeren Kontaktstatus hat, gegeniiber einer Sprachgemeinschaft mit ei­ ner Sprache von hoherem Kontaktstatus. Beispiele sin d das einstige Abwehrver­ halten Deutschlands gegeniiber Entlehnungen aus dem F ranzosischen oder di e heutigen MaBnahmen Frankreichs oder Polens gegen die Entlehnungen aus dem Englischen. Im Falle O sterreichs handelt es si eh freilich nicht um verschiedene Sprachen, sondern um verschiedene Varietaten derselben Sprache. Im Gegensatz dazu ist das Verhalten der Kodifizierer Deutschlands von dem O sterreicher Wolfgang Pollak (1994: 63-5) zu Recht als «Alleinvertretungs­ anspruch» kritisiert worden. Allerdings solite man dabei nicht unbesehen bosen Willen unterstellen; di e Asymmetrie ha t Griinde jenseits der subjektiven Ein­ stellung der Kodifizierer. Die Duden-Bande, die einen zentralen Bestandteil des Kodexes Deutschlands bilden, enthalten nicht nur die nationalen Varianten ei­ nes der beiden anderen nationalen Vollzentren, sondern beider, also O sterreichs und der deutschsprachigen Schweiz. Sie versuchen sogar, deren nationale Vari­ anten moglichst vollstandig zu erfassen. Die Dudenredaktion unterhalt zu die­ sem Zweck eigene Dudenausschiisse in Osterreich und in der Schweiz. Deren Aufgabe ist es, die Austriazismen und Helvetismen zu sammeln. Zugrunde liegt eine ganz andere Zielsetzung als beim Osterreichischen Worterbuch, namlich iiber alle nationalen Varietaten des Deutschen zu informieren. Damit versucht die Dudenredaktion, den Anspruch fiir ihre Bande zu unterstreichen, Sprach­ kodex fiir die ganze deutsche Sprache zu sein. Allerdings erfiillt die Dudenredaktion diesen Anspruch nicht wirklich, son­ dern erliegt letztlich doch einer Art Alleinvertretungsanspruch, der zumindest aus osterreichischer und schweizerischer Sicht problematisch ist. Die nationa­ len Varianten des eigenen Zentrums , die Teutonismen, sind in den Duden-Ban­ den namlich nicht als solche markiert. Dies ist weitgehend unproblematisch fiir die deutschen Benutzer; fiir die osterreichischen und die Schweizer Benutzer waren entsprechende Hinweise jedoch sehr hilfreich. Wenn sie in den Duden­ Banden Worter wie Abitur, Apfelsine oder Sahne unmarkiert finden, so miissen sie im Grunde annehmen, dass diese Worter auch im eigenen osterreichischen und Schweizer nationalen Zentrum gelten, was jedoch nicht ohne weiteres zu­ trifft. Die Duden-Bande sind daher keinesfalls eine iiber den verschiedenen na­ tionalen Varietaten des Deutschen stehende neutrale Instanz, sondern es sind primar Kodifizierungen des deutschen Deutsch. Fiir die auf ein einzelnes natio­ nales Zentrum bezogenen Sprachkodizes ist es namlich allgemein iiblich, di e ei­ genen nationalen Varianten nicht zu markieren. So verfahren auch die oster­ reichischen und schweizerischen Kodizes. Aber gerade durch diese Unterlas­ sung erweisen sich die Duden-Bande eben als Kodex nur des eigenen nationa­ len Zentrums, nicht als gesamtsprachlicher Kodex, der iiber den verschiedenen nationalen Zentren steht. Wenn es stimmt, dass sich die Dudenredaktion diese Frage lange Zeit gar nicht gestellt hat, so ware dieses mangelnde Problembe-

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wusstsein ein weiteres Indiz fiir ihre Befangenheit in der eigenen nationalen Va­ rietat. Sie hat das deutsche Deutsch stillschweigend fiir gemeindeutsch gehalten un d daher auch keine N otwendigkeit gesehen, es national zu markieren. 7 Stereotypi sche Si eh t un d N ati onalspitznamen

Fiir asymmetrische plurinationale Sprachen sind bestimmte gegenseitige Bewer­ tungen der Bewohner typisch. In aller Regel sin d den Bewohnern d es dominan­ ten Zentrums die Bewohner der dominierten Zentren sympathisch. Die Einstel­ lung der Deutschen gegeni.iber den Osterreichern und den Schweizern passt in dieses Muster. In der Tat sind den Deutschen die Osterreicher am sympathisch­ sten von allen N ationen, un d die Schweizer folgen an zweiter Stelle. Di e Eigen­ schaften, die beiden Nationen von den Deutschen zugeschrieben werden, konn­ ten kaum schmeichelhafter sein. Deshalb besitzen die Deutschen auch keine ab­ schatzigen Nationalspitznamen fi.ir sie, zumindest keine allgemein gelaufigen. Im Gegensatz dazu bewerten die Osterreicher und die Schweizer die Deut­ schen zwiespaltig bis negativ. Zwar halten beide die Deutschen fi.ir nahe Ver­ wandte, aber zugleich fiir unliebsame Verwandte: fiir laut, aufdringlich, riick­ sichtslos , arrogant, unkultiviert und dergleichen. Diese Eigenschaften schwin­ gen auch mi t in den in O sterreich un d in der Schweiz gangigen N ationalspitz­ namen fiir die Deutschen. Die Deutschen heiBen in O sterreich Pie/kes und in der Schweiz Schwobe (oder Schwabe) . Der Nationalspitzname Piefke leitet sich einerseits her vom N amen des preuBischen Militarkomponisten Gottfried Pief­ ke. Er komponierte den "Koniggratzer Marsch" anlasslich des Sieges PreuBens (im Biindnis mi t Italien) iiber O sterreich im J ahre 1866. Andererseits ha t dieser Nationalspitzname sicher zu tun mit der ausgesprochen norddeutschen Vertei­ lung des Familiennamens Pie/ke. Der in der Schweiz gangige Ausdruck Schwob soll letztlich bis auf den " Schwabenkrieg" der Schweizer gegen die si.iddeut­ schen Sta d te im J ah re 149 9 zuriickgehen, in dem di e Schweizer ihre staatliche Selbstandigkeit erkam pften. In den Eigenschaften, die den Pie/kes bzw. Schwobe zugesprochen werden, kommt ein Gefi.ihl des Bedrohtseins seitens des groBeren Nachbarn zum Aus­ druck. Dies ist typisch fi.ir die Haltung dominierter gegeniiber dominanten na­ tionalen Zentren. Im vorliegenden Fall ist dies auf Grund der Geschichte des 20. J ahrhunderts lei eh t verstandlich. 8 Sprachdidaktischer Ausblick

Es diirfte heutzutage in allen nationalen Vollzentren des Deutschen Usus sein, die Lehrmaterialien in der eigenen nationalen Varietat zu verfassen. Dafi.ir sor­ gen sicher schon die jeweiligen Genehmigungsverfahren der Kultusministerien. Allerdings spielt das Thema der nationalen Varietaten bisher in der Ausbildung von Deutschlehrern nur eine geringe Rolle. Es kommt auch kaum zur Sprache in den Lehrmaterialien fi.ir den muttersprachlichen Oberstufenunterricht.

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Theoretiker des Unterrichts von Deutsch als Fremdsprache sind haufiger als Theoretiker des Muttersprachunterrichts auf die nationalen Varietaten auf­ merksam geworden. Unter den Erforschern der nationalen Varietaten des Deut­ schen ist der Anteil von Hochschullehrern aus nicht-deutschsprachigen Lan­ dern, di e mi t Deutsch als F remdsprache befasst sin d, auffallig hoch. Allerdings darf daraus nicht geschlossen werden, dass die nationalen Va­ rietaten des Deutschen in den Lehrmaterialien fiir Deutsch als F remdsprache regelma�ig beriicksichtigt werden. Die breitere Beriicksichtigung der nationa­ len Variation eignet sich ohnehin nur fiir den Unterricht bei fortgeschrittenen Lernern. Dies mag bisweilen der Grund dafiir sein, warum zwar vielfach darauf hingewiesen wird, dass Deutsch Amtssprache mehrerer Lander ist, womoglich sogar mittels einer O bersichtskarte, warum aber die nationalen Varietaten den­ noch keine Beriicksichtigung finden. Zumeist steht in den Lehrmaterialien das Deutsch Deutschlands im Vor­ dergrund. Dies mag zwar wegen der gro�eren Anzahl von Muttersprachlern oft zweckma�ig sein, jedoch wird eine Begriindung dafiir so gut wie nie geliefert. Daher liegt der Verdacht nahe, dass gar keine bewusste Wahl stattgefunden hat, sondern m an einfach den ausgetretenen Pfaden folgt. Bei F estlegung auf eine einzige der nationalen Varietaten ist das deutsche Deutsch auch keineswegs die allein mogliche rationale Entscheidung. Unabhangig von der numerischen Star­ ke der Muttersprachler kann z.B. aufgrund der Nachbarschaft und traditionel­ ler Kontakte fiir viele Mittel- , Ost- und Siidosteuropaer die Wahl des oster­ reichischen Deutsch durchaus zweckma�iger sein (Muhr 1993 ) . Voll ausgearbeitete Lehrmaterialien, die alle nationalen Varietaten beriick­ sichtigen, stehen meines Wissens noch nicht zur Verfiigung. Ein Sonderfall ist das hauptsachlich auf den Wortschatz bezogene Lehrwerk Memo (Haublein et al. 1995) . Es stellt in sogenannten «Regio-Boxen» die Wortvarianten O sterreichs, der Schweiz un d Deutschlands (in dieser Reihenfolge) gleichberechtigt ne ben­ einander, wobei auch die Wortgrammatik beriicksichtigt ist (vor allem das Ge­ nus der Substantive). Aufgrund der thematischen Konzentration dieses Lehr­ werks sind die nationalen Varianten auf anderen sp rachlichen Ebenen oder grammatischen Rangen als der Lexik nicht beriicksichtigt. Bleibt nur zu hoffen, dass das Bestimmungswort «Regio» bei den betreffenden Boxen nicht im Sinne von eingeschrankter Standardsprachlichkeit missverstanden wird, zumal sogar der Terminus Regionalstandard oft in diesem Sinne gemeint ist. Unmissver­ standlich ware vielleicht die Bezeichnung Liinderboxen. Einen umfassenden O berblick iiber die Beriicksichtigung der nationalen Varietaten in den Lehrma­ terialien fiir Deutsch als Fremdsprache erarbeitet derzeit Sara Hagi, in Zusam­ menarbeit mit Heinrich Keltz (Bonn) und mir. Literatur

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Werner Kallmeyer l Inken Keim

Deutsch-tiirkische Kontaktvarietaten . Am Beispiel der Sprache von deutsch- tiirkischen J ugendlichen

Einleitung

In vielen deutschen GroBstadten wie z.B. Mannheim gibt es Stadtgebiete mit einem Migrantenanteil an der Wohnbevolkerung von ii ber 40°/o , oft ii ber 6o0/o . Diese Gebiete werden wegen der engen Sozialbeziehungen innerhalb der Mi­ grantenpopulation und der geringen AuBenkontakte aus der Innen- und AuBenperspektive vielfach als "Ghetto " bezeichnet. In der sozialen Welt die­ ser Migrantenviertel und auf vielen anderen Schauplatzen des offentlichen Raumes stoBt man beute auf eine Palette von Kontaktvarietaten zwischen den Herkunftssp rachen und der Umgebungssp rache Deutsch. In zunehmendem MaBe werden einige dieser Kontaktvarietaten auch von der deutschen Gesell­ schaft wahrgenommen un d von J ugendlichen mehr oder weniger spielerisch iibernommen. Das Spektrum von deutsch-tiirkischen Kontaktvarietaten umfasst zum ei­ nen mehr oder weniger deutsch beeinflusste Formen der Herkunftsvarietat (in der Regel ein tiirkischer Dialekt) - " Mannheimer Tiirkisch " im Unterschied zum "Tiirkeitiirkisch " . Das " Mannheimer Tiirkisch" konnen die Jugendlichen der 2./3. Generation sehr gut; doch das Tiirkische in der Tiirkei macht allen Schwierigkeiten: Sie fallen auf, weil sie viele Worter nicht verstehen und es ih­ nen schwerfallt, langere Zeit nur Tiirkisch zu sprechen. Weiterhin sind auch bei sehr guten Standarddeutschsprechern tiirkischer Herkunft vor allem auf der phonetischen Ebene mehr oder weniger tiirkisch beeinflusste Formen von Deutsch zu beobachten. Zum anderen existieren folgende markante Kontakt­ sprachen bzw. Kommunikationsmuster: das klassische Gastarbeiterdeutsch, d.h. ein pidginisiertes Deutsch, das " Ghettodeutsch " und das Mixing. Die unter spezifischen Migrationsbedingungen ausgebildeten Kontaktva­ rietaten sind fiir die Erfahrungswelt des Ghettos charakteristisch, z.B. das Gast­ arbeiterdeutsch fiir die erste Migrantengeneration und spezifische Mischungen von Deutsch und Tiirkisch fiir die zweite/dritte Generation. Dami t assoziiert sind jeweils Lebensformen, sprachliche und soziale Orientierungen und soziale Stile der Kommunikation. Diese Varietaten sind im Ghetto prasent und werden von den Migrantenjugendlichen in unterschiedlichen Sozialisationsphasen er­ worben. Sie spielen eine zentrale Rolle bei der soziostilistischen Pragung von Identitat. Die J ugendlichen behalten die in den verschiedenen Lebensphasen er­ fahrenen und erworbenen Sprachen/Varietaten im Repertoire und konnen sie

\'; HY un d IN, die di e spie­ lerische Symbolisierung sofort versteht, lachen, HY arbeitet weiter un d schnei­ det Grimassen in Richtung Mutter. In ihrer Reaktion schliipft HY in die Rolle der tiirkischen Putzfrau und besteht dem deutschen Gast gegeniiber spielerisch auf dieser Rollenverteilung. Dieses Spiel beleuchtet kritisch die soziale Rollen­ verteilung zwischen Deutschen und Tiirkinnen (Tiirkinnen arbeiten als Putz ­ frauen bei Deutschen) und verweist gleichzeitig symbolisch auf das Generatio­ nenverhaltnis: HYs Mutter spricht GAD und arbeitet als Putzfrau. HY distan­ ziert sich von ihr an dieser Stelle und " bestraft" sie durch die Karikatur, weil sie sie in Gegenwart des deutschen Gastes zu Putzarbeiten aufgefordert hat. Interessanterweise ist neuerdings zu beobachten, dass im Kindergarten in multiethnischen Gruppen ohne Anwesenheit von Deutschen die Kinder spon­ tan ein pidginisiertes Deutsch entwickeln, das À hnlichkeiten mit dem klassi­ schen GAD hat. Ein solches pidginisiertes Deutsch verwendet im folgenden Bei­ spiel IS, deren Muttersprache Arabisch ist, gegeniiber IN, der si e ein von ihr ge­ maltes Bild erklart, und HY, mit Muttersprache Tiirkisch, die dazu kommt: �·:

IS : da ente hier eingehen * o5 UR: o6 RO : wir gehen schwimmen l o7GO : zu wir wollen einfach ·k* o8 G O : dass 09 E :

·k

ihr sellber * wie- 1 '': 1(. .. )(. .. ) l /si (selten) : (hast du ne Sigarette/ Pisseria) (markiert) Elisionen (Z. I tele/oniert-at "telefoniert hat " ) . Morphologische und syntaktische Merkmale: spontane Generaveranderung (z.B. isch weifl weil Aku leer is denk isch mal isch hab doch n gutes Kop/) von der Norm abweichende Kongruenz in komplexen Nominalphrasen mit Parallelisierung von Flexionssuffixen, z.B. isch hab o mehrere italienische Spra­ che (statt Sprachen) haufiges Fehlen von Artikeln (Z. I7, I8, 30), insbes. in Routinefloskeln, bei schwankendem Gebrauch Tilgung von Ortsprapositionen, zumeist zusammen mit dem Artikel (Z. 65 Stadt gegangen) Abweichungen vom Standard beim Gebrauch der einzelnen Prapositionen (ey du hast ne Narbe in der Stirn gell) die Verb-Zweitstellung des Deutschen wird in Subjekt-Verb-Objekt trans­ formiert, bes. bei praverbialen Adverbialphrasen (letztes ]ahr isch muflte seine Mutter jeden Morgen horn) Tilgung anaphorischer und suppletiver Pronomen (wenn du Rescht hast is besser; da komm die gleischn Leute} un wenn die s Gleische sehn} is dumm}· also

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CHRISTINE BIERBACH

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GABRIELE BIRKEN -SILVERMAN

tut mir leid dass-isch sagn mu/S) . Laut Auer scheint das regelhafte Auftreten des Phanomens an grammatische Bedingungen gebunden zu sein, wie etwa Ergan­ zung des Verbs gelegentliche Veranderung der Verbvalenzen und Wahl der Praposition (ey ey gibt nicht imma die andren die Schuld; der turkische Vater t'seh schon seit neun Jahre mit der Mutter geschiedn ) hohe Frequenz von Diskursmarkern (Z. 2, 4 wei/S(t) du, Z. 6r, 63 weisch) Frequenz spezifischer Anredeformen, Verstarker und Evaluativa (Z. 31 Langer) 3 · ist der Ethnolekt durch jugendsprachlichen Wortschatz und Xenismen, in erster Linie englischer Herkunft (Z. r6/our moves, Z. 63 gebreakt) , aber auch aus anderen Migrantensprachen wie dem Ti.irkischen markiert. Bsp. 8: Ethnolektale Sprechweise r Gio : 2 4 5 6 [. . .] ro Fl:

isch war dabei wo Carmelo telefoniert-at un d und der eine/ der PfaRRa hat gemeint: "ne isch trau dem nischt" * weillt du, der hat gemeint: " isch trau "/weil die/die streichn, die putzen s nisch ,-: da hat-er gemeint, " okay", un da hab-isch gemeint, " ah setz disch dursch" , wei� du, n da hat-er wie Carmelo, ds is auch so eina wo sisch durchsetz, hat-er halbe Stunde und so so n da ham wir den Saal gelgekriegt

ej ihr habt [. .. ] die GRuppe im Stich gelassn un fertisch, ihr lseid l net trainiern gekomm Iso issesl 12 Gio: [ . . .] 15 Si: des is dann meine Sache ob isch bessa werdn will r6 Gio: four/four moves is dein Problem 17 D: un wie wills du Programm bessa lern r8 Gio : aba wir redn iiba Show weil wenn du was nisch machst, dann leiden wir auch drunta 19 n

( . . .) 30 Gio: 31 32 [. . .] 6o Gio: 6r 62 63 64 s: 65 Gio :

du kennst doch Ding ''< Catchen * die nehmen doch und werfen auf Tisch un d der Tisch geht kaputt? Mein Vater Langer isch hab des/wir war/wir haben in Lindenhof gewohnt ·�< abgestiirzt total escht und der ist halt nimmer gekommen und bla bla und da hats angefangn ,-: weil am Anfang hamma ihn trotzdem angerufen weisch "he Fla, was geht, kommsch du mit " hier und da [ . .. ] ja ja [. .. ] h-hatte er kein Grund mehr zu kommen, so in der Art, weisch, weil wir/fast keiner mehr gebreakt hat aber ihr habt ja net nur gebreakt, ihr wart doch auch so zusammen gehangen ja klar Stadt gegangen

Derartige primare Ethnolekte, die sich unter Jugendlichen der 2. und 3· Migran­ tengeneration herausbilden, finden durch die Medien - in stilisierter Form - als sekundare Ethnolekte Verbreitung, die ihrerseits wiederum auf den Sprachge­ brauch der Rezipienten wirken (tertiare Ethnolekte). Auf diese Weise werden Ethnolekte zu Trendsettern sprachlicher Innovationen.

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SPRACHE ITALIE ISCHER MIGRANTEN

3·3· Language Crossing Eine weitere Sprachvarianzerscheinung resultiert aus der zunehmenden Ver­ breitung von Migrantensprachkenntnissen auBerhalb der Eigengruppe infolge alltaglicher Kontakte im multiethnischen Ambiente deutscher GroBstadte, v. a. zwischen Migrantenjugendlichen und deutschen Peers in der Schule und Frei­ zeit. Komplementar dazu - wie im Falle der ethnolektalen Varietaten - verhalt sich die Vermittlung iiber die audiovisuellen Medien, die einerseits als weitere Quelle dienen (z.B. italienische Popmusik) , andererseits Elemente aus dem All­ tagsdiskurs aufnehmen und weiter verbreiten (vgl. 3 .4) . Fragmentarische oder segar ausgebaute Kompetenzen dienen Nichtmuttersprachlern als kommuni­ kative Ressource, die in Form von Language Crossing, Switchen in eine Mi­ grantensprache, gruppenspezifische Sprechstile markiert (Androutsopoulos 20o2b, 2003) . Diese plurilinguale kommunikative Praxis mit Ù berschreitung ethnischer Grenzen kann durch verschiedene Faktoren erklart werden: r. das Pres-tige bestimmter Migranten- oder Herkunftskulturen und " ethnietypi­ scher" Lebensstile, 2. Ausdruck einer spezifischen Jugendszene oder 3· Sym­ bolisierung der Werte einer urbanen Jugendsubkultur (Macho-Habitus und Street Power) im Kontrast zur mainstream society. Language Crossing kann da­ her als A sthetisierungsphanomen fungieren und dariiber hinaus als Instrument der Identitatskonstruktion, der ethnischen und soziokulturellen Positionie­ rung. Eine erste Studi e der unter J ugendlichen in einem multiethnis chen Mannheimer Stadtteil verbreiteten Italianismen (Birken-Silverman 2004) be­ legt den Erwerb einzelner Lexeme und Redewendungen in ganz spezifischen Wortschatzbereichen: neben BegriiBungsfloskeln und Routineformeln vor al­ lem Liebessprache (vgl. Bsp. 9) - Ausdruck ethnischer Stereotypisierung - und Maledicta (insgesamt 196 bei 19 Nichtmuttersprachlern). Eine bisher weitge­ hend unerforschte reichhaltige Quelle fiir Language Crossing vom Deutschen in eine Migrantensprache konstituiert der Bereich schriftlicher Miindlichkeit in der Internetkommunikation. Stellvertretend fiir derartige Tendenzen in der gegenwartigen deutschen J ugendsp rache seien einige Ausziige aus den Gaste­ biichern auf den deutschsp rachigen Nickpages der ethnisch gemischten SMS Community uboot angefiihrt: Bsp . 9: Deutsch-italienisches Language Crossing PolskaPlaya an Elisa17Bellaltaliar in Stuttgart: sexysexy wie du da mit den zahenen leicht deine lipee anknabberst o) naja wi.irde mich freuen mit soner bella seniorita ein bissle zu texten =) Forza Elisa =) + grins>i< BellaNasasin aus Miinster: Buongiorno o Buonasera, mi chiamo Nasasin, sono una per­ sia, haha jaja italiano, ok zu viel gelabbert , schreibt mir was dolces ! allora ciao Kaera an Elisabetha8 in Niederbayern: ciao bella bionda, hoffe alles klar [ . ] ganz liebe griiBe 1.ooo bacis kerstin .

