Kritische Texte und Deutungen: Band 8 Hymen [Reprint 2010 ed.] 9783110967265, 9783484107656

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Table of contents :
I. Text
1. Hymen. Kritischer Text
2. Hymen. Text der Handschrift
3. Der Hauptmann Karl von B. (Fragment). Text der Handschrift
II. Kritischer Apparat
1. Editorische Hinweise
2. Zur Gestaltung des Apparats
3. Sammelvarianten
a. Orthographische Varianten
α. Vokalismus und Konsonantismus
β. Groß- und Kleinschreibung
γ. Getrennt- und Zusammenschreibung
δ. Angleichung von Fremdwörtern an die deutsche Schreibung und Lautung
ε. Der Apostroph
b. Lautvarianten
c. Wortvarianten
d. Interpunktionsvarianten
α. Komma vor der Konjunktion „und"
β. Komma anstelle eines Semikolons
γ. Komma anstelle eines Punktes
δ. Komma anstelle eines Gedankenstriches
ε. Komma in abhängigen Sätzen
ζ. Komma am Ende der wörtlichen Rede
η. Anführungszeichen bei wörtlicher Rede innerhalb wörtlicher Rede
θ. Pünktchen bei abgebrochenen Sätzen und Kapitelenden
e. Drucksatzvarianten
4. Fortlaufendes Variantenverzeichnis
III. Text- und Wirkungsgeschichte
1. Die Entstehung der Erzählung bis zum ersten Druck in der Osterbeilage der Neuen Freien Presse vom 23.4.1905 (J)
a. Die letzten Lebensjahre Ferdinand von Saars
b. Der Hauptmann Karl von B
c. Die Abfassung der Erzählung in Blansko
d. Die Handschrift (H)
e. Der Erstdruck in der Neuen Freien Presse vom 23.4.1905 (J)
2. Die weitere Text- und Wirkungsgeschichte bis zum Band Tragik des Lebens 1906 (T)
a. Die Verhandlungen für den Band Tragik des Lebens
b. T als Grundlage des kritischen Textes
c. Die Rezeption der Tragik des Lebens
d. Die Rezeption von Hymen
3. Die Textgeschichte Hymens seit Saars Tod
4. Hymen und die wissenschaftliche Literatur
IV. Deutung
1. Die Erzählung vom Hochzeitsgott Hymen
a. Die Figuren
b. Die Struktur
c. Die Perspektive
2. Das Hymen als Signum der Jungfräulichkeit
a. Die dominante Verführerin
b. Der fremdbestimmte Hamlet
c. Die entthronte Männlichkeit
3. Die Selbstzerstörung Hymens
a. Der tiefenpsychologische Gehalt
b. Die mythologischen Motive
c. Der philosophische Hintergrund
V. Literatur
1. Quellen
a. Textzeugen von Hymen
b. Textzeugen von Der Hauptmann Karl von B.
c. Sonstige Werke Saars
d. Briefe von und an Ferdinand von Saar
2. Literatur zu Ferdinand von Saar und Hymen
3. Übrige abgekürzt zitierte Sekundärliteratur
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Kritische Texte und Deutungen: Band 8 Hymen [Reprint 2010 ed.]
 9783110967265, 9783484107656

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FERDINAND VON SAAR KRITISCHE TEXTE UND DEUTUNGEN Herausgegeben von Karl Konrad Polheim und Jens Stuben Achter Band

FERDINAND VON SAAR

KRITISCHE TEXTE UND DEUTUNGEN

Herausgegeben von Karl Konrad Polheim und Jens Stuben

ACHTER BAND Hymen

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1997

FERDINAND VON SAAR

HYMEN

Kritisch herausgegeben und gedeutet von Nikolaus Nowak

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1997

In dieser Ausgabe ist vorher bereits erschienen (im Bouvier Verlag, Bonn): Band l Band 2 Band 4 Ergänzungsband I

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ferdinand von Saar, kritische Texte und Deutungen l hrsg. von Karl Konrad Polheim und Jens Stuben. - Tübingen : Niemeyer Teilw. im Bouvier-Verl., Bonn Bd. 8. Nowak, Nikolaus: Ferdinand von Saar, Hymen. - 1997 Nowak, Nikolaus: Ferdinand von Saar, Hymen / kritisch hrsg. und gedeutet von Nikolaus Nowak. - Tübingen, Niemeyer, 1997 (Ferdinand von Saar, kritische Texte und Deutungen ; Bd. 8) ISBN 3-484-10765-0 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis I. TEXT

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1. Hymen. Kritischer Text

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2. Hymen. Text der Handschrift 3. Der Hauptmann Karl von B. (Fragment). Text der Handschrift

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II. KRITISCHER APPARAT 1. Editorische Hinweise 2. Zur Gestaltung des Apparats 3. Sammelvarianten a. Orthographische Varianten a. Vokalismus und Konsonantismus ß. Groß- und Kleinschreibung . Getrennt- und Zusammenschreibung . Angleichung von Fremdwörtern an die deutsche Schreibung und Lautung . Der Apostroph b. Lautvarianten c. Wortvarianten d. Interpunktionsvarianten a. Komma vor der Konjunktion „und" ß. Komma anstelle eines Semikolons . Komma anstelle eines Punktes 6. Komma anstelle eines Gedankenstriches . Komma in abhängigen Sätzen . Komma am Ende der wörtlichen Rede . Anführungszeichen bei wörtlicher Rede innerhalb wörtlicher Rede B. Pünktchen bei abgebrochenen Sätzen und Kapitelenden e. Drucksatzvarianten 4. Fortlaufendes Variantenverzeichnis

III. TEXT- UND WIRKUNGSGESCHICHTE l. Die Entstehung der Erzählung bis zum ersten Druck in der Osterbeilage der Neuen Freien Presse vom 23.4.1905 (J)

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a. Die letzten Lebensjahre Ferdinand von Saars b. Der Hauptmann Karl von B c. Die Abfassung der Erzählung in Blansko d. Die Handschrift (H) e. Der Erstdruck in der Neuen Freien Presse vom 23.4.1905 (J) 2. Die weitere Text- und Wirkungsgeschichte bis zum Band Tragik des Lebens 1906 (T) a. Die Verhandlungen für den Band Tragik des Lebens b. T als Grundlage des kritischen Textes c. Die Rezeption der Tragik des Lebens d. Die Rezeption von Hymen 3. Die Textgeschichte Hymens seit Saars Tod 4. Hymen und die wissenschaftliche Literatur

IV. DEUTUNG 1. Die Erzählung vom Hochzeitsgott Hymen a. Die Figuren b. Die Struktur c. Die Perspektive 2. Das Hymen als Signum der Jungfräulichkeit a. Die dominante Verführerin b. Der fremdbestimmte Hamlet c. Die entthronte Männlichkeit 3. Die Selbstzerstörung Hymens a. Der tiefenpsychologische Gehalt b. Die mythologischen Motive c. Der philosophische Hintergrund

V. LITERATUR I.Quellen a. Textzeugen von Hymen b. Textzeugen von Der Hauptmann Karl von B c. Sonstige Werke Saars d. Briefe von und an Ferdinand von Saar 2. Literatur zu Ferdinand von Saar und Hymen 3. Übrige abgekürzt zitierte Sekundärliteratur

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VORWORT Mit Hymen liegt der achte Band von Saars Erzählungen in der Reihe Kritische Texte und Deutungen vor. Dabei handelt es sich erstmals um eine Erzählung aus dem Spätwerk des Österreichers, wodurch nun auch die letzten Lebensjahre Saars als Hintergrund beleuchtet werden, vor dem Hymen entstand. Zu danken habe ich nicht nur der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, dem Rudolfmerhaus und der Villa Wertheimstein für den Einblick in Saars unveröffentlichten Nachlaß und zahlreiche Informationen, sondern auch meiner Frau, meinem Sohn sowie meinen Eltern, die diese Arbeit begleiteten und unterstützten. Auch Herrn Dr. Jens Stuben bin ich für seinen kritischen Scharfblick und seine wertvollen Hinweise sehr verbunden. Mein besonderer Dank gilt aber meinem verehrten Doktorvater, Herrn Professor Dr. Karl Konrad Polheim, der dieses Thema anregte und das Werden der Arbeit mit wissenschaftlichem Rat und fördernder Kritik begleitete.

Bonn, im März 1997

Nikolaus Nowak

I. TEXT

1.

Hymen von Ferdinand von Saar

Kritischer Text auf Grund von Saars Tragik des Lebens. Vier neue Novellen. 1905 (T)

Die schlanke blonde Frau saß mir bei dem Diner gegenüber, fast verdeckt durch einen hohen Tafelaufsatz, hinter dem ihr lichtes Antlitz mit den dunklen Amethystaugen nur selten zum Vorschein kam. Aber gleich im Empfangszimmer war mir dieses Antlitz ganz besonders aufgefallen. Bei der 5 großen Anzahl der Geladenen fanden keine unmittelbaren Vorstellungen statt, und so wandte ich mich an einen Bekannten um Auskunft über die Dame, die eben mit einem jungen Modegelehrten in eifrigem Gespräche begriffen war. Was ich erfuhr, genügte mir, um zu wissen, an wen mich ihr Gesicht erinnert hatte - und daß ich sie selbst schon einmal als Kind 10 gesehen. Während nun die zahlreichen Gänge gereicht wurden, hatte ich Zeit, um über allerlei Vergangenes nachzudenken. Meine beiden Tischnachbarinnen fanden mich daher sehr zerstreut und einsilbig, worüber sich auch die ältere von ihnen, die gern über Kunst sprach, ganz offen beschwerte. Mir aber gestaltete sich schon an jenem Abend die kleine Geis schichte, die ich jetzt niederzuschreiben beginne.

I.

Zu Anfang der siebziger Jahre war es, daß ich, von einem Spaziergang nach Hause zurückgekehrt, eine Visitenkarte vorfand. Der Offizier, hieß es, der sie abgegeben, würde in einer Stunde wieder nachsehen. Ich war darüber nicht sonderlich erfreut, obgleich mir der Hauptmann Sandek - so stand auf 20 der Karte - einst als Leutnant befreundet gewesen. Er war auch damals eine sympathische Persönlichkeit. Achtzehn Jahre alt, war er aus einer Militärbildungsanstalt ins Regiment gekommen, wo er durch die harmonische Frische und Unbefangenheit seines Wesens gleich alles für sich einnahm. Auch geistige Fähigkeiten schien er zu besitzen; wenigstens legte er eine 25 große Lern- und Wißbegierde an den Tag. Ich konnte ihm, als wir einander näher traten, nicht genug Bücher zum Lesen geben oder anempfehlen. Aber es zeigte sich bald, daß er sie nicht verstand, und die unausgesetzten, oft 13

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recht abgeschmackten Fragen, die er über Inhalt und Tendenz an mich richtete, wurden mir um so ärgerlicher, als er dabei noch immer seine eigene verschrobene Meinung aufrecht halten wollte. Dennoch blieben unsere Beziehungen gute, da er ja sonst ein vortrefflicher Mensch und liebenswürdiger Kamerad war. Da fügte es sich, daß er auserkoren wurde, dem Sohne eines hohen Generals Unterricht in einigen militärischen Gegenständen zu erteilen. Der junge Herr war im Lernen stark zurückgeblieben, so daß er auf das akademische Studium, zu dem man ihn anfänglich bestimmt hatte, verzichten mußte. Es galt also jetzt, ihm die nötigen Vorkenntnisse zum Eintritt in die Armee beizubringen. Sein Vater, der General, besaß eine Frau, die immer als große Schönheit gegolten hatte und es gewissermaßen auch jetzt noch war. Wie allgemein bekannt, hatte sie es mit der ehelichen Treue niemals sehr ernst genommen, und es hieß, daß der jeweilige Adjutant ihres Gemahls auch immer ihr jeweiliger Liebhaber gewesen sei. Das mochte auf Übertreibung beruhen, gewiß aber war, daß sich zwischen ihr und dem blutjungen Offizier ein Verhältnis entspann, das für diesen verderbliche Folgen hatte. Denn durch die falsche und verlogene Stellung, die er dem Gatten sowohl wie dem heranwachsenden Sohne gegenüber einnahm, wurde sein lauterer, bis dahin jünglinghaft unschuldiger Charakter im tiefsten geschädigt. Dazu kam noch, daß er sich durch dieses Verhältnis in eine vornehmere gesellschaftliche Sphäre erhoben fühlte, wobei die Eitelkeit, die vielleicht seit jeher in ihm latent gewesen, mehr und mehr entbunden wurde. Er nahm gezierte Allüren an und bildete sich im Laufe einiger Jahre bei verschiedenen Garnisonswechseln zu einem schmachtenden, aber auch gewissenlosen Lovelace aus, der mit dem Ehebruch einen ganz offenkundigen Kultus trieb. Er sagte jedem, der es hören wollte, daß man nur in Beziehungen zu einer verheirateten Frau die Liebe wirklich kennen lerne; wie denn auch erst die reife und erfahrene Frau das eigentliche Weib sei. Mit Mädchen, die er insgesamt Backfische oder noch schlimmer Gänse nannte, wollte er nichts zu tun haben. Da er jetzt immer nur in höheren Kreisen zu verkehren trachtete, entfremdete er sich auch allmählich seinen Kameraden, so daß der Abschied, den wir bei meinem Scheiden aus dem Regiment voneinander nahmen, ein ziemlich kühler war... Und nun trat er nach mehr als einem Jahrzehnt bei mir ein. Fast unverändert. Derselbe schlanke und geschmeidige Wuchs, der ihn immer ausgezeichnet. Das blonde, leicht gelockte Haar noch immer dicht; nur die fein geschnittenen Züge des hell schimmernden Gesichtes erschienen schlaffer, und um die Augen, die in ihrem etwas starren Glänze an dunkle 14

