Deutsch aktuell 2. Einführung in die Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache [2] 8843060430, 9788843060436

II tedesco di oggi, a livello europeo la lingua più parlata nell'UE come lingua madre, somiglia sempre meno a quell

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German Pages 263/265 [265] Year 2011

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Deutsch aktuell 2. Einführung in die Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache [2]
 8843060430, 9788843060436

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LINGUE E LETTERATURE CAROCCI

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Deutsch aktuell

2

Einfiihrung in die Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache herausgegeben von Sandra M. Moraldo

Carocci editore

Il volume è stato pubblicato con un contributo del Dipartimento di Studi lnterdisciplinari su Traduzione, Lingue e Culture dell'Alma Mater Studio rum Università di Bologna - sede di Forlì.

Ia

edizione, ottobre 2on © copyright 2ou by Carocci editore S.p.A., Roma Realizzazione editoriale: Omnibook, Bari Finito di stampare nell'ottobre 2on dalla Litografia Varo (Pisa) ISB

978-88-430-6043-6

Riproduzione vietata ai sensi di legge (art. 171 della legge 22 aprile 1941, n. 633) Senza regolare autorizzazione, vietato riprodurre questo volume anche parzialmente e con qualsiasi mezzo, compresa la fotocopia, anche per uso interno o didattico. è

Inhalt

Sandra M. Moraldo (Bologna, Forlì) Neue Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache. Editoria]

8

Rudi Keller (Dusseldorf) Sprachwandel

12

Jurgen Schiewe ( Greifswald) Sprachkritik- ein (neues) Gebiet der anwendungsbezogenen Sprachwissenschaft

30

Eva N euland (Wuppertal) Variation in der deutschen Sprache. Au swi rkungen auf den ( Fremd) Sprach(en) unterricht

48

Federica Missaglia (Mailand) Miindliche Kommunikation in der deutschen Gegenwartssprache

64

Reinhard Fiehler (Mannheim, Heidelberg) Miindliche Verstandigung und gesprochene Sprache

83

Susanne Giinthner (Miinster) Syntax des gesprochenen Deutsch

10 8

Wolfgang Imo (Munster) "Jetzt geh'n wir einen trinken, geli?". Vergewisserungssignale ( tag questions) und ihre Relevanz fiir den DaF-Unterricht

127

6

I HALT

Ludwig M. Eichinger (Mannheim) Aktuelle Tendenzen in der Wortbildung des Deutschen

151

Armin Burkhardt (Magdeburg) Zur Syntax des Attributs in der deutschen Gegenwartssprache. Eine Bestandsaufnahme

19 4

Claudio Di Meola (Rom) Prapositionen in der deutschen Gegenwartssprache: Bestandsaufnahme und Entwicklungstendenzen

21 4

Elvira Lima (Palermo) Ende gut, alles gut? Zum Stand der deutschen Orthographie nach 2006

23 4

Sandra M. Moraldo (Bologna, Forlì) Web 2.0 und die deutsche Sprache. Kommunikative und sprachliche Aspekte der Microblogging-Plattform Twitter

247

Vorwort

Die Diskussion der letzten J ahre iiber den Zustand der deutschen Sprache ist von einem erwachten Interesse an Themen wie Sprachkritik und Sprachwandel ge­ pragt. Davon zeugen zum einen die zahlreichen Stilfibeln, die im Zuge einer be­ sonders in der Offentlichkeit und auch in Bildungsinstitutionen vorgebrachten Kritik am angeblichen Verfall der deutschen Sprache ins Feld gezogen sind. Sie pladieren fiir einen kultivierteren Umgang mit der eigenen Muttersprache. Zum anderen die Forschungsergebnisse der Wissenschaft. Deren Erklarungsansatze in Leitfragen von Sprachvariation sind vielleicht weniger offentlichkeitswirksam , dafiir ist der Erkenntnisgewinn aber umso gro.Ber. Der vorliegende Band will nun dieser aktuellen Diskussion iiber die Tenden­ zen der deutschen Gegenwartssprache mit einer einfiihrenden Darstellung rele­ vanter Themen Rechnung tragen. Diese sind: Sprachkritik, Sprachwandel, Sprach­ variation, Grammatik der gesprochenen Sprache, Wortbildung, grammatische Veranderungen, Orthographie sowie Web 2.0 und die deutsche Sprache. Der Sam­ melband schlie.Bt damit an den ersten Band an, in dem die Themenkomplexe Stan­ dard- und Kontaktvarietaten, Sprache und Feminismus , Anglizismen, Wissen­ schafts- und Fachsprache Deutsch, Jugendsprache, Rechtschreibreform, die deut­ sche Sprache in Ost- und Westdeutschland, Kasus-Markierungen und Neue Me­ dien behandelt wurden. Deutsch aktuell I un d 2 konnen als eine praxisnahe Einfiihrung gefasst werden fiir jeden, der sich fiir das Phanomen Sprache und ihrem Wandel interessiert. Sie verschaffen dem Leser einen exemplarisch-selektiven Ùberblick iiber wichtige Be­ reiche der Sprachvariation, vom elementaren Grundwissen bis hin zu besonderen Forschungsproblemen auf der Grundlage einer auf den neuesten Stand gebrach­ ten Bibliographie. Wie schon Deutsch aktuell I ist auch Deutsch aktuell 2 wiederum das Ergebnis einer italienisch-deutschen Zusammenarbeit. An dieser Stelle sei daher den Au­ torlnnen gedankt, die si eh auf dieses Projekt eingelassen un d mit so viel Enthusias­ mus und Engagement zum Entstehen des Sammelbandes beigetragen haben. Wei­ terhin gilt mein besonderer Dank dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) , der mich in diesen letzten J ahren bei Forschungsprojekten immer gro.Bzii­ gig unterstiitzt un d dadurch zu einem Erfahrungsaustausch beigetragen hat, der in vielfaltiger Form in diesen Band eingegangen ist. Forlì, im Oktober 2on SANDRO M. MORALDO

Sandro M. Moraldo

Neue Tende nzen der deutschen Gegenwartssprache Editoria!

1984 prognostizierte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel mit der Titelgeschich­ te Deutsch: Achz) Wurg den Anfang vom Ende der deutschen Sprache. " Eine In­ dustrienation verlernt ihre Sprache " , so hie.B es im Untertitel. 2oo6 setzte es dann noch einen drauf und verki.indete: " Die deutsche Sprache wird so schlam­ pig gesprochen un d geschrieben wie wohl nie zuvor" . Mi t der Parole Rette t dem Deutsch.' wurde die sprachlich gebeutelte Nation zum Kampf gegen die " dra­ matische Verlotterung " un d den Ausverkauf der deutschen Sprache (Deutsch /or sale) aufgerufen ! (Schreiber 2006: 182) . Seit die deutsche Sprache in das Schussfeld der Kritik geraten ist, erzeugt kaum ein Thema so viel offentliche Resonanz wie die Frage nach gutem und rich­ tigem Deutsch. Von Sprachverfall und -verwirrung, Primitivisierung oder gar O berfremdung ist allerorts die Rede. Doch wenn Laienlinguisten sprachkritische Themen aufgreifen und kommentieren, verkennen Sie meist die Tatsache, dass linguistische Forschung auf empirisch i.iberzeugende Ergebnisse in Sprachberei­ chen zielt, die einem standigen Wandel unterliegen (vgl. Moraldo 2007a). So hat Peter Eisenberg in seiner Rede anlasslich der Verleihung des Konrad-Duden­ Preises 2008 mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die besondere Aufgabe und Verantwortung der Sprachwissenschaft darin bestehe, "Auswirkungen des kritisierten Sprachgebrauchs auf die Sprache zu untersuchen und der Sprachge­ meinschaft deutlich zu machen, was vor sich geht oder absehbar vor sich gehen wird" (2oo8: 13) . Sprache ist nun mal kein statisches Gebilde, das wie ein Fels in der Brandung unerschi.itterlich allen Einfli.issen trotzt. Sie ist permanent Ein­ fliissen und Trends ausgesetzt, die sich sowohl im Sprachgebrauch als auch im Schriftbild - man denke nur an graphostilistische Markierungen in neumedialen Kommunikationsplattformen - niederschlagen konnen. Dabei sind "Tendenzen, Zweifelsfalle oder neue Entwicklungen in der Grammatik des Deutschen" , so Eichinger (2004) . "zumeist die Auslaufer langerfristiger Entwicklungen" . An fol­ gendem Beispiel soli dies kurz erlautert werden: "Das Ohr nimmt wahr, was des Auges ist, weil beide leben von der Erfahrung des einen Schonen. Es wird wie­ dererkannt schon beim erstenmal: vertrautes Zitat des nie Gesehenen" . Es ist ei­ ne Reflexion aus dem zweiten Teil der Minima Moralia, die Theodor W Adorno 1945 geschrieben hat (1988: 143). Liegt hier ein grammatischer Fehler vor, oder ist es nicht vielmehr ein Anzeichen der sich anbahnenden Funktionserweiterung des Konnektors, namlich vomfaktischen, d.h. eine Tatsache beschreibende Konjunk­ tion zum epistemischen wezl, das " eine Annahme, d.h. eine Einschatzung/Mei-

N EVE TEN D E N ZEN DER DEUTSCHEN GEGENWA RT S S PRACHE

9

nung/Einstellung des Sprechers, wiedergibt, die so oder auch anders vorgenom­ men werden kann" (Ziegler 2009: 48) ? Auch wenn sich populare Sprachkritik mit solchen Entwicklungen schwer tut: Um eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen der letzten 20 J ahre, in denen die Konstruktion weil + Verbzweitstellung verstarkt in den Fokus sprachwissenschaftlicher Unter­ suchungen geriickt ist, wird sie nicht herum kommen. Wenn also nach urspriinglich subordinierenden Konnektoren wie weil oder obwohl plotzlich Verbzweitstellung folgt ( "weil - es ist zu spat " ; vgl. Giinthner 2oo8; " Obwohl. .. Korrektur: Polizei HAT Gebaude im coolen Duisburger Innen­ hafen"; vgl. Moraldo i.Vr.), sich in den neuen medialen Kommunikationsformen (Instant Messaging, Chat, Blog oder neuerdings Twitter) der Riickkopplungsef­ fekt von gesprochener auf geschriebene Sprache immer mehr bemerkbar macht (Ich penn schon ein obwohl der unterricht ned mal ange/angen hat; vgl. Moraldo 2oo7b, 2009c) oder von der schwindenden Markierung des Genitivs die Rede ist ( "wegen dem Glatteis " ; vgl. Di Meola 2005 ; Elter 2005), so heillt dies noch lange nicht, dass sprachliche Normen auBer Kraft gesetzt werden. Auch sprachspielerische Experimente sind fiir die Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartssprache ein gutes Beispiel. Dabei braucht es sich nicht einmal um Werbeslogans wie Red Bull verleiht dir Fluiiiiiigel (Moraldo 2009a) oder Da werden Sie gehol/en! (Miickel 2on) zu handeln. Grammatische Norm­ verletzungen lassen sich auch in der Standardsprache nachweisen (Moraldo 2009c) . So berichtete z.B. am 6. Dezember 2007 Welt Kompakt unter der O ber­ schrift Ihr seid Jackpot iiber den gro.Bten Lotto-] ackpot in der Geschichte, der mi t einem Super-Systemschein der BILD-Zeitung geknackt wurde. Der Titel war eine Hommage an die " liebe [n] Kollegen in Hamburg ", die nicht nur den Gewinn­ schein an 24 Leser verlost hatten, sondern es schon 2002 verstanden, bei der Papst-Wahl Joseph Ratzingers mit dem Aufmacher Wir sind Papst/, die Stim­ mung im Lande und das Hochgefiihl der deutschen Nation zwar mit gezielter N ormverletzung, aber gera de deswegen umso effizienter auf den Punkt un d den Begriff zu bringen. Nachlegen konnte BILD dann noch einmal am 25. ]uni 2oro, als bei der FuBball-Weltmeisterschaft in Siidafrika neben dem Vize-Weltmeister Frankreich auch der Titelverteidiger Italien iiberraschend schon in der Vorrun­ de scheiterte. Mit dem Aufmacher Auch Italien hat /ertig.' spielte sie effizient auf einen Interferenz-Fehler des ehemaligen Bayern Miinchen-Trainers Giovanni Trapattonis an, der am ro. Marz 1998 mit Ich habe /ertig,.' das Ende seiner in die Annalen der FuBballgeschichte eingegangenen Pressekonferenz quittierte. Die genannten Beispiele sind sicherlich nicht reprasentativ fiir den derzeiti­ gen (Gesundheits)Zustand der deutschen Sprache und niemand kann mit Si­ cherheit voraussagen, " ob die Regelversto.Be Einzelfalle bleiben und nach eini­ ger Zeit wieder aus dem Sprachgebrauch verschwinden oder ob sie si eh als Viel­ zahl gleichformiger Abweichungen mit der Zeit haufen, immer gebrauchlicher werden, mit der traditionellen Ausdrucksweise konkurrieren und diese schlieB­ lich gar verdrangen " (Ulrich 2on: 4) . Doch sie zeigen zum einen, dass "Variabi­ litat eine Grundeigenschaft der Sprache und Ausdruck eines sich permanent vollziehenden Sprachwandels (ist) " (Tophinke 2009: 4) . Zum anderen, dass ei­ ne Auseinandersetzung mit Themen wie Sp rachkritik und Sp rachwandel die

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S A N D RO M. M ORALD O

Moglichkeit bietet, den Bezug auf Normen im Allgemeinen und Regelwerke im Besonderen zu relativieren. Auch die Sprachdidaktik ist Hingst zu der O berzeu­ gung gelangt, dass Grammatiken, insbesondere die, die in der Schule eingesetzt werden, " einfach keine gute Bes chreibung des Sprachoutputs " darstellen, da " [d] as ganze Instrumentarium von Begriffen zur Beschreibung der Wort- und Satzebene der deutschen Sprache, das mithilfe liebevoll konstruierter Schul­ buchtexte ve rmittelt werden soll , sich oft genug s chon an trivialen alltags­ sprachlichen Au.Berungen als unzulanglich (erweist) " (Schafer 2oo8: 56) . Sprach­ reflexion, d.h. die konstruktive Auseinandersetzung mit besonderen sprachli­ chen Erscheinungsformen, tut hier not. Denn: " Das allgemeine Lamento iiber den Verfall der deutschen Sprache ist [. .. ] kein vielversprechender Ansatz " , um Schiiler und Studierende " fiir die Dynamik der Sp rache zu begeistern " (Ulrich 2on: 4) . Sprachreflexion solite daher - in der Schule wie Hochschule - nicht nur " an die Vermittlung von Sprachnormen " gebunden sein , sondern auch zeigen, " dass Sprachnormen selbst einem Wan del unterworfen sin d un d die Bewertun­ gen richtig oder falsch nur relative sind" (Tophinke 2009: 4) . Der Sammelband greift in diese aktuelle Diskussion um Sprachkritik und -wandel ein. Er prasentiert zwolf Beitrage, die in kompakter Form Studierenden, Lehrenden, Wissenschaftlern und allen anderen an der deutschen Sprache In­ teressierten einen problemorientierten und forschungsnahen O berblick zu be­ stimmten Tendenzen der Gegenwartssprache geben. Neben dem Schwerpunkt zur Grammatik der gesprochenen Sprache, dem gleich vier Beitrage gewidmet sind (Reinhard Fiehler, Susanne Giinthner, Wolfgang Imo, Federica Missaglia) , spannt sich das Themenspektrum von der Auseinandersetzung mit Sprachkri­ tik (Jiirgen Schiewe), Sprachwandel (Rudi Keller) und Orthographie (Elvira Li­ ma) iiber die grammatischen Veranderungen und der Variation im heutigen Deutsch (Armin Burkhardt, Claudio Di Meola, Eva Neuland) bis zu den Struk­ turen und Bildungstypen der deutschen Wortbildung (Ludwig M. Eichinger) und der kommunikativ-sprachlichen Analyse der neumedialen Kommunikati­ onsplattform Twitter (Sandra M. Moraldo) . Deutsch aktuell 2 schlie.Bt an den er­ sten Band an (Moraldo l Soffritti 2004) und setzt sein Bemiihen fort, einerseits als Leitfaden fiir eine vertiefte Beschaftigung mit Themenkomplexen aus dem Bereich der deutschen Gegenwartssprache dienen, andererseits zu kritischem Nachdenken iiber die derzeit stattfindenden Veranderungen anregen zu wollen. Literatur ADORNO T. w. (1988) : Minima J.Vforalia. Re/lexionen aus dem beschà'digten Leben, Frank­ furt a.M. DER SPIEGEL (1984) : Deutsch: A chz, Wurg. Bine Industrienation verlernt ihre Sprache, 9· Ju­ li. Darin: Bine unsàglich scheul f liche Sprache. Die westdeutsche Industriegesellscha/t verliert ihre Sprache, 126-36. ID. (2oo6) : Rettet dem Deutsch! Die Verlotterung der Sprache, 2. Oktober. DI MEOLA c. (2005) : Bntwicklungstendenzen im deutschen Prà'positionalsystem: Rektion rrentsprechend der Regeln" oder rrwider den Normen"?. In: C. Di Meola l A. Homung l L. Rega (Hgg.): Perspektiven Bins. Akten der I. Tagung Deutsche Sprachwissenscha/t in Italien, Roma, 25I-67.

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Rudi Keller

Sprachwandel

I

Das Ziel dieses Beitrags Sprachen unterliegen permanentem Wandel - solange sie aktiv im Gebrauch sin d. Das gilt fi.ir alle Sprachen un d fi.ir alle Zeiten. Un d selbst eine J ahrhunder­ te lang " tote " Sprache wie das Hebdiische wurde wieder "lebendig" sobald die Menschen in Israel sich entschlossen hatten, sie als Landessprache zu reaktivie­ ren. Vom Wandel kann alles betroffen sein, was nicht genetisch determiniert ist; also die Semantik, die Syntax, die Morphologie und die Phonologie. Warum ist das so? Und wie geht der Wandel vonstatten? Gibt es bestimmte Mechanismen oder geheime " Krafte" die in den Sprachen wirken, die wir gemeinhin "leben­ de " nennen? F ragen wie diese haben Linguisten seit Beginn des 19. J ahrhunderts immer wie­ der umgetrieben. Aber verniinftige Antworten, die auf einhellige, oder auch nur mehrheitliche Zustimmung stieBen, wurden nicht gefunden. Wieso ist es so schwie­ rig, eine plausible Theorie des Sprachwandels zu entwerfen? War das 19. Jahrhun­ dert doch ansonsten eine ungemein erfolgreiche Epoche der Linguistik - vielleicht die bislang erfolgreichste i.ib erhaupt. SchlieBlich batte man entdeckt, dass die meisten Sprachen, die zwischen dem Atlantik und dem Indischen Ozean ge­ sprochen werden , zu einer einzigen Sprachfamilie gehoren , namlich der in­ doeuropaischen. Man batte die sogenannten Lautgesetze entdeckt und wissen­ schaftliche Grammatiken verfasst fi.ir zahllose Sprachen. Warum batte man kei­ ne akzeptablen Antworten auf das das Wunder des permanenten Wandels ge­ funden? Die Antwort lautet: Weil man keine brauchbare Vorstellung i.iber das Wesen der Sprache h atte. " Was ist die Sprache iiberhaupt fi.ir ein Ding ? ". Auf diese Frage - ich will sie die Frage nach dem ontologischen Status der Sp rache nennen - gab es keine tragfahige Antwort. Antworten gab es schon, a ber sie hat­ ten allesamt eines gemeinsam: Sie taugten nichts; sie waren hoffnungslos meta­ phorisch und verdinglichend. Dies will ich im ersten Teil dieses Beitrags aus­ fi.ihren. Im zweiten Abs chnitt werde ich zeigen, wie eine Antwort auf die Frage nach dem ontologischen Status der Sprache aussehen muss, um eine Theorie des Wandels organisch davon ableiten zu konnen. Im dritten Kapitel werde ich ei­ nige Beispiele exemplarisch besprechen.

SPRACHWANDEL

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Zum ontologischen Status der Sprache Die Geschichte der abendHindis chen Sprachwissenschaft ist in erheblichem MaBe gepragt ist von der Suche nach einer Antwort auf die Frage: Was ist die natiirliche Sprache eigentlich fur ein Ding? Das gilt fiir das gesamte 19. J ahrhun­ dert, aber das gilt in eingeschranktem MaBe auch beute noch. Un d wenn man die­ se F rage so salopp umgangssprachlich formuliert, wie ich es gera de getan habe, dann hat man sich auch schon in zwei potenzielle Fallen begeben: Denn zum ei­ nen ist eine sogenannte natiirliche Sprache natiirlich nicht natiirlich, und zum an­ deren ist sie kein Ding. Beides aber wurde immer wieder behauptet - und auch ebenso oft bestritten. Nach etwas mehr als zweihundertJ ahren linguistischer For­ schung sind sich die Sprachwissenschaftler immer noch nicht einig dariiber, was sie iiberhaupt erforschen wollen, oder wie Ludwig Jager (1993a: 77) es ausdri.ick­ te: "was das Erkenntnisobjekt der Linguistik sei " . Und was fi.ir unser Thema, den Sprachwandel bemerkenswert ist: Die Antwort auf diese Frage determiniert zu­ gleich die Antwort auf die Frage, weshalb die Sprache sich wandelt. Das Angebot ist reichhaltig: Herder (1744-1803) betrachtete die Sprache als ein "nati.irliche [s] Organ des Verstandes " (Herder sw 5: 47) , Humboldt (17671 83 5 ) als " das bildende Organ des Gedanken" (Humboldt GS T 53) und fi.ir Chomsky (1981: 241) ist sie ein " mentales Organ " . Was ist eigentlich ein Organ? In einschlagigen N achschlagewerken fin det man etwa folgende Antwort: Ein Organ ist eine abgegrenzte Funktionseinheit innerhalb eines vielzelligen Lebe­ wesens, die aus Zellen und Geweben besteht; das Zusammenspiel der Organe bildet einen Organismus. Ich will hier nicht allzu sehr ins Detail gehen, aber darauf hinweisen, dass Herder und Humboldt den Ausdruck "Organ " in einem vollig anderen Sinne verwendeten als Chomsky das tut, namlich in Kantischer Tradition. Sie unter­ s chieden nicht sauber zwis chen " Organ " und " O rganismus " . In heutigem Sprachgebrauch - auch im Chomskyschen - sind Organe ja Teile von Organis­ men. Aber wie auch immer wir den Terminus "Organ " verstehen wollen, wir kommen zunachst einmal ZU dem Schuss: Im wortlichen Sinne ist eine Sprache sicherlich kein Organ, allenfalls in einem metaphorischen Sinne. Bei Chomskys Organbegriff miissen wir allerdings diesbezi.iglich ein wenig vorsichtig sein, denn er reduziert sein Forschungsobjekt ja tatsachlich auf die im Individuum realisierte Grammatik, und diese ist wohl in der Tat real. " Sie ist eines der rea­ len Dinge in der Welt. Die Sprache (was immer das sein mag) ist es nicht " (Chomsky 1980: 3, zit. nach Jager 1993b: 23 ) . A ber: Wie auch immer das gram­ matische Vermogen eines Individuums re al reprasentiert sein mag, ein Organ im wortlichen Sinne ist es auch dann nicht. Auch Chomsky verwendet den Organ­ begriff offensichtlich metaphorisch. Chomsky legt Wert auf die Feststellung, " dass ich den Begriff Sprache verwende, um ein individuelles [Hervorhebung originai] Phanomen zu bezeichnen, ein im Geist/Gehirn eines einzelnen Indivi­ duums reprasentiertes System " (Chomsky 1996: 35). Das, was man auf Deutsch gemeinhin Sprache nennt, und was Linguisten gemeinhin als Gegenstand ihrer Forschung ansehen , halt er fi.ir nicht sehr interessant, unwichtig un d gar fi.ir ver-

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R U D I KEL LER

zichtbar, denn Sprache in diesem Sinne sei lediglich ein Epiphanomen (vgl. Ja­ ger 1993b: 16) . Chomsky hat in zwei Punkten vollig recht. Erstens: Sprache im normalen Verstandnis ist nicht real in dem Sinne, in dem die materielle Repra­ sentation des Sprachvermogens im Gehirn eines Individuums real ist. Und zwei­ tens : Sprache ist, wie ich gleich zeigen werde, in der Tat ein Epiphanomen, aber ein interessantes und faszinierendes. Aber kehren wir zuriick zur Organ-Metapher. Was macht den Begriff des Organs so attraktiv als Metapher fiir die Sprache ? Es ist die Tatsache, dass ein Organ eine Funktionseinheit ist. So wie Niere ein funktionales und notwendi­ ges Modul des menschlichen Organismus ist, so ist die Sprache ein funktionales und notwendiges Modul des menschlichen Verstands bzw. des menschlichen Geistes. Mehr ist mit dieser Metapher wohl nicht gesagt. Nahe verwandt, aber nicht identisch mi t der Organ-Metapher, ist die bereits erwahnte Metapher des Organismus. Die Sprache als einen Organismus zu betrachten, war die verbrei­ tetste linguistische Metapher des 19. J ahrhunderts. Am bekanntestes ist wohl die Charakterisierung von August Schleicher aus dem J ahr 1863: Die Sprachen sind Naturorganismen, die ohne vom Willen de s Menschen bestimmbar zu sein, entstanden, und nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und absterben; auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Namen "Leben" zu verstehen pflegt. Die Glottik, die Wissenschaft der Sprache, ist demnach eine Naturwissenschaft ( Schleicher r863 : 6) .

Aber auch schon lange vor Schleicher, war diese Ansicht bereits popular. So schrieb zum Beispiel Franz Bopp , der als Begriinder der Indogermanistik gilt, im J ahre 1836: Die Sprachen sind als organische Naturkorper anzusehen, die nach bestimmten Geset­ zen sich bilden, ein inneres Lebensprinzip in sich tragend sich entwickeln und nach und nach absterben (Bopp r836: r) .

Worin besteht der wesentliche Unterschied zwischen Organismen und Orga­ nen? Es sind deren zwei: Zum einen sind Organismen Organkomplexe; sie set­ zen sich aus Organen zusammen, sodass man sich fragen kann, welches denn die Organe des sprachlichen Organismus sein konnten. Dazu schweigen sich die Organismustheoretiker allerdings aus . Zum zweiten macht die Organismusme­ tapher die Sprache vom Menschen autonom. Die Sprache als Organ ist gedacht als funktionaler Teil des Menschen. Ein sprachlicher Organismus hingegen ist gedacht als ein vom Menschen unabhangiges Wesen, und zwar ein Lebewesen. Die Organismusmetaphorik geht also einher mit einem hoheren MaB an Ver­ dinglichung und mit Verselbstandigung: Das Leben des sprachlichen Organis­ mus ist vom Willen des Menschen unabhangig, wie Schleicher explizit sagt. Die Sprache, die als Organismus lebt, fiihrt ein Eigenleben. Auch hier konnen wir konnen wir nun fragen: Was macht den Begriff des Organismus so attraktiv zur metaphoris chen Beschreibung der sogenannten natiirlich Sprache? Es sind meines Erachtens drei Eigenschaften, die Sprachen und Organismen gemeinsam haben, wenn auch nur im metaphorischen Sinne:

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r. Organismen sind organisiert; heute wi.irde man vielleicht sagen: wohlstruk­ turiert. 2. In Organismen sind die Teile ( die Organe) und das Ganze funktional auf­ einander bezogen. Diesen Tatbestand ha t Schelling (im Anschluss an Kants Kri­ tik der U rteilskraft, Teil 2, § 66) im J ah re 1797 so ausgedri.ickt: "J edes organische Produkt tragt den Grund seines Daseins in sich selbst, denn es ist von sich selbst U rsache un d Wirkung. Kein einzelner Teil konnte entstehen, als in diesem Ganzen, und dieses Ganze besteht nur in der Wechselwirkung der Teile " (Schel­ ling 1797/ r958: 69o) . 3 · Organismen sind lebendig. Die erste Eigenschaft, die der Strukturiertheit, ist unproblematisch. Spra­ chen sind wie Organismen auch in der Tat relativ wohlstrukturiert. Auch die zweite Eigenschaft, die wechselseitige funktionale Bezogenheit der Teile und des Ganzen, findet in der Sprache ihr Analogon. Artikel sind wechselseitig funktio­ nal auf Substantive bezogen, ebenso wie Subjekte auf Pradikate oder Satze auf Texte. Problematisch ist nati.irlich die dritte Eigenschaft, die Lebendigkeit. Le­ bende Sprachen leben nati.irlich nur im metaphorischen Sinne. Und selbst in diesem Sinne ist die Analogie falsch: Sprachen leben insofern, als sie sich in ei­ nem Prozess soziokultureller Evolution befinden, Organismen hingegen leben im ontogenetischen Sinne: Sie wachsen, altern und sterben. Letzteres hat i.iber­ haupt nichts gemein mit dem, was man metaphorisch als Leben einer Sprache bezeichnen konnte. Wir sehen also: Die Metapher des Organismus als Er­ kenntnismodell fi.ir den ontologis chen Status einer Sprache ist absolut irre­ fi.ihrend. Wer einem Organismus-Vertreter die Frage stellt: " Weshalb unterlie­ gen die Sprachen einem permanenten Wan del ? " , der bekommt die nichtssa­ gende Antwort: "Weil sie Organismen sind, und weil Organismen leben " . Aber immerhin: So lange man die Sprache als Organismus konzipierte, war die Dy­ namik der Sprache eine dem Sprachkonzept inharente Eigenschaft. Wenn wir die Eigens ch aft des Lebens von den d rei genannten Eigen­ schaften wegstrei chen , so bekommen wir ein mechanizistis ches Konzept. Denn Mechanismen unterscheiden sich von Organismen genau dadurch, dass sie keine ihnen innewohnende Lebenskraft besitzen. Mechanismen erhalten ihre Kraft von auBen. Uhren muss man aufziehen, Ba urne leben aus sich selbst heraus - so jedenfalls die Vorstellung des 19. J ahrhunderts. Der mechanizisti­ schen Vorstellung gemaB lebt die Sprache angetrieben durch willentliche und gezielte Akte des Menschen. Die Problematik einer solchen Ansicht habe ich in meinen Arbeiten zum Sprachwandel ausfi.ihrlich dargelegt, sodass ich hier darauf verzichten kann, sie ausfi.ihrlich zu erortern. Sie liegt vor allem darin, dass die Unterstellung, die Menschen veranderten ihre Sprache gezielt und willentlich - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - ganz einfach falsch ist. Kein Romer ha t zu Zeit Caesars gesagt: "Lasst uns so reden , dass aus un­ serem Leiten allmahlich Italienisch wird ! " . Aber faktisch haben sie es getan, die Romer. Die Metapher des Mechanismus als Erkenntnismodell der Sprache Latein fi.ihrt also zu einem unangemessen intentionalischen Bild des Sprach­ wandels . Aber auch fi.ir das mechanizistischen Sprachkonzept gilt: Die Frage, wie die Maschine zum Laufen kommt und wie sie lauft, ist ebenfalls eine dem

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Konzept inharente Frage. Im Konzept des Mechanismus ist der Aspekt der Dynamik mitgedacht. Wenn wir dann auch noch die zweite Eigenschaft wegstreichen, die der wechselseitigen funktionalen Bezogenheit der Teile und des Ganzen, dann bleibt ein strukturalistisches Konzept i.ibrig. Aus der Tatsache, dass Sprachen re­ lativ wohlstrukturierte Systeme darstellen, folgt nicht, dass sie "leben " . Konse­ quenterweise wurde im Zuge der strukturalistischen Sprachbetrachtung der Frage der Sprachentwicklung auch kaum noch Beachtung geschenkt. Und ent­ sprechend trivial ist auch die folgende Bemerkung de Saussures: " Die Zeit an­ dert alles; es gibt keinen Grund, warum die Sprache diesem allgemeinen Gesetz enthoben sein solite " (Saussure 1967: 91) . Wenn man schlie.Blich auch noch den letzten Schritt tut, den Chomsky voll­ zogen hat, und die Sprache als individualpsychologisches Phanomen ansieht, so ist fi.ir Fragen ihrer Dynamik i.iberhaupt kein Platz mehr. Denn die Entwicklung der sprachlichen Kompetenz im Leben eines Individuums hat nicht mehr viel zu tun mit der Entwicklung der Sprache im Sinne eines sozialen Brauchs. Aller­ dings hat Chomskys Sprachbegriff den Vorteil, die Sprache nicht unangemessen zu verdinglichen: Das Zwischenfazit lautet also: Die Frage nach dem ontologischen Status ist ein Dauerbrenner. In den zuri.ickliegenden 200 Jahren ist es nicht gelungen, auf diese Frage eine Antwort zu finden, auf die sich alle oder auch nur die meisten Sprachwissenschaftler hatten einigen konnen. Im Gegenteil, der Begriff der Sprache im sozial- und kulturwissenschaftlich relevanten Sinne wurde im Lau­ fe der Geschichte immer mehr verschlankt, bis er schlie.Blich durch das invidu­ alpsychologische Konzept ganz zum Verschwinden gebracht wurde. Ludwig Ja­ ger bezeichnet diesen Prozess zu Recht als "Erosion " des Erkenntnisgegen­ stands der Sprachwissenschaft (Jager 1993a: 95). Ist es nicht sonderbar, dass Linguisten n aeh mehr als zwei J ahrhunderten erfolgreicher Forschung sich nicht einig dari.ib er sind, was sie eigentlich erfor­ s chen? Was eine Sprache eigentlich ist, liegt nicht offen zutage. Was wir Deutsch oder Italienisch nennen ist offensichtlich ein theoretisches Konstrukt. Ich selbst "beherrsche " Deutsch als Muttersprache; aber was ich "beherrsche " ist nicht das, was man als Linguist unter " der deutschen Sprache " verstehen mochte, sondern allenfalls ein Ausschnitt derselben. Au.Berdem gehoren mei­ nem Sp rachgebrauch Worter und Formen an, die man vielleicht streng ge­ nommen nicht als " dem Deutschen " zugehorig betrachten wi.irde, weil sie dia­ lektal, fehlerhaft oder idiosynkratisch sein mogen. Fi.ir jeden anderen Sprecher des Deutschen (und jeder anderen Sprache) gilt dasselbe. Das hei.Bt, " Deutsch " ist etwas ist, das streng genommen niemand "beherrscht". Meine Individual­ kompetenz ist nicht identisch mit dem, was man " die deutsche Sprache " nennt. Insofern hat Chomsky recht: Real sind lediglich die Individualkompetenzen der einzelnen Sprecher. Aber der Wandel meiner Individualkompetenz ist - den es ja auch gibt - nicht identisch mit dem Wandel der deutschen Sprache. Die Fra­ ge ist also, ob sich ein Sprachbegriff konstruieren lasst, der Raum gibt fi.ir Fra­ gen des Wandels und der methodologisch sauber ist. Dieser Frage wollen wir als nachstes nachgehen.

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Des Ratsels Losung Wenn man feststellen muss, dass 200 J ahre intensiver und durchaus erfolgrei­ cher Sprachforschung nicht zu einer befriedigenden Antwort auf die Frage "Was ist die Sprache fiir ein Ding? " gefiihrt hat, dann liegt der Verdacht nahe, dass die Frage falsch gestellt wurde. Und in der Tat ist es so! (s. Keller 2003) Die Linguisten sahen sich nahezu alles amt gefangen in einer unangemessenen Dichotomie: Ist die Sprache ein Naturphanomen (ein natiirlicher Organismus ) oder ist sie von Menschen gemacht (ein Mechanismus)? Ist sie natiirlich oder kiinstlich ? Hat der Sprachwandel kausale Ursachen oder intentionale Griinde? Wer sich in diese Dichotomie begibt, der hat verloren. Denn er hat nicht be­ merkt, dass das Pradikat "von Menschen gemacht" in einer interessanten Wei­ se zweideutig ist. Auf den ersten Blick ist es durchaus plausibel anzunehmen, dass es genau zwei Klassen von Phanomenen gibt: N aturphanomene un d Artefakte. O der in ei­ ner anderen iiblichen Terminologie: solche, die von Gott gemacht sind und sol­ che, die von Menschen gemacht sind. Ein Naturphanomen ist nicht Ergebnis menschlicher Handlungen; ein Artefakt ist Ergebnis menschlicher Handlungen und Ziel menschlicher Intentionen. Artefakte sind geplant und mehr oder weni­ ger dem Pian entsprechend ausgefiihrt. Aber es gibt eine wichtige dritte Klasse von Phanomenen, die von der Linguistik iibersehen wurde: Solche, die zwar Er­ gebnisse menschlichen Handelns sin d, nicht aber Ziel menschlicher Intentionen. In Ermangelung einer eingefiihrten Terminologie habe ich sie (in Anlehnung an Steven Spielberg) "Phanomene der dritten Art " genannt. Betrachten wir ein nicht-sprachliches Beispiel zu Erlauterung: Auf dem Campus meiner Universitat gibt es zwei Wegenetze, die von Architekten geplanten und Bauarbeitern gebau­ ten Wege sowie ein Netz von Trampelpfaden iiber die Rasenflachen. Letztere sind von Studenten und Mitarbeitern der Universitat " getrampelt " . Wenn man diese beiden Wegenetze auf einem Luftbild miteinander vergleichen wiirde, wiir­ de man schnell erkennen: Das Netz der Trampelpfade ist das bessere, das intel­ ligentere ! Aber die Intelligenz dieses Wegenetzes ist nicht der Intelligenz derer zu verdanken, die es getrampelt haben, sondern deren F aulheit! Je fauler die Po­ pulation der Universitat Diisseldorf ist, desto besser wird das Wegenetz ! Und dieses ist ein prototypisches , einfaches Beispiel fiir ein Phanomen der dritten Art. Es ist Ergebnis menschlicher Handlungen aber nicht Ziel menschlicher Inten­ tionen. Die Menschen, die zu seiner Genese beigetragen haben und seinen Fort­ bestand sicherstellen, wissen gemeinhin gar nicht, dass sie das getan haben und noch tun. Sie gingen nicht iiber den Rasen, um einen Trampelpfad zu erzeugen, sondern um von A nach B zu gelangen und dabei nicht mehr Energie zu verbrau­ chen, als unbedingt notwendig ist. Sie trampelten den Pfad weder wissentlich noch willentlich. Meine These ist: Das Analoge gilt fiir das, was wir eine natiirli­ che Sprache nennen. Menschen verfolgen bei Ihren Handlungen lokale Ziele, und wenn sie dabei nach gleichen oder ahnlichen Maximen handeln, erzeugen sie Strukturen, die zum Zeitpunkt ihres Handelns iiberhaupt nicht im Bereich ih­ res Fokus liegen. An dem einfachen Beispiel des Trampelpfades konnen wir auch

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lei eht nachvollziehen, wie eine erklarende Theorie eines solchen Phanomens aus­ sehen muss. Sie besteht aus fiinf Faktoren: r. Wir ha ben zunachst die Akteure. Die ha ben ihre lokalen Handlungsziele, in diesem F ali von A n a eh B zu gelangen. 2. Diesen Akteuren unterstellen wir, dass sie (bzw. viele von ihnen) ihre Hand­ lungsziele n aeh bestimmten Handlungsmaximen realisieren, in diesem Falle: Spare Energie. 3· Wir brauchen eine Theorie iiber die herrschenden Rahmenbedingungen: Hier ist das Germanistische Institut, dort ist die Bibliothek, dazwischen befin­ det sich eine Rasenflache. Wir wissen auch, dass Graspflanzen unter den gege­ benen Witterungsbedingungen absterben, wenn Menschen regelmai�ig auf sie treten. Und wir wissen, dass Menschen in Deutschland nicht zogern, ii ber eine Rasenflache zu gehen, da dies nicht besonders sanktioniert ist. 4· Auf der Basis der Annahmen I bis 3 konnen wir hochrechnen, dass ein Tram­ pelpfad von A nach B entsteht, wenn die Annahmen korrekt sin d. 5· Deshalb unterstellen wir, dass dies eine plausible Erklarung fiir die Genese des Trampelpfads und dessen Weiterexistenz darstellt. Eine solche Theorie nennt man Theorie nennt man - nach einer Metapher von Adam Smith - eine Invisible-hand-Theorie. Wesentlich an einer solchen Theorie ist, dass das Endergebnis , der Trampelpfad, nicht vorgeplant ist, son­ dern "wie von unsichtbarer Hand geleitet" (Smith I776lr92o: 23 5) gleichsam spontan entsteht, wenn Menschen ihre lokalen Ziele auf gleichartige Weise zu erreichen versuchen. Wesentlich ist auch, dass man strikt unterscheiden muss zwischen der Mikroebene des individuellen Handelns und der Makroebene der durch dieses Handeln unintendiert erzeugte Struktur. Die Struktur selbst ist al­ so ein Epiphanomen des Handelns der Individuen. Eine solche Theorie ist nur einem schwachen Sinne eine empirische. Ich selbst habe noch nie den Prozess der Genese eines Trampelpfads wirklich em­ pirisch beobachtet. Dennoch bin ich mir sehr sicher, dass meine Theorie ada­ quat ist. Woher nehme ich diese Sicherheit? Ich weiB, dass die Annahmen I, 3 und 4 korrekt sind; sie lieBen sich gegebenenfalls empirisch verifizieren. Pro­ blematisch aber ents cheidend ist die Annahme 2. Problematisch ist sie, weil sie nur schwer zu iiberpriifen ist. Befragungen sind hochst unzuverlassig, weil be­ kanntermaBen Menschen kaum in der Lage sind, die Maximen ihres Verhaltens und Handels korrekt selbst einzuschatzen. Entscheidend aber ist sie, weil sie es ist, die erklart, wieso sich Menschen einigermaBen gleichartig verhalten. Das Problem der Erklarung eines Phanomens der dritten Art ist doch, eine plausi­ ble Hypothese zu entwerfen, weshalb sich die Akteure ohne Absprache und oh­ ne dies zu wissen gleichsam koordiniert verhalten. Wenn Leute kreuz und quer iiber den Rasen laufen, entsteht nichts Interessantes. Was also bringt sie dazu, sich koordiniert zu Verhalten, ohne dass es einen Koordinator gibt? Die Kunst besteht also darin, Handlungsmaximen zu eruieren, die man den Akteuren plau­ siblerweise unterstellen darf. Im Falle des Trampelpfads liegt die Maxime mehr oder weniger auf der Han d. Im Falle von Sprachwandelsphanomenen ist es oft­ mals unmoglich, im Nachhinein plausible Maximen ZU finden. Aber das bedeu­ tet lediglich, dass man das betreffende Phanomen dann nicht erklaren kann.

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Denn meine These lautet: Als erkHirende Theorie des Sprachwandels kommt nur die Invisible-hand-Theorie in Frage. Alle anderen Erklarungsmodi sind a priori inadaquat - aufgrund der besonderen Eigenschaften einer sogenannten nati.irlichen Sprache als Phanomen der dritten Art. Warum beschaftigt man sich i.iberhaupt mit Sprachwandel? Dafi.ir kann es verschiedene Motive geben. Man kann sich beispielsweise dafi.ir interessieren, wie ein fri.iherer Zustand der Sprache - oder eines Ausschnitts davon - ausgesehen ha­ ben mag. Das ist das primare Erkenntnisinteresse des Sprachhistorikers. Man kann aber auch etwas i.iber den gegenwartigen Zustand der Sprache herausfinden wollen und i.iber die Prinzipien unseres Kommunizierens. Dieses eher systemati­ sche und theoretische Interesse liegt dem vorliegenden Beitrag zugrunde. Etwas verki.irzt gesagt: Mein Ziel ist, Gegenwartiges als Gewordenes zu verstehen - un d damit etwas i.iber die Prinzipien und Regularitaten des Sprachwandels und damit auch i.iber einige Prinzipien unseres Kommunizierens zu erfahren. Der Prozess des Sprachwandels ist ein Beispiel kultureller Evolution, und bei Ergebnissen kul­ tureller Evolution ist es nicht anders als in der belebten Natur: Der gegenwartige Zustand eines Systems ist eine Funktion komplexer Variations- und Auswahlpro­ zesse, die in der Vergangenheit stattgefunden haben - mit einem groBen Unter­ schied: In der belebten Natur sind es allein die okologischen Bedingungen (die Rahmenbedingungen), die i.iber die biologica! fitness einer bestimmten Variante entscheiden; die Varianten selbst sind Zufallsprodukte. In der Evolution der Spra­ che hingegen sind es kommunizierende Individuen, die sprachliche Varianten, so­ genannte Lingueme \ aus ihrem Repertoire auswahlen oder auch gezielt erzeugen - den P rozess der Selektion antizipierend - im Dienste ihrer social fitness. Wahrend in der Evolution der belebten N atur ausschlieBlich kausale Mechanis­ men das Wechselspiel von Variation und Selektion bestimmen, kommen beim Sprachwandel intentionale Prozesse hinzu (vgl. Keller 1990/ 2oo3: 191 ff. ) . Gegen die These, dass Sprachwandel nur i m Modus der Invisible-hand-Er­ klarung erklarbar ist, wurde eingewendet: Aber es gibt doch Falle, wo Sprach­ wandel geplant ist, und es gibt Beispiele intentionaler Sprachpolitik. Meine Ant­ wort darauf lautet: J a, beides gibt es, aber das andert nichts an der Tatsache, dass Sprachwandel ein Invisible-hand-Phanomen ist. Zum einen sind die sprachli­ chen Veranderungen, die Ergebnis sprachplanerischer Eingriffe sind, ausge­ sprochen gering an Zahl. Zum anderen ist prinzipiell offen, welche Auswirkun­ gen sprachpolitische Initiativen im Endeffekt tats achlich haben. Das Beispiel der sprachpuristisch motivierten Verdeutschungsbestrebungen des 18. J ahrhun­ derts kann dies verdeutlichen: Der groBte Teil der Eindeutschungsvorschlage wurde von der Sprachgemeinschaft nicht angenommen, ein kleinerer Teil fi.ihr­ te zu sprachlichen Dubletten der Art "Autor - Schriftsteller" , und nur ein ganz kleiner Teil zeitigte das Ergebnis, das sprachpolitisch gewi.inscht war, den Ersatz des Lehnworts durch den autochthonen Gegenvorschlag (vgl. Daniels 1959). Mit der Sprachpolitik verhalt es sich so wie mit der Wirtschaftspolitik in einer frei­ en Marktwirtschaft: Ihre MaBnahmen stellen lediglich einen der vielen Einfluss­ faktoren dar, unter denen die Sprachakteure bzw. die Wirtschaftsakteure han1. Dieser Terminus wurde laut Croft (2ooo: 28) von Martin Haspelmath gepragt.

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deln. Der Sprachpolitiker verhalt sich zur Sp rachgemeinschaft nicht wie der Ar­ chitekt zur Bautruppe. Er verhalt sich eher wie der Prasident der Europaischen Zentralbank zur /inancial community, wenn er etwa versucht durch Zinsande­ rungen die Inflation einer Wahrung oder das Wirtschaftswachstum zu beein­ flussen. Das Ergebnis bleibt in jedem Fall ein Invisible-hand-Phanomen. (Gre­ enspans Niedrigzinspolitik der letzten J ahre in den USA ist dafiir ein schmerzli­ ches Beispiel ! ) Der gegenwartige Zustand unserer Sprache ist eine fliichtige Epi­ sode in einem potenziell endlosen Prozess soziokultureller Evolution. Ein Mechanismus, der zu quasi-koordiniertem Verhalten fiihrt, wurde schon friih erkannt: Einer hat eine tolle Idee un d wahlt ein innovatives sprachliches Mit­ tel, un d die anderen machen es nach. Als Maxime konnten wir formulieren: " Imi­ tiere die sprachliche Wahl des anderen, wenn du siehst, dass dessen Wahl erfolg­ reich war. " So hat beispielsweise Eugenio Coseriu bereits im J ahre 1958 den Sprachwandel zuriickgefiihrt auf ein Zusammenspiel von inovaci6n un d adapci6n "Das hei.Bt, das letztlich jeder Wandel eine Ubernahme ist " Coseriu (1958h974: 68; Hervorhebg. Originai) . Und William Croft sah ein halbes Jahrhundert spater in den beiden Komponenten innovation un d propagation "necessary components of language change" (Croft 2ooo: 4-6) . Diese Sicht der Dinge ist zu einfach, und sie ist iibergeneralisierend. Es ist nicht ausgeschlossen, dass irgendwann ein Ju­ gendlicher auf die Idee kam, sein schones Moped mit der Metapher " geil" zu be­ legen, und dass dann auf dem Weg einer epidemischen O bernahme-Kettenreak­ tion aus einem Tabuwort ein expressiv-evaluatives Adjektiv wurde, das dem Aus­ druck der Begeisterung dient. Es ist aber beispielsweise ausgeschlossen, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Adressat damit anfing, das Adjektiv " billig" , das damals noch " angemessen" bedeutete, im Sinne von " niedrig" (bezogen auf Prei­ se) zu interpretieren, und dass die anderen ihm diese Interpretation nachmach­ ten. Denn dieser Bedeutungswandel wurde im Wesentlichen von den Horern vollzogen: Sie interpretierten "billiger Preis " , was ja zu Goethes Zeiten noch " an­ gemessener Preis " bedeutet im Sinne von " angemessen fiir mich als Kaufer" (nicht fiir Dich als Handler). Und es ware, wenn auch nicht ausgeschlossen, so doch ausgesprochen unplausibel, anzunehmen, dass etwa ein romischer Koloni­ aloffizier in Hispanien das lateinische "habent" auf schnoddrige Weise als " han" aussprach und die anderen das so attraktiv fanden, dass sie diese Aussprache­ version iibernahmen. Mit anderen Worten: In einigen Fallen spielt Nachahmung eine wichtige Rolle, in vielen anderen Fallen gar keine. Im O brigen ist Imitationsverhalten oder di e O bernahme einer N euerung auch nicht wirklich der Faktor, der den Wandel erklart! Wenn Sprecher syste­ matisch dazu neigen, eine bestimmte Sprachwahl zu iibernehmen und andere Wahlen nicht, so ist gerade dies erklarungsbediirftig. Denn die O bernahme selbst ist ja kein Motiv der Sprecher. Die Motive, die einen Sprecher dazu fiihren, vom bislang orthodoxen Sprachgebrauch abzuweichen (und dabei mog­ licherweise einem Vorbild zu folgen), konnen sehr vielfaltig sein: Energieer­ sparnis , Hoflichkeit, Imponiergehabe und viele andere mehr. Solche Motive las­ sen sich in Form von post-Griceanischen Maximen formulieren, etwa der Art: "Rede so, dass du Artikulationsenergie sparst'' oder "Rede so, dass du nieman­ den verletzt " . Selbstverstandlich wird dabei nicht vorausgesetzt, dass dem Spre-

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cher die Motive seines Handelns bewusst sind. Die Formulierung in Form von Maximen ist einfach ein Darstellungstrick, eine Methode, Handlungsweisen zu beschreiben: Man beschreibt eine Handlung H, indem man eine Aufforderung formuliert, die man dadurch erfiillt, dass man H tut. Die Kunst, einen speziellen Fall von Sprachwandel zu erklaren, besteht zum Teil darin, Maximen zu for­ mulieren, die man unter den gegebenen Rahmenbedingen des Kommunizierens den beteiligten Kommunikationspartnern billigerweise unterstellen kann. Man muss die Briicke finden von den Handlungsweisen der kommunizierenden In­ dividuen zu dem sprachlichen Phanomen, dessen Genese es zu erklaren gilt. So stellt beispielsweise die Bildung einer Metapher selbst noch keinen Bedeu­ tungswandel dar. Erst wenn eine bestimmte Metapher frequent und von vielen gebildet wird, lexikalisiert sie (vgl. Keller 1995a: 1 83 ff. ), und erst dann liegt ein Fall von Sprachwandel vor (vgl. Coseriu 2005 : n9) Jede Erklarung besteht im Grunde genommen aus vier Faktoren, die man streng auseinanderhalten muss: L die (unterstellten) Motive der Sprecher (z.B. nicht missverstanden werden wollen) ; 2 . die Darstellung der sprachlichen und au13ersp rachlichen Rahmenbedingun­ gen; 3· die sprachlichen Mittel der Umsetzung dieser Motive (z.B. Vermeidung ei­ nes Ausdrucks in einer von zwei Bedeutungsvarianten) ; 4· die sprachlichen Folgen (auf der Ebene der Langue), die die Sprecherwahl hervorbringt (z.B. " Homonymenflucht " ) . Eine genetische Erklarung dieser Art ist kein Alles-oder-nichts-Phanomen. Eine vollstandige Erklarung kommt nur dann zustande, wenn alle vier Faktoren ausgefiihrt sind. Oft gelingt es nicht oder nur teilweise, den Prozess von der Sprecherwahl zum Sprachwandel zu rekonstruieren (Vgl. Baldinger 2005 : 45) . 4 Einige Beispiele Ein Problem bei dem Versuch, Invisible-hand-Erklarungen fiir einzelne Falle von Sprachwandel zu finden, besteht, wie bereits erwahnt, darin, plausible Hy­ pothesen iiber die Motive der Sprecher zu entwickeln und diese "hochzurech­ nen " , zu extrapolieren: Was fiihrt die Sprecher dazu, ein bestimmtes Wort an­ ders als es friiher iiblich war zu artikulieren (im Falle des Lautwandels) , anders zu flektieren (im Falle des morphologischen Wandels) oder so frequent in einem ganz speziellen Sinn zu verwenden, dass dieser zu einer neuen Konvention lexi­ kalisiert wird (im Falle des Bedeutungswandels) ? I m Falle des Lautwandels ist e s sehr oft (aber nicht immer) die Maxime, die auch den Trampelpfad erzeugt, namlich die Maxime der Energieersparung. Wir driicken uns in der alltaglichen Umgangssprache meist so aus , dass wir Artiku­ lationsenergie sparen. Was den Wandel von lat. " conbinare " zu span. " com­ binar" erzeugte, war die gleiche Maxime, di e im Deutschen " einbar" ii ber "eim­ ber" zu " Eimer" werden lie13 oder die die Deutschen dazu fiihrt, " haben " in der Umgangssprache als "ham" auszusprechen und die Tiirken bewegt, "on be§" als " om be§ " (fiinfzehn) zu sprechen. Die Kombination " mb" ist artikulatorisch we-

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niger aufwandig als die Kombination "nb " , weil sowohl " m " als auch " b " bila­ bial sind, also an der gleichen Artikulationsstelle erzeugt werden. Beim morphologischen Wandel spielt oft das eine Rolle, was Linguisten tra­ ditionellerweise das Analogieprinzip nennen. In der heutigen deutschen Um­ gangssprache ist haufig zu horen - auch bei gebildeten Sprechern - dass sie "im Herbst diesen Jahres " sagen anstatt "im Herbst dieses Jahres" . Warum machen sie speziell diesen "Fehler" ? Kaum jemand wi.irde schlie.Blich " die Hosen diesen Kindes " sagen. Der Grund ist der, dass die Leute den Ausdruck "im Herbst die­ sen Jahres " mit dem semantischen Paradigma "im Herbst nachsten l vorigen l letzten J ahres " assoziieren. Da bei bemerken sie nicht, dass es sich bei "nachsten " , "vorigen" und "letzten" u m Adjektive handelt, wahrend " dieses " ein Artikelwort ist (ein Demonstrativpronomen), das anders dekliniert wird als Adjektive. Noch empfinden viele aufmerksame Deutschsprecher dies als Fehler, aber wir konnen sicher sein: Die systematischen F ehler von heute sin d di e neuen Regeln von mor­ gen. Voli akzeptiert ist beispielsweise der ehemalige Fehler " des Nachts " ("Des N achts ging er spazieren " ) . Der Genitiv von " die N a eh t" heillt bekanntlich " der Nacht" und nicht " des Nachts " ! Aber auch hier gilt: Die Leute sehen " des Nachts " in der semantischen Reihe " des Morgens l Mittags l Abends " und be­ achten nicht dass das Substantiv "Nacht" anders als die anderen drei Tageszei­ tenbezeichnungen zufalligerweise feminin ist. Hier hat sich der Fehler verregelt und hat damit aufgehort, einer zu sein. Das Streben nach Analogie ist in vielen Fallen auch so etwas wie das Streben nach Energieersparnis, aber nicht im moto­ rischen Bereich sondern im kognitiven. Salopp gesagt handeln wir nach der Ma­ xime: Wenn ich nicht wei.B, wie es geht, mache ich es so, wie in ahnlichen Fallen. Betrachten wir zum Abschluss noch zwei Beispiele semantischen Wandels . Hier ist der Ausloser des Wandels sehr oft der Wunsch des Sprechers , sich ri.ick­ sichtsvoll auszudri.icken - oder aus anderer Perspektive betrachtet: sich so aus­ zudri.icken, dass er nicht auf eine negative Interpretation festgelegt werden kann. Hoflichkeit und Riicksichtnahme bilden haufig den Ausgangspunkt fiir Bedeutungswandel. Betrachten wir den Fall des Adjektivs riistig: Dieses Wort war noch vor etwas mehr als 100 J ahren auf Menschen jeglichen Alters anwend­ bar, um von ihnen zu sagen, dass sie vi tal un d kraftig waren. Im Handworterbuch der deutschen Sprache von Daniel Sanders aus dem J ahre 1878 findet man unter riistig die Bedeutungsangabe " mit tiichtiger, frischer Kraft ausgestattet " . So spricht Goethe beispielsweise von einem ri.istigen Sohn (Goethe 1990, 2 338: I826) oder von Enkelkindern, die ri.istige und lebensfrohe Personen waren (Goethe 1990, I 41: 14- 22). Heute konnen wir das Adjektiv riistig im wortlichen Sinn nur noch auf altere Menschen anwenden, um zu sagen, dass sie nicht so hinfallig sind, wie man eigentlich angesichts ihres Alters erwarten konnte. Ent­ sprechend finden wir im Deutschen Universalworterbuch des Dudenverlages un­ ter riistig den Eintrag " (trotz Alter) noch fahig, [anstrengende] Aufgaben zu er­ fi.illen; noch nicht hinfallig, sondern frisch un d leistungsfahig " . Welcher Prozess hat hier stattgefunden? Der Gebrauch eines Wortes, das einen relativ umfang­ reichen Anwendungsbereich hat, wird aus irgendwelchen Griinden auf einen speziellen Bereich, den der alteren Menschen, angewendet, und der spezifische Sinn , der sich aus diesen Verwendungen ergibt, wird zur neuen Bedeutung ver-

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regelt. Warum fand dieser Prozess iiberhaupt statt und warum gerade zu jener Zeit? Das der Ausdruckswahl zugrunde liegende Motiv diirfte das der Scho­ nung gewesen sein . " Noch riistig " klingt freundlicher als " schon ein bisschen hinfallig" . Aber weshalb konnen wir h eu te nicht mehr von einem Vierzigjahri­ gen sagen, er sei riistig - etwa im Sinne von " fit un d gesund" ? Bedeutungswan­ del hat oft einen selbstbeschleunigenden Effekt. Mit dem Beginn der Speziali­ sierung des Gebrauchs auf altere Leute setzt auch die Gefahr ein, missverstan­ den zu werden, wenn man das Wort in alter Bedeutung verwendet. Wer sich die­ ser Gefahr bewusst ist, oder wer den ersten ungewollten Heiterkeitserfolg er­ zielte, als er seinen vierzigjahrigen Nachbarn " riistig " nannte, der wird diesen Gebrauch vermeiden - und das wiederum wird die Spezialisierung des Anwen­ dungsbereichs samt der Bildung einer neuen Gebrauchsregel beschleunigen. Aber weshalb fan d dieser Prozess gerade im letzten Drittel des 19. J ahrhunderts statt? Dari.iber habe ich keine verniinftige Hypothese. Entstand moglicherwei­ se zu jener Zeit ein neu es Bild d es alternden Menschen? Hier zeigt sich, wie Be­ deutungswandel von soziokulturellem Wandel beeinflusst sein kann - und zwar nicht im Sinne einer platten Spiegelung (vgl. Keller 1995b), sondern in dem Sin­ ne, dass auBersprachliche soziokulturelle Faktoren fur die Wahl der sprachli­ chen Mittel eine Rolle spielen konnen, die wiederum bestimmte unbeabsichtig­ te Effekte der sprachlichen Evolution zeitigen konnen (vgl. Keller 1995a). Den Wandel der Bedeutung des Adjektivs riistig hat man traditionellerwei­ se unter die Kategorie "Bedeutungsverengung" gefasst, eine Kategorie, die be­ reits von Stephen Ullmann kritisiert worden ist: "Was ist schon i.iber 'underta­ ker' ['Unternehmer' > 'Leichenbestatter' (R.K.)] ausgesagt, wenn wir lediglich erfahren, dass eine Bedeutungsverengung eingetreten ist? " (Ullmann 1967: 190) . Ich mochte diesen Wandel "Bedeutungsspezifizierung" nennen, denn charak­ teristisch fiir alle Prozesse dieser Art ist Folgendes: Ein Wort, dessen Verwen­ dung relativ bereichsunabhangig ist, enthalt, einen spezifischen Sinn, wenn es auf einen Gegenstand eines bestimmten Bereichs angewendet wird. Dieser be­ reichsspezifische Sinn wird zur neuen Bedeutung verregelt, wenn die Sprecher - aus welchen Gri.inden auch immer - dazu iibergehen, das Wort vornehmlich auf Gegenstande dieses Bereichs anzuwenden. Betrachten wir zur Erlauterung dieses Prozesses ein fiktives Beispiel: Das Adjektiv " angenehm " hat eine relativ allgemeine Bedeutung. Wenn einer sagt " Das Wetter ist heute angenehm" , so meint er mit " angenehm" in diesem Kon­ text moglicherweise " trocken un d nicht zu heiB " . Wenn er aber sagt " Unser neu­ er Nachbar ist sehr angenehm" , so meint er mit " angenehm " etwas ganz ande­ res , namlich vielleicht " freundlich und ruhig " . Was von Fall zu Fall mit dem Ad­ jektiv " angenehm " gemeint ist, kann sehr verschieden sein. Denno eh wiirden wir sagen wollen, dass " angenehm " genau eine Bedeutung hat: " angenehm" wird dazu verwendet, um von etwas zu sagen, dass es Wohlbefinden erzeugt oder zumindest nicht stort. Eben dies zu wissen, heiBt, die Bedeutung von " an­ genehm " zu kennen. Auf der Basis dieses Wissens sowie des Partner- und Kon­ textkenntnissens kann der Adressat erschlieBen, in welchem Sinn in einer gege­ benen A uBerung " angenehm " gemeint ist. Wenn nun die Menschen dazu iiber­ gehen wi.irden, " angenehm " vornehmlich in Bezug auf das Wetter zu verwen-

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den un d nicht mehr fur N achbarn, Pullover o der Rotwein, dann wiirde der eh e­ mals kontextspezifische Sinn, "trocken und nicht zu heill" zur neuen Bedeutung dieses Adjektivs verregeln. Sprecher nati.irlicher Sp rachen verfiigen iiber ein Kreativprogramm (vgl. Nerlich l Clarke 1988), das ihnen erlaubt, vollig neuen Sinn aus altem Material zu erzeugen. Wir haben die Moglichkeit, sprachliche Ausdri.icke in einem nicht­ wortlichen Sinn zu verwenden. Dabei muten wir dem Adressaten einen Umweg bei der Interpretation zu. Er muss das Gesagte im wortlichen Sinn verstehen, feststellen, dass dieser in der gegebenen Situation bzw. im gegebenen Kontext nicht der intendierte sein kann, und dann nach einem anderen plausiblen Sinn suchen, der mit dem wortlichen in einer systematischen Beziehung steht. Die prominentesten systematischen Beziehungen, die wir dabei nutzen, sind das me­ taphorische und das metonymische Verfahren; beide spielen eine wichtige Rol­ le in Prozessen des Bedeutungswandels. Das kommt nicht von ungefahr, denn sie sind zuverlassige Losungswege fi.ir eine Reihe von Standardproblemen des Kommunizierens: Wer beispielsweise Aufmerksamkeit erwecken will, ist mit ei­ ner treffenden Metapher immer auf der richtigen Seite, und wer sich schonend oder euphemistis ch aus dri.icken mochte, dem bietet sich die metaphorische Ausdrucksweise ebenfalls an. Wenn wir uns etwa unsere umgangssprachliche Terminologie fi.ir geistige Schwache ansehen, so stellen wir fest, dass es sich da­ bei durchweg um ehemalige Metaphern ( " doof" , ndd. " taub " ) , "blod " (fnhd. " s chwach " ) oder um Metonymien ( " bekloppt " , " behammert " , "beknackt " ) handelt. Bei den beiden Metaphern werden Ausdri.icke fi.ir korperliche Defizi­ te verwendet, um geistige Defizite zu bezeichnen, und bei den drei Metonymi­ en werden U rsachen genannt ( (auf den Kopf) klopfen, hammern, einen Knacks ( Riss) im Schadel haben), um deren Wirkung zu bezeichnen. Wahrend bei dem Adjektiv " blod" wohl das Bestreben nach schonender Ausdrucksweise das anfangliche Motiv der Wortwahl war - so wie Lehrer einen Schiiler auch beute noch " schwach " nennen - wird vermutlich bei den anderen vier Adjektiven das Motiv der Aufmerksamkeitssuche im Vordergrund gestanden haben. Wie das metaphorische und das metonymische Verfahren zusammenspielen konnen, lasst sich an dem Adjektiv " geil " zeigen, dem in seinem langen Le ben so ziemlich alles passiert ist, was einem passieren kann, wenn man ein Adjektiv ist. Ein Blick ins Grimmsche Worterbuch sowie in die einschlagigen Arbeiten von Riidiger Brandt (1989), Katrin Wiebusch (2003 ) und von Sandra Lampen­ scherf (2007) ma eh t Folgendes deutlich: Im 12. J ahrhundert wurde das Adjektiv geil noch vornehmlich im Sinne von " froh " , " i.ibermi.itig" oder auch " kraft­ strotzend" verwendet: " so wart er uz der ah te stark, ki.iene un de geil " 2 (So war er i.iberaus stark, ki.ihn und ausgelassen). N ati.irlich konnte aber auch damals schon ein Wort mi t der Bedeutung 'iibermiitig' sowohl im negativen Sinne als auch - gleichsam mit einem Augen­ zwinkern - mit sexuellem Hintersinn verwendet werden. "Also sprach ein altiu in ir geile" 3 (So sprach eine Alte in ihrem sexuellen O bermut) . =

2. Ulrich von Zatzikhoven (um 12oo) Lanzelet Vers 3969, zitiert nach nwb 3 . Neidhart, Sommerlied 16, Strophe v, zitiert nach Beyschlag (1975: 77) .