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CHRISTINE BIERBACH

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GABRIELE BIRKEN -SILVERMAN

3 ·4· Lexikalische Innovationen im Gegenwartsdeutschen

Neben der Entstehung neuer Varietaten des Deutschen, die moglicherweise die "Avantgarde " eines Sprachwandels "von unten" bilden, weist das Gegenwarts­ deutsch als weitere Sprachwandelerscheinung die Rezeption zahlreicher Italia­ nismen im Wortschatz der letzten 50 Jahre auf, deren Vermittlung zu einem be­ trachtlichen Teil auf die Ausstrahlung italienischer Kultureinfliisse durch italieni­ sche Migranten insbesondere in den GroBstadten und auf die "Ethnisierung der Okonomie" mit Entstehung einer von der Mehrheitsgesellschaft genutzten eth­ nischen Nischenokonomie zuriickgeht (Heckmann 1998) . Die Ausstrahlung sol­ cher kulturspezifischer Einfliisse auBert sich als Adlexifizierung im Wortschatz, die bisher lediglich im Rahmen thematisch iibergreifender Arbeiten knapp be­ handelt worden ist (Gliick l Sauer 1997: 95; Schmoe 1998: 76). Sie beschranken sich auf spezifische Wortschatzbereiche, vor allem den Bereich der Esskultur, und auf bestimmte Textsorten wie die Werbung. Seit den 7oer Jahren hat der Auf­ schwung der italienischen Gastronomie in Deutschland, haufig in Form von Fa­ milienbetrieben, in augenfalliger Weise das Bild der Stadte verandert: An die Stel­ le der Gaststatten, die einst Zum Adler oder Deutscher Ho/hieBen, ist ein Risto­ rante, eine Pizzeria, eine Taverna oder eine Spaghetteria getreten. Speisekarten und Supermarkte bieten eine Fiille von Italianismen, die auf diese Weise in den kulinarischen Wortschatz des Deutschen eingegangen sind: Pasta asciutta, Tortel­ lini, Stracciatella, Espresso, Cappuccino, Latte macchiato, Grissini, Tiramisù, Moz­ zarella, Zucchini. Im Rahmen kommerzieller Interaktion rekurrieren explizit auf die Sprachkontaktsituation Werbespots mit Migranten, die in klarem Bezug zum umworbenen Produkt stehen, wie die fiir die " Gelben Seiten" werbenden italie­ nischen und deutschen Babies ('' ciao bella" ) oder der Cappuccino-Nescafé-Wer­ bedialog mit Angelo und der deutschen " Signorina" . AbschlieBend moge ein Bei­ spie! die Verkniipfung von stilisiertem Gastarbeiterdeutsch und Italienisch in der deutschen Fernsehwerbung fiir das Produkt Miiller Crema di Yoghurt aufzeigen: Miiller Crema (off-voice) hallo Giovanni Claudio ! sì sì isse Miiller Crema cremoso cremissirna, isse cremig isse Wahnsinn Jetz neu von Miiller Yoghurt, Amarettini. Amarettini - alles Miiller oder was ? 4

Schluss

Obwohl diese Ausschnitte aus der Wirklichkeit des Gegenwartsdeutschen kei­ nen abgeschlossenen Sprachwandel darstellen, zeigt sich hier ein enormes Po­ tential an moglichen Innovationen phonetischer, grammatischer und lexikali­ scher Art, di e von einem spezifischen Milieu, der Lebenswelt italienischer Mi­ granten in den deutschen Metropolen, ihren Ausgang nehmen und zu deren Verbreitung in der Mehrheitsgesellschaft die Medien mit stilisierten Formen in besonderer Weise beitragen. Gleichzeitig liegt hier ein spannungsreiches Beob­ achtungsfeld fiir Entstehung und Ausbreitung sprachlicher Neuerungen vor.

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Anmerkungen I. Die aktualisierten Zahlen fiir 2002 (Fondazione Migrantes l Caritas) weisen eine weitere Be­ volkerungszunahme aus: insgesamt 689 .799 Personen, 44,2% aus den festHindischen Regionen Siid­ italiens (darunter II 5 . 88 5 aus Apulien und 84.766 aus Kampanien), 36,6% von den lnseln Sizilien (223.000) und Sardinien (36.039). 2 . z.B. liegt in Mannheim der Anteil der Italiener mit unbefristeter Aufenthaltsgenehmigung bei 50% . 3· Bei dieser Gruppe ist zu differenzieren zwischen sozialen Aufsteigern unter den Arbeitsmi­ granten, der bereits seit Anfang der 5oer Jahre existierenden Sommermigration der Betreiber von Eiscafés nordostitalienischer Provenienz und der spateren Zuwanderung von Gastronomen im Rah­ men der Entwicklung einer ethnischen Nischenokonomie.

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CHRISTINE BIERBACH

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don.

Ulrich Busse

Anglizismen in Deutschland: historische Entwicklung, Klassifizierung, Funktion( en) und Einstellungen der Sprachteilhaber

I

Historischer Uberblick iiber den englisch-deutschen Sprachkontakt

Die Geschichte des angloamerikanischen Einflusses auf die deutsche Sprache reicht weit in die Vergangenheit zuriick. Schon seit dem friihen Mittelalter fin­ den sich Worter englischer Herkunft im Deutschen, doch sind die alteren Ent­ lehnungen im Vergleich zu den heutigen Verhaltnissen nicht sehr zahlreich und in Schreibung un d Aussprache haufig so weit in das Deutsche integriert, wie z.B. /esch Keks, Rum und Schal, dass sie dem durchschnittlichen Sprachverwender kaum noch fremd erscheinen (vgl. auch Busse l Gorlach 2002: 13 f. ) . r . Wahrend des Mittelalters ist der Einfluss gering. In der Kirchensprache fin­ det sich z.B. durch die angelsachsische Mission die Lehniibersetzung heilago geist (heiliger Geist), die auf altenglisch se halga gast zuriickgeht. Aus dem Spatmittel­ alter sind Fachausdriicke der Seefahrt, wie z.B. Boot, Lotse und Dock, belegt. 2. Ab Mitte des 17. Jhs . , insbesondere nach der Hinrichtung Karls I. (r648) , steht England plotzlich im Mittelpunkt des Interesses. Ausdriicke aus der Poli­ tik wie Unterhaus, Oberhaus, Hochverrat und Bill belegen dies. Letzteres wurde r 8or von Campe als Gesetzentwur/ verdeutscht. Die Shakespeare-Rezeption in Deutschland fiihrt ebenfalls zu zahlreichen Entlehnungen: Heif!,sporn; Es ist et­ was /aul im Staate Dà'nemark; Sein oder Nichtsein; Gut gebrullt, Lowe; Der Wi­ derspenstigen Zà'h mung etc. 3· Im r8. Jh. gibt es enge Kontakte zwischen England un d Deutschland auf geis­ tig-kulturellem Gebiet. Durch Reiseberichte, wie z.B. von Fiirst Piickler, wird England auf dem Kontinent popular. Seit r8r4 sin d die beiden L an der durch die Thronfolge des Hauses Hannover auch politisch enger miteinander verflochten. 4· Im 19. Jh. steht durch die industrielle Revolution der materielle Bereich ein­ deutig im Vordergrund. Viele Wortentlehnungen sind zugleich Sachentlehnun­ gen und dokumentieren Englands fiihrende Rolle auf wirtschaftlichem Gebiet: Damp/maschine, Lokomotive, Streik etc. Zugleich werden Anglizismen im spa­ ten 19. Jh. auch im gesellschaftlichen Leben modern. Besonders deutlich wird dies im Wortschatz von «Mode»-Sportarten wie Fu.Bball, Golf, Pferdesport und Tennis (vgl. Dunger 1909 ) . 5 · I m 20. J h . lassen sich vier verschiedene Perioden der sprachlichen Beein­ flussung durch das Englische unterscheiden, namlich:

LRICH B SSE a ) Bis zum Ersten Weltkrieg steigt die Zahl der Anglizismen weiter. Direkt nach dem Krieg kommt es zu einem zahlenmaBigen Riickgang. b) Wahrend der Zwischenkriegsjahre setzt der Zustrom wieder ein. Erst­ mals sind die Amerikanismen zahlreicher als die Britizismen. c) Nach 1945 ist zumindest fiir Westdeutschland ein ungehemmter und ste­ tig steigender Zustrom von Anglizismen zu verzeichnen. d) Sei t den 9oer J ahren ha t sich diese Beeinflussung noch einmal intensi­ viert. Dies liegt vor allem an der Globalisierung der Wirtschaft und den Mog­ lichkeiten der modernen Kommunikation. Massenmedien wie Satellitenfernse­ hen mit Werbung und Videoclips sowie das Internet tragen deutlich zur Ver­ breitung von Anglizismen bei. Von dieser Entwicklung sind allerdings langst nicht alle Bereiche der deutschen Sprache gleichermaBen erfasst, denn der eng­ lische Einfluss zeigt sich insbesondere in einigen Fachsprachen, der Werbe­ sprache sowie in der Jugendsprache. 2

Herkunft der Anglizismen

Beziiglich der Herkunft der Anglizismen kommen verschiedene F orscher iiber­ einstimmend zu dem Ergebnis, dass der Einfluss des britischen Englisch [BrE] seit dem Ersten Weltkrieg bestandig zugunsten des amerikanischen Englisch [AmE] zuriickgeht. Fiir die Zeit nach 1945 diirfte demnach der deuts che Kon­ takt mit dem Englischen in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Kontak­ tes mit dem AmE zu betrachten sein, zumal auch innerhalb der englischen Spra­ che das AmE als die dominierende Kraft zu sehen ist, die auf andere Varietaten, insbesondere das BrE, durch die Medien einwirkt. Fiir den groBen Einfluss des AmE auf die deutsche Sprache der Gegenwart sprechen zahlreiche Griinde, die mit der politisch-militarischen, wirtschaftli­ chen und kulturellen Westintegration der Bundesrepublik Deutschland einher­ gegangen sind (Zur Entwicklung in der DDR vgl. ABSCHl'\J. 3 ) . Methodisch ist e s jedoch schwierig, zwischen W ortern amerikanischer u nd englischer Herkunft zu unterscheiden, denn von Sonderfallen wie AmE cen­ ter!BrE centre (Dt Center) abgesehen, weisen sie die gleiche Schreibung auf. AuBerdem ist haufig nicht zu ermitteln, oh ein Wort direkt aus dem AmE oder iiber Vermittlung des BrE ins Deutsche gelangt ist. Im Folgenden wird Anglizismus deshalb als Oberbegriff fiir alle sprachli­ chen Beeinflussungen aus dem angloamerikanischen Sprachraum aufgefasst, egal, oh sie aus GroBbritannien, den USA, Kanada usw. stammen. 3

Regionale Verbreitung der Anglizismen

Die Tatsache, dass Deutschland erst 1871 eine staatliche Einheit fand, zwischen 1949 und 1990 mit der alten Bundesrepublik und der DDR zwei Staaten bestan­ den und Deutsch dariiber hinaus in Ò sterreich und in Teilen der Schweiz, Liechtensteins, Luxemburgs und Belgiens gesprochen wird, hat dazu gefiihrt,

ANGLIZISMEN I DE TSCHLA D

dass sich die Anglizismen nicht gleichformig im deutschen Sprachgebiet verteilt ha ben. Der das gesamte deutsche Sprachgebiet umfassende Wortatlas der deutschen Umgangssprachen ( 1 978, 2ooo) von Jiirgen Eichhoff erfasst leider nur die fol­ genden Anglizismen: Blue Jeans, Broiler, Grapefruit, Mumps, Plastik, Schlips, Tram(way) und Tunnel, so dass die Aussagekraft nur begrenzt ist (vgl. auch Vier­ eck l Viereck l Ramisch 2002: 254-8). Aufgrund der anders gearteten gesellschaftspolitischen Verhaltnisse in der DDR war dort der Zustrom angloamerikanischen Wortgutes nicht so groB wie im Westen, aber Lehnert (1990) hat gezeigt, dass mehr Angloamerikanisches in Um­ lauf war, als offiziell zugegeben wurde. Eine kleine Gruppe von Anglizismen, wie z.B. Broiler und Plast(e) , ist heu­ te noch weitgehend auf Ostdeutschland beschrankt und teils im Gebrauch riick­ laufig. Wahrend nach Angabe der Berliner Sprachwissenschaftlerin Ruth Reiher «1993 fiir 67 Prozent der Befragten in Ostberlin das Wort Broiler noch eine gan­ gige Bezeichnung fiir ein Brathiihnchen [war] , so war die Zahl fiinf J ahre spater auf 45 Prozent gesunken» (Gopel 2ooo: 36 f.) . 4

Typen von Anglizismen

In der historischen O bersicht ist deutlich geworden, dass es ganz unterschiedli­ che Arten von Anglizismen gibt. Im Folgenden sollen deshalb zwei verschiede­ ne Kategorisierungen vorgestellt werden, die in neuerer Zeit in Anglizismen­ worterbiichern verwendet worden sind. 4.1. Das Anglizismen-Worterbuch Das Anglizismen-Worterbuch (Awb) teilt die Anglizismen nach ihrer auBeren Form ein un d unterscheidet da bei, ob die Inhalts- un d! oder Ausdrucksseite des englischen Sprachzeichens entlehnt worden ist. Beim auBeren Lehngut, den so genannten evidenten Einfliissen, werden Wortform und Wortbedeutung iibernommen. Im Falle des inneren Lehnguts, der so genannten latenten Einfliisse, wird lediglich die Bedeutung iibernommen und mit eigenen sprachlichen Mitteln wiedergegeben. Zwischen den Moglich­ keiten der Obernahme eines fremden Ausdrucks und seiner Ersetzung durch heimisches Sprachmaterial steht bei mehrgliedrigen Wortern die Moglichkeit der Teilersetzung. 4. 1 . 1 .

A u/Seres Lehngut: (direkte) Ubernahmen

In den meisten Fallen werden Anglizismen direkt entlehnt. Dies trifft nicht nur fiir Simplizia wie Job und Trend, Komposita wie Babysitter und Paperback, son­ dern auch fiir Phraseologismen wie Big Brother is watching you, last (but) not least und unterhalb der Wortebene auf produktive Wortbildungselemente, wie z.B. mini- und super- , zu.

LRICH B SSE

Anglizismen wie Bumerang, Bungalow, Kiin g uru, Ketchup, Squaw und Wig­ wam wurden, bevor sie ins Deutsche und andere Sprachen gelangten, aus an­ deren Sprachen ins Englische ubernommen. Sie bezeugen den sprachlichen un d kulturellen Kontakt des Englischen mit fremden Sprachen im Zuge der Bildung des englischen Kolonialreiches. Daruber hinaus gibt es auch Falle, in denen das Englische nicht die unmit­ telbar abgebende Sprache war, sondern die Anglizismen einen Umweg uber ei­ ne weitere Sprache, insbesondere das Franzosische, gemacht haben, was sich in ihrer " franzosischen " Aussprache niederschlagt, wie beispielsweise Budget, Jury, Redingote und Waggon deutlich machen (vgl. auch Viereck l Viereck l Ramisch 2002: 250-3). 4.1.2. Inneres Lehngut: Ersetzungen Hier handelt es sich in vielen Fallen um latente Anglizismen, weil das englische Sprachzeichen nicht mehr als solches erkennbar ist, sondern mit deutschem Sprachmaterial nachgebildet wird. Infrage kommen hier Worter, insbesondere Komposita, wie z.B. Erste Dame (nach engl. First Lady), Flutlicht (nach engl. flood­ light), Urknall (nach engl. big bang) , Wolkenkratzer (nach engl. skyscraper), mehr­ gliedrige Wendungen wie stehende Ovationen (nach engl. standing ovations), in ei­ nem Boot sitzen (nach engl. to be in the same boat) oder Wortbildungselemente wie -sicher (nach engl. -proo/) sowie neue Wortbedeutungen, z.B. bei/euern "entlassen" (nach engl. to /ire) oder realisieren "erkennen, begreifen" (nach engl. to realize). 4.1.3. Teilersetzung: Hybrid- bzw. Mischbildungen Diese Kategorie umfasst Komposita und Prafixbildungen, die etymologisch be­ trachtet aus einem englischen und einem deutschen Bestandteil bestehen, wie. z.B. Campingplatz (engl. camping site oder -ground) , Heimcomputer (engl. home computer) , Hitliste (engl. hitlist) , Hobbygiirtner (engl. hobby gardener) , Live-Sen­ dung (engl. live broadcast) , Nonstopflug (engl. non-stop flight) sowie Partikelver­ ben wie ab-, aus-, durch- und einchecken. De facto lassen sich auch hier wenigstens zwei Untergruppen aufstellen, wenn man namlich der Frage nachgeht, ob die Verbindung als Ganzes ein eng­ lisches Vorbild wiedergibt, also entlehnt worden ist, wie z.B. Computerspiel (nach engl. computergame), oder ob es im Zuge der Integration eines zuvor ent­ lehnten Simplex wie im Falle von Manager und der im Deutschen gebildeten Zu­ sammensetzung Managerkrankheit um Lehnwortbildungen handelt, die die Produktivitat des Sprachzeichens im Deutschen dokumentieren und kein eng­ lisches Vorbild wiedergeben. 4.!.4. ((Scheinentlehnungen'' bzw. Pseudo-Anglizismen Bei den Pseudo-Anglizismen handelt es si eh nicht um Entlehnungen, sondern um mit englischen Wortbildungsmitteln im Deutschen gebildete Wortschop­ fungen, die im Englischen, aus dem sie scheinbar entlehnt sind, nicht vorkom­ men. Typische Beispiele fur diese Kategorie sind Dressman, das im Englischen

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als male model bezeichnet wird, Twen und das in aller Munde befindliche Han­ dy, das im BrE als mobile phone und im AmE als cellular phone bezeichnet wird. Die Analogie zu bereits vorher aus dem Englischen entlehnten Lexikoneinhei­ ten scheint bei solchen im Deutschen gebildeten Wortern auch eine Rolle zu spielen, wie die Beispiele dt. Showmaster (nach dt. Quizmaster), dt. Pullunder (nach dt. Pullover) und dt. Triset (nach dt. Twinset) belegen. 4· r. 5 .

Internationalismen-Eurolatein

Internationalismen wie Administration, global, Telegramm, urban, Utopie und Votum) d.h. Worter sowie Wortbildungselemente wie mini-, super-, ultra-, die mit (grako-)lateinischen Elementen gebildet worden sin d un d die im Deutschen und im Englischen sowie in vielen anderen Sprachen verbreitet, aber formai we­ der durch ihre Schreibung noch ihre Aussprache als englisch gekennzeichnet sind, werden im AWb als Anglizismen behandelt, wenn die begriindete Vermu­ tung besteht, dass es zu einer Wiederbelebung alteren Gebrauchs oder zu einer Frequenzsteigerung unter englischem Einfluss gekommen ist. 5

Anglizismen und ihr Gebrauch: Das Dictionary ofEuropean Anglicisms

Im Unterschied zum AWb un d seiner formalen Kategorisierung der Anglizismen nach dem unterschiedlichen Grad der Wiedergabe des englischen Vorbildes stellt das Dictionary o/ European Anglicisms (DEA) die Sprachverwendung der Angli­ zismen in den Vordergrund und macht Angaben zu ihrer Frequenz, Akzeptabi­ litat sowie zur dialektalen, sozialen und stilistischen Verteilung. Die Anglizismen werden dabei auf einer Skala von o bis 5 angeordnet (vgl. DEA 2001: XXIV f. ). -: Das betreffende Wort ist in der jeweiligen Sprache unbekannt. Diese Kate­ gorie ist jedoch fiir den europaischen Vergleich interessant, so fehlt z.B. dt. Gul­ ly als alterer Anglizismus in fast allen untersuchten europaischen Sp rachen , ebenso wie das jiingere Cleverness. o: Das betreffende Wort ist in erster Linie nur zweisprachigen Sprechern be­ kannt und wird als englisch empfunden, wie z.B. Weekend. 0: Das betreffende Wort ist bekannt, wird aber nur mit Bezug auf fremde Sachverhalte verwendet. Es handelt sich also um Falle, die sonst haufig als Be­ zeichnungsexotismen oder im synchronen Sinne als «fremde Worter» bezeich­ net werden. Heller definiert die Bezeichnungsexotismen als «Worter, die Ge­ genstande, Einrichtungen, Personen oder Vorgange bezeichnen, die innerhalb der deutschen Sprachgrenzen nicht vorkommen und deshalb die Bezeichnung beibehalten, die sie dort tragen, wo sie existieren» (1966: 47) . Beispiele sind et­ wa Acre, Barrister, College, County, Earl, Lord etc. Worter der Kategorien o und 0 sind eigentlich nicht als fester Bestandteil des deutschen Sprachsystems zu betrachten, aber die Frage, ab wann ein Wort mehr oder weniger fester Bestandteil des Sprachsystems ist, kann ohne verlassli­ che Korpora, auf die sich das DEA nicht stiitzen kann, kaum beantwortet werden.

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1. Anglizismen dieser Kategorie sin d durch verschiedene Beschrankungen ih­ res Gebrauches gekennzeichnet, und zwar im Hinblick auf ihr Alter, ihre Zu­ gehorigkeit zu bestimmten Fach- oder Gruppensprachen, ihre Stilebene, Fre­ quenz etc. Die Art der Verwendungsbeschrankungen wird durch pragmatische Markierungen angezeigt: Ballyhoo (journalistisch), Event Q" ugendsprache, jour­ nalistisch), Kids (Slang, modern). 2. Das betreffende Wort ist von der Sprachgemeinschaft voli akzeptiert und kommt in vielen Stilebenen vor, ist aber aufgrund seiner Schreibung, Aussprache oder Morphologie als englischen Ursprungs erkennbar, z.B. Jeans oder Thriller. 3· Das betreffende Wort ist ausdrucksseitig im synchronen Sinne nicht mehr als fremd erkennbar. Seine englische Herkunft lasst sich nur etymologisch er­ mitteln, wie bei Boot, Pudding, Rum und Sport. 4· Das betreffende Wort ist in seiner Form mit einem indigenen Wort iden­ tisch, so dass lediglich die englische Bedeutung entlehnt wurde ( Lehnbedeu­ tung) , z.B. Maus (als Computerzubehor) . 5· Anders als das AWb behandelt das DEA Internationalismen, die mit griechi­ schem oder neolateinischen Wortmaterial gebildet sind, nur wenn sie nicht in wenigstens einer der behandelten Sprachen formai als englischen U rsprungs er­ kennbar sind. Auf diese Weise werden z.B. Fotografie oder Grammophon aus ­ geschlossen, obwohl sie in GroBbritannien bzw. in den USA entstanden und von dort aus in die anderen Sprachen gelangt sind. =

6 Zahl der Anglizismen im Deutschen

Kinderling (r795) verzeichnet zwolf Anglizismen, namlich: Bill, Bombast, Dogge, Frack, Guinee, ]ury, Lord, Mops, Park, Pudding, Quiiker und Spleen. Dunger (r882) kommt auf 148 Anglizismen, davon sind 28 nicht langer im Deutschen ge­ brauchlich, elf h eu te eher selten, elf Exotismen un d 14 werden nicht als Englisch empfunden. Dunger (1909) fiihrt ca. 900 Anglizismen auf. Seit dieser Zeit sind zahliose Anglizismen hinzugekommen, und es mehren sich Stimmen, die ihre Zahl fiir zu groB erachten. Um die zahlreichen Klagen iiber den als zu groB empfundenen Einfluss des Englischen (vgl. ABSCHN. 8) richtig einschatzen zu konnen und um die diesbe­ ziigliche Diskussion zu versachlichen, erscheint es angebracht, Angaben iiber die Zahl der im Deutschen verwendeten Anglizismen zu machen, um das Aus ­ maB der sprachlichen Anglisierung Deutschlands besser einschatzen zu konnen. Es ist alierdings schwierig, ihre genaue Zahl zu ermitteln, hangt sie doch maBgeblich von der gewahlten Datenbasis und der Definition dessen ab , was als Anglizismus gelten soli. Ferner muss dringend zwischen der Aligemeinsprache und Fach- und Sondersprachen unterschieden werden. Bei den einzelnen Sprachverwendern sind auch soziolinguistische Variablen wie Alter, Englisch­ kenntnisse, Herkunft usw. zu beriicksichtigen. Als Anhaltspunkte fiir die zahlenmaBige Entwicklung der Anglizismen in Vergangenheit und Gegenwart, vor allem im Vergleich zum Einfluss anderer Sprachen, sind das chronologische und das Herkunftsregister Register (Bd. VII) des Deutschen Fremdworterbuchs (DtFwb) eine groBe Hilfe. Die wesentlichen Er-

ANGLIZISMEN I DE TSCHLA D

gebnisse der von Alan Kirkness und Rachel Caughey durchgefiihrten Auszah­ lungen finden sich in Peter von Polenz ' Deutsche Sprachgeschichte (19 94-2ooo, Bd. I: 209-12; Bd. II: 77-8o; Bd. III: 391-5) : Im 17. Jh. liegt der englische Einfluss wie in der Epoche davor unter 1% der im DtFWb belegten Worter und steigt erst um die Mitte des 18. Jhs. auf etwa 6-1oo/o an (vgl. Polenz 1994-2ooo, Bd. Il: 79) . Die mit engl. bezeichneten Entlehnungen steigen , das ohnehin als Einzelgra­ phem nur in Fremdwortern vorkommt, in folgenden fremdwortlichen Phono­ graphemen auf: , z.B. Clou: , z.B. City; , z.B. cembalo

Insgesamt konnen wir in der gegenwartigen deutschen Rechtschreibung nach den Ermittlungen von K. Heller etwa 200 spezifisch fremdwortliche Phonogra­ pheme feststellen (vgl. Nerius 2ooob: 125 ) , denen 78 Phonographeme im heimi­ schen Wortschatz gegeniiberstehen (vgl. Heller 1980: 101 ) . Bei den Phonographemen i n heimischen Wortern muss man wiederum unterscheiden zwischen solchen, die grundlegend und am haufigsten auftre­ tende Beziehungen zwischen Phonemen und Graphemen betreffen, und sol­ chen, die besondere, weniger haufig auftretende Beziehungen zum Ausdruck bringen. So ist etwa die Wiedergabe cles Phonems /i:/ durch das Graphem in heimischen Wortern die grundlegende Beziehung (Liebe, Dieb, viel, fliegen) , wahrend die relativ seltene Wiedergabe durch , wie in wit; Ige� Bi­ ber, eine besondere Beziehung darstellt , die dagegen in Fremdwortern sehr haufig vorkommt (Diva, Krise, Venti!, Lokomotive) . A hnlich verhalt es sich bei dem Phonem /a:/, das zumeist durch das Graphem reprasentiert (Abend, Tag, graben) , in besonderen Fallen aber auch durch die Grapheme (ah­ nen , lahm) oder (Saal, Staat) wiedergegeben wird. Wir begniigen uns mit diesen Andeutungen, denn es ist hier nicht der Raum, das gesamte Inventar der im Deutschen vorkommenden Phonographeme im Einzelnen darzustel­ len. Das ist zu entnehmen aus der amtlichen deutschen Rechtschreibregelung (Deutsche Rechtschreibung 1996. Regeln und Worterverzeichnis: 19 ff. ) oder aus Nerius (2ooob: 109 ff. ) .