Amethyste erinnerten, zeigten sich feine Fältchen. Er verbeugte sich nachlässig graziös und streckte mir dann die Hand entgegen. „Verzeih, wenn ich dich etwa störe", sagte er. „Aber da mich der Zufall heute in deine Nähe gebracht hat, so konnte ich dem Antrieb nicht wider5 stehen, dich aufzusuchen." „Freut mich sehr", erwiderte ich. „Aber wie wußtest du -" „Daß du hier wohnst? Nun, derlei erfährt man eben. Ich bin ja schon ein halbes Jahr in Wien - als Frequentant des Stabsoffizierskurses." „Du bist also schon so weit! Ich gratuliere." 10 „Danke", erwiderte er etwas zerstreut, indem er mit der Hand über die Stirn fuhr. „Die Sache ist nicht leicht durchzufuhren. Man stellt jetzt ganz unerhörte Anforderungen, und in gewissen Jahren nimmt die Lernfähigkeit ab. Aber wie geht es dir?" fuhr er ablenkend fort, indem er den Blick musternd über die ziemlich kahlen Wände meines Zimmers schweifen ließ. 15 „So, so - den Umständen angemessen." „Nun ja, es ist nicht leicht, sich in einem neuen Berufe — Aber eine sehr schöne Aussicht scheinst du hier zu haben", unterbrach er sich, stand auf und trat an ein Fenster. Die Fernsicht, die ich damals in meiner hochgelegenen Wohnung hatte, 20 war wirklich sehr schön. Ich konnte über eine weite Flucht von Gärten hinweg auf die ragenden Türme und Kuppeln der Stadt blicken. Es war eben Frühlingsanfang und ein weißes, hier und dort von zartem Rot durchschimmertes Blütenmeer lag vor uns. „Herrlich!" rief er aus. „Ich beneide dich. Ich selbst habe in meiner Stadt25 wohnung nichts anderes vor mir, als eine trostlose Reihe von Fenstern und Dächern." Wir setzten uns wieder und begannen von vergangenen Zeiten zu sprechen. Er zeigte sich dabei unruhig und zerstreut. Nach einer Weile trat er wieder ans Fenster und blickte gespannt hinaus. Zurückgekehrt nahm er den Faden 30 des Gespräches wieder auf, spielte aber in nervöser Hast mit der Quaste seines Säbels, den er nicht abgelegt hatte. Sehr bald stand er wieder auf und schien nun etwas Erwartetes zu erblicken, denn ein Zug von Befriedigung trat in sein Antlitz. „Jetzt muß ich dich verlassen, lieber Freund", sagte er. „Ich bin nämlich 35 nicht allein in diese Gegend gekommen, sondern mit Bekannten, die hier für den Sommer eine Villa gemietet haben. Ich werde dort ein häufiger Gast sein und mir also erlauben, dich manchmal zu besuchen." Er langte nach seiner Mütze. „Wird mir ein Vergnügen sein. Nur bitte ich: nicht vor fünf Uhr 40 nachmittags. Denn bis dahin bin ich immer beschäftigt." 15

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„Ganz mein Fall", erwiderte er. „Du glaubst gar nicht, wie sehr ich angestrengt bin. Heute habe ich mir eine Ausnahme gestattet, und kann das Versäumte nur hereinbringen, indem ich die Nacht hindurch büffle. Also leb' wohl, auf Wiedersehen!" Er ging, von mir hinausbegleitet. Einigermaßen getröstet, kehrte ich in mein Zimmer zurück. Er hatte also Bekannte, die im Sommer hier wohnen werden. Wahrscheinlich in meiner Nähe. Darum hatte er auch mit so gespannter Aufmerksamkeit durchs Fenster geblickt. Jedenfalls eine Verabredung. Wohl mit einer Dame. Denn er hatte sich in dieser Hinsicht gewiß ebensowenig verändert wie in seinem Äußeren. Immerhin. Was kümmerte es mich? Wenn er mich nur nicht allzu oft aufsuchte. Aber er hatte selbst gesagt, daß er sehr angestrengt sei - und hin und wieder mochte er ja kommen... Er kam auch nicht so bald. Ich aber mußte ihm artigkeitshalber doch einen Gegenbesuch machen. Als ich wieder einmal in der Stadt zu tun hatte, wollte ich mich dieser Pflicht entledigen. Auf seiner Karte stand die Adresse. Er wohnte in Mariahilf, in der Nähe der Stiftskaserne. Nun denn: so gegen Mittag stieg ich dort drei Treppen empor, in der Hoffnung, ihn nicht anzutreffen und mit einem Kartenabwurf davon zu kommen. Aber er war zu Hause. Der Bursche sagte, der Herr sei eben im Umkleiden begriffen; aber ich möchte nur eintreten und ein wenig warten. Ich betrat also das geräumige Zimmer, in das mich der Diener geführt. Es war ein ganz hübsches Garconinterieur. Nicht viele Möbel, aber eine bequeme Ottomane. Spiegel und ein paar Kupferstiche an den Wänden. Neben einem Bücherregal ein zierlicher Schreibtisch. Und auf diesem, neben allerlei Nippes, die Kabinettphotographie einer Dame. Diese Dame mußte ich kennen. Ich entsann mich auch bald, daß ich sie vor Jahren oft gesehen hatte, ohne zu wissen, wer sie war. Auch heute wußte ich es nicht. Aber sie war mir im Laufe einiger Wintermonate fast täglich auf einem Morgengange begegnet, den ich über den damals noch bestehenden Teil des alten Glacis unternahm. Sie machte den Eindruck einer verheirateten Frau, befand sich jedoch immer in Begleitung eines Herrn, der zu den bedeutendsten Schriftstellern jener Tage zählte. Seine geistvollen Essays, seine scharfen Theaterkritiken wurden immer mit Spannung erwartet und mit andächtigem Eifer gelesen. Aber er schrieb im ganzen wenig, und die Zeitungen hatten oft Mühe, etwas von ihm herauszubekommen. Denn er wollte sich nicht binden und war, da er einiges Vermögen besaß, nicht eigentlich auf literarischen Erwerb angewiesen. Im übrigen galt er als weltmännischer Sonderling, der ab und zu in den Wiener Salons auftauchte und wieder verschwand. In letzterer Zeit hieß es, daß er in näheren Beziehungen zu einer jungen, ebenso schönen wie geistvollen Schauspielerin stehe; man sprach sogar von einer Verlobung. Eine stadt16

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bekannte Persönlichkeit, fiel er schon durch seine äußere Erscheinung eigentümlich auf. Schlank und hager, hielt er sich im Gehen stark vornüber geneigt, so daß er etwas gebrechlich aussah. Sein Antlitz mahnte an das des Sokrates und erschien beim ersten Anblick häßlich. Sah man aber näher zu, so traten sehr feine und charakteristische Züge hervor, besonders die außerordentliche Klarheit und Leuchtkraft seiner tiefliegenden grauen Augen. Auch seine Begleiterin war nicht schön. Eher klein als groß, hatte ihre Gestalt etwas Gedrungenes, Gestauchtes. Aber ihre Gliederbewegungen waren von anmutiger Energie, wie sich auch in ihrem blassen Antlitz, aus dem große dunkle Augen blitzten, ungemeine Willenskraft ausdrückte. Da die beiden, die sich hier offenbar zu einem gemeinsamen Spaziergang zusammenfanden, immer in sehr lebhaftem Gespräch begriffen waren, so konnte ich auch wahrnehmen, daß die Dame prachtvolle Zähne besaß. Und nun hatte ich ihr Porträt vor mir. Sie zeigte sich darauf einigermaßen gealtert, und der Ausdruck von Willenskraft trat schärfer hervor. Daß das Bild auf dem Schreibtische Sandeks stand, gab mir zu denken. Jedenfalls wies es auf nähere Bekanntschaft hin. Aber da trat er schon selbst aus der geschlossen gewesenen Seitentür. Sehr sorgfältig gekleidet, von einem leichten Hauch feinen Parfüms umweht. „Verzeih'," sagte er, mir die weibisch gepflegte weiße Hand entgegenstreckend, „verzeih', daß ich dich habe warten lassen. Ich mußte mich ankleiden. Leider werde ich mich auch nicht lange deiner angenehmen Gegenwart erfreuen können, denn ich habe etwas sehr Wichtiges vor." „Laß dich nicht stören", warf ich ein. „Ich bin ja fürs erste nur gekommen, deinen Besuch zu erwidern. Wir werden uns wohl noch öfter sehen." „Gewiß, gewiß. Aber nimm doch Platz und rauchen wir wenigstens eine Zigarette." Er langte nach einer Schachtel, die auf dem Rauchtischchen stand. „Ich danke. Du hast Eile - und ich selbst habe noch einiges zu tun -" „Nun denn, aufs nächstemal. Wir können gleich zusammen fortgehen." Er rief seinen Diener, der ihm Säbel und Mütze reichte. Dann schritten wir die Treppe hinunter. „Gehst du nach der Stadt?" fragte er unten. „

„Mein Weg führt mich nach einer anderen Richtung. Also auf baldiges 35

Wiedersehen." Wir drückten einander die Hand und trennten uns.