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Das lasst aber noch nicht den Schluss zu, dass das Wort gei! bereits eine se­ xuelle Bedeutung angenommen hat. Auch heute lieBe sich ja beispielsweise das Wort ubermutig in geeignetem Kontext in erotischem Sinne gebrauchen. Bei Martin Luther un d iiberhaupt im 16. un d 17. ] ahrhundert hat gei! jedoch bereits eine abwertende evaluative Bedeutung, wenn auch noch keine ausschlie.Blich se­ xuelle. Im ersten Beispiel ist eine sexuelle Lesart ausgeschlossen, im zweiten ist sie eher wahrscheinlich: " Da er Uakob] aber fett und satt ward, ward er geil" 4• "}unge witwen, wenn sie geil und furwitz worden sind, dasz sie das futter sticht, so wol­ len sie freyen" 5.

Ab dem Ende des 17. ] ahrhunderts ist dann a ber festzustellen, dass geil nahezu ausschlie.Blich in erotischem oder sexuellem Sinn verwendet wird. Aber wie die folgenden Beispiele zeigen, ist damit noch nicht der Zustand der Tabuisierung erreicht: " Hofmannswaldau und Lohenstein aber sind auch in diesem Sti.icke in die FuBstapfen der geilen Italiener getreten, die ihrer Feder so wenig als ihren Begierden ein MaaB zu setzen wissen" 6. " 1st das kindliche Dankbarkeit gegen vaterliche Milde? Wer dem geilen Kitzel eines Au­ genblicks zehn Jahre eures Lebens aufopfert? " 7 .

Um welchen Pfad des Wandels es sich hierbei handelt, konnen wir nicht end­ giiltig entscheiden: Wenn man unterstellt, dass die Bedeutung "iibermiitig" den Ausgangspunkt des Wandels hin zur sexuellen Bedeutung darstellte, so handelt es sich um einen Fall von Bedeutungsspezifizierung: "Geil " bedeutet " iiber­ miitig im sexuellen Sinne" . Solite jedoch die Bedeutung " froh, ausgelassen " den Ausgangspunkt gebildet haben, so ist eher anzunehmen, dass es sich um eine Metaphorisierung handelt: Sexuelle Lust wird im Lichte seelischen Wohlbefin­ dens betrachtet. In beiden Fallen diirfte die Absicht, sich euphemistisch auszu­ driicken, das Motiv zur Wahi des sprachlichen Mittels gewesen sein. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass wahlweise beide Pfade beschritten wurden. Wer " geil " eher im kritischen abwertenden Sinne gebrauchte, der konnte die Be­ deutung " (zu) iibermiitig" zum Ausgangspunkt nehmen, un d wer deftige Ero­ tik zum Ausdrucke bringen wollte, wie es in der folgenden Passage eines Stu­ dentenliedes der Fall ist, der bildete eine Metapher auf der Basis der Bedeutung " froh, ausgelassen " :

4 · Mose 32, 1 5 in der Ùbersetzung von Martin Luther. In der neuen Bibeliibersetzung steht hier " iibermiitig " . 5 · Timotheus 5, n i n der Ùbersetzung von Martin Luther. In der neuen Bibeliibersetzung hei�t es : "Jiingere Witwen [. .. ] wenn sie ihrer Begierde nachgeben " . 6 . Gottsched (1751) , zitiert nach Dwb 4 : 2587. 7· Schiller, Friedrich: Die Riiuber, 1. Akt, 1 . Szene (zitiert nach nwb. 4 : 2586) .

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Komm, mein Engel, lass uns lieben, weil der Lenz der Jahre lacht [ . . ] Unsre Glieder fuhlen Feuer, und die Ader schwillt von Blut, J a, kein Ab gang unserer Starcke schwacht uns in dem geilen Wercke 8 . .

In dem MaBe, in dem das Adjektiv " geil" - vor allem in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts - dazu verwendet wird, sexuelle Lust nicht nur zu beschreiben, son­ dern gar Erregtheit zum Ausdruck zu bringen, wird es obszon un d dami t zum Ta­ buwort. Es verschwindet aus der offentlichen literarischen Sprache - selbst die Worterbiicher meiden es - und es fristet fiir ein J ahrhundert ein halbverborge­ nes Dasein in der obszonen Rede und der klandestinen Literatur. Was macht ein Wort zu einem Tabuwort? Worin besteht die spezifische Ei­ genschaft der Semantik des Tabus? Diese Fragen sind bislang nach meinem Dafiirhalten noch nicht zufriedenstellend beantwortet. Zunachst einmal folgen Tabuworter - Substantive, Adjektive und Verben - ganz normalen Gebrauchs­ regeln wie andere Worter auch. Auf diesen Gebrauchs regeln operieren dann aber Vermeidungsgebote sehr rigider Art. So ist es beispielsweise nicht nur ver­ pont, ein Tabuwort zu gebrauchen, es gehort sich auch nicht, eines zu zitieren. Das ist wohl der Grund dafiir, dass Mitte des 19. Jahrhunderts das Adjektiv " geil" aus Worterbiichern verbannt wird, und wohl auch teilweise der Grund dafiir, dass die Semantik des Tabuworts in der Linguistik ein ungelostes Problemfeld darstellt. Tabuworter sind offenbar mit einer Verwendungsscheu verbunden, so wie Tabuspeisen mit einem Ekel verbunden sind. Es ist hierzulande ja nicht ver­ boten, frittierte Heuschrecken zu essen (was beispielsweise in Asien allenthalben getan wird); ich meide ihren Verzehr auch nicht etwa deshalb, weil sie mir nicht schmecken. I eh weiB gar nicht, wie sie schmecken, un d ekle mi eh dennoch. Denn in Europa ist es tabu, Insekten zu verzehren. Eine ahnliche Scheu ist mit dem Ta­ buwort verbunden. Es ist nicht einfach verboten, eines zu verwenden, so wie es etwa verboten ist, in der Feuerwehrzone eines Krankenhauses zu parken. Es gibt eine internalisierte Scheu, es im normalen Alltag zu gebrauchen - eine Scheu, die man beim Erwerb eines fremdsprachigen Tabuwortes nicht leicht miterwerben kann. Das unterscheidet das Tabu vom Verbot: Die Unterlassung des Verbote­ nen ist von auBen motiviert, die des Tabuisierten von innen - etwa durch Scheu oder Ekel. Wie diese Scheu bedeutungstheoretisch zu erfassen ist, und wie sie im Zuge des Bedeutungswandels entsteht, das weill ich nicht. Mit dem Wandel zum Tabuwort wird es schwierig, den weiteren Verlauf der Bedeutungsentwicklung des Wortes " geil" nachzuverfolgen. Tabuworter wer­ den vornehmlich im miindlichen Sprachgebrauch verwendet und auch da nur in Situationen, die sich naturgemaB der Dokumentation und der Untersuchung weitgehend entziehen. Und so "lebte" dieses Adjektiv im Untergrund weiter, bis es schlieBlich gegen Ende des 20. J ahrhunderts wieder an die Oberflache kam, und zwar als jugendsprachlicher emotiv-expressiver Ausdruck hochster Wert­ schatzung: " ein geiles Moped ! " 9, Wie konnte das passieren? 8. Giinther, Johann Christian: Liebesgedichte und Studentenlieder. Nach der Ausgabe von Kra­ mer, Wilhelm (1930: 74) (zitiert nach Wiebusch 2003: w6) . 9· Der Eintrag in der 23. Auflage (2004) des Rechtschreibduden lautet: "geil (]ugendspr. auch /ur groBartig, toll) " .

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Fiir Jugendliche, die imponieren und Aufmerksamkeit erregen wollen, kann es eine gute Strategie sein, ein sexuelles Tabuwort zu verwenden: Es hat ein hin­ reichendes MaB an Ausgefallenheit, sein offentlicher Gebrauch kostet etwas Mut, und auBerdem: sex sells. Also bietet es sich an, das Adjektiv " geil " zu verwenden, um seiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen. Warum aber machen das bei­ spielsweise weder die englischen und amerikanischen Jugendlichen mit dem Ta­ buwort "horny'' noch die spanisch sprechendenJugendlichen mit dem Tabuwort " caliente" ? oder die franzosischen Jugendlichen mit dem Tabuwort " chaud" ? Die Antwort lautet: Es gibt weder im Englischen noch im Spanischen noch im Franzosischen ein Wort, das wirklich dem deutschen Adjektiv " geil" entspricht. Denn " geil" hat - vermutlich in der Zeit seines klandestinen Daseins - eine Be­ deutungsentwicklung erfahren, die die englische, spanische und franzosische Entsp rechung nicht durchgemacht haben. "Geil " erfuhr, ahnlich wie andere emotiv-expressive Adjektive des Deutschen auch, eine Metonymisierung und wurde dadurch polysem. Betrachten wir zum Beispiel das Adjektiv "irre". Als " normales " Adjektiv wird "irre" dazu verwendet, von einem Menschen zu sagen, dass er geistig verwirrt ist. Wenn aber jemand von einem FuBballspiel sagt " Das war ein irres Spiel " , so meint er damit nicht, dass das Spiel (im metaphorischen Sinne) geistig verwirrt war, sondern dass es so war, dass er, der Zuschauer (im me­ taphorischen Sinne) geistig verwirrt wurde ! Mit anderen Worten: " Irre " heillt als nicht exp ressives Adjektiv " geistig verwirrt" un d als expressives Adjektiv " geistig verwirrend im metaphorischen Sinne " . Damit "irre" sinnvollerweise als Meta­ pher auf ein FuBballspiel anwendbar war, muss es aber die Metonymisierung von "irre sein " zu "irre machend" vollzogen haben. Fritz Hermanns (1998: 310) nennt Adjektive, die eine derartige Polysemie aufweisen, "ergative Adjektive" . Was fiir "irre" gilt, gilt auch fiir die Adjektive "wahnsinnig " , "verriickt" un d e ben auch fiir " geil " : Von einem Moped konnte man nicht sinnvoll sagen, es sei im meta­ phorischen Sinne sexuell erregt. Aber es ist durchaus sinnvoll, es im metaphori­ schen Sinne sexuell erregend zu nennen, wobei das Wort " geil " durch den of­ fentlichen und frequenten Gebrauch und auch durch die Metaphorizitat in die­ ser Gebrauchsweise zunehmend an Tabuwert verloren hat. Damit sind wir beim gegenwartigen Zustand der Semantik dieses Wort­ chens angelangt. Wie wird es weitergehen? Ernsthafte Prognosen sind bei so­ ziokulturellen Phanomenen prinzipiell nicht moglich, aber es gibt durchaus die Moglichkeit zu rationalen Trendextrapolationen: Da evaluativ-expressive Aus­ driicke dazu dienen, den Adressaten nicht nur iiber die eigene Bewertung zu in­ formieren, sondern auch die eigene Begeisterung auf ihn zu iibertragen, ihn " an­ zustecken" (vgl. Keller l Kirschbau 2003 : 145 ) , ist hohe Frequenz der natiirliche Feind solcher Ausdriicke. Wer begeisterungsheischende Ausdriicke zu haufig verwendet, riskiert seine emotive Glaubwiirdigkeit. Das heillt, das emotiv-ex­ pressive Adjektiv " geil " wird bei hinreichend frequentem Gebrauch mehr und mehr an Expressivitat verlieren . Damit wird auch seine Attraktivitat fiir die Sprachbenutzer nachlassen. Dann wird es entweder ein graues Dasein in der all­ gemeinen Umgangssprache fristen wie das ehemals expressive Adjektiv "toll " , oder es wird wieder vollig aus unserem Wortschatz verschwinden. Inwiefern daw

10. Fiir lnformationen iiber die spanischen Verhaltnisse danke ich Marta Panades Guerrero.

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von die nach wie vor tabuisierte sexuelle Gebrauchsweise dieses Wortes tangiert werden wird, lasst sich nicht abschatzen. 5

Fazit Wir haben gesehen, dass - ausgehend von der Organ- und Organismusmeta­ phorik des 19. Jahrhunderts - der Sprachbegriff im Laufe der Zeit immer mehr abgespeckt wurde, weil man erkannt hatte, dass diese vitalistische und hyposta­ sierende Metaphorik frei von erklarender Kraft ist. Den absoluten Endpunkt dieses Riickzugsprozesses stellt Chomskys solipsistisches , individualpsychologi­ sches Konzept dar. Damit ist zwar die Gefahr einer unangemessenen Verdingli­ chung gebannt, aber um den Preis , dass der genuine linguistis che Untersu­ chungsgegenstand der Sprache als sozialer Institution zum Verschwinden ge­ bracht ist. Ich habe gezeigt, dass eine sogenannte natiirliche Sprache ein Pha­ nomen der dritten Art ist: der unbeabsichtigte Nebeneffekt zahlloser Kommu­ nikationsversuche zahlloser Generationen von Individuen. Jeder erfolgreiche Kommunikationsversuch ist eine Prazedenz fur den Wiederholungsfall. Regeln bekommen ihren normativen Charakter dadurch, dass der Sp recher vers ucht, den Erwartungen des Adressaten gerecht zu werden und der Adressat eben dies erwartet. Der Sprecher wird im Falle des Scheiterns seines Kommunikations­ versuchs in einer ahnlichen Situation die Wahl seiner Mittel modifizieren und so wieder einen neuen Prazedenzfall schaffen. Auf diese Weise wird ein potenziell unendlicher Prozess soziokultureller Evolution geschaffen und perpetuiert, der Konstanz und Wandel der Sprache hervorbringt. Der gegenwartige Zustand un­ serer Sp rache ist somit eine Funktion der kommunikativen Bemiihungen der kommunizierenden Individuen und der Generationen ihrer Vorfahren. Literatur BALDINGER K. (2005 ) : Der Bedeutungswandel in neuer Sicht - auch ohne unsichtbare Hand. In: T. Stehl (Hg.): Unsichtbare Hand und Sprecherwahl. Typologie und Prozesse des Sprachwandels in der Romania , Tiibingen, 43-7. BEYSCHLAG s. ( Hg.) (1975): Die Lieder Neidharts, Darmstadt. BOPP F. (1836): Vocalismus, Berlin. CHOMSKY N. (1980) : On the Representation o/ Form and Function, Cambridge (MA) . ID. (1981) : Regeln und Repriisentationen, Frankurt a.M. ID. (1986) : Knowledge o/Language. Its Nature) Origin and Use, New York. ID. (1996) : Probleme sprachlichen Wz5sens, Weinheim. cosERIU E. (1958lr974) : Sincronia) diacronia) e historia. El problema del cambio ligiiistico, Montevideo (Dt . : Synchronie Diachronie und Geschichte. Das Problem des Sprach­ ) wandels, Miinchen. ) I D . (2005): Dialekt und Sprachwandel. In: T. Stehl (Hg. ) : Unsichtbare Hand und Sprecher­ wahl. Typologie und Prozesse des Sprachwandels in der Romania, Tiibingen, n1-22. CROFT w. (2ooo) : Explaining Language Change. An Evolutionary Approach, Harlow. DANIELS K.-H. (1959) : Erfolg undMifler/olg der Fremdwortverdeutschung. Schicksal der Ver­ deutschungen von ]. H. Campe. In: Muttersprache 69, 46-54, 105-14, 141-6.

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Jiirgen Schiewe

Sprachkritik - ein ( neues) Gebiet der anwendungsbezogenen Sprachwissenschaft

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Was ist Sprachkritik? Sprachkritik ist ein alltagliches Phanomen und als solches vermutlich so alt wie die menschliche Sprache selbst. Ganz allgemein gesagt, beruht Sprachkritik auf der metasprachlichen Funktion, jener Eigenschaft, durch die die Sprache selbst zum Gegenstand des Sprechens und Schreibens gemacht werden kann 1• In der alltag­ lichen Kommunikation wird Sp rachkritik meist unbewusst und unreflektiert geiibt, teils um das Verstehen zu sichern, teils um zu signalisieren, dass man mit einer Formulierung nicht einverstanden ist: Wie meinst Du das? So kannst Du das aber nicht sagen! Druck Dich mal genauer aus! So schreibt man das Wort aber nicht! Derartige Fragen und Aussagen markieren ein kurzes Innehalten im Fluss des Kommunizierens, richten die Aufmerksamkeit auf den Kommunikationsakt selbst und iiberpriifen das Gehorte und Gesagte oder das Gelesene und Geschriebene vor dem Hintergrund verinnerlichter sprachlich-kommunikativer Normen bei­ spielsweise auf Verstandlichkeit, Angemessenheit oder auch Richtigkeit. Nicht jede Anwendung der metasprachlichen Funktion ist allerdings schon Sprachkritik. Mit einem Satz wie beispielsweise Italienisch ist eine romanische Sprache wird eine blo.Be Feststellung ii ber ein sprachliches Phanomen getroffen, eine metasprachliche, aber lediglich deskriptive Aussage getatigt. Erst wenn ei­ ne Wertung - positiv wie negativ - hinzukommt, lasst sich von einer sprachkri­ tischen A u.Berung sprechen: Italienisch ist eine schone Sprache. Sprachkritik kann folglich - in einer ersten Annaherung - als positive wie negative, somit kri-

1. Die metasprachliche Funktion hat Roman Jakobson (1972: 107) in seinem erstmals 1960 in englischer Sprache erschienenen Aufsatz Linguistik und Poetik als eine Grundfunktion menschli­ cher Sprache herausgestellt: "In der modernen Logik hat man eine Unterscheidung zwischen zwei Sprachebenen gema eh t, 'Objektsprache', die von Objekten spricht, un d 'Metasprache' , die von der Sprache redet. Aber Metasprache ist nicht nur ein notwendiges, von Logikern und Linguisten ge­ brauchtes wissensch aftliches Werkzeug; sie spielt auch eine wichtige Rolle in unserer Alltagsspra­ che" . Wir gebrauchen "alle Metasprache, ohne von dem metasprachlichen Charakter unserer Tuns zu wissen . Wenn immer der Sender und/oder Empfanger sich vergewissern miissen , ob sie densel­ ben Kode benutzen, ist die Sprache auf diesen Kode gerichtet: sie erfiillte eine metasprachliche (d.h. verdeutlichende) Funktion. ' Ich verstehe Sie nicht - was wollen Sie sagen?' fragt der Empfanger, [. . . ] und der Sender fragt in Erwartung solcher, den Faden wiederaufnehmenden, Fragen: 'Sie ver­ stehen, was ich meine?"' .

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tische Wiirdigung der menschlichen Sprache sowohl hinsichtlich ihrer Leistung als auch ihres Gebrauchs bestimmt werden. Die alltagliche Anwendung der metasprachlichen Funktion wird in eine wissenschaftliche iiberfiihrt, wenn sie systematisch und auf der Grundlage einer Theorie und Methode erfolgt. Entsprechende deskriptive Aussagen begriinden dann den Bereich der Sprachwissenschaft, wertende Aussagen den der Sprach­ kritik. Dabei ist, jedenfalls fiir den hier vertretenen Ansatz von Sprachkritik, nicht von einem Gegensatz zwischen Sprachwissenschaft und Sprachkritik aus­ zugehen, sondern von einem Grundlagen-Anwendungs-Verhaltnis oder, anders ausgedriickt: von einer anwendungsbezogenen Erganzung der Sprachwissen­ schaft durch Sprachkritik. Deshalb soll im Folgenden unter Sprachkritik, sofern sie nicht ausdriicklich in anderer Weise benannt und charakterisiert wird, stets eine linguistisch basierte, also auf durch Deskription und Analyse gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauende Bewertung von Sp rachgebrau­ chen verstanden werden. Diese Bewertung erfolgt reflektierend, wobei Emp­ fehlungen fiir den Sprachgebrauch ausgesprochen, zugleich aber auch die Ma.B­ stabe der Bewertung offengelegt un d zur Diskussion gestellt werden. Mi t dieser allgemeinen Bestimmung von Sprachkritik soll auch einem weitverb reiteten Missverstandnis vorgebeugt werden: Sprachkritik, wie sie hier verstanden wird, erhebt nicht den Ansp ruch , Normen setzen z u wollen. Folglich lautet das Sprachwissenschaft und Sprachkritik charakterisierende und differenzierende Begriffspaar auch nicht " deskriptiv versus normativ" , sondern " deskriptiv ver­ sus deskriptiv + reflexiv " . Eine als Teil einer anwendungsbezogenen Sprach­ wissenschaft zu begriindende Sprachkritik entscheidet somit nicht normativ iiber " richtig " und "falsch" im Sprachgebrauch, sondern sie reflektiert die Nor­ men dies es Gebrauchs, su eh t si e bewusst zu machen un d im besten Falle Alter­ nativen zu bestehenden Normen wie auch zu Normabweichungen aufzuzeigen 2• 2

Ein Systematisierungsversuch anhand der Geschichte der Sprachkritik Sprachkritik war und ist noch immer ein au.Berst vielfaltiges Phanomen, das sich nach ganz unterschiedlichen Kriterien systematisieren lasst. Peter von Polenz (1973 ) unterscheidet, bezogen auf die Charakteriserung von Sprache als langue und pa ­ role, zwischen "Sprachverwendungskritik" , "Sprachverkehrskritik" , " Sprachkom­ petenzkritik" , " Sprachsystemkritik" , " Sprachbrauchskritik" und " Sprachnormen­ kritik" . Hans-Martin Gauger (1995) nimmt die Gegenstande von Sprachkritik in den Blick und unterscheidet zwischen philosophischer, moralischer, literarischer, philologischer und theologischer Sprachkritik. Walther Dieckmann (2oo6) fokus­ siert das Wort als Trager von Sprache und unterscheidet " Kritik an der Wortform" , 2 . Fiir eine ausfiihrlichere Diskussion der Frage "Was ist Sprachkritik? " vgl. den Einleitungs­ aufsatz Schiewe l Wengeler (2005: 3-7) zu dem 2005 n eu gegriindeten Periodikum Aptum. Zeitschrz/t /iir Sprachkritik und Sprachkultur. Das Verhaltnis von Sprachwissenschaft und Sprachkritik in hi­ storischer und gegenwartiger Sicht wird behandelt in Schiewe (2003 ) .

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JURGEN SCH IEWE

" Kritik an der (sprachlich bezeichneten) Sache", " Kritik an der Struktur des Wort­ inhalts " , " Kritik am (in der Sprache sich spiegelnden) Denken " und "Kritik an der (durch Sprache bewirkten) Verschleierung der Wirklichkeit " 3• Im Folgenden soll eine andere Art von Systematisierung versucht werden: Entlang den Linien der Geschichte der Sprachkritik wird eine Einteilung in die drei Bereiche "Wortkritik" , "Text- und Stilkritik" und " Diskurskritik " vorge­ nommen. Damit wird beidem - der Ges chichte wie den heutigen Gegenstands­ feldern der Sprachwissenschaft und Sprachkritik - Rechnung getragen 4 • 2.r. Wortkritik Sprachkritik als Wortkritik steht am Anfang der abendlandischen O berliefe­ rung 5. Das Wort ist der wichtigste und bis beute noch am meisten fokussierte sprachkritische Gegenstand. Aus linguistischer Sicht gilt Wortkritik allerdings als problematisch, weil das Wort als Zeichen zumeist aus dem Kontext seines Gebrauchs herausgelost und isoliert betrachtet wird. Die folgende O bersicht aber soli zeigen, dass Wortkritik durchaus eine Berechtigung haben kann. In historischer und auch systematischer Sicht richtungsweisend fi.ir Wort­ kritik ist die erkenntnistheoretische Sprachkritik, die der griechische Philosoph Platon (428/ 427-348/347 v. Chr. ) in seinem Dialog Kratylos i.ibt. In diesem Dialog zwischen Sokrates und seinen wechselnden Gesprachspartnern Hermogenes un d Kratylos wird auf grundsatzliche Weise der Charakter sprachlicher Zeichen erortert: Sin d die Zeichen "nati.irlich " , bilden sie also die bezeichneten Gegen­ stande und Sachverhalte ab , oder sind sie " arbitrar" und " konventionell " , stel­ len sie blo.Be Etiketten fi.ir die Gegenstande und Sachverhalte dar? Im ersten Fall - m an spricht hier von der physei- These - ware eine Erkenntnis der Wirklichkeit durch und mittels Sprache moglich, im zweiten Fall - nomos-Tbese genannt ­ waren die sprachlichen Zeichen keine Grundlage von E rkenntnis . Platon kommt im Kratylos letztlich zu dem Ergebnis , dass die Worter ein Mischgebil­ de aus sachlicher (nati.irlicher) und konventioneller (verabredeter, gewohn­ heitsmàBiger) Richtigkeit sind. Da wir die " nati.irliche " Richtigkeit aufgrund des Sprachwandels, der veranderten Wortformen und Wortbedeutungen, aber zu­ meist nicht mehr erfassen konnen, ist es auch nicht moglich, die Worter un d da­ mit die Sprache zur Erkenntnis der Wirklichkeit zu nutzen. Gleichwohl trifft Platon in dem Dialog eine wichtige Unterscheidung, die vor allem fi.ir das (Alt-)Griechische und auch fi.ir das Deutsche relevant ist: Er un3· Vgl. zu diesen drei Systematisierungsversuchen die Zusammenfassung in Kilian l Niehr l Schiewe (20ro: 2-u) . 4· Mit diesen drei Bereichen ist das Themenspektrum der Sprachkritik allerdings noch keines­ wegs abgedeckt. Vgl. dazu Kilian l Niehr l Schiewe (20ro: 18-52), wo dieser Systematisierungsver­ such - erweitert um den Bereich " Sprachkritik als Kritik des kommunikativen Handelns" - erstmals unternommen wurde. 5· Bereits in der chinesischen Philosophie gibt es einen wichtigen sprachkritischen Text des Philosophen Kungfutse (Konfuzius) (551 bis 479 v.Chr. ). Der in seinen Gespriichen (Kungfutse 1976) hinterlassene Text handelt von der "Richtigstellung der Begriffe" , die als Voraussetzung fi.ir das Funktionieren des gesellschaftlichen Zusammenlebens betrachtet wird.

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terscheidet namlich zwischen "primaren Zeichen" , den sogenannten " Stamm­ wortern " , einerseits und den " sekundaren Zeichen " , den Komposita und Ablei­ tungen vor allem, die auf primare Zeichen bezogen oder aus ihnen zusammen­ gesetzt sind, andererseits. Die Worter Haus und Tiir beispielsweise sind primare Zeichen und als solche arbitrar und konventionell. Das Kompositum Haustiir aber ist als sekundares Zeichen nicht mehr vollstandig arbitrar, denn seine Be­ deutung ist durch die Teilbedeutungen der darin enthaltenen primaren Zeichen bis zu einem gewissen Grade festgelegt. Eben weil das Wort Haustiir die Vor­ stellung von "Ti.ir eines Hauses " hervorruft, ist seine Bedeutung " teilmotiviert " . Aus dieser Beobachtung leitet Platon die Erkenntnis ab , dass es fi.ir die sekun­ daren Zeichen eine gewisse Richtigkeit gibt, woraus dann weiter folgen muss, dass sie auch sprachkritisch beurteilt werden konnen. Zwar kann die Sprachkri­ tik keine dichotomischen Urteile wie " richtig " oder "falsch " fallen, wohl aber las­ sen sich fiir die sekundaren Zeichen graduelle Urteile wie "besser" oder "schlech­ ter", " angemessener" oder "unangemessener" formulieren und begri.inden. Nicht alle sekundaren Zeichen - neben den Komposita und Ableitungen gehoren auch Metaphern dazu - allerdings sind fi.ir eine sprachkritische Beurtei­ lung von Interesse. Worter wie Haustiir bezeichnen konkrete Gegenstande, die, wenn wir sie kennen, nicht vom Wort her (also "wortgesteuert" ) , sondern von der Sache, dem Gegenstand her ( " sachgesteuert" ) gedacht und verwendet wer­ den. Hier spielt fiir den Sprachgebrauch die Teilmotivierung der Worter (also die Moglichkeit, die Wortbedeutung aus dem Wortkorper, dem Ausdruck, zu er­ schlieBen) kaum eine Rolle 6. Anders dagegen ist es bei Abstrakta, also Wortern, die auf ein bestimmtes gedankliches Konstrukt verweisen und die keine mit ei­ nem konkreten Gegenstand verbundene Bedeutung haben. Ein paar Beispiele aus der Sprachtheorie mogen andeuten, wie oftmals vom Wort her gedacht und die Vorstellung nach der Wortbedeutung ausgerichtet wurde: Stammbaum der Sprachen, sprachlicher Organismus, Sprach ver/all, Sprachtod. Ein genauerer, lin­ guistisch ausgerichteter Blick auf die Phanomene zeigt, dass Sprachen keine Or­ ganismen (wie die Lebewesen) sind, es deshalb auch keine Generationenfolge der Sprachen geben kann und sie nicht verfallen und nicht sterben. Viele Pro­ bleme der Wissenschaft ergeben sich aus derartigen Begriffsbildungen und der ihnen folgenden Wortsteuerung des Denkens. Vor allem im Bereich der Politik existieren zahlreiche Ausdri.icke, die unter dem Gesichtspunkt ihrer Angemes­ senheit sprachkritisch beurteilt werden konnen, beispielsweise Personalbereini­ gung, Abwrackprèimie, Wachstumsbeschleunigungsgesetz, Sozialvertrèiglichkeit. Platons erkenntnistheoretische Frage nach der "Richtigkeit der N amen" und damit nach dem Zusammenhang von Sprache, Denken und Wirklichkeit ist zu­ gleich auch der Kem der philosophischen Sprachkritik. Im Mittelalter wurde die­ s e Frage als " res-verba-Problem " bearbeitet und mi.indete in die beiden Denk­ richtungen des Realismus und Nominalismus. Um die Wende vom 19. zum 20.

6. Fiir das Erlernen des Deutschen als Fremdsprache kann das "wortgesteuerte" Erschli&,en der Bedeutung von Komposita allerdings eine Rolle spielen und Probleme bereiten, weil die Be­ deutungsbeziehungen zwischen Basis- und Bestimmungswort unterschiedlich sind, wie die Beispie­ le Kiisekuchen und Hundekuchen anschaulich belegen.

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Jahrhundert stellten Friedrich Nietzsche ( Uber Wahrheit und Liige im au/Sermo­ ralischen Sinne; 1973, Erstdruck 1873), Fritz Mauthner (Beitrage zu einer Kritik der Sprache; 1982, Erstdruck 1901-02) und Hugo von Hofmannsthal (Ein Brie/; 1991, Erstdruck 1902) die Frage nach der in Sprache enthaltenen "Wahrheit" noch ein­ mal radikal neu und beantworteten sie mit auBerster Skepsis (vgl. Henne 1996; Schiewe 1998: 176-97) . Seit Beginn des 20. J ahrhunderts, eingeleitet insbesondere durch die Arbeiten Ludwig Wittgensteins ( Tractatus logico-philosophicus; 1984, Erstdruck 1921; Philosophische Untersuchungen; 1984, Erstdruck 1958) , bilden Sprache und Sprachkritik die Grundlage jeglichen Philosophierens. Einen anderen Strang von Sprachkritik als Wortkritik bildet die besonders in Deutschland sei t dem 17. J ahrhundert geiibte Fremdwortkritik. An dieser Stelle soll lediglich die aufklarerische Fremdwortkritik Joachim Heinrich Cam­ pes (1746-1818) kurz vorgestellt werden, weil ihre - im weitesten Sinne - sprach­ wissenschaftlichen Grundlagen und ihre sprachkritischen Ziele noch beute be­ denkenswert sin d 7• Campe meinte in Deutschland eine Sprachentrennung be­ obachten zu konnen, durch die die ungelehrten, in Fremdsprachen unkundigen Bevolkerungsschichten von dem Verstandnis gesellschaftlicher und politischer Gegenstande ausgeschlossen blieben. Die O bersetzung von Fremdwortern be­ deutete fiir ihn Bildung und Aufklarung. In seiner Schrift Ueber die Reinigung und Bereicherung der Deutschen Sprache (Campe 1794: 196) schreibt er: So lange ein Volk noch keinen Ausdruck fur einen Begriff in seiner Sprache hat, kann es auch den Begriff selbst weder haben noch bekommen. Nur diejenigen unter ihm konnen ihn haben oder bekommen, die der fremden Sprache kundig sind, welche das Wort dazu leiht. Dies ist der Gesichtspunkt, aus welchem die Reinigung unserer Sprache von frem­ den Zusatzen zu einer so i.iberaus wichtigen Angelegenheit wird.

Auch Campes Verdeutschungsvorschlage waren, wie die aller Puristen, von ih­ rer Form her gesehen zumeist Komposita oder Ableitungen, also sekundare Zei­ chen. Campe iibersetzte beispielsweise Demokratie durch Volksstaat, Republik durch Gemeinstaat und Despotie durch Zwingherrnstaat. Seine O bersetzungen erlauben es - jedenfalls bis zu einem gewissen Grade - den bezeichneten Sach­ verhalt zu erschlieBen, ihn vom Wort her zu denken und sich damit einen " Be­ griff" zu bilden. Genau diese in der Sprache angelegte Moglichkeit machte fiir Campe jene "Allgemeinverstandlichkeit" aus , in der er die Voraussetzung fiir ei­ ne allgemeine Bildung gera de auch der unteren gesellschaftlichen Schichten un d damit die Schaffung einer demokratischen Gesellschaft sah. Auch wenn Campes Absicht als durchaus ehrenvoll zu werten ist, hat er doch die Leistungsfahigkeit der Sprache iiberschatzt und verkannt. Seine Ver­ deutschungen bilden in vielen Fillen den Wortinhalt nicht richtig ab, wie man an seinen O bersetzungen Reisezug fiir Karawane, Kunstgefafl fiir Vase oder Spitz­ saule fur Pyramide sieht. Die Verdeutschungen sind zu allgemein oder sie tref-

7· Zur Fremdwortkritik der barocken Sprachgesellschaften im 17· Jahrhundert, die in ein pa­ triotisches Programm der " Spracharbeit" eingebettet war, vgl. Hundt (20oo). Zur nationalistischen Fremdwortkritik im 19. und teilweise noch im 20. Jahrhundert vgl. Schiewe (1998: 154- 76 ) .

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fen nicht die Stilebene, enthalten andere Konnotationen, sind oftmals tenden­ zios , wie bei Stelldichein fur Rendezvous oder noch extremer bei Menschen­ schliichter fur Soldat. Auch sin d motivierte Worter zumeist unokonomisch, nicht mehr produktiv fur Ableitungen und weitere Kompositionen. Gleichwohl ha­ ben manche Ù bersetzungen Eingang in den Sprachgebrauch gefunden. Aller­ dings zeigt die Sprachgeschichte, dass dann keine "Reinigung" , keine vollstan­ dige Ersetzung oder Verdrangung der Fremdworter erfolgte, sondern oftmals eine "Bereicherung" . Zumeist ha ben sich die fremdsprachlichen Worter ne ben ihren Ù bersetzungen gehalten und die Bedeutung hat sich differenziert, z.B. Tonkunst un d Musik, Gegenstand un d Objekt oder 0//entlichkeit un d Publizitiit. Campes aufklarerischen Bestrebungen Iasst sich also der Befund entnehmen, dass motivierte Verdeutschungen durchaus einen "Begriff" von der bezeichne­ ten " Sache " bzw. dem gedanklichen Konzept vermitteln konnen. Sie sind aber aus sprachsystematischer und auch semantischer Sicht problematisch und er­ setzen in der Regel nicht den fremdsprachlichen Ausdruck. Mi t Wortkritik reagierten in Deutschland auch manche Sp rachkritiker nach 1945 auf die Zeit des Nationalsozialismus. Sie begriffen Sprache als Spiegel kul­ tureller, gesellschaftlicher und politischer Eigenheiten und betrieben eine Art moralischer Sprachkritik. Insbesondere Dolf Sternberger (1907-1989 ) , einer der drei Autoren der Sammlung Aus dem Worterbuch des Unmenschen (erstmals in Buchform 1957), vertrat die Auffassung, dass in der Sprache selbst, v. a. in ihren Wortern, Gutes und Boses, Menschliches und Unmenschliches angelegt sei: "Worter sind nicht unschuldig, konnen es nicht sein, sondern die Schuld der Sprecher wachst der Sp rache selber zu, fleischt sich ihr gleichsam ein " , schreibt Sternberger (1986) in der Vorbemerkung zu dem Worterbuch. Dort waren Wor­ ter wie Anliegen, Betreuung, Menschenbehandlung, Propaganda, Raum, Vertreter u.a. auf ihren vermeintlich 'unmenschlichen Gehalt' hin beschreiben und be­ wertet worden. Doch es ist nicht nur der Sp rachgebrauch d es N ationalsozialis­ mus , der am Beispiel dieser Worter kritisiert wird. Ganz grundsatzlich wird der Mensch mit seiner Sp rache identifiziert, wird eine Kausalitat zwis chen dem Wert eines Menschen und seinem Sprechen postuliert. Sprachkritik wird damit fur Sternberger (1986: 286 f. ) zur Moralkritik: Der Sprachkritiker [mu.BJ ein Philologie und ein Moralist zugleich sein. Darum trifft er sei­ ne Unterscheidungen nicht allein nach asthetischen Ma.Bstaben des Schonen und Ha.Bli­ chen, d es Sinnlich-kraftigen und des Papierenen, d es Guten und d es Schlechten, auch nicht allein nach logischen Ma.Bstaben des Richtigen und Falschen oder, feiner, des Stimmigen und Unstimmigen, sondern zugleich und in alledem nach moralischen Ma.Bstaben. lch scheue mich nicht, es auszusprechen: In letzter lnstanz nach Ma.Bstaben des Guten und Bo­ sen, insbesondere des Menschlichen und Unmenschlichen. Und meine Behauptung, nein: meine Oberzeugung ist, da.B diese Ma.Bstabe der Sprache nicht fremd und au.Berlich, son­ dern ganz und gar angemessen und eingewachsen sind - eben deswegen, weil die Mensch­ lichkeit der Sprache ihr letztes und scharfstes Wesensmerkmal bildet, und weil man sich Geist und Sprache 'nie identisch genug denken kann' - im Guten wie im Bosen.

An dieser Auffassung entzundete si eh in den 196oer J ahren der sogenannte " Streit um die Sprachkritik " , gefuhrt auf sprachwissenschaftlicher Seite vor al-

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lem von Peter von Polenz und auf sp racbkritiscber Seite von Dolf Sternberger (vgl. Scbiewe 1998: 242-9 ; von Polenz 2005). Aus spracbwissenscbaftlicber Sicbt wurde Sternberger entgegengebalten, dass Worter selbst unscbuldig seien und seine Kritik bestenfalls Sprecber- , nicbt aber Spracbkritik sei. Kritisieren kon­ nen man nicbt Worter, sondern nur Aussagen, die mit Wortern getroffen wer­ den. Fi.ir Aussagen aber seien die Sprecber verantwortlicb, nicbt jedocb die Worter, folglicb konne die Kategorie " Moral " aucb nur auf Menscben, nicbt aber auf Worter oder die Spracbe insgesamt angewandt werden. Diese Position kann beute grundsatzlicb als Konsens innerbalb der Spracb­ wissenscbaft - un d somit aucb als Grundlage fiir eine linguistiscbe Spracbkritik ­ gelten. Allerdings lassen sicb , wenn aucb nicbt explizit unter dem Gesicbts­ punkt der Moral, wobl aber unter dem der Li.ige, Worter dennocb spracbkri­ tis cb beleucbten und bewerten. Harald Weinricb (2ooo: 35 f. ) bat in seiner erst­ mals 1966 erscbienenen Abbandlung Linguistik der Luge gezeigt, dass die Kon­ textbedeutung von Wortern im Laufe der Zeit durcbaus in die lexikaliscbe Be­ deutung eines Wortes eingeben kann: Es besteht kein Zweifel, da.B Worter, mit denen viel gelogen worden ist, selber verlogen werden. Man versuche nur, solche Worter wie 'Weltanschauung', 'Lebensraum', 'End­ losung' in den Mund zu nehmen: die Zunge selber straubt sich und spuckt sie aus . Wer sie dennoch gebraucht, ist ein Liigner oder Opfer einer Liige. Liigen verderben mehr als den Stil, sie verderben die Sprache.

Li.igen konnen nacb Weinricb allerdings nur Worter, die zugleicb aucb " Begrif­ fe " sind, und Begriffe kommen "erst durcb einen Kontext zustande " , der einem Wort eine "Definition " gibt. Kontexte mi.issen nicbt unbedingt in einer satzfor­ migen Aussage gegeben sein, es geniigt aucb, wie Weinricb am Beispiel cles Aus­ druckes Blut und Boden zeigt, ein einfacbes un d, um einen Kontext zu erzeugen. Komposita, so lieBe sicb weiter argumentieren, tragen ibre Kontexte in sicb, in­ dem Grund- und Bestimmungswort einen gegenseiten Kontext erzeugen. Wein­ ricb (2ooo: 37) kommt zu dem Scbluss: Begriffe konnen folglich liigen, auch wenn sie fi.ir sich allein stehen. Sie stehen namlich nur scheinbar allein. Unausgesprochen steht ein Kontext hinter ihnen: die Definition. Liigende Worter sind fast ausnahmslos lugende Begriffe. Sie gehoren zu einem Begriffs­ system und haben einen Stellenwert in einer Ideologie. Sie nehmen Verlogenheit an, wenn die Ideologie und ihre Lehrsatze verlogen sind.

Dami t bestatigt Weinricb nocb einmal, was bereits bei Platon in seinem Dialog Kratylos angelegt ist: Wortkritik ist nur als Wortgebraucbskritik, als Kritik von in Kontexten gebraucbten Wortern, moglicb. Kontexte aber konnen in Worter dauerbaft eingeben, entweder spracbstrukturell wie bei Komposita oder aber durcb ihre Zugeborigkeit zu einem Begriffssystem, einem, wie man beute sagen wiirde, " Diskurs " (vgl. dazu unten: 2.3 ) . Unter Beriicksicbtigung dieser spracb­ wissenscbaftlicben Einsicbt stellt die Spracbkritik als Wortkritik dann die Fra­ ge, oh ein Wort und der damit verbundene Begriff (Vorstellung) dem Gegen­ stand oder Sacbverbalt, auf den es verweist, angemessen ist oder nicbt.

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2.2. Stil- und Textkritik Die aus den Ù berlegungen zur Wortkritik gewonnene Erkenntnis, dass sich nur Worter in oder mit Kontexten kritisieren lassen, kann nun dahingehend erwei­ tert werden, dass der erste und wichtigste Kontext eines Wortes nati.irlich der Text ist, in dem das Wort vorkommt. Die fi.ir den Text als Beschreibungsebene zustandige Textlinguistik hat als Vorlauferdisziplin die Stilistik, die wiederum auf der antiken Rhetorik basiert. Bereits dort sind Kriterien aufgestellt worden, nach denen sich der Stil eines Text beurteilen lasst. Dies e Kriterien konnen noch beute fi.ir eine Begri.indung von Sprachkritik als Stil- und Textkritik zurate ge­ zogen werden. Ausdri.icklich haben Ulla Fix (1995, 2oo8) sowie Manfred Kien­ pointner (2005) - letzterer unter explizitem Ri.ickgriff auf das antike Stilideal des aptum (Angemessenheit oder Adaquatheit) 8 - eine entsprechende sprachkriti­ sche Grundlegung vorgenommen. Kienpointner (2005: 195) unterscheidet in seinem " Stildreieck" drei Ebenen der "Angemessenheit der Formulierung " : Sachebene/Inhaltsebene (s achliche Adaquatheit): Klarheit, Strukturiert­ heit, Ù berparteilichkeit etc. Beziehungsebene (publikumsbezogene Passendheit) : Stiltechniken wie In­ tensivierung, Veranschaulichung, Anspielungen, Hoflichkeit, Humor etc. Gesprachssituation (situationsspezifische Angebrachtheit) : Anpassung an den Grad der Òffentlichkeit, den formellen oder informellen Charakter, die ge­ spannte oder entspannte Atmosphare etc. Diese Unterscheidung macht deutlich, dass sprachkritische Aussagen i.iber einen Text nicht in der allgemeinen Form " dieser Text ist angemessen " formu­ liert werden konnen. Vielmehr sind die wertenden Aussagen stets auf eine der drei Ebenen zu beziehen, so dass die Urteile lauten mi.issen: " dieser Text ist an­ gemessen hinsichtlich der Darstellung des Gegenstandes oder des Publikums oder der Situation " . Ulla Fix teilt diese Auffassung, bezieht das Kriterium der Angemessenheit a ber auf Normen, die jeder sprachlichen Àu.Berung zugrunde­ liegen. Die folgende Auflistung paraphrasiert di e von Ulla Fix (199r 67) vorge­ nommenen Differenzierungen unter Verwendung des Begriffs der Angemes­ senheit (sie spricht von "Adaquatheit" ) : Angemessenheit hinsichtlich instrumentaler Normen des Systems wie gram­ matische Richtigkeit, semantische Stimmigkeit etc. Angemessenheit hinsichtlich situativer Normen mit Bezug auf Empfanger, Sender, Medium, Gegenstand, Intention etc. Angemessenheit hinsichtlich asthetischer Normen mit Anspruch an Klar­ heit, Folgerichtigkeit etc., auf Wohlgeformtheit also, Angemessenheit hinsichtlich parasprachlicher Normen, die durch kulturel­ le Bedingungen gesteuert werden.

8. Bezugspunkt fiir aptum (Angemessenheit) als Stilideal ist die Bestimmung Ciceros (1976: 3 . 210) in seinem Werk De oratore: "La.Et uns nun sehen, was im Ausdruck angemessen ist, das heiEt, was sich am ehesten geziemt. Dabei ist freilich klar, daE nicht ein Stil fiir jeden Fall und jeden Ho­ rer, fiir jede beteiligte Person un d j ede Situation geeignet ist " .

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Aus dem Blickwinkel der Sprachkritik kann und muss ein Text auf seine An­ gemessenheit gepriift und bewertet werden. Bereits die verschiedenen Ange­ messenheitsbeziige machen deutlich, dass jeweils im konkreten Fall der Text­ produzenten entscheiden muss , welche Ebene (nach Kientpointner) oder wel­ che Norm er in den Vordergrund stellen will oder muss, um kommunikativ er­ folgreich zu sein. Die Normen namlich konnen sich widersprechen: So erfordert beispielsweise die Kommunikationsform SMS eine Anpassung an das Medium und damit einen anderen Umgang mit der instrumenellen Norm der grammati­ schen Richtigkeit, und die parasprachliche Norm einer bestimmten kulturell verankerten Form von Hoflichkeit kann in Konflikt mit der instrumentellen Norm der Klarheit geraten. Entsprechend muss auch das sprachkritische Urteil gefasst un d der BewertungsmaBstab explizit gema eh t werden, d. h. es muss deut­ lich gemacht werden, welche Norm fiir das Urteil dominant gesetzt wird und welche anderen Normen damit ausdri.icklich in den Hintergrund treten oder so­ gar bewusst verletzt werden. In diesem Sinne ist ein guter Text mit einem gutem Stil ein angemessener Text mit einem angemessenen Stil. Der Sprachkritiker muss fiir sein Urteil die Relevanz und Gewichtung bestehender Normen abwagen und sich entscheiden, oh diese Normen gemaB der Kommunikationsabsicht zum Zwecke gelingender Kommunikation im jeweiligen Text realisiert worden sind. Geht man in der sprachkritischen Praxis in dieser Weise vor, dann ware beispielsweise der in der Òffentlichkeit un d den Medien oft vertretenen Auffassung, unter Jugendlichen sei ein Sprachverfall festzustellen, weil sie sich eines reduzierten sprachlichen Ausdrucks in der SMS-, E-Mail- und Chat-Kommunikation bedienten, nicht ein­ schrankungslos zuzustimmen. Zunachst ware festzustellen, dass dieser Sprach­ gebrauch nicht grundsatzlich reduziert ist, sondern auf die Bedingungen des Mediums reagiert un d innerhalb dieses Mediums aufgrund seiner Restriktionen, aber auch (neuen) Moglichkeiten durchaus funktional ist oder zumindest sein kann. Wi.irde allerdings ein fiir die SMS typischer Sprachgebrauch auf ein Be­ werbungsschreiben iibertragen werden, dann lage gewiss ein Normkonflikt vor. Hier mi.isste, sprachkritisch gesehen, das Kriterium der " Angemessenheit" grei­ fen und deutlich gemacht werden, dass der SMS-typische Sprachgebrauch in der Textsorte " Bewerbungsgesprach " dysfunktional ist, dass er seine kommunikati­ ve Funktion an dieser Stelle nicht erfiillt und dass das angestrebte Handlungs­ ziel aller Wahrscheinlichkeit nach verfehlt wird. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Sprachkritik als Stil- und Textkritik stets das in einem konkreten Text verfolgte kommunikative Hand­ lungsziel im Blick haben und die im Text realisierten sprachlich-stilistischen Mit­ tel daraufhin pri.ifen muss , oh sie dem Handlungsziel angemessen sind oder nicht. Diese Angemessenheit bezieht sich auf die drei Ebenen " Sache/Inhalt" , "Beziehung" , "Gesprachssituation" un d auf instrumentale, situative, asthetische sowie p arasprachliche Normen. Der Eindruck, dass bei einer solchen Vorge­ hensweise die bloBe Anpassung eines Textes an bestehende Normen propagiert wiirde und damit textueller Wandel, Sprachwandel i.iberhaupt, blockiert ware, kann durch den Hinweis entkraftet werden, dass sich Normen ja stets auf ab­ strakte Textmuster beziehen. Zwischen einem Textmuster und einem konkreten

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Textexemplar - und letzteres ist Gegenstand der Sprachkritik - aber existiert ein Freiraum, der fiir indivuelle Variation genutzt werden kann und solite (vgl. Schie­ we 2007) . Das Bestreben der Sprachkritik ist es somit nicht, Textexemplare als Realisierung normativer Textmuster einzufordern, sondern die konkrete und so­ mit individuelle Umsetzung eines Textmusters in einem Textexemplar vor dem Hintergrund des damit verbundenen Handlungszweckes zu beurteilen. 2.3. Diskurskritik Vor gut zwanzig J ahren ist die Textlinguistik durch die Diskurslinguistik erweitert worden 9• Der Diskurs wird verstanden als eine " transtextuelle Ebene" , auf der vielfaltige Beziige zwischen Texten existieren, die somit durch "Intertextualitat und thematisch-funktionale Koharenz" (Warnke l Spitzmiiller 2oo8: 14) charakte­ risiert ist. Im Sinne der Diskursanalyse sind Texte keine autonomen Gebilde und auch nicht die gro.Bten sprachlichen Einheiten. Vielmehr sind sie inhaltlich, for­ mai und funktional innerhalb eines Diskurses miteinander verbunden. Hier, auf der Ebene des Diskurses, treten " zeittypische Formationen des Sprechens und Denkens iiber die Welt" zutage, die mittels einer Diskursanalyse rekonstruiert werden sollen. Diskurslingistik ist, im Verstandnis von Warnke l Spitzmi.iller ( 2oo8: 15), "in erster Linie Teil einer Semantik, die verstehensrelevantes Wissen re­ konstruiert, das jenseits intendierter Bedeutungen operiert" . Diskurslinguistische Analysen setzen insbesondere bei Begriffen , Meta­ phern, Topoi und Argumentationsmustern an, die zwar immer in einem kon­ kreten Text auftreten, zugleich aber texti.ibergreifend benutzt werden und so­ mit einen bestimmten Diskurs zu gro.Ben Teilen konstituieren. Innerhalb eines Diskurses werden Begriffe - was vor allem Gegenstand der " Historischen Dis­ kurssemantik" ist - oftmals aber nicht einheitlich verwendet. Nicht selten ste­ hen mehrere Begriffe konkurrierend nebeneinander. Im Diskurs iiber den Na­ tionalsozialismus beispielsweise wurde - und wird - das historische Datum des 8. Mai 1945 sowohl als Kapitulation, Zusammenbruch, Stunde Null als auch als Tag der Be/reiung bezeichnet. Die Diskursanalyse hat u.a. die Aufgabe, die in diesen Begriffen zum Ausdruck kommende Sichtweise von Wirklichkeit aufzu­ zeigen und bewusst zu machen. Sie kann dabei, wie in dem Werk Kontroverse Begriffe von Stotzel l Wengeler (1995), weitgehend deskriptiv vorgehen und auf eine explizite Auss age dari.iber, welcher Begriff der Sache (hier also dem ge­ schichtlichen Ereignis) angemessen ist, verzichten. Gleichwohl besitzt auch die­ se Form von Diskursanalyse ein sprachkritisches Potential, das darin liegt, "be­ wusst zu machen, mit welchen sprachlichen Mitteln bestimmte Wirklichkeits­ konstruktionen in bestimmten Zeiten etabliert werden und damit als 'kollekti­ ves Wissen' wichtiger gesellschaftlicher Teilgruppen oder als dominantes 'Wis­ sen' einer Gesamtgesellschaft gelten konnen " (Wengeler 2005: 28o f. ) . 9 . Es existieren zahlreiche Ansatze der Diskursanalyse, die sich teilweise stark voneinander un­ terscheiden. Eine - soweit mogliche - Zusammenfiihrung dieser Ansatze sowie eine grundlegende, allgemein anerkannte methodologische Beschreibung der Diskurslinguistik haben Wamke l Spitz­ miiller (2008 ) vorgenommen.

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Die Diskurslinguistik geht somit davon aus, dass uns zumindest die soziale Wirklichkeit nur in und mit Sprache zuganglich ist. Aus diesem konstruktivisti­ schen Ansatz folgt, dass es keine " objektive" Erkenntnis von Wirklichkeit geben kann, sondern dass jede Erkenntnis sprachlich vermittelt ist. Insofern kann dis­ kurslinguistisch auch nicht bestimmt werden, welche Sicht der Wirklichkeit in welcher sprachlichen Form die " richtige " ist, denn auch die Diskursanalyse selbst ist Teil des - sprachlichen - Weltdeutungsprozesses . Damit sin d die Mog­ lichkeiten, Diskurslinguistik als Diskurskritik zu betreiben, deutlich einge­ schrankt, aber keineswegs ausgeschlossen. Eine Moglichkeit der Diskurskritik ist die bereits genannte Historische Dis­ kurssemantik, die durch die Analyse unterschiedlicher Wirklichkeitskonstruk­ tionen eine Form impliziter Diskurskritik betreibt. Indem sie diese unter­ schiedlichen Konstruktionen bewusst macht, stellt sie dem Rezipienten ihrer Analysen die Erkenntnisse zur Verfiigung, die es ihm erlauben, selbst sprach­ kritisch tatig zu werden, also im durch Begriffe geleiteten Weltdeutungsprozess begriindet Stellung zu beziehen. Diskursanalysen aber konnen auch mit einem explizit sprachkritischen An­ spruch und damit als Diskurskritik betrieben werden 10• So lassen sich beispiels­ weise bestimmte Grundwerte definieren, aus denen der Ma.Bstab einer expliziten Diskurskritik abgeleitet werden kann. Derartige Grundwerte konnen - im wei­ testen Sinne - politischer Natur sein, also beispielsweise " Demokratie " , " Gleichberechtigung" , " Menschenrechte" . Entsprechende diskurskritische Er­ kenntnisinteressen laufen dann darauf hinaus , innerhalb eines Diskurses zu iiberpriifen, ob diese Grundwerte sowohl in den Diskurspositionen, also den in­ nerhalb eines Diskurses getatigten Aussagen, als auch in den Diskursformen und -verlaufen eingehalten oder aber verletzt werden. Das gro.Bte diskurskritische Potential, dessen Herausarbeitung prinzipiell auch dem eher deskriptiven Ansatz der Diskursanalyse nicht widerspricht, aber diirfte ein kontrastives Vorgehen besitzen, das bereits in der Historischen Dis­ kurssemantik angelegt ist. Thematisch gleiche Diskurse sind in der Regel nicht homogen, sondern gliedern sich in Teildiskurse, denen jeweils eine andere Art des Denkens und Sprechens iiber das gleiche Gegenstandsfeld eigen ist. Indem eine Diskursanalyse die unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen der ver­ schiedenen Teildiskurse rekonstruiert und gegeniiberstellt, vermag sie in zwei­ facher Hinsicht sprachkritisch zu wirken: Sie kann zum einen, vor allem mi t den Methoden der Historischen Diskurssemantik, die innerhalb eines Diskurses be­ stehende konkurrierende Begrifflichkeit aufzeigen und damit die im Diskurs selbst geiibte Sp rachkritik explizit machen. Und sie kann zum anderen die Teil­ diskurse mit ihren verschiedenen Diskurspositionen analytisch gegeniiberstel­ len und sie sich damit gegenseitig selbst kritisieren lassen. Ein derartiges kontrastives Verfahren lasst sich innerhalb einer Sprache bzw. einer Sprachgemeinschaft oder aber auch sprachvergleichend anwenden. 10. Hier soll allerdings nicht auf die Kritische Diskursanalyse nach Siegfried Jager un d di e Cri­ tica! Discourse Analysis nach Ruth Wodak eingegangen werden. V gl. dazu Jager (2009) un d Wodak (2002 ) .

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Letzteres bietet sich vor allem dann an, wenn in zwei Sprachgemeinschaften the­ matisch gleiche Diskurse gefi.ihrt werden, die sich jedoch von ihren historischen, gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen her unterscheiden und folg­ lich auch unterschiedliche Auspragungen aufweisen Diskurskritik, so kann zusammengefasst werden, ist ein in der Diskurslin­ guistik implizit enthaltenes Moment. Durch die Fokussierung auf ein entsp re­ chendes E rkenntnisinteresse un d durch die Wahl entsprechender Gegen­ standsfelder wird die Kritik aus der Analyse heraus wirksam, ohne dass von AuBen eine explizit kritische Fragestellung an den Diskurs herangetragen wer­ den muss. Voraussetzung dafi.ir ist ein kontrastiver Ans atz, mit dem diskurs­ konstituierende Begrifflichkeiten oder aber (Teil- ) Diskurse gegeni.ibergestellt und verglichen werden. n.

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Sprachkritik als anwendungsbezogene Sprachwissenschaft Sprachkritik in ihren Formen der Wortkritik, der Text- und Stilkritik sowie der Diskurskritik wurde als eine Tatigkeit beschrieben, die im Rahmen einer mehr oder weniger professionellen Beschaftigung mit Sprache ausgei.ibt worden ist und immer noch ausgei.ibt wird. Eine Professionalisierung von Sprachkritik im Sinne ihrer linguistischen Fundierung ist auch weiterhin notig, sogar vermutlich mehr als je zuvor, denn die offentlichen Diskussionen und Positionierungen werden bestimmt von einer popularen Form von Sprachkritik, die kaum auf lin­ guistische Erkenntnisse zuri.ickgreift und stattdessen pauschal einen " Sprach­ verfall des Deutschen" propagiert, den es vor allem durch die Vermeidung von Anglizismen und die Ri.ickbesinnung auf eine vermeintlich " richtige" Sprach­ verwendung aufzuhalten gelte 12• Die Sprachwissenschaft solite dieser laienlinguistischen Sprachkritik eine linguistische Sprachkritik entgegensetzen, die sich in erster Linie als aufklare­ risch versteht und nicht ein " richtig " oder " falsch " im Sprachgebrauch zu set­ zen bestrebt ist, sondern die Reflexion von Sprachgebrauchsnormen und ihre kritische Bewertung nach MaBstaben der Angemessenheit zu ihrer Kernaufga­ be macht. Ihr weitergehender Anspruch ist es, die Fahigkeit zu einer begri.inde­ ten und begri.indbaren Sprachkritik als allgemeine kulturelle Fahigkeit zu ver­ mitteln, nahezu ebenso wie das Lesen oder Schreiben, wie Kenntnisse i.iber Ge­ s chichte un d Literatur. E ben weil Sp rache allen " gehort " - nicht nur den Schriftstellern un d J ournalisten, nicht nur den Linguisten un d (professionellen wie selbsternannten) Sprachkritikern - und weil Sprachkritik ein genuiner Be­ standteil von Sprache ist, muss die Moglichkeit un d Fahigkeit der kritischen Re­ flexion prinzipiell auch allen Menschen zugestanden und vermittelt werden. n. Beispielanalysen fiir derartige Diskurse im deutsch-polnischen Vergleich enthalt der Sam­ melband Lipczuk l Misiek l Schiewe l Westphal (2010) . Die "Sprache(n) der Krise" werden in dem gleichnamigen Thernenheft von Aptum 2/20IO aus deutscher, schweizerischer, osterreichischer, bri­ tischer und franzosischer Sicht behandelt. 12. Vgl. dazu die Darstellung der "laienlinguistischen Sprachkritik" in Kilian l Niehr l Schie­ we (2010: 56-92).

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Sprachkritik in diesem Sinne ist folglich ein Bestandteil von sprachlicher Aus­ bildung und sprachlicher Bildung, mithin ein Gegenstand fiir das universitare Studium und fiir das Lehren und Lernen in der Schule. Aus dieser Feststellung lasst sich der Anspruch ableiten und begriinden, Sprachkritik als anwendungs­ bezogenes Teilgebiet der Sprachwissenschaft vor allem in die universitare Aus­ bildung von kiinftigen Deutschlehrerinnen und -lehrer zu integrieren. Normreflexion und Normbewertungen als hauptsachliche sprachkritische Tatigkeit setzen namlich nicht nur einen internalisierten Umgang mit Normen als Form des Handlungswissens voraus, sondern erfordern auch explizite ana­ lytis che Kenntnisse iiber Normen und insbesondere iiber Normkonflikte. Die­ se Kenntnisse werden in erster Linie im Rahmen sprachwissenschaftlicher For­ schungen gewonnen. Deren Einsichten in das N ormgefiige von gesprochener und geschriebener Sprache, von Standardsprache, Varietaten und Stilregistern, von Wortbedeutungen und Bedeutungswandel, von pragmatischen, kontextbe­ zogenen A u.Berungen sowie von Textsorten und konkreten Textexemplaren sind gut begriindet und innerhalb des Faches weitgehend auch Konsens . Gera­ de diese Einsichten und Erkenntnisse konnen und miissen die Grundlage fiir die anzustrebende Fahigkeit zur Normreflexion sowie insgesamt fiir die Ausbil­ dung von Sprachbewusstsein und die Fahigkeit zur Sprachkritik bilden. Da sprachwissenschaftliche Erkenntnisse aber kaum in ihrer ursp riingli­ chen Gestalt, also in dichter fachsprachlicher Lexik und hoher textueller Kom­ plexitat, aus dem F ach heraus transportiert werden konnen, ist es notwendig, Transformationen in dem Vermittlungsprozess von der Wissenschaft hin zur Allgemeinbildung vorzunehmen. Der Schule kommt fiir diesen Transfer eine besondere Bedeutung zu. Lehrerinnen und Lehrer sind fachwissenschaftlich ausgebildet und haben die Fahigkeit und den Auftrag, fachwissenschaftliche Er­ kenntnisse didaktisch und methodisch aufbereitet an Nichtfachwissenschaftler, die Schiilerinnen und Schiiler sind und in der Regel auch bleiben, in entspre­ chend modifizierter Form weiterzugeben. Die Lehrenden also sin d diejenigen, die jenen Transfer leisten miissen und konnen. Nimmt man den gesellschaftli­ chen Bildungsauftrag ernst, dann gibt es keinen besseren Ort der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse als die Schule: die einen kennen diese Erkennt­ nisse und sollen sie vermitteln, die anderen kennen sie noch nicht und sollen sie kennenlernen, um den Alltag als Mitglieder einer zivilisierten Gemeinschaft auf einem gewissen kulturellen Niveau angemessen bewaltigen zu konnen. Der Deutschunterricht als Ort sprachlicher Bildung muss sich zunachst auf die sprachliche Ausbildung im weiten Sinne des Grammatikunterrichts kon­ zentrieren. Er muss - iiber die Vermittlung standard- und schriftsprachlicher so­ wie orthographischer Regeln und Regelungen hinaus - aber auch die Bewusst­ machung des vielschichtigen Gefiiges von Varietaten und Kommunikationsbe­ reichen, von Sprechstilen und Kommunikationsmaximen umfassen. Auf dieser Ebene werden keine Gesetzesnormen wie die der Grammatik und Orthogra­ phie vermittelt, sondern Gebrauchsnormen des kommunikativen Handelns. Sie sin d nicht auf der Grundlage des dichotomis chen Ma.Bstabs von " richtig falsch " zu bewerten un d zu vermitteln, sondern bewegen si eh in einem sensiblen Kontinuum von " angemessen - unangemessen " .