DIETER NERIUS 3 . 2. Auswirkungen des morphematischen Prinzips

Die Realisierung der Hauptaufgabe der Schreibung, namlich die graphische Fi­ xierung der Bedeutung, erfolgt zwar bei Morphemen und Wortern iiber die ge­ rade erlauterte Beziehung von Phonemen und Graphemen, doch gibt es in der Schreibung des Deutschen wie auch anderer Sp rachen gleichen Schrifttyps durchaus auch einen direkten Bezug der Schreibung auf die Morphem- und Wortbedeutung. Dieser als morphematisches Prinzip bezeichnete Bezug zeigt sich in der graphischen Identitat oder Àhnlichkeit von Morphemen, und zwar auch in Fallen bestimmter Veranderungen der lautlichen Morphemformen, z.B. Kà'lte (wegen kalt) , aber nicht Kelte, obwohl das aus der Sicht des phonemati­ schen Prinzips geboten ware. Die graphische Identitat der Morpheme als Wort­ stamme, Prafixe, Suffixe oder grammatische Morpheme tragt dazu bei, die Mor­ pheme beim Lesen rasch zu identifizieren und dient damit der Erfassungsfunk­ tion. Das morphematische Prinzip zeigt sich in der deutschen Orthographie in einer ganzen Reihe von Erscheinungen und ist auch durch die 1996 beschlosse­ ne Orthographiereform nochmals gestarkt worden. Beispiele dafiir sind: a) Die Umlauts chreibung: Die Grapheme , , und werden auf­ grund ihrer À hnlichkeit zu den Graphemen , und im Interesse des morphematischen Prinzips genutzt. Sie verdeutlichen die Zusammengehorig­ keit paradigmatischer Formen bzw. den Bezug auf ein gemeinsames Grund­ morphem trotz unterschiedlicher Lautung z.B. bei Fall, Fà'lle, /à'llen, ge/à'llig; Not, Note, notig; Kunst, Kunstler, kunstlich . Durch die Neuregelung der Recht­ schreibung von 1996 wird die Geltung des morphematischen Prinzips auch auf Falle ausgeweitet wie Hand, behà'n de; Uberschwang, uberschwà'nglich; Stange, Stà'ngel; Gams, Gà'mse. Die Umlautgrapheme sind allerdings nicht immer Funk­ tionstrager des morphematischen Prinzips, sie konnen auch als normale Pho­ nographeme ohne Bezug auf eine nicht umgelautete Form auftreten, z.B. Bà'r, Là'rm, Schà'del; Holle, schon, horen; Kuste, Hu/te, bluhen. b) Die Nichtberiicksichtigung der so genannten Auslautverhartung in der Schreibung: Im Deutschen ergeben sich aus der silbischen Struktur der Worter mitunter bestimmte lautliche Veranderungen. So konnen am Silbenende und vor stimmlosen Segmenten keine stimmhaften Obstruenten stehen. Sie verlieren in diesen Positionen ihre Stimmhaftigkeit, was man traditionell als Auslausver­ hartung bezeichnet. In der Orthographie wird diese lautliche (allerdings nicht phonologische) Veranderung ignoriert und das auf den stimmhaften Obstruen­ ten bezogene Graphem beibehalten, sodass das entsprechende Morphem bzw. Wort immer in der gleichen graphischen Form erscheint. leben [le:ban] , lebt [le:pt] Kinder [kind ar] , Kind [kint] sagen [za:gan] , sagt [za:kt]

c) Die ss-Schreibung: Durch die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung wird das morphematische Prinzip in diesem Bereich deutlich ausgeweitet. Das

RECHTSCHREIBUNG ND RECHTSCHREIBREFORM

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bisher fiir lsi nach Kurzvokal stehende wird n a eh der N euregelung durch ersetzt, was der besonderen Kennzeichnung des Kurzvokals durch Ver­ doppelung des folgenden Konsonantenbuchstabens entspricht. Dadurch ver­ schwindet bei einer ganzen Reihe von Wortern der bisher im Paradigma auftre­ tende Wechsel von und und die graphische Gestalt des entsprechen­ den Morphems bleibt unverandert, z.B. Fass - Fiisser, mussen - er muss - er mus­ ste, passen - passte - gepasst, Wasser - wiissrig. Da das als Graphem fiir /si nach Langvokal und Diphthong aber erhalten bleibt, verschwindet dieser Wechsel alierdings nicht voliig (z.B. gie/Sen - goss, wissen - wei/S - gewusst) . d) Die graphische Differenzierung gleichlautender Stamme: In manchen Fal­ len wird die Polyrelationalitat der Phonem-Graphem-Beziehungen fiir die gra­ phische Differenzierung gleichlautender Stamme ausgenutzt, die nach dem phonematischen Prinzip eigentlich gleich geschrieben werden miissten. Durch solche Differenzierungsschreibungen wird die unmittelbare Zuordnung von graphischer Form und Bedeutung unterstrichen und damit die rasche Mor­ phem- bzw. Wortidentifizierung unterstiitzt, z.B. lehren - leeren, Seite - Saz"te, Wahl - Wal, mahlen - malen, Stiel - Stil, Lied - Lid, Miene - Mine, Lerche - Liir­ che, wieder - wider. Diese Differenzierung ist im Deutschen alierdings nicht sy­ stematisch durchgefiihrt; in den meisten Falien werden homophone Worter gra­ phisch nicht unterschieden, zumal auch der Kontext eine Verwechslung weit­ gehend ausschlie.Bt z.B. Absatz - Absatz, Bremse - Bremse, Kie/er - Kie/er, Wei­ de - Weide. e) Der Erhalt der Stammschreibung bei Zusammensetzungen und Ableitun­ gen: Auch in diesem Fali starkt die N euregelung der deutschen Orthographie das morphematische Prinzip, indem beim Zusammentreffen von drei gleichen Konsonantenbuchstaben in Zusammensetzungen und Ableitungen im Interes­ se einer unveranderten Stammschreibung immer alle drei erhalten bleiben sol­ len, nicht nur, wie bisher, wenn noch ein vierter Konsonantenbuchstabe folgt (Balletttruppe) , sondern auch, wenn den drei Konsonantenbuchstaben ein Vo­ kalbuchstabe folgt (Balletttiinzer, Sto/1/etzen, Schritttempo) . Ebenso soli auch ein dem Suffix -heit voraufgehendes h der Stammschreibung in Wortern wie Roh­ heit und Ziihheit kiinftig nicht mehr getilgt werden. 3·3·

Die Getrennt- und Zusammenschreibung

Die Gliederung geschriebener Àu.Berungen in graphische Wortformen als Gra­ phemfolgen zwischen zwei Spatien dient der raschen Erfassung der Wortbedeu­ tung und ist ein spezielles Verfahren der Schreibung im Dienste der Erfassungs­ funktion. Da durch dieses Verfahren das Wort graphisch markiert wird, ist die Getrennt- und Zusammenschreibung Ausdruck des lexikalischen Prinzips der Orthographie. Ihre Hauptfunktion besteht darin, den Lesenden dariiber zu in­ formieren, ob nebeneinander stehende, gedanklich zusammengehorende Worter als syntaktisch selbstandige und semantisch eigenwertige Glieder einer Wort­ gruppe ( Getrenntschreibung) oder als Bestandteile eines zusammengesetzten Wortes ( Zusammenschreibung) aufzufassen sind. Dies aber fiir die verschie­ denen Wortarten und die mannigfachen Kombinationsmoglichkeiten von Wor=

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tern in generelle Regeln zu fassen erwies sich als recht schwierig und so sparte man bei der Festlegung der deutschen Einheitsorthographie 1901 dieses Gebiet einfach aus . Auf Dauer ging das aber natiirlich nicht; vor allem die orthographi­ schen Worterbiicher waren gezwungen, fiir ihre Stichworter Entscheidungen zu treffen. Diesen Entscheidungen lagen jedoch nicht immer klare, generalisierbare und konsequent angewendete Kriterien zugrunde und so vermischten sich im Laufe der Zeit bei der Regelung dieses Bereiches eine Reihe verschiedener Ge­ sichtspunkte, semantische, syntaktische und intonatorische, was insgesamt zu sehr komplizierten und von vielen Menschen kaum mehr beherrschbaren Ver­ haltnissen in der Getrennt- und Zusammenschreibung fiihrte. Die orthographische N euregelung von 1996 bemiiht si eh um eine besse re Systematik und klarere Strukturierung dieses bisher sehr uniibersichtlichen Be­ reiches, wobei als Grundlage der Gliederung die Wortart fungiert, die sich bei der Z usammensetzung der verschiedenen Worter ergibt. Dana eh werden im Re­ gelwerk vier Teilbereiche der Getrennt- und Zusammenschreibung unterschie­ den: Verben; Adjektive und Partizipien; Substantive; andere Wortarten, die hier in einem Komplex zusammengefasst werden. Grundsatzlich wird die Getrenntschreibung als Normalfall angesehen, so­ dass eigentlich nur die Zusammenschreibung als regelungsbediirftig erscheint. Um die vor allem aus semantischen Gesichtspunkten resultierenden Schwierig­ keiten der bisherigen Regelung zu reduzieren, z.B. die graphische Differenzie­ rung nach konkreter oder iibertragener Bedeutung der Wortverbindung wie bei sitzen bleiben ( nicht aufstehen) und sitzenbleiben ( in der Schule nicht ver­ setzt werden), aber bisher: baden gehen ( ins Wasser gehen) und baden gehen ( erfolglos sein) , versucht die Neuregelung, die Entscheidung durch formale und grammatische Kriterien zu erleichtern. So werden beispielsweise Verbin­ dungen von Verb + Verb jetzt immer getrennt geschrieben (sitzen bleiben, ken­ nen lernen, spazieren gehen). Gleiches gilt fiir die Verbindung von Partizip + Verb (ge/angen nehmen, getrennt schreiben ) . Auch fiir die Verbindung von Substantiv und Verb ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen (preisgeben, wundernehmen), Getrenntschreibung vorgesehen, z.B. Rad fahren, Auto fahren, Teppich klopfen, Staub saugen, Kopf stehen, Bis lau/en. Bei Verbindungen von Adjektiv + Verb wird die Steigerungsprobe als ein Entscheidungskriterium eingefiihrt. So wird danach nahe stehen getrennt geschrieben, weil auch nliher stehen moglich ist, da­ gegen/ernsehen weiterhin zusammen, weil/ern in dieser Verbindung nicht steiger­ bar ist. In einigen Fallen wird die Getrennt- oder Zusammenschreibung freigege­ ben, z.B. in Verbindung von nicht + Adjektiv (nicht offentlich oder nichtoffentlich) oder bei Prapositionalgefiigen, die als Ganzes die Funktion einer Praposition oder eines Adverbs erfiillen (au/ Grund - au/grund, an Stelle - anstelle, mit Hil/e - mit­ hilfe, au./Ser Stande - au./Serstande). Fiir Verbindungen mit irgend - ist entgegen der bisherigen teilweisen Getrenntschreibung die generelle Zusammenschreibung festgelegt worden (irgendetwas, irgendjemand wie irgendwer, irgendwann). Angesichts der Differenziertheit und Kompliziertheit dieses Bereiches der Orthographie bietet die Neuregelung zwar einige Erleichterungen, einfache Ge­ nerallosungen gibt es jedoch nicht, sodass die Getrennt- und Zusammenschrei­ bung ein schwieriger Teil der deutschen Rechtschreibung bleibt. =

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RECHTSCHREIBUNG ND RECHTSCHREIBREFORM 3·4·

r8r

Die GroB- und Kleinschreibung

Unter GroB- und Kleinschreibung versteht man die Verwendung zweier unter­ schiedlicher Buchstabentypen, die als GroBbuchstaben (Majuskeln) un d Klein­ buchstaben (Minuskeln) bezeichnet werden, im Rahmen eines Schriftsystems. Die Differenzierung und Distribution beider Buchstabentypen haben sich im Laufe der Sprachgeschichte entwickelt; heute bilden die Kleinbuchstaben die unmar­ kierte Grundschrift, wahrend die GroBbuchstaben zusatzliche oder besondere Funktionen erfiillen. Sie stellen in der Gegenwart ein paralleles Schriftzeichenin­ ventar zu den Kleinbuchstaben dar; die Elemente bei der Inventare bilden mit Aus­ nahme des nur als Kleinbuchstabe existierendenfl einander paarig zugeordnete Va­ rianten, die in ihrem Bezug auf die Phoneme identisch sind. Der GroBbuchstabe driickt jedoch nicht wie der Kleinbuchstabe nur einen Phonembezug aus, sondern er gibt dari.iber hinaus noch weitere, zusatzliche Informationen, die sich nicht auf die phonologische Ebene, sondern auf Gegebenheiten anderer Ebenen des Sprachsystems beziehen. Bestimmte Positionen und Elemente im geschriebenen Text werden durch AnfangsgroBschreibung gekennzeichnet, dadurch wird die Aufmerksamkeit des Lesenden auf sie gelenkt und auf diese Weise die Erfassung des Textes untersti.itzt. Darin besteht heute die Funktion der GroBschreibung. Sie ist ein graphisches Mittel, das ganz im Dienst der Erfassungsfunktion steht. Da die GroBbuchstaben Gegebenheiten verschiedener Ebenen des Sprach­ systems kennzeichnen, erfi.illen sie in der Orthographie mehrere Aufgaben und haben somit eine erhebliche Polyfunktionalitat. Deshalb kann die GroBschrei­ bung auch nicht nur einem orthographischen Einzelprinzip zugeordnet werden. Entsprechend ihrem Bezug auf unterschiedliche sprachliche Ebenen dient sie dem Ausdruck verschiedener orthographischer Prinzipien. Im Einzelnen ver­ deutlichen die GroBbuchstaben den Bezug zur semantischen Seite. der Textebene - als Ausdruck des Textprinzips - durch die Kennzeichnung von O berschriften und Werktiteln, der syntaktischen Ebene - als Ausdruck des syntaktischen Prinzips - durch die Kennzeichnung der Ganzsatzanfange, der lexikalischen Ebene - als Ausdruck des lexikalischen Prinzips - durch die Kennzeichnung bestimmter Worter und Wortgruppen. In Hinsicht auf das lexikalische Prinzip hat die Entwicklung zu einer Son­ derstellung des Deutschen unter den europaischen Sprachen gefi.ihrt, indem in unserer Sprache nicht nur wie in den anderen Sprachen Eigennamen, Anrede­ pronomen und bestimmte Ehrenbezeichnungen durch GroBbuchstaben mar­ kiert werden, sondern alle Substantive einschlieBlich der Substantivierungen an­ derer Wortarten. Die Entwicklung dieser Sonderstellung des Deutschen vollzog sich erst zwischen dem r6. und r8. Jahrhundert; andere Sprachen, die einer sol­ chen Ausweitung der GroBschreibung zeitweilig auch gefolgt sind, haben sie im Laufe der Zeit wieder aufgegeben, zuletzt das Danische im ] ah re 1948. Wenn wir die AnfangsgroBschreibung von Oberschriften und Ganzsatzen, also die Auswirkungen des textualen und syntaktischen Prinzips, hier beiseite lassen, zumal sie dem Schreibenden auch nur relativ geringe Schwierigkeiten bietet, erstreckt sich die GroBschreibung heute im Einzelnen auf

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eigentliche Substantive Substantivierungen Eigennamen und ihre nichtsubstantivischen Bestandteile adjektivische Ableitungen von Personennamen bestimmte feste nominale Wortgruppen und ihre nichtsubstantivischen Be­ standteile Anredepronomen. Alle diese Anwendungsbereiche der GroBschreibung in prazise orthogra­ phische Regeln zu fassen ist auBerst schwierig, weswegen man sich auch nicht, wie eigentlich zu erwarten ware, mit GroBschreibungsregeln begniigen kann, sondern auch Regeln fiir Kleinschreibung formulieren muss. Die Schwierigkei­ ten ergeben sich insbesondere aus den flieBenden Ù bergangen zwischen dem Substantiv und anderen Wortarten, und zwar sowohl bei der Substantivierung anderer Wortarten als auch bei dem Desubstantivierung genannten Ùbergang ehemaliger Substantive in andere Wortarten. Eine analoge Situation besteht in ei­ nem etwas geringeren Umfang auch im Grenzbereich der Eigennamen. Die bina­ re Entscheidung fiir GroB- oder Kleinschreibung zwingt dazu, klare Grenzen zu ziehen, wo in der sprachlichen Realitat breite Ù bergangszonen und viele Grenz­ falle existieren. Das fiihrt im Einzelnen zu einem recht komplizierten Regelwerk. Wir konnen hier nur einige kurze und auswahlende Erlauterungen dazu ge­ ben. Auf der einen Seite konnen Substantive ihre Wortartmerkmale verlieren un d allmahlich in andere Wortarten iiberwechseln, z.B. zu den Adjektiven (angst, làd, recht, schade, schuld) , zu den Adverbien (abends, an/angs, imstande, seinerzeit, beiseite) oder zu den Prapositionen (angesichts, dank, trotz, laut). Auf der ande­ reo Seite konnen Worter anderer Wortarten die Merkmale des Substantivs an­ nehmen und damit in diese Wortart iibergehen, und zwar sowohl als dauerhafte wie auch als momentane Substantivierung im jeweiligen Satzzusammenhang, z.B. Adjektive (das Allgemeine, die Schonste, nichts Bedeutendes, etwas Leichtes, au/ dem Trockenen), Verben und Verbformen (das Anliegen, sein Schweigen, gutes Gelingen, die Verlobte, der Angeklagte, das Hand-in-Hand-Arbeiten, au/Anraten), Adverbien (mein Gegeniiber, ein gro/Ses Durcheinander, das Jensez'ts, unser scho­ nes Heute), Pronomen (vor dem Nichts stehen, das Mein und Dein, ein gewisser ]emand) , aber auch alle anderen Wortarten. In bestimmten Fallen wird aber trotz des Vorhandenseins von morphosyntaktischen Wortartmerkmalen des Substan­ tivs oder der Verbindung mit Artikel und/oder Praposition weiter kleingeschrie­ ben; man spricht dann auch von so genannten Pseudo- oder Scheinsubstantivie­ rungen, z.B. bei Adjektiven und Adverbien (von neuem, ohne weiteres, seit liin­ gerem, bei weitem, vor kurzem, von /ern) oder Pronomen (der andere, die beiden, ein jeder, ein solcher, die vielen, die meisten). In der bisherigen Regelung war die­ ser Bereich noch viel umfangreicher, die meisten entsprechenden Falle sin d in der orthographischen Neuregelung von 1996 als Substantivierungen anderer Wort­ arten der GroBschreibung zugeschlagen worden, z.B. des Weiteren, im Allgemei­ nen, bis ins Kleinste, im Folgenden, um ein Viel/aches, au/s Neue, alles Mogliche. Die GroBschreibung der Eigennamen ergibt sich in der Gegenwart aus der SubstantivgroBschreibung, denn viele Eigennamen sind einfache, zusammenge­ setzte oder abgeleitete Substantive (Peter, Berlin , Deutschland, Siidamerika,

RECHTSCHREIBUNG ND RECHTSCHREIBREFORM

Bahnho/stra/5e, Ostsee-Zeitung) . Daneben gibt es mehrteilige Eigennamen, die auch nichtsubstantivische Bestandteile enthalten (Kap der Guten Ho//nung, Stil­ ler Ozean, Norddeutsche Neueste Nachrichten, Vereinigte Staaten von Amerika) . Hier schreibt man das erste Wort und alle weiteren Worter auBer Artikel, Pra­ position und Konjunktion groK Probleme bei der GroB- und Kleinschreibung von Eigennamen ergeben sich vor allem daraus , dass diese lexikalische Klasse ahnlich wie das Substantiv selbst flieBende Grenzen aufweist, die in der ortho­ graphischen Regelung entgegen der sprachlichen Realitat vereindeutigt werden miissen. Dabei stoBt man auf Zweifelsfalle hinsichtlich der Zugehorigkeit zu den Eigennamen sowohl bei ganzen Klassen von Bezeichnungen, wie Bezeichnun­ gen von Feier- und Gedenktagen, Bezeichnungen von Tier- und Pflanzenarten, Produkt- und Warenbezeichnungen, Bezeichnungen von Speisen, Getranken, Spielen usw. , als auch in der Zuordnung einzelner Benennungseinheiten zu den Eigennamenunterklassen, wofiir besonders die Flurnamen als Beispiel ange­ fiihrt werden konnen (die alte/Alte Biche, das gro/5e!Gro/5e Moor). Ausgehend von den Eigennamen hat sich die GroBschreibung im Laufe der Zeit mit mehr oder weniger Konsequenz auch auf bestimmte feste nominale Wortgruppen ausgeweitet, die zu einer begrifflichen Einheit verschmolzen sind und oft phraseologischen oder terminologischen Charakter tragen, jedoch keine Eigennamen sind. Dabei gibt es Bezeichnungsbereiche, in denen die GroBschrei­ bung ziemlich generell iiblich ist, wie bei Titeln, Ehren- und Funktionsbezeich­ nungen (Koniglz'che Haheit, Bure Bxzellenz, der Heilige Vater, der Regierende Biir­ germeister) oder bei fachsprachlichen Bezeichnungen in der Biologie (der Sibiri­ sche Tiger, der Rate Milan, das Flei/5ige Lieschen, die Rauhaarige Alpenrase), und es gibt andere, in denen die GroBschreibung eher zufallig und fallweise ange­ wendet wird. Die Neuregelung der Orthographie fordert hier auBer in vier als Ausnahmen angefiihrten Bereichen (Titel, Ehren- und Funktionsbezeichnungen; biologische Fachtermini; Bezeichnungen von Feiertagen; Bezeichnungen histori­ scher Ereignisse und Epochen) die Kleinschreibung der nichtsubstantivischen Bestandteile in solchen Wortgruppen (schwarzes Brett, erste Hil/e, gra/5es Las, ra­ te Karte, graue Bminenz). Auch bei den adjektivischen Ableitungen auf -isch, -sch von Personennamen, die in der bisherigen Orthographie je nach Individuai- oder Gattungsbezug groB- oder kleingeschrieben wurden, sieht die Neuregelung grundsatzlich die Kleinschreibung vor (die heineschen Werke, die schillerschen Dramen, das hamerische Geléichter, die lutherschen Thesen) , gibt also dem adjek­ tivischen Wortartstatus den Vorrang vor dem Eigennamenbezug. 3·5·