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Meine Vermutungen bestätigten sich bald. Denn schon in nächster Zeit sah ich jene Dame in einem Garten auf und niederschreiten, den ich von meinem Fenster aus fast ganz überblicken konnte. Ein etwa zehnjähriger Knabe war um sie; wahrscheinlich ihr Sohn. Obgleich ich nun Besseres zu tun hatte als den Fenstergucker zu machen, so blickte ich jetzt doch öfter hinüber und konnte nicht umhin, mich erkundigen zu lassen, wer in der Villa wohne. Ein Hofrat, hieß es; den Namen wußte man nicht genau. Aber den Hofrat selbst, einen beleibten und wie es schien behäbigen Mann, gewahrte ich bisweilen, wie er nachmittags unter einer Linde saß und die Zeitung las. öfter, besonders gegen Abend, war der Garten sehr belebt. Gruppen von Herren und Damen; darunter auch Sandek. Bei mir hatte er sich nicht mehr eingefunden, was mir ganz recht sein konnte. So interessierte mich auch die Sache immer weniger, und ich dachte nicht weiter darüber nach. Eines Vormittags jedoch, als ich ganz zufällig ans Fenster trat, sah ich die Dame an der Seite eines Herrn langsam im Garten hin- und hergehen. Täuschte mich mein Auge? Das war ihr Begleiter von damals, der sich, wie den Journalen zu entnehmen gewesen, vor einigen Monaten zur Erholung nach Nizza begeben hatte. Ich nahm rasch mein Opernglas zur Hand. Ja, er war es. Und wieder waren die beiden in lebhaftem Gespräch begriffen. Aber es schien weniger ein Gespräch, als ein Streit zu sein. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen. Die Dame schien heftige Vorwürfe zu machen, die ebenso heftig erwidert wurden. Endlich verschwanden sie in einer Partie des Gartens, die ich nicht mehr überblicken konnte. Jetzt aber begann ich mich meiner Späherrolle zu schämen und schloß den Gucker in die Lade. Meine Gedanken jedoch verweilten unwillkürlich bei dieser erneuten Begegnung aus der Ferne, und ich stand noch einige Tage unter ihrem Eindruck. Schließlich verflüchtigte sich auch dieser und machte sich erst wieder geltend, als eines Tages Sandek ganz unvermutet bei mir eintrat. Er entschuldigte sich, daß er mich so lange nicht aufgesucht hatte. „Warst du vielleicht unwohl?" fragte ich, da ich bemerkte, daß er blaß und angegriffen aussah. „Ach nein", erwiderte er, während wir uns setzten. „Aber die Zeit der Prüfungen naht heran, und da heißt es die Nächte zu Hilfe nehmen. Ich schlafe sehr wenig." Eine Pause trat ein, während welcher er verlegen hin- und herrückte. Endlich fuhr er zögernd fort: „Ich bin eigentlich gekommen, lieber Freund, um eine Frage an dich zu richten." Ich sah ihn erwartend an. 18

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Er schwieg eine Weile; offenbar formulierte er die Frage im Geist. Darm sagte er, die Worte in sichtlicher Erregung nur mühsam hervorbringend: „Hältst du es für möglich, daß sich eine Frau - das heißt eine Dame, die über den Verdacht eigennütziger Absichten vollständig erhaben ist - ohne Liebe hingibt?" Obgleich ich sah, wie schmerzlich sich diese Frage aus seinem Innersten loslöste, konnte ich doch kaum ein leichtes Lächeln unterdrücken. Denn sie erinnerte mich in ihrer abstrakten Fassung an die ästhetisierenden Fragen seiner Jugend. Zum Beispiel: ob Hamlet, der fünf Akte lang nicht wisse, was er tun soll, wirklich der Held - dieses Wort betonte er nachdrücklich - einer Tragödie sein könne? Oder: warum Medea statt ihrer Kinder nicht lieber den Jason oder die Kreusa umgebracht habe? Und ähnliches. Dann aber auf den vollen Ernst eingehend, den die Frage für ihn haben mochte, erwiderte ich: „Gewiß halte ich es für möglich." Er zuckte zusammen und wurde ganz bleich. „Du hältst es also für möglich?" stammelte er. „Aber es müßte doch irgendein Grund vorhanden sein - -" Es kam mich an, zu sagen, daß die Gründe so zahlreich wären wie die Brombeeren. Aber ich hielt an mich und versetzte: „Es kann verschiedene Motive geben. Sie hängen von dem Wesen, den Verhältnissen der Betreffenden ab. Du hast doch so viele französische Romane gelesen, die sich mit solchen Problemen beschäftigen. Es gibt Frauen, die einer bloßen Laune folgen; diese Fälle sind nicht allzu selten. Oder von einer momentanen sinnlichen Erregung hingerissen werden. Das ist dann eine Schwäche, die meist bittere Reue und Haß gegen den Verführer zur Folge hat. Sehr oft - und gerade bei starken weiblichen Naturen - kann es par depit geschehen." ,J>ar depit", wiederholte er mit bebender Stimme. „Du meinst also, daß sich eine Frau gewissermaßen aus Ärger oder aus Verzweiflung -" „Ganz recht. Wenn sie sich von einem geliebten Manne verlassen weiß. Um ihren Schmerz zu übertäuben - oder auch nur zu erproben, ob und wie ihre Reize auf einen Ändern wirken. Auch das wird meistens tief bereut. Aber warum fragst du denn eigentlich?" fuhr ich fort, obgleich ich es sehr wohl wußte. „O," sagte er unsicher, „ich kenne jemanden, der über diesen Punkt —" „Lieber Freund", unterbrach ich ihn, „lassen wir das gegenseitige Versteckenspielen. Ich erlaube mir nicht, in deine Verhältnisse einzudringen. Da du aber gekommen bist, meine Ansicht zu hören, so sage ich dir: du selbst bist derjenige, der über diesen Punkt Klarheit haben will." „Woher vermutest du -?" erwiderte er betreten. 19

„Nun, die Vermutung liegt doch nahe genug. Es handelt sich jetzt nur darum, ob du mit mir noch weiter über die Sache sprechen willst." „Gewiß, gewiß", sagte er im Kampfe mit sich selbst. „Es ist mir ja darum zutun-" 5 „Nun, dann will ich dir kurz und bündig Aufklärung geben. Du liebst eine Frau - und diese Frau liebt einen Anderen." Er sah mich mit halb offenem Munde an. „Woher weißt du —?" „Infolge durchaus unwillkürlicher Beobachtungen. Denn beide Persönlichkeiten sind mir bekannt, wenn ich auch niemals mit ihnen verkehrt habe." 10 Er war noch immer sprachlos vor Erstaunen. „Die eine dieser Persönlichkeiten", fuhr ich fort, „wohnt hier in der Nähe. Also ich wiederhole: du liebst eine Frau, die einen Anderen liebt. Und dieser Andere - die alte Geschichte - hat sie früher geliebt und liebt jetzt eine Andere. Und darum hat sich jene Frau dir in die Arme geworfen." 15 Er fuhr wieder zusammen, machte aber eine abwehrende Handbewegung. „Nein, nein, so ist es nicht. In die Arme geworfen hat sie sich mir nicht. Aus deinem Ausspruch erseh' ich, daß du die Frau wirklich nicht kennst, wenn du vielleicht auch weißt, wer sie ist. Um sich jemandem in die Arme zu werfen, dazu ist sie viel zu stolz. Ich fühle mich daher verpflichtet, dir jetzt nähere 20 Aufklärungen zu geben, damit du die Sachlage, die du ja im allgemeinen erraten hast, deutlich überblicken kannst. Dann wird dir auch die Situation klar werden, in der ich mich befinde." Er schloß die Augen, wie um seine Gedanken zu sammeln. Dann strich er sich über die Stirn und begann: „Ich wurde in jenes Haus durch einen 25 Empfehlungsbrief eingeführt, der mir in Prag mitgegeben wurde. Bei meinem Antrittsbesuche an festgesetztem Tage wurde ich sehr höflich, aber keineswegs zuvorkommend empfangen. Man schien dem Militär nicht besonders gewogen zu sein. Auch ich fühlte mich nicht besonders angemutet. Der Hausherr machte mir den Eindruck eines heimtückischen Bureaukraten. Die 30 Frau gefiel mir gar nicht. Ich fand sie eher häßlich als schön; ihre ganzen Allüren waren mir zu wenig weiblich. Der resolute Ton, den sie im Gespräche anschlug, verletzte mich. Ich dachte also, weitere Beziehungen nicht aufzunehmen. Da ich aber schon in nächster Zeit zu einer Abendgesellschaft gebeten wurde, ging ich doch hin. Es waren nicht viele Leute da, 35 meist alte und ältere Herren mit ihren Frauen. Eine Whistpartie an mehreren Spieltischen kam in Gang. Es traf sich, daß ich der Partner des Hofrates wurde. Daß ich sehr gut spielte, schien ihm zu imponieren - und von da ab wurde ich sehr oft zu ganz kleinen Whistabenden gebeten. Die Frau nahm an dem Spiele nicht teil, nur wenn es durchaus an einem Partner fehlte, ließ sie 20

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sich dazu herbei. Nun war es merkwürdig, daß sie mir, je öfter ich sie sah, je mehr gefiel. Ich fand sie nach wie vor keineswegs schön, aber alles, was mich früher an ihr unangenehm berührt hatte, empfand ich jetzt als eigentümlich charakteristischen Reiz; besonders ihre tiefe, ungemein klangvolle Stimme übte auf mich eine bezwingende Macht aus. Ich fing an, ihr zu hofieren. Es wurde anfänglich nicht beachtet; nach und nach aber schienen meine Bemühungen Eindruck zu machen. Und als ich mich einmal, da wir uns gerade allein gegenüber befanden, mit einer leidenschaftlichen Erklärung hervorwagte, sah sie mich lange an und sagte: ,Sie lieben mich also?' Und als ich, ihre Hand ergreifend, dies beteuerte, erwiderte sie: ,Nun, dann will ich Sie auch lieben/ Sie schlang ihren Arm um meinen Nacken, näherte ihre Lippen den meinen und drückte einen sanften Kuß darauf. Mein Entzücken war grenzenlos. Noch nie hatte mich die Eroberung einer Frau so unsäglich beglückt. Ich befand mich in einem wahren Taumel - und eine Reihe seliger Tage begann. Denn wir waren nun vollständig eines Sinnes. Ich mußte kommen, so oft ich nur konnte - vormittags, nachmittags, abends. Mein so häufiges Erscheinen mußte im Hause auffallen, besonders dem Gatten. S i e bekümmerte das gar nicht, denn sie pflegte auf ihn niemals Rücksicht zu nehmen; ich aber fühlte mich beengt, obschon ich gleich anfangs erkannt hatte, daß die Ehe jedes inneren Zusammenhanges entbehrte und nur formell aufrechterhalten wurde. Daß aber der Mann über unsere Beziehungen mit einer Art sarkastischer Befriedigung hinwegsah, fing an mich zu verdrießen. Ebenso das Benehmen des Knaben, des einzigen Kindes seiner Eltern. Er bezeigte sich nicht gerade unfreundlich, aber zurückhaltend und lauernd, obgleich er, wenn er bei meinem Kommen um seine Mutter war, sofort das Zimmer verließ. Wie gesagt, das alles war mir peinlich, aber es ging unter in dem Gefühl des Glückes, das ich in der Nähe der Geliebten empfand. Eines Abends, als wir nach dem Whist bei dem üblichen kleinen Souper saßen, sagte der Mann plötzlich: ,Nun, der' - du wirst ja wissen, wen ich meine -, ,muß ja jetzt dieser Tage von Nizza zurückkehren. Da wird es endlich mit der Heirat ernst werden.' Sie erblaßte flüchtig. Dann warf sie ihrem Mann einen kalten Blick zu und sagte: ,Ich wünsche ihm alles Glück dazu.' Von da ab kam der Hofrat, so oft es anging, mit sichtlichem Behagen auf diesen Gegenstand zurück. Und als ich endlich fragte, wer denn der Herr eigentlich sei, sagte er: ,Ein alter Freund meiner Frau. Er ist Ihnen wohl als Schriftsteller bekannt.' Ich konnte das halb und halb zugeben; sie aber schwieg beharrlich, doch kam auf ihren Wangen eine fleckige Röte zum Vorschein, was bei ihr immer ein Zeichen innerer Erregung war. Die Sache fing an, mich zu beklemmen, und ich fühlte, wie eine unbestimmte, aber 21

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qualvolle Eifersucht in mir aufstieg, die ich nur mit aller Gewalt zu unterdrücken vermochte. Eines Tages hatten wir aus irgendeinem Grunde keine Vorlesungen und ich benutzte diese zufällige Freiheit, um bei Maja - ein Kosename, den ich ihr beigelegt - zu ungewohnter Stunde mich einzufinden. Ich dachte sie damit freudig zu überraschen, wenn ich sie zu Hause antraf, dessen ich ja nicht ganz sicher sein konnte. Bei meinem Eintritt ins Vorzimmer stieß ich fast mit einem Herrn zusammen, der eben im Fortgehen begriffen war. Wir maßen uns gegenseitig mit befremdeten Blicken und schritten ohne Gruß aneinander vorüber. Mich aber hatte es sofort durchzuckt: das war er - der alte Freund. Das Stubenmädchen, das ihm beim Anziehen des Oberrockes behilflich gewesen, beeilte sich, mich bei der Gnädigen zu melden, was sonst nicht der Fall zu sein pflegte. Ich begab mich inzwischen in den Salon, der an das Boudoir Majas stieß. Von dort herüber vernahm ich ihre zornige Stimme: ,Was? Jetzt?' Und irgendein Gegenstand wurde heftig zu Boden oder sonst wohin geworfen. Bald darauf trat sie selbst ein, die Wangen fleckig gerötet. ,Sie sind hier?' fragte sie. ,Ich habe Sie nicht erwartet.' ,Das wußte ich', antwortete ich, über diesen Empfang betreten und gereizt. ,Aber ich habe zufällig diesen Vormittag frei und dachte -' ,Nun ja', erwiderte sie einlenkend, wenn auch noch unfreundlich. ,Aber ich liebe derlei Überraschungen nicht.' ,Es war doch schon hie und da der Fall', sagte ich, ,und Sie zeigten sich immer erfreut -' ,Das schien Ihnen vielleicht so. Aber immerhin. Von jetzt ab jedoch muß ich Sie bitten -' ,O gewiß', versetzte ich, dem in mir aufsteigenden Unmut freien Lauf lassend. ,Ich werde nicht mehr kommen. Da Sie jetzt andere Besuche empfangen, bin ich überflüssig.' Sie warf das Haupt empor. ,Was für Besuche?' »Nun, von Ihrem alten Freunde.' ,Was wollen Sie damit sagen?' ,Daß mir im Vorzimmer ein Herr begegnet ist, der eben von Ihnen wegging.' ,Darf ich vielleicht keine Besuche empfangen?' ,Ohne Zweifel. Ich aber habe nicht Lust, mich in Nebenbuhlerschaften einzulassen.' Damit machte ich eine förmliche Verbeugung und schickte mich an, den Salon zu verlassen. In ihrer Brust arbeitete es heftig. Sie ließ mich bis zur Tür gehen, dann rief sie: ,Robert!' Ich blieb stehen. 22