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Die hier angesprochene Differenzierung zwischen " richtig - falsch " einer­ seits und " angemessen - unangemessen " andererseits wurde bereits in den 1 97oer ]ahren diskutiert. Im Rahmen der sich damals etablierenden, teilweise stark didaktisch ausgerichteten Soziolinguistik solite das Konzept der " Sprach­ richtigkeit " von dem der " kommunikativen Kompetenz " abgelost werden. Da­ zu schreibt Harald Weinrich (198r 28) : Heillt das oberste Lernziel einfach und immer noch " richtiges Deutsch" ? O der sollen wir statt dessen besser sagen, der Schi.iler mi.isse lemen, sich in jeder Situation angemessen auszudri.icken - was sich dann, bisweilen unter Verzicht auf penible Sprachrichtigkeit, im "kommunikativen Erfolg " und "Gelingen des Sprachspiels " au.Bert ? Ja, gewill mu.B es Ziel des Deutschunterrichts wie auch der anderen Unterrichtsfacher sein, die Schi.iler sprachlich so auszustatten, da.B ihnen in ihrem spateren Leben moglichst viele Akte der Verstandigung gelingen und moglichst wenige milllingen. Aber da niemand mit Sicher­ heit vorhersagen kann, welches jene privaten und offentlichen Sprechsituationen sind, in denen die heutigen Schi.iler morgen zu sprechen, zu schreiben und zu handeln haben werden, bietet die Vermittlung des " richtigen" Sprachgebrauchs nach wie vor die besten Voraussetzungen dafi.ir, moglichst viele zuki.inftige und folglich unbekannte Situationen sprachlich zu meistern.

Dem Kern der Auffassung Weinrichs ist sicherlich zuzustimmen, allerdings mit dem wichtigen Zusatz, " Sprachrichtigkeit " nicht gegen " sprachliche Angemes­ senheit " ( " kommunikative Kompetenz " ) auszuspielen, sondern die Richtigkeit dort, wo sie kommunikativ erforderlich ist, in die Angemessenheit als ein der Richtigkeit iibergeordnetes Prinzip zu integrieren. Mit anderen Worten: Stan­ dardsprachliche Richtigkeit muss vermittelt und auch eingefordert werden, aber eben dort und nur dort, wo sie angemessen ist. Sprachkritik ist kommunikative Kompetenz, in der Hauptsache die Fahig­ keit zur N ormreflexion un d Normbewertung. Als schulisches Lernziel ha t sie somit zum Inhalt, vor dem Hintergrund der Kenntnis der Gesetzesnormen der Standardsprache und der Gebrauchsnormen moglichst vieler anderer Varieta­ ten und Sprechstile ein konkretes Sprachhandeln - das eigne und das anderer ­ hinsichtlich seiner Angemessenheit beurteilen zu konnen. Eine solche Fahigkeit setzt einerseits ein gewisses MaB an Sprachbewusstsein voraus, andererseits be­ fordert sie den Grad des Sprachbewusstseins. Hans -Martin Gauger (1976: 21) hat gezeigt, dass der " Sprachbesitz " , ver­ standen als " Beherrschen einer bestimmten historisch gewordenen Technik des Sp rechens " , stets mit Sp rachbewusstsein einhergeht. Dieses Bewusstsein ist zunachst jedoch nur eine Disposition. Im Schulunterricht geht es darum, den Grad der Explizitheit dieses Bewusstseins zu steigern und damit auch seine Sen­ sibilisierung zu fordern . Genau diese beiden Begriffe - Explizitheit und Sensibilisierung - bezeich­ nen das Ziel von Sprachkritik ganz allgemein, vor allem aber auch in der Schu­ le: Sprachkritik befordert die Verfiigbarkeit des Sprachbesitzes durch Sensibili­ sierung un d Explizierung des Sprachbewusstseins - dies wiederum, so ware, be­ reits Gesagtes variierend, hinzuzufiigen, zum Zwecke der Steigerung der Fahig­ keit, begriindete (also auf den vorgangig in den Unterricht transferierten sprach-

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wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende) Urteile iiber den eigenen Sprach­ gebrauch und den anderer fallen zu konnen. Die Befahigung, sich im Normengefiige des Sprachgebrauchs bewusst zu bewegen, ist die Voraussetzung und zugleich das Ziel von Sprachkritik. Damit miindet Sprachkritik, um einen Begriff J an Georg Schneiders (2009) aufzugrei­ fen, in " Sprachspielkompetenz" , die ihrerseits ein wesentlicher Bestandteil und ein Beitrag zur Sprachkultur ist. Dieser Zusammenhang wurde von Nina J anich (2005: 32) , die bezogen auf die kommunikative Kompetenz der einzelnen Spre­ cher einer Sp rachgemeins chaft de n Begriff " Sprachkultur" in den Begriff " Sprachkultiviertheit " iiberfiihrt hat, folgendermaBen dargestellt: Als Teil des Konzeptes der Sprachkultiviertheit [gilt] die Ausbildung eines 'Sprachbe­ wusstseins', unter dem ich die Distanzierungsfahigkeit vom routinierten Sprachhandeln verstehe, die als Sprachbewusstheit immer dann aktualisiert werden kann, wenn es notig ist [ . . . ] . Sprachbewusstsein als Teil von Sprachkultiviertheit ist deshalb ein sinnvoller An­ spruch an jeden Sprecher, weil erst die Fahigkeit, nicht nur routiniert Konventionen zu folgen, sondern auch aufmerksam und in diesem Sinne bewusst und situationsbezogen iiber die Art des eigenen sprachlichen Handelns zu entscheiden, zu echter Eigenverant­ wortlichkeit und damit Miindigkeit fuhrt. Sprachkultiviertheit impliziert damit auch das Recht, sich bewusst fur eine bestimmte Art von Sprachgebrauch zu entscheiden, bedeu­ tet also keinesfalls, vor allem grammatisch korrekt oder gar entsprechend ganz be­ stimmter Stilmaximen zu sprechen/zu schreiben. Vorausgesetzt wird nur, dass man auf­ grund eigener Kommunikationserfahrungen und der beschriebenen Kompetenzen zu re­ flektieren imstande ist, wie man (mit wem und wann) spricht, welche Konsequenzen die­ s e Form des Sprachgebrauchs in der Kommunikation mit anderen aufgrund sprachlicher N ormen im Sinne sozialer Erwartungshaltungen haben kann un d dass m an fi.ir sein sprachliches Handeln, eben weil es ein Handeln und kein Verhalten ist, verantwortlich gemacht werden kann bzw. wird.

Explizitheit und Sensibilisierung des Sprachbewusstseins (im Sinne Gaugers ) und " Distanzierungsfahigkeit vom routinierten Sprachhandeln" als reflektie­ rende Kompetenz (im Sinne Janichs) meinen im Grunde dasselbe: die Fahigkeit namlich, sein eigenes Sprachhandeln bewusst zu gestalten und einzusetzen, und zwar unter Beriicksichtigung existierender und als solche erkannter Normen so­ wie der Angemessenheit dieses Sprachhandels hinsichtlich der intendierten Kommunikations absicht. Hebt man - zusatzlich zur dieser " bewussten Ent­ scheidung" (J anich 2004) iiber das eigene Sprachhandeln - dieses Sprachhan­ deln und dasjenige anderer auf eine Metaebene und macht es zum Gegenstand vorgangiger oder nachtraglicher Bewertung, dann iibt man Sprachkritik, was auch und gerade in der Schule geschehen solite. S p rachkritik als anwendungsbezogene Sprachwissens chaft hebt als o zunachst darauf a b , ali jene, die professionell mit Sprache umgehen (also vor al­ lem auch Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer) , zu befahigen, auf der Grund­ lage sprachwissens chaftlicher Erkenntnisse iiber die Normen des Sprachge­ brauchs ein konkretes Sprachhandeln hinsichtlich seiner Angemessenheit zur Erreichung einer Kommunikationsabsicht beurteilen zu konnen. Die grundle­ gende Aufgabe besteht folglich darin, die universitare Ausbildung von Lehre-

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rinnen und Lehrern dahin zu erweitern, dass sie nicht nur mit den Grundlagen und Inhalten der Sprachwissenschaft vertraut gemacht werden, sondern auch den Zusammenhang zwischen Sprachbewusstsein, Sprachkritik und Sprachkul­ tur vermittelt bekommen . Einzuiiben sind also Methoden der (kritischen) Sprachbetrachtung, mit denen Sprache weder normativ gelehrt noch blo.B des­ kriptiv registriert wird, sondern kreativ und reflexiv beurteilt werden kann. Verfiigen die Lehrerinnen und Lehrer iiber ein derartiges Instrumentarium der kritischen Sprachbetrachtung, dann konnen sie damit auch einen Sprach­ unterricht gestalten, der zeitgema.B, ansprechend und dauerhaft wirkungsvoll ist. Dieser Sprachunterricht wird eine jugendsprachliche Ausdrucksweise oder die fiir die SMS-Kommunikation optimierte Grammatik und Orthographie nicht als Aus druck fehlender Sp rachkompetenz oder gar als Sp rachverfall be- und verurteilen. Aber er wird deutlich machen, dass der kommunikative Erfolg die­ ser Sprachgebrauchsformen abhangig ist von der Situation, dem Medium, den Adressaten oder dem Gegenstand. Er wird aufzeigen, dass diese Formen nicht immer und iiberall angemessen sind. Erst dann, wenn Schiilerinnen und Schiiler grundsatzlich erfahren und beurteilen konnen, was angemessener Sprachge­ brauch iiberhaupt ist, werden sie auch erkennen, dass in bestimmten Situation ein " richtiger" (d.h. am Standard orientierter) Sprachgebrauch der angemesse­ ne ist. Und damit ware schon viel erreicht. Sprachkritik als anwendungsbezogene Sprachwissenschaft ist Teil jenes Bil­ dungszieles , das darin besteht, junge Menschen auf der Grundlage von Wissen iiber die Welt zum Selbstdenken und Selbsturteilen zu befahigen. Vorausset­ zung fiir ein solches Selbstdenken und Selbsturteilen in Bezug auf Sprache und Sprachgebrauch sind erstens Kenntnisse iiber die Sprache, iiber ihre Regeln und iiber die gesellschaftlichen Normen des angemessenen Sprechens und Schrei­ ben, zweitens aber auch die Fahigkeit, sich zumindest punktuell von eigenen Sprachhandeln zu distanzieren und es hinsichtlich seiner Angemessenheit kri­ tisch zu reflektieren. Gerade mit der Vermittlung dieser Kenntnisse und Fahig­ keiten konnte die Sprachwissenschaft einen Teil ihrer gesellschaftlichen Kom­ petenz un d Verantwortung zuriickgewinnen, die ihr sei t einigen J ahrzehnten nur noch in Ansatzen zugesprochen wird. Literatur Aptum. Zeitschrz/t /ur Sprachkritik und Sprachkultur (2oro) , 2. Themenheft "Sprache(n) der Krise" . CAMPE J. H. (1794) : Ueber die Reinigung und Bereicherung der Deutschen Sprache. Dritter Versuch welcher den von dem konigl. Preu/5. Gelehrtenverein zu Berlin ausgesetzten Preis erhalten hat, Verbesserte und vermehrte Ausgabe, Braunschweig. CICERO (1976) : De oratore l Ober den Redner, hg. und i.ibersetzt von H. Merklin, Stuttgart . DIECKMANN w. (2oo6) : Sprachkritik - ein Haus mit vielen Wohnungen. Spielarten wort­ bezogener Sprachkritzk. In: Der Deutschunterricht LVIII, Heft 5, q-26. FIX u. (1995) : Textmusterwissen und Kenntnis von Kommunikationsmaximen. Vorausset­ zungy Gegenstand und Zie! einer kommunikationsbezogenen Sprachberatung. In: Be­ wertungskriterien in der Sprachberatung, hgg. von B. U. Biere l R. Hoberg, Ti.ibin­ gen, 62-73.

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Eva Neuland

Variation in der deutschen Sprache. Auswirkungen auf den (F remd) Sprach ( en) unterricht r

Variatio delectat - et prodest ! I

Einfiihrung Sprachliche Vielfalt und Veranderung losen schon in der Muttersprache Verun­ sicherung und Orientierungsverlust aus : wenn Normen und Konventionen sich wandeln (wie bei der Rechts chreibreform im Deutschen), wenn i.ibliche und ver­ traute Sp rachgewohnheiten mit neuen Gebrauchsweisen kontrastiert werden (z.B. beim Wandel von Anrede- und GruBformen). Ist beim Erwerb einer Fremdsprache die Verwirrung i.iber Sprachvariation nicht umso groBer? Dies muss durchaus nicht der Fall sein, wie der folgende Beitrag zeigen mochte. Vielmehr kann die didaktisch begri.indetete Auswahl von exemplarischen Beispielen der Variation und Veranderung in der Zielsprache Lerner bei der Aneignung von Sprachwirklichkeit motivieren und beim Erwerb zielsprachlicher Kompetenzen untersti.i tzen. 2

Sprachvariation in der unterrichtlichen Vermittlung Die Unterrichtswirklichkeit geht in vielen Fallen, vor allem im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht, immer noch von einer relativ homogenen deutschen Standard- und Schriftsprache aus , die von der gesprochenen Alltagswirklichkeit oft weit entfernt ist. Zwar kann und soll die differenzierte linguistische Be­ s chreibung von Sprachvariation in ihrer Komplexitat im Unterricht zumeist nicht erfasst und vermittelt werden. Doch benotigt ein Sprachunterricht, der an diesen Phanomenen der alltaglichen Sprachwirklichkeit nicht vorbeigehen will, linguistisch fundierte Beschreibungs- und Erklarungsmoglichkeiten. Dies macht eine angemessene Beri.icksichtigung der Thematik in germanis­ tischen Studiengangen, vor allem der Lehrerausbildung, im In- und Ausland er­ forderlich, sodann aber auch eine einschlagige Behandlung in der Curriculum­ und Lehrwerkkonstruktion - vor allem aber eine intensivere Zusammenarbeit von Sprachwissens chaft und Sprachdidaktik. Linguistische und didaktische 1. Der Beitrag geht auf die Grundgedanken der Einfi.ihrung zum gleichnamigen Sammelband aus dem Jahr 2006 zuriick.

VARIAT I O N IN DER DE TSCHEN S PRACHE

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Beitrage zur Grundlegung un d Vermittlung von Deutsch als Muttersprache un d Deutsch als Fremdsprache nutzen bislang noch kaum den inhaltlichen Vergleich und die gegenseitige Bereicherung. 2. 1. Sprachvariation im ungesteuerten DaF-Erwerb Der vor- und atillerschulische DaF-Erwerb findet sozusagen im Normalfall, im " Sprachbad" der Variation im Deutschen statt. Die Lernenden erwerben im Land der Zielsprache diese oft in der am Ort, in der Region, in den Gruppen der Al­ tergleichen, am Arbeitsplatz gesprochenen Varietat. In natiirlichen Erwerbssitua­ tionen wirken alle Parameter der Variation auf die Lernersprache ein, ohne dass die Lernenden, zumal Kinder un dJ ugendliche, sieh zunachst dessen bewusst sin d. Ob und wie die Lerner dann z.B. kontrastive Spracherfahrungen verarbeiten, stellt sich eher als eine Frage des individuellen Beliebens und Vermogens . Erst eine linguistisch wie didaktisch fundierte Sprachreflexion im Rahmen unterrichtlicher Sprachlehre eroffnet die Moglichkeit, solche Erfahrungen be­ wusst zu machen, sie beim Aufbau des Sprachwissens zu systematisieren und fi.ir die kompetente Beherrschung der Zielsprache zu nutzen. 2. 2.

Sprachvariation im muttersprachlichen Deutschunterricht

Dies wird allerdings auch im muttersprachlichen Deutschunterricht erst seit sei­ ner kommunikativen Wende in den 8oer Jahren versucht. Seitdem dient der Sprachunterricht nicht mehr vorrangig dem normgerechten Gebrauch der Stan­ dardsprache als Selbstzweck; vielmehr steht der verstandliche und angemesse­ ne Geb rauch der deutschen Sp rache im Vordergrund. Die didaktische Argu­ mentation greift heute fi.ir den eigensprachlichen Unterricht zunehmend auf Alltagserfahrungen mit der Variation als Ausgangspunkt fi.ir weiterfiihrende Lernprozesse zuriick. Schi.iler und Schi.ilerinnen sollen sich von Schuleintritt an in der Vielfalt der Sprachvariation orientieren. Lehrplanen fi.ir die weiterfi.ihrenden Schulstufen zu­ folge sollen die Lernenden zumeist in einem Lembereich, der Reflexion uber Spra­ che genannt wird, "Sprachen in der Sprache" kennen und in ihrer Funktion un­ terscheiden lernen: z.B. Standardsprache, Umgangssprache, Dialekt, Gruppen­ sprachen, Fachsprachen, gesprochene und geschriebene Sprache. Sie sollen Er­ fahrungen von Mehrsprachigkeit zur Entwicklung der Sprachbewusstheit und zum Sprachvergleich nutzen . .Àhnliches gilt dann auch fiir den Oberstufenunter­ richt, mit der zusatzlichen Lernzieldimension der Entwicklung von Stilkompetenz. 2.3. Sprachvariation im DaF-Unterricht Eine vergleichbare Argumentation hat es im DaF-Unterricht, nehmen wir den prototypischen Fall des schulischen und universitaren DaF-Unterrichts im an­ derssprachigen Ausland, nicht gegeben. Im Regelfall bildet nach wie vor die deutsche Standardsprache die ausschlie.Bliche Zielgro.Be des Unterrichts, wie noch ki.irzlich apodiktisch gefordert:

EVA N E U L A N D

Die Standardsprache ist das Ziel jeglichen Sprachunterrichts, zumal auBerhalb des deut­ schen Sprachraums 2•

Vordergriindige Rechtfertigungen sind schnell zur Hand; sie vermogen aller­ dings nur begrenzt zu iiberzeugen und sind vor allem nicht zu verallgemeinern. Dabei werden vor allem zwei Argumente gegen den unterrichtlichen Einbezug von Sprachvariation geltend gemacht: 1. 2.

eine zu gro.Be Komplexitlit eine zu geringe Nutzlichkeit

Zu 1 : So sollte der Erwerb der anscheinend ohnehin schon schwierigen deut­ schen Sprache nicht zusatzlich verkompliziert werden; die Lernenden, denen ohnehin schon viel abverlangt wiirde, sollten nicht noch weiter iiberfordert wer­ den. Diese Forderung nach Komplexitatsreduktion ist fraglos angebracht fiir bestimmte Lernergruppen und fiir bestimmte Stufen des Lernprozesses, in die­ ser Absolutheit jedoch weder von der Sache noch vom Lerner her gerechtfer­ tigt. Denn wie die empirische Lehr-Lern-Forschung zeigt, wird die zu einfache Gleichung: der Lernerfolg bemesse sich im Fortschritt vom Einfachen zum Komplexen weder den vielschichtigen Lernmotivationen noch den unter­ schiedlichen Lernertypen gerecht und schon gar nicht den eigenen Erfahrungen im Umgang mit Variation der Muttersprache und/oder in anderen zuvor er­ lernten Fremdsprachen, z.B. des angloamerikanischen Sprachraums oder der Frankophonie. Variationen und Normabweichungen konnen fiir Lerner auch attraktiv sein und faszinieren, wie die beriihmten Trapattoni-Spriiche (Flasche lee� ich habe /ertig), deren rhetorischer Effekt auf ihrem Spiel mit Norm und Abweichung, hier in Form eines "Auslanderdeutsch " , beruht3• Variatio delectat ! Et prodest? Zu 2: Das Komplexitatsargument verbindet sich haufig mit dem Niitzlichkeits­ argument, denn schlie.Blich wiirde die Beriicksichtigung alltaglicher miindlicher Kommunikation mit einem deutlich erhohten Lernaufwand erkauft und sei doch mit einer deutlichen Beschrankung der kommunikativen Reichweite des Erlernten verbunden. Solche Kosten-Nutzen-Rechnungen sind allerdings weni­ ger didaktischen als okonomischen Ù berlegungen geschuldet und daher kaum auf den prototypischen Fali des schulischen oder gar universitaren Spracher­ werbs zu beziehen: Der Bildungswert von Lerngegenstanden ist wissenschaft­ lich und nicht okonomisch zu begriinden. Halten wir fest, dass beide Argumente lern- und bildungstheoretisch zu wider­ legen sind. Vor allem aber stellen sie keine Gegenargumente zu den fiir die un­ terrichtliche Behandlung von Sp rachvariation geltend gemachten Pro-Argu­ menten dar: 2 . Gotze (2oor: 132 ) . 3 . Vgl. dazu auch die Typologie von Normabweichungen bei Thurmair (2002 ) .

VARIAT I O N IN DER DE TSCHEN S PRACHE

Orientierung des Unterrichts an der Zieldimension der komplexen Sprach­ wirklichkeit gegeni.iber einer ki.instlichen Vereinfachung der Zielsprache, Vermittlung vertiefter Kenntnisse im Gegenstandsfeld der mehrdimensio­ nalen N ormen un d Gebrauchsweisen der Zielsprache, Ankniipfung an eigensprachlichen Erfahrungen der Variation in der Mut­ tersprache und Ermoglichung von sprachvergleichendem Transfer, Motivation durch interessegeleitetes, zielgruppen- und anwendungsbezo­ genes Sprachlernen (z.B. Jugendsprache fiir jugendliche Lerner) , Forderung von Sprach- und Kulturbewusstheit. 3

Norm und Variation in didaktischer Perspektive Inwieweit aber wird das Verhaltnis von Sp rachnorm (en) und Sp rachvariati­ on (en) in der (Fremd)sprach (en) didaktik i.iberhaupt theoretisch reflektiert? Auch hier lohnt ein vergleichender Blick auf mutter- und fremdsprachendidak­ tische F achdiskussionen. 3.1. Reflexion i.iber Sprachnormen im muttersprachlichen Deutschunterricht Die der traditionellen Deutschdidaktik zu Grunde liegende Pramisse einer Ho­ mogenitat der deutschen Sprache und der Sprachgemeinschaft war von der so­ ziolinguistischen Sprachbarrierenkritik und der didaktischen Sprachnormkritik der 70er Jahre grundlegend in Frage gestellt worden. Dies hatte zu einer beson­ deren Bedeutung des Lernziels : Sprachkritik der kritischen Deutschdidaktik ge­ fi.ihrt. Durch das zentrale Lernziel der kommunikativen Angemessenheit im Rahmen der kommunikativen Didaktik verlor jedoch die kritische Auseinan­ dersetzung mit Sprachnormen ihre Brisanz; die Sprachnormdebatte der 7oer Jahre wurde in den 8oer J ahren zu einer "verschi.itteten Diskussion " 4• Eine solche weitgehende Abstinenz der F achdiskussion lasst sich bis in die j i.ingste Zeit verfolgen; der kritischen Auseinandersetzung mit Sprachnormen wird kein besonderer Stellenwert in den aktuellen Einfi.ihrungen und Grundla­ genwerken des Faches beigemessen 5• Damit bleibt eine Gefahr, i.iberkommene Konzepte von Norm und Variation unreflektiert zu tradieren. Da bei konnen aus den neueren Forschungen 6 zu den subjektiven Anteilen und sozialen Prozessen von Sprachnormierungen wichtige Impulse fi.ir die Sprachdidaktik abgeleitet werden. Dies betrifft insbesondere die Entwicklung und Durchsetzung von " subsistenten" Normen und Normierungshandlungen "von unten" , wie z.B. :



So Neuland (1998).

5· So weder bei Huneke l Steinig (2ooo) noch bei Lange (1998 ) ; vgl. jedoch den Beitrag von

Neuland im Handbuch: Didaktzk der deutschen Sprache (2003 ). 6. Vgl . das einschlagige Themenheft 3lr998 der Zeitschrift Der Deutschunterricht, v.a. Gloy (!998 ) .

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die Forderungen nach einem geschlechtergerechten und einem politis ch korrekten Sprachgebrauch, der Anspruch von Jugendlichen auf eine " andere" Sprache, das wiederbelebte Interesse an regionalsprachlichem Gebrauch. Solche Prozesse sind haufig mit einer kritischen Wendung gegen die Gel­ tungsansp riiche der normie rten Einheitssprache verbunden. Das vielfaltige Deutsch kann somit zugleich als Chance zum reflektierten Umgang mit konkur­ rierenden und zum Teil auch konfligierenden Sprachnormierungen im Unterricht genutzt werden 7• Dies kann die Ausbildung von Sprachbewusstsein und Sprach­ kritik, auch am eigenen Sprachgebrauch, fordern. Solche Chancen aber hat der derzeitige eigen- wie fremdsprachliche Deutschunterricht noch zu wenig genutzt. 3 . 2 . "Welches Deutsch lehren wir? " im Unterricht Deutsch als Fremdsprache

Erinnern wir uns an die Aufgliederung des Fa eh es Deutsch als Fremdsprache von Weinrich 1979 , so solite der Auseinandersetzung mit Sprachnormen in der Konstitutionsphase der wissenschaftlichen Disziplin ein wichtiger Stelienwert beigemessen werden: Die Sprachnormenforschung wurde hier zu einem der sie­ ben Kerngebiete des Faches gerechnet. Dennoch blieb es im Folgenden bei eher vereinzelten Steliungnahmen 8. Wer Deutsch unterrichtet oder Lehrbucher schreibt, trifft Norm- und Varietatenent­ scheidungen: Ob gesprochen oder geschrieben wird, in welchen Diskursfeldern die Spra­ che angesiedelt ist, welche sozialen Register und welche sozialen Varianten als Input an­ geboten werde, das bestimmt j ener Ausschnitt von S prache, der gelernt werden kann/muss (I99T 133).

So leitete Hans-Jiirgen Krumm im ]ahrbuch Deutsch als Fremdsprache den the­ matischen Teil unter der programmatischen O berschrift: Welches Deutsch leh­ ren wir? ein. Zwar hatten sich in den dazwischen liegenden J ahren un d insbe­ sondere im Gefolge der kommunikativen Wende der Praxis des Sprachunter­ richts und vor aliem auch der Lehrwerke einige bedeutsame Entwicklungen im Hinblick auf die ErschlieBung weiterer sozialer Domanen, Kommunikations­ rolien und Textsorten des Sprachgeb rauchs eingestelit. Doch ist bis dahin eine systematische wissenschaftliche ErschlieBung des Gegenstandsfelds von Norm und Variation fiir den DaF-Unterricht noch ausgeblieben. Die bereits konstatierte Leerstelie zwischen der Erforschung von Sprachva­ riation un d ihrer Beriicksichtigung bei der Sprachvermittlung zeigt sich eben auch in der wissenschaftlichen Fachdiskussion im Bereich Deutsch als Fremdsprache am Mangel an systematischen, theoretisch wie empirisch fundierten didaktischen Beitragen. Dies soli an einigen exemplarischen Positionen gezeigt werden:

7· Dazu ausfiihrlicher Neuland (20oo) . 8 . So i n dem Themenh eft: Normprobleme im Unterricht Deutsch als Fremdsp rache der Zeit schrift Zielsprache Deutsch von 1982.

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Im Handbuch Fremdsprachenunterricht wird der Thematik: Norm und Va­ riation auch in der neuesten Auflage (2003 ) kein eigenstandiger Eintrag gewid­ met. Das Internationale Handbuch Deutsch als Fremdsprache (2001) enthalt zwar unter der Rubrik: Linguistische Gegenstande ein immerhin zehn Unterkapitel umfassendes Kapitel: Sprachliche Varietaten cles Deutschen. Doch bleiben die inhaltlichen Ausfiihrungen fiir die didaktisch-methodischen Kapitel ohne er­ kennbare Auswirkungen: Unter dem leitenden Gesichtspunkt der Methodik geht es hier um Grammatik- und Wortschatzvermittlung, Hor- und Leseverste­ hen, miindliche und schriftliche Sp rachproduktion auf der Grundlage eines weitgehend homogenen Sprachbegriffs . Und auch die Einfiihrungen in Deutsch als Fremdsprache und die DaF-Di­ daktik sparen das Gegenstandsfeld weitestgehend aus . Huneke l Steinig weisen immerhin den Varietaten cles Deutschen unter gewissen Bedingungen (z.B. Le­ ben in einem deutschsprachigen Lanci) eine gewisse didaktische Relevanz zu 9• Die neueste Einfiihrung von Hernig stellt zwar die bedeutsame Frage: " Mit wel­ chem Deutsch befasst sich Deutsch als Fremdsprache? " (31 f. ), beantwortet sie jedoch mit dem Hinweis auf die iiberregionale und schriftsprachlich kodifizier­ te Standardsprache Aus der Sicht der Auslandsgermanistik n werden allerdings pointiert ande­ re Positionen vertreten. So mahnte Russ schon 1992: 10•

Deshalb ist es auch geboten, die Variation von Anfang an im Unterricht nicht als etwas Exotisches und/ oder etwas spezifisch Deutsches erscheinen zu lassen, sondern als den Normalfall in der Sprache. Vor allem fiir die passive Sprachbeherrschung sollten miind­ liche und schriftliche Texte aller [ ] Variationen zum taglichen Material des Unterrichts un d der Lehre gehoren (1992: 14) . .. .

Und Durrell fordert: Meines Erachtens bedarf es [. . . ] der Einsicht, dass Ausliinder die deutsche Sprache ler­ nen wollen, wie sie tatsachlich gesprochen wird und nicht wie sie gesprochen werden soli­ te (2005: 189 ff.) .

4 Neuere Entwicklungen Der Variationsbegriff wird heute in der linguistischen Forschung weiter gefasst als iiblich und umfasst u.a. neben den klassischen Parametern der nationalen, dialektalen, soziolektalen, situativen und funktionalen Varietaten auch Litera­ tursp rachen sowie gesprochene und geschriebene Ers cheinungsweisen cles Deutschen und Entwicklungen in der Grammatik.

9· Huneke l Steinig 2ooo (1997: 39 ff. ) . Hernig (2005: 3 1 f. ) . 1 1 . Àhnliche Stellungnahmen finden sich bei Behrend/Knipf-Koml6si (20o6) ; Takahashi re­ flektiert den Einbezug von Varietiiten des Deutschen in den DaF-Unterricht aus japanischer Sicht. w.

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4. 1 .

Linguistische Variationsfors chung 12

Es ist kaum mehr moglich, die Komplexitat der Variation im heutigen Deutsch im Rahmen einer Gesamtdarstellung zu erfassen oder gar zu visualisieren, wie es Loffler noch 2005 13 unternommen ha t - zu unterschiedlich sin d di e Wir­ kungsfaktoren und die von ihnen ausgelosten Prozesse, zumal unter verschie­ denen historischen und kulturellen Entwicklungsbedingungen. Viele Fragen sind von der Forschung noch nicht hinreichend bearbeitet wor­ den, darunter: Wie ist das Verhaltnis der Varietatendimensionen zueinander ge­ nauer zu bestimmen, welche Ober- und Unterordnungen, welche Kovariationen lassen sich feststellen? Wie konnen soziolektale un d situative Varietaten unter dem Aspekt einer Homogenitat und Stabilitat von Varietatenmerkmalen charakteri­ siert werden? Wie ist zwischen Substandard und Nonstandard zu differenzieren? Welche Rolle spielen subjektive Faktoren kultureller Selbstzurechnung, welche Rolle spielen das Sprachbewusstsein und das Spiel mit der Variation? Eine angemessene Beschreibung und Erklarung von Variation im heutigen Deutsch macht vor allem auch eine soziolinguistische Perspektive auf die Spre­ cher und Schreiber als Akteure in den Prozessen sprachlichen Wandels und auf die von ihnen oft sehr bewusst eingesetzten Phanomene der Auswahl aus dem Repertoire der Sprachvariation im Deutschen im individuellen und gruppenty­ pischen Sprachgebrauch erforderlich 14• Vor allem die aktuell bei Jugendlichen zu beobachtenden Erscheinungsweisen von Sprachkreuzungen un d Stilmischungen sind zumeist als Ausdrucksformen intentionalen sprachlichen wie nichtsprachli­ chen Handelns und als Mittel fiir die soziale Selbstpositionierung von Sprechern un d fiir die Prasentation sozialer Lebensstile zu verstehen 15• Sie konnen iiberdies als aufschlussreiche Indikatoren gegenwartiger gesellschaftlicher Entwicklungen gedeutet werden, die mit den Stichworten der Pluralitat und Differenz und der Multiperspektivitat sozialer Identitat gekennzeichnet sin d 1 6• Die Neubewertung der Rolle des Individuums und der produktiven Verar­ beitung von Spracherfahrungen als Bestandteil des Sprachwissens und der akti­ ve Beitrag von Individuen und Gruppen zu Prozessen des Sprachgebrauchs­ und Sprachnormwandels bilden zugleich wesentliche Ankniipfungspunkte fiir die didaktische Reflexion der Variation im heutigen Deutsch. 4· 2.

Sprachdidaktische N euorientierungen

Inzwischen mehren sich die Stimmen, die eine ausschlie.Bliche Orientierung der Sprachdidaktik an der Standardnorm p roblematisieren. Der 2oo6 erschienene Sammelband: Variation im heutigen Deutsch. Perspektiven /ur den Sprachunter­ richt prasentiert dazu eine Vielzahl von Beitragen aus Linguistik und Didaktik

12. Vgl. dazu u .a. Eichinger l Kallmeyer (2005). Vgl. Loffler (2005, 1995) . 14. Zur Rolle des Sprachbewusstseins i n der Variationstheorie vgl. Hacki Buhofer (wooa ) . 1 5 . Vgl. auch Kallmeyer (2ooo ) . 1 6 . Vgl. dazu Neuland (2oo8). 13.

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der Germanistik aus dem In- und Ausland. Zusammenfassend lassen sich fol­ gende Schwerpunktsetzungen der Variation im heutigen Deutsch erkennen: 4. 2. 1 .

Plurizentrik des Deutschen und nationale Variet�iten

Das Interesse an den nationalen Varietaten und an der auf von Polenz zuri.ickge­ henden These von der Plurizentrik des Deutschen 17 steht im Kontext der allge­ meinpolitischen un d sprachpolitischen Entwicklungen in Europa 18 un d des ver­ starkten Engagements der Forderung der deutschen Sprache in Òsterreich un d in der Schweiz, vor allem in mittel- un d osteuropaischen Landern. Linguisten aus Deutschland, Òsterreich un d der Schweiz ha ben seit den 9oer J ahren viel dazu beigetragen, die plurizentrische und plurinationale Sicht der deutschen Sprache zu verbreiten und die vernehmliche Forderung zu stellen, den Unterricht von Deutsch als Fremdsprache nicht auf die Vermittlung des "Binnendeutschen" zu beschranken 19• Und auch der Gemeinsame Europl:iische Re/erenzrahmen bezieht sich in Pro/ile Deutsch auf " Deutsch als plurizentrische Sprache " 20 • Im muttersprachlichen Deutschunterricht wird das Thema der nationalen Varietaten oft erst in sprachgeschichtlichen Kontexten des Sprachunterrichts aus der Oberstufe aufgegriffen. Dies empfiehlt sich auch fi.ir den universitaren DaF­ Unterricht. Das materialreiche Hilfsmittel des 2004 erschienenen Variantenwor­ terbuchs des Deutschen ermoglicht eine kontrastive Analyse von osterreichi­ schen und schweizerdeutschen Texten schon fi.ir den Mittelstufen-Unterricht 21 • 4- 2 . 2 .

Regionalitat

Die Dialekte bildeten fi.ir Sprachwissenschaft wie fi.ir Sprachdidaktik das klassische Gegenstandsfeld der Heterogenitat der deutschen Sprache. Bis dahin herrschte in der muttersprachlichen Deutschdidaktik zunachst ein sprachpflegerisch-sprach­ kundlicher Zugang vor, indem Mundart-Gedichte oder Nahrungsmittelbezeich­ nungen und sodann in der kommunikativen Sprachdidaktik Missverstandnisse zwischen Sprechern verschiedener Mundarten prasentiert wurden 22 • Erst seit ji.ingerer Zeit hat sich eine sprachgebrauchsorientierte Perspektive der Dialektdidaktik durchsetzen konnen, die auch den veranderten Dialektver­ haltnissen im heutigen Deutsch Rechnung tragt 23• Hinblick auf die regionale Differenzierung des so genannten "Binnendeut­ schen" sin d schon einige Unterrichtsvorschlage fiir die Beri.icksichtigung von Dia­ lekten un d regionalen Umgangssprachen im mutter- un d fremdsprachlichen 24 17. Von Polenz (1988). 18. Vgl.dazu Liidi (2oo6) . 19. Vgl. dazu Ammon (2oo6) und vor allem Ammon et al. (2004). 20. So in Glaboniat et al. (2002). 21. Hensel (2ooo) diskutiert einige Konsequenzen fiir den DaF-Unterricht; vgl. auch Hagi (2005) und Hofer (2006) fiir die Schweiz. 22. Vgl. dazu Neuland l Hochholzer (2006). 23. Vgl. dazu Macha (20o6) . 24. V.a. Jager (1997) , Ehnert et al. (2ooo ) , BaBler l Spiekermann (2oo1hoo2) .

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Unterricht vorgelegt worden. Dabei wird vor allem die Bedeutung der regiona­ len Differenzierung fiir Deutschlerner aus dem Ausland hervorgehoben, die nach Deutschland kommen un d sich dort in Alltagssituationen verstandigen 2 5 oder auch fiir langere Zeit in Deutschland le ben wollen. 4. 2.3. Sp rechsprache

Das gesprochene Deutsch hat sei t den 8oer J ahren einen festen Platz im Deutsch­ unterricht eingenommen; doch haben sich in jiingster Zeit insbesondere durch die Entwicklung der Neuen Medien und die Ausgleichsprozesse zwis chen Miindlichkeit und Schriftlichkeit wichtige neuere Perspektiven fiir den Unter­ richt ergeben 26• In den jiingsten Deb atten iiber Sp rachnormen fiir den DaF-Unterricht haben sich einige Stimmen sehr deutlich fiir die Beriicksichtigung nicht nur der Aussprache, sondern auch gerade der Grammatik der gesprochenen wie der geschriebenen Sprache im heutigen Deuts ch erhoben 27• Phanomene des Sp rachgebrauchswandels , die zunachst als Abweichungen von schriftsp rach­ lichen Normen erscheinen, sich jedoch als Spezifika der Miin dlichkeit zu neuen Ausdrucksvarianten und Gebrauchsnormen entwickeln, sollten auch im Sp rachunterricht nicht aus geklammert werden, zumal sich solche Er­ s cheinungsweisen auch mit eigensp rachlichen Erfahrungen vergleichen las­ sen konnen. So lassen sich zunehmend Phanomene der Miindlichkeit in schriftlichen Texten auch im DaF-Unterricht entdecken 28• Weiterhin bieten sich kontrastive Analysen der Verschriftlichungen in neuen Medien an, z.B. von Emails und vor allem von Chat-Kommunikation 29. 4· 2.4. Informelle Stile

Die Beriicksichtigung sozialer, situativer und funktionaler Stile im Sprachunter­ richt war bereits seit der kommunikativen Sprachdidaktik theoretisch eingefor­ dert, allerdings nur selten unterrichtspraktisch umgesetzt worden. Das heutige Deutsch bietet eine Vielfalt von Sprachstilen und Textsorten, von geschlechter­ gerechtem und politisch korrektem Sprachgebrauch, von fach- und wissen­ schaftssprachlichen Aus drucksmoglichkeiten 3 0 , zwis chen denen kompetente Sprecher auswahlen, aber auch schon Sprachlerner differenzieren konnen. Re­ gistervielfalt und Stilkompetenz setzen jedoch einen linguistisch wie didaktisch fundierten Sprachunterricht voraus. 25. Vgl. zur Kritik an einem standardisierten "Deutsch fur Ausliinder" , das in Deutschland so nicht gesprochen wird, Ehnert et al. (2ooo: 198 ) . 2 6 . Vgl. dazu Durscheid (2006). 27. Vgl. dazu Di Meola (20o6) und Colliander (2006) sowie Auer (2002) und Gunthner (2002). 28. Vgl. dazu Schwitalla l Betz (2006) . 29. Vgl. dazu Schlobinski l Watanabe (20o6). 30. Vgl. dazu die Beitriige von Fix, Adamzik l Neuland (20o6), Janich, von Lutjeharms l Schmidt und Volmert sowie von Fluck und Heller im Sammelband von 2006.

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Alle Gegenstandsfelder liefern anregende Beispielfalle fiir den DaF-Unter­ richt, wobei Riickgriffe auf schriftliche Texte un d auf den kontrastiven Vergleich die didaktisch-methodische Umsetzung erleichtern. Halten wir also fest: Es scheint mithin an der Zeit, die Diskrepanz zwischen den mehrdimensionalen soziolinguistischen Sprachgebrauchsnormen und dem iiberwiegend eindimensionalen Standardnormkonzept insbesondere der DaF­ Didaktik zu iiberdenken und eine Neuorientierung einzufordern, die den viel­ faltigen Sprachgebrauchsweisen im heutigen Deutsch, aber auch den Interessen und Erfahrungen heutiger Lerner Rechnung tragt und den iiberdauernden ver­ dinglichten Normvorstellungen die Eigenaktivitat der Lerner beim Umgang mit Norm und Variation entgegenstellt 3r. Denn Lernende machen heute viele zielsp rachliche Erfahrungen auBerhalb unterrichtlicher Kontrolle, sei es durch das Internet oder sonstige mediale Ver­ mittlung 32 oder eben durch Immersion. Der Anteil autonomer Lernstrategien und selbstgesteuerter Lernprozesse hat dadurch heute entschieden zugenom­ men - und relativiert dadurch umso mehr die weiter vor kritisierten linear-me­ chanistischen Lernschemata eines lehrergesteuerten Inputs "vom Einfachen zum Komplexen" 33. Aus dieser Faktorenkomplexion erwachsen aber auch zweifellos hohere An­ forderungen an die Sprach- und Vermittlungskompetenzen der Lehrenden und an die Selbstverantwortung der Lernenden. 5

Sprachvariation als unterrichtliches Gegenstandsfeld: Einige Anregungen 5 . 1.

Lerngruppen, Lernziele, Lernprozesse

Die kompetente Beherrschung von Deutsch als Muttersprache sowie Deutsch als Fremdsprache setzt nicht nur grundlegende Kenntnisse der Grammatik, des Lexikons und der Schriftsprache voraus, sondern auch den kundigen Umgang mit iiberlieferten, sich wandelnden un d sich neu bildenden N ormen im Bereich von Grammatik, Semantik und Pragmatik der deutschen Sprache, ebenso wie Kenntnisse iiber nationale, dialektale, soziolektale und funktionale Varietaten des Deutschen und ihren kommunikativ angemessenen Gebrauch. Dies aber macht aber eine Reihe didaktischer Differenzierungen notig, die sich insbesondere auf den prototypischen Fall des schulischen und auch hoch­ schulischen DaF-Erwerbs beziehen: Lerngruppen und Lernkonzepte: Hier ist zunachst zu differenzieren zwischen den schulischen Lerngruppen der Schiiler und Schiilerinnen und den universitaren Lerngruppen der Fach3 1 . Vgl. zur Rolle des Lerners in der fremdsprachendidaktischen Normdiskussion Konigs (2000: 88 f. ) . 3 2 . Z .B. die eben zitierten "Trapattoni- Spri.iche" . 3 3 . So auch Borner l Vogel i n der Einfiihrung ihres Sammelbandes (20oo: XI ) .

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studierenden der Germanistik sowie der Studierenden mit anderen fachlichen Schwerpunkten, die mit je unters chiedlich akzentuierten Zielsetzungen die deutsche Sprache erwerben und nutzen wollen. Fur Fachstudierende und ins­ besondere fur solche, die spater selbst als Lehrkrafte die deutsche Sprache ver­ mitteln oder als O bersetzer und Dolmetscher tatig sein wollen, ist das Wissen uber Variation im heutigen Deutsch sicherlich unverzichtbar. Dies gilt ebenso fur die Deutschlehrerfortbildung. Fur die ubrigen Lernergruppen gilt dies mit groBen Abstufungen und mit sorgfaltiger Auswahl z.B. von alters- und ausbil­ dungsbezogenen Interessen. Ein kommunikativ orientierter Sp racherwerb und Sprachunterricht wird auf solche Kenntnisse nicht verzichten konnen, da Lehrwerke auf Grund ihrer langerfristigen Entstehungsges chichte nicht immer die aktuellen Entwick­ lungstendenzen der Zielsprache prasentieren konnen. Kompetenzfelder und Lernbereiche: Mehrfach war bislang vom Erwerb zumindest einer passiven Kenntnis uber Sprachvariation die Rede: An dieser Stelle sei nochmals deutlich betont, dass es vorrangig um rezeptive Kompetenzen im Umgang mit Variation im heutigen Deutsch geht 34• Dialektale und soziolektale Ausdrucksweisen als solche zu er­ kennen und verstehen zu lernen, dies stellt bereits ein ganz wesentliches Lernziel dar. Dies zeigt sich bereits an der Relevanz fur die O bersetzung, wenn es um die Verwendung von Varietatenmerkmalen als Stilmittel in literarischen Texten geht. Die Forderung produktiver Kompetenzen muB demgegenuber in Abstim­ mung mit den Lernerinteressen sorgfaltig abgewogen werden. Neben rezepti­ ven und produktiven Kompetenzen sollte aber vor allem im DaF-Unterricht auch die Forderung analytischer Kompetenzen beim Umgang mit Varietaten im Unterricht hervorgehoben werden: An den Varietaten kann gelernt werden , kann metasprachliches Wissen uber die deutsche Sprache und ihre sich wan­ delnden Gebrauchsnormen erworben werden, vor allem auch im Bereich der Grammatik. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Lernbereiche des Deuts chunter­ richts erweist sich das Gegenstandsfeld: Variation im heutigen Deutsch als aus­ gesprochen polyfunktional. Zwar spielt der Bereich des Sprechens und der mi.indlichen Kommunikation eine besonders groBe Rolle, doch konnen ebenso Kompetenzen im Bereich des Schreibens und der Textp roduktion gefordert werden sowie Grammatikerwerb und Textanalyse, und zwar von Sachtexten und von literarischen Texten. Nicht zuletzt sei daher auch der Literaturunter­ richt erwahnt, dem nicht ein auf den Standard eingeschranktes Konzept von Li­ teratursprachen zu Grunde gelegt werden solite. Das Gegenstandsfeld Variation im heutigen Deutsch eignet sich somit hervor­ ragend fi.ir einen integrativen, die Lernbereiche miteinander verbindenden Deutschunterricht. 34· Vgl. dazu auch Studer (2003 ) .

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5.2. Lehrwerkkritik und Konstruktion von Unterrichtsmaterialien Die Lehrwerkkritik der letzten Jahre hat nachdrucklich aufgewiesen, dass die Ge­ nerationen alterer DaF-Lehrwerke un d ebenso alterer Lehrwerke fur Deutsch als Muttersprache ein Lehrbuchdeutsch prasentieren, das wenig mit gesprochener und auch geschriebener Alltagswirklichkeit zu tun hat und die Moglichkeiten der inneren und alilleren Mehrsprachigkeit noch kaum ausschopft 35• Mit der kom­ munikativen Wende veranderten sich bekanntlich die Lehrwerktexte im Hinblick auf eine Annaherung an Alltags domanen und Alltagsp raxen des Sp rachge­ brauchs. Doch finden sich auch in heutigen Lehrwerktexten zumeist noch ki.inst­ lich konstruierte Beispiele fur mundliche Kommunikation unter jungen Leuten 36• Der Bedarf an neuen wirklichkeitsnahen Unterrichtsmaterialien, die moglichst authentisch, aber auch moglichst verstandlich sein sollten, ist groB. Aus didaktis cher Perspektive rechtfertigt die Vermittlung von Variation durchaus den Einsatz authentizitatsnah konstruierter Texte mit dem Fokus auf ausgewahlte Variablen der sprachlichen Variation. In der empirischen Erhe­ bung, Dokumentation und didaktischen Aufbereitung geeigneter Lehrwerktex­ te liegt eine wichtige weitere Schnittstelle fur die interdisziplinare Kooperation zwischen Linguistik und Didaktik. Fur die DaF-Lehrwerke ist schlie.Blich noch auf eine weitere verschenkte Chance aufmerksam zu machen: und zwar auf den Bereich der Landeskunde, deren bisherige Erscheinungsweise oft als eine "sprachlose Landeskunde" kri­ tisiert werden kann. So lassen sich Unterrichtseinheiten i.iber deutschsprachige Lander und Landschaften finden, die sprachlose Bildseiten mit gri.inen Berg­ wiesen im Vordergrund und wei.Ben Berggipfeln im Hintergrund prasentieren, auf denen nicht einmal eine schweizerdeutsche oder osterreichische Gru.Bfor­ mel eingefugt ist. Und auch die Chance eines "Wir sp rechen Deutsch-Quiz " wird verschenkt, wenn realienkundliche Inhalte un d nicht etwa Beispiele fur na­ tionale Varietaten abgepruft werden 37• Dies scheint ein prototypisches Beispiel fur die mangelnde Integration von landeskundlichen und sprachlichen Lerneinheiten und letztlich ein deutliches Zeichen fur die mangelnde Integration des Lernbereichs der Landeskunde ge­ nerell. So kann man sich schlie.Blich fragen, ob das Wissen uber die sehr unter­ schiedlichen sprachpolitischen Einstellungen gegeni.iber dem bundesdeutschen Standard in der Schweiz und in Osterreich nicht auch zu einer sprachbezoge­ nen Landeskunde gehort. 6 Ausblick Abschlie.Bend lasst sich festhalten, dass aus der kommunikativen Sprachdidak­ tik insbesondere das zentrale Lernziel der kommunikativen Kompetenz auch 35· Vgl. Konigs (2oo6 ) . 3 6 . Vgl. dazu Neuland (2009) . 37· Wenn z.B. nach der Geburtsstadt Mozarts gefragt wird oder die Zugspitze als hochster Berg einem bestimmten Land zugeordnet werden soll, so im Lehrwerk .iv.fosaik (Helsinki 2002) .

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fi.ir den Bereich der inneren Mehrsprachigkeit nutzbar gemacht werden kann: Allerdings setzt der kompetente Umgang mit Sprachvariation Sprachbewusst­ heit voraus und situiert sprachliches Konnen in den Kontext sprachlichen Wis­ sens und den Aufbau eines Sprachvarietatenbewusstseins . Fi.ir den eigen­ sprachlichen Unterricht wird beute oft die Lernzielformulierung eines reflek­ tierten Sprachgebrauchs verwendet, der sprachliches Wissen und kommunikati­ ves Konnens miteinander vermittelt. Dies hat im DaF-Unterricht bislang noch keine Entsprechung gefunden. Die Verstehenskompetenz wurde von der interkulturellen Sprachdidaktik im Sinne eines fremdkulturellen Verstehens im Kontext au.Berer Mehrsprachigkeit als zentrales Lemziel fiir den DaF-Unterricht ausgearbeitet. Im Kontext von innerer Mehrsprachigkeit geht es hier nun um das Verstehen intrakultureller Differenzen zwischen verschiedenen Dialekten un d Soziolekten, Fachsprachen un d sozialen Stilen. Varietaten des Deutschen verstehen lernen bedeutet zugleich Wahrneh­ mung von Differenzqualitaten und Scharfung von Sprach- und Kulturbewusstheit. Eine wichtige zuki.inftige Perspektive konnte es sein, intrakulturelle Sprach­ differenzen nicht als Barrieren zu betrachten, die Spracherwerb und Sprachun­ terricht zu einem Hindernislauf machen. Intrakulturelle Sprachdifferenzen kon­ nen demgegeni.iber als Brucken fur den Spracherwerb genutzt werden, die ei­ gen- und fremdkulturelle Erfahrungen verbinden. Literatur ADAMZIK K. l NEULAND G. (2oo6) : Linguistik und Didaktik von Textsorten - Mit einem Ausblick au/ Unterrichtstexte. In: Neuland (2oo6: 259-73). AMMON u . (1995) : Die deutsche Sprache in Deutschland, Osterreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietiiten, BerliniNew York. ID. ( 1997) : Die nationalen Varietéiten des Deutschen im Unterricht von Deutsch als Fremd­ sprache. In: ]ahrbuch Deutsch als Fremdsprache, 141-58. ID. (2oo6) : Nationale Standardvarietiiten in deutschsprachigen Là'ndern . In: Neuland (2oo6 : 97-1n) . AMMON u. et al. (Hgg.) (2004) : Variantenworterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Osterreich, der Schweiz un d Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ost­ belgien und Sudtirol, Berlin/New York. AUER P. (2oo2) : Schreiben in der Hypotaxe - Sprechen in der Parataxe? Kritische Bemer­ kungen zu einem Gemeinplatz. In: Deutsch als Fremdsprache 3hoo2, 131-8. BARBOUR s. l STEVENSON P. (1998) : Variation im Deutschen. Soziolinguistische Perspekti­ ven, Berlin/N ew York. BAALER H. l SPIEKERMANN H. (2oml2oo2) : Regionale Varietà'ten des Deutschen im Unter­ richt Deutsch als Fremdsprache. In: Deutsch als Fremdsprache 4f2om, 205-13 sowie 112002, 32-5. BAUSCH K.-R. et al. (Hgg.) (2003): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Konzepte, Modelle, Perspektiven, 4· Aufl., Tubingen. BEREND N. l KNIPF-KOML6SI E. (2oo6) : Sprachliche Variation als Heraus/orderung /ur den Deutschunterricht in Osteuropa . In: Neuland (2oo6: 161-75 ) . BORNER w. l voGEL K . (Hgg. ) (2ooo): Normen im Fremdsprachenunterricht, Tubingen. BRAUN P. (1993): Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. Sprachvarietà't en, 3· erw. Aufl., Stuttgart.

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Federica Missaglia

Miindliche Kommunikation in der deutschen Gegenwartssprache

I

Einleitung " Miindliche Kommunikation" bezeichnet die O bertragung von Informationen mittels gesprochener Sprache. Werden diskrete Einheiten - etwa Einzellaute untersucht, so spricht man von Segmenten und die schriftliche Wiedergabe der Sprechkette ist eine segmentale Transkription. Die intersegmentale (" satzphone­ tische " ) Ebene betrifft hingegen die gegenseitigen Einfliisse von benachbarten Segmenten. Suprasegmental sind schlie.Blich jene Phanomene, deren Wirkung sich iiber die Einzellaute hinaus erstreckt. Prosodie, etwa Tonhohe, Rhythmus, Pausen, Lautstarke, Quantitat und vor allem Intonationskontur, Wort- und Satz­ akzent vermitteln wichtige Informationen, die es zwecks gelungener Kommuni­ kationsakte nach arbitraren und konventionalisierten Regelma.Bigkeiten vom Sender korrekt zu kodieren und vom Empfanger korrekt zu dekodieren gilt. Ziel dieses Beitrages ist es, die wesentlichen segmentalen, satzphonetischen und prosodischen Regelma.Bigkeiten der miindlichen Kommunikation in der deutschen Gegenwartssprache zu prasentieren. 2

Segmentale Aspekte: Vokale und Diphthonge, Konsonanten und Affrikate Die meisten Lautbeschreibungen setzen die Einteilung der Laute in Vokale und Konsonanten voraus , eine Einteilung, die je nach Aus richtung auf unterschied­ licher - funktional-phonologischer bzw. phonetischer - Basis erfolgt. Phonologische Studien, die eine funktionale Perspektive bevorzugen, unter­ scheiden zwischen den Elementen, di e den Silbenkern bilden ( [ + silbisch] ) un d denen, die den Silbenrand bilden ( [- silbisch] ) . Auf diese Unterscheidung sti.itzt sich die Bezeichnung der Vokale und der Konsonanten als Selbst- und Mitlaute (Siebs 1969 ; Duden 1990); allerdings kommen in einigen Sprachen auch silben­ bildende Nasale und Liquide vor (etwa die Endungsformen im Deutschen). Phonetische Lautbeschreibungen stiitzen sich hingegen auf akustische, arti­ kulatorische oder auditive Kriterien. Vokale sind zentrale friktionslose orale Lau­ te, die durch die Schwingung der Stimmlippen im Kehlkopf ([ + sonor] ) gekenn­ zeichnet sind und durch das Fehlen jeglichen Hindemisses bzw. Friktion im Mund­ raum fiir den exspiratorischen Luftstrom (daher die Bezeichnung " Mundoff-

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nungslaute" im WdA). Wahrend Konsonanten durch eine Reibung bzw. einen Verschluss im Phonationskanal gebildet werden und daher bei ihrer Artikulation der Kontakt oder die Annaherung der Artikulationsorgane ausschlaggebend sin d, werden Vokale ohne zentrales Hindernis im oralen Ansatzrohr gebildet ( [- kon­ sonantisch] ) und in einem kleinen Artikulationsgebiet artikuliert, namlich zwi­ schen Velum und Palatum. Die Klangfarbe wird durch Veranderungen der mobi­ len Organe bestimmt; zur Klangfarbengestaltung ist dabei die Resonanzwirkung der Ansatzraume wesentlich. Ferner sind Vokale Trager prosodischer Merkmale, etwa Akzent, Quantitat, bedeutungs- oder ausdrucksbestimmende Tonhohe. Vokale unterscheiden sich in der Quantitat (Dauer) und der Qualitat (Klang­ farbe) . Diese Dimensionen bezeichnen auditive Eindriicke : lang- kurz un d hell-dunkel bzw. offen-geschlossen. Stellvertretend fiir die impressionistischen Eindriicke zur Klangfarbe konnen Vokale auch unter Riickfiihrung auf artikula­ torische Kriterien eingeordnet werden, indem die Parameter "palata! " und "vel­ ar" verwendet werden. Zwischen perzipiertem Laut un d Artikulationsstelle lassen sich Korrespondenzen feststellen: Helle Vokale werden vorne im Mundraum ge­ bildet ("Vorderzungenvokale" , " palatale Vokale" ) , dunkle Vokale hinten ( '' Hin­ terzungenvokale " , "velare Vokale" ) , wahrend mittlere Vokale im mittleren Teil des Mundraums artikuliert werden ( "Mittelzungenvokale" , " zentrale Vokale" ) . Z u r qualitativen Klassifizierung d e r Vokale lassen sich drei Kriterien be­ stimmen: L der Òffnungsgrad bedingt durch die Entfernung zwischen Zungen­ riicken und Gaumen; 2. die Artikulationsstelle bedingt durch die horizontale Zungenverschiebung, d.h. der hochste Punkt der Zungenwolbung; 3· die Lip­ penrundung bzw. L abialisierung. Als universalgiiltiges Bezugsschema fiir die Darstellung von Vokalinventaren eignet sich das System der Kardinalvokale (http://www. arts. gla. ac.uk!IPA/IPA_chart_(Choo5 .pdf). Alle Vokale werden innerhalb der durch den Mundraum begrenzten Flache artikuliert, di e in Form eines artikulatorischen Vierecks schematisiert wird. Auf der horizontalen Ebene ist die Artikulationsstelle verzeichnet, auf der vertika­ len der Òffnungsgrad. Wahrend fiir die Artikulationsstelle drei Grade unter­ schieden werden (Vorder-, Mittel- und Hinterzungenvokale) , lasst sich die Òff­ nung in vier Grade einteilen (geschlossene, halbgeschlossene, halboffene, offe­ ne Vokale) . Die Lippenrundung wird in die dritte Dimension eingetragen, wo­ bei lediglich zwei Grade notwendig sind: Lippenrundung und Lippenspreizung (gerundete vs . ungerundete Vokale) . Vokale sind immer stimmhaft: Bei ihrer Realisierung wird der laryngale Me­ chanismus aktiviert, der dem Sprachsignal Periodizitat verleiht, wahrend die Form des oralen Ansatzrohres und die beweglichen Organe (Zunge, Lippen) die Klangfarbe bestimmen. Vokale sind quasi-periodische Segmente des Sprachsig­ nals, die den quasi-periodischen Erzeugungsmechanismus an der Glottis re­ flektieren. Sie werden durch erhohte Konzentration von Energie in engen Fre­ quenzbandern ( " Formanten " ) charakterisiert, deren Mittenfrequenzen den Re­ sonanzfrequenzen des Ansatzrohres entsprechen. Die Frequenzen der ersten beiden Formanten werden als primare Informa­ tionen fiir die Wahrnehmung der Vokalqualitat betrachtet und als Klassifika­ tionskategorien verwendet. Entsprechend den physikalischen Eigenschaften des Ansatzrohrs korrelieren die Formantwerte mit den Modifikationen der Artikula-

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tion. Der Bezug auf die Mittenfrequenzen der ersten zwei Formanten entspricht der klassischen Beschreibung der Vokale ausgehend von der Zungenverschiebung entlang der horizontalen und vertikalen Achse, d.h. als vorderelhintere bzw. offe­ ne/geschlossene Vokale. Die Artik.ulationsstelle korreliert mit F2 und die Diffe­ renz zwischen F 2 un d Fr auditiv mit der Helligkeit, der Offnungsgrad korreliert mit Fr. Fr steigt mit zunehmender Offnung, F2 steigt bei Vorverlagerung der Zun­ ge. Die iibrigen Formanten haben bei der Vokalidentifizierung eine untergeord­ nete Rolle; sie sind - von F3 abgesehen - primar vom paralinguistischen Stand­ punkt aus relevant und dienen in erster Linie zur Sprecheridentifizierung. Zur akustischen Beschreibung der Vokale eignen sich Formantkarten, in de­ nen Fr-Werte auf die Ordinate und F2-Werte auf die Abszisse eines Koordina­ tensystems eingetragen werden. In der F2/Fr-Ebene bildet sich ein Vokaltrapez heraus , das mit dem der Kardinalvokale verglichen werden kann. Stark sche­ matisierend kann die durch die Vokale abgegrenzte Ebene auf das Artikulati­ onsgebiet cles Mundraumes bezogen werden; somit konnen Riickschliisse auf artikulatorische Korrelate fiir physikalische GroBen gezogen werden (zu den Aussprachegewohnheiten deutscher Sprecher s. Missaglia l Sendlmeier 1999 ) . Zum Abschluss sei auf die Diphthonge hingewiesen, vokoide Silbenkerne, die aus zwei kontinuierlichen ineinander iibergehenden vokalischen Klangfar­ ben bestehen. Dabei konnen zwei Phasen unterschieden werden , die aus der Kombination eines kurzen Vokals und eines Gleitlauts (/j/ bzw. /w/) bestehen. Artikulatorisch werden Diphthonge durch eine Gleitbewegung der Zunge ge­ bildet, die sich akustisch im Sonagramm in einer kontinuumartigen Verande­ rung der Formantfrequenzen offenbart. Terminologisch wird zwischen fallenden (schlieBenden) und steigenden (offnenden) Diphthongen unterschieden: In Ersteren erfolgt die Artik.ulations­ bewegung zu einem geringeren Offnungsgrad bzw. zu einer hoheren Zungen­ position und der Qualitatswechsel von einem Vokal [ + silbisch] zu einem Halb­ vokal [- silbis ch] , in Letzteren erfolgt die Artikulationsbewegung zu einem groBeren Offnungsgrad bzw. zu einer tieferen Zungenposition und der Qua­ litatswechsel von einem Halbkonsonanten [- silbisch] zu einem Vokal [ + sil­ bisch] . Mit der Gleitbewegung vom unsilbischen zum silbischen Element ver­ bindet sich eine Zunahme der Intensitat, wahrend mit der Gleitbewegung vom silbischen zum unsilbischen Element eine Intensitatsverminderung einhergeht. Die unsilbischen Bestandteile der Diphthonge werden auf artikulatorischer Grundlage als Approximanten bezeichnet: Ihre Realisierung erfolgt durch die Annaherung zweier Artikulationsorgane ohne vollstandigen Verschluss, so dass eine Friktion entsteht. Das deutsche Vokalsystem besteht in betonter Position aus 15 Monophthon­ gen (/i:/, II/, /y:/, /y/, /e:/, /E:/, lEI, /a:/, /al, /0:/, /re/, hl, /o:/, /u/, /u:/) und 3 fallenden Diphthongen (/m/, /au/, 1-:JII) mit Phonemstatus (Sendlmeier 1985). AuBerdem be­ sitzt das Deutsche einen Reduktionsvokal (/g/) , der nur in unbetonten Silben vor­ kommt und mit neutraler Zungenstellung im Zentrum cles Mundraumes gebildet wird. In der einschlagigen Literatur herrscht kein Konsens dariiber, ob [g] als Pho­ nem zu betrachten ist oder lediglieh eine stellungsbedingte Variante von lEI, le/ oder III darstellt. Ein weiterer reduzierter Vokal ( [u] ) ergibt sich bei postvokalis cher r-Vokalisierung. Dadurch treten auch weitere zentralisierte Diphthonge auf.