Die Interpunktion

Unter Interpunktion oder Zeichensetzung verstehen wir die Gesamtheit der Satzzeichen und die Regeln fiir ihren Gebrauch. Die Satzzeichen bilden ein be­ sonderes graphisches Teilsystem, dessen Elemente sich - von Sonderfallen ab­ gesehen - nicht auf das Wort beziehen, sondern auf den Satz oder dessen Glie­ der. Die Satzzeichen oder Interpunkteme unterliegen als ein Teil des graphi­ schen Systems wie alle Teile der Schreibung bestimmten Normen und die In­ terpunktion gehort genauso zur Orthographie einer Sprache wie die anderen hier dargestellten Teilgebiete. Allerdings sind die Normen fiir den Gebrauch ei-

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niger Satzzeichen weniger prazise und lassen gro.Bere Variationsmoglichkeiten zu, als das in anderen Bereichen der Orthographie der Fall ist. Das hangt damit zusammen, dass die Funktionen einzelner Satzzeichen vielfaltig sind und sich teilweise mit denen anderer iiberschneiden. Grundsatzlich erfiillen di e Satzzeichen eine Grenz- un d Gliederungsfunkti­ on. Ihre Aufgabe ist es, einen geschriebenen Text und speziell geschriebene Sat­ ze iibersichtlich zu gliedern und sie dadurch fiir den Lesenden leichter iiber­ schaubar zu machen. Damit steht auch die Interpunktion in erster Linie im Diens­ te der Erfassungsfunktion. Ihre Aufgabe hat sich jedoch im Laufe der Sprachge­ schichte verandert, es hat sich ein funktionaler Wandel vollzogen. Wahrend die Satzzeichen zunachst als Ton- und Pausenzeichen vor allem ein Hilfsmittel fiir das laute Lesen waren, dienen sie jetzt insbesondere der graphischen Kenn­ zeichnung syntaktischer Strukturen. Damit sind sie heute kaum noch Ausdruck des intonatorischen, sondern ganz iiberwiegend des syntaktischen Prinzips. Sie markieren durch Abgrenzung und Gliederung Ganzsatze und Teilsatze - unter besonderen Bedingungen auch bestimmte Wortgruppen und Worter - als syn­ taktisch-semantische Einheiten und tragen auf diese Weise zur Verdeutlichung der Satzstrukturen bei. Im Sonderfall, z.B. bei Apostroph und Erganzungsstrich, konnen sie sich auch direkt auf Markierungen am Wort beziehen. Wenn man die auf das Wort bezogenen Elemente dieses graphischen Teilsys­ tems dazu rechnet, obwohl sie im engeren Sinne natiirlich keine " Satz " -zeichen sind, umfasst die Interpunktion im Deutschen heute folgende Zeichen: Punkt, Ausrufezeichen, Fragezeichen, Komma (einzeln und paarig) , Semikolon, Dop­ pelpunkt, Gedankenstrich (einzeln und paarig), Klammern, Anfiihrungszeichen, Auslassungspunkte, Apostroph, Erganzungsstrich. Die Satzzeichen haben je­ weils spezielle, mitunter auch einander iiberlappende Funktionen, die haufig an bestimmte Positionen in der entsprechenden syntaktischen Einheit gebunden sind. Fiir ihre Darstellung gibt es unterschiedliche Konventionen; unter Kon­ zentration auf die jeweiligen Hauptfunktionsbereiche unterscheiden wir Zeichen zur Kennzeichnung des Schlusses von Ganzsatzen: Punkt, Aus rufezeichen, F ragezeichen zur Gliederung innerhalb von Ganzsatzen: Komma, Semikolon, Doppel­ punkt, Gedankenstrich, Klammern zur Anfiihrung von A u.Berungen oder Textstellen bzw. zur Hervorhebung von Wortern oder Textteilen: Anfiihrungszeichen zur Markierung von Auslassungen: Apostroph, Erganzungsstrich, Auslas ­ sungspunkte. Wahrend der Geb rauch der meisten Satzzeichen dem Sprachbenutzer kaum Schwierigkeiten bereitet, weil ihr Anwendungsbereich relativ klar oder durch eine relativ gro.Be Toleranzbreite gekennzeichnet ist, stellt die normge­ rechte Verwendung des Kommas hohe Anforderungen an den Schreibenden, da seine Funktionen sehr vielgestaltig und schwer iiberschaubar sind und sein Ge­ brauch im Deutschen ziemlich strikten Normen unterliegt. Unter Verweis auf die ausfiihrliche Darstellung der gesamten Interpunktion in Nerius (2ooob: 228 ff. ) beschranken wir uns hier auf eine Erorterung der Kommafunktionen un d der Kommaregelung in unserer Orthographie.

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Gemeinsam mit anderen Satzzeichen hat das Komma eine Grenz- und Glie­ derungsfunktion, die jedoch nicht wie etwa bei Punkt und Semikolon auf die Abgrenzung von semantisch selbstandigen syntaktischen Einheiten beschrankt ist. Die eigentliche Funktion des Kommas ist die Abgrenzung semantisch un­ selbstandiger syntaktischer Einheiten innerhalb des Ganzsatzes, und zwar so­ wohl innerhalb eines Elementarsatzes (einfacher Haupt- und Nebensatz) als auch innerhalb komplexer Satze (Satzverbindung, Satzgefi.ige, Periode) . Das Komma wird demnach nur in Mittelposition, das heiBt im Satzinnern verwen­ det. Es muss zunachst unterschieden werden, was in den gangigen orthographi­ schen Regeldarstellungen leider meist nicht geschieht, zwischen einfachem Komma (KJ und Doppelkomma oder paarigem Komma (KJ, da beide unter­ schiedliche Funktionen erfi.illen. Das Einzelkomma Kr hat die alleinige Funkti­ on, gleichartige, nebengeordnete syntaktische Einheiten voneinander abzu­ grenzen. Das konnen koordinierte Satzglieder mit gleichem Status sein, die aus Wortern oder Wortgruppen bestehen, aber auch Nebensatze oder Teilsatze in einer Satzverbindung. Wenn diese nebengeordneten syntaktischen Einheiten durch eine koordinierende Konjunktion (un� oder; weder-noch) sowohl-als auch usw.) verbunden werden, entfallt das Komma. Er lernte reiten, schwimmen und Auto fahren. Sie hofft, dass sie den Zug noch erreicht, dass sie rechtzeitig nach Hause kommt und dass sie die Eltern noch antrifft. Die Jungengruppe verlieB die Schwimmhalle, die Madchengruppe nahm ihre Platze ein. Der Vater ordnet seine Briefmarkensammlung und die Mutter liest einen Roman.

Das Einzelkomma ist somi t das Kennzeichen einer unverbundenen Koordi­ nation, einer parataktischen Beziehung zwischen Satzgliedern oder Teilsatzen. Sein Nichtvorhandensein (K0) bedeutet danach, dass es sich um eine Aufein­ ande rfolge verschiedenartige r Satzglieder mit unterschiedlicher Funktion handelt. Das Doppelkomma K 2 hat ahnlich wie der doppelte Gedankenstrich oder die Klammern eine Klammerfunktion, indem es syntaktische Einheiten einschlieBt und dadurch aus dem i.ibrigen Satzverband heraushebt. Solche Einheiten konnen z.B. Appositionen und andere nachgestellte Fi.igungen sein, eingeschlossene Infinitiv- oder Partizipialkonstruktionen, Nebensatze oder Parenthesen. Das Doppelkomma ist ein Satzzeichen, das aus zwei Teilen be­ steht, die zusammengehoren. Steht nun eine solche aus dem Satzverband her­ ausgehobene syntaktische Einheit am Anfang oder am Ende eines Ganzsatzes , so wird der eine Teil des Doppelkommas durch ein vorausgehendes oder fol­ gendes Satzschlusszeichen absorbiert und es entsteht der Eindruck, als han­ dele es sich nur um ein Einzelkomma. In Wirklichkeit erscheint K2 hier als kontrahiertes Doppelkomma, das zwar die Erscheinungsform von K1, aber die Funktion von K2 hat.

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Dopp elkomma: Seine Annahme, dass Peter kame, erfullte sich nicht. Sie konnte, wenn sie wollte, auBerst liebenswlirdig sein. Eines Tages, es war mitten im Winter, stand eine Reh in unserem Garten. Sein Wunsch, Autoschlosser zu werden, ging endlich in Erfiillung. Sie saB, ganz in Decken und Pelzwerk verpackt, stundenlang auf der Terrasse. Prof. Dr. Miiller, Direktor der Kinderklinik, beantwortete unsere Fragen. Kontrahiertes Doppelkomma: Als wir nach Hause kamen, war es schon spat. Gestern traf ich eine Bekannte, von der ich lange nichts gehort hatte. Um den Zug nicht zu versaumen, mussten wir uns beeilen. Sie saB stundenlang auf der Terrasse, ganz in Decken und Pelzwerk verpackt.

Besonders zu beachten ist, dass im Elementarsatz nicht die gleichen Kriterien fur die Kommasetzung gelten wie im zusammengesetzten Satz. Wahrend im Ele­ mentarsatz das Kriterium der Nebenordnung (bei K 1 ) oder der Ù ber- bzw. Un­ terordnung (kein Komma K0) fur die Kommasetzung ausschlaggebend ist, do­ miniert beim zusammengesetzten Satz das Kriterium der Satzwertigkeit oder Pradikativitat die Kommasetzung. Obwohl Teilsatze innerhalb eines zusam­ mengesetzten Satzes durchaus die Funktion von Satzgliedern des ubergeordne­ ten Satzes ausuben konnen und nach den im Elementarsatz geltenden Regeln zwischen verschiedenen Satzgliedern kein Komma steht, mussen die Teilsatze stets durch Komma (K2) abgegrenzt werden. Ich kannte ihn schon als Kind . Ich kannte ihn schon, als er noch ein Kind war. Er hofft auf den Sieg seiner Mannschaft. Er hofft, dass seine Mannschaft gewinnt.

Anders formuliert: Ein Satzglied muss immer dann durch K2 markiert werden, wenn ihm eine pradikative Beziehung (Subjekt-Pradikat-Struktur) zukommt. Das Erkennen der pradikativen Beziehung ist deshalb eine wichtige Vorausset­ zung fur die richtige Interpunktion im zusammengesetzten Satz. Dieses Kriterium der Satzwertigkeit wird zu einem besonderen Problem beim erweiterten Infinitiv mit zu, da solche Infinitivkonstruktionen eine Zwi­ schenstellung zwischen Wortgruppe und Teilsatz einnehmen. Sie konnen Satz­ gliedfunktion haben, sind jedoch keine Satze, da ihnen das Subjekt und die fi­ nite Verbform fehlen. Um die daraus resultierenden notorischen Schwierigkei­ ten der Kommasetzung abzubauen, sieht die Neuregelung der Orthographie vor, dass - von bestimmten Fallen abgesehen - bei Infinitivkonstruktionen kein Komma mehr gesetzt werden muss. Es soll aber dann weiterhin gesetzt werden,

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wenn Infinitivkonstruktionen durch ein hinweisendes Wort angekiindigt bzw. wieder aufgenommen oder aus dem Satz herausgehoben werden. Eine F amilie zu griinden, das ist sein gro.Bter Wunsch. Sie dachte nicht daran, die Stadt zu verlassen. Die Passanten, statt ihm zu Hilfe zu kommen, sahen tatenlos zu.

Durch die relative Freigabe der Kommasetzung bei Infinitivkonstruktionen wird versucht das Komma hier starker fiir die individuelle Textgestaltung ver­ fugbar zu machen. 3 . 6. Die Worttrennung am Zeilenende Die Worttrennung am Zeilenende (friiher auch Silbentrennung genannt) ist ein orthographisches Teilgebiet, das seine Existenz dem auBerlichen Zwang der raum­ lichen Begrenzung des Schreibmaterials, z.B. des Papierformats, verdankt. Im Rahmen der in allen europaischen Sprachen iiblichen Konvention, schriftliche Texte in Zeilen zu gliedern, kann mitunter der Fall eintreten, dass das letzte Wort einer Zeile nicht geniigend Raum findet. Um im Interesse der Wirtschaft­ lichkeit das Schreibfeld moglichst effektiv auszunutzen oder den asthetisch un­ schonen Eindruck des uneinheitlichen Zeilenabschlusses in einem Text zu ver­ meiden, ist der Schreibende bzw. der Setzer dann genotigt, dieses Wort in zwei Teile zu zerlegen, die am Ende der einen und am Anfang der nachsten Zeile ste­ hen, beim Lesen aber als Einheit erfasst werden sollen. Die Zusammengehorig­ keit der beiden Teile wird durch den Trennungsstrich verdeutlicht. Es handelt sich hier somit um ein primar durch die Rahmenbedingungen des Schreibens bzw. Druckens und nicht durch die graphische Wiedergabe sprachlicher Ein­ heiten verursachtes Verfahren. Damit die Erfassung des Wortes, dessen Teile auf zwei aufeinander folgen­ den Zeilen stehen, moglichst reibungslos gewahrleistet wird - und eben das ist die Funktion der Worttrennung -, ist es zweckmaGig, diese Trennung nicht will­ kiirlich, sondern in einer Weise vorzunehmen, die die rasche Erfassung des Wor­ tes unterstiitzt oder zumindest nicht behindert. Deshalb haben sich auch auf diesem orthographischen Teilgebiet Konventionen und Regelungen entwickelt, die einerseits dem Schreibenden bei der Aufzeichnung bestimmte Vorgaben an die Hand geben und andererseits den Lesenden bei der Erfassung nicht beein­ trachtigen sollen. N atiirlich w are es fiir den Schreibenden am einfachsten, di e Worttrennung an jeder Stelle zuzulassen, fiir den Lesenden kann das aber als Lesehemmung wirken. Die Worttrennung am Zeilenende folgte bisher im Deutschen sowohl dem syllabischen als auch dem morphematischen Prinzip, das heiGt, di e bei der Tren­ nung entstehenden Wortsegmente entsprachen entweder den Silben auf der phonologischen Ebene oder den Morphemen auf der morphematischen Ebene. Es iiberwog eindeutig das syllabische Prinzip, das z.B. bei mehrsilbigen einfa­ chen Wortern (Ka-me-rad, Hei-mat, Au-ge), bei Ableitungen (Schu-ler, san-dig, La-dung) und bei flektierten Wortern (Kin-de� hel-/en, san-gen ) maGgebend war.

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Da auch bei Zusammensetzungen und Pdifigierungen die Morphemgrenze zwi­ schen den Wortbestandteilen, die hier die Grundlage der Worttrennung bildet, fast immer eine Silbengrenze ist (Haus-tur, Ab-fluss) , kann m an auch in diesen Fallen das syllabische, ebenso aber das morphematische Prinzip als bestimmend ansehen. Das morphematische Prinzip war ansonsten in der bisherigen Ortho­ graphie vor allem fiir die Worttrennung bei einigen Fremdwortern aus dem Griechischen oder Lateinischen ausschlaggebend (Piid-ago-gik, Chir-urgy He-li­ ko-pter; Hekt-ar; Ho-spi-ta� Si-gna� Ma-gnet usw. ) . I m Einzelnen gab und gibt e s allerdings bei der graphischen Wiedergabe von Silbengrenzen in der Worttrennung eine Reihe von Problemen, die zusatz­ liche orthographische Festlegungen nach sich gezogen haben. Das gilt vor allem fiir solche Falle, in denen den Buchstaben in der Schreibung kein Pendant in der Lautung entspricht. So wird etwa das so genannte silbeninitiale h bei der Worttrennung ebenso wie das Dehnungs-h in gleicher Weise eingeordnet wie die Buchstaben, denen ein lautliches Segment entspricht, z.B. [ze: an] se-hen, [ru: a] Ru-he, [my: a] Mu-he; [hy:nar] Huh-ner, [sa:na] Sah-ne, [fa: ran] fah-ren. Einzelne Konsonanten, die in einer phonologischen Wortform zwischen ei­ nem betonten kurzen und einem unbetontem Vokal stehen, stellen gleichsam Sil­ bengelenke dar, die zu zwei Silben gehoren. In der Schreibung werden sol che Sil­ bengelenke sehr haufig durch Verdopplung des Konsonantenbuchstabens wie­ dergegeben, was gleichzeitig als Kennzeichen fiir die Kiirze des voraufgehenden Vokals angesehen wird. Bei der Worttrennung wird die Grenze der Wortseg­ mente zwischen die beiden Konsonantenbuchstaben gelegt, denen auf der pho­ nologischen Ebene nur ein Phonem entspricht, z . B . [fviman] schwim- men , [karan] Kar-ren, [mapa] Map-pe, [hofan] hof/en, [kana] Kan-ne, [roba] Rob-be. Die Neuregelung der deutschen Orthographie versucht auch auf diesem Gebiet eine starkere Generalisierung und Systematisierung der Regelung zu er­ reichen. So wird die Trennung nach dem syllabischen Prinzip kiinftig generell zugelassen, auch bei Fremdwortern (Pii-da-go-gik, Hek-tar, Chi-rurg, Sig-nal) und bei einbuchstabigen Silbenaquivalenten (A-bend, I-gel, 0-/en) , und die bis­ herige Untrennbarkeit von st wird beseitigt (Wes-te, Kas-ten , schons-te) . Die Buchstabengruppe ck soll kiinftig nicht mehr bei der Worttrennung in k-k auf­ gelost werden, sondern im Interesse der Beibehaltung der Stammschreibung er­ halten bleiben, aber geschlossen auf die nachste Zeile kommen (Zu-cker, pa­ cken, He-cke) , was allerdings eine von den analogen Fallen der Silbengelenk­ schreibung abweichende Ausnahme darstellt. Insgesamt soll in diesem doch eher technischen Bereich der Schreibung durch die Neuregelung eine groBere Variabilitat ermoglicht werden, als sie bisher gegeben war. 4

Zur Entwicklung und Reform der deutschen Orthographie

Wie alle Teilgebiete der Sprache ist auch ihre graphische Formseite historisch veranderlich und die in den vorangehenden Abschnitten beschriebenen Struk­ turen und Funktionen der heutigen deutschen Orthographie sind das Ergeb­ nis eines langen historischen Entwicklungsprozesses von insgesamt mehr als

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1200 J ahren. Da bei ha ben die einzelnen Teilbereiche jeweils ihre eigene Ge­ schichte, iiber die wir unterschiedlich genau Bescheid wissen, weil sie zum Teil erst in Ansatzen erforscht ist. So haben wir einen relativ guten O berblick iiber die Entwicklung des deutschen Graphemsystems und die Herausbildung un­ seres Buchstabeninventars , in dem sei t dem 14./15. J ahrhundert die fiir das Deutsche charakteristischen Umlautbuchstaben ii, o, u sowie das fl einen fes­ ten Platz gewonnen ha ben, wahrend das y} das zwischen dem 16. un d 18. J ahr­ hundert ein auch in heimis chen Wortern sehr haufig vorkommender und sogar zur graphischen Differenzierung gleichlautender Stamme genutzter Buchstabe war, z.B. seyn (Verb) und sein (Possessivpronomen) , diese Position in der Fol­ gezeit vollstandig an das i verloren hat und heute zum reinen Fremdgraphem geworden ist. Ebenso wissen wir, dass die meisten der oben (vgl. 3 . 2) beschrie­ benen Auswirkungen des morphematischen Prinzips erst im Friihneuhoch­ deutschen allmahlich Eingang in die Schreibung gefunden haben und dass z.B. die so genannte Auslautverhartung noch im Mittelhochdeuts chen durchaus auch in der Schreibung Beriicksichtigung fand (geben - gap, werden - wirt, ta­ ges - tac). Inzwischen ist auch die Entwicklung einer weiteren charakteristi­ schen Besonderheit des deutschen graphischen Systems, namlich der Substan­ tivgro.Bschreibung, schon recht genau erforscht (vgl. Bergmann l Nerius 1998) und wir wissen, dass diese Besonderheit sich zwischen der ersten Halfte des 16. und dem Beginn des 18. J ahrhunderts im Schreibgebrauch allgemein durchge­ setzt hat. Partiell ist schlie.Blich auch die Geschichte der deutschen Interpunk­ tion bekannt, auf deren historischen Funktionswandel von der urspriinglichen Ton- und Paus enmarkierung zur syntaktischen Gliederungskennzeichnung schon oben (vgl. 3 . 5) verwiesen wurde. Als eine besonders augenfallige Ent­ wicklung zeigt si eh hier der Riickgang des bis in die erste Halfte des 18. J ahr­ hunderts gewisserma.Ben universal einsetzbaren Satzzeichens, der Virgel (/) , und der seit dieser Zeit zu erkennende Vormarsch und die zunehmend diffe­ renziertere Verwendung des Kommas. Zum Unterschied von den bisher ge­ nannten Teilbereichen der Orthographie ist aber der bisherige Kenntnisstand iiber die Geschichte der Getrennt- und Zusammenschreibung nur au.Berst diirftig. Hier gibt es kaum aussagekraftige Untersuchungen und dieser wichti­ ge Teilbereich harrt noch der Bearbeitung. Wenden wir uns nach diesen kurzen und natiirlich unvollstandigen Hin­ weisen auf die Entwicklung in einzelnen orthographischen Teilbereichen der allgemeinen Charakterisierung von Entwicklungsprozessen der Schreibung zu, so kann m an zunachst feststellen, dass sich dies e Prozesse in einer standi­ gen Wechselwirkung zwischen Schreibgebrauch und Normkodifizierung voll­ ziehen. Dabei dominierte zunachst un d im Grunde bis weit ins 19. J ahrhun­ dert der Schreibgebrauch , in dem sich iiber die anfangliche Adaption des la­ teinischen Schriftsystems allmahlich die oben beschriebenen Funktionen und Prinzipien der Schreibung des Deutschen etablierten. Diese Schreibung war zu Beginn und noch iiber lange Zeit regional und institutionell unterschied­ lich, an einzelne Schreibschulen und Kanzleien gebunden. Dadurch war sie durch eine starke Differenziertheit und Variantenfiille gekennzeichnet, wofiir neben der regionalen sp rachlichen Differenzierung des deuts chen Sprachge-