Sie war offenbar durch mein Benehmen überrascht. Bei den zärtlichen Empfindungen, die ich für sie hegte, hatte sie mich für demütig und unterwürfig gehalten; mein kurz angebundener Stolz imponierte ihr. , Kommen Sie zu mir, Robert', sagte sie mit sanfter Stimme und streckte mir die Hand ent5 gegen. Ich war schwach genug, umzukehren und die Hand zu ergreifen. ,Seien Sie vernünftig, Robert. Ich bin eine nervöse Frau und kann meinen Stimmungen nicht immer gebieten. Und was jenen Herrn betrifft, so ist er wirklich nichts anderes als ein alter Bekannter, dem ich doch mein Haus 10 nicht verschließen kann. Er gedenkt jetzt zu heiraten. Also bilden Sie sich nichts ein. Sie wissen, daß ich Sie liebe.' Damit schlang sie den Arm um mich und ließ ihre Lippen lang auf den meinen ruhen. - Und nun kamen Tage, lieber Freund," fuhr er mit verzweifelter Gebärde fort, „die ich zwischen Himmel und Hölle verlebte, bald in den einen erhoben, bald in die 15 andere hinabgestoßen. Denn das Benehmen Majas wechselte beständig. Heute zärtlich und hingebend, war sie morgen kalt, rauh und von rücksichtsloser Härte. Ich stand vor einem Rätselabgrund und hatte keinen ruhigen Augenblick mehr. Denn wenn sie wirklich - was mir eine innere Stimme zurief - den Anderen liebt: warum leugnete sie es hartnäckig, wenn ich es ihr 20 vorwarf? Sie ist ja eine starke, entschlossene Natur, die keine Furcht kennt. Und warum sucht sie mich immer wieder zu fesseln, so oft ich diesem unerträglichen Zustand ein Ende machen und mich losreißen will?" Er brach ab und blickte wie verloren vor sich hin. Ich schwieg. Dann sagte ich: „Nun, die Lösung des Rätsels ist doch ganz 25 einfach. Sie will eben den Anderen, da die Heirat noch nicht erfolgt ist, wieder zu sich hinüberziehen - und dich dabei nicht ganz aufgeben." „Aber das ist ja schändlich!" rief er aus. „So scheint es uns. Aber die Frauen sind nun einmal so geartet, und man sieht, wie wenig du sie eigentlich trotz deiner vielen Erfahrungen kennst. 30 Glaubst du denn, daß auch nur eine in ihrer Lage den Mann, von dem sie weiß, daß er sie wirklich liebt, willig ziehen läßt? Und du liebst sie doch wirklich?" „Wie ich noch nie ein Weib geliebt!" stieß er hervor. „Weil du zum erstenmal an eines geraten bist, das dir überlegen ist." 35 „Überlegen?" fragte er betroffen und hochmütig zugleich. „Ja, ich muß es dir offen sagen. Sie ist dir überlegen - vielleicht in jeder Hinsicht. Du müßtest dich ihr eben unterordnen." „Unterordnen?! Wie meinst du das?" fuhr er auf. „Du müßtest dulden lernen, müßtest dich in ihren Seelenzustand zu finden 40 wissen und mit verständnisvoller Nachsicht alles anwenden, um den 23

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Anderen, da du ihr doch jedenfalls nicht gleichgültig bist, vergessen zu machen und sie allmählich ganz zu dir hinüberzuziehen." Er sprang auf. „Du meinst also," schrie er, „daß ich mich in einen Wettkampf einlassen soll? Mit diesem Skribler!" Er fühlte gar nicht, wie er mich selbst durch diese Bezeichnung verletzen mußte. „Unterschätze niemanden", erwiderte ich ruhig. „Der Mann, von dem wir sprechen, steht geistig sehr hoch." „Das mag sein", knirschte er. „Aber er ist häßlich wie ein Affe!" „Darüber ließe sich streiten. Und sicher ist es, daß die Frauen in dieser Hinsicht ganz andere Anschauungen haben als wir. Bei ihnen geben Eigenschaften den Ausschlag, die nur für sie im Äußeren eines Mannes erkennbar sind. Aber ich sehe, daß du die Frau doch nicht eigentlich liebst, sondern daß dich deine schwer verletzte Eitelkeit in eine unheilvolle Leidenschaft hineingetrieben hat." Er schien die Wahrheit meiner Worte zu empfinden, denn er zuckte zusammen. Aber er wies sie auch sofort von sich, indem er aufsprang und heftig im Zimmer hin- und herschritt: „Sei es wie immer, ich ertrage diesen Zustand nicht länger! Ich gehe dabei zugrunde!" „Das begreife ich", sagte ich. „Höre!" fuhr er fort. „Vier Wochen sind es her, daß ich nach einer heftigen Szene erklärte, sie würde mich nicht wiedersehen. Sie machte auch diesmal keinen Versuch, mich zurückzuhalten und ließ mich, sich kalt umwendend, gehen. Ein paar Tage lang atmete ich befreit auf und vertiefte mich mit vollem Eifer in meine Studien, die ich inzwischen ganz vernachlässigt hatte oder besser gesagt, ich war nicht fähig, ein Buch zur Hand zu nehmen. Bald aber stellte sich Erwartung ein - Erwartung, daß sie mir ein Zeichen geben, mich wieder zu sich rufen würde. Da es nicht geschah, steigerte sich die Erwartung zur Marter, obgleich ich mir beständig sagte, daß ich ja den vollständigen Bruch gewünscht hatte und unbedingt wünschen müsse. Aber es nützte nichts, und ich war nahe daran, ihr zu schreiben. Da kam ein Brief voll zärtlicher Vorwürfe, voll inniger Beteuerungen. Ich wollte sofort zu ihr eilen. Aber kaum aus dem Hause getreten, kehrte ich wieder um. Das Bild des Anderen war vor mir aufgestiegen und trieb mich zurück. Bleibe fest! rief ich mir zu. Ich blieb es und beantwortete auch den Brief nicht. Aber ich konnte zu keiner inneren Ruhe gelangen. Ich zwang mich, zu arbeiten, zu lernen - meine Gedanken versagten. So verging mehr als eine Woche. Eines Abends, schon sehr spät - ich hatte mich doch ein wenig zurechtgefunden saß ich bei Lampenschein an meinem Arbeitstische, als es draußen klingelte. Ich hatte meinem Burschen gestattet, ins Wirtshaus zu gehen, und mußte nun selbst nachsehen. Als ich die Tür öffnete, stand Maja vor mir, in einen 24

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Theatermantel gehüllt, die Kapuze tief ins blasse Gesicht hineingezogen. Was soll ich dir weiter sagen: an jenem Abend geschah, was früher nicht geschehen war." Er setzte sich wieder und starrte vor sich hin. Ich schwieg gleichfalls. „Da wären wir ja wieder bei deiner ursprünglichen Frage angelangt", sagte ich endlich. „Ja, ja", rief er aus und sprang wieder auf. „Und ich hätte sie mir doch selbst beantworten können! Denn Maja war in meinen Armen kalt wie Eis. Und als ich ihr das vorwarf, brauste sie auf in heftigem Zorn. Ich sei ein Undankbarer, schrie sie. Was ich denn wolle? Sie habe mir den höchsten Beweis ihrer Liebe gegeben - und noch immer hege ich Zweifel. Ich war im Augenblicke ganz zerknirscht und tat Abbitte." „Und was geschah weiter?" „Was weiter geschah?!" Er warf sich in den nächsten Stuhl. „Es folgten noch einige Zusammenkünfte, die mir erneute Qualen brachten. Denn deutliche Anzeichen der Kälte wechselten bei ihr mit Ausbrüchen leidenschaftlicher Hingebung. Und siehst du, bei solchen Ekstasen habe ich das Gefühl, daß sie in meinen Armen an jenen Anderen denkt. O, es ist ein Zustand, um wahnsinnig zu werden! Und dabei", fuhr er stotternd fort, „soll ich mich für die Prüfungen vorbereiten. Ich bin in allem zurückgeblieben ich kann meine Aufgaben nicht mehr bewältigen. Falle ich durch, so bin ich verloren. Denn meine Karriere ist dann abgeschnitten - und mir bleibt nichts als das höhnische Bedauern meiner Kameraden!" Er schlug die Hände vor das Gesicht und brach in ein Schluchzen aus. War meine Teilnahme bis jetzt auch eine geringe, nun, da ich Tränen zwischen seinen Fingern hervorquellen sah, wurde ich ergriffen. Ich stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Fasse dich. Deine Lage, ich seh' es ein, ist eine verzweifelte. Nur e i n Mittel gibt es, dich aus ihr zu befreien. Die volle und rückhaltslose Erkenntnis, daß du sie selbst herbeigeführt." Er ließ die Hand von den Augen sinken und sah mich verständnislos an. „Ja," fuhr ich fort, „du selbst hast sie herbeigeführt. Und die Qualen, die sie dir verursacht, mußt du als Sühne früherer Verschuldungen betrachten." „Welcher Verschuldungen?" lallte er. „Denk' an all die Verhältnisse, die du mit Frauen unterhalten hast. Es fällt mir nicht ein, dir Moral predigen zu wollen. Aber wie du auch jetzt darüber denken magst, nach reiflicher Erwägung wirst du zugeben müssen, daß du wiederholt unrecht gehandelt hast. Und jedes Unrecht muß früher oder später im Leben abgebüßt werden. Diese Erkenntnis, so peinlich sie auch für dich sein mag, wird dir die Kraft verleihen, dich - und auch jene Frau in irgend25

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einer Weise aus der verworrenen und unwürdigen Lage zu befreien, in der ihr euch beide befindet." Er wand sich auf dem Sessel hin und her, und ich erkannte, daß meine Worte nur halb in ihn eingedrungen waren. Oder vielmehr: er fühlte ihre Wahrheit, aber nach Art schwacher Geister und untiefer Naturen vermochte er nicht eine Sache zu Ende zu denken und dabei sich selbst zu Leibe zu gehen. Er ertrug die Wendung, die unser Gespräch genommen, nicht länger und stand auf. „Ja, ja", sagte er, sich wiederholt über die Stirne fahrend, „du hast recht, du hast recht... Aber", - er sah nach der Uhr - „es ist Zeit, daß ich gehe. Ich danke dir, daß du mich so teilnehmend angehört hast. Wir werden ja sehen, wie sich alles gestaltet." Damit reichte er mir die Hand und ging. Es wird sich nicht gut gestalten, dachte ich, als ich jetzt allein war. Die innere Zerrüttung dieses Mannes war schon zu weit vorgeschritten. Auch körperlich schien er mir gebrochen. Sein Gang war unsicher, seine Hände fühlten sich kraftlos und zittrig an. Ich fürchtete für das Ende. Ob er sich jetzt zu ihr hinüber begeben hatte? Ich konnte mich nicht enthalten, ans Fenster zu treten und den Garten ins Auge zu fassen. Es dauerte nicht lange, so sah ich die beiden nebeneinander auf- und niedergehen. Einige Tage nachher brachten mehrere Blätter die Notiz, daß die Vermählung des Ändern wahrscheinlich während der Theaterferien stattfinden dürfte.