M U N D LI CHE KOMM N IK ATION

Die qualitativen Parameter zur Vokalbeschreibung und -klassifizierung las­ sen sich in 6 Merkmale zusammenfassen: [± monophthong] [± reduziert] [± vorn] [± hoeh] [± offen] [± gerundet] . Hinzu fi.igt sich das Merkmal [± lang] . Das Merkmal [± nasal] ist im Deutschen nicht distinktiv. Neben den qualitativen Parametern wird der quantitative Parameter der Lange ( [:] ) verwendet, der ausschlie.Blich auf betonte Vokale beschrankt ist. Das Deutsche ist durch eine phonetische Mehrdeutigkeit funktional relevanter Op­ positionen gekennzeichnet: Lange Vokale sind relativ geschlossen, kurze Vokale relativ offen. Alle Vokalmerkmale beruhen auf Unterschieden in den Muskelzu­ standen; ein weiteres Unterscheidungsmerkmal hangt mi t der Spannung zusam­ men. Die Artikulation langer Vokale erzeugt eine starkere Muskelspannung, ver­ bunden mit einer gegeni.iber den Kurzvokalen leicht verminderten Òffnung. Die Vokaldauer hat zwar distinktive Funktion, doch tritt das quantitative Merkmal als konkomitantes Merkmal zusammen mit den qualitativen Merkmalen auf. Somit konnen die deutschen Vokale mit Ausnahme von /al-/a:/ und /t.:/ mit fol­ gender Korrelation dargestellt werden: [geschlossen] [gespannt] [lang] [- zentral] - [offen] [ungespannt] [kurz] [zentral] . Lange Vokale sind gespannt, geschlossen und nicht zentralisiert, wahrend kurze ungespannt, offen und zentralisiert sind. Konsonanten sind dadurch gekennzeichnet, dass die Luft beim Herausstro­ men ein Hindernis trifft. Zu ihrer Beschreibung werden vier artikulatorische Merk­ male verwendet: 1. Die Stimmbeteiligung ( [± sonor] : stimmhafte vs. stimmlose Konsonanten); 2. Der Weg des Luftstroms (orale vs. nasale Konsonanten); 3· Die Artikulationsart (plosive, frikative, laterale, vibrante Konsonanten) ; 4· Der Artiku­ lationsort un d die beteiligten Artikulationsorgane (http://www.langsci. ucl. ac. ukl ipa!IPA_chart_(C)2oo5.pdf). Dari.iber hinaus ist die Muskelspannung relevant; da­ mit verbindet sich die Unterscheidung zwischen Lenis und Fortis. Au.Berdem gibt es die Affrikaten, die sich aus Plosiv und homorganem, d.h. an demselben Artikulationsort realisiertem F rikativ zus ammensetzen. Meistens werden Affrikate monophonematisch gewertet und daher gelegentlich als " kon­ sonantische Diphthonge " bezeichnet. 3

lntersegmentale Aspekte: Wort· und Satzphonetik Ausspracheworterbi.icher sind danach ausgerichtet, die korrekte Aussprache isolierter Worter anzufi.ihren; daher die Bezeichnung " Wortphonetik" . Diese Ausrichtung entspricht dem praskriptiven Bestreben einer breiten phonemati­ schen Transkription. Ist die deskriptive Darstellung lautlicher Aspekte in nati.ir­ licher Rede das primare Anliegen, so erweist sich diese Ausrichtung als unzu­ reichend, zumal in spontaner Rede Assimilationen, Koartikulationen, Elisionen, schwache Formen usw. auftreten, die vom phonetischen Kontext abhangen so­ wie vom Sprecher, seinem emotionalen Zustand und der Sprechsituation. In der neueren einschlagigen Literatur lasst sich eine verstarkte Auseinan­ dersetzung mit satzphonetischen Aspekten beobachten. Nicht segmentale Er­ scheinungen in kontextfreien Wortern - wie sie etwa in den Worterverzeichnis­ sen normierender Ausspracheworterbi.icher behandelt wurden - bilden dabei den Interessensschwerpunkt, sondern die Veranderungen von Lauten im Kontext.

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Die gegenseitigen Einflusse der Artikulationsbewegungen bei der Realisie­ rung benachbarter Laute bewirken Veranderungen, die hinsichtlich artikulato­ rischer Bedingungen universell sind und im Hinblick auf linguistische und si­ tuative Konditionen sprachspezifisch festgelegt sind. Die universellen Bedin­ gungen fur die lautlichen Veranderungen ergeben sich aus der Wechselwirkung zwischen Geschwindigkeit bei der Artikulationsausfuhrung, artikulatorischem Kontext, Position und suprasegmentalen Eigenschaften der lautlichen Einheiten. Dabei erfordert die Realisierung der Segmente im Kontext die intersegmentale Koordinierung der Artikulationsbewegungen und eine phonetische Kontrolle der Artikulationsausfi.ihrung. Die Kontrolle des Phonationssystems ist physiologisch unabhangig vom Artikulationssystem, so dass bei erhohtem Sprechtempo diver­ gierende Tendenzen auftreten konnen. Die satzphonetischen Manifestationen sind sprachspezifischen Regeln un­ terworfen. Das AusmaB der lautlichen Veranderungen in zusammenhangender Rede ist ferner vom Stilniveau und von den situativen Bedingungen abhangig. Dabei muss der Sprecher einen Kompromiss zwischen Geschwindigkeit der Ar­ tikulationsausfuhrung auf der einen Seite und Prazision und Verstandlichkeit auf der anderen Seite schlieBen: Zum einen besteht die spontane Tendenz, mus­ kulare Energie einzusparen und die Komplexitat der neuromotorischen Pro­ grammierung zu reduzieren, zum anderen muss der Sprecher deutlich artiku­ lieren, um den Kommunikationseffekt nicht zu beeintrachtigen. Der globalen Steuerung der Artikulationsbewegungen und der muskularen Koordination bei der Bewegungsausfuhrung kommt eine wesentliche Rolle zu: Wirken Organe unterschiedlicher Artikulationsprazision zusammen, so kommt es zu zeitlichen Verschiebungen im gegenseitigen Bewegungseinsatz. Das Prin­ zip wechselnder Koordination der Artikulationsparameter - etwa Nasalierung, Labialisierung, Stimmbeteiligung - wird " Koartikulation " genannt, die Artiku­ lationsreduktion in Abhangigkeit von phonetischem Kontext, erhohtem Sprech­ tempo und reduzierter Sp rechsp annung in weniger formlichem Sprechen " Steuerung " . Hinzu fugen sich die elaborierenden Prozesse, etwa Sonorisie­ rung, Aspiration, �-Epenthese. Elaborationen und Reduktionen haben in den Einzelsprachen unterschied­ liche Manifestationsweisen und Vorkommenshaufigkeiten, was sich auch mit rhythmischen Faktoren erklaren lasst: So uberwiegen in silbenzahlenden Spra­ chen, die sich durch elaborierte Sprechweise unabhangig von den Betonungs­ stufen auszeichnen, elaborierende Phanomene. Wahrend in silbenzahlenden Sprachen betonte und unbetonte Elemente in vergleichsweise aquivalentem MaBe reduziert werden, ist in akzentzahlenden Sprachen eine verstarkte Ten­ denz zu Reduktionen in unbetonter Position zu verzeichnen. Im Deutschen treten Reduktionsprozesse in verstarktem MaBe bei der Rea­ lisierung unbetonter Elemente auf, vor allem in Funktionswortern, wahrend die betonten Stammsilben von Inhaltswortern in der Regel kaum von Reduktionen, etwa Elisionen und Assimilationen, betroffen sind. Kohler (r995) definiert " Eli­ sionen " als Prozesse, bei denen Segmente ausfallen, "Assimilationen" hingegen als Phanomene, bei denen es zur Angleichung benachbarter Segmente in min­ destens einem phonetischen Parameter kommt.

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Die Interaktion von universalen artikulatorischen, neuromotorischen sowie physiologischen Bedingungen und sprachspezifischen phonologischen Konditio­ nen im Zusammenhang mit - ebenfalls sprachspezifischen - phonotaktischen Re­ striktionen bewirkt unterschiedliche satzphonetische RegelmaBigkeiten in den Einzelsprachen. Die Satzphonetik erweist sich somit neben Segmenten und Su­ prasegmentalia als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen den Spra­ chen. Die systematischen satzphonetischen Prozesse sind zum Teil grammatikali­ siert bzw. lexikalisiert und werden im Schriftbild wiedergegeben (etwa der Umlaut im Deutschen). Schriftlich nicht fixierte systematische Lautveranderungen - etwa die Auslautverhartung - konnen bei L2- Lernem zu Schwierigkeiten fuhren. Wenn Sprecher unbewusst muttersprachliche satzphonetische RegelmaBigkeiten akti­ vieren, stellt si eh in kontrastiver Perspektive die Frage nach den Auswirkungen muttersprachlicher satzphonetischer RegelmaBigkeiten auf den L2-Erwerb. Beim Kontakt einer akzentzahlenden Sprache mit einer silbenzahlenden Sprache ist etwa zu erwarten, dass sich in satzphonetischer Perspektive entgegengesetzte Ten­ denzen gegeni.iberstehen: einerseits zur Reduktion, andererseits zur Elaboration. 4

Die Silbe Die Silbe gilt als grundlegende Verhaltenseinheit der Rede. Die Einteilung von Wortem in Silben ist klar umrissen: Sprecher wissen intuitiv, welche Lautkombi­ nationen und welche Silben in der Muttersprache zugelassen sind und wie sie auf­ einanderfolgen. Obwohl sich die Einheit " Silbe " nicht einfach definieren lasst, ist sie Sprechern starker bewusst als die Segmente: So bereitet es Analphabeten we­ niger Schwierigkeiten, Lautfolgen in Silben einzuteilen als in Einzellaute. Fi.ir eine phonetische Silbendefinition mi.issen artikulatorische, akustische und auditive Kriterien herangezogen werden. Die Silbe zeichnet sich grundsatz­ lich durch Offnungs- und SchlieBungsvorgange aus. Sie ist eine Einheit, die aus mehreren Segmenten besteht und nimmt somit eine Mittlerposition zwischen Segment und Wort ein. Die Segmente eines Kontinuums werden durch Silben zu strukturierten Gruppen zusammengefasst. Die Silbe ist die Grundeinheit des Ar­ tikulationsablaufs; viele suprasegmentale Eigenschaften sind auf die Silbe bezo­ gen. Wird die Silbe als grundlegende Einheit fi.ir den Sprachrhythmus identifi­ ziert, so kann davon ausgegangen werden, dass die prosodischen RegelmaBig­ keiten auf den Silben operieren. Als minimale Einheit der zeitlichen Organisation der Lautsprache kommt ihr eine zentrale Rolle bei der Sprachverarbeitung zu. Die Silbe hat eine universale Struktur: Die einzige obligatorische Konstitu­ ente ist der Kern, der zusammen mit dem Anlaut ( " Onset " ) , den Silbenkorper bildet. Dem Korper kann fakultativ ein Auslaut ( " Koda " ) folgen; Kern und Ko­ da bilden den Reim. Der Silbenkern ist die am deutlichsten wahrnehmbare Konstituente; er ist der prominente Teil der Silbe und besteht in der Regel aus einem Vokal. Der Ak­ zent fallt auf den Kern un d verteilt sich nicht auf die ganze Silbe, obwohl die ge­ samte Silbe als prominent wahrgenommen wird. Das gilt auch fi.ir die Diph­ thonge: In den fallenden Diphthongen fallt der Akzent auf den Vokal, der seine Qualitat behalt, wahrend der folgende Gleitlaut reduziert wird. Als Silbentra-

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ger konnen auch sonorante Konsonanten (Laterale bzw. Nasale: [± sonorant] ) fungieren, im Deutschen allerdings nur in unbetonter Silbe (Dirndl) . Obligato­ rischer Bestandteil der Silbe ist ein Vokal als Silbentrager, wahrend der konso­ nantis che Silbenrand fakultativ ist. Silben mi t besetzter Koda sin d " geschlos­ sen " , Silben ohne Koda " offen " ; "schwer" sind offene Silben mit langem Vokal bzw. geschlossene Silben mi t kurzem Vokal und einer Koda, wahrend offene Sii­ ben mit kurzem Vokal "leicht" sind. Der Sonoritatsgrad nimmt zu, je mehr sich die Segmente dem Silbenkern nahern und er nimmt ab, je mehr sie sich davon entfernen. Die Silbe weist eine spiegelsymmetrische Struktur auf: Der Onset zeichnet sich durch den Anstieg der Sonoritat, die Coda durch deren Abfall aus. Dabei lasst sich folgende Starkeklasse fur den Sonoritatsgrad aufstellen: stimmlose Plesive < stimmhafte Plesive < stimmlose Affrikate < stimmhafte Af­ frikate < stimmlose Frikative < stimmhafte Frikative < Nasale < Laterale < Vi­ branten < Halbvokale < geschlossene Vokale < mittlere Vokale < offene Voka­ le. Als einzige Ausnahme sei auf das Phonem /s/ hingewiesen, das dazu neigt, zur Koda der vorhergehenden Silbe zu werden, was in der neuen Silbentren­ nung orthographisch wiedergegeben wird ( Wes-pe) . Wohlgeformte Silben sind durch gro.Ben Sonoritatsunterschied zwischen Anlaut und Kern bzw. Kern und Auslaut gekennzeichnet: Die beste Silbe ist da­ ber die einfache offene CV-Silbe, welche aus stimmlosem Verschlusslaut (/p/, /t/, /k/) und dem sonorsten Vokal (/a/) besteht; sie ist in allen Sprachen der Welt vertreten und stellt die universale unmarkierte Silbenstruktur dar. Die Sprachen unterscheiden sich im Hinblick auf die moglichen Siibenkon­ struktionen und die Komplexitat der Silbenstrukturen, wobei sich Deutsch auf Grund seines rhythmischen Musters durch komplexe Strukturen auszeichnet. Die verschiedenen Siibenstrukturtypen der Einsiibler und der Stammformen deutscher Worter lassen sich mit der Formel: (C) (C) (C) V (C) (C) (C) (C) (C) darstellen, wobei die Anzahl der Konsonanten im An- und!oder Auslaut ::; 5 ist. Bei der Berucksichtigung flektierter Formen zeigen sich weitere Silbenstrukturen. Zwar ist die Silbenstruktur universal, doch sind die phonotaktischen Re­ striktionen, d.h. die moglichen Kombinationen und die Regeln zur Bestimmung der segmentalen Besetzungen in den unterschiedlichen Positionen sprachspezi­ fisch. Sie respektieren jedoch immer die Kriterien zur Wohlgeformtheit der Sii­ ben, etwa die Sonoritatsskala. Die Distributionsbeschrankungen betreffen die zugelassenen Phoneme in bestimmten Silbenpositionen (phonotaktis che Re­ striktionen) oder die mogliche Reihenfolge bei Konsonantenkombinationen: So kommt im Deutschen /h/ nie im Auslaut, /rjl nie im Anlaut vor. Mit Ausnahme von /si und /x/ konnen alle Konsonanten einzeln im Anlaut stehen; dreigliedri­ ge Konsonantenkombinationen im Anlaut beginnen immer mit !SI. Die zweite bzw. dritte Stelle in anlautenden Konsonantenkombinationen wird am haufig­ sten von /r/ besetzt. Eine weitere Eigenschaft des Deutschen in Verbindung mit der Silbenstruktur ist die Auslautverhartung, d.h. der Verlust der stimmhaften Komponente bei auslautenden Konsonanten: , , , sind im Silbenan­ laut stimmhaft (!bi, /d/, /g/, /z/) und im Siibenauslaut stimmlos (/p/, /t/, /k/, /s/) , wobei hier Laut- und Schriftbild nicht ubereinstimmen.

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Die Prosodie In der neueren phonetischen und phonologischen Forschung lasst sich eine in­ tensive Auseinandersetzung mit prosodischen Aspekten beobachten . Damit verbindet sich im Rahmen linguistischer Nachbardisziplinen - der angewand­ ten und der allgemeinen Sp rachwissenschaft mit den Schwerpunkten Syntax und Semantik - ein verstarktes Interesse fiir Prosodie. Prosodie gilt als Oberbegriff fiir die nicht segmentalen Eigenschaften der Lautsprache, etwa Rhythmus , Sprechtempo, Pausen, Stimmqualitat sowie die suprasegmentalen Eigenschaften: Intonation (Tonhohe), Lautheit (Lautstarke) und Quantitat bzw. ihre akustischen Korrelate Grundfrequenz (Fo) , Intensitat und Dauer. Es lasst sich allerdings keine 1:1 Beziehung zwischen auditivem und akustischem Manifestationsbereich festlegen. Die Perzeption phonetis cher Ei­ genschaften ist von individuellen un d sprachspezifischen F aktoren abhangig: Bei der Wahrnehmung operiert das menschliche Ohr auf der Basis sprachspezi­ fischer phonologischer und nicht universeller phonetischer Kriterien. 5.1. Der Rhythmus Der Sprachrhythmus ergibt sich aus dem Wechsel starker und schwacher, be­ tonte r und unbetonter Silben. Als sprachspezifische Eigenschaft erlaubt der Rhythmus die intuitive Zuordnung der Sprachen einer bestimmten - germani­ schen, romanischen, slawischen - Sprachgruppe. Die erste systematische Behandlung rhythmischer Differenzen wird auf Pike (1945) zuriickgefiihrt, der die Einteilung der Sprachen in zwei divergierende Rhythmustypen in die phonetische Forschung einfiihrt. Die Basis fiir die Un­ terscheidung ist die Wiederkehr von bestimmten minimalen Einheiten in gleich­ ma.Bigen Zeitintervallen: In stress-timed languages (etwa Englisch) werde der Rhythmus durch die zeitliche Àquidistanz der betonten Silben und durch die zunehmende Verkiirzung der unbetonten Silben bei wachsender Silbenzahl be­ stimmt, in syllable-timed languages (Spanisch) werde er hingegen durch die re­ gelma.Bige Wiederkehr der Silben determiniert, mit der Folge, dass alle Silben durch eine vergleichbare Dauer gekennzeichnet seien. Die rhythmis chen Ei­ genschaften sind nach Pike fiir die unterschiedlichen Dauerverhaltnisse der Sii­ ben verantwortlich: In akzentzahlenden Sprachen hangt die durchschnittliche Silbendauer von der Anzahl der Silben in der Betonungsgruppe ab, wahrend in silbenz ahlenden Sp rachen die Ten denz besteht, nicht die D auer de r Beto­ nungsgruppen, sondern die Silbendauer konstant zu halten. Pikes Einteilung wurde von anderen Forschern iibernommen, und den zwei Rhythmustypen wurden weitere Sprachen zugeordnet: Die germanischen Spra­ chen, brasilianisches Portugiesisch, Thai gelten allgemein als akzentzahlend, die romanischen Sprachen, Hindi, Tamil als silbenzahlend. Mit der Dichotomie Pikes verbindet sich das Konzept der Isochronie, wo­ bei die minimale Einheit der rhythmischen Organisation die Silbe in silben­ isochronen und die Betonungsgruppe in akzentisochronen Sp rachen ist.

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Mit der Begriindung der Isochronie-Hypothese wurde der Anspruch erho­ ben, dass alle Sp rachen eine rhythmisch-isochrone Struktur haben, de ren primare Steuerungseinheit entweder die Betonungsgruppe oder die Silbe ist und die Isochronie dieser Einheiten variable Silbendauer und starke Kompri­ mierungen in akzentzahlenden Sprachen vs . unregelmaBige zeitliche Struktu­ rierung der Akzentabfolgen und konstante Silbendauer in silbenzahlenden Sprachen zur Folge ha t. Wahrend in silbenzahlenden Sprachen die relative Lange der Silben kon­ stant ist, bleibt in akzentzahlenden Sprachen der Zeitabstand zwischen den be­ tonten Silben gleich, unabhangig von der Anzahl der unbetonten Silben in der Betonungsgruppe. Mit zunehmender Silbenanzahl tendieren die Sprecher ak­ zentzahlender Sprachen dazu, die Dauer der unbetonten Silben zu reduzieren und die Silben zu komprimieren, wahrend bei erhohter Sprechgeschwindigkeit in den silbenzahlenden Sprachen alle Silben in gleichem MaBe gekiirzt werden. Die Tendenz zur Komp rimierung unbetonter Silben in akzentz ahlenden Sprachen ist mi t der N eigung zu artikulatorischen Kompensationen gekoppelt. Die Sprecher konnen dabei die Einzellaute besser miteinander verbinden, da je­ der Laut die Aussprache des folgenden Lautes antizipiert und Spuren des vor­ hergehenden tragt. Silbenzahlende Sprachen weisen hingegen eine kontextun­ abhangige Lautartikulation auf: Alle Laute werden mit vergleichbarer artikula­ torischer Prazision ausgesprochen. Die Isochronie-Hypothese wurde zum Gegenstand em pirischer F orschung. Die experimentalphonetische Rhythmusforschung hat jedoch die Isochronie­ Hypothese widerlegt: Weder monolinguale, noch sprachvergleichende Unter­ suchungen haben eine Bestatigung fur die Annahme gefunden, dass sich alle Sprachen eindeutig dem einen oder anderen Rhythmustyp zuordnen lassen. Der Schwerpunkt der Hypothese - die Annahme, dass sich alle Sprachen entweder durch gleichmaBige Abstande zwischen den Akzentsilben oder durch Isochro­ nie der Silben auszeichnen - hat keine empirische Bestatigung gefunden. Die messphonetischen Befunde wurden auch durch Zweifel am implizierten linearen Verhaltnis zwischen akustischen Aspekten und der entsprechenden au­ ditiven Wahrnehmung relativiert. Fiir die Bestimmung des rhythmischen Cha­ rakters einer Sprache ist weniger die tatsachliche Rhythmizitat im Sprachsignal von Bedeutung, als vielmehr die Perzeption des Rhythmus. So nehmen Sprecher einer akzentzahlenden Sprache eine silbenzahlende Sprache deutlicher als silben­ zahlend wahr als deren Muttersprachler, wahrend Sprecher einer silbenzahlenden Sprache eine akzentzahlende Sprache deutlicher als akzentzahlend perzipieren. Der Kern der Isochronie-Hypothese - isochrone Betonungsgruppen vs . isochrone Silben - ist zudem allein deshalb nicht zu bestatigen, weil die Silben­ dauer artikulatorischen Zwangen unterworfen ist. Die Silbendauer hangt von phonologischen Faktoren ab , etwa von der Silbenstruktur und den Akzentver­ haltnissen. Der Misserfolg bei der Suche nach einer messphonetischen Bestatigung der Isochronie-Hypothese hat zur Ablehnung ihrer starken Version zugunsten einer abgeschwachten Version gefiihrt; damit zeichnet sich die Tendenz neuerer For­ schungsrichtungen ab, von der produktiven zur perzeptiven Ebene iiberzuge­ hen. Der Interessenschwerpunkt verschiebt sich von der Suche nach einer zeit-

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lichen Strukturierung bei der Sprachproduktion auf der Basis von akustischen Studien in Richtung von Wahrnehmungsforschungen zur Aufdeckung intuitiver Rhythmuskategorien . Nicht akustische Werte im Sp rachsignal sind relevant, sondern wahrnehmungspsychologische Aspekte, der auditive Horereindruck. Der subjektive Eindruck von einer Akzentisochronie wird durch phonologi­ sche F aktoren bewirkt, etwa durch den wahrnehmbaren Kontrast zwischen be­ tonten und unbetonten Silben, der auf den kombinierten Einfluss mehrerer Fak­ toren auf die Dauer zuriickgefiihrt werden kann: die Silbenstruktur, das Silben­ gewicht, die Silbenposition, sowie die Akzentposition, die akustischen Korrelate des Akzents und die Reduktions- bzw. kompensatorischen Kiirzungsprozesse. Die Silbenstruktur korreliert mit dem Silbengewicht, das in akzentzahlen­ den Sprachen bei der Determinierung der Akzentposition relevant ist. Betonte Silbenkerne ziehen benachbarte Konsonanten zu sich, so dass sich die Silben­ strukturen verkomplizieren und die Silbengrenzen schwer determinierbar wer­ den. Die Silbenstruktur ist in akzentzahlenden Sprachen nicht nur komplexer, sondern sie ist bei der Bestimmung der Akzentposition determinierend: Der Ak­ zent fallt bevorzugt auf schwere Silben, wahrend leichte (C)V-Silben unbetont sind, was zur verstarkten Wahrnehmung des Unterschieds zwischen betonten und unbetonten Silben fiihrt. Silbenzahlende Sprachen sind durch eine iiber­ wiegende Anzahl an einfachen CV-Silben gekennzeichnet; die Silbenstruktur ist zur Bestimmung der Akzentposition irrelevant und die Silbengrenzen sind leicht determinierbar. Der mangelnde Unterschied zwischen betonten und un­ betonten Silben un d der ahnliche segmentale Bestand aller Silben bewirken hier den perzeptiven Eindruck zeitlich gleichma.Big wiederkehrender Silben. Die Wahrnehmung eines Unterschieds zwischen betonten und unbetonten Silben in akzentzahlenden Sprachen kann weiterhin auf Differenzen bei der Ak­ zentrealisierung zuriickgefiihrt werden : Hier wird der Akzent mittels Inten­ sitats-, Tonhohen- und Daueranderungen realisiert, wahrend in silbenzahlenden Sprachen die Dauer das wichtigste Korrelat des Akzents ist. AuBerdem lassen sich Unterschiede bei der Satzakzentuierung im Hinblick auf die Funktion des Akzents bei der Fokusmarkierung feststellen, da silben­ zahlende Sprachen Fokussierung und kontrastive Hervorhebung iiber syntakti­ sche Konstruktionen markieren, wahrend akzentzahlende Sprachen analoge Ef­ fekte mit prosodischen Mitteln erreichen. Ferner lassen sich die Unterschiede zwischen betonten und unbetonten Silben in akzentzahlenden Sprachen auf ihren segmentalen Bestand zuriickfiihren: einerseits auf das phonologische Ge­ wicht - betonte Silben sind schwerer als unbetonte - andererseits auf die Vokal­ reduktionen bevorzugt in unbetonen Silben, wahrend betonte Vokale ihre Qua­ litat und Quantitat bewahren. Die Vokalreduktionen sind ein typisches Merkmal akzentzahlender Sprachen. In Abhangigkeit von unterschiedlichen Betonungs­ stufen lassen sich hier drei Quantitatsgrade feststellen: die starke Form in beton­ ter Position, die schwache Form in unbetonter Position und die reduzierte Form bis zum Vokalschwund in unbetonter Position. Mit den qualitativen Vokalver­ anderungen verbindet sich die Tendenz zur konsonantischen Koartikulation. Die Abwendung von der Suche nach Rhythmus im phonetischen Signa! zu­ gunsten einer experimentellen Erforschung der Grundlagen fiir die impressio­ nistischen Rhythmuskategorien hat zur Phonologisierung des Konzepts gefiihrt.

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Die phonologischen Faktoren, die zum perzeptiven Eindruck rhythmischer Un­ terschiede zwischen den Sprachen beitragen, sind vor allem mit den Vokalre­ duktionen in Verbindung gesetzt worden, die in akzentzahlenden Sprachen ver­ schiedengliedrige Vokalsysteme in Abhangigkeit von der (betonten oder unbe­ tonten) Position bewirken. Hervorgehoben wird die Tatsache, dass es keine Isochronie in phonetis chem Sinn gibt, sondern vielmehr eine Tendenz zur Isochronie, die sich auf wahrnehmungspsychologischer Basis offenbart. Obwohl die Isochronie-Hypothese in ihrer starken Version auf experimentel­ ler Basis keine allgemeine Giiltigkeit beanspruchen konnte, lasst sich ihre phono­ logische Relevanz im Rahmen kontrastiver Vergleiche nicht bestreiten. Festzuhal­ ten bleibt, dass die Einteilung in die zwei Rhythmisierungsmuster nach dem per­ zeptuellen Eindruck erfolgt. Dabei ist es unerheblich, ob die regelmaBige Wieder­ kehr der Silbe bzw. der betonten Silbe akustisch messbar ist oder ob es nur eine Tendenz zur Isochronie gibt. Es bietet sich an, die idealen Rhyth-mustypen als ent­ gegengesetzte polarisierende Extrempunkte entlang eines Kontinuums zu be­ trachten: Je deutlicher die Realisierungen der Merkmale in Richtung des jeweiligen Idealtyps gehen, desto ausgepragter ist der silben- oder akzentzahlende Rhythmus. Der akzentzahlende Charakter des Deutschen zeigt sich vor allem an seiner komplexen Phonotaktik. AuBerdem zeichnet sich das Deutsche durch Kiirzun­ gen und Verschleifungen, sowie durch Dauerkompressionen und -kompensa­ tionen aus . Bei normalem Sprechen werden unbetonte Silben an den Wort­ grenzen - vor allem in Funktionswortern und Partikeln - komprimiert; dabei werden Konsonanten koartikuliert, assimiliert bzw. elidiert. Unbetonte Vokale werden ebenfalls reduziert: Sie werden entspannt und zentralisiert, e-Laute nei­ gen zum 1�1 und finales -er wird zu /r?.! abgeschwacht. Im Extremfall kommt es zum Vokalschwund: Sonoranten werden dann zu Silbentragern und am auslau­ tenden Konsonanten der vorausgehenden Silbe assimiliert ( [kno:bm] ) . Durch die Reduktionsprozesse erge ben sich unterschiedliche Vokalinventare in beton­ ter vs. unbetonter Stellung: Wahrend hauptbetonte Vokale ihre volle Form bei­ behalten, nutzen zentralisierte unbetonte Vokale den phonetischen Raum weni­ ger, und die phonologischen Oppositionen im System werden verringert. 5.2.

Die Intonation

Nach der Erlauterung des Rhythmus werden im Folgenden die makro-prosodi­ schen Systeme " Intonation" und "Akzent " in ihrer komplexen Interaktion zu­ einander und zur Syntax untersucht. Dabei wird der Begriff "Intonation " in ei­ ner weiten Auffassung verwendet, als Oberbegriff fur die Gesamtheit der pro­ sodischen Eigens chaften von Satzstrukturen, die linguistisch-kommunikative Funktionen ausiiben: Pausen zur Phrasierung, Melodie zur Kennzeichnung der Satzmodalitat, Satzakzentuierung zur Thema-Rhema-Gliederung. Das primare Interesse gilt dem Intonationsverlauf, sowie der Akzentposition im Wort und im Satz. Von den Funktionen der Intonation - der emotionellen, der expressiven und der syntaktischen - wird p rimar letztere in Betracht gezogen, d.h. die Rol­ le der Intonation bei der Steuerung der Satzmodalitat zur Kennzeichnung der ÀuBerungen als terminai, progredient oder interrogativ und zur Hervorhebung einzelner Wort- oder Satzteile.

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Phonetisch besteht das prosodische Phanomen " Intonation" aus dem Zusam­ menwirken melodischer, rhythmischer und akzentueller Phanomene und nicht wie aus den traditionellen Werken hervorgeht - nur aus melodischen Phanome­ nen. Intonatorische Phanomene haben sowohl funktionelle als auch phonetische universelle Eigenschaften, aber auch sprach- und sogar dialektspezifische Auspra­ gungen, die Ausdruck kultureller, regionaler und geographischer Unterschiede sin d. Zur Beschreibung intonatorischer Identifikationskriterien sind daher mehre­ re Ebenen notwendig, zwischen denen keine eineindeutige Beziehung besteht: In­ tonation ist ein komplexer Untersuchungsgegenstand, der sich aus phonetischen, phonologischen un d linguistisch-funktionalen Elementen zusammensetzt. Die Gesamtheit intonatorischer Phanomene befindet sich an der Schnitt­ stelle zwischen Phonetik, Phonologie und funktionalem Sprachsystem, zwi­ schen Sprachverwendung und Sprachsystem. Funktional relevante intonatori­ sche Regelmaf�igkeiten sind nach Pheby (1975) phonologisch zu erfassen, da die Phonologie die Ebene darstellt, auf der Abstraktionen iiber die sprachlich rele­ vanten RegelmaBigkeiten der Substanzebene getroffen werden konnen. Auf der A uBerungsebene gelten zur semantischen Differenzierung sowohl distinktive prosodische Gegensatze als auch strukturelle Verkettungsmuster, wobei Intonation und Satzakzent voneinander unterschieden werden miissen. Zwar werden sowohl Intonation als auch Satz akzent durch Tonhohenpha­ nomene getragen, doch erfolgt dies in unterschiedlicher Weise und mit anderer Funktion: Der Satzakzent dient der Fokussierung bestimmter Worter und der Erhohung der auditiven Prominenz; die Intonation macht jeweils ein Melodie­ muster aus einer Klasse von Alternativen an den Satzakzenten fest und dient der melodischen Gestaltung der A uBerung. Bei der Untersuchung von Ton und Intonation werden die gleichen Pha­ nomene - Akzent und Tonhohe - analysiert, jedoch auf unterschiedlicher Ebe­ ne: innerhalb der Silbe bzw. im Satz. Der Ton ist ein Merkmal des Lexikons, wo­ bei jede Sprache iiber ein vorgegebenes Tonhohenmuster fiir Silben, Morphe­ me und Worter verfiigt, wahrend die Intonation ein Merkmal der Satze ist. Das Zusammenspiel unterschiedlicher Tane ergibt die Intonationskontur, somit hangt die Grundfrequenz von den Akzenten ab. Selbst die Beziehung zwischen den prosodischen Mitteln - Intonation und Akzent - ist wechselseitig und kom­ plex: Zum einen wird die Grundfrequenz von der Akzentverteilung im Satz de­ terminiert und somit die Intonation durch die Anzahl und Starke der Akzente bestimmt; zum anderen hangen die Akzentverteilung und die Starke der Ak­ zente mit dem Intonationsverlauf zusammen. Die Akzente in der Sp rechkette ergeben die Intonationskontur, die zur Kohasion der A uBerung beitragt. Der Tonverlauf ermoglicht es, die A uBerung als Entscheidungsfrage, abgeschlosse­ ne Aussage bzw. Erganzungsfrage oder als weiterweisende, nicht abgeschlosse­ ne Aussage zu werten. F allender Melodieverlauf gilt als Hinweis fiir Abge­ schlossenheit, wahrend steigender Melodieverlauf Offenheit ausdriickt. Die Schwierigkeiten bei der Darstellung intonatorischer Sachverhalte lassen sich darauf zuriickfiihren, dass zwischen Intonation und Syntax komplexe Bezie­ hungen bestehen. Der Intonation kommt eine linguistisch bedeutungstragende Funktion zu, die primar durch die Kontur im Satz bestimmt wird. Hinzu fiigen sich extralinguistische sprecherabhangige, sowie paralinguistische Faktoren. Ne-

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ben der modalen Konnotation hat die Intonation auch expressive Konnotationen, die verschiedene psychische oder physische Zustande ausdri.icken konnen. Die spezifische Art der Stimmfi.ihrung ist ein sprachspezifisches soziales und konven­ tionell typisiertes Phanomen, so dass bestimmte Konfigurationen zu den infor­ mationstragenden Mitteln jeder Sprache gezahlt werden konnen. Die universellen und kulturspezifischen emotionalen Konnotationen prosodischer Eigenschaften ermoglichen die Interpretation der emotionalen Verfassung auch ohne explizi­ te - verbale - Hinweise, so dass Prosodie als Symptom fi.ir innere Gemi.itsbewe­ gungen betrachtet werden kann. In dieser Hinsicht erweist sich Prosodie, die sich an der Schnittstelle zwischen Grammatik un d Emotionen bzw. Sprechintentionen befindet, als eine Art Inter/ace, das diese zwei Spharen miteinander verbindet. Intonation hat eine integrierende und gliedernde Funktion: Sie dient als in­ tegrierendes Mittel, das die Elemente einer AuEerung zu einer relativ geschlos­ senen Einheit - der Informationseinheit - zusammenfasst. Gleichzeitig ist Into­ nation ein gliederndes Mittel, das den Satz in syntaktische Einheiten zerlegt. Die Gliederung kann auf unterschiedliche Weise erfolgen: Die meisten Forscher sind sich dariiber einig, dass Pausen als Grenzsymbole fungieren, welche die AuEerung in separate Sprechakte zergliedern. Isacenko/Schadlich (r966) stellen jedoch fest, dass Phrasengrenzen fakultativ durch Pausen markiert werden kon­ nen : Zur Phrasierung geniigen auch die Akzente, und Textsegmente konnen auch ohne Pausen - lediglich mithilfe von der Intonation - phrasiert werden. Dariiber hinaus gilt Intonation als Mittel zur Kennzeichnung der Satzmoda­ litat. Durch den steigenden, fallenden bzw. progredienten Tonhohenverlauf wird die A uEerung als terminai, interrogativ oder weiterweisend charakterisiert. Somit verleiht die Intonation der A uEerung einen bestimmten modalen Charakter, und sie liefert Hinweise, um die AuBerung als abgeschlossene Aussage, F rage, Weiter­ weisung, Aufzahlung, Parenthese, Befehl, Anrede, Ausruf usw. zu werten. In der deutschen Intonationsforschung werden Akzent, Terminaltone und Tonhohenverlaufe in Verbindung mit der modalen Charakterisierung und den pragmatischen Aspekten der A uEerung untersucht. In funktionaler Perspektive werden die Akzente mit dem Begriff des Fokus , die Terminaltone mit dem des Satzmodus verbunden (Oppenrieder 1988; Batliner 1989), wobei die Satzmodi "Aussage " , " Frage" und " Imperativ" als zentral gelten und die expressiven Mo­ di (" Optativ" , " Exklamativ" ) als schwache Prototypen betrachtet werden. Zusammenfassend konnen vier Moglichkeiten der Verwendung intonatori­ scher Mittel zu syntaktisch-kommunikativen Zwecken unterschieden werden: r) die Bildung von Akzentsilben zur rhythmischen Gestaltung von Lautsprache; 2) die Gliederung der AuEerung in kleinere syntaktische Einheiten; 3) die Hebung und Senkung der Stimme zur Melodiegestaltung, die fi.ir die Integration der Satzteile in groEere Informationseinheiten und fi.ir die modale Charakterisie­ rung der A uEerung relevant ist; 4) die Hervorhebung sinnrelevanter Satzteile (Satzakzen tuierung) . Aufgrund ihrer gliedernden, integrierenden und modulierenden Funktion gilt Intonation als System informationstragender Elemente: Sie hat eine kommu­ nikativ-pragmatische Funktion bei der Organisation der AuEerung, indem sie zur Gestaltung des Satzes als informationstragende Einheit beitragt. Die syntaktische Funktion der Satzintonation manifestiert sich auch darin, dass durch die Intona-

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tion die wichtigste informationstragende Einheit (der "Schwerpunkt" nach von Essen 1956) von allen anderen Einheiten gleicher Ordnung hervorgehoben wird. 5·3· Der Akzent Die Differenzierung einzelner Elemente, die im Folgenden als "Akzent" bezeich­ net wird, erfolgt durch unterschiedliche Mittel: durch Tonhohe, Lautstarke und Quantitat. Dem auditiven Eindruck von Hervorhebung entspricht auf akustischer Ebene die Prominenz, deren phonetisches Korrelat aus dem Zusammenwirken der suprasegmentalen Parameter Grundfrequenz, Intensitat und Dauer besteht. Obwohl verschiedene Stufen der phonetischen Prominenz unterschieden werden konnen, werden auf der Basis der menschlichen Diskriminationsfahig­ keit vier Betonungsstufen unters chieden (Primar- , Sekundar- , Tertiar- un d Nullakzent) ; in den linguistischen Beschreibungen werden die Grade der Pro­ minenz auf drei Stufen reduziert: hauptbetont, (neben)betont, unbetont. Der Primarakzent ist der starkste Akzent, der Nukleus der Intonationsphrase; der Sekundarakzent ist schwacher aber prominent, ist jedoch nicht der Nukleus der Intonationsphrase, der Tertiarakzent wird durch Dauer- un d/oder Intensitatsande­ rung realisiert. Der Nullakzent bezeichnet den Schwachton, die unbetonte Silbe. Die Perzeption der akustischen Prominenz wird durch sp rachspezifische Faktoren geregelt, so dass mit interlingualen Unterschieden bei der Akzent­ wahrnehmung zu rechnen ist: In akzentz ahlenden Sp rachen stellt die Ton­ hohenanderung den primaren F aktor fi.ir den Eindruck der Hervorhebung dar, an zweiter Stelle steht im Deutschen die Intensitatsanderung. Dass die Vokal­ quantitat bei der Akzentperzeption im Deutschen als sekundar gegeni.iber der Tonhohe und der Lautstarke empfunden wird, hangt von der Relevanz des Merkmals [± lang] - in Verbindung mit den Merkmalen [± gespannt] , [± zen­ tral] , [± offen] - fi.ir phonemische Kontraste auf segmentaler Ebene ab. Prominenz ist eine relative Eigenschaft der Sprechkette, die sich auf zwei Ebenen verwirklicht. Auf der lexikalischen Ebene gilt sie als Merkmal von Wor­ tern und wird "Wortakzent " genannt. Auf der syntaktischen Ebene gilt sie als Merkmal von Satzen, die aus mehreren mit eigenem Wortakzent versehenen Wortern bestehen. Der " Satzakzent " ist der prominenteste Wortakzent im Satz. Nicht nur die phonetische Auspragung der Wort- und Satzakzente ist sprach­ spezifisch, sondern auch die Regeln fi.ir die Bestimmung der Akzentposition: Die Wortakzente sind im Lexikon der Sprache festgesetzt und werden im Lau­ fe des Spracherwerbs mit den Wortern gespeichert. Die Hervorhebung der Worter im Satz unterliegt sprachspezifischen RegelmaBigkeiten; Sprecher ha­ ben eine intuitive Kenntnis der invarianten formalen und semantischen - kom­ munikativ-pragmatischen - Intonationsmerkmale der Muttersprache, die beim L2-Erwerb fi.ir die meisten prosodischen Interferenzerscheinungen verantwort­ lich sin d (Missaglia 1999) . Die Schwierigkeiten bei der Erkennung der Akzente in der Fremdsprache sind zum einen auf interlinguale Unterschiede bei der Rea­ lisierung und Wahrnehmung der Akzente im Hinblick auf das sprachspezifische Verhaltnis zwischen den drei akustischen Parametern des Akzents zuri.ickzu­ fi.ihren, zum anderen hangen sie mit sprachspezifischen linguistisch-funktiona­ len und kommunikativ-pragmatischen Aspekten zusammen.

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5.3.1. Der Wortakzent Der Wortakzent ist ein lexikalischer Akzent; er bezeichnet Prominenz auf der Wortebene. Dami t verbindet sich seine kulminative Funktion. Der feste Akzent, der auf einer Silbe liegt, deren Position in Verbindung mit dem Wortanfang oder -ende steht, hat eine delimitative Funktion, denn er ermoglicht die Segmentie­ rung der Worter im Sprechkontinuum. In Sprachen mit freiem Akzent - etwa dem Deutschen - ist der Akzent nicht phonetisch gebunden und kann auf jeder Silbe liegen, ist aber aufgrund grammatischer und lexikalis cher Bedingungen an eine bestimmte Silbe gebunden, wobei die Regeln fiir die Bestimmung der Ak­ zentposition sprachspezifisch sind. In einigen Fallen konnen segmentell identi­ sche Worter hinsichtlich des Wortakzents Minimalpaare bilden (umgehen-um­ gehen) ; da der Akzent hier nicht phonologisch festgelegt ist, ha t die Akzentpo­ sition eine distinktive Funktion. In einheimischen einfachen (nicht zusammengesetzten oder abgeleiteten) deutschen Wortern bestimmt die Panultimaregel die Position des Wortakzents (Kohler 1995: r86). Wahrend in den abgeleiteten Wortern der Akzent auf die Stammsilbe fillt (Ausnahmen sind lediglich bei der un -Prafigierung zu verzeich­ nen: ungenau), weisen zusammengesetzte Worter charakteristische Akzentstruk­ turen auf: Die Akzentposition hangt hier von semantischen Kriterien ab . Ein besonders ausgepragtes Merkmal des Deutschen besteht in der Fahig­ keit zur Bildung von Determinativkomposita, die das Verhaltnis zwischen Be­ stimmungs- und Grundwort auf der Basis der Wortreihenfolge und des Akzen­ treliefs ausdriicken. In unmarkierten Determinativkomposita (Regenbogen) fallt der Hauptak­ zent auf das linksstehende Bestimmungswort, das die Basis semantisch deter­ miniert, wahrend von der mit dem Sekundarakzent versehenen Basis die lexi­ kalische Determinierung ausgeht (Wortklasse, Genus, Numerus, Kasus ) . Dieses Akzentmuster gilt fiir links- wie fiir rechtsverzweigte Nominalkomposita (Bahn­ hofstra.Be vs . Hauptbahnhof) . Auch Possessivkomposita sind anfangsbetont (Rotkehlchen) , wahrend fiir Kopulativkomposita zwis chen verb reiteten lexikalisierten Komposita, deren Akzentmuster sich an die Anfangsbetonung der Determinativkomposita an­ lehnt (Strichpunkt), und weniger verbreiteten bzw. Ad-hoc-Komposita, welche die Akzentstruktur der Nominalphrasen reflektieren (Karl-Heinz) , zu unter­ scheiden ist. Im Gegensatz zu den Nominalkomposita sind Nominalphrasen endbetont (Rotbart vs. der rote Bart; vgl. auch die Siglen: BRD) . Markierte Rea­ lisierungen treten lediglich bei metalinguistischem Gebrauch des Akzents auf, etwa bei Kontrastakzentuierungen: Nominalkomposita , nicht Nominalphrase. bzw. Nicht VWL, sondern BWL. Kohler (1995) verzeichnet zwei Falle, in denen der Kompositionsakzent nicht auf dem ersten Element liegt: bei F arbenzusammenstellungen (' blau-' wei/5) im Ge­ gensatz zu Farbenmischungen ('blauwei.B ((blaulich weill" ) und bei emphatischer Verstarkung (' blut'arm (( sehr arm " vs. 'blutarm (( arm an Blut " ) . Dasselbe gilt fiir Derivata mit intensivierenden Prafixen ( ' un 'moglich vs. negiertes moglich ' un­ moglich ) . In emphatischen un-Ableitungen kann der erste Akzent wegfallen (un' moglich) . Femer gibt es Komposita, in denen der Hauptakzent regelma.Big auf =

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dem zweiten Element liegt: AB bzw. A(BC)-Komposita, in denen A formai den Rest determiniert ( O stersonntag/O stermontag vs. Oste rferien). Kohler erkHirt die­ se scheinbare Ausnahme folgenderma.Ben: In Ostersonn tag/Ostermontag werden spezifische Tage innerhalb einer Zeitspanne ausgesondert, wahrend in Osterferien die Basis determiniert wird ( Osterferien und keine anderen Ferien) ; der Kon­ trastakzent verschiebt sich auf die dif/erentia specifica (vgl. auch J ahrhundert). Ebenfalls scheinbar markierte Akzentuierungen treten bei gemischten Komposita auf, die aus Kopulativkomposita (Schwarzwezj3fernseher ist ein an­ fangsbetontes Determinativkompositum, dessen Determinans aus einem end­ betonten Kopulativkompositum besteht) bzw. Verbal- und Adjektiv-Substantiv­ Konstruktionen mit AB- bzw. (AB)C-Struktur (Gutenachtkuss ) bestehen. Die Akzentuierung des Kompositums erfolgt analog zur Akzentuierung der Nomi­ nalphrase und entspricht der Struktur, welche die Grundlage des Kompositums bildet (Gute Nacht.' der Gutenachtkuss; fur Ausnahmen s. Kohler 1995: 190). 5.3.2. Der Satzakzent Die Wortakzente innerhalb der Sprechkette ergeben die Intonationskontur, ei­ ne charakteristische sprachspezifische Melodie. Bei der Realisierung der Wor­ ter im Satz entsteht ein Akzentmuster, das nicht mit der Akzenthierarchie iso­ lierter Worter iibereinstimmt. Werden Worter isoliert ausgesprochen, so besitzt das mehrsilbige Wort einen Primar- und einen Sekundarakzent. Werden Wor­ ter im Kontext ausgesprochen, tritt eine andere Akzenthierarchie hervor. Auf der Satzebene gibt es einen Primarakzent, der mit einem einzigen Wortakzent iibereinstimmt, wahrend die Wortakzente der anderen Worter zu Sekundar­ bzw. Tertiarakzenten und die Sekundar- und Tertiarakzente der anderen Wor­ ter (auch Artikel, Prapositionen Konjunktionen usw. ) zu Nullakzenten werden. Zur Bestimmung der Satzakzentposition muss zwischen Thema und Rhema unterschieden werden. Mit "Thema " wird bei einer sequentiellen Betrachtung das Element bezeichnet, das die erste Stelle vor dem finiten Pradikator ein­ nimmt. In der Regel wird ein System der Informationsverteilung mit den Ter­ mini "markiert " und " unmarkiert" aufgestellt, wobei die unmarkierte Reihen­ folge an erster Stelle das Thema und an zweiter Stelle das Rhema vorsieht. Die Definition von Thema als erstes Strukturelement wird da bei auf eine einfache li­ neare unmarkierte Reihenfolge bezogen und setzt die svo-Wortstellung im so genannten Verb-Zweit-Aussagesatz voraus . Im Deutschen ist der Satzakzent ein Fokusakzent: Er kennzeichnet das Wort, das eine neue Information (Rhema, Fokus) in einen bekannten Kontext (Thema, Topik, Hintergrund) einfiihrt. Im unmarkierten Aussagesatz fallt der Hauptak­ zent auf das Rhema, wahrend das Thema mit dem Nebenakzent versehen ist. Bei unmarkierter Anordnung der Satzglieder fallt der Hauptakzent auf das letzte Inhaltswort, wahrend nicht-finale Inhaltsworter nebenbetont und Funk­ tionsworter unbetont sin d. In der Regel wird die letzte hervorgehobene Silbe als starkere Akzentsilbe identifiziert, und die vorausgehenden Akzentsilben wer­ den als schwacher hervorgehoben wahrgenommen, selbst wenn die akzentan­ zeigenden Merkmale starker ausgepragt sind. Fiir den Akzenteindruck ist im Deutschen eine signifikante Tonhohenanderung ausschlaggebend, wahrend die

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Richtung - steigender vs . fallender Tonverlauf - weitgehend irrelevant ist: Isa­ cenko/Schadlich (r966) stellen die phonetische Substanz der deutschen Satzin­ tonation vereinfachend als Aufeinanderfolge zweier Tonhohen dar. In ihrer Un­ tersuchung operieren sie mi t manipuliertem Sprachmaterial. Der natiirliche Me­ lodieverlauf wurde dahingehend modifiziert, dass lediglich mit zwei Tonstufen (Hoch- und Tiefton) gearbeitet wurde. Das Materia! wurde monotonisiert, an­ einander geklebt und Horern dargeboten, welche die Aufgabe hatten, die Into­ nationsskelette natiirlichen Satzintonationen zuzuordnen, wobei einige Intona­ tionsmuster akzeptiert und mit bekannten Mustern identifiziert, andere hinge­ gen verworfen wurden. Die akzeptierten Muster geben Aufschluss iiber die Horgewohnheiten deutscher Sprecher und zeigen, dass Tonbriiche - O bergan­ ge von einem Hochton in einen Tiefton oder umgekehrt - eine sprachlich rele­ vante Funktion ausiiben, im Hinblick sowohl auf die syntaktische Charakteri­ sierung der Àu.Berung als auch auf die informationstragende Struktur. Ein In­ tervall von einem Halbton zwischen Hoch- und Tiefton geniigt zur Hervorhe­ bung und Charakterisierung des typischen Intonationsmuster, wobei sowohl Tonhebungen ( " steigender Tonbruch" ) als auch Tonsenkungen ( " fallender Ton­ bruch " ) den Effekt der Hervorhebung auslosen. In Anwesenheit mehrerer Ton­ briiche vermittelt der letzte Tonbruch allein - und nicht der gesamte Melodie­ verlauf - die charakteristische syntaktische Information fiir die gesamte Àu.Be­ rung und erlaubt es, die Àu.Berung als Frage (steigender Tonbruch) oder Nicht­ Frage (fallender Tonbruch) zu werten. Tiefer Tonfall markiert das Ende einer Intonationsphrase und damit das Ende der Àu.Berung. Fiir die Zuordnung der phonologischen Einheit " Tongruppe " mit der syntaktischen Einheit " Satz " sind bei unmarkierter, d.h. bei nicht durch kontextuelle, situative und andere Be­ dingungen beeinflusster Schwerpunktstellung nach Pheby (1975) zwei Betrach­ tungsweisen ausschlaggebend: eine lineare, welche die Reihenfolge der syntak­ tischen Elemente im Satz betrachtet, und eine hierarchische, die den Konstitu­ entenstatus der Elemente beriicksichtigt. Bei der Satzakzentuierung spielen ne­ ben syntaktischen (sequentiellen un d hierarchis chen) , auch kommunikativ­ pragmatische (kontextuelle) und semantische Faktoren eine Rolle. Die Thema­ tisierungs- un d Betonungsverhaltnisse konnen kontextuell erklart werden. The­ matisierung und Betonung sind dem Sprecher iiberlassen, der durch seine Se­ lektionen die Àu.Berung mit verbindlichen Interpretationen versieht. Syntaktisch markierte, d.h. vom Normalfall abweichende Realisierungen treten bei Topikalisierungen und Rhematisierungen auf: Dabei wird das Rhema intonatorisch - durch den Satzakzent - und syntaktisch hervorgehoben, indem es antizipiert wird und das Vorfeld besetzt. Die interlingualen Unterschiede bei der Determinierung der Satzakzentpo­ sition zeigen sich insbesondere bei intonatorischer und/oder syntaktischer Mar­ kierung, wobei das Deutsche durch einen komplexen Zusammenhang zwischen syntaktischen und intonatorischen Verhaltnissen gekennzeichnet ist. Nach Phe­ by (r98o: ro6) ist die intonatorische Hervorhebung oft mit einer Umkehrung der Markierung im Thema gekoppelt: ein markiertes Thema, das hervorgehoben wird, ist intonatorisch wiederum unmarkiert, weil die Hervorhebung fiir ein markiertes Thema norma! ist. Aus analogen Griinden ist ein markiertes Thema, das nicht hervorgehoben wird, intonatorisch markiert, ein unmarkiertes Thema,

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das hervorgehoben wird, ist intonatorisch markiert, und ein unmarkiertes The­ ma, das nicht hervorgehoben wird, intonatorisch unmarkiert. Als Beispiele fi.ir die Umkehrung der sequentiellen und informationellen Markierung des Themas dienen die Satze " Der Ri.icken tut mir weh. " vs . " Der Rucken tut mir weh. " Die thetischen Satze liefern gute Beispiele fi.ir die Mittel zur Hervorhebung. Diese Textanfang- bzw. alt new- Satze zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur aus Fokusausdri.icken bestehen und keine Hintergrundaus­ dri.icke vorsehen. In diesen Satzen erfolgt im Deutschen die Hervorhebung durch intonatorische Mittel. In Satzen wie "Kennedy ist ermordet worden. " sind sowohl das Subjekt als das Verb rhematisch, und die Satze beziehen sich auf ei­ nen gesamten Sachverhalt. Auf die Frage " Was ist mit Kennedy geschehen? " wi.irde die Antwort in Form von einem topic-comment-Satz realisiert werden, in dem das Thema mit dem Neben- und das Rhema mit dem Hauptakzent verse­ hen ist: Kennedy ist ermordet worden. Wahrend in unmarkierten Realisierungen das letzte Inhaltswort den Haupt­ ton hat, treten in markierten Realisierungen Abweichungen von dieser Tendenz auf. Die Schwerpunktstellung gilt als markiert, wenn der Satzakzent nicht auf dem letzten Inhaltswort der Intonationsgruppe liegt. Die haufigsten Falle fi.ir markier­ te prosodische Realisierungen betreffen die Kontrastakzentuierung (expliziter Gegensatz: Ich esse den roten Apfel, nicht den griinen) , die emphatische Akzen­ tuierung (impliziter Gegensatz) und die Deakzentuierung gegebener bzw. be­ kannter Elemente auf. Das letzte Element wird deakzentuiert, wenn er ko(n)tex­ tuell oder situativ prasent ist, weil er bereits erwahnt wurde oder aus dem Text oder aus der Situation erschlossen werden kann. Die Deakzentuierung gegebener Informationen beruht auf dem Prinzip der Akzentsubordination, wobei der Ak­ zent von der Gewichtigkeit der Informationen abhangt. So entscheidet der Spre­ cher ausgehend von seiner Einschatzung des Horerwissens und seiner Text- un d Situationskenntnis i.iber die Akzentuierung neuer Informationen, die Deakzentu­ ierung bereits erwahnter oder impliziter Worter bzw. die Re-Akzentuierung sowie i.iber die Lange der rhythmisch-melodischen Einheiten: Je eindringlicher er spre­ chen will, desto ki.irzere Einheiten realisiert er, denn ki.irzere Einheiten fi.ihren zu mehr Akzenten und ermoglichen ein schnelleres Erfassen der Information. 6 Fazit Die Betrachtung der mi.indlichen Kommunikation im Deutschen zeigt, dass die segmentale und die prosodische Sphare eng miteinander verbunden sind: Die meisten phonetisch-phonologischen Phanomene konnen nur in Anbetracht der Wechselwirkungen zwischen der segmentalen, inter- und suprasegmentalen Ebene erklart werden . Die Prosodie tragt zur funktionalen und pragmatis chen Gestaltung der Sprecheinheiten bei und i.ibt eine steuernde Funktion auf die Segmente aus. Zwischen Rhythmus, Akzent, Pausen und Ausspracheprazision (Einzellautrea­ lisierung und satzphonetische Phanomene) besteht eine enge Beziehung: Mit der Akzentrealisierung verbinden sich nicht nur prosodische Prozesse, sondern auch die Einzellautrealisierung, die Reduktionsvorgange und die satzphoneti-

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schen Phanomene, die das Deutsche kennzeichnen. Bei erhohtem Sprechtempo besteht die Tendenz, unbetonte Silben zu reduzieren, indem Vokale reduziert bzw. elidiert und Konsonanten koartikuliert und assimiliert werden. Unbetont­ heit und Reduktionen korrelieren stark miteinander, so dass unbetonte Synse­ mantika in hoherem Ma.Be von Reduktionen betroffen sind als haupt- oder ne­ benbetonte Autosemantika. Die Beziehungen zwischen Prosodie und inter- sowie segmentaler Realisie­ rung im Deutschen sind relativ wenig erforscht worden un d stellen nach wie vor ein Forschungsdesiderat fiir zahlreiche Bereiche dar - etwa die Sprachdidaktik, sowie die Kommunikations- und die Medienwissenschaften. Literatur BATLINER A. ( 1989) : Fokus, J.\!Iodus und die grafie Zahl. Zur intonatorischen Indizierung des Fokus im Deutschen/ Fokus, Deklination und Wendepunkt. In: Zur Intonation von Modus und Fokus im Deutschen, hgg. von H. Altmann et al. , Ti.ibingen, 21-70; 71-85. DUDEN ( 1974) : Ausspracheworterbuch. Worterbuch der deutschen Standardaussprache, Mannheim et al. ( 1990) (20056) . ESSEN o. voN (1956) : Grundzuge der hochdeutschen Satzintonation, Ratingen ( r964) . ISACENKO A. v. l SCHADLICH H.-J . ( !966) : Untersuchungen uber die deutsche Satzintonation . In: Studia Grammatica 7· Untersuchungen uber Akzent und Intonation im Deutschen, Berlin, 7-67 (1971) . KOHLER K. J. (19952) : Einfuhrung in die Phonetik des Deutschen, Berlin (1977) . MISSAGLIA F. (1999): Phonetische Aspekte des Erwerbs von Deutsch als Fremdsprache durch italienische Muttersprachler, Frankfurt a.M. MISSAGLIA F. l SENDLMEIER w. F. (1999) : Die Realisierung deutscher Vokale durch italieni­ sche Muttersprachler - Bine experimentalphonetische Untersuchung. In: Zeitschri/t /ur Fremdsprachen/orschung rol r 73-95. OPPENRIEDER w. ( 1988): Intonation und Identi/ikation. Kategorisierungstests zur kontext­ freien Identifikation von Satzmodi; Intonatorische Kennzeichnung von Satzmodi. In: Intonationsforschungen, hg. von H. Altmann, Ti.ibingen, 153-67; 169-205. PHEBY J. (1975 ) : Intonation und Grammatik im Deutschen, Berlin (1980) . PIKE K. L. ( 1945) : Intonation ofAmerican English, Ann Arbor. SENDLMEIER w. F. ( r985) : Die Beschreibung der deutschen Vokale in betonter Stellung - Ein /orschungshistorischer Uberblick. In: Neue Tendenzen in der Angewandten Phonetik, Hamburg, 167-98. SIEBS T. ( I898 ) : Deutsche Aussprache. Reine und gemafligte Hochlautung mit Aussprache­ worterbuch, hgg. von H. De Boor et al. , Berlin (r96919 unv. Nachdruck 2ooo) . wdA (r969) : Worterbuch der deutschen Aussprache, Leipzig (r982) . ,

Reinhard Fiehler

Miindliche Verstandigung und gesprochene Sprache

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Einleitung In der Geschichte der Sprachwissenschaft findet man in verschiedenen Peri­ oden eine hohe Wertschatzung der gesprochenen Sprache: In der genannten Periode [r850-I930; R.F.] dominiert in der Sprachwissenschaft die Vor­ stellung vom absoluten Primat (man konnte sagen von "der linguistischen Legitimitat") der gesprochenen Sprache und des akustischen Charakters gesprochener ÀuEerungen (Vachek 1976: 24r) .

Und der Junggrammatiker Hermann Paul schreibt geradezu poetisch: Die Schrift verhalt sich zur Sprache etwa wie eine Skizze zu einem mit der grossten Sorg­ falt in Farben ausgefuhrten Gemalde (Paul r968: 376-7) .

Auch de Saussure ergreift in vergleichbar eindeutiger Weise Partei fiir die ge­ sprochene Sprache, wenn er sie zum alleinigen Objekt der Sprachwissenschaft erklart: Sprache und Schrift sind zwei verschiedene Systeme von Zeichen; das letztere besteht nur zu dem Zweck, um das erstere darzustellen. Nicht die Verkni.ipfung von geschriebenem und gesprochenem Wort ist Gegenstand der Sprachwissenschaft, sondern nur das letz­ tere, das gesprochene Wort allein ist ihr Objekt (Saussure r967: 28) .

I n einem auffalligen Kontrast zu dieser Wertschatzung steht die Tatsache, dass die gesprochene Sprache in der Praxis der Sprachwissenschaft kaum eine Rolle gespielt hat. Zentraler Untersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft waren in ihrer Geschichte (auBer im Zusammenhang mi t der Lautlichkeit der Sprache) de facto s chriftliche Texte oder Beispielsatze, die auf der G rundlage eines schriftsprachlich gepragten Bewusstseins schriftnah produziert werden. Nur sie waren - als Texte - dauerhaft gegeben und so einer wiederholten Betrachtung und detaillierten Analyse zuganglich. Wie selbstverstandlich wurden Sprachuntersuchungen auf der Grundlage ausschlieElich von geschriebenen ÀuBerungen (Texten) vorgenommen, zumal die Dokumentation mi.ind-

REIN HARD FIEHLER

licher Rede damals technisch kaum moglich war. Letztlich sind Sprachnntersuchnngen aus dieser Zeit Untersuchnngen von GSCHS [geschriebener Sprache; R.F.] (Ludwig 1980: 324) .

Erst die Gesprochene-Sprache-Forschung und die Gesprachsanalyse haben die gesprochene Sprache in der zweiten Halfte des 20. ] ahrhunderts aus ihrem Stief­ kinddasein erlost. Voraussetzung dafiir war die Entwicklung von technischen Gerate, die eine Reproduktion miindlicher A uBerungen erlauben, und von Transkriptionssystemen, mit denen gesprochene Sprache verschriftlicht wird. Erst durch diese Hilfsmittel wurde gesprochene Sprache zu einem Gegenstand, der der wissenschaftlichen Analyse iiberhaupt zuganglich ist. Im Zuge dieser Gegenstandskonstitution wurde auch zunehmend deutlich, wie gro.B die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache sind. Dies fiihrte zum einen dazu, gesprochene Sprache jiingst auch als geson­ derten Gegenstand in di e Grammatikschreibung aufzunehmen ( vgl. Hoffmann 1997; Fiehler 2009 ), und zum anderen wurden dadurch Diskussionen intensi­ viert, wie viel und welche der Besonderheiten gesprochener Sprache im DaF­ Unterricht vermittelt werden sollen (vgl. z.B. Bachmann-Stein l Stein 2009 ). Vor diesem Hintergrund mochte der vorliegende Beitrag die Spezifik miindlicher Verstandigung und gesprochener Sprache charakterisieren und ei­ nige ihrer zentralen Besonderheiten beschreiben. 2

Kommunikative Praktiken als Grundformen der Verstandigung Verstandigung erfolgt in einer Vielz ahl unterschiedlicher Grundformen, den kommunikativen Praktiken. Bei kommunikativen Praktiken handelt es sich um abgrenzbare, eigenstandige kommunikative Formen, fiir die ihre Zweckbezo­ genheit und Vorgeformtheit konstitutiv sind und fiir die es alltagliche Bezeich­ nungen gibt 1. ] edes Sprechen un d Schreiben geschieht in un d ist Bestandteil von kommunikativen Praktiken. Gesprochen wird im Rahmen eines Kaffeeklatsches, einer Dienstbesprechung, einer telefonischen Vereinbarung eines Arzttermins , einer Rede, einer Theaterrolle etc. ; geschrieben wird ein Brief, ein Aufsatz, ein Protokoll, ein Einkaufszettel etc. Jede Verstandigung besteht in der Realisierung eines konkreten, singularen Exemplars einer solchen kommunikativen Praktik. Verstandigung erfolgt nicht " frei" , sondern immer nur im Rahmen der verfiig­ baren kommunikativen Praktiken. Kommunikative Praktiken sind sozza/e Prak­ tiken, Formen sozialer Praxis. Es handelt sich um gesellschaftlich herausgebilde­ te konventionalisierte Verfahren zur Bearbeitung haufig wiederkehrender kom­ munikativer Ziele un d Zwecke. ] ede Gesellschaft verfiigt fiir die Verstandigung iiber ein spezifisches Repertoire solcher kommunikativen Praktiken, das sich his­ torisch herausgebildet hat. Eine Praktik zu realisieren hei.Bt, einen je spezifi1. Das Konzept der kommunikativen Praktiken besitzt eine Reihe von Beriihrungspunkten mit dem Konzept der kommunikativen Gattungen, wie es u.a. von Luckmann (1986, 1988) und Giinth­ ner (1995) ausgearbeitet worden ist. S. dazu Fiehler l Barden l Elstermann l Kraft (2004: 103-4).