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bietes auch die unterschiedliche Umsetzung der verschiedenen orthographi­ schen Prinzipien maBgeben d war. Variabilitat in der Schreibung einzelner Worter - selbst innerhalb eines Textes - war noch im Friihneuhochdeutschen re eh t haufig, segar bei N amen. Im Zuge der Entwicklung der schriftlichen Kommunikation und besonders seit der Verbreitung des Buchdrucks ergab sich immer mehr die Notwendigkeit der Angleichung der graphischen Formen sprachlicher Einheiten, der Herausbildung von Schreibungskonventionen und schlieBlich der Etablierung fester orthographischer Normen. Der so ein­ geleitete Prozess der orthographischen Kodifikation griff rasch um sich und die Sprachgelehrten und Sprachlehrer iibernahmen es , in ihren Sprachlehren und Schreibanweis ungen, in grammatis chen Darstellungen und Worter­ biichern die Schreibgewohnheiten zu kodifizieren und mitunter auch an die­ ser oder jener Stelle zu vereinfachen, zu prazisieren und zu systematisieren. Die ersten solcher Sprach- und vor allem Orthographiedarstellungen wurden im 16. J ahrhundert von Sprachgelehrten wie Ickelsamer (1534) , Kolross (1530) , Frangk (1531) und Fuchsperger (1542) vorgelegt. Ihnen folgten bald weitere nach, deren Zahl dann im 17. J ahrhundert immer mehr zunahm. In diesem Zeitraum setzten sich auch die damals entstehenden Sprachgesellschaften be­ sonders fiir die Kodifizierung der deuts chen Orthographie ein und vor allem die Sprachdarstellungen von Gueintz ( 1 645 ) , S chottel (1 663 ) und Bodiker ( 1 690) erlangten groBe und schon iiberregionale Bedeutung. Allmahlich wirk­ ten die kodifizierten Schreibungsnormen iiber die Schule und andere Unter­ richtsformen, denen sie als Grundlage dienten, aber auch iiber die Praxis der Druckereien wieder auf den allgemeinen Schreibgebrauch zuriick und so be­ stimmte die vorher erwahnte Wechselwirkung zwischen Schreibgebrauch und Normkodifizierung zunehmend die weitere Entwicklung. Dieser zunachst im­ mer noch regional differenzierte Prozess wird iiberwolbt durch die im 18. und besonders im 19. J ahrhundert verstarkt hervortretende Orientierung auf den nationalen Raum, was eine zunehmende O berwindung der regionalen Unter­ schiede und eine starkere Vereinheitlichung der Orthographie zur Folge bat­ te. Das bedeutete eine immer genauere Kodifizierung der Schreibungsnor­ men, das Bemiihen um die Beseitigung nicht nur der regionalen Unterschiede in der Orthographie, sondern um die Minimierung orthographischer Varian­ ten iiberhaupt und schlieBlich die allgemeine Durchsetzung und in bestimm­ ten Bereichen wie Schule und Behorden auch amtliche Verbindlichkeit einer einheitlichen Orthographie, was in Deutschland mit den Festlegungen der II. Orthographischen Konferenz im Jahre 1901 und ihren Nachfolgeentscheidun­ gen erreicht wurde. An dieser Entwicklung haben im 18. und 1 9 . J ahrhundert viele Krafte mit­ gewirkt und unterschiedliche Positionen mehr oder weniger Geltung erlangt. Im 18. J ahrhundert hatten vor allem die Arbeiten der Grammatiker und Sprach­ gelehrten Freyer (1722), Gottsched (1748) und besonders Adelung (17741!782) groBen Einfluss auf di e Kodifizierung der deutschen Orthographie. Im 19. J ahr­ hundert versuchten unterschiedliche theoretische Richtungen die endgiiltige Normierung der sich abzeichnenden und allgemein als notwendig angesehenen einheitlichen deuts chen Orthographie in ihrem Sinne zu beeinflussen und zu

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pragen. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den verschiede­ nen Richtungen, unter denen die so genannte phonetische und die so genann­ te historische Richtung die Hauptrolle spielten. Hauptvertreter der phoneti­ schen Richtung, die eine enge Beziehung von Schreibung und Lautung an­ strebte waren R. v. Raumer, K. Duden und W. Wilmanns. Hauptvertreter der historischen Richtung, die die Schreibung auf friihere Sprachzustande zuriick­ fiihren wollte und die sich dabei auf ]. Grimm berief, war K. Weinhold. Die theoretische Auseinandersetzung dieser Richtungen, aber auch mit Vertretern anderer Positionen wurde in der zweiten Halfte des 19. J ahrhunderts mehr un d mehr durch staatliche Institutionen und Kultusbehorden entschieden, die den Prozess der Kodifizierung einer einheitlichen deutschen Orthographie an sich zogen und bestimmten. Ein erster diesbeziiglicher Anlauf durch die so ge­ nannte I. Orthographische Konferenz im J ahre 1876 scheiterte noch, weil die Behorden sich nicht trauten, die dort gefassten Beschliisse in die Praxis umzu­ setzen. N aeh der erfolglosen Konferenz von 1876 wurden zunachst in Bayern und Preu.Ben und dann auch in anderen deutschen Landern Schulorthogra­ phien erlassen, die alle auf den Arbeiten von R. v. Raumer fu.Bten. Zwar verbot Bismarck die Verwendung dieser Schulorthographien in der offentlichen Ver­ waltung und bei den Behorden, wodurch zeitweise in Deutschland eine Dop­ pelorthographie im Gebrauch war, dennoch setzte sich die Schulorthographie im allgemeinen Gebrauch mehr und mehr durch. Dazu trug nicht zuletzt K. Duden bei, der mit seinem Vollstdndigen Orthographischen Worterbuch der deutschen Sprache, das zuerst 1 88o und bis 1900 in sechs Auflagen erschien, die preu.Bische Schulorthographie allgemein verbreitete. N a eh dem Ab gang Bis ­ marcks wurden die Bemiihungen um die Ausarbeitung einer einheitlichen or­ thographis chen Regelung wieder aufgenommen und 1901 kam es zu der schon mehrfach erwahnten n. Orthographischen Konferenz in Berlin, an der Vertre­ ter der deutschen Lander und Ò sterreichs teilnahmen. Diese Konferenz erar­ beitete nach relativ kurzen Beratungen ein im Wesentlichen auf der preu.Bi­ schen Schulorthographie fu.Bendes orthographisches Regelwerk, das von den deutschen Landern, von Ò sterreich und der Schweiz angenommen und in den entsprechenden Zustandigkeitsbereichen fiir verbindlich erklart wurde. Dami t war eine einheitliche deutsche Orthographie nun auch offiziell kodifiziert und amtlich bestatigt. Im Prozess der Wechselwirkung von Schreibgebrauch und Normkodifizie­ rung, wie er die Entwicklung der Orthographie bisher bestimmte, vollzieht sich jetzt eine deutliche Akzentverschiebung zugunsten der N ormkodifizierung. Di e kodifizierte Norm mit ihrer amtlichen Verbindlichkeit bestimmt vor allem iiber die Schule und den offentlichen Schriftverkehr immer mehr den allgemeinen Schreibusus, an ihr orientiert man sich und sie befolgt man. Mit dieser Domi­ nanz der kodifizierten Norm nimmt natiirlich auch der Spielraum der freien Veranderlichkeit der Orthographie im Schreibgebrauch immer mehr ab. Auch wenn dieser Spielraum nicht vollstandig verschwindet, zumal es eine wirklich liickenlose Kodifikation der Orthographie in keiner lebenden Sprache gibt, konnen sich Veranderungen der Rechtschreibung jetzt im Wesentlichen nur noch durch eine Umkodifizierung der Regelung vollziehen. Eine solche Ande-

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rung einer relativ genau kodifizierten standardsprachlichen Orthographie nen­ nen wir eine Orthographiereform. Versuche und Bemi.ihungen, eine solche Or­ thographiereform fi.ir das Deutsche durchzufi.ihren, hat es im 20. Jahrhundert in groBer Zahl gegeben, sie sind gewissermaBen wellenartig immer wieder hervor­ getreten und signalisieren damit eine gewisse Unzufriedenheit der Sprachge­ meinschaft mit der bestehenden Orthographie. Nachdem alle diese Versuche bisher erfolglos waren, haben die zustandigen staatlichen Stellen Deutschlands, Ò sterreichs und der Schweiz 1996 vereinbart, 1998 eine Reform der deutschen Orthographie durchzufi.ihren (vgl. 1). Wesentliche Punkte dieser Reform haben wir bei der Beschreibung der Orthographie in den vorangehenden Abschnitten bereits dargestellt. Literatur (Hg.) ( 1992) : Rechtschreibliteratur (Bibliographie), Frankfurt a.M. et al. (Hgg.) ( 1997) : Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Be­ griindung und Kritik, Ti.ibingen. AUGST, GERHARD l SCHAEDER, BURKHARD (Hgg.) (1991) : Rechtschreibworterbucher in der Diskussion. Geschichte-Analyse-Perspektiven, Frankfurt a.M. BAUDUSCH, RENATE ( 2ooo) : Zeichensetzung klipp und klar, Gi.itersloh/Mi.inchen. BERGMANN, ROLF l NEruus, DIETER ( 1998 ) : Die Entwicklung der Groflschreibung im Deut­ schen von IfOO bis I70 0, Heidelberg. Deutsche Rechtschreibung (1996) , Text der amtlichen Regelung, Ti.ibingen. DUDEN, KONRAD ( r88o) : Vollstiindiges orthographisches Worterbuch der deutschen Sprache, Leipzig. DUDEN (2ooo) : Die deutsche Rechtschreibung, Mannheim, 22. Aufl. DURSCHEID, CHRISTA (2002) : Ein/uhrung in die Schri/tlinguistik, Wiesbaden. EISENB ERG, PETER ( 1995) : Der Buchstabe und die Schrzftstruktur des Wortes. In : Duden, Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, Mannheim, S. 56-84, 5· Aufl. ID. ( 1998) : Grundriss der deutschen Grammatik, Bd. I, Das Wort, Stuttgart/Weimar. GALLMANN, PETER ( r985) : Graphische Elemente der geschriebenen Sprache, Ti.ibingen . GALLMANN, PETER I SITTA, HORST ( 1996) : Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung, Mannheim . GARBE, BURKHARD (Hg. ) ( 1978 ) : Die deutsche Rechtschreibung und ihre Re/orm IJ22-I974 , Ti.ibingen. GUNTHER, HARTMUT ( r988 ) : Schri/tliche Sprache. Strukturen geschriebener Worter und ih­ re Verarbeitung beim Lesen, Ti.ibingen. GUNTHER, HARTMUT l LUDWIG , OTTO (Hgg.) (1994-96) : Schrzft und Schrzftlichkeit. Ein interdisziplinéires Handbuch, 2 Bde., Berlin/New York. HELLER, KLAUS (1980) : Zum Graphembegrzff In: Nerius l Scharnhorst (1980) , S. 74-108 . HOCHLI, STEFAN (r98r) : Zur Geschichte der Interpunktion im Deutschen, BerliniNew York. KO HRT, MANFRED ( r985) : Problemgeschichte des Graphembegri/fs und des /riihen Phonembegri//s , Ti.ibingen. I D . ( r987) : Theoretische Aspekte der deutschen Orthographie, Ti.ibingen. MAAS, uTz (1992) : Grundzuge der deutschen Orthographie, Ti.ibingen. NERIUS, DIETER ( 1994) : Orthographieentwicklung und Orthographiere/orm. In: Gi.inther l Ludwig (1994-96) , Bd. I, S. 720-39 . I D . ( 1996) : Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung, Berlin. AUGST, GERHARD

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Karin M. Eichhoff- Cyrus

Feminismus - eine gesellschaftspolitische Bewegung verandert die deutsche Sprache

In keinem anderen Land der Welt ist es so schwierig wie in Deutschland, das Wort Feminismus zu verwenden. Es gilt hier als Reizwort. Feminismus ist eine Richtung der Frauenbewegung, die, von den Bediirfnissen der Frau ausgehend, eine grundlegende Veranderung der gesellschaftlichen Normen (z.B. der tra­ ditionellen Rollenverteilung) un d der patriarchalischen Kultur anstrebt r.

Die Benachteiligung der Frau, die ungleiche, ungereehte Behandlung einer Be­ volkerungshalfte aufgrund ihres Geschlechts ist ein uraltes Phanomen. Seit je­ her ha t es jedoch engagierte F rauen gegeben, die sich fur die Gleichstellung der Geschlechter eingesetzt haben. In historischer Hinsicht ist auf diesem Gebiet noch vieles unerforscht, doch kann zumindest ab dem J ahre 1789, in dem mit der Erklarung der Menschen- und Biirgerrechte in Frankreich die Geschichte des biirgerlichen Rechtsstaats in Europa begonnen hat, auch der Beginn des Fruh­ feminismus angesetzt werden (Schroder 1979 : ro, 23 ff. ) . In Deutschland lasst die Frauenbewegung zwei zeitlich aufeinander folgen­ de Phasen erkennen. In der ersten Phase, das ist der Zeitraum etwa von 1848 bis 1933, kampften die Frauen zunachst nur um ihre okonomische, politische, so­ ziale und kulturelle Gleichberechtigung. Sie organisierten sich in burgerlichen wie in proletarischen Vereinen und Verbanden. Das Ziel war die Gleichstellung der Frau mit dem Mann im offentlichen Bereich, auf wirtschaftlichem und po­ litischem Gebiet - wie auch in den Bildungsmoglichkeiten (vgl. Pusch 1983: 12; Breiner 1996: 7). Die Neue Frauenbewegung, fur die sich die Bezeichnung Femi­ nismus durchgesetzt ha t, ist erst ca. 35 J ahre alt. Diese zweite Phase der Frauen­ bewegung hat ihre Anfange in der Studentenbewegung von 1968 und halt bis beute an. Die Feministinnen hinterfragen gesellschaftliche Strukturen, die den F rauen immer zum N achteil gereichen un d dennoch als selbstverstandlich ak­ zeptiert werden. Das Ziel der Neuen Frauenbewegung ist die Abschaffung der Geschlechtsrollenzuweisung, auf der, so wird vermutet, die Abwertung weibli­ chen Denkens, Handelns und Fuhlens basiert (Schenk 1980: 191) . In den 7oer J ahren griindeten Feministinnen Frauenzentren und politische Frauengruppen. Manner hatten meist keinen Zutritt. Die Frauen der Neuen Frauenbewegung versuchten herauszufinden, was Weiblichkeit ist, was also die weibliche Identitat konstituiert. Sprache und Sprechen wurden dabei ins Zent­ rum der weiblichen Selbstfindung geruckt. Das Thema weibliche Identiti:it ver-

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kniipfte sich mit dem Thema Sprache der Frauen. Nachdem die Frauen erkann­ ten, dass die herkommlich herrschenden sp rachlichen Ausdrucksmittel von mannlichem Denken und Empfinden gepragt sind, fragten sie, welche Mog­ lichkeiten fiir den Ausdruck von Weiblichkeit bestehen. Die Frauen wollten kommunizieren, ohne sich dem mannlichen Denken und Empfinden an­ zunahern. Sie strebten Veranderungen in der Sprache und im Sprechen an (Tro­ mel-Plotz 1983). Weil Frauen in gesellschaftlichen und politischen Funktionen bis ins 20. J ahrhundert nur selten vertreten waren, fanden sie auch nur selten Er­ wahnung. Doch die soziale Wirklichkeit hat sich gewandelt. Mit der Neuen F rauenbewegung fing auch die feministische Sprachreflexion in der Bundesre­ publik Deutschland an. In dieser zweiten Welle der Frauenbewegung wurde nicht nur das politische Geschehen diskutiert und analysiert, sondern auch das Verhaltnis der Geschlechter zueinander. Das spiegelt sich auch sprachlich wi­ der. Es ist ein gesellschaftlicher Fortschritt, dass die Forderungen nach sprach­ licher Gleichberechtigung nicht mehr verstummen. Bis in die Sechzigerjahre des vorigen J ahrhunderts ist der Unterschied zwi­ schen dem grammatischen Genus im Deutschen (maskulin, feminin, neutrum) und den semantischen Merkmalen (weiblich und mannlich) kaum in Frage gestellt worden. Ende der 7oer un d Anfang der 8oer J ahre batte sieh jedoch in der poli ti­ schen Òffentlichkeit die Vorstellung bereits verbreitet, dass es zwischen herr­ schendem Sprachgebrauch und der Gleichbehandlung von Frauen und Mannern einen Zusammenhang gibt, d. h. , die Aufhebung der Diskriminierung von Frau­ en batte sich u. a. als sprachpolitisches Anliegen etabliert (Pankow 1998: 172). Die Feministinnen der 7oer J ahre, h eute auch vi el e ande re demokratisch gesinnte Frauen, kampfen noch immer fiir die Aufhebung der Frauendiskriminierung, die sich sowohl in der Sprache und im Sprechen (im sexistischen Sprechen) zeigt. Da­ mit soll auch die allgemeine Lebenssituation von Frauen qualitativ verbessert wer­ den. Zukiinftigen Generationen wird der Weg zur Gleichberechtigung erleichtert, was rechtlich und sprachlich im Biirgerlichen Gesetzbuch verankert wurde. So ist 1980 das Biirgerliche Gesetzbuch durch folgenden Paragrafen erganzt worden: «Der Arbeitgeber sol! einen Arbeitsplatz weder offentlich noch inner­ halb eines Betriebes nur fiir Manner oder nur fiir Frauen ausschreiben». Seit 1994 ist der Paragraf 6nb eine Mussvors chrift geworden (Gleichberechtigungs­ gesetz vom 24. }uni 1994): «Der Arbeitgeber dar/ einen Arbeitsplatz weder of­ fentlich noch innerhalb des Betriebes nur fiir Manner oder nur fiir Frauen aus ­ schreiben» (Eichhoff-Cyrus 2002: 333 ) . Vergleicht frau/man 2 Stellenausschreibungen in Zeitungen aus den 7oer Jahren mit den heutigen, so ist bei den Berufsbezeichnungen in den letzten Jah­ ren ein starker Wandel zu verzeichnen. Besonders bei typischen Mannerberu­ fen wie Dreher, Schlosser un d Techniker wurden feminine F ormen friiher ge­ mieden. Gesucht wurden vor dreiBig Jahren in der Regel nur Mitarbeiter. Heu­ te ist die ausschlieBlich maskuline Berufsbezeichnung eher die Ausnahme. Den Wandel der Sprache im Bereich weiblicher Berufsbezeichnungen weist Regina Wittemoller (1988) in einer Studie eindrucksvoll nach. Die mannliche Herrschaftssicherung funktioniert immer auch mit dem Ar­ gument, dass das vom Mannlichen Verschiedene, das andere also, defizitar sei.

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In der feministischen Theorie von heute erscheint das weibliche Sprechen positiv. Wenn die Sprache der Frauen in der Sicht der Manner mangelhaft erschien, so wurde sie von den Feministinnen nun einfach positiv gesehen. Die sogenannte Frauensprache war nicht nur die Sprache, die Frauen sprachen, sondern auch die den Frauen gemaBe Sprache. Die frauenpolitische Forderung nach nicht sexis­ tischem Sprachgebrauch solite dazu fuhren, dass von Frauen und Mannern die Gleichbehandlung auch im politischen Sinn gefordert wird. Neue, linguistisch begrundete Charakteristika einer Frauensprache sind in der Neuen Frauenbe­ wegung um 1975 ausfuhrlich diskutiert worden. Die Hypothesen aus dieser An­ fangsphase der linguistischen Frauenforschung zum Thema Sprache und Ge­ schlecht wurden von Mary Ritchie Key un d Robin Lakoff aus den USA aufgestelit. Beide Wissenschaftlerinnen begrundeten die feministische Sprachforschung mit. Senta Tromel-Plotz verbreitete als Erste die Hypothesen im deuts chspra­ chigen Raum und trug dann durch ihre eigenen Forschungen dazu bei, dass sich auch in Deutschland die Ansatze einer feministischen Sprachwissenschaft her­ ausbildeten (vgl. Samel 2ooo: 31). Es solite jetzt der weibliche Lebenszusammenhang, ein Schlagwort der Sieb­ zigerjahre, erkundet werden. Die Sprache, die die Frauen verwendeten, erwies sich als unzulanglich, um weibliche Belange auszudrucken. Es mussten neue Worter gefunden werden. Frauen fanden, dass sie von geselischaftlicher Ver­ antwortung und von Machtpositionen ausgeschlossen waren, da sie in der deut­ schen Sprache nicht vorkamen. Deshalb kritisierten feministische Linguistinnen wie Senta Trom el-Plotz un d Luise Pus eh seit den 7oer J ahren zweierlei: sowohl das Sprachsystem (n a eh de Saussure langue) mi t seinen Subsystemen Lexik (Wortbestand) und Grammatik und als auch den Sprachgebrauch (parole). Mitte der 7oer J ahre wurde sowohl in den USA als auch in der Bundesrepublik Deutschland das Thema Sprache und Geschlecht in der Frauenbewegung zentral. Die Frauen beschaftigten sich mit sexistischem Sprachgebrauch und mit ge­ schlechtsspezifischem Sprechen. Die Feministinnen beschaftigten sich mit Femi­ nistischer Linguistik. Sie suchten nach Moglichkeiten, auch innerhalb der Uni­ versitaten ii ber die sie betreffenden und sie interessierenden Themen zu forschen. Die Feministis che Linguistik hat in der Bundes republik Deutschland (West) zusammen mit der Neuen Frauenbewegung auf einen Mangel aufmerk­ sam gemacht: die soziale Benachteiligung der Frauen. Es handelt sich um eine recht junge wissenschaftliche Disziplin. Lei der ha t sie sich bis heu te no eh im­ mer mit fadenscheiniger Kritik auseinander zu setzen. Zu bemerken ist, dass die historischen Ereignisse un d gesellschaftlichen Pro­ zesse, die zu dieser sprachlichen Entwicklung gefuhrt haben, nur in der Bundes­ republik un d nicht in der damaligen DDR stattgefunden haben. Eine F rauenbe­ wegung wie in der Bundesrepublik hat es jenseits des "Eisernen Vorhangs " nicht gegeben. Es gab andere soziale und politische Voraussetzungen, die nicht diesen Sprachwandel einleiten konnten, und viele Frauen in der DDR fuhlten sich durch die maskulinen Sprachformen nicht diskriminiert, weil sie sich selbst nicht fur diskriminiert hielten. In den neuen Bundeslandern werden auch heu te noch weit­ aus haufiger als in den alten Bundeslandern die maskulinen Personenbezeich­ nungen bzw. , im gleichen Text, fur dieselbe Person sowohl das Femininum als

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auch das Maskulinum verwendet. Diese Art von Schwankungen und Unsicher­ heiten setzt si eh noch fort, wahrend in den alten Bundeslandern ein fortschrei­ tender Gebrauch der Beidnennung zu beobachten ist (Pankow 1998: 173) . Die erste Dekade feministisch-linguistischer Sprachforschung erbrachte die folgenden Beobachtungen: Der Wortschatz der Frauen umfasst iiberwiegend Worter, die mit ihrem spezifischen Arbeits- und Interessenbereich zu tun haben, also Kinderpflege, Haushalt, Mode usw. Frauen benutzen "leere" Adjektive, im Englischen z.B. devine, charming, chute (reizend oder sujS) . Frauen sprechen verniedlichend, um liebenswiirdig und emotional zu erscheinen ("weibliches Register" ) . Frauen bevorzugen die Frageintonation in Aussagesatzen und in Aufforde­ rungen, sie sprechen mit besonderer Betonung. Fiir Key bedeutet Frauensprache: indefinite und intensive style o/ speach. Dieser Sprechstil wirkt dadurch unsicher, dass Frauen beispielsweise mehr Riickversicherungsfragen (tag-questions) stellen als Manner, als einfach Aussa­ gen zu formulieren. Beispielsweise ein Aussagesatz und ein verkiirzter Fra­ gesatz: A shortened question added to declarative statements. He is coming to­ morrow, isn't he? (Br kommt doch morgen, oder?) Frauen verwenden haufig hed­ ges (Unscharfemarkierer) wie: I guess, I think, im Deutschen wiirde man sagen: irgendwie, oder so. Hiermit wird die Giiltigkeit einer Aussage eingeschrankt. Frauen wollen ihren niederen gesellschaftlichen Status aufwerten, indem sie hyperkorrekt sprechen. Frauen gebrauchen iiberhofliche Formen und weniger Schimpfworter als Manner. Das bedeutet: ein liebenswiirdiger Sprechstil fiihrt dazu, dass Frauen im Gesprach sich schlechter behaupten als Manner. Wenn Frauen ihre speziel­ le Frauensprache verwenden, werden sie in Gesprachen nicht ernst genommen. Um gehort zu werden, muss eine Frau reden wie ein Mann. Tut sie dies, wirkt sie mannlich, wird aber als Frau entwertet (vgl. Samel 2ooo: 34 f. ) . In europaischen Sprachen wie dem Deutschen, dem Englischen oder dem Franzosischen weisen nur Teile von Wortschatz, Stil oder Syntax Besonderheiten bei Sprecherinnen auf. Diese Sprachen werden als "geschlechtspraferentiell" bezeichnet. Diesen Ù berlegungen zufolge ist ebenso, wie wenn di e Existenz ei­ ner separaten Frauensprache angenommen wird, anscheinend das Geschlecht dafiir auss chlaggebend, dass es Unterschiede im Sprechen von Frauen und Mannern gibt. Geschlecht ist in diesem Sinne nicht biologisch, sondern sozial zu verstehen und beschreibt hier sozial erlernte und gepragte Verhaltensweisen. Fiir das Sprachverhalten der Frauen und Manner wurde die Bezeichnung gen­ derlect aus dem Amerikanischen iibernommen. Mit Forschungen iiber die Verbindungen von Sp rache, Geschlecht und Macht wurde der Feminismus in die Sprachwissenschaft hineingetragen. Es werden jetzt folgende F ragen gestellt: Wie werden Frauen von der Sprache behandelt? (Betrachtung des Sprach­ systems) Wie werden Frauen von den Sprecherinnen und Sprechern behandelt? (Be­ trachtung des Sprachgebrauchs )