III.

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Der Sommer hatte seine Höhe erreicht. Die Rosen in den Gärten waren verblüht; duftlose, aber farbenprächtige Feuerlilien und Gladiolen standen in den Beeten, während das Grün der Wipfel allmählich seinen Schimmer verlor. Von Sandek hatte ich kein Lebenszeichen mehr erhalten. Auch drüben hatte ich ihn nicht mehr wahrgenommen. Dort war es jetzt überhaupt leer und still geworden; man schien sich bereits in einer Sommerfrische zu befinden. Was aber war mit Sandek geschehen? Die theoretischen Prüfungen mußten doch schon vorüber sein; vielleicht hatte er sich zu den praktischen in irgendein Übungslager begeben. Oder er war schon zu seinem Regiment eingerückt. Daß er sich von mir nicht verabschiedet hatte, befremdete mich nicht. Denn es war bei seinem Wesen nur natürlich, daß er mich nach unserer letzten Unterredung vermied. Und doch war ich über sein Schicksal beunruhigt und mußte öfter an ihn denken. Endlich entschloß ich mich, dort nach26

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zusehen, wo er gewohnt hatte; irgend jemand würde mir wohl Auskunft geben können. Beim Hausbesorger, wo ich nachfragen wollte, fand ich, wie das in Wien nicht selten der Fall ist, die Tür verschlossen; ich stieg also die drei Treppen empor und drückte an der betreffenden Klingel. Nachdem ich es wiederholt getan, wurde die gegenüber befindliche Tür zur Hälfte geöffnet und ein alter Herr mit weißem Schnurrbart und freundlichen blauen Augen blickte heraus. „Wen suchen Sie?" fragte er. „Den Hauptmann Sandek." „Sie sind wohl ein Bekannter von ihm - und haben ihn längere Zeit nicht gesehen?" „So ist es." Der stattliche Alte trat heraus. „Mein Name ist Wernhart, Oberst in Pension." Ich verbeugte mich und stellte mich gleichfalls vor. „Nun dann -" er unterbrach sich. „Wollen Sie sich vielleicht einen Augenblick zu mir herein bemühen." Er führte mich durch ein schmales Vorzimmer in ein behaglich eingerichtetes Gemach, dessen Fenster durch herabgelassene Jalousien gegen das Eindringen der Sonnenstrahlen geschützt waren. Er bat mich Platz zu nehmen und setzte sich mir vertraulich nahe. „Ich bin Witwer", begann er, „und habe meine beiden Töchter - einen Sohn besitze ich leider nicht - ausgeheiratet. Da ich aber doch die mir lieb gewordene Wohnung nicht aufgeben mochte, vermiete ich seit Jahren die Hälfte an Offiziere der Kriegsschule. So hat auch der Hauptmann Sandek diesen Winter bei mir gewohnt, jetzt aber" - er dämpfte die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern - „befindet er sich im Lainzer Irrenhause." „Im Irrenhause -?" „Leider. Das ist die Folge, wenn sich die Herren im Studieren allzuviel zumuten. Es hat nicht jeder die notwendige geistige Spannkraft. Und wenn man sie erzwingen will, so reibt man sich dabei auf. Ich hatte an dem Hauptmann schon zu Beginn des Frühlings bedenkliche Anzeichen wahrgenommen und ihm den freundschaftlichen Rat erteilt, sich nicht so sehr anzustrengen. Schließlich hängt ja nicht das Leben an dem goldenen Kragen. Aber der Ehrgeiz! Der Ehrgeiz! Man will doch den Anforderungen entsprechen, die heutzutage gestellt werden - und nicht etwa als Hauptmann in Pension gehen. Da war es zu meiner Zeit ganz anders. Man avancierte in der Tour, wenn auch natürlich die entsprechende Befähigung vorhanden sein mußte." „Ja - und seit wann -?" „Ungefähr fünf Wochen ist es her, daß er plötzlich einen Anfall von Tobsucht bekam. Es war eine schreckliche Geschichte. Ich und sein Diener 27

sowie die Leute im Hause, wir wußten uns gar nicht zu helfen, bis man ihn endlich nach Lainz gebracht hatte. Bemühen Sie sich nicht etwa hinaus. Sie können ihn nicht sehen. Sein Zustand ist ein ganz hoffnungsloser. Die Ärzte sprechen von einer rasch fortschreitenden Paralyse." 5 „Das ist höchst traurig -" „Gewiß. Er war ein so prächtiger Mensch! Wenn ich nicht ganz irre," fuhr der alte Herr flüsternd fort, indem er sich die Hand vor den Mund hielt, „wenn ich nicht ganz irre, war auch eine Liebesgeschichte mit im Spiele." „So", sagte ich und erhob mich. „Ich danke Ihnen sehr, Herr Oberst, für 10 Ihre gütigen Mitteilungen. Vielleicht darf ich Sie bitten, mir über den weiteren Verlauf ein paar Zeilen zukommen zu lassen." „O sehr gern", erwiderte er, meine Karte in Empfang nehmend. Wie unerbittlich sich menschliche Schicksale vollziehen! So sprach es in mir, während ich mich auf den Heimweg machte... 15 Nach einiger Zeit - von dem Oberst hatte ich noch keine Nachricht erhalten - trat ich eine schon früher beabsichtigte kleine Rundreise durch Italien an. Als ich zurückkehrte, war es schon tief im Herbst. Unter den Briefen und Drucksachen, die ich auf meinem Schreibtische gehäuft vorfand, fiel mir auch ein schwarz gerändertes Parte ins Auge. Es zeigte an, daß der 20 Hauptmann Robert Sandek nach schwerem Leiden an einer Gehirnlähmung verstorben war. Das Ende... Ich trat ans Fenster. Öde, kahl und fahl lagen die Gärten vor mir. Ein rauher Nord, der düstere Wolken am Himmel trieb, fegte die letzten Blätter 25 von den Bäumen.

IV.

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Jahre waren verflossen. Ich befand mich in Steiermark und hatte mich bestimmen lassen, dort eine Kuranstalt aufzusuchen, die auf halber Alpenhöhe lag und sich eines weitverbreiteten Rufes erfreute. Ein berühmter Arzt, einer der ersten, die das Naturheilverfahren in Schwung gebracht, leitete sie. Als ich eintraf, neigte die Saison bereits dem Ende zu. Es hatte den ganzen Tag über in Strömen geregnet; tiefhängende graue Nebelschleier verhüllten die ganze Gegend. Ich war im Kurhause abgestiegen und die ungewohnten, mit Petroleumlampen - elektrisches Licht gab es damals noch nicht - düster beleuchteten Räumlichkeiten hatten für mich etwas Unheimliches, Nieder28

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drückendes. Auch die nicht sehr zahlreichen Kurgäste, die eben an der aus Milch und Schrotbrot bestehenden Abendtafel saßen, waren nicht sonderlich anziehend. Einen wahren Schrecken aber empfand ich, als ich unter ihnen einen Mann gewahr wurde, den ich lieber zu allen Teufeln gewünscht hätte. Es war dies ein wohlhabender Müßiggänger, der sich auf den Dichter hinausspielte und an jeden Schriftsteller herandrängte, wobei er allerdings die Maske großer Bescheidenheit vornahm. In Wahrheit aber strotzte er von Eigendünkel und glaubte mit seinen Novelletten und Gedichten, die er ab und zu in prächtiger Ausstattung erscheinen ließ, die Literatur zu bereichern. Im übrigen beschäftigte er sich mit gesellschaftlichem Tratsch, und da er in allen Kreisen verkehrte, so zeigte er sich auch mit der Wiener Skandalchronik aufs innigste vertraut. Hin und wieder konnte er ganz unterhaltend sein; aber den geschwätzigen und aufdringlichen Menschen einige Wochen hindurch beständig an der Seite zu haben, war eine trostlose Aussicht. Er erhob sich auch sofort und eilte mir entgegen. „S i e hier, Hochverehrter!" - das Wort „Meister" war damals noch nicht gebräuchlich. „Welch freudige Überraschung! Allerdings muß ich gleichzeitig mein Bedauern aussprechen, da Sie doch nur ein körperliches Leiden hierherfuhren kann. Aber Ihr Aussehen ist vortrefflich - und so wird es nicht so arg sein. Im übrigen werden hier wahre Wunderkuren vollführt. Auch leben läßt es sich ganz angenehm, wenn man auch gewissermaßen auf Wasser und Brot gesetzt ist. Erlauben Sie, daß ich Sie gleich der Gesellschaft vorstelle!" Er tat es mit großer Emphase, wobei ich wieder einmal die Genugtuung erlebte, daß die Leute von meinem Dasein keine Ahnung gehabt hatten und mich mit offenem Munde anglotzten. Ich verbiß meinen Ärger in ein paar Schinkenschnitte, die mir, da ich ja noch die Kur nicht angetreten hatte, ausnahmsweise vorgesetzt wurden. Um das Maß voll zu machen, zeigte sich, daß mein Kollege im Kurhause auch mein ziemlich naher Zimmernachbar war. „Also auf Wiedersehen morgen früh in der Wandelhalle", sagte er, als wir uns zurückzogen. „Das schlechte Wetter scheint anhalten zu wollen, und da ist an einen Gang ins Freie kaum zu denken. Sobald es wieder schön ist, werde ich Sie die herrlichen Waldwege führen." In drei Tagen war es wirklich schön geworden, und ich konnte seiner Begleitung nicht entgehen. Ich ließ sie mir auch insofern gefallen, als ich der Gegend unkundig war. Wir schritten anfänglich einen wohlerhaltenen Parkweg hinan, der die Anstalt mit den umliegenden, gleichfalls von Kurgästen bewohnten kleinen Villen vollständig überblicken ließ und eine immer weitere Rundsicht eröffnete, bis er endlich in ein felsiges Waldgebiet hineinführte. Wir hatten dieses kaum betreten, als uns zwei Gestalten entgegenkamen, die einen höchst malerischen Anblick darboten. Eine Frau und ein 29

etwa sechsjähriges Mädchen. Beide trugen, wie dies hier nach der Morgenkur üblich war, die Haare aufgelöst. Die der Frau fielen in langen Strähnen hinab und umflossen sie wie ein dunkler Mantel; die des Kindes, von hellem Blond, umwallten das zarte, lichte Gesichtchen wie ein goldenes 5 Vlies und waren kranzartig mit einem blühenden Genzianenzweig geschmückt, so daß die Kleine wie ein Elfchen aus dem Sommemachtstraum aussah, während die Mutter mit herben, finsteren Zügen an Lady Macbeth erinnerte. Mein Begleiter lüftete den Hut zu ehrerbietig lächelndem Gruß, der von 10 der Frau mit kurzem Kopfnicken erwidert wurde. Nachdem die beiden weit genug hinter uns waren, fragte er mit bedeutungsvollem Augenzwinkern: „Wissen Sie, wer die Dame ist?" Ich verneinte, obgleich ich sie sofort erkannt hatte und mir die große Ähnlichkeit des Kindergesichtes mit dem Sandeks überraschend in die Augen 15 gesprungen war. Er aber fuhr in seiner Weise frivol geheimnisvoll fort: „Die Hofrätin -" er nannte den Namen. „Eine sehr bedeutende, geistvolle Frau, die ihrem Mann in jeder Hinsicht überlegen ist. Sie hat jahrelang mit" - er nannte wieder den Namen - „ein sehr intimes Verhältnis gehabt, das sich erst löste, als der schwarzgallige Lessing die blauäugige Undine vom Theater 20 wegheiraten wollte. Diese aber hat sich ihm, das wissen Sie ja, wie schon vorher manchem anderen mit ihrem glatten Fischleib im letzten Augenblick entwunden. Und da hat auch der Herr wieder das Sprichwort bewahrheitet: on revient toujours... Allerdings schon in etwas schadhaftem Zustande. Er hat ja immer an der Leber gelitten und scheint jetzt ganz und gar einzu25 trocknen. Erst kürzlich hat er die Dame, die schon sehr bald die Anstalt verläßt, hier besucht. Was aber die Kleine betrifft, die Sie jetzt gesehen haben, so kommt mir ihre Existenz etwas fragwürdig vor. Während des Interregnums soll ihrer Mama ein Offizier näher getreten sein. Ich will nichts behaupten - aber das Töchterchen sieht weder dem Hofrat noch seiner 30 Gemahlin ähnlich.