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NDLICHE VERSTÀ NDIGU N G

ND GESPROCHE N E SPRACHE

schen Komplex von Au/gaben zu bearbeiten. Eine Reklamation erfordert die Be­ arbeitung anderer kommunikativer Aufgaben als ein Beratungsgesprach. Prakti­ ken lassen sich durch diesen Komplex der fiir sie konstitutiven Aufgaben - ihr Aufgaben- bzw. Handlungsschema - darstellen und beschreiben. Als soziale Phanomene sind kommunikative Praktiken geregelt. Das Aus­ fiihren einer kommunikativen Praktik bedeutet die Beriicksichtigung eines spe­ zifischen (zum groBten Teil nicht bewussten) Komplexes von sozialen Regeln bzw. Konventionen, von denen ein wesentlicher Teil sprachlich-kommunikati­ ver Art ist. Die sprachlich-kommunikativen Regeln betreffen die verschieden­ sten Ebenen und Bereiche: die relevante Begrifflichkeit, die einschlagigen Syn­ tagmen, die Wahl der Anredeformen, die Organisation des Rederechts, die Ab­ folge der Beitrage, die zu bearbeitenden Aufgaben, mogliche Themen etc. Al­ lein mit den Mitteln von Lexikon und Grammatik ist man z.B. weder in der La­ ge, einen Gottesdienst abzuhalten, noch als Mitglied der Gemeinde an ihm teil­ zunehmen. Um eine Praktik zu beschreiben, ist es notwendig, die Gesamtheit ihrer Regeln zu explizieren. Als Folge ihrer Regelhaftigkeit sin d kommunikative Praktiken auch mus­ terhaft. Kommunikative Muster stellen "Bausteine" im Rahmen von kommuni­ kativen Praktiken dar. Sie sind verfestigte und sozial standardisierte Abfolgen verbaler und mentaler Handlungen, die zur Realisierung spezifischer, im sozia­ len Prozess haufig wiederkehrender Aufgaben und Zwecke dienen (Ehlich l Rehbein 1979 ) . Muster konnen sowohl verbale Paarsequenzen (GruE - Gegen­ gruB, Frage - Antwort, Bitte - Gewahrung, Vorwurf - Stellungnahme zum Vor­ wurf) wie auch groBere Einheiten umfassen Manche der kommunikativen Praktiken werden im Rahmen unserer Kultur nur miindlich ausgefiihrt (jemanden taufen) , andere nur schriftlich (ein Proto­ koll verfassen), manche miindlich oder schriftlich (Klatsch), und manche sind spezifische Mischungen aus beiden Elementen (sich bewerben: einen Bewer­ bungsbrief schreiben un d ein Vorstellungsgesprach fuhren) . In zunehmend mehr kommunikative Praktiken sind (mit einem breiten Spektrum von Funk­ tionen) technische Gerate eingebunden. 2•

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Miindliche Kommunikation und ihr Verhaltnis zur Schriftlichkeit Unter mundlicher Kommunikation wird hier die Gesamtheit der kommunika­ tiven Praktiken verstanden, in denen die Verstà'ndigung zwischen mindestens zwei Parteien durch verbale miindliche Kommunikation, korperliche Kommu­ nikation und/oder Kommunikation auf de r Grundlage visueller Wahrneh­ mungen und Inferenzen erfolgt. Gesprochene Sprache bezeichnet die verbal­ sprachlichen Anteile der miindlichen Kommunikation einschlieBlich aller be­ deutungstragenden stimmlichen und prosodischen Ers cheinungen. 2. Beispiele fur ausgedehntere kommunikative Muster sin d z.B. die in Lehr-Lem-Situationen hau­ fige Aufgabe-Losungs-Sequenz (Ehlich l Rehbein 1986) oder das Anteilnahmemuster (Fiehler 1990) .

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REIN HARD FIEHLER

Anders als bei der Verstandigung mittels Texten vollzieht sich miindliche Kommunikation, wenn sie unter den Bedingungen wechselseitiger Wahrneh­ mung erfolgt, gleichzeitig und parallel auf verschiedenen Ebenen: Sie ist multi­ moda!. Im Verstandigungsprozess wirken also das Gesprochene (verbale miindli­ che Kommunikation) , korperliche Entiiu/Serungen (korperliche Kommunikation) und auf visuellen Wahrnehmungen und Schlussen basierende Informationen (wahrnehmungs- und inferenzgestiitzte Kommunikation) in spezifischer Weise zusammen. Die korperliche und die wahrnehmungs-/inferenzgestiitzte Kommu­ nikation erfolgen visuell, die verbale Verstandigung hingegen akustisch. Miind­ liche Kommunikation ist damit ein Prozess, an dem verschiedene Sinne gleich­ zeitig beteiligt sind. Diese Multimodalitat unterscheidet miindliche Kommunika­ tion grundlegend von der Verstandigung mittels Texten. Korperliche und wahr­ nehmungs-/inferenzgestiitzte Kommunikation haben dort keine Entsprechung. Textbasierte Verstandigung ist weitgehend verbal. Sie erfolgt nur visuell. Die Unterscheidung von gesprochener und geschriebener Sprache reflek­ tiert zugleich auch die Erfahrung, dass es ein gravierender Unterschied ist, ob man spricht oder schreibt: Gesprochen wird mit dem Mund, geschrieben mit der Hand; Sprechen geht leicht von der Hand (besser: aus dem Mund), Schrei­ ben ist schwierig un d bedarf hoher Aufmerksamkeit; das gesprochene Wort ver­ fliegt, das geschriebene ist dauerhaft. Sprechen lernt man gewissermaBen auto­ matisch, und man lernt es friiher als das Schreiben. Schreiben lernen hingegen bedarf einer ausfiihrlichen Anleitung. Die Unterscheidung von gesprochener und geschriebener Sprache wird auch mit einer Vielzahl anderer Begriffspaare angesprochen: Sprechen und Schreiben, Miindlichkeit und Schriftlichkeit, Re­ de und Schrift, Diskurs und Text. Miindlichkeit und Schriftlichkeit haben weitgehend unterschiedliche Domii­ nen und Funktionen. Zum einen sind sie unterschiedlich verteilt und stehen nur in relativ wenigen Fillen in einer Relation der freien Wahlbarkeit. In weiten Be­ reichen bestimmen sachliche N otwendigkeiten un d Konventionen, ob die Ver­ standigung miindlich oder schriftlich erfolgt. So ist es unter sachlichen Gesichts­ punkten unsinnig, Dienst"besprechungen" schriftlich durchzufiihren, wiewohl es aus anderen Griinden sinnvoll ist, sie schrifdich zu protokollieren. Eine kon­ ventionelle Praferenz in unserer Kultur hingegen ist es , Heiratsantrage miindlich zu stellen. Auch wenn es in diesem Sinn deudich unterschiedliche Domanen fiir Miindlichkeit und Schrifdichkeit gibt, schlieBt dies nicht aus, dass sich in einzel­ nen Praktiken miindliche und schriftliche Elemente mischen konnen un d dass zu bestimmten Zwecken von miindlichen zu schriftlichen Praktiken oder umgekehrt von schriftlichen zu miindlichen Praktiken iibergegangen werden kann: So kann z.B. einer miindlichen Beschwerde ein Beschwerdebrief folgen bzw. schriftlich begonnene Verhandlungen konnen miindlich fortgefiihrt werden. Zum anderen bestehen deutlich unterschiedliche Funktionen. Miindliche Kommunikation hat ihre zentrale Funktionalitat im Bereich der interaktiven Be­ wàltigung aktueller Situationen. Zentrale Funktionen sind dabei die unmittelbare wechselseitige Beeinflussung un d Steuerung un d die Vermitdung von Wissen. Ge­ schriebene Sprache hingegen als das Verfahren, sprachliche Handlungen der Fliichtigkeit zu entheben, ha t ihre spezifische Funktion in der raum-zeitlichen Dis-

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tribution und Tradierung von Texten. Sie ist damit das zentrale Instrument der Wissensvermittlung. Die unterschiedlichen Funktionen hangen weitgehend mit dem Umstand zusammen, dass mi.indliche Kommunikation hochgradig situati­ onsbezogen und kontextsensitiv ist, wahrend die raum-zeitliche Distribution und Tradierung ein bestimmtes AusmaB an Dekontextualisierung der sprachlichen Handlungen verlangt. Mi.indlichkeit und Schriftlichkeit stellen zwei unterschied­ liche Modalitaten der Verstandigung dar. Die Entwicklung neuer, computerver­ mittelter Formen schriftlicher Verstandigung (z.B. E-Mail- und Chat-Kommuni­ kation, SMS) deutet jedoch in die Richtung, bestimmte Funktionen des Mi.indli­ chen, wie z.B. die Moglichkeit einer kurzfristigen wechselseitigen Beeinflussung und Steuerung, auch fur die schriftsprachliche Kommunikation zu erschlieBen. Historisch betrachtet haben Hominiden Formen der mi.indlichen Kommu­ nikation in einem Zeitraum entwickelt, dessen Grenzen mit 2oo.ooo bis 40.000 J ahren vor unserer Zeitrechnung angegeben werden. Die Entstehung von Schriftsystemen wird vor ca. 5.ooo J ahren angesetzt. O ber den weitaus groBten Teil der Menschheitsgeschichte war die mi.indliche Kommunikation damit die einzige Moglichkeit der Verstandigung. Auch in der individualgeschichtlichen Entwicklung steht der Erwerb mi.indlicher kommunikativer Praktiken am Anfang. Wenn das Kind kommuni­ zieren lernt, dann erwirbt es diese Fahigkeit nicht als allgemeine und unspezifi­ sche Fertigkeit, beliebige Satze zu auBern, sondern es erlernt mi.indliche kom­ munikative Praktiken der hier beschriebenen Art, indem es die fiir die einzel­ nen Praktiken konstitutiven Regeln lernt. Zunachst sind dies die spezifischen Praktiken und Sprachspiele der Eltern-Kind-Interaktion. Spater wird in Be­ zugsgruppen mit Gleichaltrigen, in der Schule und in der beruflichen Ausbil­ dung und Tatigkeit das Spektrum der individuell beherrschten Praktiken er­ weitert (z.B. durch Praktiken wie Ober-andere-Herziehen, Referate halten und Dienstbesprechungen) . Mit dem Beginn der Schulzeit beginnt dann auch der sys­ tematische Erwerb schriftlicher Praktiken. Kommunikationsfahigkeit wird also nicht als abstrakte erworben, sondern angeeignet wird die Fahigkeit, bestimmte, konkrete kommunikative Praktiken auszufi.ihren. Man kann dies auf die Formel bringen, dass kommunizieren zu lernen bedeutet, die Fahigkeit zu erwerben, verschiedene kommunikative Praktiken auszufi.ihren. Individuai- wie menschheitsgeschichtlich ist mi.indliche Kommunikation primar. Schriftlichkeit setzt auf ihr auf und tritt erst historisch spat erganzend hinzu. So ist die Mehrzahl der Sprachen - vor allem solche mit relativ wenigen Sprechern - nach wie vor nicht verschriftlicht. In vorindustriellen Gesellschaf­ ten verfi.igte nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevolkerung ii ber Lese- un d Schreibfahigkeiten. Erst in Gesellschaften, die eine allgemeine Schulpflicht ein­ gefi.ihrt haben, erlangt die Mehrheit der Bevolkerung diese Fahigkeiten. In Deutschland ist dies seit dem 19. Jahrhundert der Fall. Sind Sprachen jedoch verschriftlicht und besitzt die i.iberwiegende Mehrheit der Bevolkerung Lese­ und Schreibfahigkeiten, so steigt die gesellschaftliche Bedeutung von Schrift­ lichkeit, und es kehrt sich das Verhaltnis von Miindlichkeit und Schriftlichkeit in Hinblick auf Bedeutsamkeit un d Werts chatzung um. Auf der Grundlage ih­ rer zentralen Funktionen (Vergegenstandlichung, Verdauerung, Verbreitung)

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erfullen schriftliche Texte wesentliche Aufgaben im gesellschaftlichen Prozess. Diese Tats ache und die intensive Auseinandersetzung mit Schriftlichkeit im Schriftspracherwerb bedingen, dass in literalen Gesellschaften die Vorstellun­ gen von Sprache schriftsprachlich gepragt sind. Eine Folge davon ist die gerin­ gere Beachtung und Wertschatzung des Miindlichen. So besteht ein besonderer Bedarf an Vermittlung von Wissen iiber miindliche Kommunikation. Miindliche Kommunikation unterscheidet sich von geschriebener Sprache zum einen in dem AusmaB an Varianz und Viel/alt und zum anderen in Hinblick auf ihre Normierung und Normierbarkeit. Fiir das geschriebene Deutsch sind in einem langen historischen Prozess N ormierungen ausgearbeitet worden, die auf eine einheitliche Verwendung und Erscheinungsform der Schriftsprache abzielen. Durch diese Normierung ist die auch in der Schriftsprache urspriinglich vorhan­ dene Varianz reduziert worden. Diese Normierungen betreffen die Orthografie, die Interpunktion und die Grammatik. Sie sind in Worterbiichern und Gramma­ tiken kodifiziert und werden vor allem im Sprachunterricht der Schule vermittelt. Miindliche Kommunikation unterliegt einer weniger starken Normierung. Entsprechend den mannigfaltigen Zwecken, zu denen sie gebraucht wird, ist sie ein vielfaltig aufgegliedertes, variantenreiches Phanomen. Miindliche Kommu­ nikation ist unterschiedlich zu verschiedenen historischen Zeitpunkten, an ver­ schiedenen Orten, in verschiedenen sozialen Gruppen, bei unterschiedlichen Anlassen, von Gesprach zu Gespdich. Sie variiert von Individuum zu Individu­ um und beim Individuum auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung so­ wie - feiner betrachtet - auch von Situation zu Situation. Zentrale Charakteri­ stika der gesprochenen Sprache sind ihre Anpassungsfahigkeit (und als Konse­ quenz hieraus ihr kontinuierlicher Wandel) sowie ihre aus der Anpassung an die verschiedensten Umstande und Zwecke folgende Vielfalt und Varianz. Varianz ist damit ein Grundphanomen der miindlichen Kommunikation. Sie ist aber durchaus januskopfig. Einerseits erfullt Varianz eine Reihe positiver Funktionen wie Differenzierung und Ausdruck von Identitat und Individualitat; auf der an­ deren Seite erschwert sie eine problemlose Verstandigung, und dies umso mehr, je ausgepragter sie ist. Sprachentwicklung ist so von zwei Tendenzen gepragt: der Tendenz der Ausweitung von Varianz auf der einen Seite und dem Streben nach Gleichformigkeit andererseits. 4

Grundbedingungen miindlicher Kommunikation Betrachtet man die historisch urspriingliche und bis beute grundlegende Form mi.indlicher Kommunikation, so ist sie durch folgende Grundbedingungen ge­ kennzeichnet: r. Mindestens zwei Parteien verstandigen sich - zur Realisierung spezifischer Ziele und Zwecke; 2. in gemeinsamer Situation fiireinander prasent; 3 · in wechselseitiger sinnlicher Wahrnehmung; 4 - parallel und gleichzeitig auf verschiedenen kommunikativen Ebenen; 5 · i n standiger wechselseitiger Beeinflussung;

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6. mit kurzlebigen korperlichen Hervorbringungen (lautlichen À uBerungen, Korperbewegungen); 7 · in zeitlicher Abfolge. Diese Merkmale sollen im Folgenden genauer charakterisiert werden. L Anzahl und Grafie der Parteien Miindliche kommunikative Praktiken weisen hinsichtlich der Anzahl und der Gro.Be der beteiligten Parteien eine gro.Be Spannbreite auf. Sieht man von Selbstgesprachen ab, so kommunizieren im Minimalfall miindlicher Verstandi­ gung zwei Parteien, die jeweils aus einer Person bestehen . Zwar erfolgt Kom­ munikation der Erscheinung nach zwis chen Personen, um aber die Beteili­ gungsrollen der Personen adaquat erfassen zu konnen, ist es sinnvoller, miindli­ che Kommunikation als Prozess zwischen Parteien aufzufassen. So ist z.B. eine miindliche Gerichtsverhandlung eine Kommunikation zwischen mindestens vier Parteien: Richter, Angeklagtem, Staatsanwalt und Verteidigung; ggf. sind als fiinfte Partei Zuhorer beteiligt. Jede dieser Parteien kann aus mehreren Perso­ nen bestehen. Unterrichtskommunikation (in der Form des Frontalunterrichts ) ist, um ein weiteres Beispiel zu nennen, eine Zweiparteienkommunikation. Auch hier konnen Lehrer- wie Schiilerpartei aus einer oder aus mehreren Personen bestehen (Einzelunterricht, team teaching) . Nicht immer sind Parteien so klar vorgegeben wie bei diesen Formen institu­ tioneller Kommunikation. Sie sind auch keineswegs immer feste Gro.Ben, sondem konnen in der Interaktion verandert werden: Personen konnen Parteien wechseln oder neue einfiihren. Die Aushandlung der Parteien und der Parteienstruktur ei­ ner Kommunikation ist eine konstitutive Aufgabe miindlicher Verstandigung. 2. Kopréisenz der Parteien und Gemeinsamkeit der Situation Dass bei miindlicher Kommunikation die Parteien in gemeinsamer Situati­ an fiireinander prasent sind, war bis zur Entwicklung raumiiberwindender, aber Gleichzeitigkeit bewahrender technischer O bertragungsmoglichkeiten eine Be­ dingung, die allen miindlichen Praktiken gemeinsam war. Sie trifft auch beute noch auf die weitaus meisten Akte miindlicher Verstandigung zu. Zudem ist sie die Voraussetzung fiir eine Reihe anderer Bedingungen, so die Bedingungen (3. ) wechselseitige Wahrnehmung, (4. ) Multimodalitat der Verstandigung und (5. ) Interaktivitat. Koprasenz ist die Voraussetzung dafiir, dass die Parteien mitein­ ander in Kontakt treten, Gemeinsamkeit der Situation herstellen und ein Ge­ sprach fiihren konnen. Koprasenz bedeutet, dass die beteiligten Parteien sehen, mit "wem sie es zu tun haben " , un d dass si e sich aufeinander einstellen konnen. Gemeinsamkeit der Situation heillt, dass die Parteien ihre Umgebung als geteil­ te verstehen und sie als gemeinsamen Bezugsraum fiir ihre Wahrnehmungen und Handlungen konstituieren. J. Wechselseitigkeit der Wahrnehmung Die Gemeinsamkeit der Situation wird u. a. hergestellt durch die Wechsel­ seitigkeit der Wahrnehmung und die Gleichzeitigkeit der Wahrnehmungen. Die Wechselseitigkeit der Wahrnehmung umfasst nicht nur die gleichzeitige sinnli­ che Wahrnehmung des jeweils anderen, sondem auch die jeweiligen Wahrneh­ mungen der gemeinsamen Situation. Die Wechselseitigkeit der Wahrnehmung beinhaltet, dass die Parteien zwar eine gemeinsame Situation konstituieren, zu-

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gleich aber auch unterschiedliche Perspektiven haben. Sie resultieren aus den un­ terschiedlichen raumlichen wie auch mentalen Standpunkten. In Bezug auf die Wahrnehmung des jeweils anderen sind diese Perspektiven reziprok. Es stellt ei­ ne besondere Fahigkeit un d Leistung der Beteiligten dar, ne ben der eigenen Per­ spektive auch die Perspektive des anderen einzunehmen und sich selbst und die Dinge aus der Sicht des anderen zu sehen. Die unterschiedlichen mentalen Standpunkte ergeben sich aus verschiedenen Wissenshintergrunden, Einstellun­ gen, Motiven etc. , di e di e Parteien in die Interaktion einbringen un d vor deren Hintergrund sie das Gegenuber, die Situation und das Geschehen deuten. 4· Multimodaliti:it der Versti:indigung Unter den Bedingungen wechselseitiger Wahmehmung kann Verstandigung parallel und gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen erfolgen. Das heiBt, sie ist weitaus mehr als verbale mundliche Kommunikation. Sie umfasst daruber hin­ aus zunachst einmal alle Formen korperlicher Kommunikation (Mimik, Gestik, Korperhaltung, Korperkonstellation etc. ) . Zwischen den verbalen und den kor­ perlichen Anteilen bestehen komplexe Wechselwirkungen, zugleich verlauft zwischen ihnen aber auch - entlang der Unterscheidung Stimmgebundenheit (akustische Wahrnehmung) vs. Leibgebundenheit (optische Wahrnehmung) eine deutliche Trennungslinie. Zur Multimodalitat der Verstandigung gehoren ferner auch die verschiedenen Formen der Verstandigung, die sich auf visuelle Wahrnehmungen und Schlusse (Inferenzen) stiitzen. Ist eine Koprasenz der Par­ teien und die Wechselseitigkeit der Wahrnehmungen gegeben, so konnen die beteiligten Parteien im Rahmen eines gemeinsamen Handlungszusammenhangs die Aktivitaten der jeweils anderen Seite beobachten und interpretieren, erfor­ derliche Folgetatigkeiten erschlieBen un d dann ausfuhren. J. Interaktiviti:it Die Koprasenz der Parteien, die Gemeinsamkeit der Situation und die Wech­ selseitigkeit der Wahrnehmung ermoglichen eine unmittelbare wechselseitige Be­ einflussung der jeweiligen Aktivitaten und mentalen Zustande; sie ermoglichen In­ teraktion. Als Folge dieser standigen, nie aussetzenden wechselseitigen Beeinflus­ sung mussen alle Hervorbringungen der einzelnen Parteien als gemeinsames Pro­ dukt verstanden werden. Die wechselseitige Beeinflussung besteht zu jedem Zeit­ punkt bei der Produktion eines Gesprachsbeitrags, so dass jeder Beitrag eine ge­ meinsame Leistung darstellt. Er ist nicht nur einer Partei zuzurechnen. Interakti­ vitat bedeutet, dass die Beteiligten zur Realisierung gemeinsamer oder individuel­ ler Zwecke und Ziele gemeinschaftlich handeln un d dabei sich zu jedem Zeitpunkt gegenseitig beeinflussen und steuern. Die wechselseitige Beeinflussung und Steue­ rung betrifft alle Ebenen des Handelns. Sie erfolgt bei der wahrnehmungs- und in­ ferenzgestutzten Verstandigung ebenso wie bei der korperlichen Kommunikation und der verbalen mundlichen Kommunikation. 6 Kurzlebigkeit!Fluchtigkeit In allen mundlichen Praktiken erfolgt die Verstandigung mittels kurzlebiger korperlicher Hervorbringungen (Laute, Korperbewegungen) . Ihre Existenz dau­ ert im Regelfall nur (Bruchteile von) Sekunden. Wahrend Laute sich vom Kor­ per losen un d verschallen (Fluchtigkeit) , bleiben Bewegungen korpergebunden un d dauern, solange si e ausgefuhrt werden. Korperbewegungen sin d damit nicht fluchtig, aber in der Regel kurzlebig. Entsprechend muss die Rezeption darauf

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eingerichtet sein, dass die Wahrnehmungsgegenstande sofort wieder vergehen. Ù ber die Dauer ihrer physikalischen Existenz hinaus haben diese Hervorbrin­ gungen - wie transformiert und reduziert auch immer - lediglich als Reprasen­ tationen im Ge&ichtnis bzw. in der Erinnerung derjenigen Personen Bestand, die sie produziert bzw. wahrgenommen haben. Kurz- und dann Langzeitgedachtnis sin d der Ort, an dem die Hervorbringungen, die in der Zeit einander ablosen un d spatestens aufhoren zu existieren, wenn die nachste erscheint, koprasent sind und in ihrer zeitlichen Abfolge "iiberschaut" werden konnen. 1 Zeitlichkeit Zeitlichkeit und zeitliche Erstreckung sind fiir miindliche Kommunikation konstitutiv, sie ist ein Prozess in der Zeit. In der Kommunikation werden inne­ re Gegebenheiten (Gedanken, Wissen, Annahmen, Bewertungen, Einstellun­ gen, Wiinsche, Gefiihle etc. ) in einem Prozess der Versprachlichung nach au.Ben gesetzt. Diese Entau.Berung bringt die Notwendigkeit der Portionierung un d Se­ quenzialisierung mit sich. Da nicht alles auf einmal geau.Bert werden kann, ist fiir Kommunikation ein Kompositionsprinzip fundamental: Das, was gesagt werden soli, muss vom Sprecher in Einheiten auf verschiedenen Ebenen aufgeteilt wer­ den, und die einzelnen Portionen miissen in eine zeitliche Abfolge gebracht, d.h. sequenzialisiert werden; entsprechend muss der Horer die einzelnen Einheiten erkennen und sie synthetisieren. Wesentliche Aufgaben, die sich aus der Zeitlichkeit miindlicher Kommuni­ kation ergeben, bestehen darin, zu verdeutlichen, wo auf den verschiedenen Ebenen Einheiten beginnen und enden, von welchem Typ sie sind und welche Relationen zwischen diesen in zeitlicher Abfolge erscheinenden Einheiten be­ stehen. Wichtige Einheiten der miindlichen Kommunikation sind u.a. der Laut, das Wort, die funktionale Einheit, der Gesprachsbeitrag und das Gesprach (Fiehler 2oo6: 24-31) . 5

Probleme der Analyse und Beschreibung miindlicher Kommunikation Der Analyse und Beschreibung miindlicher Kommunikation stehen besondere Probleme entgegen : Zum einen ist das gesells ch aftliche Sp rachbewusstsein schri/tsprachlich dominiert, was es erschwert, miindliche Kommunikation in ih­ rer Eigenformigkeit zu erkennen. Zum anderen bereitet die Flii.chtigkeit/Zeit­ lichkeit miindlicher Kommunikation besondere Probleme, wenn es gilt, Miind­ lichkeit zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung zu machen. Daraus resultiert, dass der Kenntnisstand iiber miindliche Kommunikation in keiner Weise dem iiber Schriftlichkeit entspricht. Unsere Vorstellungen dariiber, was Sprache ist, leiten sich p rimar aus dem Umgang mit und der Reflexion von ge­ schriebener Sprache her. Auch wenn die Begriffe " gesprochene Sprache " und " geschriebene Sprache " haufig als Paar auftreten un d so als Untersuchungsge­ genstande gleichen Rangs erscheinen, ist doch der erkenntnisma.Bige Zugang zu ihnen nicht gleichartig. Es fiihrt kein direkter Weg zur gesprochenen Sprache, sondern ihre Erkenntnis erfolgt in weiten Bereichen vermittelt ii ber das, was wir von geschriebener Sp rache wissen. Die Griinde, warum die geschriebene und

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nicht die gesprochene Sp rache das Sprachbewusstsein pragt, sind vielfaltig. Ich will nur vier kurz ins Gedachtnis rufen: Die Schwierigkeiten der Textproduktion richten das Bewusstsein stark auf die Strukturen und Eigenschaften der geschriebenen Sprache. Die Leichtigkeit und der automatische Charakter des Sprechens hingegen bewirken, dass miind­ liche Kommunikation nicht in gleicher Weise ins Zentrum der Aufmerksamkeit und des Sprachbewusstseins riickt. Die "Anschaulichkeit " und die Dauerhaftigkeit von Texten - im Gegensatz zur Auditivitat und Fliichtigkeit der miindlichen Kommunikation - begriinden ihre objektma.Bige Prasenz und haben seit jeher die Reflexion schriftlicher Tex­ te systematisch begiinstigt. Zentrale grammatis che Kategorien manifestieren sich in der Form der Schriftlichkeit. Sie sind dort vergegenstandlicht und jeder Blick auf einen Text fiihrt sie vor Augen. So wird das "Wort" (was schriftsprachgeschichtlich kei­ neswegs immer so war) durch die Sp atien sichtb ar, der " S atz " durch die Gro.Bschreibung am Anfang und den abschlie.Benden Punkt, der " Nebensatz " durch das Komma, das "Hauptwort " durch seine Gro.Bschreibung (zumindest in der deutschen Schriftsprache) etc. Diese Kategorien werden im Entwick­ lungsprozess der Schriftsprache als (sich verandernde) Form der Schriftlichkeit ausgearbeitet und als Formelemente festgeschrieben. Einmal entwickelt, ist die Aktivierung und Anwendung dieser Kategorien Voraussetzung jeder korrekten Textproduktion. Nicht zuletzt auch dieses Faktum macht deutlich, wie perma­ nent und intensiv sie pragenden Charakter fiir das Sprachbewusstsein haben. Geschriebene Sprache wird gesellschaftlich als wichtiger angesehen un d hoher bewertet als gesprochene. Entsprechend gro.B ist der Aufwand, der fiir den Schrift­ spracherwerb und die Schulung der Schreibfahigkeiten getrieben wird. So besitzt in der schulischen Sozialisation die Schriftsprache eindeutig das Primat. Schrift­ spracherwerb und das Erstellen aller Formen schriftlicher Texte haben dort ein deutliches O bergewicht gegeniiber der Schulung miindlicher Kommunikation. Dies und Weiteres tragen dazu bei, dass das Bild von Sprache durch die Schriftsprache bestimmt wird. Die geschriebene Sprache pragt aber nicht nur das gesellschaftliche Sprachbewusstsein, sondern gleicherma.Ben auch die Sprachwis­ senschaft als den Ort der systematischen Reflexion von Sprache. Das "written lan­ guage bias " (Linell 1982) betrifft dort einerseits den Untersuchungsgegenstand und andererseits die Kategorien zur Analyse un d Beschreibung von Sprache (vgl. Ab­ schnitt 6). Anders als die geschriebene Sprache ist die miindliche Kommunikation ein fluchtiger und zeitlicher Gegenstand, was seine Untersuchbarkeit einschrankt und seine Untersuchung in besonderer Weise schwierig gestaltet: Entweder ist man auf die Erinnerung angewiesen, oder aber es bedarf technischer Moglichkei­ ten der Konservierung von Au.Berungen und Gesprachen. Die Entwicklung und Verbreitung entsprechender technischer Gerate zur Konservierung und Repro­ duktion von Gesprachen und Interaktionen (Plattenspieler, Tonbandgerate, Kas­ settenrekorder, Videokameras) ist so eine wesentliche Voraussetzung fiir eine de­ taillierte wissenschaftliche Untersuchung von miindlicher Kommunikation. Setzt man eine bestimmte Ausgereiftheit und Verbreitung solcher Gerate voraus, kann man sagen, dass sie erst seit den 6oer J ahren des 20. J ahrhunderts gegeben ist.

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Eine zweite wesentliche Voraussetzung ist die Entwicklung von Verfahren zur Verschriftlichung (Transkription) konservierter Gesprache. Transkriptionen ermoglichen eine Vergegenwartigung und "Betrachtung" der Àu.Berungen und Gesprache, wie sie allein durch das Abhoren der Aufzeichnung nicht zu errei­ chen ist. Die Entwicklung solcher Transkriptionssysteme fur sp rachwissen­ schaftliche Zwecke (vgl. fiir einen O berblick iiber die friihe Phase der Entwick­ lung gesprachsanalytischer Transkriptionssysteme Ehlich l Switalla 1976) er­ folgte Hand in Hand mi t dem Einsatz der genannten Gerate. Erst durch das Zu­ sammenspiel von reproduzierbaren Aufnahmen und Transkriptionen wird ge­ sprochene Sprache in einem hinreichenden Detaillierungsgrad untersuchbar und erst von diesem Zeitpunkt an konnte sie iiberhaupt zu einem ernsthaften und gleichwertigen Untersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft werden. Der Kenntnisstand iiber Besonderheiten der miindlichen Kommunikation entspricht aber dennoch gegenwartig in keiner Weise dem, was wir iiber die ge­ schriebene Sprache wissen. Dieser Befund ist letztlich nicht verwunderlich, hat doch die Erforschung der gesprochenen Sprache - verglichen mit der an der Schriftlichkeit orientierten Grammatikschreibung - eine vergleichsweise kurze Tradition, die kaum alter als 100 J ahre ist un d als deren Startpunkt man Behag­ hel (1899) ansehen kann. Entsprechend hat die Beschreibung der gesprochenen Sprache und ihrer Grammatik noch keine kanonischen Standards entwickelt, sondern die Ausarbeitung von Beschreibungskonzepten und -kategorien ist in einer standigen Entwicklung begriffen. Gleichwohl ist es sinnvoll, damit zu be­ ginnen, die Erkenntnisse iiber Regularitaten der gesprochenen Sprache zusam­ menzutragen und zu systematisieren. Dies kann zum einen dazu beitragen, der Vorstellung, gesprochene Sprache sei fehlerhaft, ungeregelt oder zumindest we­ niger geregelt als die geschriebene, den Boden zu entziehen, zum anderen hilft es, zu erkennen, wo Leerstellen sind und Forschungsbedarf besteht. 6 Analyse- und Beschreibungskategorien fiir miindliche Kommunikation Die Entwicklung gegenstandsangemessener Analyse- und Beschreibungskate­ gorien fur miindliche Kommunikation verlief in den Bereichen relativ unpro­ blematisch, wo es um Phanomene geht, die keine unmittelbare Entsprechung im schriftlichen Bereich haben. In dem MaBe, wie authentische gesprochen­ sprachliche Daten zur Verfiigung standen, setzte zunachst im Rahmen der Prag­ matik und dann in den verschiedenen Varianten der Gesprachsforschung der Prozess der Kategorienentwicklung ein, um die Andersartigkeit dieses Materi­ als zu erfassen. So waren es vor allem Phanomene der Interaktivitat, fur die Ka­ tegorien entwickelt wurden. In den Blick genommen wurden zunachst die Ge­ sprachsorganisation (turn taking) und verschiedene Aspekte der ÀuBerungsor­ ganisation (Gliederungssignale, HorerauBerungen, Reparaturen), in der Folge dann kommunikative Verfahren (Praferenzorganis ation) und Strukturen von Gesprachen (Muster, Handlungsschemata) sowie spezifische Aufgabenkontu­ ren einzelner Gesprachstypen (Erzahlungen, Beratungen etc.) .

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Ganz anders steht es um die Kategorienentwicklung im grammatischen Be­ reich. Die uberwiegende Zahl der linguistischen Kategorien wurde in der und fiir die Analyse geschriebener Texte entwickelt und dann in Grammatiken zu ei­ nem relativ festen Satz von Analyse- und Beschreibungskategorien kanonisiert. Beispiele fur solche Kategorien sind " Satz " , " Wort" , "Anakoluth " , " Ellipse " etc. Diese grammatischen Beschreibungskategorien sind - wie alle Kategorien funktional ihrem Gegenstand angepasst, und das hei.Bt der Analyse und Be­ schreibung von geschriebener Sprache. Da hier also ein entwickeltes Kategori­ eninventar aus dem Bereich des Schriftlichen zur Verfugung steht, wurden die­ se Kategorien zunachst auch fur die Beschreibung des Mundlichen ubernom­ men und, wenn ihre Ù bertragung Probleme bereitete, gegebenenfalls adaptiert. Exemplarisch lasst sich dies an der Frage nach den grundlegenden Einheiten des Mundlichen verfolgen. Hier wurde zunachst versucht, eine der zentralen Ein­ heiten des Schriftlichen - den Satz auf das Mundliche zu ubertragen. In dem Ma.Be, wie dies Schwierigkeiten bereitete, wurde die Kategorie " Satz" entspre­ chend modifiziert, bzw. es wurden andere Kategorien ( À u.Berungseinheit, turn, sprachliche Handlung, Àu.Berung, intonation unit etc.) ins Spiel gebracht (vgl. hierzu Fiehler l Barden l Elstermann l Kraft 2004, Abschnitt 11. 2). Generell bedurfen Kategorien der traditionellen Grammatik, wenn sie zur Beschreib ung miindlicher Kommunikation verwendet werden sollen, einer handlungs- und funktionsorientierten Reinterpretation. Was traditionelle, form­ bestimmte und strukturbezogene Kategorien bezeichnen, wird dabei rekon­ struiert in Hinblick auf seine Funktion(en) im Prozess des Sprechens, d.h. auch in Hinblick auf seine Charakteristik und Qualitat als Handlung. Reinterpretati­ on bedeutet also, dass die kommunikative Funktion von sprachlichen Mitteln oder Strukturen rekonstruiert, expliziert und in einem "sprechenden" Katego­ riennamen kondensiert wird. -

7 Charakteristika miindlicher Kommunikation Aus der Vielzahl von Besonderheiten, die miindliche Kommunikation gegeniiber der Schriftlichkeit aufweist, soli hier auf ihren multimodalen Charakter einerseits und auf lautliche, syntaktische und lexikalische Besonderheiten andererseits einge­ gangen werden. Mundliche Kommunikation ist - anders als die Schriftsprache nicht nur auf verbalsprachliche Dimension beschrankt, sondern stellt im Fall der Verstandigung von Angesicht zu Angesicht eine sich wechselseitig stiitzende Ein­ heit aus korperlicher (nonverbaler) Kommunikation, wahrnehmungs- und infe­ renzgestiitzter Kommunikation und verbaler mundlicher Kommunikation dar. Will man miindliche Kommunikation in ihrer Spezifik und besonderen Regelhaf­ tigkeit beschreiben, darf man sich also nicht auf das Gesprochene beschranken, sondern muss die verschiedenen Verstandigungsebenen und ihr Zusammenwir­ ken, also eben die Multimodalitiit mundlicher Verstandigung, erfassen. Eine Begru.Bung z.B. besteht eben nicht nur aus dem verbalen Gru.B und Ge­ gengru.B (Guten Morgen - Guten Morgen), sondern stellt einen komplexen mul­ timodalen Handlungszusammenhang dar. Er beginnt mit der Wahrnehmung ei­ ner Person un d Entscheidungsprozessen darliber, ob un d wie diese Person zu be-

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griiBen ist (Zunicken, Austausch verbaler GruBformeln, Handeschiitteln, Umar­ mung etc. ). Soli die Person durch Handeschiitteln begriiBt werden, so sind die Korper in eine solche Konstellation zu bewegen, dass dies moglich ist, und es miissen bestimmte Arm- und Handbewegungen durchgefiihrt werden. Diese Be­ wegungen sind mit der AuBerung verbaler GruBformeln zu koordinieren. Zu­ gleich muss Blickkontakt aufgenommen und miissen mimische Aktivitaten wie z.B. Lacheln durchgefiihrt werden. Nur wenn dies alles regelgerecht zusammen­ wirkt, wird ein unauffalliger Fall einer miindlichen BegriiBung vollzogen. Die Moglichkeiten des Zusammenspiels der drei Verstandigungsebenen las­ sen sich ferner auch beispielhaft an der Bezugnahme (Referenz) auf Elemente der gemeinsamen Situation zeigen. Eine Antwort auf die Frage Wei/5t du} wo mein Schlusselbund ist? kann in Folgendem bestehen: a) Der Gesprachspartner zieht das Schliisselbund unter einer Zeitung hervor. Die praktische Tatigkeit wird wahrgenommen und gewinnt so kommunikative Qualitat (wahrnehmungs- und inferenzgestiitzte Kommunikation) . b) Eine Zeigegeste mittels Hand , Kopf oder Blickrichtung (korperliche Kom­ munikation) . c ) Eine Zeigegeste zus ammen mit einer A uBe rung, z . B . : D a . (korperliche Kommunikation zusammen mit verbaler Kommunikation in Form eines deikti­ schen Ausdrucks) . d) Eine AuBerung, z . B . Au/ dem Tisch unter der Zeitung (verbale benennende Kommunikation) . Die Rolle verbalsprachlicher miindlicher Kommunikation ist nur i m Rah­ men dieser Multimodalitat angemessen zu bestimmen. Die nichtverbalen Ebe­ nen der Verstandigung sind dabei keineswegs sekundar oder von nachrangiger Bedeutung. Betrachtet man nun exemplarisch die korperliche Kommunikation etwas ge­ nauer, so sind an ihr verschiedene Korperregionen beteiligt. Insbesondere sind dies das Gesicht, die Augen, der Kop/, die Arme, die Hiinde und die Beine. Dar­ ii ber hinaus besitzen die gesamte Korperhaltung einer Person und die Konstella­ tion verschiedener Korper im Raum kommunikative Qualitat. Die differenzierte Muskulatur des Gesichts ermoglicht einen vielfaltigen mi­ mischen Ausdruck. Zum Ausdruck gebracht werden Befindlichkeiten (Miidig­ keit, Anspannung etc. ) und vielfaltige Formen inneren Erlebens ( Ù berraschung, Irritation etc. ) , insbesondere auch Emotionen (Freude, A rger etc. ) . Diese mi­ mischen Ausdrucksformen haben die kommunikative Funktion einer spezifi­ schen bewertenden Stellungnahme zu Ereignissen oder Personen. In der Regel sind sie nicht eindeutig. So kann ein Lachen sowohl Freude wie auch Gering­ schatzung (auslachen) aus driicken und Weinen kann - auBer fiir Trauer und Enttauschung - ebenfalls ein Ausdruck von F reude sein. Mimischer Ausdruck dient ferner als Indikator fiir die Kommunikationsmodalitat (ernste Miene , Lacheln als Ausdruck von Scherzhaftigkeit oder Ironie etc. ) . Durch das Blickverhalten der Augen wird u . a . verdeutlicht, a n wen A uBe­ rungen gerichtet sind oder wer als nachster Sprecher ausgewahlt wird. Es gibt symbolische Augengesten (die Augen schlieBen: Nachdenken, Konzentration, die Augen verdrehen: negative Bewertung, ungehalten sein) . Der Blick signali­ siert aber auch Befindlichkeiten (zu Boden blicken, jemandem nicht in die Au-

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gen schauen konnen, den Blick abwenden) oder inneres Erleben (wehmiitiger, sehnsiichtiger, wirrer etc. Blick). Der Kopf wird zum einen zeigend verwendet, wenn mit ihm in eine Rich­ tung gewiesen wird, zum anderen werden mit ihm symbolische Gesten ausge­ fiihrt (Kopfschiitteln: Verneinung, Kopfnicken: Bejahung) . Durch die Kopfhal­ tung kann ebenfalls inneres Erleben zum Aus druck gebracht werden (Kopf schief legen: Nachdenklichkeit, Kopf senken: Demut) . Wegen ihrer Beweglichkeit werden die Arme und die Hiinde z u einer Viel­ zahl von Gesten benutzt. Der erhobene Arm kann dabei z.B. als symbolische Geste sowohl "Achtung" oder "H alt" bedeuten wie auch eine Bewerbung um das Rederecht darstellen (melden). Das Fuchteln mit den Armen kann als Aus­ druck von Erregung und Engagement verstanden werden , das Stiitzen des Kopfes mit Han d un d Arm als Zeichen von N achdenklichkeit oder Miidigkeit. Das Verschranken der Arme wird oft als Zeichen von Verschlossenheit, aber auch als entspannte, legere Haltung gedeutet. Der Arm zusammen mit der Han d und den Fingern wird zu Zeigegesten ge­ nutzt. Sie konnen alleine oder kombiniert mit deiktischen Ausdriicken (hier, da, dort) oder Àu.Berungen auftreten. Eine weitere groBe Klasse sind die symboli­ schen Handgesten wie das Handefalten, das F austschiitteln, das Abwinken oder das V(ictory)-Zeichen. Viele Handgesten haben Taktstockfunktion, indem sie das Gesprochene akzentuierend oder gliedernd begleiten, oder stehen im Zu­ sammenhang mit der O bergabe des Rederechts. Auch Manipulationen wahrend des Sprechens (mi t dem Kugelschreiber spielen, am Kopf kratzen, am Bart zup­ fen etc. ) konnen als Ausdruck von Einstellungen und innerem Erleben gedeu­ tet werden und haben dann kommunikative Funktion. Auch mit den Beinen werden symbolische Gesten ausgefiihrt (knien, knick­ sen). Wichtiger aber ist hier das kommunikative Potenziai, das mi t verschiedenen Formen des Stehens (linkisch, selbstbewusst etc.) oder des Ganges (schleichen, stiirmen etc. ) verbunden ist. Auch bestimmte Beinhaltungen beim Sitzen (breit­ beinig, geschlossen, Beine iibergeschlagen etc. ) werden kommunikativ gedeutet. Kommunikativ relevant ist auch die ganzheitliche Korperhaltung. Sie wird als Aus druck von Befindlichkeiten und innerem Erleben gedeutet (erschopft sein, auf der Hut sein, entspannt sitzen) . Die Korperhaltung kann auch als de­ monstrierende Geste eingesetzt werden ( Und wiihrend des Anfalls hat er dann so dagelegen + demonstrierende Korperhaltung) . Bedeutsam ist ferner die Korperkonstellation im Raum (Proxemik) . Rele­ vante Parameter sind hier das Distanzverhalten , die Zuwendung und das Beriihrungsverhalten. Unterschiedliche Distanzen zwischen interagierenden Personen signalisieren den jeweiligen Grad an Vertrautheit und die Art der so­ zialen Beziehung. Zu unterscheiden sin d hier im mitteleuropaischen Kulturraum eine intime Distanz (o-ca. 45 cm: vertrauliche Themen, Trosten etc.), eine per­ sonliche Distanz (ca. 45-120 cm: Gesprache mit personlichen Themen zwischen guten Bekannten), eine soziale Distanz (ca. 120-360 cm: Gesprache mit entfern­ ten Bekannten, professionelle Kommunikation, formelle Anlasse) und eine of­ fentliche Distanz (mehr als 36o cm: formelle Anlasse, Empfange, offentliche Re­ den). Eine Verletzung dieser Distanzzonen fiihrt zu Irritationen und zum Ver­ such, die der sozialen Beziehung entsprechende Distanz wieder herzustellen. Zur

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Korperkonstellation gehort ferner die Zuwendung zwischen den Gesprachs­ partnern. Diese erfolgt mit der Kontaktherstellung bzw. der Eroffnung des Ge­ sprachs. Bevorzugt ist bei Zweipersonengesprachen eine frontale Zuwendung, die die wechselseitige Wahrnehmung aller Formen korperlicher Kommunikati­ on erlaubt. Bei Mehrpersonengesprachen wird eine kreisformige Anordnung der Gesprachspartner angestrebt. Das Miteinandersprechen kann mi t verschiedenen Formen von wechselseitigen Beruhrungen verbunden sein (H ande schutteln, am Arm fassen, Arm um die Schulter legen, umarmen) . Ein spezielles Phanomen der Korperkonstellation ist das Haltungsecho. Da­ bei synchronisieren Gesprachspartner ihre Korperhaltungen bzw. -bewegungen (Kopf zur gleichen Seite neigen, Beine gleichzeitig uberschlagen) bzw. sie be­ wegen sich gegenlaufig (vorbeugen-zuruckweichen). Dies steht in Zusammen­ hang mit inhaltlicher oder beziehungsmaBiger Konvergenz bzw. Divergenz. Bei der korperlichen Kommunikation sind Phanomene, die die verschiede­ nen genannten Korperregionen, die Korperhaltung und die Raumkonstellation betreffen, in spezifischer Weise aufeinander bezogen und wirken zusammen. Die korperliche Kommunikation zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: Sie erfolgt einerseits mittels symbolischer Zeichen, die eine konventionelle Bedeutung haben und die intentional verwendet werden (Augenbrauen hoch­ ziehen, nach oben zeigender Daumen bei geschlossener Hand, Vogel zeigen etc. ) . Die Bedeutung dieser Zeichen ist in gleicher Weise klar und eindeutig, wie es bei Wortzeichen der Fall ist. Andererseits gibt es in der korperlichen Kom­ munikation einen groBen Anteil von Erscheinungen, die den Charakter unwill­ kurlicher Anzeichen (Symptome) haben. Sie bringen etwas zum Ausdruck. Ih­ re Bedeutung ist relativ unscharf, und sie sind zum Teil mehrdeutig und in ihrer Bedeutung stark kontextabhangig. So kann ein Lacheln Ausdruck sowohl von freundlicher Zuwendung wie auch von Geringschatzung sein. Der Zeichenvorrat der korperlichen Kommunikation ist wesentlich geringer als der Wortschatz der Verbalsprache. Zugleich konnen keine vergleichbar kom­ plexen Sachverhalte kommuniziert werden. Auch Metakommunikation ist nicht mogli eh. Zwar kann korperliche Kommunikation in den verschiedenen Bereichen parallel zueinander erfolgen, aber die Verknupfbarkeit der Zeichen zu groBeren Einheiten (Syntax) ist im Vergleich mit der Verbalsprache stark restringiert. Betrachtet man nun den Bereich der verbalen mundlichen Kommunikati­ on, so lassen si eh in ihm lautliche, syntaktische un d lexikalische Besonderheiten der mundlichen Kommunikation benennen. Im lautlichen Bereich ist im Vergleich mit der vollstandigen lautlichen Um­ setzung aUer Grapheme (Explizitlautung) eine Reihe von Abweichungen fest­ zustellen, die sich als Wegfall, Assimilation, Vereinfachung, Verschmelzung und Abschwachung bes chreiben lassen (vgl. Duden. Die Grammatik. 8. Auflage 2009: II97-8). Im syntaktischen Bereich lassen sich folgende Spezifika benennen, die ent­ weder ausschlieBlich, haufiger oder mit anderer Funktion in der gesprochenen Sprache vorkommen: Referenz-Aussage-Strukturen: un �'{ die lehrer die rsa./Sen da alle auch �' um so gro./Sere rtische herum

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Referenz-Aussage-Strukturen bestehen aus einem referierenden Element (die lehrer) und einer Einheit, mit der dann eine Auss age iiber das Referenzob­ jekt gemacht wird. Der Aussageteil enthalt dabei in vielen Fallen ein Element, mit dem auf den Referenzausdruck zuriickverwiesen wird (die). A pokoinukonstruktionen: des is was /urchtbares is des Apokoinukonstruktionen bestehen aus drei unmittelbar aufeinander fol­ genden Teilen, wobei sowohl A-B wie auch B-C, nicht aber A-B-C eine nach schriftsprachlichen Standards syntaktisch wohlgeformte Kette bilden. Das den Konstruktionen gemeinsame Element heillt Koinon (was /urchtbares). Operator-Skopus-Strukturen: kurz und gut- wir konnen uns das ·k rabenteuer nicht leisten Operator-Skopus-Strukturen sind zweigliedrige sprachliche Einheiten, deren einer Bestandteil, der Operator, aus einem kurzen sprachlichen Ausdruck besteht (kurz und gut) und deren anderer Bestandteil, der Skopus, eine poten­ ziell vollstandige AuBerung darstellt. Der Operator gibt dabei - funktional be­ trachtet - dem Horer eine Verstehensanleitung oder - anweisung, wie der AuBe­ rungsteil in seinen Skopus aufzunehmen ist. Abhangige Verbzweitkonstruktionen: ich weijS du kannst das Vor allem nach den Verben des Sagens und Denkens besteht sowohl im Miindlichen wie im Schriftlichen eine Konstruktionsalternative. Der folgende, syntaktisch abhangige A uBerungsteil kann mit Subjunktion und Verbletztstel­ lung oder aber als Verbzweitkonstruktion ohne Subjunktion realisiert werden (du kannst das) . U rspri.ingliche Subjunktionen (weil, obwoh� wobez� wiihrend) mit Verb­ zweitstellung: modorenliirm den kann ich schon nicht mehr hore weil ich woar rzwanzich jo­ ahr eisenbiejer und hob an der eisenbiejemaschin geschafft>s=war li bissl eng J. < >: obwohl .,� im kaisersaal .,� war=s rnoch enger un d so hihi schlagermusik und=so J. -��:c wobei s- so so manche schlager >: die/in d ich zum teil gar nich so ubel weil des grundstuck hundertprozentig der stadt gehoren wurde da wurd s gar keine schwierigkeiten geben wiihrend hier mussen die grundstucke weijS net wie­ viel grundstuckseigentumer s sind erst eben erworben werden Eine Reihe von Subjunktionen, die schriftsprachlich nur nebensatzeinleitend und entsprechend mit Verbletztstellung verwendet werden konnen, werden in der gesprochenen Sprache zunehmend auch mit Verbzweitstellung verwendet. Verberststell ung: gibt halt uberall solche und solche Im gesprochenen Deutsch ist die Spitzenstellung des Verbs (gibt) unter be­ stimmten Bedingungen auch in der einfachen Aussage moglich. Es weicht da­ mit von der fiir das Schriftliche weitgehend verbindlichen Verbzweitstellung ab . Subjektlose Partizipialkonstruktionen: ich also papiere zusammengeschmissen koffer geschnappt losgesturzt zum ta­ xistand rein und abgedust zum f!ughafen

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Bei der Darstellung von Ereignisabfolgen werden in Erzahlungen haufig subjektlose Partizipialkonstruktionen verwendet, die kettenartig gereiht werden konnen. Sie sind jeweils eigenstandige funktionale Einheiten . Koppl ungskonstruktionen: rich -;: rnix wie weg Eine weitere regulare syntaktische Konstruktion in Erzahlungen sind funk­ tionale Einheiten, bei denen eine Referenz und eine Tatigkeit bzw. Eigenschaft des Referenten ohne Finitum miteinander gekoppelt werden. A ussagekerne: es ging au/ reinmal aus rheiterem himmel los -1- rkeine lu/t mehr gekriegt rsuper herzrasen und und rkopfschmerzen die rohren gingen zu rschwindelig und alles Aussagekerne sind funktionale Einheiten, die aus einer Nominai- oder Ad­ jektivphrase bestehen. Sie sind Resultat einer Kondensierungsstrategie, die in szenischen Schilderungen eingesetzt wird, um pointiert und plakativ Ereignisse oder Sachverhalte einzufuhren. Expansionen: wie rweit ist das ent/ernt -;: von port rdixon A uBerungen konnen, nachdem ein erster moglicher Abschluss- bzw. Ù ber­ gabepunkt erreicht ist und wenn kein anderer Gesprachsbeteiligter an dieser Stelle das Rederecht ubernimmt, vom ursprunglichen Sprecher in verschiede­ ner Form fortgefuhrt werden. Dabei wird eine abgeschlossene syntaktische Struktur durch Hinzufugen von neuen verbalem Materia! (von port dixon) zu ei­ ner groBeren Struktur ausgebaut, die ihrerseits syntaktisch abgeschlossen ist und damit einen neuen, spateren potenziellen Ù bergabepunkt markiert. Dativ-Possessiv-Konstruktionen: dem otto seine operation hat nichts gehol/en Die Dativ-Possessiv-Konstruktion besteht aus einer Konstituente im Dativ, di e den Besitzer bezeichnet (dem otto) , un d einem Possessivpronomen (seine) , das einem Substantiv vorangeht. Dieses Substantiv (operation) bezeichnet das Besessene. Diese Liste, die sich durchaus verlangern lieBe, zeigt, dass auch im " Kern­ bereich " Syntax bemerkenswerte Unterschiede zwischen gesprochener und ge­ schriebener Sprache bestehen (vgl. Duden. Die Grammatik. 8. Auflage 2009 : II98-213 ). Im lexikalischen Bereich sind vor allem die deiktischen Ausdrucke (z.B. ich, hiet; jetzt, morgen) , die Gesprachspartikeln (z.B. he, ja, so, hm, au, huch igitt) und der haufigere Gebrauch von Abtonungspartikeln (z.B. doch mal, eben, schon, wohl) als Besonderheiten zu benennen (vgl. Duden. Die Grammatik. 8. Auflage 2009: 1215-7 u. 590- 599). 8

Bewertung miindlicher Kommunikation Infolge des "written language bias " werden die Verhaltnisse in der geschriebe­ nen Sprache un d ihre Regeln als N ormalfall angesehen. Mit ihnen werden die Phanomene der miindlichen Kommunikation verglichen; sie dienen als MaB­ stab, relativ zu dem dann differente Eigenschaften der gesprochenen Sprache

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konstatiert werden . Diese Differenzen, die sich aus dem Eigencharakter der mi.indlichen Kommunikation ergeben, werden als Abweichungen von den in der geschriebenen Sprache vorgefundenen Verhaltnissen beschrieben und katego­ rial gefasst: z.B. Elision, Verschleifung, Ellipse, groBere Haufigkeit von Anako­ luthen in der gesprochenen Sprache etc. Dari.iber hinaus werden diese Abwei­ chungen haufig nicht nur konstatiert, sondern implizit oder explizit negativ be­ wertet. Die Wahrnehmung und negative Bewertung dieser Abweichungen fi.ihrt dann zu der Auffassung, dass mi.indliche Kommunikation ungeordnet, weniger regelhaft, fehlerhaft oder chaotisch sei: "Die geschriebene Sprache tritt als Zen­ sor der mi.indlichen auf und erteilt ihr das Verdikt, sie sei unrein, unzureichend, negativ zu bewerten " (Ehlich 1986: 77-8). Eine weitergehende Konsequenz ist die Auffassung, dass die defizitare Mi.indlichkeit an das Modell der Schriftlich­ keit angepasst werden muss . Seinen prominentesten Ausdruck findet dieses Programm in der (padagogischen) Maxime " Sprich im ganzen Satz " oder in der Wertschatzung des Wie-gedruckt-Redens. Entgegen solchen Auffassungen muss konstatiert werden, dass mi.indliche Kommunikation (ebenso wie die geschriebene Sprache) auf allen Ebenen wohl­ geordnet ist, dass " order at all points " besteht, wie Sacks (1984: 22) es als for­ schungsleitende Maxime formuliert hat. Mi.indliche Kommunikation und ge­ sprochene Sprache folgen aber zum Teil eigenen und anderen Regeln. Geregelt sind insbesondere die Produktion einzelner A uBerungen (z.B. Formulierungs­ regeln, Regeln fi.ir Korrekturen) , die Abfolge von A uBerungen (z.B. turn taking, konditionelle Relevanz, Muster) sowie Gesprache als Ganzes (z.B. Handlungs­ schemata). Sicherlich bringt die online-Produktion mi.indlicher Kommunikati­ on naturgemaB mehr Fehlbildungen, Versprecher, Abbri.iche und Umplanun­ gen mit sich (vgl. Abschnitt 9), aber schon die Verfahren, mit denen sie korri­ giert werden, sin d wieder in hohem MaB regelhaft (Uhmann 1997) . Vielfach unterliegen die Regeln der mi.indlichen Kommunikation einer brei­ ten situativen Varianz und sind von geringerer Reichweite als die Regeln der ge­ schriebenen Sprache. Diese Varianz und die geringere und weniger offensicht­ liche Normierung mi.indlicher Kommunikation (s. o. Abschnitt 3) tragen einer­ seits ebenfalls zu dem Eindruck bei, dass gesprochene Sprache inkoharent und weniger geordnet sei. Andererseits bedeuten sie, dass der fi.ir die geschriebene Sprache charakteristische BewertungsmaBstab " richtig/falsch " bzw. " gramma­ tisch/ungrammatisch " fi.ir die gesprochene Sprache nicht von gleicher Bedeu­ tung sein kann. Vielmehr gilt es, fi.ir die mi.indliche Kommunikation eigenstan­ dige BewertungsmaBstabe zu entwickeln, die die Funktionalitat und Zwecker­ fi.illung der gesp rochensprachlichen Phanomene in den Vordergrund stellen. Betrachtet man Bewertungen mi.indlicher Kommunikation, so konnen sie sich im Einzelnen beziehen auf die sprachliche und sprecherische Gestaltung der Gesprachsbeitrage (z.B. deutlich sprechen, sich klar und einfach ausdri.icken, ohne iihs sprechen, For­ mulierungen vermeiden wie ich wurde mal sagen, in ganzen Satzen sprechen etc. ) , die Bearbeitung lokaler Gespriichsau/gaben (z.B. jemanden angemessen be­ gri.iBen, einen Witz gut erzahlen, jemandem zuhoren und angemessen auf ihn eingehen etc. ) und

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die Realisierung kommunikativer Praktiken (z.B. ein erfolgreiches Bewer­ bungsgesprach fuhren, eine zielfi.ihrende Wegauskunft geben etc. ) . Es ist deutlich, dass die unterschiedlichsten Aspekte Gegenstand der Be­ wertung sein konnen und dass die vers chiedensten Bewertungskriterien und -ma.Bstabe herangezogen werden konnen (vgl. Fiehler 1998) . Wichtig ist, dass die Normen, die Grundlage fi.ir die Bewertungen sind (z.B. man soli keine iihs ver­ wenden, man soli in ganzen Satzen sprechen, man soli den Gesprachspartner nicht unterbrechen etc. ) , expliziert und damit der Reflexion und ggf. auch der Kritik zuganglich werden. Zu beachten ist auch, dass die Aufgaben auf alien drei Ebenen nicht nur individueli gelost werden, sondern dass sie mehr oder minder gemeinschaftlich und interaktiv bearbeitet werden, sodass gep ruft werden muss, ob eine individuelle Zuschreibung der Bewertungen gerechtfertigt ist. 9 Formulierungsverfahren Abschlie.Bend soli die Geordnetheit mundlicher Kommunikation noch einmal am Beispiel der Formulierungsverfahren dargestelit werden, di e im Prozess der Produktion eines Gesprachsbeitrags zusammenspielen. Der Gesprachsbeitrag wird vom Sprecher, nachdem er das Rederecht i.iber­ nommen hat, auf der Grundlage eines A uBerungsplans (intendierter Beitrag) in einem Formulierungsprozess in zeitlicher Abfolge realisiert. Dieser Formulie­ rungsprozess besteht zum einen in der Versprachlichung kognitiver Inhalte und zum anderen in der Bearbeitung bereits geau.Berten sprachlichen Materials. Da­ bei bedienen sich die Sprecher einer Vielzahl von Formulierungsver/ahren, die in den A u.Berungen Spuren hinterlassen und an diesen Indikatoren erkennbar sind (Gulich l Kotschi 1996) . Im Rahmen der Versprachlichung kognitiver Inhalte spie­ len vor allem drei Gruppen von Formulierungsverfahren eine Rolle: r. Darstellungsverfahren, mit denen der Sprecher das , was er mitteilen will, auf eine bestimmte Weise formuliert; 2. Problembearbeitungsverfahren, mit denen er anzeigt, dass Formulierungs­ probleme bestehen, und mi t denen diese Probleme zugleich bearbeitet werden ; 3· Verfahren der Verstandnissicherung, die der Absicherung des Mitgeteilten dienen. L Darstellungsverfahren: Die Darsteliungsverfahren betreffen unterschied­ lichste Phanomene wie die Wahl einer aktivischen oder passivischen Darsteliung, die Wahl bestimmter syntaktischer Konstruktionen (z.B. Referenz-Aussage-Struk­ turen statt der klassischen Satzform), die Wortwahl und die Wortsteliung, den De­ taillierungsgrad der Darsteliung und vieles mehr. Der Prozess des Formulierens kann unterbrochen werden, um eine zweite Formulierungslinie zu eroffnen, die die begonnene Konstruktion der ersten nicht fortsetzt, sondern etwas anderes ver­ sprachlicht. N ach Beendigung dieser A u.Berungseinheit wird die unterbrochene Konstruktion fortgefi.ihrt. Hierbei handelt es sich um Einschube (Parenthesen) . Einschi.ibe haben sehr haufig eine metakommunikative Funktion. Die betreffen­ den Phanomene werden im Folgenden durch Unterstreichungen verdeutlicht. wir mussen- .;, -:mm das schon mal anzukundigenf-- .;, die mulltonnen noch rausstellen

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Problembearbeitungsver/ahren: Die Anforderungen des Formulierungspro­ zesses konnen auch dazu fuhren, dass der Sprecher zu Beginn oder im Verlauf seines Beitrags nicht in der Lage ist, die ersten Elemente seiner A uBerung zu for­ mulieren bzw. seine A uBerung fortzusetzen. Solche Formulierungsprobleme fuhren zu Formulierungspausen, in denen der Sprecher schweigt oder die er mit Haltesignalen wie à'h oder à'hm fullen kann . Formulierungsprobleme konnen auch durch Dehnungen oder durch Wortwiederholungen (Repetitionen) iiber­ briickt werden .