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Inwieweit entsprechen Frauen den sprachlichen und kommunikativen Er­ wartungen an sie? (Betrachtung von Interaktionen) . Unter dem Einfluss der Frauenbewegung Hisst sich i n zahlreichen patriar­ chalischen Sprachgemeinschaften Sprachwandel nachweisen (Hellinger 1985) . Lange Zeit war man iiber die Feststellung unterschiedlicher Vokabularien der Manner- und Frauensprache nicht hinausgekommen. Erst im Gefolge der Dis­ kussion um die Situation der Frau in der Gesellschaft haben sich systematische Fragen n a eh einer geschlechtergerechten Sprache entwickelt. Eine Grundkritik innerhalb der feministischen Sprachreflexion ist die Kri­ tik am androzentrischen Sprachgebrauch (griech. andros >Mann> finden, wie im Satz Alles was der Bau bedar/ (Gli.ick l Sauer I990: 55). Dieser Ù bergriff ist keine aktuelle Tendenz. Man fin d et ahnliche Beispiele bei Goethe (Was ich bedari ist uberall zu haben) ,

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Holderlin (Empedokles: Wei/5t du, was ich bedar/? ) , Bettina von Arnim (Ich wei/5, was ich bedar/1) , Wagner (ich, was ich bedari dann /inden) , Droste-Huls­ hoff (was ich bedar.i des hab' ich genugend noch ) . Der schwankende Kasus ist auch bei regierenden Pdipositionen z u beob­ achten. Solche Unsicherheit gibt es in der Tat oft in der gepflegten Schrift­ sprache selbst. Nach bis zu solite ein Dativ kommen, aber mit dem Nomen ]ahr herrscht Unsicherheit: bis zu ein Jahr Ha/t (de.yahoo. com, 4· September 2002) ; Die Inkubationszeit kann bis zu 30 Jahre betragen (Neue Ruhr Zeitung 9 · Marz 2ooo: 7). Wegen und wti'hrend konnen den Genitiv oder den Dativ regieren. Letzterer wird oft als umgangssprachlich oder regional gefarbt (suddeutsch) angesehen. Trotzdem finden sich in literarischen Texten zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass dieses Schwanken nicht bloB zur aktuellen Umgangssprache gehort: wegen mit Dativ fin d et si eh bei Bettina von Arnim (wegen de m + Gold/Wetter/Tanz) , Brentano (wegen dem schonen, reinen und richtigen Deutsch, das du sprichst) , Fontane (wegen dem ewigen Lug und Trug) , Hebel (wegen dem hitzigen Bier) und vielen anderen mehr. Mit Recht kann also Stefan Effenberg behaupten: Br [Matthaus] ist ein Verpisser. Wegen ihm haben wir das Finale verloren (Bild 2. Mai 2003: 8 ) . Wiih rend mit Dativ verwenden Brentano (wà'hrend dem Essen ) , Goethe (wà'hrend dem Spie!), Heine (wà'hrend dem ganzen Mittelalter) , Stifter (wiihrend dem Essen) , Storm (wà'hrend dem Fahren) , Tieck (wti'hrend dem Ballet) , Wie­ land (wà'hrend dem Lau/ dieses Handels), um nur einige Beispiele zu nennen. Fur den Dativgebrauch nach wà'hrend kann es aber auch einen stilistischen Grund geben, wenn es gilt, das Vorkommen von zwei aufeinander folgenden Genitiven zu vermeiden (wà'h rend dem Lau/e des Jahrhunderts, Goethe) (Deut­ sche Literatur I998) . In Presse- und Internettexten finden sich weitere Formulierungen, die in schriftlichen Texten des Alltags kaum akzeptiert wurden: Au/ der Suche nach ei­ nen guten Zeltplatz (yukonhelmut. de, am 20. Dezember 2002); Nach einen Klick darau/ werden die neuesten 300 Beitrà'ge automatisch von Outlook gedownloaded (gcf.de/start.php?show=newsgroup, am I O . November 2002) . Die "Verwechs­ lung" von Akkusativ und Dativ bei Prapositionen wird oft auf einen dialektalen bzw. regionalen Einfluss zuruckgefuhrt, wie in den folgenden Beispielen: "Be­ stimmt A rger mit die Weiber"/ Grammatikalisch /alsch, inhaltlich ausgezeichnet. (A rger mit die Weiber von ]an Schian, in www.kurzgeschichten.de). In vielen Fallen a ber ist die Verwechslung bloB ein Zeichen dafur, dass der Kasus uberflussig wird, weil die Praposition selbst in der Lage ist, die syntak­ tische Relation zu kennzeichnen. Die Kasuswahl ve rlangt unnotigen Auf­ wand, weil der Kasus als arbitrar empfunden wird. So kann eine beliebige En­ dung eingefugt werden. Der Dativ kann an die Stelle des Akkusativs treten: Die /olgende Beschreibung des Gebietes bezieht sich au/ der Arbeit von Fursich & Werner (diejulia. de/diplomarbeit/material, am Io. November 2002) ; Denn sie sollen [. .] zwischen 20 und 50 Jahre alt sein (Express 2. Marz 2ooo : 22) . Fol­ gendes Beispiel zeigt den Ù bergang vom Akkusativ zum Dativ: Die Reaktion der Polizei [. .] beschrti'nkt sich au/ der Absperrung der Zu/ahrtsstra/5en zum Fluchtlingsheim, dem Verbot /ur die Fluchtlinge, das Haus zu verlassen, un d ei.

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ne fast luckenlos gefàlschtte [sic] Berichterstattung in den Medien (telegraph 199217: 26) . Auch der Genitiv kann den Dativ ersetzen: [. . .] entgegen anderslautender Pressemitteilungen [. ] (telegraph 1992/7: 26-7 ) . Appositionen erscheinen oft im unmarkierten Nominativ: Wir beobachten [. .], dass von 20 ]ugendlichen (Deutsche un d Auslà'n der) nur zwei einen Fahr­ schein entwerten (Express 2. Marz 2ooo: 22); ab nach London - die Stadt, die nie­ mals schlà/t (Bild L Juli 2003: 10). Die unauffallige Tendenz zur Nominativierung spielt in der Tat eine wesentliche Rolle beim Kasusverlust (Polenz 1999: 345). Was die Artikelflexion betrifft, so kann in einer Koordination von Dativ-Er­ ganzungen der Artikel in der zweiten Konstituente die en-Endung: Nein, nicht die Nachbarn, sondern Haberl-Catering mit einem tollen kalten Buffet und einem Getrà'nkekorb [. . .] (tz 16. Februar 2ooo). . .

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4·3· Kommen wir jetzt zum dritten Fall: Der Kasus wird durch eine konkurrie­ rende Struktur ersetzt und der lexikalische Bestand des Satzes kann auch mo­ difiziert werden. Diese Umstrukturierungsprozesse betreffen vor allem den Ge­ nitiv, der ja mehr syntaktische Funktionen hat als die anderen Kasus. Es wird oft behauptet, der Genitiv werde im heutigen Deutsch immer weniger gebraucht. Diese Behauptung muss dahin prazisiert werden, dass die verschiedenen Ver­ wendungsweisen mit in Betracht kommen. Gut erhalten hat sich in der Tat die Verwendung des Genitivs zur Kennzeichnung des substantivischen Attributs (Eisenberg 1999: 33). Aber das Genitiv-Objekt, das von einem Verb oder von ei­ nem Adjektiv regiert werden kann, wird haufig durch Prapositionalgefiige er­ setzt, besonders in der Umgangssprache. Wo er noch gebraucht werden kann, hat er in der Regel einen hohen Stilwert. Nach Heringer kann dieser (( Genitiv­ ersatz " durch eine grammatische Entwicklung erklart werden. Der Ersatz «schafft bei einigen Verben Varianten» (Heringer 1989: 123 ) . Er nennt folgende Beispiele: Wir erinnernlentsinnen uns dessen - wir erinnernlentsinnen uns dar­ an; er besinnt sich seiner Kraft - er besinnt sich auf seine Kraft; sie spotten ihrer - sie spotten uber sie; er klagt ihn des Diebstahls an - er klagt ihn wegen Dieb­ stahl an. Da die Verben und Adjektive, die den Genitiv regieren (konnen) , auch in der Regel zu einer gehobenen Stilschicht gehoren, werden in der Umgangsspra­ che oft andere Verben bzw. Adjektive gebraucht, die eine gleiche oder eine ahn­ liche Bedeutung haben und den Akkusativ oder ein Prapositionalobjekt regie­ ren. Beispiele sind: sich um den Kranken kummern statt sich des Kranken an­ nehmen; eine Methode benutzen/anwenden statt sich einer Methode bedienen ; ei­ ner Sache wurdig sein statt eine Sache verdienen; und viele andere mehr. Die Adverbialbestimmung im Genitiv («freier Genitiv>> bei Heringer 1989) ist in vielen festen Formen erhalten (eines Tages, unverrichteter Dinge) , «die zwar nicht sehr haufig vorkommen, bei denen aber keine Gefahrdung durch kon­ kurrierende Kasusbindungen erkennbar ist>> (Gliick l Sauer 1990: 58). Man kann im Geschriebenen noch zahlreiche freie Genitive mit modaler Bedeutung fin­ den: Real hat erhobenen Hauptes verloren (Express 2. Marz 2ooo: rs); Konflikte bisher nicht gekannten Ausmaf!,es (de.yahoo. com, 17. September 2002) . Bei No-

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minalphrasen, die eine Sprechereinstellung (Meinung, Laune) oder Ursprung bzw. Alter bezeichnen, ist ein Genitiv mit priidikativer Funktion recht fest, z.B. !eh bin nicht deiner Meinung, Wir sind der Ansicht, der Uberzeugung [dass. . . ], Sie waren guter Laune. Es handelt sich meistens um lexikalisierte Formulierungen. Andere feste Wendungen sind Satzadverbiale, wie meines Wissens, unseres Er­ achtens, die sich auf den ganzen Satzinhalt beziehen. 4·4· Wahrend der Genitiv in anderen Funktionen eine beschrankte Rolle spielt un d stilistisch oft stark markiert ist (gehoben bzw. veraltet klingt) , ist er in der attributiven Funktion heute noch recht gewohnlich und auch in der Umgangs­ sprache gebrauchlich. Das Genitivattribut - der ein Satzgliedteil, also kein Satzglied ist (Helbig l Buscha 1986: 292) - kommt in der Regel nach dem regierenden Substantiv: Die Reise des Kaisers, der Freund meiner Schwester. Es wird oft behauptet, sie wiir­ den «in der Umgangssprache selten verwendet. Statt dessen wird meist die Kon­ struktion von + Dativ gebraucht: die Platten von meiner Freundin (statt: die Pfat­ ten meiner Freundin)» (Hentschel l Weydt 1994: 156) . Anders verhalt es sich in Fachtexten: «In Verwaltungs-, Juristen- und Hochschuldeutsch haben Genitiv­ attribute Hochkonjunktur» (Gliick l Sauer 1990: 55). Vorangestellte Genitivattribute mit Artikel sind stilistisch markiert (in des Wortes wahrster Bedeutung) oder sie sind Teil einer festen Wendung: Des Teufels Genera! (Buchtitel ) , des Pudels Kern (Faust) , Was ist der langen Rede kurzer Sinn ? (Redensart) . Sie kommen nicht sehr haufig vor, aber man findet sie nicht selten in Pressetexten: Aber unsere letzte LP war auch nicht der Weis­ heit letzter Schluss (Musikexpress 2oo2ho) . In einigen Fallen wird die Voran­ stellung benutzt, um eine nachgetragene Information mit ihrem Bezugswort zu verketten: Nur 6 Schusse au/ des Gegners Tar (I4 von Bielefeld) (Bild 3 · Fe­ b ruar 2003) . Bei Eigennamen werden Genitivattribute gewohnlich vorangestellt, wahrend ihre Nachstellung archaisch wirkt (Hentschel l Weydt 1 9 94 : 157) : Werders Attacken zu harmlos (Bild 3· Februar 2003); Bushs A rger mit Blix; Israels Vertei­ digungsminister (Die Welt 28. ] anuar 2003) . Auf gleiche Weise verhalt es sich bei gewissen Verwandschaftsbezeichnungen, die ebenfalls als Eigennamen ge­ braucht werden (Omas Faschingskostum, tz 16. Februar 2ooo). Diese letzte Ver­ wendung ist heute in der Pressesprache sehr haufig. 5

Schlussbemerkungen

Die Sprachstruktur ist an vielen Stellen ihrer Organisation durch Redundanz charakterisiert. Eine Kategorie kann ubercharakterisiert sein, d . h . sie kann gleichzeitig durch verschiedene Elemente gekennzeichnet werden. Eine gewis ­ se Redundanz ist pragmatisch motiviert, da sie dazu beitragt, eine Information auf optimale Weise zu empfangen und zu verarbeiten. Eine Kasus-Markierung ist oft iibercharakterisiert, da die Kategorie sowohl am Artikel undloder am Adjektiv als auch am Nomen erkennbar ist. Fehlt die

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Redundanz, kann die Markierung beim Nomen verstarkt werden (die Jungens, die Mà'dels, die Wurstchenverkà'u/ers usw. ) . Oder die Endung beim Nomen kann weggelassen werden, d.h. die Redundanz wird reduziert. Dieser F all kann da­ durch erklart werden, dass die Elemente, die die Nominalphrase eroffnen, zur O bertragung der betreffenden Information hinreichend sind. Die Substitution eines Kasus durch einen anderen wurde darauf zuriickge­ fiihrt (Schmitz 2ooo), dass Morpheme allmahlich ihre Funktion verlieren. Dies ist aber moglich, wenn die Funktion selbst iiberfliissig wird. Dass bestehen au/ einen Dativ verlangt, ist arbitrar (im Sinne Saussures) und kann unter dem prag­ matisch-informationellen Aspekt irrelevant sein. So kann ein Akkusativ vor­ kommen, ohne dass die Information verloren geht. Ware der Dativ motiviert, wiirde die Substitution einen Informationswechsel oder einen Verlust an Infor­ mation bewirken, was in einem Beispiel wie Wir bestehen auf eine solide Vorbe­ reitung (Schmitz 2ooo: 91) nicht der Fall ist. Dagegen kann die Substitution eines Kasus durch andere Mittel, wie z.B. ein Prapositionalgefiige, unterschiedlich erklart werden. Zum einen kann der Ka­ sus als nicht hinreichend empfunden werden, eine Funktion zu kennzeichnen. Zum anderen kann seine Verwendung einen zu hohen Aufwand an Informatio­ nen iiber die Sprachstruktur erfordern. So wird eine konkurrierende Struktur bevorzugt, die leicht benutzt und erkannt werden kann. Literatur

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S andra M. Moraldo

Medialitat und Sprache . Zur Verlagerung von Sprachkommunikation auf Datentransfer am Beispiel von SMS und eMail

Einleitung

Mit dem Ù bergang von der industriellen zur Informations- und Kommunikati­ onsgesellschaft haben insbesondere zwei Produkte wesentlich zur Veranderung der klassischen Mediakonstellationen mit ihren etablierten Kommunikations­ kanalen beigetragen: der Computer und das Handy. Auf dem Highway ins mul­ timediale Zeitalter hat der Computer etwa im Vergleich zum Fernsehen die Moglichkeit, «nicht nur ausstrahlend arbeiten zu konnen, wie im Falle d es In­ ternet, sondern auch dialogis ch, etwa fur E-Mail-Austausch» (Holly 1 9 9 7 : 68) . Eine weitere Ausgeburt der Multimedialitat ist der Trend zur mobilen Kommu­ nikation. Wie Internet und eMail wurde auf diesem Wege auch das Handy in kurzester Zeit zu einem der beliebtesten Medien der Massen. Im Vergleich zum Festnetztelefon hat das Handy keine raumlichen und zeitlichen Beschrankun­ gen: Man ist zu jeder Zeit an jedem Ort erreichbar (von den gelegentlichen Emp­ fangsproblemen einmal abgesehen) . Doch weniger seine eigentliche Funktion, das Telefona!, als vielmehr das Verschicken und Empfangen textbasierter Kurz­ nachrichten, so genannter SMS, hat das Handy zu einem unerlasslichen Instru­ ment in der Alltagskommunikation werden lassen. Mit den wachsenden technischen Moglichkeiten sehen die Anbieter ein groBes Potenziai, der Generation @ und der Generation SMS neue Wege des mit­ einander Kommunizierens zu eroffnen. Allerdings wartet das mobile Internet trotz der Erhohung der Datenubertragungsraten, der zunehmenden Konver­ genz der Kommunikationsmedien und der Weiterentwicklung der drahtlosen Ù bertragungstechniken immer noch auf den endgultigen Durchbruch, auch wenn leistungsfahigere Produkte wie die so genannten Smartphones schon jetzt dank einer speziellen Software u.a. in der Lage sind, eMails zu lesen und zu ver­ schicken. Was aber bisher nur die Ausnahme ist, wird sich wohl bald als Stan­ dard etablieren. Und wenn die !T-Branche in der Kombination von Internet und Mobilfunk den Schlussel zur ErschlielSung des Massenmarktes mobiler Inter­ netdienste sieht, gehort neben dem Computer sicherlich dem Handy als multi­ mediales Kommunikationsgerat die Zukunft. Oh nun computergestutzt und/oder mobil: eMail und SMS sind zwei Vari­ anten digitaler Schriftlichkeit, die althergebrachte Kommunikationspraktiken regelrecht revolutioniert haben. Der vorliegende Beitrag setzt sich mit diesen beiden medialen Kommunikationsformen auseinander.

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SANDRO M. M ORALDO

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Short Message Service Short Message Service ist eine zeitversetzte, asynchrone Kommunikationsform und Dienstleistung, bei der schriftliche Botschaften iibers Handy an jeden belie­ bigen Netzteilnehmer getextet und verschickt werden konnen. Zwischen Absen­ dung und Zugang vergeht in der Regel nur eine kurze Zeitspanne. Die Abwick­ lung der Textkorrespondenz iibernimmt die Kurznachrichtenzentrale des jewei­ ligen Mobilfunkanbieters. Das bedeutet, dass auch bei abgeschaltetem Handy eingehende Nachrichten gespeichert und zugestellt werden. Eine Tastatur mit mehrfach belegten Ziffern- und Zusatztasten ermoglicht das Abfassen von eige­ nen Mitteilungen. Sofern das Handy keine Texteingabe-Hilfe (z.B. T9) hat, wer­ den durch geschicktes (manchmal aber auch mi.ihsames) Eintippen Buchstaben und Sonderzeichen miteinander kombiniert; auf dem Display erscheint dann die zu i.ibermittelnde N achricht. O berschreitet - was haufig vorkommt - die Lange der Textbotschaft die vorhandene DisplaygroBe, erscheint nur ein Teil der Nach­ richt; dies fi.ihrt zum haufigen Wechseln der Bildschirmansicht. Um die Ù ber­ sendung der kurzen Textnachricht auch sprachlich auf den Begriff zu bringen, war man mit Neubildungen wie simsen (fi.ir Deutschland), simseln (die schwei­ zerdeutsche Varietat; Wurzenberger 2ooo) oder gar smsen (in O sterreich; Ortner 2002: 205) schnell bei der Hand. 2oor fiel gar bei der Gesellscha/t /ur deutsche Sprache die Wahi zu einem der W orter des J ahres auf simsen . Dennoch ha t si eh fiir das Abfassen und Verschicken der kurzen und pragnanten Informationen, die eine maximale Textlange von r6o Zeichen (inkl. Leerzeichen) nicht i.iberschrei­ ten diirfen, will man nicht eine zweite N achricht hinterherschicken, keines die­ ser Verben durchsetzen konnen. Im Allgemeinen "schickt" oder "schreibt" man "eine SMS " , auch wenn das semantisch nicht korrekt ist. r.r. Mediai- und sozial-kommunikative Funktionen Ersten Untersuchungen zufolge liegt der haufigste Gebrauch und Einsatz von SMS im privaten Bereich. Oh mit Freunden, Bekannten oder Familienangehori­

gen. Nichts ist so selbstverstandlich wie der Austausch kurzer Nachrichten um Verarbredungen zu treffen oder zu bestatigen, nach dem personlichen Wohler­ gehen zu fragen, oder einfach nur um Alltagliches auszutauschen. Hoflich l Ross­ ler (2ooo) kamen bei ihrer kommunikationswissenschaftlichen Studie zur SMS­ NutzungJ ugendlicher zu dem Ergebnis , dass sich die Nutzungsdimensionen auf fi.inf Motive reduzieren lassen: «Zentrales Nutzungsmotiv ist [ . . . ] die gegensei­ tige Ruckversicherung - zu erfahren, was die Freunde oder der Partner machen und oh es ihnen gut geht bzw. selbst mitzuteilen, was man macht und wie es ei­ nem geht. Am zweitwichtigsten ist die allgemeine Kontaktp/lege: man verabre­ det sich oder schickt Mitteilungen um ihrer selbst willen, einfach weil es SpaB macht, und schickt SMS an Leute, die man gerade nicht personlich treffen kann oder mit denen man in der Situation nicht telefonieren kann. Fast gleichbedeu­ tend ist die Ver/ugbarkeit des Mediums, beispielsweise in N otsituationen, ge­ paart mit der standigen Erreichbarkeit. Bereits deutlich weniger relevant sind

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Aspekte der Lebenshil/e, z.B. das gegenseitige Rat geben oder die Bindung an die Freunde in dem Wissen, dass ande re Leute an einen denken». Las t but not least nannten Jugendliche " den Nutz-SpaB an SMS " , sprich: «das auprobieren der Technik, Informationsabruf und das Vertreiben von Langeweile» (15). Ziel­ gruppenorientiert lassen sich des Weiteren Angebote wie Sport-, Entertain­ ment, Borsen-, Kino-, Horoskop-, Wetter-, Verkehrs- u.a. News per SMS direkt aufs Handy schicken. Wer sich weiterhin mit einer einfachen Textnachricht nicht zufrieden geben mochte, kann per Zeichensatz generierte Motive (Bilder etc. ) verschicken, was bei feierlichen Gelegenheiten sehr reizvoll sein kann. Da die Anspriiche an das mobile Telefon immer vielfaltiger werden, ist es wohl nur eine Frage der Zeit (und der Preispolitik) , bis der UMTS-Standard MMS (Multimedia Messaging Service) sich definitiv durchsetzen wird. In der Vergan­ genheit haben sich einige Mobilfunkunternehmen auf eine Zusammenarbeit an dem Standard EMS (Enhanced Messaging Service) fiir Kurznachrichten einigen konnen, allerdings mit ma.Bigem Erfolg. Als Zwischenschritt auf dem Weg zur multimedialen Aufrustung gedacht, nutzt EMS die gleiche Infrastruktur wie SMS. Der multimedial erweiterte Nachfolger ubertragt zusatzlich zur schlichten Gra­ fik einer herkommichen SMS auch Bilder, Ruftone, Melodien etc. Dass wieder­ um bei MMS u.a. die 16o-Zeichen-Begrenzung entfallt, Interoperabilitat gewahr­ leistet wird, hochwertige Farbbilder oder gar ganze Datenpakete verschickt werden konnen, andert nichts an der Tatsache, dass wohl die Kostenfrage gera­ de bei der herausragenden Nutzergruppe der Jugendlichen iiber Erfolg oder Misserfolg dieses neuen Standards mit entscheiden wird. 1.2. Sprachlich-kommunikative Merkmale Optisch un d grafisch sin d Textnachrichten wie A: Hi [. .].' Bin gut angekommen. War schon der Ab end. Seh n uns bald .,-:ho/f. Gute N8.' - B: Der A ben d hat mir auch gut ge/allen:-) aber muss jetzt Gliiser spulen:-1. Dir auch gN8 u bis bald.' (Moral­ do 2003) keine Seltenheit. Was auf den ersten Blick wie der Code einer neuen Sprache aussieht, ist letztlich nur ein Beispiel fur einen typischen SMS-Dialog. Die sprechsituative Konstellation (Franke 1990: 9) von zwei 2 Kommunikati­ onspartnern ist dabei zumeist die Regel. In der Mehrheit der Falle handelt es sich wie in diesem Beispiel um so genannte Paarsequenzen, d.h. zweigliedrige, kommunikativ-funktional definierte Sequenzen, die jeweils aus einem initiie­ renden un d einem respondierenden (reaktiven) Gesprachsschritt bestehen (Ter­ minologie nach Brinker l Sager 2001: 8o ff. ; Schwitalla 2002: 48) . Mehrgliedrige Sequenzen sind allerdings auch moglich, wie z.B. folgende Verabredung unter Schulern: AI: Hz� was geht? Hast du heut abend Zeit? MB - BI: ]a. Tre/fen uns um I9h. Was trinken gehen ? HDL - A 2 : OK. I9h Bistro. bs. HDAL (Moraldo 2003 ) In den aufgefuhrten Beispielen fallen insbesondere syntaktische und lexikalische Reduktionen auf. Oh nun auf der Basis einer Analyse von Einzeltexten (Ger­ hardinger 2ooo; Schlobinski et al. 2001; Doring 2oo2a, 2oo2b; Diirscheid 2002; Moraldo 2002; Schwitalla 2002) oder der exemplaris chen Untersuchung zu gruppeninterner SMS-Kommunikation (Androutsopoulos l Schmidt 2002): Aus­ wertungen von SMS-Korpora widerlegen die allgemeine Ansicht, die technisch.