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Und nun saß dieses Töchterchen mit voll entwickeltem Frauenreiz mir gegenüber - an der Seite des jungen Modegelehrten aus der Schule Brandes' und Nietzsches. Es war ein gefährlicher Tischnachbar, der ihr da den feingeschnittenen orientalischen Kopf und die geistsprühenden Augen beständig zuwandte und sie mit dem Zauber seines Wortes zu umstricken schien. Schon

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manche der jungen und jüngsten Damen, die sich zu seinen Vorlesungen drängten, war, wie es hieß, diesem Zauber erlegen. Er aber wußte bis jetzt nur Hoffnungen zu erwecken - keine zu erfüllen. Am anderen Ende der Tafel saß auch der Gemahl der blonden Frau, ein 5 etwas aufgeschwemmt aussehender Baron mit eingeklemmtem Monokel. Er war zwischen zwei steife Standesdamen hineingeraten, mit denen er sich furchtbar zu langweilen schien. Er hielt sich jedoch am Menü schadlos und trank sehr viel Champagner, der gleich von der Suppe an gereicht wurde. Endlich tauchte man die Finger in die flachen Wasserschalen und begab 10 sich in das anstoßende sehr geräumige Rauchzimmer, um den Kaffee zu nehmen. Auch dort wich der Beredte nicht von der Seite der jungen Frau, so daß ich mein Vorhaben, mich ihr zu nähern, aufgab. Ich zog mich in eine Ecke zurück und dachte wieder über die Verkettungen des Lebens nach. Was wohl mit der Mutter geschehen sein mochte? Und ob nicht vielleicht der 15 Tochter ein ähnliches Los bevorstand? Die Männer, denen beiden sie gewissermaßen ihr Dasein verdankte, waren gestorben. Und die schöne, geistvolle Schauspielerin, die unbewußt mit in diese Wirrnisse verflochten gewesen, hatte bald darauf dennoch geheiratet. Einen damals sehr berühmten Bühnendichter. Aber die Ehe war keine glückliche und wurde bald getrennt. 20 Ich warf den Rest der Havanna in den Aschenbecher und entfernte mich unbemerkt, während sich der Baron eben ein Gläschen Mandarin eingoß.

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Das Diner hatte knapp vor Ostern stattgefunden. Die Saison ging somit zu Ende, und die gesellschaftlichen Beziehungen lockerten sich, bis sie schließlich der Sommer gänzlich auflöste. Erst der November führte das mehr oder minder weit getrennt Gewesene allmählich wieder zusammen und die ,jours" traten in ihr Recht. So konnte auch ich nicht umhin, mich bei dem der Dame des Hauses einzufinden, wo ich an jenem Abend geladen war. Eintretend, fand ich das Empfangsboudoir fast leer, nur eine Dame saß neben der Hausfrau auf dem Sofa. Zu meiner Überraschung war es die, welche mir damals so viel zu denken gegeben. Es war kaum die gegenseitige Vorstellung erfolgt, als in einer etwas auffallenden Besuchstoilette die schöne Schauspielerin hereintrat. Ja, sie war noch immer schön, obgleich ein Vierteljahrhundert über ihre Blütezeit dahingegangen und sie selbst einigermaßen korpulent geworden 31

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war. In das ältere Fach übergetreten, zeigte sie ihr Talent von einer ganz neuen Seite und entzückte wieder das Publikum, das sich ihr schon ein wenig entfremdet hatte. Wir begrüßten einander als alte Bekannte, die sich schon lange nicht mehr gesehen hatten, und bei ihrer lebhaften, humoristischen Art brachte sie sogleich ein allgemein anregendes Gespräch in Fluß. Nur die junge blonde Frau verhielt sich dabei ziemlich teilnahmslos. Nach einer Weile erhob und verabschiedete sie sich. Sobald sie draußen war, sagte die Schauspielerin: „Mein Gott, was hat denn das liebe Frauchen? Sie ist ja kaum mehr zu erkennen. Vor einem halben Jahr traf ich sie noch blühend und strahlend in einer Soiree bei Weikers. Ist sie vielleicht leidend?" Auch mir war es aufgefallen. Die Hausfrau aber rückte etwas verlegen auf ihrem Sitze hin und her. „Sie wissen also nichts?" erwiderte sie nach einer Pause. „Nicht das geringste. Wir Komödianten leben ja eigentlich doch nur in unserer Kulissenwelt." „Auch Ihnen ist nichts bekannt?" wandte sich die Hausfrau an mich. Ich verneinte. „Merkwürdig. Es wird doch überall davon gesprochen, und so ist es wohl keine Indiskretion, wenn ich Ihnen die Sache mitteile. Die junge Frau hat sich nämlich scheiden lassen, um den genialen Ästheten zu heiraten, der seit ein paar Jahren eine so große Rolle in der Gesellschaft gespielt. Sie kennen ihn ja beide?" Wir stimmten zu. „Nun aber hat es der Herr für gut befunden, zurückzutreten und nach London abzureisen. Welch ein Schlag das für die Ärmste war, können Sie sich denken. Mir selbst ist die Affäre auch deshalb peinlich, weil sie sich in meinem Hause angesponnen hat." „Ach Gott!" sagte die Schauspielerin. „Man darf derlei nicht zu tragisch nehmen. Die Frau ist ja noch so jung - sie wird sich schon wieder zurecht finden." „Das hoff ich auch", erwiderte die Dame des Hauses. „Übrigens hatte die Absicht, sich scheiden zu lassen, schon lange vorher bei ihr bestanden. Denn der Baron ist ein ganz unwürdiger Mensch. Ein Spieler, der das kleine Gut, das er besitzt, schon dreifach überschuldet hat. So reizend sie als Mädchen war, hat er sie doch nur ihres Geldes wegen geheiratet. Denn ihr Vater, der verstorbene Hofrat, hat ein sehr bedeutendes Vermögen hinterlassen." „Ja, die jungen Mädchen!" sagte die Schauspielerin. „Die springen nur so in die Ehe hinein. Und nun gar mit der Aussicht auf eine siebenzackige Krone im Trousseau." 32

„Da irren Sie sich. So oberflächlich war sie nicht, daß sie sich durch Titel ködern ließ. Es wirkten ganz andere Umstände mit. Sie hatte sich im elterlichen Hause sehr unglücklich gefühlt. Denn ihre Mutter hegte seit jeher eine ganz unbegreifliche Abneigung gegen sie, unter der sie sehr litt. Der Baron 5 war ein Bekannter ihres um zwölf Jahre älteren Bruders - und da hatte sie sich entschlossen." „Lebt ihre Mutter noch?" fragte ich. „Kennen Sie sie?" „Vor vielen Jahren bin ich flüchtig mit ihr zusammengetroffen." 10 „Sie kennen sie also nicht näher. Eine ganz merkwürdige Frau. Sie war nie schön, aber höchst interessant. Dabei eine stolze, herrische Natur. Sie soll einst sehr leidenschaftlich gewesen sein - mir aber hat sie stets den Eindruck großer, fast eisiger Kälte gemacht. Jetzt ist sie - schon seit zwei Jahren schwer krank. Eine Gesellschafterin und zwei Pflegerinnen sind um sie. Ihre 15 beiden Kinder - auch der Sohn ist verheiratet - läßt sie nur selten vor sich." „Wer weiß, wie das alles zusammenhängt", bemerkte die Schauspielerin obenhin. „Das ist eben ein Rätsel. Was aber die Tochter betrifft, so kann ich nur sagen, daß sie ein ganz wundervoller Charakter ist. Sie hat mir soeben 20 anvertraut, daß sie dem Baron ihren fünfjährigen Knaben ein für allemal abgekauft hat. Das heißt: gegen so und soviel verzichtet er auf seine Vaterrechte. Sie mußte dabei schwere Geldopfer bringen, aber das Kind bleibt ihr bis zur Großjährigkeit erhalten. Sich ganz seiner Erziehung zu widmen, betrachtet sie jetzt als Lebensaufgabe. Sie heiratet gewiß nicht wieder. Und 25 im übrigen wird sie auf dem Gebiete der Frauenfrage und der öffentlichen Wohltätigkeit einen angemessenen Wirkungskreis zu finden trachten." Zwei neue Besuche traten ein, das Gespräch unterbrechend...

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2. Hymen. Text der Handschrift

[S.2] Die schlanke blonde Frau saß mir bei{m}J (dem)T Diner gegenüber, fast verdeckt {von} (durch) eine{m}(n) hohen Tafelaufsatz, hinter dem ihr lichtes Antlitz mit den dunklen Amethystaugen nur selten zum Vorschein kam. Aber gleich im Empfangszimmer war mir dieses Antlitz ganz beson5 ders aufgefallen. Bei der großen Anzahl der Geladenen fanden keine unmittelbaren Vorstellungen statt, und so wandte ich mich an einen Bekannten um Auskunft über die Dame, die eben mit einem jungen Modegelehrten in eifrigem Gespräche begriffen war. {Während nun die zahlreichen Gänge gereicht wurden, hatte ich Zeit} (Was ich erfuhr, genügte mir, um zu 10 wissen, an wen mich ihr Gesicht) erinnert (hatte) - und daß ich sie selbst schon einmal als Kind gesehen(.) {hatte}. Während nun die zahlreichen Gänge gereicht wurden, hatte ich Zeit, {zu} um über allerlei Vergangenes nachzudenken. Meine (beiden) Tischnachbarinnen fanden mich daher sehr zerstreut und einsilbig, worüber sich auch die ältere von ihnen, die gern 15 über Kunst sprach, ganz offen beschwerte. Mir aber [S.2V] gestaltete sich schon an jenem Abend die kleine Geschichte, die ich jetzt niederzuschreiben beginne.

[S.3]

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Zu Anfang der Siebziger Jahre war es, daß ich, von einem Spaziergang nach Hause zurückgekehrt, eine Visitenkarte vorfand. Der Offizier, hieß es, 20 der sie abgegeben, würde in einer Stunde wieder nachsehen. Ich war darüber nicht sonderlich erfreut, obgleich mir der Hauptmann {Samek} (Sandek) - so stand auf der Karte - einst als Lieutnant befreundet gewesen. Er war auch damals eine {sehr} sympathische Persönlichkeit. Achtzehn Jahre alt, war er aus einer Militärbildungsanstalt ins Regiment gekommen, 25 wo er durch die harmonische Frische (und Unbefangenheit) seines Wesens gleich alles für sich einnahm. Auch geistige Fähigkeiten schien er zu besitzen; wenigstens legte er eine große Lern- und Wißbegirde an den Tag. Ich konnte (ihm), als wir einander näher tra/fl(t)en, nicht genug Bücher zum Lesen geben oder anempfehlen. Aber es zeigte sich bald, daß er sie