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also aber der westen hat diese- ,.;, diese ah: diese a'n gste=ja sehr stark durch den kommU 1 nismus gehabt J- nichti ,..,., von- .;, einer- -;, be)zahlung- '* �von eimf- von eim {stundenlohn >�oder sof-< war rnie die rede

Formulierungsprobleme konnen darin bestehen, dass die A u.Berungsplanung noch nicht abgeschlossen ist und deshalb die Darstellungsverfahren nicht ange­ wandt werden konnen oder dass an bestimmten Stellen die folgende Phrase oder das folgende Wort nicht verfiigbar ist. Solche Wortsuchprozesse (Ivanyi 1998) konnen durch Elemente wie na oder durch Einschiibe wie sag schon oder wie heiflt das doch gleich angezeigt werden. ja ich habe mir ah sagen lassen- .� dass dhm: ;,l na wie war das ietzt J- .�.� dass man die1 mie­ 1 te- ·:: ah �dass ma n den mietvertrag kundigen muss bevor man die miete erho:htf-

Durch Indikatoren wie oder so, so in etwa, wenn man so will wird angezeigt, dass zwar ein Wort, aber nicht das treffende gefunden wurde. Zu den Formulie­ rungsproblemen gehoren auch Fehlartikulationen und Versprecher, bei denen der Sprecher das betreffende Wort nicht voll trifft bzw. er sich verspricht. denn wenn siejetz von der guteverhandlung vollig unbe{riert ah friedigt rausgehn

Die komplexen Anforderungen, die die Versprachlichung an den Sprecher stellt, konnen dazu fuhren, dass im Prozess des Formulierens Projektionen nicht erfiillt und begonnene syntaktische Konstruktionen nicht oder anders zu Ende gefuhrt werden. Dies fuhrt zum einen zu Formulierungsabbriichen, die in der gesprochenen Sprache - sowohl sprecherbedingt wie auch horerbedingt (z.B. nach Einwiirfen oder Versuchen einer vorzeitigen Obemahme des Rederechts) - haufig sind. Zum anderen konnen die Anforderungen der Versprachlichung Konstruktionsbruche oder Konstruktionsmischungen (auch Anakoluthe genannt) zur Folge haben. also der is rdumm ein/ach auch der rblickts ein/ach nicht rdurch nei und dass da wir im augenblick eine grofSe wandlung sich vollzieht

Eine haufige Form des Konstruktionsbruchs besteht darin, dass im Prozess des Formulierens von einer erforderlichen Verbletzt- zu einer Verbzweitkonstruktion ubergegangen wird:

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wenn ich demagogisch wiire wiirde ich sagen dass dieser entwur/ wenn er so durch kéime wiirde im interesse der Arbeitgeber liegen wenn so ein fall an sie herangetragen wird und er lcisst sich nicht durch ein gespriich mit dem arzt aus der welt scha//en dann schalten sie die vertragsabteilung ein

Das Ende von Formulierungs- bzw. Versprachlichungsproblemen kann da­ durch angezeigt werden, dass an Elemente vor der problematischen Sequenz an­ gekni.ipft bzw. dort begonnene Konstruktionen wieder aufgenommen werden. Formulierungsprobleme der beschriebenen Art bei der Versprachlichung kognitiver Inhalte sind in der miindlichen Verstandigung, die ohne Verzogerung immer im direkten Vollzug erfolgt, unvermeidbar und norma!, und sie werden durch die Existenz der entsprechenden Signalisierungsverfahren und Indikato­ ren hinreichend kompensiert. III. Ver/ahren der Verstiindnissicherung: Der Direktvollzug und die Fliichtig­ keit gesprochener Sp rache machen auch besondere Vorkehrungen der Ver­ standnissicherung erforderlich. Zur Verstandnissicherung gehoren alle kommu­ nikativen Verfahren, mit denen der Sprecher die Struktur von Beitragen fiir den Horer verdeutlicht. So signalisieren Start- , End- und Gliederungssignale den Beginn, das Ende und die interne Strukturierung von Beitragen. Diese Signale konnen verbaler, intonatorischer oder korperlicher Art sein. Auch vorgreifende Verdeutlichungen wie z.B. Ankiindigungen, Abschlus­ saktivitaten wie Zusammenfassungen oder klammerstiftende Wiederaufnahmen von Formulierungen verdeutlichen die Struktur von Beitragen und Gesprachs­ sequenzen. Beginn einer Erzahlung: der gip/el war ietzt noch bevor ich abgereist bin -;( da war ieh in Quito noch ne i musste mein e abrechnung machen [ . . . ] 5:30 min spater, Ende der Erzahlung: ist doch wohl der gipfel ne * und so ist die (stimmung irgendwie J, Generell dienen viele Formen der Metakommunikation der Verstandnissi­ cherung, z.B. wenn verbal explizit der Bezugspunkt von Beitragen benannt wird nochmal zu dem was du vorhin gesagt hast oder wenn Relationen zwischen A u.Berungen metakommunikativ expliziert werden (um es noch einmal deutli­ cherlpriiziserlallgemeinerlaus/uhrlicher zu sagen,· vorablnebenbei gesagt) . Der Verstandnissicherung dienen ferner alle Formen von Explizitheit und Re­ dundanz (wie z.B. Paraphrasen oder Reformulierungen). Neben den Verfahren der Versprachlichung stehen die Ver/ahren der Bear­ beitung von bereits geau.Bertem verbalen Materia!. Was einmal geau.Bert ist, kann nicht zuriickgenommen, sondern nur nachtraglich bearbeitet werden. Be­ arbeitungen haben eine dreigliedrige Struktur: Sie bestehen aus einem Bezugs­ ausdruck, einem Bearbeitungsindikator und einem Bearbeitungsausdruck. ich konnte ihn sachlich berichtigen aber ich brà'uchte ihn nichl -�: ehm briiuchte keine personlz'chen stellungnahmen abzugeben

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Bezugsausdruck Bearbeitungsindikator

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Bearbeitungen lassen sich in p rimar korrektive und p rimar weiterfuhrende unter­ teilen. Bei den korrektiven Bearbeitungen wird ein Ausdruck oder eine Formulie­ rung vom Sprecher selbst (Selbstkorrektur) oder vom Horer (Fremdkorrektur) als falsch oder unpassend empfunden. Dies ha t haufig den Abbruch der begonnenen Formulierung zur Folge, was in der Regel zu einer Pause fuhrt. N ach der Au�e­ rung eines Korrekturindikators wird dann ein Korrekturausdruck formuliert, der beim Horer mental an die Stelle des Bezugsausdrucks treten soli. n un der mietpreis -:, lih -:, nicht nur unwesentlich sondern entscheidend geà'ndert hà'tte l entscheidend geà'ndert hà'ttel '�-* gelli ja ,� also wenn sie eben nur wegen des heizols oder wegen dem heizol da irgendwelche- à'h ·k bedenken rhaben

Korrekturen lassen sich in Ausdrucks-, Formulierungs- und Inhaltskorrekturen unterscheiden. Werden z.B. Versprecher korrigiert, handelt es sich um Aus­ druckskorrekturen. Zu den weiter/uhrenden Bearbeitungen gehoren Formulierungsverfahren wie Paraphrasen, Reformulierungen, Reduktionen und Expansionen. Bei den Paraphrasen sind Bezugsausdruck und Bearbeitungsausdruck weit­ gehend bedeutungsgleich. Im Grenzfall sind es wortliche Wiederholungen (Re­ petitionen) . Paraphrasen erfiillen kommunikativ sehr unterschiedliche Funktio­ nen. Haufig dienen sie der Verstandnissicherung oder Intensivierung. das war sein vierter un/al! in diesem jahr- ,� rvier run/à'lle l

Auch bei Re/ormulierungen besteht zwischen Bezugsausdruck und Bearbeitungs­ ausdruck gro�e Ahnlichkeit. Es gibt aber in lexikalischer und syntaktischer Hin­ sicht Abweichungen, die eine Aspektualisierung des Bezugsausdrucks bewirken. das ist aufgrund der bestimmungen des biirgerlichen gesetzbuchesmoglz'ch

-.�

nicht statthaft nicht

blofl /ragt sich das natiirlich ob die frau sievers damit reinverstanden ist ob sie das rwill nich i

Bei Reduktionen ist der Bearbeitungsausdruck gegeniiber dem Bezugsausdruck weniger umfangreich. Reduktionen leisten haufig eine Zusammenfassung oder bringen etwas auf den Begriff. im san remo gibt es das beste tiramisu weit und breit- -;, traumhaftl

Bei Expansionen wird der Bezugsaus druck durch den Bearbeitungsaus druck quantitativ erweitert. Diese Erweiterung kann vielfaltige Funktionen erfiillen, wie z.B. die der Spezifizierung, Verdeutlichung, Steigerung, Verallgemeinerung oder Exemplifizierung. wie grQjj_ isch denn die wohnung quadratmeterméi8ig etwa (Spezifizierung) er /uhlte sich nicht wohz -:' im klartext er hatte wieder mal gesoffen (Verdeutlichung)

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er war ein held ·k mehr noch * ein vorbild fiir die ganze nation (Steigerung) dass der paragraph sowieso i ·k - ''< die rhohe '� der zu leistenden mietzahlung- -;, eben ab wirkung vom soundsovielten geiindert wird.j, -;, dass also in ihrem falle nicht mehr hun­ dert mark miete gezahlt werden sondern hundertzwanzig ne i (Exemplifizierung)

Ein weiteres Beispiel fur spezifizierende Expansionen sin d Kumulationen. Bei diesem F o rmulie rungsverfah ren wird zunachst ein Formulie rungskern geauBert, der dann in einem zweiten Zug, der die gleiche Handlungsfunktion erfi.illt, ausgefi.ihrt wird: nein -;, das mach ich nicht bitte * grei/ doch zu.

Kumulationen bestehen mindestens aus zwei Einheiten, die beide auch alleine hinreichend sind zur Erfiillung der betreffenden Handlungsfunktion (Ableh­ nung bzw. Erlaubnis ) . Sie wird jedoch mit der zweiten Einheit expliziter for­ muliert, womit zugleich eine Intensivierung erreicht wird. Neben diesen Formulierungsverfahren, die die konkrete Ausformung von Beitragen bestimmen, sin d fur die miindliche Kommunikation eine Reihe von For­ mulierungstendenzen charakteristisch. Zu diesen Tendenzen, die die verschiede­ nen Gesprachsformen unterschiedlich stark betreffen, gehoren eine groBere For­ melha/tigkeit des Formulierens, eine starkere Bildlichkeit des Sprechens sowie ein hoherer Anteil an Bewertungen un d Intensivierungen. Die Formelhaftigkeit ist u.a. Resultat der Verwendung von Phraseologismen wie Routineformeln (Wie geht's ?,· Hiermit ero//ne ich die Verhandlung) , idiomatischen Wendungen ( Verrenk dir nicht den Hals,· !eh bin gut drau/), Redewendungen (Br hat wieder mal den Bock zum Gartner gemacht) und Gemeinplatzen (fa so sind sie eben . . . Was sol! man da machen ?). Beispiele fiir Bildlichkeit sind: Das hangt mir zum Hals raus/ Es hat mich glatt aus den Schuhen gehauen,· Sie hat ihm wieder ein Ohr abgeschwatzt. Deutliche Bewertungen bzw. Intensivierungen leisten z.B. die folgenden Formulierungen: Ein vollig irrer Typ. Das Essen war vom Aller/einsten,· Das war der Hammer. IO

Schluss Mi.indliche Kommunikation wie auch die Verstandigung mittels schriftlicher Texte sin d Verstandigungssysteme je eigenen Rechts. Auch wenn es zwischen ih­ nen vielfaltige Beziehungen, Wechselwirkungen und O bergange gibt, stellen beide eigenstandige wissenschaftliche Untersuchungsgegenstande dar, die je­ weils spezifische Methoden erfordern. Die wissenschaftliche Untersuchung mi.indlicher Kommunikation ist jedoch durch eine Reihe von F aktoren in be­ sonderer Weise erschwert und eingeschrankt. Zum einen behindert die schrift­ sprachliche Pragung des gesellschaftlichen Sprachbewusstseins die Erkenntnis der Eigenstandigkeit mi.indlicher Kommunikation und gesprochener Sprache. In einem noch verstarkten MaB gilt dies auch fiir die Sprachwissenschaft, so-

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wohl in Hinblick auf die Konzeptualisierung ihres Untersuchungsgegenstandes " Sprache" wie auch in Hinblick auf die von ihr entwickelten Analyse- und Be­ schreibungskategorien. Zum anderen macht die Fhichtigkeit mi.indliche Kom­ munikation zu einem besonders schwierigen und aufwendigen Untersuchungs­ gegenstand. Erst technische Gerate, die eine Reproduktion mi.indlicher Kom­ munikation erlauben, und Transkriptionssysteme, mit denen gesprochene Spra­ che verschriftlicht wird, konstituieren einen Gegenstand, der der wissenschaft­ lichen Analyse i.iberhaupt zuganglich ist. Damit die genannten Einschrankun­ gen i.iberwunden oder relativiert werden konnen, bedarf die wissenschaftliche Untersuchung mi.indlicher Kommunikation einer besonderen Forderung. Transkriptionskonventionen Partiturklammer, die zusammengehorende Sprecherzeilen markiert A: Sprecherkennung simultane (Teile von) A uBerungen stehen i.ibereinander; [A: ja laber [B: lnein nie lmals Beginn und Ende der O berlappung sind in den jeweiligen Textzeilen markiert + unmittelbarer Anschluss/Anklebung bei Sprecherwechsel kurze Pause (bis max. 0,5 Sekunden) etwas langere Pause (bis max. r Sekunde) langere Pause mit Angabe der Dauer in Sekunden Verschleifung (Elision) eines oder mehrerer Laute zwischen Wortern (z.B. sa=mer fi.ir sagen wir) Wortabbruch l unverstandliche Sequenz (drei Punkte = Silbe) (. . . . . . ) vermuteter Wortlaut (war) i steigende Intonation (z.B. kommst du miti ) j, fallende Intonation (z.B. jetzt stimmt es t ) schwebende Intonation (z.B. ich sehe hier-) auffillige Betonung (z.B. aber 'gern) auffillige Dehnung (z.B. ich war so: /ertig) �immer ich� langsamer (relativ zum Kontext) Literatur BACHMANN-STEIN A. l STEIN s. (Hgg.) (2009) : Media/e Varietiiten. Gesprochene und ge­ schriebene Sprache und ihre/remdsprachendidaktischen Potenziale, Landau ( Beitra­ ge zur Fremdsprachenvermittlung, Sonderheft rs) . BEHAGHEL o. (1899) : Geschriebenes Deutsch und gesprochenes Deutsch. In: O. Behaghel (1967) : Von deutscher Sprache. Au/siitze, Vortriige und Plaudereien, Wiesbaden, II-34· DUDEN. DIE GRAMMATIK. 8. Auflage 2009, Mannheim . EHLICH K. (1986) : Der Normversto/5 im Regelwerk. Ober den Solozismus. In: Zeitschrz/t /ur Literaturwissenscha/t und Linguistzk 62, 74-91. EHLICH K. l REHBEIN J. (1979): Sprachliche Handlungsmuster. In: H.-G. Soeffuer (Hg. ) : In­ terpretative Ver/ahren in den Sazia!- und Textwissenscha/ten, Stuttgart, 243-74. =

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Susanne Giinthner

Syntax d es gesprochenen Deutsch

1

Da zeigt denn schon ein fliichtiger Blick, dass zwischen den Voraussetzungen fiir das geschriebene Wort und denen fur das gesprochene Wort tiefgreifende Unterschiede bestehen. Das eine hat auf das Auge zu wirken, das andere auf das Ohr; und so sind schon die Mittel andere, i.iber die beide gebieten . (Behaghel r899lr927: 13)

I

Einleitung: Die gesprochene Sprache - das Stiefkind der Linguistik? Obwohl der miindliche Gebrauch von Sprache - und damit Sprache in der face-to-face Kommunikation - der grundlegende ist und gesprochene Sp rache alle anderen Formen cles Sprachgebrauchs bei weitem iibertrifft, haben sich Grammatikanalysen bislang meist an der Schriftsprache orientiert (sei es anhand von konstruierten, an schriftsprachlichen N ormen angelehnten Beispielsatzen oder von Satzen, die geschriebenen Texten entstammen) 2 • Nur wenige Gram­ matiken - wie die IDS-Grammatik (Zifonun et al. 1997), die neuesten Ausgaben der D uden Grammatik ( 200 5 , 2009 ) sowie die Textgramm atik Weinrichs (r993/2oo7) - haben mittlerweile damit begonnen, Beschreibungen der gespro­ chenen Sprache in ihre Darstellung zur Grammatik cles Deutschen mit aufzu­ nehmen 3• Dieser Schritt ist insofern bedeutsam, als hierbei die 'Grammatik d es Deutschen' nicht langer auf die 'Grammatik normierter Schriftsprache' redu­ ziert wird. Eine systematische Beschreibung grammatischer Konstruktionen cles gesprochenen Deutsch steht jedoch noch aus . Bis heute gilt die geschriebene Sprache - in Form einer normativ regulier­ ten Variante der Schriftsprache - als der MaBstab fiir die Wohlgeformtheit ge1. Lars Wegner und Bettina Hoffmann danke ich fiir Kommentare zu einer friiheren Version des Beitrags. 2. Wie Ehlich (20o6: 12) ausfiihrt: "In dem Wort 'Grammatik', bezogen auf gesprochene Spra­ che, steckt nun jenes oben benannte grundlegende Paradox, denn 'gnimma' ist 'das einzelne Ge­ sch riebene' . Die grammatische Technik ist eine zutiefst un d von Anfang an auf das Gesch riebene bezogene Herangehensweise an das Phanomen Sprache. Dies machen wir uns haufig nicht klar; aber es wirkt sich zum Beispiel massiv in den Schwierigkeiten aus, iiberhaupt zu einer 'G rammatik der gesprochenen Sprache' zu kommen: Eine auf das Geschriebene zugeschnittene Technik soli auf das Gesprochene - was nun? angewendet werden? In unserem taglichen linguistischen Geschaft sind wir bei dem Versuch, eine Grammatik der gesprochenen Sprache zu schreiben, auf Schritt un d Tritt mi t dieser Paradoxie konfrontiert" . 3 . Hierzu auch Fiehler (2oo6: 23). Allerdings wird in der Duden Grammatik (2005) die "Ge­ sprochene Sprache" in ein Sonderkapitel (n75-256) - einer Art " Grammatik in der Grammatik" ausgelagert, statt Spezifika gesprochener Sprache gleichberechtigt neben Charakteristika geschrie­ bener Sprache zu stellen. Siehe auch Hennig (2002) zu Versuchen von Grammatiken, Phanomene gesprochener Sprache aufzugreifen .

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109

sprochener Sp rache (Deppermann et al. 2oo6: 5 ) . Wie Agel (2003 : 10) betont, ist die Grammatikforschung in doppeltem Sinne schriftbezogen: Grammatis che Beschreibungen basieren in der Regel auf der Schriftsprache, und Gramma­ tiktheorien (ihre Begrifflichkeiten, Konzepte etc. ) sind im Grunde genommen Theorien geschriebener Satze 4. Betrachtet man die Sprachverwendung in alltaglichen Interaktionen, so ent­ deckt man unschwer Konstruktionen, die von der normativ regulierten Varian­ te der Schriftsprache abweichen 5• Hierzu ein paar Beispiele: r.

II .

III . Iv . v.

vr .

VII .

vr r r . Ix . x.

" die Frau , wo dort steht , ist meine Deutschlehrerin" ; " ich bin gr ad am Pfannkuchen backen" ; "dem sein Hund ist auch nicht schlauer als unserer ! " ; "der tut die immer wieder gieBen ; aber sie brauchen gar nicht so viel Wasser " ; " Fahrst du Schwarzwald ? " - "Nee , ich fahr Allgau" ; "Anton spielt den Prinz " ; " sie macht nicht mit , weil : sie ist total sauer ! " ; " I eh ho l di eh dann gegen 4 ab . Obwohl : das geht j a gar nicht , ich hab j a schon was vor . " ; "Nemo war nicht schlecht ( - ) wobei : er verfahrt natlirlich auch nach den liblichen Hol lywood-Klischees " ; "wenn ich den erwische , ich stell ihn zur Rede ! " .

Einige dieser Konstruktionen sind regional begrenzt, andere nicht; einige re­ prasentieren typische Strukturen der J ugendsprache, andere gelten als regional­ iibergreifende Tendenzen der Syntax des gesprochenen Deutsch, wieder ande­ re werden als typische Anzeichen einer um sich greifenden " Verlotterung der deutschen Sprache " betrachtet 6• Allen Konstruktionen ist gemein, dass sie in alltaglichen Gesprachskontexten zwar verwendet werden, doch als standard­ sprachlich nicht "korrekt" gelten. Die Einschatzung dieser Konstruktionen als " falsch " , bzw. als " schlechtes Deutsch " etc. liegt u.a. daran, dass sie - obwohl sie gesprochensprachliche ÀuBerungen darstellen - an der schriftdeutschen Standardsprache gemessen werden. Wie Ehlich (1986: 77- 8) zu Recht betont: "Die geschriebene Sprache tritt als Zensor der miindlichen auf und erteilt ihr das Verdikt, sie sei unrein, unzureichend, negativ zu bewerten" . 4 · Auch Deutschlernerlnnen bekommen im DaF-Unterricht meist ausschlie3lich Regeln der geschriebenen Standardsprache vermittelt. Dies fiihrt dazu , dass Deutschlernende haufig "Schrift­ deutsch sprechen " , d.h. sie iibertragen die Normen der geschriebenen Sprache auf das gesproche­ ne Deutsch . Besonders prekar ist die Situation dann, wenn bei Deutschlernenden Atillerungen kor­ rigiert werden, die jedoch Muttersprachlerlnnen in der gesprochenen Alltagssprache gehauft und systematisch ven.venden. Giinthner (2oooa) Analyse von Dialogen und Hortexten in Deutsch als Fremdsprache-Lehrwerken verdeutlicht, dass selbst die dort auftretenden "miindlichen Dialoge" Reproduktionen der schriftlichen Standardsprache darstellen - mit kleinen Einsprengsel miindli­ cher Grammatikerscheinungen (wie Modalpartikeln, Verbspitzenstellung etc . ) . Zur Einbindung der Gesprochene Sprache-Forschung in den DAF-Unterricht siehe Giinthner (2oooa, 2005, wwb , 2on ) , Hennig (2002, 2003 ) , Imo (2oo8, 2009) , Richter (2002), Breindl l Thurmair (2003) , Durrell (2oo6) , Fiehler (2007) . 5 · Hierzu auch Giinthner (2005). 6. Hierzu Denkler et al. (wo8).

IlO

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Wie kommt es, dass die gesprochene Sprache, die den urspriinglichen Un­ tersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft darstellt, und die die sowohl in­ dividuell als auch gattungsgeschichtlich grundlegende Form des Vorkommens von Sprache ist, gegeniiber der Schriftsprache abgewertet wird? Worauf ist es zuriickzufiihren, dass die Sprachwissenschaft so lange Zeit ihren zentralen Ge­ genstand - den tatsachlichen Gebrauch von Sprache in der alltaglichen Inter­ aktion - ignoriert un d sich stattdessen einer normierten Form der Schriftspra­ che zugewandt hat? Wie u.a. Auer (1993 ) , Schwitalla (1997/2oo6) , Giinthner (2oooa, 2ooob, 2002, 2005, 201oa, 201ob, 2on) , Fiehler et al. (2004) , Fiehler (2005, 2oo6, 2007, 2008), Deppermann et al. (2oo6) sowie Imo (2oo8, 2009) aufzeigen, haben verschiedene Aspekte zum "written language bias " (Linell 1998) in der Sprachwissenschaft beigetragen, der sowohl den Untersuchungsgegenstand als auch die Analysekategorien von Sprache betrifft: Die Fluchtigkeit gesprochener Sprache: Die Tatsache, dass gesprochene Spra­ che fliichtig ist und man sie - zur Analyse - erst dauerhaft "vertexten" muss, birgt erhebliche methodis che Probleme. Gesprochene Sp rache muss auf Da­ tentragern festgehalten und anhand von detailgetreuen Transkriptionen fixiert werden, bevor man sie wissenschaftlich untersuchen kann. Die Heterogenitiit gesprochener Sprache: Gesprochene Sprache ist vielfalti­ ger und heterogener als geschriebene Sprache, welche " bereinigt" von regiona­ len, dialektalen, sozialen Erscheinungen auftritt. Die Normiertheit der Schrift­ sprache erleichtert einerseits ihre Analyse; zum anderen fiihrt sie dazu, dass Pha­ nomene gesprochener Sprache als " abweichend" , " ungrammatisch " bzw. " mar­ kiert" abgewertet werden 7 . Das hoh ere Ansehen der Schrz/tsprache: Die geschriebene Sprache gilt als ge­ sellschaftlich wertvoller und hat ein hoheres Ansehen als die gesprochene Spra­ che. Geschriebene Sprache ist die Sprache der Gesetze, der Zeremonien, der Li­ teratur etc. (und war iiber ]ahrhunderte hinweg nur einer gesellschaftlichen Eli­ te zuganglich) . Die Konzeption von Sprache als einem abstrakten System: Aufgrund der im Strukturalismus vorherrschenden und in der Generativen Grammatik fortge­ setzten Dichotomie von "langue" versus " parole " bzw. " Kompetenz " versus " Performanz " und der damit einhergehenden Konzentration auf die " langue " bzw. die " Kompetenz" beschrankte sich der Forschungsgegenstand der Sprach­ wissenschaft lange Zeit auf di e Re-Konstruktion eines idealisierten, universellen Regelapparates , dessen separate Module aus allen ihren kommunikativen, funk­ tionalen, medialen und soziokulturellen Vernetzungen herausgeschnitten wur­ den. Eine solche Reduzierung der Linguistik auf die Suche nach universalgram­ matischen Strukturen fiihrte zu einer Loslosung linguistischer Untersuchungen von ihrem eigentlichen Gegenstand - der Sprache im tatsachlichen Gebrauch. Diese methodologischen, ideologischen und sozialen Aspekte haben dazu gefiihrt, dass linguistische Reflexionen iiber Sprache lange Zeit primar Reflexio7· Wie Durrell (20o6: m) ausfuhrt, geht man auch beute noch von «der Existenz einer einzi­ gen grundlegenden "korrekten" Form der Sprache aus, und zwar der "Hochsprache" bzw. " Stan­ dardsprache"», von der alle anderen sprachlichen Formen "verdorbene Abarten " reprasentieren.

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I II

nen ii ber die geschriebene Sprache waren, un d " die Grammatik des Deutschen" , wie wir s ie i n grammatischen N achschlagewerken un d auch in linguistischen Ab­ handlungen beschrieben finden, eine " Grammatik des geschriebenen Deutsch" ist. Der Kenntnisstand bzgl. der gesprochenen Sprache, ihrer Formen und Funk­ tionen ist somit erheblich eingeschrankter als das Wissen um normierte Varian­ ten der Schriftsprache. Erst in den letzten 15 bis 20 J ahren - u.a. ausgelost durch die Entdeckung des Alltags in den Sozialwissenschaften , der " pragmatischen Wende" in der Sprachwissenschaft sowie der dami t einhergehenden Zuwendung zur "parole " und zur " Sprache im Gebrauch " und nicht zuletzt aufgrund des mittlerweile unproblematischen Zugangs zu Aufzeichnungsgeraten - ha t die Lin­ guistik damit begonnen, sich systematischer grammatischen Strukturen in ihrem urspriinglichen Lebensraum - der miindlichen face-to-face Interaktion - zu wid­ men (u. a. Ehlich 1991; Auer 1993; Schwitalla 1997/2oo6; Selting l Couper-Kuhlen 2ooo; Giinthner 2oooa, 2ooob, 2002, 2005, 2oo8, 2oroa, 2orob, 2on; Fiehler et al. 2004; Deppermann et al. 2oo6; Imo 2oo8, 2009). Dabei zeigte si eh rasch, dass an der Schriftsprache entwickelte Kategorien, Methoden und theoretische Modelle nicht ohne Weiteres auf die gesprochene Sprache iibertragbar sind: Hand in Hand mit der Besinnung auf das 'nati.irliche Zuhause gesprochener Sprache' (Goffman) geht die Infragestellung und Problematisierung (schrift)grammatischer Be­ schreibungskategorien, die gerade die zentralen Eigenschaften gesprochener Sprache haufig nur im Sinne eines Defizites an Ordnung und Struktur in den Blick kommen las­ sen (Hausendorf 2oor: 975).

Die Zuwendung zur gesprochenen Sprache fiihrte folglich zu einer weitreichen­ den methodis chen und theoretischen Neuorientierung in der Sprachwissen­ schaft 8: Linguistlnnen begannen, si eh der datengestiitzten Rekonstruktion von Formen und Verwendungen sprachlicher Phanomene in ihrer alltaglichen Ver­ wendung zuzuwenden. Anhand empirischer Korpora wurde damit begonnen, grammatische Strukturen konsequent als Ressourcen sozialer Interaktion zu ver­ stehen. Dabei zeigte sich rasch, dass die gesprochene Sprache nicht etwa chao­ tisch, unstrukturiert und individuell ist (wie aus generativistischer Perspektive be­ hauptet) , sondern einer eigenstandigen Strukturanalyse zuganglich ist. Ihre Re­ gelhaftigkeiten erweisen sich als eng verwoben mit spezifischen Diskurs- un d Kog­ nitionsfaktoren wie der interaktiven Organisation von A uBerungen, dem Spre­ cherwechsel, dem Bewusstseinszustand von Sprecherln und Horerln, der Ge­ dachtnisleistung, der betreffenden sprachlichen Handlung und Gattung etc. 9. Leitfragen, die die Erforschung des gesprochenen Deutsch in alltaglichen Interaktionen begleiten, sind u.a. 10: 8 . Levinson (2ooo: 320) fiihrt in diesem Zusammenhang aus: «Der Ùbergang von der Satzfor­ schung zur Gesprachsforschung ist wie der Ùbergang von der Physik zur Biologie - man braucht vollig andere Analyseverfahren und -methoden, auch wenn Gesprache (teilweise) aus Einheiten be­ stehen, die Satzen in gewisser Weise direkt entsprechen». 9· Siehe u . a . die Arbeiten von Auer ( 1993, 1997, 2oo 6 ) , Schlobinski ( 1 9 9 7 ) , Schwitalla (1997hoo6), Fiehler et al. (2004), Deppermann et al. (20o6), Giinthner l Imo (20o6), Fiehler (20o8) . I O . Hierzu auch Deppermann et al. (2006), Fiehler (2oo6) sowie Giinthner (2ooob) .

II2

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Auf welche Weise bedingen kognitive und interaktionale Faktoren den mi.indlichen Sprachgebrauch ? Mittels welcher Kategorien und Begrifflichkeiten lassen sich Phanomene gesprochener Sprache sinnvoll beschreiben? Welche Konsequenzen haben Besonderheiten mi.indlicher Sprachprodukti­ on und -rezeption fi.ir die Grammatik und Strukturbildung des gesprochenen Deutsch? Welche Grammatikmodelle und Theorieansatze sind zur Beschreibung ge­ sprochener Sprache geeignet? Welche grammatischen Strukturen bzw. syntaktischen Konstruktionen sind typisch fi.ir das gesprochene Deutsch? Wie ist der Zusammenhang zwischen grammatischen Konstruktionen des gesprochenen Deutsch und den spezifischen kommunikativen Zwecken, zu de­ nen diese eingesetzt werden ? Wie interagieren sprachliche Strukturen und grammatische Phanomene mit den jeweiligen Textsorten und Gattungen, in denen sie auftreten und die sie mit konstituieren? Wie interagieren unterschiedliche sprachliche Ebenen im tatsachlichen Ge­ brauch (wie ist beispielsweise das Verhaltnis von prosodischen und syntakti­ schen Verfahren bei der Konstruktion kommunikativer Aktivitaten) ? I m Folgenden sollen anhand der exemplarischen Diskussion von drei aus­ gewahlten Aspekten - weil-Konstruktionen, Infinitkonstruktionen und Adjek­ tiv+dass-Satz-Konstruktionen - typische Phanomene der Syntax des gesproche­ nen Deutsch skizziert werden. 2

wei/-Konstruktionen n Zunachst werde ich ein Phanomen, das als typisch fi.ir die Syntax des gespro­ chenen Deutsch gilt und von Sprachpflegern immer wieder als Paradebeispiel fi.ir den angeblichen Verfall der deutschen Sprache zitiert wird 1\ naher be­ leuchten: weil-Satze mit Hauptsatzstellung. Im gesprochenen Deutsch treten gehauft weil-Konstruktionen auf, bei de­ nen der weil-Teilsatz nicht etwa die fi.ir deutsche Nebensatze obligatorische Verb­ endstellung aufweist, sondern das finite Verb an zweiter Stelle steht und damit " Hauptsatzstellung" zeigt: VI I .

sie macht nicht mit , weil : sie ist total sauer !

Angesichts solcher A u.Berungen, denen man in Alltagsinteraktionen immer wie­ der begegnet, werden Fragen nach dem Grund fi.ir die Verwendung dieser n . Dieses Unterkapitel orientiert sich an Gi.inthner ( 1993, 2oooa, 2oo8) sowie Gohl l Gi.inthner (1999 ) . 1 2 . So fi.ihrt Sick (2005: 1 5 7 ) i n diesem Zusammenhang aus: «Einer der groEten "Hits" , den die Umgangssprache je hervorgebracht hat, ist die Abschaffung cles Nebensatzes hinter Bindewortern wie "weil" un d "obwohl" . Eine grammatische Revolution - oder bloE grober Unfug?».

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II3

scheinbar "ungrammatischen " Satzstellung aufgeworfen : Wird die Nebensatz­ stellung im Deutschen tatsachlich zuriickgedrangt? Oder verwenden Sprecherln­ nen weil mit Verbzweitstellung einfach aus Faulheit - " . . . weil es ist leichter" ? Betrachtet man weil- Satze im tatsachlichen Gebrauch, zeigt sich ein etwas komplexeres Bild. Man findet wezl in Alltagsgesprachen sowohl mit Verbend­ als auch mit Verbzweitstellung, gelegentlich verwenden Sprecherlnnen sogar beide Verbstellungsvarianten in einer einzigen Sequenz: KINOABEND 13 2 5 Alma : i eh wlird echt gern HEUT ins kino , 26 we il das mein EINz iger freier Abend is . 27 we il ( - ) zur zeit hab ich ECHT . STRESS .

Weshalb gebrauchen Sprecherlnnen die "ungrammatische" weil-Konstruktion mit Verbzweitstellung selbst dann, wenn sie die grammatisch korrekte mit Ver­ bendstellung beherrschen? Analysen von Daten gesprochener Alltagssprache verdeutlichen, dass Spre­ cherlnnen die beiden weil-Konstruktionen (weil mit Verbend- und weil mit Verbzweitstellung) funktional unterschiedlich einsetzen. Weil als Subjunktion (mit Verbendstellung) wird vor allem dann verwendet, wenn eine enge Anbin­ dung zwischen dem Hauptsatz und der mit weil gelieferten Begriindung mar­ kiert wird: 25 Alma : 26

ich wlird echt gern HEUT ins kino , weil das mein EINz iger freier Abend is .

Im vorliegenden Beispiel ist der weil-Teilsatz dem vorangehenden Matrixsatz syntaktisch und pragmatisch untergeordnet. Im Falle der Verbendstellung kann - wie bei Subjunktionen iiblich - der mi t weil eingeleitete Nebensatz sowohl dem Hauptsatz vorangestellt ("weil das mein EINziger freier Abend is, wiird ich echt gern HEUT ins kino " ) als auch nachgestellt ("ich wiird echt gern HEUT ins ki­ no, weil das mein EINziger freier Abend is " ) sein 14• Im Falle einer Begriindung auf eine warum-Frage verwenden Sprecherlnnen ebenfalls die Verbendstellung: "Warum gerade beute? " "Weil dies mein einziger freier Abend ist " 15. Im Gegensatz zu weil-Konstruktionen mit Verbendstellung ist im Falle der Verwendung von weil mit Verbzweitstellung die Anbindung der beiden Teilsat­ ze weniger eng. Eine solche lockerere Anbindung kann auf unterschiedliche F aktoren zuriickzufiihren sein.

13. Die verwendeten Transkriptionskonventionen orientieren sich an den GAT-Konventionen (hierzu Selting et al. 1998). 14- Im Falle der Verbendstellung kann der weil-Satz sogar in den Hauptsatz eingeschoben wer­ den: "ieh wiird - weil das mein EIN ziger freier Ab end is - echt gern HEUT ins kino " . Dies kommt in den gesprochenen Daten jedoch kaum vor. 15. Zum unterschiedlichen syntaktischen Verhalten von weil mit Verbend- und weil mit Verb­ zweitstellung siehe u.a. Giinthner ( 1993 ) , Wegener (1993 ) , Scheutz (1998) , Uhmann (1998), Selting (!999).

II4

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I. Markierung einer relativen syntaktischen und pragmatischen Unabhiingigkeit des weil-Satzes Sprecherlnnen setzen weil mi t Verbzweitstellung immer wieder ein, um die weil- A uBerung als relativ unabhangig vom vorhergehenden Teilsatz zu gestal­ ten. Diese relative Unabhangigkeit zeigt sich syntaktisch (durch die nicht-inte­ grierte Verbzweitstellung) , prosodisch (durch eine eigene Intonationskontur so­ wie haufig auch durch eine Pause zwischen den beiden Teilsatzen bzw. nach weil) und pragmatisch ( die weil-A uBerung driickt eine eigenstandige Handlung aus ) . Der Inhalt des weil-Satzes ist dann nicht langer als untergeordnet, sondern als mindestens genauso relevant wie die Information im Hauptsatz einzustufen. Die Aussage des weil- Satzes in Zeile 27 " weil (-) zur zeit hab ich ECHT STRESS ", die keine direkte Begriindung fiir den vorausgehenden Teilsatz (Z. 26) liefert, wird als so gewichtig markiert, dass dieser weil-Satz eine eigene unabhangi­ ge syntaktische Gestalt erhalt un d nicht in die vorausgehende Struktur integriert ist:

25 Alma : 26 27

ich wlird echt gern HEUT ins kino , weil das mein EINz iger freier Abend is . we il

(-)

zur zeit hab ich ECHT STRESS .

Die groBere syntaktische Unabhangigkeit von weil mit Verbzweitstellung wird auch daran deutlich, dass dieser A uBerungsteil - wie bei koordinierten Satzver­ bindungen iiblich - stets nachgestellt ist. Er weist nicht nur eine eigene proso­ dische Kontur auf, sondern er kann auch eine vom " Hauptsatz " abweichende Satzart annehmen (wie einen Imperativ- oder einen Fragesatz; vgl. " das find ich okay, weil ( . ) was soll man machen? " ) , eigenstandige Aktivitaten ausfiihren und typische "Hauptsatzphanomene " (wie Linksversetzungen "ich kann nicht kom­ men, weil ( . ) mein Vater, der feiert beute seinen Geburtstag" ) enthalten 16. Ferner findet sich im Falle von weil mit Verbzweitstellung haufig (aber nicht notwendigerweise) eine Pause vor oder nach weil.

Die mit weil eingeleiteten Begrundungen liegen nicht au/ der Inhaltsebene, son­ dern im epistemischen Bereich oder im Bereich der Sprechhandlung Im Falle einer epistemischen weil-Konstruktion begriindet der/die Spre­ cher/in nicht, weshalb der geauBerte Sachverhalt zutrifft, sondern er/sie liefert den Grund, weshalb er/sie zu der betreffenden Schlussfolgerung kommt. Im folgenden Beispiel einer epistemis chen weil-Verkniipfung liefert die weil A uBerung die Wissens- und Erfahrungsgrundlage, die zu der in der vor­ ausgegangenen A uBerung dargelegten Schlussfolgerung fiihrt. Anni stellt die Vermutung an, dass der Mann ihrer N achbarin sicher wieder " gesoffen" hat, da seine Frau "total deprimiert durch die Gegend lauft " :

II.

-

FRUHSTUCK17 12 Anni : der hat s icher wieder gsof fen . ( - ) we il ( - ) s ie lauft total deprimiert 13 16. Hierzu ausfiihrlich Giinthner (1993 ) . 1 7 . Das Beispiel entstammt Giinthner (1993) .

durch die gegend .

SY NTAX D E S GESPROCHENEN DEUTSCH

II5

M it der À uEerung "weil (-) sie Hiuft total deprimiert durch d ie gegend. " signa­ lisiert di e Sprecherin, dass das Deprimiertsein ihrer N achbarin die Grundlage fiir ihre vorausgehende Vermutung ( '' der hat sicher wieder gsoffen " ) darstellt. Weil mit Verbendstellung wiirde eine andere Lesart nahe legen: " der hat sicher wieder gsoffen, weil sie total deprimiert durch die Gegend lauft " . Die Tatsache, dass di e N achbarin deprimiert durch die Gegend Hiuft, ware dann der Grund fiir das Trinken ihres Ehemannes. Wahrend also im Satz mit Verbendstellung ein bestimmter Sachverhalt (" sie lauft total deprimiert durch die Gegend" ) als Grund fiir einen anderen Sachverhalt ( " der ha t wieder gsoffen " ) dargelegt wird, wird im Satz mit Verbzweitstellung die Schlussfolgerung der Sp recherin von ei­ nem Sachverhalt auf einen anderen thematisiert. Im folgenden Beispiel bezieht sich die mit weil eingeleitete Begriindung nicht etwa auf den Sachverhalt der vorausgehenden Aussage, sondern auf die Sprechhandlung selbst, die die Sprecherin soeben ausgefiihrt hat: TELEFON ( HORBELEG ) l Anne : gehst du grad mal ans Telefon . ( - ) 2 we il ( . ) ich kann grad nicht weg .

Mit der weil-ÀuEerung begriindet die Sprecherin ihre vorausgegangene Bitte bzw. Aufforderung. Auch hier liegen zwei verschiedene Sprechhandlungen vor; die beiden Teilsatze konnen folglich auch zwei unterschiedliche Satzformen (z.B. Fragesatz und Aussagesatz) enthalten.

weil als Diskursmarker Der Konnektor weil leitet gelegentlich nicht nur Teilsatze sondern auch groEe­ re Diskurseinheiten - wie Erzahlsequenzen, Redewiedergabepassagen, Begriin­ dungszusammenhange etc. - ein. Weil dient hierbei nicht langer als Kausalsub­ junktion sondem fungiert als "Diskursmarker" rs und iibemimmt Funktionen, die mit der Organisation des Diskurses zu tun haben. Als Diskursmarker leitet weil Zu­ satzinformationen ein, fiihrt eine Erzahlsequenz oder einen thematischen Wechsel ein oder dient als konversationelles Fortsetzungssignal (Gohl l Giinthner 1999). Im folgenden Gesprachsausschnitt berichtet Nina von einer Autopanne:

III.

Autopanne 0 1 Nina : ohh j a des- bei mir wars eigentlich z ieml ich lustig; 02 we il also-

18. Unter "Diskursmarkern " werden gesprachsstrukturierende sprachliche Mittel verstanden, die folgende Eigenschaften aufweisen : Sie gelten als typische Elemente der gesprochenen Sprache, sie treten au�erungsinitial auf, sie sind insofern "optional" ' als die betreffende Au�erung beim Weg­ lassen des Diskursmarkers nicht ungrammatisch ware. Sie sind nur lose mit der syntaktischen Struk­ tur der betreffenden À u�erung verbunden und haben folglich keine eindeutige grammatische Funk­ tion. Dies fi.ihrt dazu , dass si e nur schwer in traditionelle Wortklassen einzuordnen sin d. F erner wer­ den sie neben ihrer Funktion als Diskursmarker noch in ihrer traditionellen Funktion (z.B. als Kon­ junktion) verwendet, Diskursmarker haben eine p rimar pragmatische bzw. metapragmatische Funk­ tion, indem sie die sequentielle Beziehung zwischen der folgenden un d der vorausgehenden Àu�e­ rung bzw. Handlung markieren. Ausfiihrlicher dazu Gohl l Giinthner ( 1999) .

n6 03 04 05 0 6 Iris : 0 7 Nina : 08 09 lO

S U S A N N E G . . NTH ER

ich batte mal ne zeitlang n auto gehabt , und dann ahm:

hatt ich auf der autobahn ne panne ,

und ah s ging echt nichts ;

mhm,

rnehr ne ganze elektrik war kaputt und so , ohh und dann ah , j a halt notrufsaule ne , dann karn halt der ADAC an ,

Nach der Bewertung, dass es bei ihr "lustig" war, fiihrt Nina in Zeile 02 mittels weil eine Erzahlung ein. Weil verkniipft hierbei nicht mehr zwei Teilsatze, die in einer direkten Begriindungs relation zueinander stehen, sondern es fiihrt ein lan­ geres Diskurssegment ein, das sich iiber mehrere Turnkonstruktionseinheiten erstreckt. Die vorliegende Verwendung von weil ist somit nicht langer als kau­ sale Subjunktion (bzw. Konjunktion) zu betrachten. Auch wenn weil-Konstruktionen mit Verbzweitstellung als typische Pha­ nomene der gesprochenen Sprache gelten, so sto.Bt man gelegentlich auch in der geschriebenen Sprache (primar im Kontext sekundarer Miindlichkeit) auf die­ se Konstruktion, wie der folgende Ausschnitt verdeutlicht: 11Mit uns wird es keine Steuererhohungen geben , weil die sind Gift fiir ( Lukas Podolski ; zitiert in der FAZ vorn 3 . 7 . 2 0 0 6 : 37 ) .

die Wirtschaft"

Aufgrund der Zunahme der Verbzweitstellung in weil- Satzen wird immer wie­ der die Frage diskutiert, inwiefern das nebengeordnete weil die Konjunktion denn verdrange. Diese Beobachtung trifft nur teilweise zu , da die Konjunkti­ on denn einem formelleren Sprechstil zuzuordnen ist und eher schriftsprach­ lich verwendet wird. Wie korpuslinguistische Untersuchungen zur Verwen­ dung von denn und weil veranschaulichen , wird denn in der gesprochenen Umgangssprache weniger als Kausalkonjunktion (und wenn, dann vor allem im norddeutschen Sprachraum und in formelleren Kontexten) sondern eher als Modalpartikel verwen det (im Sinne von " kannst du den n Klavie rspie­ len? " ) 19. Dariiber hinaus finden sich kaum Verwendungsweisen von denn als Diskursmarker 20• 3

"lnfinitkonstruktionen" Ein weiteres syntaktisches Muster, das im gesprochenen Deutsch - speziell in Alltagserzahlungen - immer wieder verwendet wird, stellen " Infinitkonstruk­ tionen" (Giinthner 2oo6, 2007, 2009a, 2orob) dar. Auch hier handelt es sich um ein in der gesp rochenen Sp rache konventionalisiertes Muster, das von stan­ dardgrammatischen Regeln abweicht: 19. Siehe hierzu auch Schlobinski (1992), Pasch (1997), Scheutz (1998 ) , Uhmann ( 1998) und Gohl l Gi.inthner (1999). 20. Hierzu detaillierter Gohl l Gi.inthner (1999 ) .

SY NTAX D E S GESPROCHENEN DEUTSCH

II7

RECHNERPROBLEME ( KOLN 2 0 0 8 ) 2 3 Jan : und s ie so ,

24

25 26 [ hihi ] [ hm ] 2 7 Tore : I : CH ( - ) nach HAUse gefA : hrn , 2 8 Jan : un PC repariERT ; 29 ich WILL j a nich , 30 dass ihr studium ruiNIERT is . 31

Die Konstruktion "I:CH (-) na eh HAUse gefA:hm," (z. 28) zeichnet sieh u.a. durch das fehlende Finitum aus. Charakteristisch fiir Infinitkonstruktionen ist ferner, dass sie meist mit einem deiktischen bzw. anaphorischen Element (haufig einem Pro­ nomen der r . Person) beginnen (im vorliegenden Fall: "I:CH"), das zugleich die Rolle des Ereignistragers innehat 21• Nach dieser Proform folgt die Thematisierung einer Handlung (wie "nach HAUse gefA:hrn, " ) , die den Erzahlgang fortsetzt. Infinitkonstruktionen bestehen also aus zwei Angaben, die zu einem impli­ zit gegebenen, sprachlich aber nicht realisierten Finitum in Beziehung gebracht werden konnen. Sie weisen ein spezifisches prosodisches Design mit markiertem Rhythmus auf. Charakteristisch ist ferner die " dichte Akzentuierung " (Uhmann 1996) , d.h. eine hohe Anzahl akzentuierter Silben pro Intonationseinheit, was wiederum zur Emphasemarkierung beitragt (Selting 1994; Sandig 2ooo; Schwi­ talla 1997/2oo6) . Die Mikropause nach der Agens-Nennung erleichtert zugleich das Aufeinandertreffen von akzentuierten Silben (Schwitalla 1997/2oo6: 63 ) . Wie i m vorliegenden Gesprachsausschnitt folgen einer Infinitkonstruktion haufig weitere meist subjektlose Infinitkonstruktionen ( " un PC repariERT " ) . Hierbei handelt e s sich insofern u m " Konstruktionsiibernahmen" , als die nach­ folgende ÀuBerung (z. 29) an das Schema der Vorgangerkonstruktion angebun­ den wird: 28

Jan :

I : CH ( - ) nach HAUse gefA : hrn , un PC repariERT ;

29

Im folgenden Ausschnitt rekonstruiert Tina eine Panikattacke, die sie in einem Restaurant hatte: PANIK-ATTACKEN 3 0 4 Tina : mein mann hat dann j anz schnell ESSen eingepackt , 305

. h WIR ( . ) RAUS an die frische LUFT ,

306

dann war it WEG . ( - ) so

307 308

Jana :

mhm

Auch in der vorliegenden ÀuBerung " .h WIR ( . ) RAUS an die frische LUFT, " werden die beiden Angaben - die Proform "WIR" in Subjektposition und die 21. Hierzu Sandig (2ooo: 310 ff. ) sowie Giinthner (2oo6, 2007b) .

n8

S U S A N N E G . . NTH E R

Prapositionalphrase "RAUS an die frische LUFT, " - ohne Realisierung eines Ver­ bs aneinandergereiht. An der Stelle des (finiten) Verbs erscheint eine Mikropau­ se, die die beiden Angaben voneinander abtrennt. Das prosodische Design - die akzentuierten Silben, die kurzen Intonationsphrasen un d der markierte Rhythmus - kontextualisiert wiederum Emphase und Schnelligkeit: l

an

IRAUS

WIR

die frische

( . )1

LUFT ,

l

Die vorliegende Konstruktion ist aufgrund des ausgesparten Verbs in Kombi­ nation mit den kurzen Intonationsphrasen ein Beispiel grammatischer Ikoni­ zitat: Die Verdichtung des sprachlichen Materials markiert zugleich eine Ver­ dichtung des Handlungsablaufs. Mit der Infinitkonstruktion thematisiert die Sprecherin rasche Bewegungsablaufe, wobei der Ereignistrager als Agens fun­ giert und damit eine aktive Rolle innehat. Die Tatsache, dass in den prasentierten Beispielen die Ereignistrager stets durch Proformen der r . Person Singular bzw. Plural thematisiert werden, liegt darin begri.indet, dass die vorliegenden Konstruktionen in Erzahlungen auftre­ ten, in denen Sprecherlnnen selbsterlebte (meist emotionsbeladene) Ereignisse rekonstruieren Infinitkonstruktionen bestehen also aus zwei Angaben - der N ennung d es Ereignistragers sowie des betreffenden Ereignisses -, die zu einem kontextuell erschlieBbaren, sprachlich a ber nicht realisierten Finitum in Beziehung gebracht werden konnen: 22•

Nennung der handelnden Figur( en)

Nennung des neuen Ereignisses

I : CH ( )

nach HAUse gefA:hrn,

WIR ( )

RAUS

-

.

an

die frische LUFT,

Wie bei weil mit Verbzweitstellung handelt es si eh auch bei der vorliegenden In­ finitkonstruktion um ein syntaktisches Muster, das zwar primar im Kontext ge­ sprochener Sprache auftritt, doch keineswegs darauf begrenzt ist. Gerade in Texten sekundarer Mi.indlichkeit (die entweder Gesprache rekonstruieren oder Mi.indlichkeit kontextualisieren) sowie in der informellen computervermittelten Kommunikation (in Chats, E-Mails, Blogs etc. ) finden sich durchaus auch Infi22. In literarisch konstruierten Alltagserzahlungen finden sich auch Infinitkonstruktionen, die mit einem Pronomen der 3· Person einsetzen. Im folgenden Ausschnitt aus "Abschaum. Die wahre Geschichte von Ertan Ongu n " von Feridun Zaimoglu (1997hoo3 ) , einem Prosatext, der vorgibt, die " Geschichte eines Kanaksters [ . . . ] in der kraftigen Sprache miindlichen Erzahlens" wiederzugeben, kommen durchaus auch Infinitkonstruktionen mit Pronomen der 3· Person vor: "Wir gleich nach Hamburg gefahren,

er das Ding verkauft,

kam mit Stoff wieder und mit Kohle, wir erst mal ne N ase gezogen" (Zaimoglu 1997hoo3: 41; Hervorhebung S . G . ) .

SY NTAX D E S GESPROCHENEN DEUTSCH

II9

nitkonstruktionen, wie das folgende Beispiel aus de m Online-Blog "I eh und meine Mama" (Westfalische Nachrichten, 9.8.2007) veranschaulicht: "Erstrnal in die Apotheke , puh , nicht mal Traubenzucker hatten die . Dann in die Drogerie ( . . . ) und am Schluss noch drei StraBen wei­ ter zur Videothek , den Film vom Vortag abgeben . o j a , Mama l iebt narnlich Filrne ! ! Und rnan glaubt es kaurn , da darf ich dann nicht mal mit rein . Wieso? Keinen Schimmer . I ch also eine kleine Ewigkeit im Auto gehockt und meine Milchflasche leergetrunken , bis s ich Mada­ me endlich bequernt , wieder einzusteigen" 23. ( http : / /www . westfaelische-nachrichten . de/ aktuelles /rnuensterland/ spec ial / ich_und_rnama/ ?ern_cnt=6 0 2 8 4 8 & )

Infinitkonstruktionen, die primar im Kontext von Alltagserzahlungen eingesetzt werden, weichen zwar von den "kerngrammatischen Regeln" (Fries 1987) deut­ scher Satze ab, dennoch handelt es sich um ein konventionalisiertes, ja grammati­ kalisiertes , interaktional vollwertiges syntaktisches Muster, das fiir spezifische kommunikative Aufgaben in bestimmten Gattungen erfolgreich eingesetzt wird: Durch die markierte Auslassung des (finiten) Verbs und die Gegeniiberstellung von Ereignistrager und Handlung wird eine gewisse Unmittelbarkeit kontextua­ lisiert. Dariiber hinaus tragt die spezifische prosodische Gestalt der Konstruktion (kurze, oft dicht akzentuierte, rhythmisch gestaltete Intonationseinheiten) zur Emphasemarkierung und Erhohung der Dramatik bei. Vervollstandigungen im Sinne kanonischer Satze wiirden den stilistischen und funktionalen Wert dieser Konstruktionen und die Kontextualisierung von Dichte und Dynamik zerstoren.

"Adjektiv

+

4 dass-Satz" -Konstruktionen

Eine weitere grammatische Konstruktion, die in gesprochenen, informellen Kon­ texten immer wieder Anwendung findet, ist die "Adjektiv + dass-Satz " -Kon­ struktion (Giinthner 20o9b) vom Typ "schÒ:n dass ihr DA seid. " bzw. "irre dass du dich jetzt grad meldest" 24• Auffallig ist hierbei zunachst einmal, dass ein durch die Subjunktion dass eingeleiteter Komplementsatz einem (pradikativ gebrauch­ ten) Adjektiv folgt. Im Gegensatz zu "Subjektsatzen bei Kopulakonstruktionen " (Zifonun et al. 1997: 1451) wie "es ist schon, dass ihr da seid" oder " es ist irre, dass du dich jetzt grad meldest" ist im Fall der "Adjektiv + dass-Satz " -Konstruktion der "Matrixsatz " auf eine Adjektivphrase (wie "schÒ:n" , "irre" etc.) reduziert. Grammatiken und linguistische Abhandlungen, die diese Konstruktion iiberhaupt erwahnen (Zifonun et al. 1997: 440; Oppenrieder 1991: 261), klassifi­ zieren sie als Ellipse, bei der das Kopulaverb sowie das Korrelat es getilgt sind. Als entsprechende "Vollformen " gelten 25: 23. In dieser schriftsprachlichen Reproduktion wird anstelle der Mikropause, die die beiden Angaben voneinander abgrenzt, die Partikel "also" eingefiigt. 24. Hierzu ausfiihrlicher Giinthner (2009b). 25. Theoretisch moglich waren auch "Vollformen " wie "ich finde es schon/irre, dass . . . " bzw. " schon ist es, dass ih r da seid" bzw. "irre ist es, dass du dich jetzt grad meldest " .

120

S U S A N N E G .. NTH ER

Vorfeld

Infiniter

Nachfeld

Finitum

Mittelfeld

es

ist

schÒ :n

dass ihr DA seid .

es

ist

irre

dass du dich jetzt grad meldest

VK

Betrachtet man jedoch die Verwendung der "Adjektiv + dass-Satz" -Konstruktion in authentischen Gesprachskontexten, so wird ersichtlich, dass sie ein konventio­ nalisiertes, interaktional vollwertiges syntaktisches Muster der gesprochenen Spra­ che darstellt und funktional nicht durch die vermeintliche Vollform ersetzbar ist. Der folgende Auss chnitt entstammt einem universitaren Sprechstundenge­ sprach, in dem die Dozentin (D) der Studentin (S) Vorgaben fi.ir die Fertigstel­ lung einer Hausarbeit macht: SPRECHSTUNDENGESPRACH : Nr . 1 3 26 1 6 8 D : und dann : geb ich Ihnen auch ne harte zeitvorgabe . 169 wieder ne Woche . 170 okay? 171 [ also das wochenende ] geht drauf . 1 7 2 S : Praposition Wenden wir uns den Partizipien zu. Folgende Bildungen haben prapositionale Verwendungen, wobei die Ursprungsform sowohl ein Partizip I als auch ein Par­ tizip II sein kann: Genitiv-Priipositionen mit der Form eines Partizips

Partizip I: wahrend; Partizip II: ungeachtet, unerachtet, unbeschadet, ungerechnet; Dativ-Priipositionen mit der Form eines Partizips

Partizip I: entsprechend; folgend, naheliegend; Partizip II: entgegengesetzt; Akkusativ-Priipositionen mit der Form eines Partizips

Partizip I: betreffend; einschlieBend; Partizip II: inbegriffen, einbegriffen, mitgerechnet, eingeschlossen, ausgenommen; mitgezahlt, eingerechnet, ausgeschlossen, vorausgesetzt;

Es lasst sich feststellen, dass beispielsweise das Partizip I entsprechend viel seltener prapositional verwendet wird als betref/end oder wiihrend bzw. die Partizipien II eingeschlossen und ausgenommen seltener als unbeschadet, ungeachtet und inbe­ gri/fen. Ferner ist zu bedenken, dass einige Bildungen nicht direkt auf ein Verb zuri.ickgehen (so gibt es keinen Infinitiv *unachten oder �':inbegrei/en) . Diese Bil­ dungen haben somit einen hoheren prapositionalen Grammatikalisierungsgrad. 2. 1.4. Substantiv > Praposition Betrachten wir schlie.Blich die Wortklasse der Substantive. Folgende Bildungen konnen prapositional verwendet werden 5: 5.

Es werden nur diejenigen Bildungen angefiihrt, die (auch) in Kleinschreibung belegt sind.

PRAPOSITIO N E N IN DER DEU TSCHEN GEGEN WARTSSPRACHE

219

Genitiv-Priipositionen mit der Form eines Substantivs

zeit, kraft, statt, laut; richtung, hohe, nahe, anfang, ende, mitte, punkt; angesichts, betreffs, namens, anfangs, eingangs, ausgangs, mangels, mittels, zwecks, be­ hufs, anbetrachts; auftrags, anblicks; seitens, vermittels; vermoge; wegen; Dativ-Priipositionen mit der Form eines Substantivs

trotz, dank;

Was die Frequenz betrifft, so werden tendenziell die Bildungen ohne die En­ dung -s (z.B. zeit, nà'he, ende, hohe, punkt, kra/t, !aut, richtung) seltener prapo­ sitional verwendet im Vergleich zu Bildungen mit -s (z.B. angesichts, betre//s, mittels, mangels, zwecks). Auch hier entsprechen einige Bildungen nicht (mehr) substantivischen For­ men (seitens, vermittels, vermoge) und sind somit starker grammatikalisiert. Den hochsten Grad der Grammatikalisierung weisen Bildungen auf, die nur noch diachron - aber nicht mehr synchron - auf ein Substantiv zuriickgefiihrt wer­ den konnen (wegen). 2.2.

D e r Grammatikalisierungspfad: syntaktische Struktur > Praposition

Generell konnen syntaktische Strukturen derart zusammenwachsen, dass sie zu einem grammatischen Funktionswort verschmelzen. So ist eine Anzahl von se­ kundaren Prapositionen aus einer syntaktischen Struktur entstanden. 2.2.1.

Prapositionalphrase > Praposition

Fast immer ist die syntaktische U rsprungsstruktur eine Prapositionalphrase. Die PPs verhalten sich wie eine Praposition und werden auch zusammengeschrieben (manche Bildungen stets , manche nur okkasionell) 6: Genitiv-Priipositionen mit der Form einer Priip ositionalphrase

anhand, anstelle, aufgrund, infolge, mithilfe, anstatt, aufseiten, vonseiten; aufkosten,

zurzeit, imzuge, imlaufe; Dativ-Priipositionen mit der Form einer Priipositionalphrase

zufolge, zugunsten, zuungunsten, zulasten, zuseiten; zuliebe, zuehren;

Aber auch wo noch Getrenntschreibung vorliegt, konnen die Strukturen einen relativ hohen Grad an Festigkeit aufweisen: Es handelt sich um die sogenann­ ten prapositions artigen Prapositionalphrasen 7• Die relative Festigkeit auBert sich in erster Linie im Wegfall von zwei grundlegenden Eigenschaften freier Wortkombinationen: Ersetzbarkeit der Einzelelemente und Erweiterbarkeit der Gesamtkonstruktion. 6. "Etablierte" Bildungen in Fettdruck angegeben. 7· Zu den priipositionsartigen Priipositionalphrasen liegt eine Reihe von Studien vor. Erwiihnt seien hier zumindest Benes (1974), Wellmann (r985) , Biadun-Grabarek (1991) und Di Meola (2oo2a) .

220

CLAU D IO D I MEOLA

a) Die beiden Hauptelemente der PP - Praposition und Substantiv - konnen nicht (oder nur auBerst selten) durch eine andere Praposition und/oder durch ein anderes Substantiv ersetzt werden. b) Die PP kann nicht (oder nur au.Berst selten) durch Adjektive, Possessivpro­ nomina, Artikel oder Genitiv-NPs erweitert werden. Statistische Untersuchungen zeigen ein Kontinuum der Prapositionalisie­ rung auf, je nachdem wie viele Eigenschaften wie stark vertreten sind. Auf der Grundlage eines umfassenden Korpus der deutschen Gegenwartssprache lassen sich folgende Bildungen als hohergradig grammatikalisiert einstufen ( vgl. Di Meola 2002a) 8: Priipositionsartige Priipositionalphrasen mit hohem Festigkeitsgrad

am Rande; auf Antrag, auf Betreiben, auf Ersuchen, auf Gehei.B, auf Veranlassung, auf Verlangen, auf Vorschlag; aus Anlass, aus Griinden; bei Gelegenheit; im Angesicht, im Auftrag(e) , im Beisein, im Dienst(e) , im Falle, im Geist (e) , im Gefolge, im Interesse, im Kreise, im Lauf(e) , im Lichte, im Umfang, im Verlaufe, im Vorfeld, im Wege, im Zeital­ ter, im Zug(e); in Abwesenheit, in Anbetracht, in Ansehung, in Anwesenheit, in Erman­ gelung, in Form, in Gegenwart, in Gestalt, in Vertretung; mit Ausnahme; ohne Ansehen; unter Ausschluss, unter Beachtung, unter Einbeziehung, unter Einschluss; zum Nachteil, zum Nutzen, zum Schaden, zum Vorteil, zum Wohl(e) , zum Zweck(e) ;

Erwahnt seien auch einige Beispiele fiir schwache bis mittlere Grammatikalisie­ rung (stellvertretend fiir zahlreiche Bildungen) : Priipositionsartige Priipositionalphrasen mit niedrigerem Festigkeitsgrad (Auswahl)

auf Basis, auf Ebene, auf Hohe, auf Vermittlung, auf Grundlage; aus Sicht; bei Anwen­ dung, bei Verwendung; im Stadium; in Fragen; in Wahrnehmung, in Zeiten; nach Vor­ bild; unter Bedingungen, unter Leitung;

2.2. 2. Satzklammer im Nebensatz > Praposition In auBerst seltenen Fallen kann eine Satzklammer im N ebensatz (Konjunktion was + finites Verb ) als Praposition interpretiert werden, und zwar wenn sich die regierte NP ausnahmsweise im N achfeld statt im Mittelfeld befindet. Es handelt sich um formelhafte Ausdriicke wie was betrz//t, was anbetri/lt oder was angeht, die prapositional im Sinne von betre/lend verwendet werden: Ich mochte geme etwas korrigieren was betrifft den Geburtstag von Sir Cliff Richard ( www. zitate-online.de) [Suchanfrage: Februar 2011] . Bemerkungen und Vorschriften iiber die Fiihrung der Tabellen, besonders was an­ betrifft die Revision (books .google.de) [Suchanfrage: Januar 2009] . Was angeht den Ursprung dessen, was wir Europa nennen: da ist das Klassische Griechenland zu nennen (www. astrologix.de) [Suchanfrage: Januar 2009] .

8. Die Einteilung sti.itzt sich hier auf folgende drei Kriterien: Ersetzbarkeit der Priiposition; Er­ weiterbarkeit durch ein Adjektiv; Erweiterbarkeit durch einen Artikel.

PRAPOSITIO N E N IN DER DEU TSCHEN GEGEN WARTSSPRACHE

..