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okonomischen Bedingungen allein seien der Grund solch komprimierter Nach­ richten. Gerhardinger kam z.B. bei der Auswertung ihrer Beispiele zu dem Er­ gebnis, dass eine SMS aus durchschnittlich n,o6 Wortern und 65,62 Zeichen be­ steht (2ooo: 27) . Die Bandbreite der r6o-Zeichen wird also nicht ausgereizt. Ei­ gene Auswertungen (13 ,46 Worter, Moraldo 2003) weichen nur geringfiigig von diesem Ergebnis ab und scheinen somit zu bestatigen, dass neben mediai be­ dingter Ò konomisierung sicherlich weitere Faktoren, u.a. Zeitdruck und um­ standliches Eintippen der Nachricht, als Grund fiir die Text-Kiirze zu veran­ schlagen sind. r.2.r. Schreibung Die Kommunikationsform SMS weist schriftliche Charakteristiken auf, die von der kodifizierten Orthographie bis zur konsequenten GroB- oder Klein­ schreibung reichen, wobei auch Mischformen wie satzinitiale (Lieg auch be­ reits im bett. A lle zu hause. Umso /ruher kann ma n morgen mit dem lernen an­ /angen. Aber wenn das wetter so bleibt leg i mich sowieso i d park. Nacht) oder pa rtielle GroBschreibung (H i R . .'HEUTE KEIN ORFF.' .'.' .'Herr R. Ist irgend­ wie nicht da.' Wir mussen mal gegeneinander Fita spielen. Ich zieh dich soooo ab.' ; Schlobinski et al. 2oor: 8) auftreten konnen. Das Abweichen von der

Norm hat mehrere Griinde. Zum einen erlauben bestimmte Gerate nur die Gro.Bschreibung. Weiterhin ist die Umstellung von Klein- auf Gro.Bschrei­ bung (zeit)aufwendig , so dass die einmal gewahlte Einstellung beibehalten wird (h i vania) gehst du h eu te ins maxkade ?ich versuche nachher rein zu kom­ men.' schone grusse.'chris; Moraldo 2002: 1 57) . Letztlich hat die Schreibweise einzelner Satze, Worter oder Abkiirzungen wie HDL (Hab Dich Lieb) oder MB (Mail Back) im oben genannten Beispiel graphostilistischen Wert: Sie unter­ streicht entweder die Wichtigkeit einer Aussage, Aufforderung etc. oder mar­ kiert emotionale Zustande. Ein weiteres Kennzeichen textbasierter Kurznachrichten ist schlieBlich die mit Zeit- oder Platzgriinden zu erklarende Tilgung des Leerzeichens. Wahrend bei einem Satzzeichen die Wortgrenze klar markiert ist und das fehlende Spati­ um keine Auswirkungen auf die Lesbarkeit der Nachricht hat, konnen bei syn­ taktischen Konstruktionen die Wortiibergange durch Majuskeln hervorgeho­ ben werden (GrujSGott.'SindNochimSchonstenBayern .'Schatz)nBayernFindest­ Dukein en Traum ma n n.'AberMorgenF ruh Geh tsLos&Glaubuns WirWerdenNich­ WiederKommen Ohn e UnsereMissionEr/ulltZuHaben .'LD; Schlobinski et al.

2oor: 9 ) . Dieser pragmatische Gebrauch von GroBbuchstaben, der stark an di e Binnenmajuskel erinnert, «(markiert) die Lesbarkeit durch (hier nicht einheitli­ che) WortgroBschreibung» (ebd. ). Auch bei der normgerechten Setzung des Satzzeichens gibt es manchmal Abweichungen. Schlobinsiki et al. kommen bei ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass in 64,4% der Falle die normgerech­ te Zeichensetzung respektiert wird. Nur «in einem Dritte! aller Falle wird vom standardisierten Satzzeichengebrauch abgewichen» und lediglich roo/o der Sim­ ser «verzichten vollig auf eine Zeichensetzung» (ebd. ) .

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r.2.2. Graphostilistik Bei der Benutzung von GroBbuchstaben zur Emphatisierung von Ausdriicken und Gemiitszusùinden oder zur Markierung von Wortiibergangen wurde schon auf zwei wichtige Aspekte typographischer Textgestaltung von Kurz­ nachrichten hingewiesen. Smileys, Bixies, Iterationen, Inflektive und Asteris­ ke sind weitere wichtige graphostilistische Gestaltungsmittel, um expressive Spre chhan dlungen auf den Punkt zu b ringen. Piktographisch und/oder sprachlich lassen sich mi t deren Hilfe die verschiedensten Stimmungslagen re­ produzieren. Das z.B. aus dem Internet bekannte Lachgesicht, der Smiley, wegen der mit ihm konnotierten Gefiihlsregungen auch Emoticon (Kunstwort zu Emoti­ on Gemiitsbewegung, Emotion und !con Bild) genannt, lasst dank seiner vielfachen grafischen Zeichenkombinationen aus Punkt, Doppelpunkt, Semi­ kolon, Komma, Strich etc. die unterschiedlichsten stilisierten Gesichter zu. Dennoch iiberwiegt in der Mehrheit der Falle der klassis che Smiley : - ) , oder dessen emphatische Variante mit iterierter Zeichenkomponente : - ) ) ) . Meist in fi­ naler Position und mit einer Verabschiedungssequenz kombiniert (hi Susse.'Du =

=

bist sooo . . . lieb.' Wunsch Dir eine gute Fahrt und schone Tage daheim.' . . . und /reu mich schonjetzt au/Mittwoch .'HDL.':- ) ; Moraldo 2002: 163 ) , driickt es gute Laune

aus . Als «kiirzeste Form der Pradikation» werden in den SMS -Textnachrichten weiterhin so genannte Inflektive, d.h. auf Verbstamme reduzierte Formen wie wir sie aus Comics kennen, «als eine geeignete sprachliche Kodierung spezifischer Inhalte genutzt» (Schlobinski 2001: 205). Bei der Form " froi" in folgendem Beispiel: A: Was geht heut abend? Mal wieder SMC [Schwimmbadmusikclub] ? B: kA. Muss noch mal schauen, die [. . .] wol!t mit mir ins Kino .;froi''� aber wenn das nicht klappt, kon nen wir ins SMC. c ya (Moraldo 2003 ) han delt es sich um solch einen Inflektiv, der «in Analogie zur Textfunktion in den Comics» die Aufgabe iibernimmt, «ein spezifisches erzahltes Ereignis "bildlich" ZU repro­ duzieren» (Schlobinski 2001: 205 f. ) . Zusatzlich fallt zum einen die phonetische Schreibung auf. Dass der Lautcharakter hier buchstabengetreu wiedergegeben wird, ha t wohl rein scherzhafte Griinde. Zum anderen wird der Inflektiv typo­ graphisch - in Analogie zur Internetkommunikation - mit zwei Asterisken kombiniert. Die Sternchen fungieren als «Emulation einer Gedankenblase» (Haase et al. 1997: 78) und konnen inhaltlich mit Inflektiven oder einzelnen Buchstaben (z.B. : 'rg* fiir grins oder dessen Variante *fg'r fiir /rech grins) auf­ gefiillt werden, um dadurch bestimmte seelische Verfassungen und Dispositio­ nen auszudriicken. Auf ikonographischer Ebene gibt es dann noch die Bixies , «kleine Bilder aus ASCII-Zeichen, die als Erganzung zu den Textmitteilungen verschiedene Gegenstande darstellen konnen, z.B. ein Herz ->-- (A: @->- hier ist eine Rose /ur dich. Heute ins Kino? hdlfiue [hab dich lieb fiir immer und ewig] - B: Danke /ur die Blu me. Kino muss aber leider aus/allen. Meine Eltern erlauben es mir nicht. .;grr'': eu; Moraldo 2003) . Bixies kommen allerdings recht selten vor.

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1.2.3. Syntaktische Merkmale Das Repertoire der sprachlichen Verdichtung von Kurznachrichten reicht von pragmatischer Notwendigkeit (z.B. Ellipsen, Abki.irzungen) bis zu verspielter Kreativitat (z.B. Bixies) . Auf syntaktischer Ebene ist der Hang zur Parataxe festzustellen. Selten kommt es zu Nebensatzkonstruktionen. Bei den paratak­ tischen Konstruktionen sind dann wiederum eine Reihe von Kurzformen auf­ fallig, die exemplarisch fi.ir den SMS-Austausch unter Jugendlichen sind und dem schriftsprachlichen O konomieprinzip entsprechen. Neben dem Wegfall des Subjektpronomens ( [JCH] FAND)S A UCH S. SCH ON; Schlobinski et al. 2oor: 2r) und des dazugehorigen Verbs (Streik- [ich habe] keine ahnung . . . Was wollte die ag. wissen ?Foto ?; Moraldo 2003) oder des Artikels ( [der] A rztbesuch [war] er/olgreich. [!eh ] Hab ne Pilzin/ektion; Schwitalla 2002: 47) gehoren als weitere syntaktische Reduktionen die Tilgung von Prapositionen ( [Wir] sitzen [im] Park) trinken Ka//ee; Androutsopoulos l Schmidt 2002: 67) und von Ko­ pula-, Hilfs- und Modalverb (Hi Du.' .' Marco hier.' .' Mir haben se das Handy erst­ mal abgeklemmt weil [die] Rechnung nicht bezahlt [wurde] ; Doring 2oo2b: ro5) zu den Kennzeichen der Anordnung des sprachlichen Materials. Nicht zuletzt entspricht die sprachliche Knappheit einzelner SMS dem Telegrammstil, d.h. : vereinfachte syntaktische Strukturen, bei denen Funktionsworter und Flexi­ onsformen fehlen, oder gleich mehrere Satzglieder weggelassen werden. Man konzentriert den Informationskern auf das Wesentlichste (Ih gespielt) Bayern harmlos; Androutsopoulos l Schmidt 2002: 67 oder Ciao bella.'morgen essen (acht) ?grufl; Moraldo 2003) . Nicht zuletzt erklaren sich Ellipsen aus «der un­ mittelbaren Folge eines responsiven Zuges», da sie «auf der syntaktischen Struktur der empfangenen Botschaft beruhen» ( Schwitalla 2002: 49 ) . Ge­ sprachsworter und -formeln wie z.B. na, okay, lago , ich auch , warum nicht, nalalles klar etc. (Schwitalla ebd. ; Androutsopoulos l Schmidt 2002: 67; Ar: Wann /lihrst du einkau/en ? Dar/ ich mit? B 1 : logo. um I8.3o bei mir. wolf kommt auch mit A 2 : ok) danke.'bis dan n / ; Moraldo 2003) kni.ipfen dann an den gemein­ sam vorangehenden Kontext an. Insgesamt betrachtet unterstreichen syntakti­ sche Reduktionen «bei medialer Schriftlichkeit Informalitat, Vetrautheit und Nahe» (Doring 2oo2b: no). 1. 2.4. Lexikalische Reduktionen Im Vergleich zu syntaktischen Reduktionen «ist der Einspareffekt bei lexikali­ schen Reduktionen gro.Ber» (Doring 2oo2b: ro8) . Letztere Phanomene sin d z.B. standardisierte Abki.irzungen wie etwa usw. etc.) ca ., ok, konventionelle Kurz­ formen fi.ir Wochentage, Uhrzeit und Stadtenamen (nach dem Autokennzei­ chen-Prinzip) und Buchstaben-Akronyme in Abschiedsformeln (hdl [hab dich lieb] und deren Varianten, etwa hdgdl [hab dich ganz doll lieb ] , lg [liebe Gri.i.Be] eu [see you] , m/g [mit freundlichen Gru.Ben] usw. ) . Nicht zuletzt kommt es ver­ starkt zu ad-hoc-Abkurzungen (A: Hi du.' Kannst du mir mal die email-adresse von d. [der] agentur geben ?Danke.' B: geh au/ m. [meine]gmx-seite.'da /indest du alle mails u. [und] Guck was angekom. [angekommen] ist; Moraldo 2003) ; als

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weitere Ki.irzungen sind in meinem Corpus u.a. nachgewiesen Wende und we [Wochenende] , P. [Pri.ifung] , pass. [passiert] , gr [g (e)rade] ) , zuh [zuhause] , ag. [Agentur] , bei denen relativ beliebige Laute bzw. Buchstaben geki.irzt werden konnen. Trotz syntaktischer und/oder lexikalischer Unvollstandigkeit ist die kommunikative Vollstandigkeit nicht gefahrdet, da man von einem gemeinsa­ men Wissens-Kontext ausgeht, auf dessen Grundlage die Nachricht " ent­ schli.isselt" wird: «Die SMS-Benutzer sind erfinderisch in nicht-usuellen Abki.ir­ zungen. Sie verlassen sich darauf, dass der Wortbeginn, der Wortrest oder die Satzsemantik die mentale Vervollstandigung garantiert» (Schwitalla 200 2: 48) . r.2.5. Konzeptionelle Mundlichkeit Geht es um eine griffige Formel bei der Beschreibung sprachlicher Phanomene jugendlicher SMS-Kommunikation, so stimmen die bisherigen Auswertungen darin i.iberein, dass der Begriff der konzeptionellen Mundlichkeit (Koch l Oester­ reicher 1994) am besten die Typographie der Kurznachrichten definiert. Auf der Folie dieser Forschungsergebnisse liegt unbestreitbar die gegenlaufige Kombi­ nation mediai graphischlkonzeptionell mi.indlich (ebd.: 587) vor. D.h.: Trotz me­ diai bedingter Schriftlichkeit wird die Schriftsprachkommunikation via SMS fast durchweg mi.indlich konzipiert. Informalitat der situativen Rahmenbedingun­ gen, kolloquialer Kommunikationsstil, Gesprachsthemen, bei denen unge­ zwungen, formlos und spontan i.iber meist belangloses Zeug "getextet" wird, ju­ gendspezifische Begri.i.Bungs- und Abschiedssequenzen, fragmentarische A u.Be­ rungen, dialektale Einfli.isse, expressive Markierung von Emotionalitat fokus ­ sieren Parameter mi.indlicher Sprachgebrauchsstrukturen, die kommunikative Nahe und Intimitat der SMS-User ausdri.icken. 2

eMail

EMail, E-Mail, Email und eMail sind verschiedene Schreibweisen ein und des ­ selben Phanomens. Dahinter verbirgt sich ein Kommunikationsdienst, der aus dem heutigen Privat- und Geschaftsleben nicht mehr wegzudenken ist: der In­ formations- und Datenaustausch per elektronischer Post. Die eMail (reduzier­ te Form von Electronic Mai!, deren deutsche Schreibweise bisher noch nicht konventionisiert wurde), scharfster Konkurrent der Snail Mai! (der Schnecken, d.h. herkommlichen Post) , erlaubt per einfachem Mausklick das Verschicken von Mitteilungen, Briefen, N achrichten, Liebesgri.i.Ben, Postkarten etc. rund um den Globus. «Offensichtlich ist die E-Mail-Kommunikation», so schreiben Runkehl et al. (!998: 52), «eine auf schnellere Kommunikation reduzierte Brief­ post, der sozusagen elektronisch beschleunigte Brief». Innerhalb ki.irzester Zeit wird eine Nachricht von einem Computer auf einen anderen zugestellt, oder gleich auf mehrere andere, sofern man die Botschaft als Rundbrief mit einer Mailing List verschickt. Neben der SMS-typischen Eins-zu-Eins-Kommunikati­ on erlaubt eMail also auch ein multidirektionales Versenden der Nachricht. Wie schon beim Short Message Service handelt es sich bei eMail um einen zeit-

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versetzten, asynchronen Kommunikationsmodus. Eine eMail kann ebenso Da­ teien aller Art als attachment enthalten, wie Verweise auf Hyperlinks fiir Web­ seiten und multimedial au±bereitete Nachrichten. Um Post iiber das Internet zu verschicken und zu empfangen braucht man neben Computer, Modem, Zu­ gang zu einem Internet-Service-Provider und entsprechendem Mailprogramm eine eMail-Adresse. Diese besteht aus einer Zeichenfolge zur Benutzerkennung und Adressierung des Zielrechners. Das typographische Zeichen @ (engl. At­ Sign, im Deutschen auch Klammeraf/e genannt) trennt den Benutzernamen von der Computeradresse, deren einzelne Teile (Domain-Name des Providers und zweibuchstabige Landerkiirzel oder dreibuchstabige organisatorische Do­ mains wie z.B. edu fiir Bildungseinrichtungen, com fiir kommerzielle, gov fiir staatliche und int fiir internationale Organisationen) wiederum durch Punkte getrennt werden. 2.1. Formale Parameter und medial-kommunikative Funktionen eMail ist eine praktische Erganzung zu bestehenden Kommunikationskanalen wie Brief, Fax, Mobil- und Festnetztelefon. Die Abwicklung des schriftbasier­ ten Informationsaustausches auf elektronischem Weg ermoglicht es, den her­ kommlichen Kommunikationszyklus zeitlich um ein Wesentliches zu reduzie­ ren. Die Abfassung einer individuellen eMail erfolgt iiber ein Eingabefenster mi t vorgegebenem Rahmen un d leerer Flache fiir die N achricht: «Compose screens typically display a bipartite structure, with a preformatted upper area (the header or heading) and a lower area for the main text (the body or messa­ ge)>> (Crystal 2001: 9 5 ) . Der Header enthalt die wesentlichen Informationen iiber Absender, Empfanger und Thema der Mitteilung. In den ersten beiden Zeilen ( Von und An) stehen jeweils die eMail-Adressen der Kommunikations­ partner, daran anschlieBend die Leiste cc (Carbon copy) , in die Adressen wei­ terer Empfanger der gleichen Textnachricht (als Durchschlag sozusagen) ein­ gegeben werden konnen. SchlieBlich folgt die Betre//-Zeile, die den Inhalt the­ matisch und aussagefahig umreiBen solite. In den Body, dem eigentlichen Text­ fenster, wird die Nachricht eingetippt. Eine eingegangene Mitteilung kann di­ rekt beantwortet werden. Dabei hilft «das sogenannte Quoting, das Einfiigen von Zitaten aus der beantworteten Mail ii ber die Reply- Funktion, was in der Subject-Zeile durch Re markiert wird» (Runkehl et al. 1998: 32) . Ein Sonder­ zeichen (z.B. >) riickt dann meist den Text der Ù bersicht h alber ein. Das Quo­ ten hat wiederum Auswirkungen auf die sprachliche Gestaltung der Textnach­ richt: «Weil die jeweiligen Bezugsstellen in den eigenen Brief integriert werden konnen, eriibrigen sich diskursdeiktische Strategien, wie sie in herkommlichen Briefen erforderlich sind, um den jeweiligen Bezug deutlich zu machen». Dies erfordert vom Empfanger eine «groBere kognitive Leistung», da er gleichzeitig «zwei - oder gar noch mehr - Textebenen kognitiv verwalten (muss)» (Diir­ scheid 1999: 22) . Neben Brie/kop/ und Textkorper kann als dritte Funktion die Option Sig­ nature, eine Art Visitenkarte, gewahlt werden, beispielsweise die vollstandige Absenderadresse mit N amen, Anschrift (StraBen- und Ortskennung) , eventuell

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auch Angabe der Institution, bei der man arbeitet, Telefonummer, Fax und Ver­ weis auf eigene Homepage. Als Textbaustein separat gespeichert schlieBt er au­ tomatisch an die Abschiedssequenz (GriiBe und Unterschrift) einer eMail an. Das vollstandige Nachrichtenfenster umfasst neben Header, Body und Sig­ nature weiterhin eine Symbolleiste mit Zugriff auf die Hauptfunktionen fiir die Eingabe einer eMail (etwa Schaltflachen zum Bearbeiten der Textnachricht) und die Format-Symbolleiste, die Standardfunktionen einer Textverarbeitung wie Formatierung, Schriftart, ZeichengroBe usw. iibernimmt. Da nicht alle eMail-Programme diese Features unterstiitzen und spezielle Formatierungen eventuell von der Software des Empfangers nicht gelesen werden konnen, wer­ den sie in der Regel vermieden 2• eMail ist ein Kommunikationskanal, der den Schriftverkehr zwischen Pri­ vatpersonen schnell und unverbindlich regelt, verstarkt als «betriebsinterne Kommunikationsform» (] anich 1994) genutzt wird «und in der wissenschaftli­ chen Kommunikation zunehmend zu einem Mittel des Informations- und Nach­ richtenaustausches» (Pansegrau 199T 87) avanciert ist. Neben privaten, geschaft­ lichen und wissenschaftlichen Textbriefen finden sich in eMails «die meisten gan­ gigen Textsorten wieder, die man von der traditionellen Korrespondenz ber kennt» (Giinther l Wyss 1996: 68) ; das sind u.a. Informations- und GruBschrei­ ben, Anzeigen, private wie offentliche Einladungen, Liebesbriefe: «Die E-Mail­ Kommunikation ist der elektronisch beschleunigte Briefverkehr, in der Verabre­ dungen getroffen, Informationen subskribiert und Geschafte getatigt werden, mittels derer Werbung verschickt wird wie auch Bilder und Tone» (Runkehl et al. 1998: 206) . Der Themenvielfalt sind keine Grenzen gesetzt und was das Nut­ zerverhalten betrifft, so lassen sich bisher dariiber noch keine reprasentativen Aussagen machen, da keine detaillierte Analysen vorliegen. 2.2. Sprachlich-kommunikative Merkmale Bei der Analyse textsortenspezifischer Charakteristika der eMail stimmen viele Untersuchungen dariiber ein, dass im Wesentlichen der Zeit-Faktor die Stilele­ mente dieser Kommunikationspraxis determiniert: «Die Kommunikationspart­ ner simulieren die Nahe, die ihnen die schnelle Dateniibertragung suggeriert, in der Konzeption ihrer Mitteilungen. Sie schreiben ofter, aber kiirzer, fliichtiger, weniger reflektiert, als sie dies in der herkommlichen schriftlichen Interaktion taten. Verstarkt wird dieser Eindruck noch durch die Zunahme orthographi­ scher Fehler>> (Diirscheid 1999: 23 ). Kiirze und Spontaneitat sind also weitere wichtige Charakteristika elektronischer Briefe, die Riickschliisse auf sprachliche Eigenheiten erlauben. Dennoch lassen sich allgemeingiiltige Aussagen ohne re­ prasentative Untersuchungen nahe- und distanzsprachlicher Mails kaum ma­ chen. Und auch dann erscheint eine definitive Aussage aufgrund der stilisti­ schen Variationsbreite innerhalb einzelner Textsorten mehr als fraglich. J e nach Kommunikationssituation und Textsorte diirften unter formalen und linguisti­ schen Gesichtspunkten die Auswertungen differieren. So ist z.B. im «unternehmensinternen Briefverkehr, der in Form un d Inhalt dem konventionellen Geschaftsbrief oder Rundschreiben ahnelt, eine gewisse