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nicht verstand, und die unausgesetzten, oft recht {unsinnigen} (abgeschmackten) Fragen, die über Inhalt und Tendenz an mich richtete, wurden mir umso ärgerlicher, als er dabei noch immer seine eigene verschro[S.4]bene Meinung aufrecht halten wollte. Dennoch blieben unsere Beziehungen gute, da er ja sonst ein vortrefflicher {junger} Mensch und liebenswürdiger Kamerad war. Da fügte es sich, daß er auserkoren wurde, dem Sohne eines hohen Generals Unterricht in einigen militärischen Gegenständen zu erteilen. Der junge Herr war im Lernen stark zurückgeblieben, so daß er auf {ein} (das) akademische{s} Studium, zu dem man ihn anfänglich bestimmt hatte, verzichten mußte. Es galt also jetzt, ihm die nötigen Vorkenntnisse zum Eintritt in die Armee beizubringen. Sein Vater, der General, besaß eine Frau, die immer als große Schönheit gegolten hatte und es gewissermaßen auch jetzt noch war. Wie allgemein bekannt, hatte sie es mit der ehelichen Treue niemals sehr ernst genommen, und es hieß, daß der jeweilige Adjutant ihres Gemahls auch immer ihr jeweiliger Liebhaber gewesen sei. Das mochte auf Übertreibung beruhen, gewiß aber war, daß sich zwischen ihr und dem blutjungen Offizier ein Verhältniß entspann, das für diesen {von} verderbliche {n} Folgen {war}, (hatte.) Denn durch die falsche und verlogene Stellung, die er dem Gatten sowohl wie dem heranwachsenden Sohne gegenüber einnahm, wurde sein lauterer, (bis {jetzt} ((dahin)) jünglinghaft [S.5] unschuldiger Charakter im tiefsten geschädigt. Dazu kam noch, daß er sich durch dieses Verhältni{ß}(s) in eine vornehmere gesellschaftliche Sphäre erhoben fühlte, wobei die Eitelkeit, die vielleicht seit jeher in ihm latent gewesen, mehr und mehr entbunden wurde. Er nahm gezierte {und weibische} Allüren an und bildete sich im Laufe einiger Jahre bei verschiedenen Garnisonswechseln zu einem (schmachtenden, aber auch) gewissenlosen Lovelace aus, der mit dem Ehebruch einen ganz offenkundigen Kultus trieb. Er sagte jedem, der es hören wollte, daß man nur in Beziehungen zu einer verheirateten Frau die Liebe wirklich kennen lerne; wie denn auch erst die reife und erfahrene Frau das eigentliche Weib sei. Mit Mädchen, die er insgesamt Backfische oder noch schlimmer Gänse nannte, wollte er nichts zu tun haben. Da er jetzt immer nur in höheren Kreisen zu verkehren trachtete, entfremdete er sich auch allmählich seinen Kameraden, so daß der Abschied, den wir bei meinem Scheiden aus dem Regiment von einander nahmen, ein ziemlich kühler war Und nun trat er nach mehr als einem Jahrzehnt bei mir ein. Fast unverändert. Derselbe schlanke und geschmeidige Wuchs, der ihn immer ausgezeichnet. Das blonde, [S.6] leicht gelockte Haar {war} noch immer dicht; nur die feingeschnittenen Züge des hell schimmernden Gesichtes er35

schienen schlaffer, und um die Augen, die in ihrem etwas starren Glänze an dunkle Amethyste erinnerten, zeigten sich feine Fältchen. Er verbeugte sich nachlässig graziös und streckte mir dann die Hand entgegen. „Verzeih', wenn ich dich etwa störe," sagte er. Aber da mich der Zufall 5 heute in deine Nähe gebracht hat, so konnte ich dem {x-x} Antrieb nicht widerstehen, dich aufzusuchen." „Freut mich sehr," erwiderte ich. „Aber wie wußtest du -" „Daß du hier wohnst? (Das habe ich schon früher erfahren}. (Nun, derlei erfährt man eben.) Ich bin ja schon ein halbes Jahr in Wien - als Frequen10 tant des Stabsoffizierskurses." „Du bist also schon so weit. Ich gratuliere." „Danke," erwiderte er (etwas) zerstreut, indem er mit der Hand über die Stirn fuhr. „Die Sache ist nicht leicht durzufuhren. Man stellt (jetzt) ganz unerhörte Anforderungen/.\(,) {In} (und in) gewissen Jahren nimmt {ja} 15 die Lernfähigkeit ab/,l(.) {x-x-x}. {Und} (Aber) wie geht es dir?" fuhr er ablenkend fort, indem er den Blick musternd {durch xx meines} (über die) ziemlich kahlen [S.7] ({vier} Wände meines) Zimmers {umher}schweifen ließ. „So so - den Umständen angemessen." 20 „Nun ja, es ist nicht leicht, sich in einem neuen Berufe — Aber eine sehr schöne Aussicht scheinst du hier zu haben", unterbrach er sich, stand auf und trat an ein Fenster. Die Fernsicht, die ich damals in meiner hochgelegenen Wohnung hatte, war wirklich sehr schön. Ich konnte über eine weite Flucht von Gärten 25 hinweg {bis} auf die ragenden Türme und Kuppeln der Stadt blicken. Es war eben Frühlingsanfang und ein weißes, hier und dort von zartem Rot durchschimmertes Blütenmeer lag vor uns. „Herrlich!" rief er aus. „Ich beneide dich. Ich selbst habe in meiner {Wohnung} (Stadtwohnung) nichts anderes vor mir, als {so} eine trostlose 30 Reihe von Fenstern und Dächern." Wir setzten uns wieder und begannen von vergangenen Zeiten zu sprechen. Er zeigte sich dabei unruhig und zerstreut. Nach einer Weile trat er wieder ans Fenster und blickte gespannt hinaus. Zurückgekehrt, nahm er den Faden des Gespräches wieder auf, spielte aber in nervöser {Unruhe} 35 (Hast) mit {dem Griff}J (der Quaste)1 seines Säbels, den er nicht abgelegt hatte. Sehr bald stand er wieder auf und schien nun etwas Erwartetes zu erblicken, denn ein Zug von Befriedigung [S.8] trat in sein Antlitz. „Jetzt muß ich dich verlassen, lieber Freund," sagte er. „Ich bin nämlich nicht allein in {die} (diese) Gegend gekommen, sondern mit Bekannten, 40 die hier für den Sommer eine Villa gemietet haben. Ich werde (dort) ein 36

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häufiger Gast sein und mir also erlauben, {dich} dich manchmal zu besuchen." Er langte nach seiner Mütze. „Wird mir ein Vergnügen sein. Nur bitte ich: nicht vor fünf Uhr Nachmittags. Denn bis dahin bin ich immer beschäftigt." „Ganz mein Fall," erwiderte er. „{Heute habe ich mir eine Ausnahme gestattet.} (Du glaubst gar nicht, wie sehr ich) angestrengt bin. Heute habe ich mir eine Ausnahme gestattet, und kann das Versäumte nur hereinbringen, {indem} (indem) ich die Nacht hindurch büffle. Also leb' wohl, auf Wiedersehen!" Er ging, von mir hinausbegleitet. Einigermaßen getröstet, kehrte ich in mein Zimmer zurück. {Also} Er hatte also Bekannte, die im Sommer hier wohnen werden. Wahrscheinlich in meiner Nähe. Darum hatte er auch mit so gespannter Aufmerksamkeit durchs Fenster geblickt. Jedenfalls eine Verabredung. {Gewiß} (Wohl) mit einer Dame. Denn er hatte sich {auch} in dieser Hinsicht [S.9] (gewiß) ebenso wenig verändert wie in seinem Äußeren. Immerhin/!l(.) Was kümmerte es mich? Wenn er mich nur nicht allzu oft aufsuchte. Aber er hatte {ja}J selbst gesagt, daß er sehr angestrengt sei - und hin und wieder mochte er ja kommen Er kam auch nicht so bald. Ich aber mußte ihm artigkeitshalber doch einen Gegenbesuch machen. Als ich wieder einmal in der Stadt zu tun hatte, wollte ich mich dieser Pflicht entledigen. Auf seiner Karte stand die Adresse. Er wohnte in Mariahilf, in der Nähe der Stiftskaserne. Nun denn: So gegen Mittag stieg ich dort drei Treppen empor, in der Hoffnung, ihn nicht anzutreffen und und mit einem Kartenabwurf davon zu kommen. Aber er war zu Hause. Der Bursche sagte, der Herr sei eben im Umkleiden begriffen; aber ich möchte nur eintreten und ein wenig warten. Ich betrat also {in den kleinen Gar9onsalon}, (das geräumige Zimmer,) in {das} (das) mich der Diener geführt. Es war ein (ganz) hübsches interieur. Nicht viele Möbel, aber eine bequeme Ottomane. Spiegel und ein paar gute Kupferstiche an den Wänden. {Ein}J (Neben einem Bücherregal ein)7 zierlicher Schreibtisch. Und auf diesem, neben allerlei Nippes, die Kabinetphotographie einer Dame. Diese Dame mußte ich kennen. Ich entsann mich auch bald, daß ich sie vor Jahren oft gesehen [S. 10] hatte, ohne zu wissen, wer sie war. Auch heute wußte ich es nicht. Aber {ich} (sie) war {ihr} (mir) im Laufe einiger Wintermonate fast täglich auf einem Morgengange begegnet, den ich {fast tä} über den damals noch bestehenden Teil des alten Glacis unternahm. Sie {{war immer von einem Herrn begleitet, von einem {Schrift} sehr}} (machte den Eindruck einer verheirateten [S.9V] Frau, befand sich ((jedoch» immer in Begleitung eines Herrn, [weiter auf S. 10] der zu den» bedeutendHenU((sten)> Schrift37

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steller(n), {der ein stadtbekx-x {{x-x}> x-x bekannten Persönlichkeiten} jener Tage zählte. Seine geistvollen {Feuilletons} (Essays), {die} (seine) scharfen {, sehr verletzenden} Theaterkritiken wurden {mit Andacht gelesen} (immer mit) Spannung erwartet und mit {Andacht} (andächtigem Eifer) gelesen. Aber er schrieb (im Ganzen) wenig, und die Zeitungen hatten Mühe, etwas von ihm heraus zu bekommen. Denn er wollte sich nicht binden und war, da er einiges Vermögen besaß, nicht eigentlich auf litterarischen Erwerb angewiesen. Im übrigen galt er als weltmännischer Sonderling, der ab und zu in den Wiener Salons auftauchte und wieder verschwand. In letzterer Zeit hieß es, daß er in näheren Beziehungen zu einer jungen, ebenso schönen wie geistvollen Schauspielerin stehe(;){,} {die aus Deutschland gekommen und sehr rasch der Liebling des Publikums geworden war. Er selbst} (man sprach sogar {schon}J von einer Verlobung. Eine stadtbekannte Persönlichkeit,) fiel schon durch seine äußere Erscheinung eigentümlich auf. {Hochgewachsen, schlank} (Schlank) und hager, hielt er sich (im Gehen) stark vornüber [S. 11] geneigt, so daß er etwas gebrechlich aussah. Sein Antlitz mahnte an das des Sokrates und erschien beim ersten Anblick häßlich. Sah man aber näher zu, so traten {ungemein}J (sehr)T feine und charakteristische Züge hervor, besonders die außerordentliche Klarheit und Leuchtkraft seiner tiefliegenden {hell}Jgrauen Augen. Auch seine Begleiterin war nicht schön. Eher klein als groß, hatte ihre Gestalt etwas Gedrungenes, Gestauchtes. Aber ihre Gliederbewegungen waren von anmutiger Energie, wie sich {dann} auch in ihrem blassen Antlitz, aus dem große dunkle Augen blitzten, {große} (ungemeine) Willenskraft ausdrückte. Da die Beiden, die sich hier offenbar {x-x} zu einem gemeinsamen Spaziergang zusammenfanden, immer in sehr lebhaftem Gespräch begriffen waren, so konnte ich auch wahrnehmen, daß die Dame prachtvolle Zähne {hatte} besaß. Und nun hatte ich ihr Porträt vor mir. Sie zeigte sich darauf {ein wenig} (einigermaßen) gealtert, und der Ausdruck von Willenskraft trat schärfer hervor. Daß das Bild auf dem Schreibtisch {Sameks} (Sandeks) stand, gab mir zu denken. Jedenfalls wies {er} (es) auf nähere Bekanntschaft hin. Aber {nun}1 (da)T trat er schon selbst aus der geschlossen gewesenen Seitentür. Sehr sorgfältig gekleidet, von einem [S. 12] leichten Hauch feinen Parfüms umweht. „Verzeih', sagte er, mir (die) weibisch gepflegte weiße Hand entgegenstreckend, „verzeih', daß ich dich habe warten lassen. Ich mußte mich {eben um}(an)kleiden. Leider werde ich mich auch nicht lange deiner angenehmen Gegenwart erfreuen können, {ich} (denn ich) habe etwas sehr Wichtiges vor." 38

„Laß dich nicht stören" {erwider} warf ich ein. „Ich bin ja fürs erste nur gekommen, deinen Besuch zu erwidern. Wir werden uns {ja} wohl noch öfter sehen." „Gewiß, gewiß. Aber nimm doch Platz und rauchen wir wenigstens 5 {noch} eine Zigarette." Er langte nach einer Schachtel, die auf {einem} (dem) Rauchtischchen stand. „Ich danke. Du hast Eile - und ich selbst habe noch einiges zu tun -" „Nun denn, aufs nächstemal. Wir können gleich zusammen fortgehen." Er rief seinen Diener, der ihm Säbel und Mütze reichte. Dann schritten 10 wir die Treppe hinunter. „Gehst du nach der Stadt?" fragte er unten. Ta " „ja. „Mein Weg {geht in} (führt mich nach einer) andere(n) Richtung. Also auf baldiges Wiedersehen." ([S. l ] Wir drückten einander die Hand und trennten uns.