221

3

Anderungen in der Stellung Nicht alle Bildungen, die heute als Praposition verwendet werden, waren ur­ spriinglich dem betreffenden N omen vorangestellt. In einer Anzahl von Fallen haben sie ihre Entwicklung begonnen als Postposition (z.B. den Vorgaben ent­ sprechend) oder als Zirkumposition (z.B. an des Vater Stelle) . Im Zuge der Pra­ positionswerdung ist dann Prastellung entstanden (entsprechend den Vorgaben; an Stelle l anstelle des Vaters). 3.1. Postposition > Praposition Bei den Bildungen, die aus Poststellung hervorgegangen sind, halten sich - ne­ ben der hohergradig grammatikalisierten Prastellung - zumeist noch Reste der niedriggradig grammatikalisierten Poststellung. Es sei darauf hingewiesen, dass diese Alternationen zwischen alter und neuer Variante bisher von der wissen­ schaftlichen Literatur zwar konstatiert, aber nicht weiter untersucht werden; auch die Norminstanzen schenken diesem Phanomen keinerlei Beachtung. Nach morphologisch-etymologischen Gruppen - und nach Rektion - ge­ ordnet finden sich folgende Bildungen ( " etablierte " Prapositionen durch Fett­ druck gekennzeichnet) : Dativ-Priipositionen mit der Form eines Adverbs

zuwider, zunachst, entgegen, gegeniiber, entlang; Akkusativ-Priipositionen mit der Form eines Adverbs

hinab, hinauf, hinunter; Genitiv-Priipositionen mit der Form eines Adjektivs

kundig, bediirftig, machtig, schuldig, unschuldig, mitschuldig, teilhaftig, verdachtig, wiirdig, unwiirdig, gewartig, inwendig, bediirftig, mittig, fahig, iiberdriissig; eingedenk, bar, voli, voller; frei ( '' ohne" ) , bewusst, sicher, miide; Dativ-Priipositionen mit der Form eines Adjektivs

unfern, unweit, nachst, nah, nahe, fern; treu, getreu, gemaB, ahnlich , analog, gleich, un­ gleich, identisch;

naher, parallel, weit; konform, ebenbiirtig, untertan, abhold; dienlich, hinderlich, forderlich, behilflich, zutraglich; angehorig, untertanig, horig, gleichwertig, gleichartig; gehorsam, folgsam; dankbar, vergleichbar; zugetan, gerecht, sinngema.f�, angemessen; Akkusativ-Priipositionen mit der Form eines Adjektivs

lang; gewohnt; Genitiv-Priipositionen mit der Form eines Partizips

Partizip I: wahrend; Partizip II: ungeachtet, unerachtet, unbeschadet, ungerechnet; Dativ-Priipositionen mit der Form eines Partizips

Partizip I: entsprechend; folgend, naheliegend; Partizip II: entgegengesetzt;

222

CLAU D IO D I MEOLA

Dativ-Priipositionen mit der Form einer Priipositionalphrase

zufolge, zugunsten, zuungunsten, zulasten, zuseiten; zuliebe, zuehren;

Es ist ersichtlich, dass die meisten Bildungen, die ihren Ursprung in der Post­ stellung haben, Adjektive und (adjektivisch verwendete) Partizipien sind; Ad­ verbien und Prapositionalphrasen sind seltener, Substantive gar nicht vertreten. Des Weiteren scheinen Dativ-Prapositionen viel haufiger als Genitiv- und Ak­ kusativprapositionen betroffen. Interessanterweise liegen fiir einzelne Prapositionen tendenzielle Bedeu­ tungsunterschiede zwischen Pra- und Poststellung vor (vgl. Di Meola 2ooo: 197 ff. ) . Es scheint hier ein Re-Ikonisierungsprozess im Gange zu sein: Die durch das Aufkommen einer zusatzlichen Stellungsvariante zunachst verletzte Ikonizitat (Verletzung des Prinzips " one function - one form" ) wird zumindest teilweise wiederhergestellt. Eine erste Betrachtung betrifft raumliche Prapositionen. So lasst sich bei­ spielsweise beobachten, dass die Prapositionen nahelnah,/ern un d entgegen zu ei­ ner komplementaren Distribution von raumlicher und nicht-raumlicher Lesart tendieren. Die Praposition entlang, die vergleichbar mit den bekannten Wechsel­ prapositionen eine DativiAkkusativ-Alternation aufweist, zeigt folgendes Stel­ lungsmuster: Dativ in Prastellung, Akkusativ in Poststellung (vgl. Di Meola 1998) . Eine zweite Betrachtung betrifft eine Gruppe nicht-raumlicher Prapositio­ nen - gleich, entsprechend und gemà/S -, die Grade der Obereinstimmung aus­ driicken: sowohl exakte als auch vage Obereinstimmung (z.B. entsprechend Ab­ satz 5 vs . den Regeln entsprechend) . Auch hier tendieren die beiden Bedeu­ tungsvarianten zu einer komplementaren Verteilung. AbschlieBend sei erwahnt, dass fiir zahlreiche Bildungen eine generelle Pra­ ferenz der Poststellung zu beobachten ist, wenn idiomatische Ausdriicke bzw. mehr oder weniger feste Wendungen vorliegen: den Umstiinden entsprechend, den Triinen nahe usw. 3 . 2.

Zirkumposition > Praposition

Prapositionen, die auch eine Zirkumstellung aufweisen, stammen fast alle von diskontinuierlichen Prapositionalphrasen ab: Genitiv-Priipositionen mit der Form einer Priipositionalphrase

anstelle, mithilfe, anstatt; aufkosten Dativ-Priipositionen mit der Form einer Priipositionalphrase

zugunsten, zuungunsten, zulasten, zuehren;

Die Variante der Zirkumstellung kann in zwei Fallen als Relikt iiberleben: Ent­ weder hat sie sich auf eine bestimmte Bedeutung spezialisiert (z.B. an Kindes Statt vs. anstatt des Kindes) oder sie erscheint in Kontexten mit der Konnotati­ on "veraltet" (z.B. in des Vaters Gegenwart vs. in Gegenwart des Vaters usw. ) . Nur wenige Bildungen sind aus einer anderen syntaktischen Struktur - d.h. einer Nebensatz-Klammer - entstanden (wie z.B. was . . . betri/ft > was betrz//t) .

PRAPOSITIO N E N IN DER DEU TSCHEN GEGEN WARTSSPRACHE

223

3·3· Zur Haufigkeit von Stellungswechseln Betrachten wir nun fiir einige Bildungen statistische Daten zur Haufigkeit des Stellungswechsels (Di Meola 2ooo: 193 f. , 201 f. ; vgl. auch Di Meola 2003) : TABELLE I Alternation Post- und Pdistellung % Prastellung

naher eingeschlossen betreffend fern entgegen eingedenk ahnlich entlang zum Nutzen gegeni.iber entsprechend n ah ausgenommen nahe gleich zu Ehren bar wegen gemaB ungeachtet

J o/o I6o/o 26 o/o 36o/o 45 °/o 50 o/o 56 o/o 68 % 7Io/o 73 °/o 75 °/o 75 °/o 79 o/o 79 o/o 82o/o 83 o/o 88 o/o 96% 97% 98 0/o

TABELLE 2 Alternation Zirkum- und Prastellung % Prastellung

an . . . Statt l anstatt in . . . Abwesenheit l in Abwesenheit in . . . Gegenwart l in Gegenwart auf. . . Vorschlag l auf Vorschlag in . . . Anwesenheit l in Anwesenheit zu . . . Nachteil l zum Nachteil mi t . . . Hilfe l mi t Hilfe, mithilfe an ... Stelle l an Stelle, anstelle in . . . Auftrag l im Auftrag(e) in . . . Folge l in Folge, infolge zu . . . Gunsten l zu Gunsten, zugunsten zu . . . Zweck l zum Zweck(e) zu . . . Ehren l zu Ehren auf. . . Kosten l auf Kosten in . . . Pali l im Fall(e)

56o/o 8o o/o 8o o/o 83 o/o 89 % 90°/o 92% 93 % 93 % 97o/o 97 o/o 97o/o 97o/o 98% 99o/o

224

CLAU D IO D I MEOLA

Es ist ersichtlich, dass bei der Alternation Post-/Prastellung die Poststellung sich noch zu einem gewissen Grade halt, bei der Alternation Zirkum-/Prastellung hingegen die Zirkumstellung zahlenma.Big eine weit geringere Relevanz besitzt: Es handelt sich offensichtlicherweise um ein Relikt. Es ist zudem zu beachten, dass die meisten prapositionsartigen Prapositionalphrasen die Zirkumstellung ganzlich aufgegeben haben (au/ Betreiben, im Vor/eld, unter Beachtung u.v.m.).

3·4· Ursachen fiir Stellungswechsel Die beiden belegten Stellungswechsel weisen in eine klare Richtung: Auswei­ tung der Prastellung auf Kosten der Post- und Zirkumstellung. Diese Entwick­ lung kann als offensichtlicher analogischer Prozess erklart werden: Angleichung an eine zentrale Eigenschaft der prototypischen, primaren Prapositionen: die Prastellung. Zugleich findet eine Differenzierung gegeniiber der U rsprungsstruktur statt (vgl. Di Meola 2oo2b). Durch Aufkommen der Prastellung andert sich die syn­ taktische Umgebung der betreffenden Bildung: Als Inhaltswort (bzw. syntakti­ sche Struktur) tritt die Bildung in Poststellung (bzw. Zirkumstellung) auf, als Funktionswort n un auch in Prastellung. Der erhohte Grammatikalisierungsgrad der prapositionalen Verwendung wird also syntaktisch angezeigt. Dieser Verlust an syntaktischer Transparenz ist als ikonischer Differenzierungsprozess gegen­ i.iber der U rsprungsstruktur zu betrachten, da schlussendlich eine veranderte (syntaktische) Form eine veranderte Funktion widerspiegelt. 4 .. Anderungen in der Rektion À.nderungen in der Rektion finden in der wissenschaftlichen Literatur haufig Er­ wahnung, auch Norminstanzen und popularwissenschaftliche Werke befassen sich ausgiebig damit 9• Allerdings ist die gesamte Aufmerksamkeit auf die Ent­ stehung einer neuen Dativrektion bei Genitiv-Prapositionen gerichtet - " der Dativ ist dem Genitiv sein Tod " , wie der Titel eines Bestsellers lautet (Sick 2oo4f2oo6). Insgesamt sind jedoch vier Entwicklungen zu beobachten: Genitiv > Dativ Dativ > Genitiv Akkusativ > Genitiv (> Dativ) Entstehung des Nullkasus

Betrachten wir nun naher diese vier Entwicklungstendenzen. Ich sti.itze mich dabei, wenn nicht anders angegeben, auf die Korpusdaten und -beispiele aus Di Meola (2009) . 9 · Von der einschlagigen wissenschaftlichen Literatur sei hier zumindest verwiesen auf di e Ein­ zelstudien von Gelhaus l Frey l Heyne (1972 ) , Rentsch (1986), Mi.iller (1990), Agel (1992, 2oo8) , Dur­ rell (1993), Bebermeyer (1994), Petig (1997) , Elter (2005).

PRAPOSITIO N E N IN DER DEU TSCHEN GEGEN WARTSSPRACHE

4. 1 .

225

Genitiv > Dativ

Es ist eine bekannte Tatsache, dass einige Genitiv-Prapositionen eine (stan­ dardsprachlich geachtete) Dativrektion annehmen konnen (so z.B. wiihrend, statt oder anstatt) . Korpusanalysen zeigen jedoch, dass fast alle Bildungen, die als ein Wort zusammengeschrieben und mehr als nur sporadisch prapositional verwendet werden, auch mit einem neuen, "falschen " Dativ belegt sind 10 • Hier im Folgenden einige Beispiele aus dem Mannheimer IDS-Korpus COSMAS II (Pressesp rache) , geordnet nach dem j eweiligen Wortklassen-Ur­ sprungsbereich der Praposition n : innerhalb den Gemeinden (MM, 2003) auBerhalb den USA (cz, 1998) oberhalb dem Standplatz (SGT, 2ooo) unterhalb dem Hotel (ZT, 2ooo) abseits dem Eis (P, 1999) beidseits jenem [Tanklager] der Arai (SGT, 1997) jenseits dem gangigen Wechsel (ZT, 1999) links dem Hohlweg (FR, 1997) fernab einem Museumsstiick (SN, 1994) seitlich dem Verkaufsstand (sz, 1996) nordlich den Alpen (SN, 1995) siidlich dem Bahndamm (SGT, 2001) ostlich dem bestehenden Geschaft (VN, 1999) nordwestlich dem Schlipf (SGT, 1999) anlasslich dem Gedenken (Ml\1, 2005) vorbehaltlich kartellrechtlichen Genehmigungen (P, 2000) hinsichtlich innovativem Holzbau (SGT, 2001) beziiglich dem Pflanzgebot (MM, 2002) abziiglich den Riickkaufskosten (ZT, 1998) zuziiglich einem Kerosinzuschlag (MM, 2oo6) einschlieBlich einem Sicherheitsraum (FR, 1999) ausschliesslich dem Freitag (SGT, 1997) zusatzlich dem kleinen Wohnhaus (SN, 1995) wiirdig dem AnlaB (P, 1999) bar jedem Wiener " Ùberschmah" (P, 1997) wahrend den Trainingsstunden (Ml\1, 1998) ungeachtet dem ethischen und religiosen Hintergrund (SGT, 2ooo) unbeschadet den Bemiihungen (P, 1992) kraft dem 19. Artikel (SGT, 1999) statt vielen Farben (VN, 2ooo) angesichts knapper werdenden Ressourcen (VN, 1997) betreffs generellem Verbot (VN, 2ooo) eingangs dem Dorfli (SGT, 1998) mangels einem Windbrecher (NKZ, 1996) mittels diesem kleinen Beitrag (SGT, 1999) zwecks einem gemiitlichen Beisammensein (MM, 1998) 10. Siehe oben die Listen unter 1 . 1 . und 1 . 2. n . Fiir zahlreiche weitere Beispiele aus dem Internet vgl. Di Meola (2009) .

226

CLAU D IO D I MEOLA

seitens den Ermittlern (VN, 2ooo) vermittels befeuchtetem Finger (P, 1996) wegen hohem Òlpreis (TT, 2ooo) anhand dem europaischen TQM-Modell (VN, 1999) anstelle einem Ziegeldach (VN, 1997) aufgrund vielen Horermeldungen (SN, 2ooo) infolge den Verkehrsverhaltnissen (MM, 1995) anstatt einem Vortrag (MM, 2005)

4. 2. Dativ > Genitiv Ein "neuer" Genitiv wird nur fiir wenige Bildungen standardsprachlich akzep­ tiert bzw. gefordert: Dativ-Priipositionen mit standardsprachlich akzeptierter bzw. vorgeschriebener Geni­ tivrektion

binnen, entlang, langs ; dank [Genitiv akzeptiert] ; inmitten, trotz, unfem, unweit; zufolge, zugunsten, zuungunsten, zulasten, zuseiten [Ge­ nitiv (bei Prastellung) vorgeschrieben] .

Betrachtet m an allerdings die Gesamtheit der Dativ-Prapositionen im Korpus, so sind in der Sprachrealitat neue, "falsche" Genitive an der Tagesordnung: Fast al­ le urspriinglichen Dativ-Prapositionen sind mit einer Genitivrektion belegt. Die­ se Tatsache ist vollig iiberraschend, denn sie widerlegt die weitverbreitete These eines generellen Genitivschwundes, un d si e ist in der wissenschaftlichen Literatur wie in der popularwissenschaftlichen Òffentlichkeit unbemerkt geblieben. Hier im Folgenden einige pressesprachliche Belege aus dem Mannheimer Korpus COSMAS II (vgl. Di Meola 2009 fiir zahlreiche Internetbelege) : entgegen aller Geriichte (MM, 2005) gegenuber des modernen Lebens (MM, 2004) nebenan des neuen " Hofer" -Diskonters (VN, 1997) nachst des Tatortes (K, 1996) nah des bestehenden sanierungsbedurftigen Steinbruchs (TT, 2ooo) nahe eines Autobahnanschlusses (SGT, 1998) fern des Rummels (FR, 1998) getreu dieses Mottos (MM, 2004) gema.B eines Berichts (P, 2ooo) ahnlich eines vw-Golf (MM, 2001) analog des Tourismusbeitrages (VN, 2ooo) gleich eines Esels (SN, 1993) ungleich jener aufwi.ihlenden Jahre (ZT, 1998) parallel des Bahngelandes (Mt\1, 2003) abhold jeglichen Heile-Welt-Getues (sz, 1996) gleichwertig der Spielerinnen (FR, 1999) vergleichbar der vom Kinderburo eingefiihrten Kinderanhorungen (FR, 1997) sinngema.B des Inhalts (P, 1991) entsprechend des Wetters (SGT, 1999) entgegengesetzt der allseits propagierten Globalisierungsrouten (FR, 1997)

PRAPOSITIO N E N IN DER DEU TSCHEN GEGEN WARTSSPRACHE

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auBer eines 2:0-Erfolges (MM, 2oo6) samt des enormen Preisdruckes (SN, 2ooo) mitsamt des Schienennetzes (MM, 2004) nebst des Ortsmuseums (SGT, 1998)

In besonderem MaBe erscheint es iiberraschend, dass auch primare dativregie­ rende Prapositionen von "neuen" Genitiven nicht verschont bleiben - sowohl reine Dativ-Prapositionen als auch DativiAkkusativ-Wechselprapositionen: aus des Finanz- und Rechnungswesens (P, 1997) bei des 1:3 (MM, 2004) mit des erwarteten Ri.ickschlags ( SGT, 1998) nach des Dorfes ( SN, 1993) seit des Borsengangs (MM, 2004) von des Bahn-Chefs (MM, 2ooo) zu des Auslandes (P, 1996) an des Borsenkapitals ( SN, 1993) auf des Verkehrs (P, 1993) in des Tierheims (SGT, 1998) neben der sehr kultiviert vortragenden Altisten (MM, 2004) i.iber des Wahnsinns (K, 1997) unter des Verdachts (SN, 2003) vor des umstrittenen 440-Millionen Auftrages (P, 1994) zwischen des Teams (MM, 2003 )

4· 3· Akkusativ > Genitiv (> Dativ) Die meisten Akkusativ-Prapositionen sind ebenfalls mit einem neuen Genitiv be­ legt (was bisher ganzlich unbeachtet geblieben ist) . Auch hier einige Beispiele aus dem pressesprachlichen Korpus COSMAS II (Internetbelege in Di Meola 2009 ) : betreffend des Boykotts (SN, 2ooo) einschlieBend entscheidungstragender Funktionen (P, 1997) inbegriffen e ines Essens (M.t\11 , 1999) eingeschlossen des Theatersti.icks (MM, 2oo6) ausgenommen des Kommandos (SGT, 2om) eingerechnet des neuen Hammers (FR, 1999) gen si.idostasiatischer Wirtschaftsregionen (sz, 1995) wider aller GesetzmaBigkeiten (MM, 2005)

Akkusativ-Prapositionen, die bereits mit normabweichendem Genitiv vorkom­ men, treten dari.iber hinaus sporadisch auch mit normabweichendem Dativ auf: betreffend einem moglichen Ende (NKZ, 2000) ausgenommen dem Ziel- und Quellverkehr (rr, 2ooo) wider allen Erwartungen (MM, 2005)

Auch primare Akkusativ-Prapositionen sind mit einem "neuen" Genitiv sowie mit einem "neuen " Dativ belegt:

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CLAU D IO D I MEOLA

durch des Einsatzes (MM, 2002) fur des Bauprojekts (TT, 1997) gegen des Waffengesetzes (SN, 1994) ohne des Einsatzes (SN, 1996) um eines treuen Hundes (NKZ, 1996) bis einem Kilogramm (FR, 1997) durch dem Kopfballtor (FR, 1997) fur dem Spiel (FR, 1998) gegen dem Abkommen (FR, 1999) ohne dem vermessenen Ziel (NKZ, 1994) um dem Gebaude (MM, 2002) 4·4· Entstehung des Nullkasus

Es ist schlie.Blich eine Entwicklung zu erwahnen, die sowohl die sekundaren wie auch die primaren Prapositionen betrifft: Es handelt sich um die Tendenz zum Nullkasus, d.h. zu der mit dem Nominativ iibereinstimmenden Zitierform 12 • Auch hier einige Korpusbeispiele (vgl. Di Meola 2005: 26r). Mitunter finden sich eindeutige Nominative: ausgenommen der Erlos ( SGT, 1998) eingerechnet der Barbetrag (SGT, 1997) inbegriffen ein Theorieabend (SGT, 1999) mit Gatte (MM, 2005) von Baulowe ( NKZ, 2ooo )

In diesen Beispielen erscheint der Nominativ anstelle einer regularen Akkusa­ tiv- (ausgenommen, eingerechnet, inbegri//en) bzw. Dativrektion (mit, von) . Des Weiteren liegen verschiedene Formen von Synkretismus vor: wegen Krankheit [ lAID!G] (FR, 1998) wegen Regen [N/AlD] (M.t\11 , 1998) n aeh vier Monate [N/AlG] (P, 1999) seit letztes Jahr [N/A] (SGT, 2oor )

In einigen Konstruktionen ist der geforderte oder tolerierte Kasus zumindest noch eine der moglichen Kasusalternativen (so kann wegen Krankheit ja auch Genitiv sein, wegen Regen auch Dativ), in anderen Konstruktionen nicht (so konnen beispielsweise nach vier Manate oder seit letztes ]ahr nie Dativ sein). 4· 5· Zur Haufigkeit von Kasuswechseln

Anderungen in der Rektion sind lediglich fiir eine begrenzte Anzahl von Pra­ positionen von statistischer Relevanz. Es handelt sich um urspriingliche Dativ­ Prapositionen. Besonders deutlich sind die Belegzahlen fiir diejenigen Praposi12. S. bereits Hackel (1968) . Vgl. auch clie Betrachtungen in Agel (2006) und Di.irscheid (2007).

PRAPOSITIO N E N IN DER DEU TSCHEN GEGEN WARTSSPRACHE

229

tionen, bei denen der Genitiv standardsprachlich akzeptiert oder gar gefordert wird (vgl. 3.2): Dativ-Priipositionen mit standardsprachlich akzeptierter bzw. vorgeschriebener Geni­ tivrektion

binnen, entlang, langs ; dank [Genitiv akzeptiert] ; inmitten, trotz, unfem, unweit; zufolge, zugunsten, zuungunsten, zulasten, zuseiten [Ge­ nitiv vorgeschrieben] .

Nimmt man die Daten von Di Meola (2ooo) zugrunde - erganzt durch Di Meo­ la (2004, 2006, 2009) -, so tritt der neue Genitiv bei diesen Prapositionen mit re­ lativ hohen Prozentsatzen auf: binnen 51% , entlang 75o/o , dank 78 o/o ; inmitten 97o/o , trotz 92 o/o ; alle anderen Bildungen, sofern belegt, sogar roo 0/o Genitiv. Aber auch einige andere Dativprapositionen - fi.ir die der Genitiv stan­ dardsprachlich nicht vorgesehen ist - erreichen z.T. bemerkenswerte Prozent­ satze: so z.B. gemiij$ 25 o/o , entsprechend no/o , nahe S o/o , iihnlich 7% , mitsamt 6o/o , entgegen 5 % . Dies gilt ebenfalls fi.ir einige Akkusativ-Prapositionen wie wider 4% o der betre/fend 6o/o . Der GroBteil der Prapositionen ha t allerdings ver­ schwindend geringe Belegzahlen fi.ir "neue" Genitive (deutlich unter ro/o ): so z.B. aufler, gegenuber, ne ben, seit. Wenden wir uns nun den urspri.in glichen Genitiv-Prapositionen zu. Neue Dative (zumindest eindeutige Dativbelege) sind meist sehr selten. So liegen z.B. deutlich unter ro/o : hinsichtlich, angesichts, inmitten. Aber i.iberraschenderweise finden si eh niedrige Prozentsatze auch fi.ir Prapositionen, die - zumindest in der gesprochenen Sprache - wohl haufiger mit Dativ vorkommen (so wegen ro/o , wiihrend 2 o/o ) . Halten wir also zusammenfassend fest, dass zwar fast alle Prapositionen von Kasuswechseln betroffen sin d, a ber dass es sieh in den meisten Fallen - zumindest in der Schriftsprache - um vereinzelte Belege handelt. Nur bei wenigen Praposi­ tionen kann sich der neue Kasus - stets ein Genitiv - nachhaltig durchsetzen.

4.6. Ursachen fi.ir Kasuswechsel Die Alternation Genitiv/Dativ wird in der Regel stilistisch interpretiert (der Da­ tiv als Variante der Umgangssprache) oder als regional konnotiert eingestuft (der Dativ als Variante des si.idlichen Sprachraumes) . Korpusanalysen konnten jedoch zeigen, dass Kasuswechsel in allen Textsorten vorkommen (vgl. beson­ ders Di Meola 2ooo, wo die fi.inf Textsortenbereiche Fachtexte, Pressetexte, Sachprosa, Belletristik und Unterhaltungsliteratur beri.icksichtigt wurden) . So­ gar bei ein und demselben Autor konnen z.B. die beiden Kasus Genitiv un d Da­ tiv - bei denselben Prapositionen - sozusagen als freie Variation vorkommen. Auch sind kaum regionale Unterschiede im Kasusgebrauch festzustellen, zu­ mindest in der Schriftsprache (vgl. Di Meola 2oo6). Was sind nun die treibenden Krafte fi.ir Kasuswechsel? Als Ursachen kon­ nen m.E. vor allem Analogie- und Grammatikalisierungsprozesse gelten, darli­ ber hinaus auch Gesamttendenzen im deutschen Flexionssystem:

CLAU D IO DI MEOLA

I) Analogie zu den typischen primaren Prapositionen. Der dominierende Ka­ sus bei den primaren Prapositionen ist der Dativ (man denke an die Dativ- und Wechselprapositionen) . Dieser Kasus findet Verbreitung nicht nur bei Genitiv regierenden sekundaren Prapositionen, sondern auch bei primaren Prapositio­ nen, die urspriinglich einen Akkusativ regieren. 2) Analogie zu den typischen sekundaren Prapositionen. Die meisten sekun­ daren Prapositionen erfordern urspriinglich einen Genitiv. Dieser Kasus findet Verbreitung nicht nur bei Dativ regierenden sekundaren Prapositionen, son­ dern sogar bei primaren Prapositionen. 3) Grammatikalisierungsprozesse (beschrankt auf sekundare Prapositionen) . Im Zuge einer Differenzierung gegeniiber der Ursprungsstruktur kommt es zu Ka­ suswechseln in zwei Richtungen: Genitiv>Dativ un d DativlAkkusativ>Genitiv. Wie schon der Stellungswechsel (vgl. 2.4.), so zeigt auch das Aufkommen eines ety­ mologisch nicht begriindeten Kasus einen erhohten Grad der Prapositionalisie­ rung der betreffenden Bildung an. Wiederum verweist eine veranderte syntakti­ sche Umgebung ikonisch auf den Obergang vom Inhalts- zum Funktionswort. 4) Abbau des Flexionssystems allgemein. Die Tendenz zum Nullkasus bei primaren wie sekundaren Prapositionen fiigt sich in eine Gesamttendenz des Flexionssystems des Deutschen ein, wonach Kasusdifferenzierungen progressiv abgebaut werden (man denke an Formen wie des Ozean, den Béir usw. ) Die einzelnen Faktoren wirken jedoch in komplexer Art und Weise zusam­ men, so dass es mitunter schwer sein kann, fiir bestimmte Prapositionen genaue Vorhersagen beziiglich zukiinftiger Entwicklungen zu treffen. 5

Zusammenfassung und Ausblick Wir haben gesehen, dass Prapositionen keine geschlossene Klasse darstellen. In jiingerer sprachgeschichtlicher Vergangenheit sind zahlreiche neue Prapositionen entstanden (die sog. "sekundaren Prapositionen " ) . Auch in der Gegenwartsspra­ che konnen immer wieder okkasionell Inhaltsworter (Adverbien, Adjektive, Parti­ zipien, Substantive) und auch syntaktische Strukturen (PPs) in prapositionaler Funktion verwendet werden. Einige dieser Bildungen scheinen sich zu etablieren. Im Zuge der Prapositionswerdung andern sich die syntaktischen Eigen­ schaften der betreffenden Bildung: Aus Post- und Zirkumpositionen werden Prapositionen, aus Genitiv-Prapositionen werden Dativ-Prapositionen, aus Da­ tiv- und Akkusativprapositionen Genitivprapositionen. Fiir zahlreiche Bildun­ gen geht der Stellungswechsel mit einem Kasuswechsel einher: In der neuen Prastellung entsteht auch ein neuer Kasus . Wir haben also z.B. folgende Gram­ matikalisierungspfade fiir urspriingliche Postpositionen: d es Inhalts wegen (G) > wegen des lnhalts (G) > wegen dem Inhalt (D) dem lnhalt gemaB (D) > gemaB dem lnhalt (D) > gemaB des lnhalts (G) den lnhalt betreffend (A) > betreffend den Inhalt (A) > betreffend des Inhalts (G) (> be­ treffend dem lnhalt (D) )

PRAPOSITIO N E N IN DER DEU TSCHEN GEGEN WARTSSPRACHE

Fast alle sekundaren Prapositionen (etablierte wie nicht-etablierte) sind von ei­ nem Stellungs- un d/oder Kasuswechsel betroffen. Sogar p rimare Prapositionen sind durch Kasuswechsel gekennzeichnet. Wahrend die neue Stellungsvariante sich fast immer behauptet, ist der neue Kasus zumeist nur sporadisch belegt. Einzig der neue Genitiv ist fiir eine Grup­ pe von sekundaren Prapositionen zahlenmàBig relevant. Will man eine Vorhersage wagen, so scheint sich die Prastellung ganzlich durchzusetzen, und auch der Genitiv ist auf dem Vormarsch - bei vielen se­ kundaren Prapositionen und auch bei einigen primaren. Der Genitiv scheint sich zum typischen Kasus auf Konstituentenebene zu entwickeln (also bei pra­ positions- und nomenregierten NPs ) , Dativ und Akkusativ zu typischen Kasus auf Satzebene (also bei verbregierten NPs). Abkiirzungen cz Computer-Zeitung; FR Frank/urter Rundschau; K Kleine Zeitung; MM J.\!Iann­ heimer Morgen; NKZ = Neue Kronenzeitung; P = Die Presse; SGT = Sankt Galler Tagblatt; SN = Salzburger Nachrich ten ; sz = Suddeutsche Zeitung; TT = Tiroler Tageszeitung; VN Vorarlberger Nachrichten; ZT Zuricher Tagesanzeiger. =

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AGEL

CLAU D IO DI MEOLA

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PRAPOSITIO N E N

IN

DER DEU TSCHEN GEGEN WARTSSPRACHE

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Elvira Lima

Ende gut, alles gut? Zum Stand der deutschen Orthographie nach 2006

I m Rahmen der Diskussion u m die Rechtschreibreform der Siebziger J ahre warnte Otto Back weitblickend davor, etablierte Orthographie und Neurege­ lung gleichzustellen un d als miteinander konkurrierende N ormvorschHige zu betrachten. Denn der ersten komme, bei allen moglichen Ungereimtheiten und Widerspri.ichen, der Bonus «des Schon-Eingefi.ihrt- Seins» (Back 1978: n) zu­ gute, die zweite hingegen mi.isse sich nicht nur durch eine weithin anerkannte hohere Qualitat legitimieren, sondern auch den Beschwerlichkeiten der Um­ stellung Rechnung tragen. Ein beinahe prophetisches Monitum, lasst man die langjahrigen Auseinandersetzungen um die Reform von 1996 Revue passieren, sowie zugleich eine einleuchtende Begri.indung fi.i r ihre mangelnde Akzeptanz bei zahlreichen Schreibenden der deutschsprachigen Lander. Es ware an dieser Stelle miillig, auf die Konstellation des Rechtschreibstreits einzugehen, liegen doch inzwischen allerlei Stellungnahmen von Befi.irwortern und Gegnem des neuen Regelwerks, historische Untersuchungen zur deutschen Orthographie und ihren (meist gescheiterten) Reformversuchen und sogar ein in­ formationsreicher Bericht aus erster Hand i.iber die Arbeit der Zwischenstaatli­ chen Kommission zwischen 1997 und 2005 vor. Interessierten stehen zur Orien­ tierung in dieser umfangreichen Literatur Fachbibliographien mit Beitragen zu je­ dem einzelnen Aspekt der orthographischen Frage zur Verfiigung \ die eine ein­ malige Begebenheit in der Sprachforschung veranschaulichen: Nie zuvor di.irfte in solch kurzem Zeitraum ein und derselbe Themenbereich so viel Aufmerksamkeit auf sieh gelenkt haben wie die deutsche Rechtschreibreform der N eunziger J ahre. Auf diese Art Verzeichnisse wird allerdings kaum ein passionierter Schau­ lustiger der orthographischen Differenzen zuri.ickgreifen, die ihn jahrelang in den Medien begli.ickt ha ben, denn n a eh der definitiven Einfi.ihrung der N eure­ gelung scheint der Schwung der meisten Freizeit-Orthographen schnell nach­ gelassen zu haben. Seit dem Stichdatum August 2oo6 gilt es namlich, dass die deutschsprachige Gemeinschaft wieder eine amtliche Kodifizierung hat, die fi.ir die Schule als verbindlich und fi.ir die i.ibrigen Institutionen und den privaten r

1. Vgl. Augst et al. (2007) . 2. Eine umfangreiche Bibliographie zur Rechtschreibreform von 1996, auf die fiir detaillierte Angaben zur Debatte des J ahrzehnts 1996-2006 verwiesen wird, ist unter http:/ /rechtschreibrat.ids­ mannheim.de/bibliographie (zuletzt Marz 2009) nachzuschlagen. Sie basiert auf einer elektroni­ schen Bibliographie, die unter der Leitung von G. Augst an der Universitat Siegen zusammenge­ stellt wurde.

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Verwendungsbereich als vorbildlich gilt. Dazu kommt, dass die Einfiihrung re­ formierter Schreibungen im Unterricht spatestens aus dem August 1998 3 datiert. Es liegt daher nahe, dass in der Rechtschreibpraxis der widerwillige, dudentreue Umlerner ein Auslaufmodell darstellt, das sich auf Dauer nur schwerlich vor der Ausstrahlung der offiziellen Schreibweisen retten wird. An der wissenschaftlichen Front hingegen behalt der Diskurs zur Rechtschreib­ reform auch nach dem sogenannten Rechtschreibfrieden seine Aktualitat, die sich nun allerdings hauptsachlich vom Anklang in padagogischen Kreisen nahrt. Frei­ lich lasst sich gegeniiber der friiheren Thematisierung eine Verschiebung des Blickwinkels beobachten. Dadurch bekommt die Beschaftigung mit der neuen Orthographie einen neuen Akzent, der nur indirekt dem Vergleich mit der Recht­ schreibung vor 1996 gilt. Im Vordergrund steht vielmehr das Korpus selbst in sei­ ner Eignung, den Anforderungen einer normativen Rechtschreibung gerecht zu werden. Denn im modernen Staatsgebilde verdanken kodifizierte orthographi­ sche Normen ihre Existenzberechtigung der Tatsache, dass sie in der jeweiligen Schreibgemeinschaft die Eindeutigkeit un d Einheitlichkeit der offentlichen Kom­ munikation gewahrleisten, die so rasch un d unbehindert wie moglieh erfolgen soll. In diesem Sinne ist die Qualitat der Normen nicht nur an einem abstrakten, fach­ gerechten Kanon zu messen, sondern auch an der Anwendbarkeit beziiglich ihrer Funktion, namentlich der Vermittlung einer Rechtschreibkompetenz, die sich am vorgeschriebenen Modell orientiert. Eine amtliche Rechtschreibung weist folglich eine umso hohere Qualitat auf, je unkomplizierter sie sich mit Riicksicht auf das durchschnittliche Lernerprofil lehren un d lernen lasst. Im Konkreten trifft das zu, wenn der Regelapparat auf durchschaubaren Grundkonzepten beruht, mit denen die einzelnen Regeln in einem Koharenzverhaltnis stehen, und wenn deren Wort­ laut als klar und stringent empfunden wird. Nur ein Regelwerk, das solche Be­ dingungen erfiillt, kann dem Benutzer, einer Gebrauchsanleitung ahnlich, bei der Entscheidung der normgetreuen Schreibung eines unvertrauten Wortes helfen. Im Hinblick auf diese Pramissen leuchtet es ein, dass sich in der gegenwar­ tigen Auseinandersetzung mit der Neuregelung die schulische Sicht als die er­ giebigste erweist. Denn die wiederhergestellte " Rechtschreibsicherheit" bleibt ei­ ne leere Worthiilse, wenn sie nicht in die Praxis umgesetzt wird. Daher nehmen die Brauchbarkeit der neuen Regeln und ihre Handhabung im Unterricht eine zentrale Stellung in der aktuellen Diskussion ein, die in den meisten Beitragen mit einer unterschiedlich dosierten Mischung aus Pragmatismus und Resigna­ tion angegangen wird. Einerseits macht man sich als Padadoge daran, das Beste aus der nun definitiv geltenden Norm zu machen, indem lernbehindernde Man­ gel hervorgehoben und Umgehungsstrategien entwickelt werden; andererseits bleibt die neue Orthographie nicht von Kritik verschont, da ihr schlieBlich die Vaterschaftsanerkennung sowohl seitens der Reformer als auch ihrer Gegner fehlt. Beide Parteien scheinen sich namlich darin einig zu sein, dass sie durch Be3 · GemaE der Wiener Absichtserklarung vom Juli 1996 solite die Pflichtumstellung der Recht­ schreibung an den Schulen am r. August 1998 starten, an vielen Schulen wurde sie jedoch (nicht oh­ ne Polemik) antizipiert.

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seitigung vieler Ungereimtheiten der alten Orthographie manches systematisiert, im GroBen und Ganzen jedoch Nischen der Ambivalenz verewigt bzw. sogar neu schafft. Fiir beide steht das Resultat der Reformbemiihungen in keinem Verhalt­ nis zur Investition, die sie den Verfechtern und Kritikern des Eingriffs und letz­ ten Endes allen Schreibenden abgefordert hat. Solite sich trotz dieser schwer­ wiegenden Bedenken in der nachsten Zukunft erweisen, dass eine Vereinfachung des Rechtschreiberwerbs eingetreten ist, konnte sich die Schreibgemeinschaft a posteriori zumindest mit diesem Teilerfolg zufrieden geben. Eine verbindliche Antwort auf diese Frage kann jedoch nur von der Evalua­ tion numerisch signifikanter Vergleichsdaten kommen, die alle orthographischen Bereiche abdecken un d die im Moment noch ausbleiben, zumindest was ihre wis­ senschaftliche Auswertung anbetrifft 4• Wohlgemerkt: Selbst wenn sie vorliegen wiirden, erga ben sie vermutlich ein nur unzulangliches Bild. Die amtliche Refor­ morthographie ist namlich nach den wiederholt angekiindigten und zweimal er­ folgten Revisionen ihrer urspriinglichen Fassung auf eine angemessene Einlauf­ zeit angewiesen, speziell hinsichtlich ihrer Vermittlung und ihrer Annahme. Dabei geht es nicht nur um das Vertrautwerden mit den modifizierten Re­ formschreibungen, die zumindest Umlemer von der Dudenorthographie her ken­ nen. Es geht vielmehr um die Aufarbeitung der langen Ù bergangsphase, die in der Wiener Absichtserklarung zwar als «padagogische SchutzmaBnahme zum Wohl der Schiiler» (Augst et al. 200T 12) vorgesehen war, in den zehn ] ahren des Protes­ tes jedoch zur In-Frage-Stellung des Eingriffs selbst und seines Konzeptes umge­ deutet wurde. Aus der Prekarietat einer Rechtschreibregelung, die ihre Anfallig­ keit fiir rationale und emotionale Kritik und sogar fiir Riickumstellungsanforde­ rungen nicht zu verbergen vermochte, erwuchs dem desorientierten Schreibenden das Gefuhl, er befinde sich in einer Art orthographischem Niemandsland, in dem die Demarkationslinie zwischen Zugelassenem und Nicht-Zugelassenem ver­ schwimmt. In dieser N otsituation sei es sein Reeht, die Regelhaftigkeit der Recht­ schreibung zu relativieren und seine Schreibweisen selbst zu bestimmen. Diese Einstellung ist umso gefahrlicher, als normabschwachende Tendenzen, im Ùbrigen keineswegs nur auf orthographischer Ebene, in letzter Zeit weltumspannend auf dem Vormarsch sind. Allerdings sind sie in den deutschsprachigen Landern, zu­ mindest was die Auflockerung der Verbindlichkeit der Rechtschreibnorm anbe­ trifft, auch als unerfreuliches Erbe des erbitterten Streits um die Rechtschreibre­ form von 1996 zu betrachten, ein Erbe, das es beute zunachst zu tilgen gilt. Die Verkniipfung von orthographischer Normnachlassigkeit und Recht­ schreibreform kann nicht verwundern, beriicksichtigt man auch nur die letzten Abschnitte der verwickelten Geschichte des Eingriffs , die hier in den wesentli­ chen Eckdaten in Erinnerung gerufen werden sollen. Im N ovember 2003 beschlieBt die Mannheimer Zwischenstaatliche Kommission /iir deutsche Rechtschreibung ihre Arbeit , indem sie der Kultusministerkonfe­ renz der deutschen Bundeslander (KMK) ihren vierten Bericht mit Ànderungs4 · Vgl. aber Grund 2008, laut dem sich die Fehlerquote der Schi.iler gegeni.iber der Vorre­ formzeit bezeichnenderweise vermehrt habe.

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vorschlagen der Neuregelung 1996 iiberreicht 5• Entgegen den Erwartungen er­ folgt die Zustimmung der Minister sowie der osterreichischen und schweizeri­ schen Vertreter erst Anfang J uni 2004, wohl unter dem Druck der anhaltenden Kritik und des gescheiterten Kompromisses iiber die Darmstadter Deutsche Akademie /iir Sprache und Dichtung6• Dariiber hinaus wird von der Kultus­ behorde entschieden, dass die Zwischenstaatliche Kommission durch einen ebenso international besetzten Rat /iir deutsche Rechtschreibung ersetzt wird, der die umstrittenen Bereiche der Getrennt- und Zusammenschreibung, Zei­ chensetzung und Silbentrennung mit Riicksicht auf die schon lange erfolgte Um­ stellung an den Schulen, aber auch auf den Schreibusus und folgerichtig auf die kritischen Einwande hin iiberarbeiten soll. Da sich Ànderungen in der Getrennt­ und Zusammenschreibung auf die Grofl- und Kleinschreibung auswirken, sind faktisch von Anfang an auch Eingriffe in diesem Bereich vorgesehen. Zum Zeitpunkt der Einsetzung des Rates (Dezember 2004) wird wohl da­ mit gerechnet, dass diese zusatzliche Revision die 1 9 9 6 bes chlossene O ber­ gangsfrist fiir Schulen un d offentliche Stellen (3r. Juli 2005) nicht beeintrachtigt. Es wird jedoch bald klar, dass die auftragsgema.Ben Vorschlage, fiir die u.a. eine langwierige formale Genehmigungsprozedur gilt, nicht rechtzeitig eintreffen werden, um die Endfassung der Neuregelung planmaBig zum Schulbeginn 2005/o6 einzufiihren. Seitens der KMK wird darum di e Entscheidung getroffen, den international vereinbarten Termin lediglich fiir den " unumstrittenen " Teil des Regelwerks (s. unten) zu bestatigen und ihn fiir die restlichen Bereiche auf den r. August 2oo6 zu verschieben. Diese politisch markante Entscheidung wird in der Ministerprasidentenkonferenz des 23. Juni 2005 einstimmig formalisiert, wobei die Ministerprasidenten Bayerns und Nordrhein-Westfalens zwei Wo­ chen spater einen Riickzieher machen und die notenwirksame Einfiihrung der ganzen Neuregelung um ein J ahr verschieben. In dieser einjahrigen Zeitspanne sieh t es also mi t der N orm der deutschen Orthographie folgendermaBen aus: In 1 4 Bundeslandern, in Osterreich und der Schweiz gibt es seit dem r . August 2005 keine Toleranz mehr hinsichtlich der al­ ten Schreibweisen in den Bereichen Laut-Buchstaben-Zuordnungen, Schreibung mit Bindestrich und Grofl- und Kleinschreibung. Toleriert werden hier bis Au­ gust 2006 Vorreformschreibungen in den Bereichen, die vom Rat iiberarbeitet werden. In zwei dicht bevolkerten Landern der BRD konnen Schiiler hingegen in allen orthographischen Bereichen ohne Auswirkung auf ihre Leis tung der Dudenorthographie folgen. Diesem " halbierten " Reformgebilde wird 2006 ein rapides Ende gesetzt: Nachdem der Rat im Februar seine Emp/ehlungen an die bundesdeutsche Kultus­ behorde iibergeben hat, erhalt der Text im Marz die Zustimmung von KMK un d Mi­ nisterprasidentenkonferenz und in der Folge von den anderen deutschsprachigen In Buchform erscheint der Text 2005 bei Narr. 6. Schon 2ooo war als Veroffentlichung der Akademie eine kritische Publikation zur Reform erschienen, in der auf Gemeinsamkeiten zwischen dieser und dem gescheiterten Reformprojekt cles Reichsministers Rust aus dem Jahre 1944 hingewiesen wurde. 2003 hatte die Akademie einen Kom­ promissvorschlag samt Worterliste herausgegeben, der substantiell die Grundlage fiir die im Friih­ jahr 2004 mit der Zwischenstaatlichen Kommission gefiihrten Gesprache wurde. 5·

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Landern. Die Obergangszeit der amtlichen Neuregelung 2oo6 beziiglich der Tole­ ranz der alten Schreibweisen an den Schulen wird je nach Land unterschiedlich festgelegt: ein J ahr fiir die BRD (3r. Juli 2007) , zwei J ahre fiir Osterreich (3r. Juli 2oo8), dreiJahre fiir die Schweiz 7 und das Fiirstentum Liechtenstein (3r. }uli 2009). N ach Ausfiihrung seines Auftrags soll sich nun der Mannheimer Recht­ schreibrat, gemaB seinem sechsjahrigen Mandat, der Bewahrung der Einheitlich­ keit der deutschen Rechtschreibung sowie der Beobachtung der Schreibpraxis auch unter Beriicksichtigung des amtlichen Regelwerks widmen. Von ihm werden dementsprechend keine À.nderungsvorschlage mehr erwartet, sondern lediglich Bemerkungen, die die Diskussion iiber die kiinftige Sprachentwicklung anregen. In Anbetracht der grundlegenden Kompromisse, denen die Reform von 1996 ihren spaten Erfolg verdankt, diirfte es sich dabei um keine Routineaufgaben handeln, zumal in der Endfassung des Regelwerks der Toleranz-Spielraum der zugelassenen Schreibweisen durch etliche Varianten ausgeweitet ist, die im All­ gemeinen alte Schreibungen wieder aufnehmen, ohne die Reformanderungen riickgangig zu machen. Zur Verdeutlichung kann hier ein O berblick der Schreibungen niitzlich sein, die das Rechtschreibworterbuch der deutschen Sprache auf der Grundla­ ge des Regelwerks 2oo6 8 auflistet. Neben dem unangetastet gebliebenen Vorre­ formbestand und den Reformschreibungen, die seit 1996 anstelle der Duden­ entsprechungen auftreten (etwa Hass vs. Hafl; Tipp vs . Tip; beliimmert vs. be­ lemmert; Flane/1/appen vs. Flanellappen; im Wesentlichen vs . im wesentlichen; heute Morgen vs . heute morgen; Radfahren vs . rad/ahren; dabei sein vs . dabei­ sein, irgendetwas vs. irgend etwas) finden sich Schreibweisen, zu denen sich in­ folge der Prazisierungen der Zwischenstaatlichen Kommission und vor allem der Revision des Rechtschreibrates Vorreformgraphien als zugelassene Varian­ ten gesellen (etwa dahinter kommen bzw. dahinterkommen; /ertig kochen bzw. fertigkochen; Acht geben bzw. achtgeben; Recht haben bzw. recht haben ; ich schreibe dirleuch bzw. ich schreibe Dir/Euch) . Es fehlen auch nicht Varianten, die nicht auf die Dudenorthographie zuriickgehen: von leidtun zu der Reform­ schreibung Leid tun (offensichtlich eine 2004 eingefiihrte Kompromisslosung zwischen Vertretern und Bekampfern des substantivischen Status der ersten 7· Im Juni 2009 hat die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK), die in den letzten Jah ren zu den aktivsten Kritikern der Neuregelung 2006 gehort hat, ein Moratorium beantragt mit der Be­ griindung, die reformierte Reform und die vorhandenen Lehrmittel seien widerspriichlich und feh­ lerhaft. Vgl : http://www. schriftdeutsch .de/orth-akt.htm (zuletzt November 2009). 8 . Im Sommer 2009 sind zeitgleich die 25. Auflage des Rechtschreibdudens und die 7· des Wah­ rigs erschienen . Beide Verlage hatten resp. 2006 und 2007 die von dem Rechtschreibrat revidierte Fassung des Regelwerks herausgebracht . Duden 2009 verzichtet sowohl auf die Wiedergabe des amtlichen Textes als auch auf die in allen friiheren Reformauflagen erscheinende rote Markierung der Reformschreibungen, empfiehlt allerdings weiterhin , gelb unterlegt und an erster Stelle plat­ ziert, orthografische Varianten, die i. A. von den vom Rat bevorzugten Sch reibungen abweichen (et­ wa Energie sparend, Raum sparen d vs. energiesparend und raumsparend) : Demgegeniiber halt sich Wahrig meist an die von den Nachrichtenagenturen gemaE dem Ergebnis einer Medienkundenbe­ fragung vom Mai 2oo6 vorgeschlagene Schreibweise fur gedruckte Medien, die die herkommliche Orthographie priviligiert. Vgl. dazu Dankwart Guratzsch: Duden gegen Wahrig. Die Rechtschreib­ re/orm ist endgultig gescheitert. In: Welt online Kultur, 3. August 2009.

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Komponente) iiber morgen Friih zu morgen /riih (wobl auf die Analogie mit gro.Bgescbriebenen Tageszeiten nacb Temporaladverbien zuriickzufiibren) bis bin zum gro.Bgescbriebenen auf dasiaufs Beste zu au/s beste (allerdings nicbt auf die konkurrierenden Superlative mit dem nicbt auflosbaren am ausgedebnt: nacb wie vor nur am schnellsten) und zu seit langem zum traditionellen seit lan­ gem (womit aucb dem flektierten Adjektiv obne Artikel der Status einer Sub­ stantivierung anerkannt wird) . Und mebr nocb: Vom Recbtscbreibrat neu ein­ gefiibrte Scbreibweisen wie zutgj_lwerden und abh(Jndenkommen vereinen zum ersten Mal Bestandteile von Verbindungen, die selbst in der zusammenscbrei­ bungsfreundlicberen Dudenortbograpbie getrennt blieben, um " Ungereimtbei­ ten der iiberkommenen Recbtscbreibung" abzuscbaffen (Spracbreport 2oo6: 6) , aber wiederum aucb mi t Hinweis auf formale Griinde, da bervorgeboben wird, dass die Fiigungen nur einen Hauptakzent tragen. Unter diesen Umstanden scbeint der eingekebrte Recbtscbreibfrieden keine automatiscbe Garantie fiir die Erbaltung der Einbeitlicbkeit der deutscben Or­ tbograpbie zu sein, wobei diese Feststellung jeden frappiert, der die Bestrebun­ gen der Berliner Konferenz von 1901 vor Augen bat. Es ging damals darum, die jabrbundertlang ersebnte allgemeindeutscbe ortbograpbiscbe Kodifizierung zu erzielen, in deren Namen Konrad Duden scbon anlasslicb der ersten Ausgabe sei­ nes Worterbucbs seine "besonderen die Recbtscbreibung betreffenden Wiinscbe zum Opfer" bringen wollte (Duden 188o: VIII). Im Abstand von bundert J abren konnte sicb das Problem neu stellen, nur dass dieses Mal eine ortbograpbiscbe Reform iiberbaupt erst die Bedingungen gescbaffen batte, die den Befiircbtun­ gen um die Einbeitlicbkeit der deutscben Spracbe zugrunde liegen. Nicbt weniger problematiscb siebt es mit der Beobacbtung der Scbreibent­ wicklung gema.B dem Regelwerk aus. In der Tat konnten die Fiille der zugelasse­ nen Scbreibweisen fiir ein und dasselbe Wort sowie die daraus resultierende Ab­ scbwacbung der Systematik den Weg zu vermebrter Toleranz ebnen, und zwar nicbt nur in Bezug auf die Wabl dieser oder jener Variante, sondern aucb auf Ab­ weicbungen von Recbtscbreibregeln iiberbaupt. Wie dieser gleicbsam lockere Umgang mit den Regeln mit der Notenwirksamkeit der ortbograpbiscben Scbul­ leistung in Einklang zu bringen ware, bleibt offen. Da diirfte der Lebrerscbaft aucb nicbt mit dem Argument gebolfen sein, dass " Sicberbeit beim Korrigieren verlangt, dass alle iiberbaupt moglicben Scbreibungen erfasst sind" (Eisenberg 2007: 6) . Es fiibrt kein Weg daran vorbei: Im Recbtscbreibunterricbt aufgrund der neuen Ortbograpbie muss a priori eine Entscbeidung iiber die zu vermittelnde Va­ riante getroffen werden, bei der Kriterien wie die Haufigkeit im Gebraucb, Un­ terscbiede in der Febleranfalligkeit und anderes nocb Pate steben sollen. Ober­ baupt sind in der Recbtscbreibdidaktik ab jetzt Voriiberlegungen vonnoten, die die Lerninbalte der Disziplin bestimmen und den Gegenstandsbereicb eingren­ zen (vgl. Sitta 200T 56) . Und zuletzt: Die Beobacbter der Scbreibentwicklung wer­ den nicbt davon abseben konnen, dass der usus scribendi zwar meist mit dem amt­ licben Regelwerk interagiert, mancbmal aber au.Berbalb desselben einsetzt. Paradoxerweise miissten beute selbst erbitterte Feinde der Neuregelung 1996 zu­ geben, dass der didaktiscbe Umgang mit der neuen Ortbograpbie u. U. unkom­ plizierter ware, wenn bei all den Ungereimtbeiten eines nicbt erprobten Regel-

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werks seine erste Fassung stehen geblieben ware. Denn, wie immer man zu den Ànderungen von 1996 stehen mag: Es kann den Mannheimer Reformern nicht be­ stritten werden, dass sie mit ihrem Konzept eine innovative ratio einweihen und konsequent durchsetzen wollten. Die formulierten Vorgaben, einzeln und in ihrer Ganzheit gesehen, sollten gegeniiber friiher ein breitereres Wirkungsspektrum abdecken und zugleich so unmissverstandlich lauten, dass samtliche Benutzer oh­ ne Riickgriff auf das Worterbuch zur korrekten Schreibung der meisten Worter geleitet werden, etwa nach der Gleichung: bei gleicher Anwendung gleicher Regeln gleiche Losungen (Sitta 2oo6: 17) . Angestrebt war die Potenzierung von Regeln, und zwar von solchen, die jeder Schreibende autonom anwenden kann, auf Kos­ ten von Einzelwortfestlegung, wofiir W orterbuchredaktionen zustandig sin d. Mit der iibersichtlicheren Reglementierung des orthographischen Stoffes und der unvermittelten Auslegung der Rechtschreibanweisungen werde automatisch die Vereinfachung des Rechtschreiberwerbs einhergehen. Dieser Vorsatz hort sich gut an, umso besser, als er von Fachleuten vorgebracht wurde, die auf dem Gebiet der Orthographie sowohl theoretisch als auch didaktisch auf betrachtliche Leistungen verweisen konnen 9• AuBerdem wollte ihr Unternehmen, dem - wohl aus extra­ linguistischen Griinden - auch die Politik wohlwollend gegeniiberstand, dem viel­ fach ungern gesehenen Dudenprivileg ro ein Ende setzen und die Zustandigkeit der amtlichen Rechtschreibung wieder in staatliche Bahnen lenken. Was dann kam, entsprach jedoch nicht diesen giinstigen Voraussetzungen, wobei der Misserfolg des Regelwerks 1996 keineswegs allein auf die Substanz der eingefiihrten Schreibanderungen, d. h. auf die Qualitat des vorgeschlagenen Mo­ dells zuriickzufiihren ist. Dazu ha t eher eine Reihe konkurrierender F aktoren beigetragen, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Eine ausschlaggeben­ de Rolle diirfte immerhin die Tatsache gespielt haben, dass die Schreibenden of­ fensichtlich am gewohnten Schriftbild inniger hangen, als die rationale Bewer­ tung von Bedeutung un d Funktion der amtlichen Rechtschreibung nahelegt. Das individuelle Verstandnis vom korrekten Schreiben ist namlich das Ergebnis einer komplexen Interaktion zwischen der geltenden Norm und dem Rezipienten, «ein Konglomerat aus intemalisierten Regeln der externen N orm un d eigenen Gene­ ralisierungen und Regularisierungen» (Kohrt 1997: 29 8). Dieser Erkenntnis hatte vielleicht bei den ersten Alarmglocken sogar bis zu den extremen Konsequenzen Rechnung getragen werden sollen. Wie wenig apodiktisch diese Ansicht gemeint ist, soll im Folgenden anhand des Beispiels der Getrennt- und Zusammenschrei­ bung (Neuregelung 1996 bis 2oo6: Teil B § 33-9) erlautert werden. In Anbetracht dessen, dass dieser Bereich im Vordergrund der Zwistigkei­ ten der Neunziger] ahre gestanden ha t und in gewissen Hinsichten immer noch steht, fallt zunachst auf, dass er trotz unbestreitbar unzulanglicher Reglemen­ tierung kaum von friiheren Reformprojekten beriihrt worden war. Die Rede ist 9· U.a. von Gerhard Augst, Klaus Heller, Horst Sitta, Peter Gallmann, Dieter Nerius und Ru­ dolf Hoberg. Anfanglich (bis resp. 1997 und 1998) gehorten auch Horst Haider Munske (an dessen Stelle Dieter Herberg trat) und Peter Eisenberg dazu. 10. Im Zuge der Polemik, die dem Scheitern der Stuttgarter Emp/ehlungen von 1954 gefolgt war, hatte die Kultusministerkonferenz der BRD 1955 beschlossen, bei der schulischen Korrektur sollten allein die im Duden verzeichneten Varianten als m�geblich gelten .

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hier vor allem von den Reformbemiihungen der zweiten Halfte des 20. ] ahr­ hunderts, bei denen sich dieses Versaumnis durch die Polarisierung der Auf­ merksamkeit auf di e F rage der Gro.Bschreibung der Substantive erklaren lasst (vgl. Strunk 1998). Aber dass die Getrennt- und Zusammenschreibung erst spat ins Rampenlicht des orthographischen Interesses gelangt ist, deutet jedenfalls darauf hin, dass sie vom Durchschnittsschreibenden nach der Dudenorthogra­ phie als nicht besonders problematisch empfunden wurde, zumindest insofern, als er in diesem Bereich eine gewisse Schreibfreiheit genoss. Diese Freiheit soli­ te auch von einer eventuellen Reform nicht eingesch rankt werden, da «eine ma.Bvolle Liberalisierung von der Sache her sehr wohl begriindbar un d psycho­ logisch sehr gut durchsetzbar» schien (Glinz 1979: 52) . Die Reform von 1996 schlug da bekanntlich einen anderen Weg ein. Aus die­ sem Grund stellt sich die Getrennt- und Zusammenschreibung im Rahmen der vorliegenden Argumentation aus mindestens zwei Erwagungen heraus als pas­ sender Komparationsgegenstand zwis chen der ursp riinglichen Neuregelung un d der revidierten F assung von 2oo6 dar. Zum einen handelt es sich ja beim Regelwerk 1996 um den ersten Versuch, eine heikle orthographische Materie zu systematisieren, war sie doch 1901 auf­ grund der Schwierigkeit, sie in feste Normen einzufassen, unberiicksichtigt ge­ blieben un d erst in den Dudenausgaben des 20. ] ahrhunderts inkonsequent un d mit haufigem Riickgriff auf Einzelwortfestlegungen behandelt worden. Insofern hatten die Reformer hier die Moglichkeit, ihre theoretischen Grundsatze auf ei­ ne Art tabula rasa einzugravieren und in erstmalig zu formulierende Regeln um­ zusetzen, ohne eine etablierte Norm umzuwerfen. Zum anderen ist er bezeich­ nenderweise auch der einzige, in dem faktisch Neuschreibungen zugunsten tra­ ditioneller in F rage gestellt werden, un d zwar von den Reformern selbst. Wenn auch durch die de iure condendo-Stimmung animiert, muss ihnen al­ lerdings von vornherein klar gewesen sein, warum ihre Vorganger von der Re­ glementierung dieses Bereichs abgesehen hatten. Tatsachlich erkennt namlich je­ der muttersprachliche "Normalschreiber" in der Regel ohne Schwierigkeiten, wo ein Wort endet und das benachbarte beginnt, obwohl dies in Anbetracht der un­ terschiedlichen Kriterien, die fiir die Definition des Wortbegriffs in Frage kom­ men, eine komplexe Kompetenz ist. Jedoch konnen urspriinglich autonome Worter, die im Text hintereinander stehen und synktaktisch aufeinander bezo­ gen sind, mit der Zeit graphisch zusammengezogen werden. Dieser Univerbie­ rungs- und Inkorporationsprozess, der diachronisch und synchronisch eine be­ deutende Rolle bei der Wortbildung jeder beliebigen Sprache spielt, tritt ten­ denziell umso haufiger auf, als ein aus mehreren Komponenten bestehender Aus­ druck gemeiner Usus ist. Ihm verdankt die Sprache Neubildungen und neue se­ mantische Begriffe, die auch durch Wortklassenwechsel gekennzeichnet sein konnen, wie etwa trotzdem, anhand, wiihrenddessen,jederzeit, demzufolge (sowie it. apposta, nonostante, malessere, palcoscenico). Das neue durch Univerbierung und Inkorporation des Nominals entstandene Wort sieht die Zusammenschrei­ bung in derselben Reihenfolge der Glieder vor, die friiher lexikalisch selbstandig waren. Generell gilt also der Unterschied zwischen Zusammensetzungen, die auch graphisch zu einer Worteinheit verschmelzen, und Wortgruppen, d.h. zwei synktaktisch aufeinander bezogene Worter, di e getrenntgeschrieben werden.

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Hier setzen fiir die deutsche Sprache die Probleme ein, denn im Deutschen gibt es bekanntlich im Verbalbereich Zusammensetzungen des Typs erkliiren, besuchen, liebkosen, die der Definition des Begriffs zufolge immer zusammen­ ges chrieben werden und auch in der Flexion dieselbe Aufeinanderfolge der Glieder beibehalten (liebkose, liebkoste, geliebkost) , und solche, die mit einem Hauch contradictio in terminis als " trennbare Zusammensetzungen " bezeichnet werden. Es handelt sich dabei um Verbindungen eines Verbs mit einem ersten Bestandteil, der mit Prapositionen, Adverbien, Substantiven, Adjektiven und Verben formgleich sein kann. Diese " lockeren " Zusammensetzungen werden nur in Kontaktstellung zusammengeschrieben: abfahren, au/wiirtskletternd, weil sie . . . teilnehmen, aber ich stelle /est, es hat stattge/unden. Nebenbei gemerkt: Eigentlich diirften diejenigen von ihnen, die praposi­ tionale und adverbiale Verbpartikel aufweisen, eher als synktaktische Gruppen von richtungsbezeichnenden Prapositionen und Adverbien gelten, die als Ein­ heit gefasst und daher in Kontaktstellung zusammengeschrieben werden. Dafiir wiirde ja sprechen, dass sie sich beziiglich der Wortstellung als selbstandige Tei­ le verhalten. Sie befinden sich in der Tat bei Zweitstellung des finiten Verbs ge­ nau da, wo man Richtungsbezeichnungen erwartet , und zwar moglichst weit hinten im Satz: Warum starrt ihr mich so an? Geht doch schnell weiter.' Ande­ rerseits treten sie bei Letztstellung des finiten Verbs, beim Infinitiv und bei den Partizipien unmittelbar vor dem Verb auf und werden mit ihm graphis ch zu­ sammengezogen: . . , wenn sie mich anstarren, er will nicht weitergehen. Der erschwerende Umstand an der deutschen Getrennt- und Zusammen­ schreibung bei Verbalverbindungen besteht also nicht in der Verlegenheit, zwi­ schen Zus ammensetzungen stricto sensu und Wortgruppe zu unterscheiden, sondern im Vorhandensein von Zusammensetzungen, die sich unter gewissen Umstanden in ihre Bestandteile zerlegen lassen. Sie von einer Wortgruppe aus­ einanderzuhalten, mag in der Tat Kopfzerbrechen bereiten. Wie wollten nun die Reformer 1996 diese Schwierigkeit aus dem Weg rau­ men, und wie steht es damit im Regelwerk 2oo6? .