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Aufweichung formaler un d grammatischer Regeln zu beobachten» (J anich 1994: 254-5) . Auch in personlichen und privaten eMails lassen sich im Vergleich zu her­ kommlichen Briefen in sprachlicher Hinsicht (orthographische Richtigkeit, voll­ standige syntaktische Strukturen, normgerechte Interpunktion) oft «geringe Planungsintensitat» und eine mangelhafte « Ù berarbeitungs- oder Korrektur­ phase» nachweisen (Pansegrau 1997: 96 f.) . Werden eMails, bedingt durch «die schnelle Produktionsweise [ . . . ] selten iiberarbeitet und korrigiert», dann «fin­ den sich ausgesprochen viele Fliichtigkeitsfehler (Orthographie, Interpunktion, Syntax etc.) , wie sie im traditionellen Briefverkehr in dieser Haufigkeit kaum zu finden sind» (Giinther l Wyss 1996: 72) . Und Quasthoff (1997) kommt in ihrer Arbeit zu folgender Schlussfolgerung: «Kontrastiert m an herkommlich versen­ dete personliche, private Briefe mit personlichen E-Mail-Sendungen, so fallt in den E-Mail-Botschaften eine sehr viel hohere Toleranz gegeniiber orthografi­ schen Fehlern auf. [ . . . ] Die Fehler werden als Ausdruck schnellen fliichtigen Schreibens wahrgenommen» (Quasthoff 1997: 41 ) . Demgegeniiber hat Kaes (1995) in seiner Untersuchung zwischen «herkommlichen und e-mail Leserbrie­ fen an das Jugendmagazinjetzt der Siiddeutschen Zeitung» festgestellt, dass zwar «die Satze der mails kiirzer und einfacher strukturiert», in Bezug auf Recht­ schreib- und Tippfehler aber keine relevanten Unterschiede festzumachen sind. Auch Runkehl et al. (1998) kommen bei ihrer Korpusanalyse zu dem Schluss , «dass hinsichtlich Fehler, GroB- und Kleinschreibung sowie graphostilistischer Mittel in E-Mails eine Pauschalaussage nicht angebracht ist, sondern dass eine Variation nach funktionalen Domanen entlang des Kontinuums /ormell - in/or­ mel! festgestellt werden kann» (ebd.: 37) 3 • Ein weiterer wichtiger sprachlicher Aspekt elektronischer Textnachrichten ist das Prinzip der Dialogizitat: «Es konstituiert sich in E-mails eine neue Form von Dialogizitat und sprachlicher Kreativitat, die sich an miindlichen Kommu­ nikationssituationen zu orientieren scheint und sich damit nochmalig von den Texttypen und -strukturen anderer Formen technisierter Kommunikation un­ terscheidet» (Pansegrau 1997= 102). Diese neue Form von Dialogizitat lasst sich als Folge der Reply-Funktion erklaren, «da hier - in Analogie zur gesprochenen Sprache - Teile der Texte als initiative Ziige begriffen werden konnen, auf die adjazent reagiert werden kann» (Runkehl et al. 1998: 38). Der folgende Auszug aus einer privaten eMail ist solch eine typische Sequenzierung, in der zugleich mehrere sprachlich-kommunikative Mittel eingesetzt werden, die allerdings in dieser Anzahl fiir elektronisch verfasste Briefe nicht die Regel sind. Sie konnen dennoch einen Einblick in mogliche Schreibmodalitaten kommunikativer In­ teraktion via Internet geben 4: Also abgemacht war das die Mutter mitte Dez. nach HD kommt ! ! ! Was nun ? l eh brau­ che eure Unterschriften fi.ir den Erbschein, dann ist er innerhalb von 2-4 Tagen fertig. [ . . . ] hat [Vorname] geboten, d .h. ja net viel ! Er ware ja blod wenn er mehr bieten wi.irde! ist doch verhandlungssache. Am Freitag gehe ich mit einem sachverstiindigen durch damit wir iiberhaupt wissen was die Bude wert ist ! Aber der meinte [ .. .] waren wohl drin ! [Vorname] muB b is end e Dez. kiindigen dann lauft der vertrag noch b is 3 I . I2.2004. das wird er auch tun.

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Ùberleg dir lieber mal wann lhr nach HD kommt a.s.a. p . ! ! ! Wir mi.issen reden. [Vorname] hat auch mal wieder ein paar tolle ideen:-) ) ) ) > Alles klar ! Wir kommen erst anfang J anuar nach Heidelberg. le h hab naemlich bis

> 22.12. Unterricht und kann vorher nich weg.

wann genau im Januar? ! Ich muss den termin mit der bank ausmachen. > Am 8 . r . und bleib dann eine Woche, die Mutter wahrscheinilch laenger.

> Also leg den Termin da am besten rein. > Machs gut. [Kurzname]

Der standige Sprecherwechsel iiber die Reply-Funktion erweckt quasi die Illusi­ an eines miindlich gefiihrten Gesprachs 5• Der informelle Charakter wird noch dadurch unterstrichen, dass Umgangssprachliches und Dialektales mit ein­ flieBen, Zeichensetzung und Klein-/GroBschreibung nicht normgerecht durch­ gehalten, Kiirzungen eingesetzt und Mehrfachwiederholungen verwendet wer­ den. Neben Spontaneitat sind Sprachokonomie und Zeitdruck Griinde fiir den recht unkonventionellen Stil. Da die Mails innerhalb kiirzester Zeit aufeinander folgen, wird die am Anfang des Dialogs stehende Anredesequenz " Formel + Vor­ oder Kurzname" (in diesem Fall Hi + und Hallo +) im weiteren Verlauf nicht wie­ der aufgenommen. Neben dem Fehlen personaldeiktischer Anrede kann auch das Referenzobjekt entsprechend weggelassen werden (vgl. Diirscheid 1999: 22 f.) 2.2.1. Schreibung Wir haben schon im vorherigen Kapitel gesehen, dass es gerade in Bezug auf die Rechtschreibung in elektronischen Texten aufgrund von Zeitdruck und man­ gelhafter Korrektur zu einer Abweichung von der kodifizierten Orthographie kommen kann. Neben eindeutigen Rechtschreibfehlern (geben ---+ genen ; scho­ nes ---+ schonnes; eien ---+ einen) un d Wortdoppelungen (/ur die Rente relevant re­ levant werden ; der Titel klingt nach nach viel) kommen in eMails verstarkt Buch­ stabenverdreher (wah rscheinlich ---+ wahrscheinilch ; Rundsch reiben ---+ Rund­ schrieben; A rtikel ---+ A rtikle) , Tippfehler (gut uns billig ---+ gut un d billig) , feh­ lerhafte GroB- und Kleinschreibung (WEihnachten ; Lieben gruss) und Fliich­ tigkeitsfehler bei der Trennung von Wortern durch Spatien (im mai ode rjuni; da ist es imme rnoch billig; morgen/ rueh; auch etwasuber) vor, die man zu Recht als «tastaturbedingte Fehler» (Runkehl et al. 1998: 36) einstufen solite. Bei vielen Sendern ist sogar - aufgrund von Zeitersparnis oder aus rein personlichen Griinden - durchgangige Kleinschreibung die Regel (vielen dank,iich werde das bueh imjanuar bei eu eh abholen. /mit lieben gruessenlihri[N ame] ; lieber herr kol­ lege [N achname] ,/ich habe h eu te das gelct das frau [N achame] dankenswerter­ weise uberbracht hat, bekommen. es ist also alles in ordnungy vielen vielen dank nochmals, und ich werde ihnenlgleich eine bestà'tigung schreiben und per post zu­ schicken. /mit herzlichen gru_/.5enlihri [Name ] ) . Wahrend im letzten Beispiel trotz

der normwidrigen Kleinschreibung die Kommata gesetzt werden, sind fehlende Satzzeichen gera de in sprechsprachlichen eMails keine Seltenheit ( Wennlalles

da ist mach ich Dir ein paket und schicke es am Samstag weg/Ciao [Kurzname] ) .

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Ein weiterer wichtiger Aspekt der Rechtschreibung in elektronischen Texten ist rein technischer Natur. Es betrifft die Verwendung von Bi- oder Digraphen anstelle der Umlaute und des Doppelkonsonanten ss anstelle des Eszett. Dass ist immer dann der Fall, «wenn in der E-Mail nur die Buchstaben des ASCII-Zei­ cheninventars (ASCII American Standard Code for Information Interchange) zur Verfi.igung stehen, das heiBt, wenn nur die Buchstaben des englischen Al­ phabets - es fehlen hier alle diakritischen Zeichen - i.ibermittelt werden konnen, also die Umlaute ii, o, ii, sowiefl fehlen. Man hilft sich meist durch die Digraphen ae, oe, ue sowie ss» (Scharnhorst 2ooo: 275 ) . Weder stilistische Absicht noch de­ monstrativer Bruch mit i.iberkommenen Regeln schriftsprachlicher Kommunika­ tion steckt also hinter folgendem Beispiel: schicke ich Ihnen die Origina l[- ]Nach­ =

richt aus Saarbruecken und waerellhnen dankbar wenn Sie eine Bestaetigung /uer die Verlaengerung an die unten angegebene E-mail[-]Adresse oder per Fax schicken koennten. /Mit /reundlichen Gruessen/ [Name] , als vielmehr eine Notlosung fi.ir

einen technischen Engpass. Untersti.itzt die Software statt der fi.ir die Mehrzahl der eMail-Programme verwendeten 7 Bit- eine 8-Bit-Codierung, lassen sich zwar Umlaute und das Eszett schriftlich realisieren, werden aber von vielen Mail-Pro­ grammen der Empfanger nicht richtig verarbeitet, was zu einem Buchstabensa­ lat fi.ihren kann. Dies macht die Lesbarkeit der Nachricht zwar nicht unmoglich, erschwert sie aber. Vgl. etwa die folgenden zwei Beispiele: Herzliche GrA ?AYe} Michael und wer VorschlAge /A ?r Kon/erenzen} VortrAge etc. /A ?r das akad. ]ahr 20o312oo4 hat} mA S'[ge [moge ] sich bitte wieder bei mir melden. Die Nahe der eMail zur Textsorte (Post)Brief fiihrt dann auch ofters dazu, dass in eMails Pronomina und Possessiv-Artikel angespochener Personen groB geschrieben werden, und zwar sowohl die Distanz - , (Lieber Herr [Nachna­ me ] !Ihre /ruhere An/rage war leider nicht hier angekommen. Vielen Dank/urllhr Interesse an [. . . ]. [. . ] l WenniSie mir sagen konnen} welche Au/siitze Sie beson­ ders interessieren} dannikann ich Ihnen die im aktuellen Stadium schicken. [. . . ]) als auch die Vertrautheitsform (Lieber [Vorname] ,/ich habe au/ einer italieni­ .

schen website etwas bestellt und habe unten stehen de A n twort beko mmen . Kannst Dulmich au/klaeren} was man geantwortet hat?IIch habe mit [Vorname] einen eventuellen Besuch bei Eueh diskutiert. [. . ] /Wuerde Euch das passen ? Es ginge auch spaeteriTschuessi[Vorname] ) . Assimilationen ( machs gut}· wenns klappt) , Tilgung von Flexionsmorphemen (hab ich ) und umgangssprachliche Reduktionsformen (nich) finden sich ofters in nahesprachlichen eMails. .

2 . 2 . 2. Graphostilistik

Die potenzielle Missverstandlichkeit einer Textnachricht auf Grund fehlender metakommunikativer Informationen ist zwar auch bei einer eMail gegeben, doch im Vergleich zum schriftbasierten Kurznachrichtenservice in weit gerin­ gerem MaBe. Zuri.ickzufiihren ist das wohl grundsatzlich auf die unbeschrank­ te Zeichenmenge, die fi.ir einen elektronischen Brief zur Verfi.igung steht. Wenn dennoch graphostilistische Stilmittel eingesetzt werden, so erfi.illen sie die Funk­ tion, «solche Charakteristika des zwanglosen Gesprachs, die in der kodifizier­ ten Orthographie normalerweise nicht wiedergegeben werden, zum Ausdruck

MED IAL ITAT U N D SPRACHE

zu bringen» (Scharnhorst 2ooo: 276) . Ob gli.ick.lich oder traurig, genervt oder entspannt, erfreut oder enttauscht, gut oder schlecht gelaunt: Es sind in erster Linie (aus dem Internet-Chat bekannte) visuelle Elemente, die fehlende non­ verbale Signale in einem elektronischen Brief kompensieren. Buchstaben- oder Satzzeichen-Iterationen, expressive GroBschreibung und Smileys konnen die Nachricht erganzen, eine personliche Note mit ri.iberbringen und Wichtiges hervorheben: Hallo [Vornamel /rohes n eues jahrl wir werden vom 9 - I7. /ebru­

ar in nussloch sein. ueberschneidet sich das/irgendwie mit euren reiseplaenen. ich ho//elll llin eile aus dem eiskalten vermontl deine [Vorname] . Von dem Smiley

findet sich in den eMails meist dessen klassische Auspragung aus Doppelpunkt, Strich und Klammer, oder die zwinkernde Variante ;- ). In folgendem Beispiel untersti.itzt das Programm sogar die Schreibzeichnung des Original-Smileys: Hz�lendlich habe ich deine E-MailAdresse wieder. /Bei meinem Abschied aus New York und meinen diversen Outlook- Ubertragungen ist die/wohl floten gegan­ gen l l/A be 0 hier bin ich wieder ©/Ich wollte eigentlich nur mal Hallo sa­ gen. . . ((HALLO)) © und dir ein schones Wochenende/wunschen. /Wir sehen uns am Sonntaglll Halt schon mal die VIP-Biindel /ur die Miidels bereit. Diesmallsind wir mit der grofSen Truppe dal Es geht ja schliefSlich um was @) [. . . ] . Ein Kauf­ manns " und" (in einem AbschiedsgruB einer Privatmail nachgewiesen: Danke & herzliche GrufSe ![N ame] ) steli t eher die Ausnahme als die Regel dar. 2.2.3. Syntaktische Merkmale

Grundsatzlich gilt beim Verfassen einer elektronischen Mail die Regel: «Eine Email solite schnell und ohne Aufwand zu lesen sein. [. . . ] Schreiben Sie kurze Textnachrichten, bei denen der Betreff und die ersten beiden Satze ihr Anliegen klarmachen» (Kossel 1999 ) . Sicherlich gibt es auf syntaktischer Ebene Unter­ schiede zwischen SMS auf der einen und eMail auf deren anderen Seite Das ist nicht zuletzt darauf zuri.ickzufi.ihren, dass bei eMail eine Zeichenbeschrankung entfallt, d.h. komplexe Sachverhalte konnen dargelegt und strittige Punkte aus ­ diskutiert werden. Mitverantwortlich dafi.ir ist sicherlich auch der Parameter der "zeitlichen Distanz " , der zwischen der Aufnahme und dem Abfassen einer Textnachricht eine kognitive Entlastung ermoglicht. Auf eine eingegangene eMail braucht man nicht direkt zu reagieren. «Es werden damit» - so Weingar­ ten - «Kapazitaten freigesetzt, die dazu verwendet werden konnen, eine .A uBe­ rung kognitiv komplexer zu gestalten - z.B. in der Syntax - bzw. in der Rezep­ tion kognitiv komplexere .AuBerungen zu verarbeiten. Dort, wo in einem Medi­ um die zeitliche Distanz nicht gegeben ist, wie in der schriftlichen Online-Kom­ munikation am Computer, stellt man demzufolge auch eine geringere sprachli­ che Komplexitat fest» (Weingarten 1997b: n ) . Dass auch solch eine Feststellung nur mit der notwendigen Vorsicht zu genieBen ist, zeigen andere Untersuchun­ gen. Gi.inther l Wyss zufolge lassen sich gerade auch «im syntaktischen Bereich» bei eMails «Fli.ichtigkeitsfehler wie Ellipsen, Anakoluthe, abgebrochene Satze un d Satzstellungsfehler ausmachen» (Gi.inther l Wyss 1996: 72) un d im Vergleich von herkommlichen und eMail-Leserbriefen sind nach Auswertungen von Ka­ es «die Satze der mails ki.irzer und einfacher strukturiert» (Kaes 1995). Unter

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Zeitdruck entstandene eMails bekommen zudem haufig telegrammstilartigen Charakter (Hi [Kurznamel lwdre prima gewesen} habe aber bereits alles gebucht} sorry) /leider zu spdt) Grusse an die Mà'dels) [Vorname] ; Lieber [Vorname] ,/Schoe­ ne Bilder., lhab ich von [Kurzname] /orwarded bekommen)/Ruehr dich ma� /E­ mail s. unten/Lieben gruss , / [Kurzname] ) . 2. 2.4. Lexikalische Reduktionen

Lexikalische Reduktionen spielen in eMails - zumindest in meinem Korpus eine marginale Rolle. Statistisch gesehen fallen si e kaum ins Gewicht. N e ben den iiblichen Kiirzungen fiir Stadtenamen nach dem Autokennzeichen-Prinzip (s.o. Heidelberg -+ HD) sind Kurzformen wie Dez. ( -+ Dezember) oder wo-ende ( Wochenende) eher eine Ausnahme, wahrend die Standard-GruBformel Mit /reundlichen Gru/5en als Akronym d es ofteren eingesetzt wird (Hallo) /!eh habe Ihr Buch heute morgen per Post verschickt. IM/GI [Name] ) und vereinzelt Ein­ fliisse aus dem englischen Internet-} argon anzutreffen sind. Letzteres etwa in folgendem Beispiel: [ . . . ]!Neiiin) sooo nicht.' /.' /Lasst uns zeigen} dass wir noch nie so gut waren wie heute. /Wie ? ? ?!Kommt a m Sonntag [Datum un d Uhrzeit] zum -+

Geburtstagsbrunch!) PV4/ ins Bistro-Willy. A u/5er all u can eat & drink gib(s nà'mlich Badminton) /Tischtennis) Baule) . . . . . ![ . . . ] Hope 2 C U/u.A. w. g. per Fon} Fax oder Email [Name] . 2.2. 5. Konzeptionelle Mundlichkeit

Bei privaten eMails spielt sicherlich die schon beim Short Message Service nach­ gewiesene "konzeptionelle Miindlichkeit" eine wichtige Rolle. Die Beziehung der Sprecher sorgt auch hier auf sprachlicher Ebene fiir eine Markierung der Nahe. Die sprechsprachliche Konzeptualitat reicht von kolloquialer Anrede (H� Hallo) Lieber) und Verabschiedung (Machs gut/ Tschues/s) Bis bald) , Mor­ phem-Tilgung (mach ich dir ein paket /ertig) un d Reduktionen (nicht nich) iiber umgangssprachliche Lexik und non-konforme Schreibkonventionen bis zu ) Dialektismen (Hi [Kurzname]!Buch hav ich abg holt. Ava des mit dem Kopiere is so ne sache des sin n I2o!S. zu kopiere. Wesch des? [. . .] /Tschuess [Kurzname] ) . Die Feststellung: «Besonders krass sind die Abweichungen von der kodifizier­ ten Norm, wenn Sender und Empfanger informell kommunizieren» (Scharn­ horst 2ooo: 275) mag also durchaus ihre Richtigkeit haben. Doch lassen sich wie­ derum im Distanzbereich (etwa in Geschaftsbriefen) Parameter wie «syntakti­ sche Wohlgeformtheit» und «kompakte [s] Satzformat» (Koch l Oesterreicher 1995: 591) nachweisen, die fiir konzeptionell schriftliche Sprache typisch sind. Anhand der elektronischen Post und deren vielfaltigen Ausdrucksformen lasst sich daher am besten zeigen, «wie komplex und kompliziert Schreibpraxen sind und dass Verallgemeinerungen nur auf der Basis umfangreicher und detaillier­ ter Untersuchungen vorgenommen werden konnen». Zumal homogene Text­ sorten innerhalb dieses Mediums stark voneinander divergieren konnen, lasst sich grundsatzlich eine konzeptionelle Einordnung der Kommunikationspraxis eMail wohl nur «tendenziell bestimmen» (Runkehl et al. 1998: 43 un d 29) . -+

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Schlussbemerkungen

Lasst sich die gesamte Mediengeschichte als der fortgesetzte Versuch lesen, «die raumlichen und zeitlichen Beschrankungen der direkten Kommunikation zu i.iberwinden» (Holly I99T 65), so mi.issen bei deren historischen Konkretisierung auch konzeptionelle un d mediale Veranderungen beri.icksichtigt werden. In un­ serem speziellen Fall geht es um neue schriftbasierte Kommunikationsmedien und deren Ausdrucksformen. Da Schriftsprache vorrangig «auf Speicherung» angelegt ist, haben wir es bei Schriftsprachmedien in erster Linie mit «Spei­ chermedien» zu tun. Einige davon sind wiederum so konzipiert, «dass sie das Gespeicherte an einen bestimmten Rezipienten individuell adressieren, [ . . . ] ; sie sind also dialogisch, da er antworten kann» (ebd.: 70). Der Computer und das Handy sind im Bereich der Schriftkommunikation solche Errungenschaften der Informationstechnologie, die neue dialogische Speichermedien wie eMail und SMS ermoglicht haben 6. eMail und SMS sind asynchrone Formen digitaler Schriftkommunikation, die den textbasierten Austausch von Informationen, Mitteilungen etc. um neue Kommunikationskanale erganzt und «damit primar zu einer Erweiterung unseres kommunikativen Spektrums» beigetragen haben (]akobs 1998: 205) 7 • Steht n un aber der Informationsgesellschaft des 21. ] ahrhunderts eine «elek­ tronische Sintflut» ins Haus, bei der die Beherrschung multimedialer Kommu­ nikationstechniken, die den kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Stel­ lenwert des Einzelnen und der Gesellschaft entscheidend pragen, dazu beitra­ gen wird, dass «Sprache un d Schrift ihre dominierende Kraft an die perfekte Be­ herrschung der technischen Mittel verlieren»? Wird «das richtige, gar das stili­ stisch schone Schreiben unwillki.irlich eine Kunst von gestern, weil es nicht auf Stil und Lekti.ire, sondern auf rasche Information ankommt» (Fri.ihwald 1996)? Der vielseits befi.irchtete Sprachverfall ist allerdings bisher noch nicht eingetre­ ten. Fri.ihwalds kulturpessimistische Position verkennt «die spezifischen Bedin­ gungen der computervermittelten Kommunikation, die eben anders sind als die der papiergebundenen Schriftsprache». Diese Bedingungen «erzeugen sprach­ liche Formen, die keineswegs defizitar sind, sondern z.B. auffallige Gemein­ samkeiten mit Strukturen gesprochener Sprache aufweisen» (Weingarten 1997b: 8). Und das gilt ebenso fi.ir das Verfassen von eMails, wie fi.ir das Texten von SMS. Aus diskurstraditioneller Sicht werden in dem jeweils neuen Medium vorgefun­ dene sprachliche Muster der konzeptionellen VorHiufer «keineswegs nur ko­ piert, vielmehr entstehen immer mehr spezifische Formen, die die Moglichkei­ ten des Mediums angemessen ausnutzen» (ebd.: 13) . Dass technische Verande­ rungen dann auch sprachliche Umgangsformen beeinflussen, ist nicht von der Hand zu weisen. Denn Auswirkungen auf den Sprachgebrauch sind vor allem dann zu erwarten,