Di e ersten gehen von der Getrenntschreibung als N ormalfall aus un d fiihren von dieser Basis aus anstelle der widerspriichlichen Duden-Richtlinien formal­ grammatische Orientierungskriterien ein, die das normgerechte Schreibverhal­ ten fordern sollen. So soli, hier im O berblick angefiihrt, getrenntgeschrieben werden, wenn der erste adjektivische oder adverbiale Bestandteil einer verbalen Verbindung erweitert bzw. erweiterbar oder steigerbar ist: niiher kommen, kurz treten, sauber halten. Ebenfalls Getrenntschreibung wird vorgegeben fiir erste Bestandteile in Form von zusammengesetzten Adverbien (durcheinander brin­ gen, anheim fallen) , Adjektiven auf -ig, -isch, -lich (ubrig bleiben) , Partizipien (verloren gehen) , Substantiven (Radfahren, Leid tun), soweit sie nicht in der ge­ schlossenen Liste von trennbaren Verbzusatzen stehen (unverandert: standhal­ ten, irre/uhren) sowie Infinitiven (sitzen lassen, kennen lernen ) . Wegen der erfolgten Vermeh rung de r Getrennts chreibung fallen somit tatsachlich etliche irritierende N euschreibungen auf, die in den Medien Schlag­ zeilen machen; am meisten verwirrt dabei das Ausbleiben vieler Begriffe, die noch im Rechtschreibduden 1991 als lexikalische Eintrage figurierten. Durch die

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Aufhebung der zusammengeschriebenen Option fi.ir viele homophone und ho­ mographe Verbindungen geht namlich die Moglichkeit verloren, semantische und synktaktische Unterschiede graphisch erkennbar zu machen (sich ausein­ andersetzen vs . sich auseinander setzen, sitzenbleiben vs. sitzen bleiben bzw. so­ genannt vs. so genannt, alleinstehend vs . allein stehend) . Die programmatische starkere Aus richtung am grammatischen Prinzip legt halt Folgen an den Tag, die gewohnungsbedi.irftig sind. Anhand des letzten ihrer vier Berichte bietet sich nun fi.ir die Kommission die Moglichkeit, aufgrund der vorgebrachten Kritik sowie der beobachteten Um­ setzungss chwierigkeiten Richtigstellungen vorzuschlagen. Diese Gelegenheit nutzt sie nicht nur in der Form von Prazisierung der formalen Proben, sondern auch, um zu mehreren 1996 eingefi.ihrten Getrenntschreibungen zusammenge­ schriebene Varianten hinzuzufi.igen. Das soli zwar die Heftigkeit der Kritik ent­ scharfen, weist aber auch ungewollte Nebenwirkungen auf. Um Varianten wie leidtun ZU Leid tun, zeitsparend zu Zeit �parend, nichto.Jfentlich ZU nicht of/ent­ lich unter Berufung auf grammatische Uberlegungen zu legitimieren, muss ja faktisch eine Flexibilisierung der Regel eintreten, die i.ibrigens in den meisten Fallen den Einwanden entgegenkommt. À.hnliches betrifft § 34(1), d.h. die Liste der Partikeln, die mit Verben trenn­ bare Zusammensetzungen bilden konnen. Hier haben wir es sogar mit zwei suk­ zessiven À.nderungen zu tun: Zunachst bleibt die Kommission dem Prinzip der unmittelbaren Auslegbarkeit der Regel treu und somit der geschlossenen Parti­ kelnliste, die allerdings vierzehn weitere Verbzusatze aufnimmt (u. a. dahinter- , d(a)rau/-, d(a)rau/los-, d(a)rin-). Ein paar Monate spater, in Erganzung zum vier­ ten Bericht, wird die geschlossene Liste zu einer offenen, wobei darauf hinge­ wiesen wird, dass viele davon auch getrenntgeschrieben werden konnen, wenn sie als freies Adverbial vorkommen. Als Unterscheidungsmerkmal wird der Hauptakzent (bei Verbzusatz) und die mogliche Einschiebung von anderen Satzgliedern (bei Adverbial) angegeben: sie sind wieder zus(lmmengekommen vs . sie sind zusammen mit anderen gekommen. Mit diesen Eingriffen ist s chon eine Bresche in die Kompaktheit der ur­ spri.inglichen Anlage geschlagen. Der Wechsel von der geschlossenen auf die offene Partikelnliste bringt es in der Tat mit sich, dass kein vollstandiger Gruppenbestand, sondern Beispiele aufge­ fi.ihrt werden, die dem Benutzer zwar die Typologie der betroffenen Partikeln verans chaulichen, ihm aber in Zweifelsfallen nicht weiterzuhelfen vermogen. Nicht anders verhalt es sich mit dem Kriterium der Betonung, an das sich die Bemi.ihungen des Rechtschreibrates halten , um zwischen synktaktischer Fi.igung und Worteinheit zu unterscheiden : " Zusammenschreibung korreliert mit (ei­ nem zusammenfassenden) Wortakzent" (Emp/ehlungen des Rats 2oo6a: 3 ) . Auch hier handelt es sich genau besehen um eine Umorientierung, die sich schon in der endgi.iltigen Fassung des vierten Berichts der Zwischenstaatlichen Kommis­ sion abgezeichnet batte. Das Betonungsprinzip erweist sich in der Regel als hilf­ reich, allerdings unter der Voraussetzung, dass der Schreibende "i.iber ausrei­ chende sprachliche Erfahrung" verfi.igt und "sich der richtigen Betonung be-

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wusst " (Bliiml 2oo6: n) ist, womit erhebliche Probleme insbesondere fiir die DaF-Rechtschreibdidaktik entstehen. Gehen wir nun im Ù berblick zu einzelnen Ànderungen des § 34 iiber, die nach dem Eingriff des Rechtschreibrates in die Neuregelung eingearbeitet wur­ den und seit 2006 die amtliche Kodifizierung fiir diesen Bereich darstellen. § 34 ( I ) : Wie vorweggenommen, wird bei Verbindungen von Partikeln und Verb Zusammenschreibung vorgegeben, soweit es sich um trennbare Zusam­ mensetzungen handelt. Dabei konnen als Verbzusatze nicht nur Worter fungie­ ren, die mi t Prapositionen und Adverbien formgleich sind, sondern auch sol­ che, die nicht mehr selbstandig vorkommen und von daher keiner bestimmten Wortklasse zuzuschreiben sind. Daraus ergeben sich die folgenden Neuschrei­ bungen: aufeinanderlegen, durcheinanderkommen, sich auseinandersetzen, aber auch die partikelnbetonten zunichtemachen, abhg_ndenkommen, zutgj_lwerden. § 34 (2): Bei Verbindungen von Adjektiv bzw. Adverb und Verb, fiir die die N euregelung 2004 bei Steigerbarkeit oder Erweiterbarkeit des ersten Bestandteils bzw. bei auf -ig, -isch, -lich endenden Erstteilen Getrenntschreibung vorsah (da­ ber kaputtmachen, aber immer grob mahlen; /ertig machen), steht es dem Schrei­ benden aufgrund der anerkannten Unzulanglichkeit jeder beliebigen Regelung frei, oh er sich fiir Getrennt- oder Zusammenschreibung entscheidet: grobmahlen bzw. grob mahlen, totschlagen bzw. tot schlagen, ubriglassen bzw. ubrig lassen. Die Moglichkeit einer Zusammenschreibung ist jedenfalls immer dann gegeben, wenn (E 5) die Verbindung im iibertragenen Sinne verwendet wird bzw. ihre Gesamt­ bedeutung von der der einzelnen Bestandteile abweicht: richtigstellen im Sinne von korrigieren vs. richtig stellen im Sinne von passend hinstellen, /ertigmachen im Sinne von ruinieren vs. /ertig machen im Sinne von zu Ende bringen. § 34 (3 ) : Fiir Verbindungen von Substantiv und Verb, fiir die die Neurege­ lung 2004 bis auf eine diinn besetzte geschlossene Liste substantivischer Verb­ zusatze (heim/ahren, irre/uhren, aber Bis lau/en, Kopf stehen) Getrenntschrei­ bung vorschrieb, kehrt in der Neuregelung 2006 Zusammenschreibung zuri.ick, zumindest soweit die substantivischen Bestandteile die Eigenschaft eines selbst­ standigen Substantivs verloren haben. Somit stehen eislau/en , kop/stehen und nottun wieder im Worterbuch, im Gegensatz etwa zu zeitrauben oder diiitleben, fiir die, zusammen mit dem gelaufigeren rad/ahren, nach wie vor nur Getrennt­ schreibung gilt. In vier Fallen (E 6) gesellt sich zur getrennten Reformschrei­ bung die zusammengeschriebene Variante: Halt machen bzw. haltmachen, Acht geben bzw. achtgeben, Mafl halten bzw. maflhalten, Acht haben bzw. achthaben . § 34 (4) : Verbindungen von Verb + Verb werden prinzipiell, so wie im Re­ gelwerk 1996 bis 2004, getrenntgeschrieben (weiterhin spazieren gehen, lieben lernen); dazu kehrt aber im Falle von Verbindungen mit bleiben und lassen die Moglichkeit der Zusammenschreibung zuriick (E 7): liegenbleiben bzw. liegen bleiben, stehenlassen bzw. stehen lassen, sich gehenlassen bzw. jdn. gehen lassen. Auch hier soli die Zusammenschreibung die iibertragene Semantik hervorheII

n . Hier (E I) wird zur Unterscheidung zwischen Verbpartikel un d Adverbial das Kriterium der Erstbetonung bestatigt; andere Kriterien, die zur Getrenntsch reibung anhalten, sind (I) die Mog­ lichkeit der Erststellung des Adverbs im Aussagesatz und (2) die Moglichkeit der Einschiebung von Satzgliedern zwischen Adverb und Infinitiv.

E N DE G U T, ALLES G U T ?

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ben, die bei Verbindungen mi t beiden Verben besonders haufig vorkommt. Es kehrt auch als Einzelwortfestlegung die traditionelle Variante kennenlernen zuriick, die man freilich gern wieder sieht, obwohl diese Sonderbehandlung nicht iiberzeugend begriindet wird (vgl. Eisenberg 200T 12). So moderat die oben dargelegten .Ànderungen in quantitativer Hinsicht auch sein mogen, sie treffen den theoretischen Kern des Regelwerks 2oo6 und erge­ ben ein normatives Modell, das nicht mehr der Grundkonzeption der Reformer entspricht. Wie schon erwahnt, haben zwar die meisten Reformschreibungen die Revision des Rats iiberlebt, viele davon sogar als einzige zugelassene Gra­ phie, ja iiberhaupt wurde kaum etwas von den Neuerungen zuriickgenommen. Doch hat das Korpus, das in seiner Systematik eine straffe Einheit ausmachte, mit jeder einzelnen Korrektur an Geschlossenheit un d Koharenz nachgelassen. Denn die Kriterien, die der Rechtschreibrat auftragsgemaB seiner Ausarbeitung zugrunde legte, gehen in eine ganz andere Richtung als die Reform von 1996. Diese wollte vo rdergriindig durch die Hervorhebung des grammatis chen Aspekts und die Anwendung formaler Hilfsmittel jene traditionelle semantische Herangehensweise hinauskomplimentieren, die 2oo6 unter Berufung auf den Schreibgebrauch wieder hereingeholt wurde. In den Bereichen, wo der Hinweis auf die Semantik eine Rolle spielt, ist die deutsche Orthographie nach einer langjahrigen, existenzbedrohenden Tour substantiell wieder an dem Punkt an­ gelangt, wo sie die vielfach kritisierten Dudenworterbiicher hingefiihrt hatten. Dem strapazierten Umlerner kann da nur die gelassene, gerne zitierte Be­ merkung eines groBen Literaten und Aphoristikers des 18. J ahrhunderts ein Trost sein, der sich als erfahrener Biicherkorrektor in der Orthographie gut aus­ kannte: «Der eine hat eine falsche Rechtschreibung und der andere eine rechte Fehlschreibung» (Lichtenberg 1968: 327) . Literatur AUGST G. et al. (Hgg.) (2007) : Die Arbeit der Zwischenstaatlichen Kommission /iir deutsche Rechtschreibung von I997 bis 2004, Hildesheim et al. BACK o. (1978) : Zur Klein- un d Groflschreibung im Deutschen: Probleme und Standpunk­ te, Wien. BIRKEN-BERTSCH H. l MARKNER R. (2ooo) : Rechtschreibre/orm und Nationalsozialismus . Ein Kapitel aus der politischen Geschichte der deutschen Sprache, Gottingen. BLUML K. (2oo6) : August 2006- kurz kommentiert aus schulischer Sicht. In: Tribune. Zeit­ schrzft /iir Sprache und Schreibung 3, n - 5 . BREDL u. l GUNTHER H . (Hgg.) (2oo6) : Orthographie und Rechtschreibunterricht, Ti.ibingen. DEUTSCHE AKADEMIE FUR SPRACHE UND DICHTUNG (Hg.) (2003) : Zur Re/orm der deut­ schen Rechtschreibung. Ein Kompromissvorschlag, Gottingen. DUDEN K. (I88o) : Vollstà'ndiges Orthographisches Worterbuch der deutschen Sprache. Nach den neuen preuflischen und bayerischen Regeln , Leipzig. DUDENREDAKTION (2oo6) : Duden-Die deutsche Rechtschreibung. 24., vollig neu bearbeite­ te und erweiterte Ausgabe, Mannheim et al. ID. (2009 ) : Duden-Die deutsche Rechtschreibung. 25. Auflage, Mannheim et al. EISENBERG P. (2007) : Deutsche Orthographie 2007 Was in Zukun/t gilt. In: da/ Werkstatt 9-10, 5-19 .

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GLINZ H .

Sandro M. Moraldo

Web 2 . 0 und die deutsche Sprache. Kommunikative und sprachliche Aspekte der Microblogging-Plattform Twitter

I

Einleitung Im J ah re 2oo6 wurde in San Francisco von Biz Stone, J ack Dorsey un d Evan Williams ein Unternehmen gegri.in det, dessen angebotene Dienstleistung inter­ essierten Nutzern die Moglichkeit geben solite, nach dem Motto Share and dis­ cover wha(s happening right now, anywhere in the world, Status-Updates, Mel­ dungen, Beobachtungen, Statements, Aphorismen, Witze, Eindri.icke , Erfah­ rungen etc. in maximal I40 Zeichen Lange, so genannten Tweets, im Web nicht nur zu verbreiten, sondern auch zu empfangen: «Users send messages (called 'tweets ') - limited to 140 characters - to a web interface, where they are dis­ played» (Honeycutt l Hering 2009 : I f. ) . Die unter dem Namen Twitter regi­ strierte Dienstleistung ist mittlerweile zum Markennamen schlechthin und zum Standard des Microblogging avanciert. Denn mit der urspri.inglich recht bana­ len und simplen, aber durchaus erfolgreichen Idee, sich mit Freunden dari.iber auszutauschen, was man gerade tut: «Twitter is a free service that lets you keep in touch with people through the exchange of quick, frequent answers to one simple question: What are you doing?», ist Twitter mit seinen kontinuierlich steigenden Zuwachsraten an Usern die Nummer I unter den Microblogging­ Plattformen Der folgende Beitrag setzt sich mit den kommunikativen und sprachlichen Aspekten von Twitter auseinander. In Kapitel I wird die Kommunikationsform im Kontext der Bandbreite der Web 2.o-Anwendungen behandelt und der Frar.

1 . Im November 2009 postete das Dienstleistungsunternehmen auf ihrem Tv.ritterblog dann fol­ gende Nachricht; " 'What are you doing?' isn 't the right question anymore - starting today, we've shortened it by two characters. Tv.ritter now asks, 'What's happening? "' . Der Grund, so das Un­ ternehmen, sei darauf zuriickzufiihren, dass Twitter in der Zv.rischenzeit ein Kommunikationsnetz­ werk entv.rickelt habe, das weit iiber die reine Mitteilung von Statusmeldungen hinausgehe: "The fundamentally open model of Tv.ritter created a new kind of information network and it has long out­ grown the concept of personal status updates. Tv.ritter helps you share and discover what's happen­ ing now among ali the things, people, and events you care about" . "Twitter", so Biz Stone, der den Eintrag schrieb, "was originally conceived as a mobile status update service - an easy way to keep in touch with people in your life by sending and receiving short, frequent answers to one question, 'What are you doing? ' However, when we implemented the service, we chose to leave something out. To stay simple, Tv.ritter did not require individuals to confirm relationships. Instead, we left things open " (http://blog. tv.ritter.comhoo9/n/whats-happening.html).

S A N D RO M. M ORALD O

ge nach deren Nutzung nachgegangen. Von welchen medialen und kommuni­ kativen Pramissen Twitter getragen wird, soll in Kapitel 3 kurz dargelegt wer­ den. In Kapitel 4 sollen dann auf der Grundlage des von Koch l Oesterreicher 1990, 1994, 1996, 2007) prasentierten Modells der medialen und konzeptionel­ len MiindlichkeitiSchriftlichkeit und der von Androutsopoulos (2007) zusatz­ lich veranschlagten Parameter zur Bestimmung einer 'neuen Schriftlichkeit' die in Twitter untersuchten sprachlichen Muster erortert werden. Kapitel 5 schlieBt den Beitrag mi t einem kurzen F azit. 2 Twitter im Web 2.o-Mitmachnetz

Twitter ist eine innovative Kommunikationsplattform, die sich nahtlos in das 'Mitmachnetz' einfiigen lasst. 'Mitmachnetz' bedeutet, dass Informationen im www n un nicht mehr allein von professionellen Anbietern fiir den Verbraucher bereitgestellt werden, sondern dass die User «selbst zu Produzenten von Infor­ mationen werden und ihre Erlebnisse, Schilderungen, Meinungen oder person­ lichen Daten mit anderen Menschen teilen» (Schmidt l Frees l Fisch 2009: 50) . In dieser «Partizipation der Nutzer» (Busemann l Gscheidle 2009: 356) besteht der Mehrwert des Web 2.o-Konzeptes. Vollzogen wurde damit ein nicht ganz unwesentlicher Schritt vom Internet als content provider zur Plattform fiir user generated content. In der Bandbreite der Web 2.o-Anwendungen stellt nun Twit­ ter eine weitere Moglichkeit des sozialen Miteinanders , des aktiven Informati­ onsaustausches und der produktiven wie rezeptiven Beteiligung am Kommuni­ kationsprozess dar. Die ARDIZDF-Onlinestudie 2010 2 hat gezeigt, dass klassische Kommunikationsanwendungen den zentralen Nutzungs aspekt im Internet dar­ stellen. Das Fazit in Bezug auf den typischen Internetnutzer lautet: «Die meiste Zeit wird fiir oder mit Kommunikation aufgewendet». Fast unbegrenzte Nut­ zungsoptionen machen «ein reichhaltigeres und komplexeres Angebot moglich, das auf mehreren Distributionsplattformen linear und nicht-linear zuganglich ist» (ARD l ZDF 2007: 27) . Erstaunlich ist aber, dass trotz der Konkurrenz des Web 2.0 'traditionelle' Kommunikationskanale nach wie vor eine dominante Rolle spielen. So zahlen gerade «klassische Partizipationsmoglichkeiten» wie E­ Mail, Chat oder die Teilnahme an Foren zu den am meisten genutzten Internet­ anwendungen: «84 Prozent der Onliner senden und empfangen mindestens wochentlich E-Mails, 29 Prozent nutzen Instant-Messaging-Dienste wie ICQ, MSN Messenger oder Skype, und ein Fiinftel (19 o/o ) tauscht sich in Gesprachsfo­ ren, Newsgroups oder Chats aus» (Busemann l Gscheidle 2010: 359). Bei den von der ARDIZDF-Onlinestudie seit 2007 untersuchten Werkzeugen und Angeboten des Web 2. 0 und deren Nutzung, steht die Online-Enzyklopadie Wikipedia, eine Kontraktion aus 'wiki' (hawaiianisch fiir 'schnell') und 'ency­ clopedia' (griech. enkyklios un d paidéia: 'umfassende' oder 'allgemeine Bildung' , 2 . Fur eine ausfuhrliche Obersicht der Onlineanwendungen 2010 nach Geschlecht und Alter ­ vgl. van Eimeren l Frees (2010: 338) , die zahlreiche Internetanwendungen «von E-Mails uber Com­ munitys bis hin zu Video- und Audioinhalten» auflisten. -

WEB

2.0

249

U N D D I E DEUTSCHE SPRACHE

TABELLE I Quelle: ARD/ZDF-Onlinestudien 2007- IO Weh 2.0: Gelegentliche und regelmaBige Nutzung 2007 bis 2010 (in % )

Gelegentlich (zumindest selten) Wikipedia Videoportale (z.B. YouTube) private N etzwerke u. Communitys F otosammlungen, Communitys berufliche N etzwerke und Communitys Weblogs Lesezeichensammlungen Virtuelle Spielwelten Twitter

regelma.Big (zumindest wochentlich)

2007

2008

2009

2010

2007

2008

2009

2010

47

6o

65

73

20

25

28

31

34

51

52

58

14

21

26

30

15

25

34

39

6

!8�"'

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34 *

15

23

25

19

2

4

7

2

6 6

9 8 4

7 7 2

4 3 o 2

2 �·( 2

5 �·:

5 �·: 2

IO II

Nutzung unter eigenem Profil Basis: Onlinenutzer ab 14 J ahren in Deutschland (200T n 1252). *

=

1142, 2oo8: n

2 2

=

n86, 2009: n 1212, 2010: n =

=

konstant an erster Stelle. Wikipedia beruht auf der Wiki-Software. Als Wiki be­ zeichnet man Webseiten, die von den Nutzern stichwortartig aufgerufen, gelesen aber auch verandert oder selbst ins N etz gestellt werden konnen. Videoportale, wie z.B. Youtube, auf der Nutzer Videos anschauen, bewerten und kommentie­ ren a ber auch eigene hoch laden konnen, gehoren nach Wikipedia zu den am mei­ sten genutzten Plattformen des Weh 2.0. Es folgen Fotosammlungen (z.B.flickr) , die es einem ermoglichen, Bilder zu publizieren und soziale Netzwerke, bzw. Communitys - private (z.B. Facebook, Studivz) wie berufliche (z.B. Xing, Linked­ In) . Social Networks sind Beziehungsnetzwerke, in denen sich Nutzer - meist un­ ter eigenem Profil - in einem virtuellen Raum treffen un d "vielfaltige Funktionen zur Vernetzung, Kontaktpflege oder Kommunikation mit anderen Mitgliedern nutzen" (Busemann l Gscheidle 2010: 3 61 ) . Weblogs wiederum sind " neben Wikis und Social Networking Plattformen vermutlich diejenige Anwendung, die am starksten zur Aufbruchstimmung rund um das Web 2. o beigetragen ha t" (Schmidt 2009: 157) . Einem Tagebuch vergleichbar, sind Blogs eine heterogene Textsorte (u.a. personliche Website, Online-Journal, Informations- oder Wis­ sensportal) , «in denen monothematisch oder thematisch differenziert iiber das aktuelle (politische, wirtschaftliche, kulturelle etc. ) Geschehen , die neuesten Trends und Skandale ebenso berichtet und diskutiert (wird), wie Informationen ausgetauscht, Geri.ichte verbreitet und PR in eigener Sache betrieben» (Moraldo 200T 46 f. ) . Lesezeichensammlungen wie z.B. del. icio. us, Digg oder Mister Wong, in denen die Nutzer «ihre personlichen Lesezeichen (Bookmarks) der Webge-

S A N D RO M. M ORALD O

meinde zur Verfugung (stellen) und diese mit Schlagworten (indexieren)>> (Bu­ semann l Gscheidle 2010: 361) und virtuelle Spielwelten fallen statistisch gesehen nicht ins Gewicht. Auch der Neueinsteiger Twitter, eine textbasierte Plattform, mit der Kurznachrichten von 140 Zeichen verfasst un d gepostet werden konnen, scheint eine untergeordnete Rolle zu spielen. Ob sich dieser Microblogging-Dienst, der sich insbesondere in den USA groBer Beliebtheit erfreut, auch in Deutschland durchsetzen wird, bleibt abzu­ warten. Die Zeichen dafur stehen jedenfalls nicht schlecht, denn Analysten ge­ hen davon aus, «dass Microblogging einen Schritt hin zum Realtime-Web dar­ stellt, also eine allgemeine Beschleunigung der Informationsvermittlung im In­ ternet» (Bohringer l Gluchowski 2009: 507) . 3

Twitter als neue Kommunikationsplattform

Auf Twitter kann der registrierte Nutzer mit eigenem N amen oder einem Nick­ name, «der mit einem vorangestellten @-Zeichen als Adresse fungiert» (Moral­ do 2009: 258 ) , Textnachrichten von 140 Zeichen Lange verschicken. In die Sta­ tuszeile What's happening?IWas gibt's Neues? wird die Kurznachricht eingetra­ gen und dann mit dem Klicken auf Twittern in die Twittersphare gepostet. Bei der Eingabe achtet ein ri.ickwarts laufender Zahler darauf, dass die 140 Zeichen nicht i.iberschritten werden. Der N utzer entscheidet dabei selbst, ob die N ach­ richt offentlich, «meaning that the message appear in reverse chronological or­ der on the 'public timelime' on Twitter.com's home page and on the individuai user's Twitter page (the user's 'mircoblog' )», oder nur fiir registrierte Abonnen­ ten seiner Texte, so genannte Follower, zuganglich gemacht werden soll, «mean­ ing that only those who have subs cribed to the user's feed ('followers ') are able to see the message» (ebd. : 2) . Sofern Tweets gesperrt sind, erscheint - wie hier im Beispiel von @sandii 19's - folgende Meldung: «@sandii 19's sind geschi.itzt. Nur bestatigte Follower haben Zugang zu @sandii 19's Tweets und Profildetails . Du musst eine Anfrage senden bevor du diesem Account folgen kannst» 3• Twitter hat sich langst zum Kommunikationstool entwickelt, das die ver­ s chiedensten Textsorten und kommunikativen Gattungen umspannt. Auch wenn der Small Talk den tatsachlichen Reiz von Twitter ausmachten solite, las­ sen sich neben (meist) belanglosen Kurzmitteilungen i.iber den Alltag und ein­ fachen Statusberichten auch interessante Diskussionen verfolgen, Augenzeu­ genberichte aus Krisenregionen oder N ews im journalistischen Kleinformat ver­ fassen. Das Dienstleistungsunternehmen selbst meint: «Twitter has grown into a real-time short messaging service that works over multiple networks and devi­ ces . In countries all around the world, people follow the sources most relevant to them and access information via Twitter as it happens - from breaking world news to updates from friends» 4• 3. Registrierte Nutzer konnen ein Foto hoch laden, das dann rnit jedern Tweet angezeigt wird. Aus Platzgriinden werden di e Buddy- Icons hier geloscht. In weiteren Beispielen auch die Zeile rnit den Features Antworten und Retweeten . 4 · Vgl. http://twitter.corn/about#about.

WEB 2 . 0 U N D D I E DEUTSCHE SPRACHE

Damit jemand auch die Nachricht(en) liest, die ein Twitter-Accountinhaber verschickt, mussen so genannte Follower gefunden werden. Follower sind Twit­ terer, die Nachrichten anderer abonnieren, also jemandem /olgen (Twitter ist lu­ stig! Uber manche Follower krieg ich keine E-Mail-Benachr. und manchmal krieg ich welche} obwohl die Leute mir nicht /olgen ) , oder wie es Neudeutsch heiBt /ollowen ( @ennomane un d ich /rag mieh grade} warum ich dir eigentlich uberhaupt /ollowe oO) . Wie bei neuen Medien (SMS, Chat, E-Mail, Blog) allgemein ublich, ermoglicht es auch Twitter, mit «zwei oder mehreren Individuen, Kommunika­ tionsereignisse zu initiieren und interaktiv fortzusetzen» (Androutsopoulos 2007: 75) . Tweets sind in erster Linie nicht dialogzentriert. Doch auch wenn Twitter ur­ sprunglicb weniger als Kommunikations- denn als Informations- und Mittei­ lungsplattform konzipiert wurde, bietet es mittels einer Replytaste die Moglich­ keit eines Gesprachs und Meinungsaustauschs . Kommunikationstechnisch gese­ hen klickt man bei einem abonnierten Tweet auf Antworten (Reply) und im 'Tweetkasten' erscheint dann automatisch @Username des ursprunglichen Ver­ fassers der Mitteilung. Man braucht dann nur noch den Kommentar einzutippen, wie in der folgenden Twitterei zwischen Iofin und Beknacktos: . . .

rojin: Will nich aufstehn -.n:43 AM Mar sth

via Osfoora for iPhone Antworten Retweet

Beknacktos: @wjin dann lass es

n:46 AM Mar sth via Echofon als Antwort auf wjin Antworten Retweet

rojin: @Beknacktos nah. das we is eh so kurz . . . Obwohl. . . . Montag frei \o/ 12:02

PM Mar sth via Osfoora for iPhone als Antwort auf Beknacktos

Iojin schickt an seine Follower ein Tweet, in welchem er ihnen mitteilt, dass es ihm schwerfalle aufzustehen. Beknacktos, der die Tweets von Iojin abonniert hat, antwortet ihm drei Minuten spater, er salle eben weiter im Bett liegen bleiben . Knapp eine Viertelstunde spater antwortet dann Iojin , dass er aufstehen werde, da das Wochenende sowieso schon sehr kurz sei. Die Aussage wird allerdings durch das folgende korrektive obwohl (vgl. dazu Giinthner 1999 und Moraldo 2on i.Vr. ) noch einmal revidiert. Dieser 'getippte Dialog' (Diirscheid l Brommer 2009) 5 i.iber das 'kurze Wo­ chenende' («we») macht auch deutlich, dass Twitter in erster Linie eine asyn­ chrone Kommunikationsform ist. D.h. : Die dialogische Kommunikation findet im zeitlich «zerdehnten Austausch» statt (Androutsopoulos 2007: 78). Es kann zwar unter bestimmten Umstanden vorkommen, dass ein Twitter-Dialog in qua­ si Echtzeit vonstatten geht. Meist vergehen (wie in diesem Fall) jedoch Minuten, manchmal gar Stunden oder Tage, bis initiierte Gesprachssequenzen abge­ schlossen werden. Reichen 140 Zeichen nicht aus , dann besteht zum einen die Moglichkeit, ein zweites Tweet hinterherzuschicken, wie in dieser Twitterei zwi­ schen LeTs_RoCk_It_XJ und OTWGerrit: 5. Im Gegensatz zu Storrer (2001) , die den Begriff 'getippte Gesprache' in die Diskussion ein­ gefiihrt hat, ziehen Diirscheid l Brommer (2009: 4) m. E. zu Recht «die Bezeichnung 'getippte Dia­ loge' vor, da bei diesem Schreiben in den neuen Medien trotz der Nahe zur medialen Miindlichkeit das wesentliche Merkmal von Gesprachen fehlt : Rezeption und Produktion der À u.Eerung laufen nicht simultan.

S A N D RO M. M ORALD O

LeTs_RoCk_lt_xJ : Schuldgefiihle haben sich verdoppelt . .

OTWGerrit:

@LeTs_RoCk_lt_x3 weshalb das wieder?

LeTs_RoCk_lt_xJ : @oTWGerrit N aja weil mir der 'Bekannte' von dem ich vorhin schon

sprach zum Geb. gratuliert hat, was ich eben erst gemerkt batte obwohl . . . LeTs_RoCk_It_xJ: @oTWGerrit ich s o bescheuert zu ihm gewesen war letztes Jahr . . . - . '

O bernommen wird in diesem Beispiel die aus dem Chat i.ibliche «Fortsetzungs­ markierung durch Auslassungspunkte am Ende des Tums» (Storrer 2ooo: 555) . Dadurch wird dem Kommunikationspartner angezeigt, dass der Mitteilungs­ strang noch nicht beendet ist und ein zweiter Tweet zur Weiterfi.ihrung und Ver­ vollstandigung folgt. Dass die Fortsetzungsmarkierung allerdings nicht obligato­ risch ist, zeigen die von msweetsalvation an little voice adressierten zwei Tweets: msweetsalvation ( Tweet r ) : _@little_voice und ich wollte dir mal meine FF Idee erzahlen

aber i-wie habe ich angst du lachst ;) was net heitBt, ich fan­ ge jetzt an zu msweetsalvation ( Tweet 2) : _@little_voice schreiben, gott bewahre ;)

Wenn 140 Zeichen zu wenig sind, gibt es weiterhin die Moglichkeit, die Kom­ munikationsplattform zu wechseln. Dies kann auf verschiedene Art und Weise geschehen. Entweder man wechselt von einem social network zum anderen, wie hier von Twitter zu Facebook: msweetsalvation: _@little_voice mein Englisch wiirde dafi.ir absolut nicht ausreichen,

aber ich habs mal getraumt und fands ganz toll _@msweetsalvation ooh jaa, bitte erzahl ! ! : ) Kannst auch eine DM schreiben wenn du nicht willst dass es jeder liest ;) msweetsalvation : @little_voice aber net lachen �·:promise�·: Ich schreibs auf FB, 140 Zei­ chen sind zu wenig ;) _@msweetsalvation I promise :) Und ja, mach das mal! ;) little_voice: msweetsalvation: _@little_voice OKI, ich beeil miich und wehe du lachst, kann NIX fur mein UnterbewuBtsein ;O) little_voice: _@msweetsalvation ieh laeh jetzt schon weil du so siiss bis t! LOL . . . Aww, Gilly und ihr Orange Slushie ! ! : D " How OLD are you?" LOL msweetsalvation: _@little_voice OKAY bin fertisch, und danke fur dein Verstandnis ;)

little_voice:

oder aber man wahlt eine kostenpflichtige Web-Applikation, z.B. TwitLonger (@Linigrannini Ne) ne wir waren grad beide kurz off weil . . . XD @Kimlovi wird (nen Twitlonger schreiben .' .') , mit der sich nach dem Motto: Por when you talk too much /or twitter problemlos di e 140 Zeichengrenze umgehen lasst 6• M an meldet sich mit seinem Twitter-Account bei TwitLonger an und nutzt das zur Verfi.igung gestellte Eingabefeld. Auf der offentlichen wie privaten Timelime veroffentlicht TwitLonger anschlie.Bend einen Teil des Tweets, meist gefolgt von einem eingeklammerten cont (engl. Abki.irzung fi.ir continue fortsetzen) und dem dazugehorigen Link. Anschlie.Bend kann man nach dem Klicken auf die =

6. http://www.twitlonger.com/about.

253

WEB 2 . 0 U N D D I E D E U T S C H E S PRA C H E

Kurz-URL den Rest der Nachricht lesen. In folgendem Beispiel sieht man die komplett vom User bei TwitLonger eingegebene Textnachricht und dann das tatsachlich in der Timeline erscheinende Tweet: Tweet in Originallange bei TwitLonger:

Solange Du so sympathisch und so nah bei deinen Fans bleibst, ist es egal ob Du beim VfB spielts oder irgendwo anders. Glaube an eine weitere Chance, es muss ja nicht beim VfB sein, wobei ich da nichts dagegen batte. Viel Gluck und Erfolg, bleib so wie Du bist. Wish you all the best, Timo! Tweet in gekiirzter Fassung in der Timeline:

Solange Du so sympathisch und so nah bei deinen Fans bleibst, ist es egal ob Du beim VfB spielts oder irgendwo (cont) http ://tl.gd/a7hohr

Eine Kurzmeldung kann auch von den eigenen Followern an deren Abonnen­ ten weitergeleitet werden. Angezeigt wird dies durch die Sigle RT ( Retweet) . Dem Verweis RT kann ein kurzer Kommentar vorausgeschickt werden, es folgt das RT-Zeichen mit der Twitter-Adresse des Nutzers (@Username) und schlieB­ lich der Original-Tweet (sexy :D RT @michas678' @Alan_Berlin 69 wobei man es mir such nicht wirklich ansieht http://yfrog. com/hoza6xyj) . Handelt es sich um eine personliche, private Mitteilung an einen Follower, die nur von ihm erhal­ ten und gelesen werden soll, kann man entweder uber die DM (Direct Message)­ Funktion den Tweet direkt verschicken (@gicklbyte Schick uns mal bitte deine PLZ + Ru/nummer per DM. Dann konnen wir das genauer pru/en) . Einzelne Wor­ ter lassen sich in einer Kurznachricht wiederum mit einem voranges tellten Hashtag (aus engl. hash Raute und tag Anhanger) ikonisch als Schlag- oder Stichwort markieren (#Kanzlerin hat Kondolenzschreiben an Pras. #Obama wg. Tornadokatastrophe und Konig Mohammed VI. v. Marokko wg. Terroranschlags geschickt) . Das mit # getaggte Schlagwort wird dabei farblich hervorgehoben. =

=

=

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Twitter. Sprechsprachlichkeit und mediai bedingte SchriftlichkeiF

Im Folgenden soli nun das konzeptionelie Profil von Tweets untersucht werden. Dies soli auf der Folie des von Ludwig Soli (1974) konzipierten und von Koch l Oesterreicher (1990, 1994, 1996, 2007) konzipierten Modelis zur Unterscheidung von gesprochener und geschriebener Sprache in verschiedenen ÀuBerungsfor­ men (u.a. Essay, Interview, Vortrag, Vorsteliungsgesprach, Brief) geschehen. Mit­ einbezogen wird jedoch auch ein Analyseverfahren, das «die Phanomene neuer Schriftlichkeit nicht auf die mediale Umsetzung sprechsprachlicher Aspekte re­ duziert» (Androutsopoulos 2007: 81). Miteinbezogen in die Analyse werden zum einen «mimisch-kinesische Kompensierungsverfahren», zum anderen «Verfahren sprachlicher Òkonomie» und schlieBlich «Graphostilistik» (ebd. 82 un d 83) 8• 7· Aus Platzgriinden wird auf sprachliche Charakteristika nur vereinzelt eingegangen. Zu wei­ teren Aspekten (u.a. Zeichensetzung, GroE- und Kleinschreibung) vgl. Moraldo ( 20u i .Vr. ). 8 . Wahrend Androutsopoulos Emoticons und Inflektive zu den mimisch-kinesischen Kom­ pensierungsverfahren zahlt, fasse ich diese unter die Graphostilistik.

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Mit dem Modell von Koch l Oesterreicher ist es moglich, die Vielfalt und Komplexitat gesprochener und geschriebener Sprache und die daran angepas­ sten Formen ihrer medialen Realisierung recht differenziert darzustellen. Hin­ sichtlich der Unterscheidung zwischen dem Medium «der Realisierung (pho­ nisch vs. graphisch )» und dem Medium «der Konzeption (gesprochene vs . ge­ schrieben)», d.h. «dem Duktus , der Modalitat, in der eine AuBerung konzipiert wird» (Thaler 2007: 149 ) , sind Tweets mediai graphisch, also schriftbasiert, wo­ bei auch Bildmaterial un d Auditives integriert, d.h. verlinkt werden kann. In Be­ zug auf ihre Konzeption lasst sich dagegen eine eindeutige Entscheidung nicht so ohne weiteres treffen. Legt man namlich die von KochiOesterreicher ermit­ telten Parameterwerte «zwischen den beiden Extrempolen 'Nahe' (konzeptio­ nell miindlich) un d 'Distanz' (konzeptionell schriftlich») zugrunde (Reeg 2on: 84) , lassen sich Tweets in diesem «konzeptionellen Kontinuum» (Koch l Oesterrei­ cher 1996: 66) sowohl der Schriftlichkeit als auch der Miindlichkeit zuordnen. Zu priifen ware jeweils im Einzelnen, wo die verschiedenen Textsorten und kommunikativen Gattungen der Kommunikationsform Twitter zwischen diesen Polen zu verorten waren .Eine Pauschalaussage ist hier also nicht moglich, denn es lasst sich - ahnlich wie in anderen neu-medialen Kommunikationsformen ­ «eine Variation nach funktionalen Domanen entlang des Kontinuums formell­ informell» feststellen (Runkehl et al. 1998: 37) . Je nach " Formalitats-Informa­ litatsspanne " (Linke 2ooo: 75) lassen sich fiir konzeptionell schriftliche Tweets Parameter wie Òffentlichkeit, Fremdheit der Partner, geringe emotionale Betei­ ligung, Monologizitat, Reflektiertheit und starke Themenfixierung ebenso auf­ listen wie Privatheit, Vertrautheit der Partner, starke emotionale Beteiligung, Dialogizitat, Spontaneitat und freie Themenentwicklung fiir konzeptionell miindliche Tweets . Gerade letztere sind fiir Alltags-Tweet-Kommunikation in­ teressant, denn ihre Sprache der Nahe lasst Abweichungen von der Standard­ schriftnorm eher erwarten als Tweets mit hohem Formalitatsgrad. Nahesprachliche Tweets , die sich im privaten Bereich an Muster und Struk­ turen gesprochener Sprache orientieren und damit einen hohen Grad an kom­ munikativer Nahe suggerieren, stehen im Zentrum meiner Untersuchung. Das breite Spektrum sprachlicher (und auch typographischer, non- oder paraverba­ ler) Eigenheiten soli daher abschlieBend anhand exemplarischer Beispiele aus der Twittersphare kurz veranschaulicht werden. Die Auflistung erhebt selbstver­ standlich keinen Anspruch auf Reprasentativitat, sondern will eher einen gene­ rellen O berblick iiber sich moglicherweise abzeichnende Tendenzen sprachlicher Auspragungen geben. Hier gilt es aber noch auf die bei der Analyse verschiede­ ner Kommunikationsformen erzielte Erkenntnis hinzuweisen, dass es namlich «eine Vielzahl von sprachlichen Variationen zwischen den und innerhalb der ein­ zelnen Kommunikationspraxen gibt», die darauf zuriickzufiihren ist, dass (so­ wohl mobil- wie computervermittelte) Kommunikationsformen in einem «kom­ plexen sprachlichen Raum» zu lokalisieren sin d, der durch zahlreiche Parameter wie «Medium, Domane, Herkunft der User, Client usw. » gekennzeichnet ist. Daraus folgt, dass sich « [i] n Abhangigkeit von der Konstellation der einzelnen Parameter einzelne Stile und Register aus (bilden)» (Schlobinski 2ooo: 77). Welche Sprachgebrauchstruk-.turen konzeptionell miindlicher Kommuni­ kation lassen sich nun im syntaktischen, phraseologischen, lexikalischen und gra-

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phostilistischen Bereieh nachweisen? 9 Auf syntaktischer Ebene sind elliptische Konstruktionen auffallend, die der Sprachwirklichkeit im miindlichen Duktus entsprechen, da «syntaktische Elliptizitat [. . .] insbesondere unter situativen und pragmatischen Bedingungen wie kommunikative Nahe, Expressivitat und emo­ tionale Beteiligung auftritt» (Androutsopoulos 1998: 293) . So liegt z.B. in der Kurznachricht @U2tour �'seu/z�' nur Lieblingslieder. .. schade) dass ich nicht dabei sein kann bei schade) dass eine 'Strukturellipse' vor, bei der «das Kopulaverb nach es- Tilgung» fehlen kann (Zifonun l Hoffmann l Strecker 1997: 440) . Der GroB­ teil syntaktischer Reduktionen besteht jedoch zum einen aus der Tilgung des Ar­ tikels: [Die] Seite konnte aktuell ein wenig langsamer sein) ist aber bald ge/ixt. ; @TheProblemzone Apropo arbeiten. [Die] Pause ist rum. xD �'schnief�' wieder wei­ ter an die arbeit und nach der arbeit erstmal zu dm. . :D; [Die] Neue sitzordnung in deutsch ge/allt mir nicht so . . . mh vllt eine stra/e /ur die 5 : (; der Tilgung von Subjekt und ( Hilfs-) Verb: Genieflt man das Leben nun besser in vollen oder in leeren Zu­ gen ? [Es ist] Angenehm /riedlich im ICE heute morgen . . ; [Ich habe] Fieber. [Ich habe] Alle Termine abgesagt. Tut mir leid. (Freuen Sie sich ersatzweise au/ Tweets live aus dem Fieberwahn). ; Igitt, [Ich verwende] Deutsch und Englisch in einem Satz. ; @U2tour �1eu/z� [Sie spielen] nur Lieblingslieder. . . schade) dass ich nicht dabei sein kann; zum anderen aus der Tilgung des Kopulaverbs sein allein: Da geht ma n schon ne Viertelstunde eher los und dann is Stau. Klasse [ist] das und nicht alles ist schnelllebig; seit I95I in Deutschland: Holiday On Ice; heute [ist] Premiere der neu­ en Show in L:Hamburg http:!!bit. lylI74nSZ oder zusammen mit dem «Fokus-Pro­ nomen das>> (Weinrich 1993: 401): [Das ist] Sen-sa-tio-nell. Schreikatzenvideos mit Sound sind das neue Yeaahh.' http://j. mp/katzenschreien; @soulchaot Ui. [Das ist (aber) ] Schade. Dann druck ich /urs nachste Mal wieder die Daumen. ); Neue sitz­ ordnung in deutsch gefallt mir nicht so . . . mh vllt [ist das] eine stra/e /ur die 5 : (. Nicht zuletzt lassen sich Ellipsen als unmittelbare Folge responsiver Ziige erklaren, da sie - ahnlich wie bei einer SMS - «auf der syntaktischen Struktur der empfangenen Botschaft beruhen» (Schwitalla 2002: 49), wie in folgenden Beispielen: .

x_Keks: Morgen das letzte richtige Twittertreffen. Vorerst. Hm. S}y1o: @x_Keks Zahlt Donnerstag nicht? x_Keks: @SJym nein. Weil wenig Leute. Das ist okay. MaddyJJonas: @martinaschmid guckst du auch schon den ganzen tag #dashausanubis ? martinaschmid: @MaddyJJonas jaa :P :D hahaa gestern auch :D MaddyJJonas: @martinaschmid ;D ich auch . . . naja obwohl gestern konnte ich leider

nicht alles sehen, war gestern in der stadt :) . .

Syntaktisch auffallig sind auch telegrammstilartige Textnachrichten. Sie zeich­ nen sich durch fragmentarische Satzstrukturen aus, wobei Funktionsworter und Flexionsformen fehlen, reduzierte Formen auftreten oder gleich mehrere Satz­ glieder weggelassen werden konnen. Man konzentriert den Informationskern 9· Beispiel-Tweets werden authentisch wiedergegeben. Rechtschreib- oder Zeichensetzungs­ fehler wurden nicht korrigiert. Nur deren Typographie wurde - was Schriftart, -groEe und Farbe betrifft - der cles vorliegenden Beitrages angeglichen .

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auf das Wesentlichste, der dann durch «thematis che Optionen» (Schwitalla 2003 : ro8) kommunikativ vervollstandigt wird. Die Tweets des Regierungsspre­ chers Steffen Seibert sind dafi.ir ein gutes Beispiel: Zuruck aus den Ferien. Habe mir verboten, zwischendurch zu twittern, man will ja nicht suchtig werden. Ab morgen wieder In/os zur Politik. ; #Kanzlerin spricht ab I8 oo zur Ero//nung Han­ novermesse: Energiezukun/t, Industrie und Innovation. Dann Treffen mit /rz. PM Fillon; #Kanzlerin gegen geplante hohere Besteuerung von #Diesel. In EU nur ein­ stimmig moglich - Bundesregierung wird sich dem entgegenstellen. Au.Ber der durch Ellipsen und/oder Telegrammstil (#Bahn2min zu spiit -> I5min spiiter in der Firma, weil Bus verpasst. ) erzielten schriftsprachlichen Oko­ nomisierung sind in dieser Hinsicht auch Short-URLs (z.B. von Tinyurl oder Snip­ url) sehr beliebt. Kurz-URLs kommen in einem Tweet der I4o-Zeichen-Restrikti­ on insofern entgegen, als sie lange Links durch kurze ersetzen und damit Platz schaffen fi.ir 'mehr Text'. Online-Medien setzen diese z.B. ein, um die Fortset­ zung der Pressemeldung, die aus Platzgri.inden nicht komplett getwittert wer­ den kann, zu verlinken ( Vi"er Berlin-Importe hat Grun-Rot in BaWu. Einer davon konnte zur Schlusselfigur werden: Win/ried Hermann http://tinyurl. com/3s8jxt3 (da)). Dienstleistungsunternehmen nutzen sie zur Produktwerbung (Echt witzig und praktisch /ur den Urlaub! Die 30 wichtigsten Worter in 6o Sprachen zum Do­ wnload: http:!ltiny. lyl 6Krn) . N eben den syntaktischen kommt e s dann vereinzelt auch z u lexikalischen Reduktionen. Neben den in den neuen Medien mittlerweile als Standard gel­ tenden (englischsprachigen) Akronymen wie z.B. lol ( Ohhhh lol [laughing out loud] die Tur geht nich au/ und keiner is da O. o) , rofl (ROFL [Rolling on (the) floor laughingl wie plotzlich allen au//iillt, dass es halb vier ist xD und spiit xD) oder omg (lool die juristen fuhlen sich ans bein gepinkelt weil heute in der Mensa am Park Veggie-Tag ist. omg [Oh My God] werdet erwachsen leute XDDD) lassen sich neben standardisierten Abki.irzungen und konventionellen Kurzformen auch nicht usuelle Ki.irzungen nachweisen (@jojo_mickeyMaus stimmt . . . :D obwohl ich ja zugebn muss, dass ich manche spieler eigtl gut /in� aber manche hass ich ein­ fach ;); #S2I Auflerdem komisch ist, das Wichtigkeit von S2I rel.gering ist, obwohl hier genau die Gelder /Schulen u. Kitas verbrannt werden. #fail; wieso schrieb ich immer iwas h in obwohl niemad liestxD >das nennt man echte langeweile!:D pro­ /essorin:') ."]; @MUSEo/MARS Ich hab den au/DVD, aber noch nicht geguckt. Wollte ich am WE machen. Ich glaube er geht auch /remd. ) . Trotz dieser lexikalischen Til­ gungen ist die kommunikative Vollstandigkeit nicht gefahrdet, da - wie bei den SMS-Kurznachrichten - «der Wortbeginn, der Wortrest oder die Satzsemantik die mentale Vervollstandigung garantiert» (Schwitalla 2002: 48) . Auf phraseologischer un d lexikalischer Ebene fallt dann die sprechsprachliche Gebrauchspraferenz fiir umgangssprachliche Formulierungen auf. Lexeme wie z.B. Macker (@CadaDiaMaisHaste den einen Macker noch?), abhauen (gosh. schon I63ouhr. muesst mich mal solangsam /ertig machen, wenn ich um I8uhr abhauen will. . . . hmm. will ich eigt?!) oder dusen (•'1J rhrhrhr�: ich werd aber n un mal in mein auto springen und zur arbeit dusen -. - -.':null bock•':) sind durchaus diskursiv motiviert und charakterisieren konzeptionelle Mi.indlichkeit. Viele Phraseologismen weisen eine hohe Idiomatizitat auf (Ach ja: Marcel Rei/ geht mir ubrigens wieder au/ den

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Sack. Also wie immer. ; Ne Big-Box Klopapier. 24 Rollen .. xd Mein Paps hat einen an der Macke :DD; @irreAmeise ich /rag mich wie man so nen brett vorm kopp haben kann. ich habs echt net geschnallt, obwohl es sogar recht eindeutig wa�,J. Darunter sind allerdings auch Phraseolexeme mit Konstituenten aus der Fakaliensprache wie ScheifS (Wenn ihr mal scheifSe bauen wollt, dann seid ein/ach mal ich. Ich tue das o/t genug. ; So n ver/ickter ScheifS ey : () oder Kacke (@Katjaa_Gbestimmt ne 61 weil ich die arbeit voll verkackt habe ; @ComeOnShakeltUphaha. ja dann. :D ;); By the way: Das Klopapier hier ist total kacke.; hast du vlt icq? diese 140 zeichen nur sind kacke. :D), die eindeutig vulgar markiert sind. Flotte Redensarten und stereotype Floskeln (Was gehtn so ab in der Welt? Sitz hier in irgend nem Keller und schuttel mit dem Kop/ 1 " \ @topsecreet_ die war Doch echt voll cool oder? Also so eine Mutter will ich auch :D; Also wenn man mal zamgeschissen wird immer zustimmen und locker bleiben ;)); @sese91das ist voll krass so was auf einmal im turk. tv zu horen :D; BB hat gute Laune und sieht alles ganz easy, wiihrend das Team kurz vorm K. O. ist. . -. -) gehoren zum lockeren atmospharen Grundton und zum festen Bestandteil eines funktionalen Sprach­ registers besonders von Jugendlichen. Im Vergleich etwa zu einem kognitiv auf­ wandigeren elaborierten Sprachstil, entlasten Phraseme, Phraseolexeme und Routineformeln von einem allzu gro.Ben intellektuellen Aufwand. Neben solch spezifisch formelhaftem Sprechen, das u. a. auch zur Distinktion gegeniiber an­ deren sozialen Gruppen eingesetzt wird, sind dialektale EinschHige auffallig ( @ECHELONnadiajaa ho/fs auch ; D maah bin iwie val! mud . . sicher weil i so /ruh au/gstandn bin heut ; DDD; @Tsenni ]a. 1\ 1\ Obwohl mer eigentlich n et ah nt, dass de Abiball nur bis 10 geht, wemmer in de MSS-Saal kotzt. xD Abber ja, stimmt schun. 1\ 1\ ) , die die regionale Herkunft des Twitterers markieren. Relevant fiir die Bestimmung konzeptioneller Miindlichkeit sind weiterhin satzinitiale und -zentrale invariante Sprachzeichen wie Dialog- (@Evzlpie]a klar. . . war auch eine Oberspitzung zur untermauerung meiner These. :D; @Me WuvDean also wieder server problem is ja zum kotzen ey naja sehen uns ja gleich) un d Mo­ dalpartikeln (Was /urn kak -. - heute geht wohl doch n ix ab -. -; Mutter: ((Na ab dei­ ne Hawaii-Palme die laute Musik abkann ?" - Ich hab eben mal nach Ohren an der P/lanze gesucht, aber keine ge/unden . . . ) , die differenzierte und nuancierte Reak­ tionen modalisieren und einen allgemein umgangssprachlichen Kommunikati­ onsstil indizieren. Klitisierungen, wie die Enklise des Pronomens es - mit (@Idi­ otdesAlltags /ur heute war's das.,· Was solls) oder ohne Apostroph - (Morgen Auf nahmepru/ung an der HTWK Fachbereich Architektur :D ma seh n wies wird. . . 1\ 1\ ) und der Gebrauch des bestimmten Artikels als Klitikon (ein gluck gehts bald las mitm feiern . . . kanns kaum erwarten :D; Praktisch: Der n eu e Buchreport ist dick ge­ nugy um nachm Lesen genug Feuerpapier /ur die restl. kalten Tage zu haben) sin d weitere funktional-kommunikativ umgangssprachliche Phanomene, die eine lockere und lassige Atmosphare ausdriicken. Einen hohen Anteil sprechsprach­ licher Phanomene in schriftbasierten virtuellen Tagebiichern nehmen Tilgungen ein, die gleich in vielfaltiger Art und Weise realisiert werden: Tilgung des Personalp ronomens ( 1 . Pers . Sing. ) und/oder der Flexionsmor­ pheme: Freu mich so au/ heute Abend ;))) ; Hey Bra, alles easy.' Reg dich nich au/' Bin am Chillen .' -_-

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t-Tilgung: @Nelvis Young Aber Gott sei Dank hab ich n Headset, dann wirds nich ganz so schlimm. ; @SasoriZa_ hahaha da nn is ja gut, dass ieh so weit weg bin - obwohl meine star wars phase schon ne weile her is ·:p/ez/' : :) e-Tilgung: grade hats au/grund des Gewitters geblitzt und ich hab ernstha/t gedacht mich hatte einer Fotogra/iert :D :D; @GD_KiKioso2_GD @94kaddi mei­ ne mom is grad sauer muss jz heimlich mobile o// gehn un d kann dann my room /or. . . erst morgn oda so online steln e-Tilgung bei der Verbendung auf -en (im Infinitiv und in der r. und 3 · Pers . Pl. Indikativ/Konjunktiv Prasens!Imperfekt) : @AngelinaLoveBTR Hahaha Twitter; xD Musik horn Un djetz ein film guckn mit einer /réundinXdXd Wir konnen ja spa­ ter weiter schreibn oda morgn; Heide Park morgen.'.' YAAY um 8. Is/ahrn wir las O. o /riih aber. . . ES LOHNT SICH xD; @]ules_BradshawSupi) Ehmja wir gehn in so einen Club, und du?; @lishuu_was /iir bilder sollen l konntn wir da hochladn ? Ho ?) Reduktion des unbestimmten Artikels : (sitzen bei nem becks im garten und wissen nicht, wie weiter vorgegangen werden soll. ; So meine Freunde ich bin au/m weg zu ner Freundin un d muss /eststellen das ich iiberhaupt kein Geld bei mir ha b. Peinlich.') Zweifellos gehoren diese Sprachgeb rauchsstrukturen zu den auffalligsten Eigens chaften eines nahesp rachli chen Kommunikationsstils. Die weitere sprachliche Analyse belegt zudem einen bedeutsamen Anteil an Graphostilisti­ ka. Die typographischen Phanomene unterstreichen in der computer- und mo­ bilvermittelten Kommunikation die Wichtigkeit der Schrift als funktionale Rea­ lisierungsform der Sprache. Kurznachrichten - insbesondere informelle - sind in der Twittersphare meist auch visuelle Eintrage. Optisch und graphisch auf­ bereitet sind sie die personliche Handschrift eines Twitterers, der immer dann seine Kreativitat ins Spiel bringt, wenn es darum geht, Gefi.ihle und Stimmun­ gen, die sich nicht immer leicht in Worte fassen lassen, ikonisch abzubilden oder etwas schriftlich ri.iberzubringen, was ansonsten in der Alltagskommunikation nur phonisch oder nonverbal vollzogen wird: Aussprache, Prosodie, Gestik, Mi­ mik etc. Zur Kompensation dieser metasprachlichen Informationen werden z.B. folgende graphostilistische Marker eingesetzt: Smileys, um Stimmungen und Gefi.ihlszustande wie Freude, Trauer, Wut oder andere Emotionen visuell zu vermitteln (@kristinahorst war eben am Brief kasten, obgleich es total sinnlos ist um diese Uhrzeot. :-P Bin gespannt :-),· @Kao­ ri Ino hehe genau - die zahlen nicht ,·-) Wobei ich mich sonst /iir verriickt hielte, wiirden jetzt auch deutsche ((nein}} sagen . . :D,· @artfilmch hab :-))) wobei {(gab}} natiirlich eine ganz andere Geschichte erzahlt A A ) . Im Gegensatz etwas zu Blog­ eintragen oder SMS-Kurznachrichten konnen diese aufgrund (bisher noch) feh­ lender implementierter Programme allerdings nur graphisch realisiert und nicht direkt als (manchmal gar animierte) Ikonen eingesetzt werden: Emoji 10: Erstaunlich ist in Tweets die haufige Verwendung der 'japanischen' Variante des Lachgesichts, das so genannte Emoji, das einen anderen Betrach10. Zur jeweiligen Bedeutung japanischer Emojt' vgl. unter http://www.yousmdey. de!Japant'­ sche-Emojis-Emoticons. html, http:!/www.anikaos. com/japanese_emoticons. html oder http:/lde. wi­ kipedt'a. org/wiki/Emoticon .

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tungswinkel hat als die normalen 'Bildbuchstaben'. Wahrend man Smileys mit um 90° nach links gedrehtem Kopf lesen muss, werden Emojis waagrecht gele­ sen: @Beliebin Twistalso bin ich wie ein einzelkind -. - und wir ziehn wahrschein­ lich bald um weil die wohnung zu groofl ist -. - will net umziehn.' ; Hm iwie hab ich Lust Tron im Kino zu sehen . . . obwohl ich die Story nicht mal mag x_x; Mehrfach-Iterierung einzelner Buchstaben (#// (verspà'tet) geht an die ein­ zigste die mich erwà'hnt hat unzwar an die @Shaggyioiund weil ich sie gaaaaanz dooooooll lieeeb hab ..�� =D) oder Satzzeichen (@Jelementskatenein .'.'.'.' weil das ist dann voll scheifle dann konnen wir schon wieder nicht bis zum ende bleiben; @iHeartBrookeVha also hasst du mich weil ich ein autogramm von lena hab???.' .' .' LOL muhahahaha willst des haben ?) als expressiv-affektives Ausdrucksverfahren. exp ressive wie evaluierende GroBschreibung emphatisiert entweder die Wichtigkeit einer Aussage (A: WARUM ZEIGT MEIN FERNSEHER ]ETZT KEIN BILD MEHR?.' B: @yaassuuuWEIL ER KAPUTT IST .':D; Heute . . . A USWARTSSIEG. . . wetl in der I. Liga ist doch viel schoooooooooner xD) , einer Aufforderung etc. (Weil es gera­ de so schon passt: AUFSTEHEN) oder markieren i.iber Lautstarke emotionale Zu­ stande (Wenn es was gibt, das ich hasse, dann sind es Miin ner die nur jammern, obwohl sie na der Situation selbst schuld sind. . . WIDERLICH.' .'/). Inflektive, d.h. pradikativ gebrauchte Verbstamme mit der Funktion, " ein spezifisch, erzahltes Ereignis 'bildlich' zu reproduzieren " (Schlobinski 2oo1: 205 f. ) konnen vereinzelt auftreten (@lilacle Also das ist ja wohl selbstverstà'ndlich, dass man nix gegen den Vfb sagt.' -kentriist�: ,·-); UND ich werd mir ein bis! was an Alk kau/en. Manchmal brauch ich das zum Genieflen un d à'rger mich da nn . . . weil nix da is. �\chmolfk; heute is einfach nur alles Kacke ich will auf animuc 'Wein�:) oder zu ganzen Inflektivkonstruktionen ausgebaut werden ( @starlightii85 speedload istja leider DivX. . . Menno. Das nervt. Naja, ich gucks jetzt trotzdem so weiter. ��uf den Boden stamp? ) ) . Zumeist wird der Inflektiv typographisch mit zwei Asterisken kombiniert. Die Sternchen fungieren dabei als «Emulation ei­ ner Gedankenblase» (Haase et al. 1997: 78). Onomatopoetika, die meist als «imitative Interjektionen» eingesetzt wer­ den, um «charakteristische Verhaltensformen, Bewegungen und Gerausche» (Weinrich 1993: 86o) nachzuahmen, wie z.B. a) ERSTAUNEN: @anjii_boah eh ich wollt heute auch um 8 Uhr so au/stehen -. ­ hahahaha; Was /iir eine schone Hochzeit.'.'.' Wo W Kate sah wunderschon aus.'.' Tolles Kleid.'.'.' :) Und der Kuss.'.'.' Wow :) b) LACHEN: @_Schattenjaeger Jep, das ist wohl wahr. . . obwohl diese beiden Wor­ te bei mir auch n /ettes Grinsen auslosen . . . hihihihi c) PLOTZLICHKEIT: Habe in einem Twitter-Gesprà'ch einen Link von so einem Klickspiel erwà'hnt un d schwups klicken Ioo Leute drau/ :D d) VERACHTUNG: paranoid. . . . wenn ich au/ bin, obwohl ich schla/en sollte. . . bà'h; In Ulm regnet es. Bà'h. Und der Typ schréig gegeniiber sieht aus wie Dr. House. e) TEMPO: Ist wieder typisch /iir mich . . . letzten Tage sau warm. . . denkt man sich . . .jo Kurze Rose, T-Shirt geht klar. . und zack. . . wieder um einiges kà'lter; ]etzt ist meine ganze gute La une weg. Da bin ich einmal gut drau/ un d dann ZACK weg -. - Manna : f) HAMISCHES LACHEN: @Pulloverschwein ja, und als ich mami dann erzà'hlt hab, dass besagte person ii4o ist, kam die gar nicht mehr klar �1Jehe�·:; So, alle Far'

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ben sin d besorgt :-) un d gunstiger als ich gedacht habe hehe. Die wird so schon un­ sere neue Wohnung :-) g) GRINSEN: @mactomster und unser eins muss alles selber machen grrr; @hy­ peraktivraupe sie zieht Heinz und sein dreckiges geschreibe uns vor 0_0 ·:grrr:c h) SCHMERZ: Tee uber Beine gekippt = aua! very heifl und aaaahaaaaaa. Q_Q; aaaaah mir tut alles weh und wieso schreib ich des hiia lwww :1 :D i) MISSFALLEN: Au/wachen und sich au/ nichts /reuen. Buh) warum sagen Jun­ gen immer im letzten Moment ab ? j) NIESEN: Maaaaaaaannnnnnn . . . . . . Die ganze Zeit: {{Hatschz: Hatschir Ieh hab langsam die Faxen dicke.' k) EKEL: @Netzge/luester igittibah.' Obwohl Kaviar au/ Sylt naturlich stets an­ gesagt ist. alphanumerische Schreibungen: die Nutzung einzelner Zahlen «fi.ir gleich­ lautende Worter oder Wortbestandteile mit identischer Lautgestalt» (Moraldo 2004: 293) @caraaxoxo yayy :) und du bist mein best twitter-/riend 4ever ..�c war­ um? hast du kummer? :(; Um J:IO Uhr au/zustehen) um um 8 Uhr irgendwo an­ zukommen) was bis halb 4 dauert un d einen o interessiert. Alle 8ung. #morgen; So leute) ich bin schla/en) muss morgen arbeiten (aushel/en) . . C� baba und gn 8.' x) r-Vokalisierungen: die phonetische Schreibung des sprechsp rachlich voka­ lisierten r im Auslaut widerspricht zwar der kodifizierten Phonem-Buchstaben­ Zuordnung, wird aber sprachkreativ eingesetzt: du konntest auch ein/ach aus meinem kopfchen verschwinden. un d zwar so) dass es mir egal ist) ob du sie um­ armst oda sonst was. ; @]anaRawrrr ]a ich weifl aba christina hat damit ange/an­ gen obwohl wir im icw au zsm. schreiben. UN was machste soo ?; @PlayStationDE http:!ltwitpic. com/4od/2m - yha man wartet doch ein/ach ich will auch wieda zocken geht aba nicht und ihr gebt geld aus Sonderzeichen wie das et-Zeichen & (lat. et = und), auch Kaufmanns-Und, als koordinierende Konjunktion und, (WTF.' Verliebt die sich in Trevor. . obwohl sie au/Eugen steht & er au/sie D: Der armeeee :