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II.

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Meine Vermutungen bestätigten sich bald. Denn schon in nächster Zeit sah ich jene Dame in einem Garten auf- und niederschreiten, den ich von meinem Fenster aus fast ganz überblicken konnte. Ein etwa zehnjähriger Knabe war um sie; wahrscheinlich ihr Sohn. Obgleich ich nun besseres zu tun hatte, als den Fenstergucker zu machen, so blickte ich jetzt doch öfter 20 {nach dem Garten}; (hinüber und konnte nicht umhin,) mich {bei der Nachbarschaft} erkundigen zu lassen, wer {da drüben} in der Villa wohne. Ein Hofrat hieß es; den Namen wußte man nicht genau. Aber den Hofrat selbst, einen {sehr beleibten, behäbigen} (beleibten und wie es schien behäbigen) Mann, gewahrte ich bisweilen, wie er nachmittags unter einer 25 Linde saß und die Zeitung las. öfter, besonders gegen Abend, war der Garten sehr belebt. Gruppen von Herren und Damen/,1J(;)T darunter auch Sa{mek.}(ndek.) Bei mir hatte er sich nicht mehr eingefunden, was mir [S.14] mir ganz recht sein konnte. So {{verlor {d} auch die Sache für mich alles Interesse,}} (interessierte mich auch die Sache immer weniger,) und 30 ich dachte nicht weiter darüber nach. Eines Vormittags jedoch, als ich ganz zufällig ans Fenster trat, sah ich die Dame an der Seite eines Herrn langsam im Garten hin- und hergehen. Täuschte mich mein Auge? {Ich glaubte in dem Herrn den} (Das war ja 39

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ihr) Begleiter von damals{,) {zu erkennen. Ich holte rasch} (der sich, wie den Journalen zu [S.13V] entnehmen gewesen, vor einigen Monaten zur Erholung {an den Gardasee} «nach Nizza» begeben hatte. Ich nahm rasch) [weiter auf S. 14] {mx} mein{en} Operng{ucker}(las) {hervor.} (zur Hand.) Ja, er war es. Und wieder waren die Beiden {wie damals} in lebhaftem Gespräch begriffen. Aber es schien weniger ein Gespräch, als ein Streit zu sein. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen. Die Dame schien heftige Vorwürfe zu machen, die {von der anderen Seite }J ebenso heftig erwidert wurden. Endlich verschwanden sie in einer Partie des Gartens, die ich nicht mehr überblicken konnte. Jetzt aber begann ich mich meiner Späherrolle zu schämen und schloß {endlich} den Gucker in die Lade. {Aber} /ml(M)eine Gedanken (jedoch) verweilten unwillkürlich bei dieser erneuten Begegnung aus der Ferne, und ich stand noch einige Tage unter ihrem Eindruck. Schließlich verflüchtigte sich auch dieser und machte sich erst wieder geltend, als eines Tages [S. 15] {Samek} (Sandek) ganz unvermutet bei mir eintrat. Er entschuldigte sich, daß er mich so lange nicht aufgesucht hatte. „Warst du vielleicht unwohl?" fragte ich, da ich bemerkte, daß er blaß und angegriffen aussah, {x} „Ach nein, erwiderte er, während wir uns setzten. „Aber die Zeit der Prüfungen naht heran, und da heißt es, die Nächte zu Hilfe nehmen. Ich schlafe sehr wenig." Eine Pause trat ein, während welcher er verlegen hinund herrückte. Endlich fuhr er zögernd fort: „{Heute} (Ich) bin {ich} eigentlich gekommen, lieber Freund, um eine Frage an dich zu richten." Ich sah ihn erwartend an. Er schwieg eine Weile; offenbar formulierte er die Frage im Geist. Dann sagte er, die Worte {mit} (in) sichtlicher Erregung nur mühsam hervorbringend: „Hältst du es für möglich, daß sich eine Frau - das heißt eine Dame, die über den Verdacht {irgendwelcher gewinnsüchtiger} (eigennütziger) Absichten vollständig erhaben ist - ohne Liebe hingiebt?" Obgleich ich sah, wie schmerzlich sich diese Frage aus seinem Innersten loslöste, konnte ich doch kaum ein leichtes Lächeln unterdrücken. Denn sie erinnerte mich in ihrer abstrakten Fassung an die ästhetisierenden Fragen seiner Jugend/,l(.) (Zum Beispiel:) ob Hamlet, der fünf Akte lang nicht wisse, was er tun soll, [S. 16] wirklich der Held - dieses Wort betonte er sehr nachdrücklich - einer Tragödie sein könne? Oder: warum Medea statt ihrer Kinder nicht lieber den Jason oder die Kreusa umgebracht habe? Und ähnliches. Dann aber auf den vollen Ernst eingehend, den die Frage für ihn haben mochte, erwiderte ich: „gewiß halte ich es für möglich."

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Er zuckte zusammen und wurde ganz bleich. „Du hältst es also für möglich?" stammelte er. „Aber {die Frau} (es) müßte doch irgend ein{en} Grund (haben —"} (vorhanden sein —") Es kam mich an, zu sagen, daß die Gründe so zahlreich wären wie die Brombeeren. Aber ich hielt an mich und versetzte: „Es kann verschiedene {Gründe} ({Beweggründe}) ((Motive» geben. Sie hängen von dem Wesen, den Verhältnissen der Betreffenden ab. Du hast doch so viele französische Romane gelesen, die sich mit solchen Problemen beschäftigen. Es gibt Frauen, die {in dieser Hinsicht} einer bloßen Laune folgen, diese Fälle sind nicht allzu selten. {Oft giebt} (Oder) «von» eine(r) momentane(n) sinnliche(n) Erregung {den Ausschlag.} ({nachgeben}) «hingerissen werden.» Das ist dann eine Schwäche, die meist bittere Reue und Haß gegen den Verführer zur Folge hat. Sehr oft - und gerade bei starken weiblichen Naturen {geschieht es aus} (kann es {durch}) ((par)} depit (geschehen") {...}" „{Aus} (Par) depit" wiederholte er mit bebender Stimme. [S. 17] „Du meist also, daß sich eine Frau gewissermaßen aus ({Trotz} ((Ärger» oder aus) Verzweiflung -" „Ganz recht. Wenn sie sich von einem geliebten Manne verlassen weiß. {Sie will dann} (Um) ihren Schmerz übertäuben - oder auch nur (zu) erproben, {wie} (ob und wie) ihre Reize {auf einen} (auf einen) Ändern wirken. (Auch das (({ist}» («wird») meistens tief bereut.) Aber warum fragst du denn eigentlich?" fuhr ich fort, obgleich ich es sehr wohl wußte. „O," sagte er unsicher, „ich kenne jemanden, der über diesen Punkt —" „Lieber Freund, unterbrach ich ihn, „lassen wir das gegenseitige Versteckenspielen. Ich erlaube mir nicht, in deine Verhältnisse einzudringen. Da du aber gekommen bist, meine Ansicht zu hören, so sage ich dir: du selbst bist derjenige, der über diesen Punkt Klarheit haben will." „Woher vermutest du -?" erwiderte er betreten. „Nun, die Vermutung liegt doch nahe genug. Es handelt sich jetzt nur darum, ob du mit mir noch weiter über die Sache sprechen willst." „Gewiß, gewiß", sagte er im Kampfe mit sich selbst. „Es ist mir ja darum zu tun-" „Nun, dann will ich dir kurz und bündig Aufklärung geben. „Du liebst eine Frau - und diese Frau liebt einen [S. 18] Anderen." {-} Er sah mich mit halb offenem Munde an. „Woher weißt du? —" „In Folge durchaus unwillkürlicher Beobachtungen. Denn beide Persönlichkeiten sind mir bekannt, wenn ich auch niemals mit ihnen verkehrt habe." Er war noch immer sprachlos vor Erstaunen.

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„Die eine dieser Persönlichkeiten," fiihr ich fort, „wohnt hier in der {Nachbarschaft}. (Nähe.) Also ich wiederhole: du liebst eine Frau, die einen Anderen liebt. Und dieser Andere - die alte Geschichte - hat sie früher geliebt und liebt jetzt eine Andere. Und (aus Schmerz darüber} {{{in {Kummer}) «tiefer Trau}}» «(darum)» hat sich jene Frau dir in die Anne geworfen." Er fuhr wieder zusammen, machte aber eine abwehrende Handbewegung. „Nein, nein, so ist es nicht. In die Arme geworfen hat sie sich mir nicht. Aus deinem Ausspruch erseh' ich, daß du die Frau wirklich nicht kennst, wenn du vielleicht auch weißt, wer sie ist. Um sich jemanden in Arme zu werfen, dazu ist sie viel zu stolz. Ich fühle mich daher verpflichtet, dir jetzt nähere Aufklärungen zu geben, damit du die Sachlage, die du ja im allgemeinen erraten hast, deutlich überblicken kannst. Dann wird di/elr) (auch) [S. 19] Situation klar werden, in der ich mich befinde." Er schloß die Augen/.1J(,)T {Offenbar sammelte er}J (wie um)T seine Gedanken (zu sammeln.)7. Dann {fuhr er mit der Hand} (strich er sich) über die Stirn und begann: „Ich wurde in jenes Haus durch einen Empfehlungsbrief eingeführt, de/nl(r> {man} mir in Prag {wo unser Regiment in Garnison liegt} mitgegeben wurde. Bei meinem Antrittsbesuche {x-x x-x am bestimmten Empfangstag x-x x-x} (a/nl«m» {bestimmten} festgesetztem Tage) wurde ich sehr höflich, aber keineswegs zuvorkommend empfangen. Man schien {sich einem} (dem) Militär {gegenüber x-x zu fein zu fühlen}, (nicht besonders gewogen zu sein.) Auch {mein Eindruck war kein sehr günstiger}, (ich fühlte mich nicht besonders angemutet.) Der Hausherr {machte mir den Eindruck x-x x-xischen} {x-x von seiner Stellung sehr x-x x-x Bureaukraten}. {{schien mir ein eingebildeter Bureaukrat und}) {{x-x x-x zu sein}.) ({machte mir den Eindruck eines heimtückischen Bureaukraten.)) Die Frau gefiel mir gar nicht. Ich fand sie eher häßlich als schön; ihre ganzen Allüren waren mir zu wenig weiblich. Der resolute Ton, den sie im Gespräch anschlug, verletzte mich. Ich dachte also, weitere Beziehungen nicht aufzunehmen. Da ich aber schon in nächster Zeit zu einer Abendgesellschaft gebeten wurde, ging ich doch hin. Es waren nicht viele Leute da, meist alte und ältere Herren mit ihren Frauen. Eine Whistpartie an mehreren Spieltischen kam in Gang. Es traf sich, daß ich der Partner des Hofrates wurde. Daß ich sehr gut spielte, schien {diesem} (ihm) zu imponieren - und von da ab, wurde ich sehr [S.20] oft zu (ganz) kleinen {Spiel}{Whist)abenden gebeten. Die Frau nahm an dem Spiele nicht teil, nur wenn es durchaus an einem Partner fehlte, ließ sie sich dazu herbei. Nun war es merkwürdig, daß sie mir, je öfter ich sie sah, (je) mehr gefiel. Ich fand sie nach wie vor keineswegs

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schön, aber alles, was mich früher (an ihr) unangenehm {an ihr} berührt hatte, empfand ich (jetzt) als eigentümlich charakteristischen Reiz; besonders ihre tiefe, ungemein klangvolle Stimme übte auf mich eine (ganz besondere} (bezwingende) Macht aus. Ich fing an, ihr {den Hof} zu {machen}, (hofieren.) Es {schien anfän} wurde anfänglich nicht beachtet; nach und nach aber schienen meine {ganzen} Bemühungen Eindruck zu machen. Und als mich einmal, da wir uns gerade allein gegenüber befanden, mit einer leidenschaftlichen Erklärung hervorwagte, sah sie mich lange (an) und sagte: {Lieben Sie} (Sie lieben) mich {wirklich}? (also?) Und als ich, ihre Hand ergreifend, (dies) beteuerte, erwiderte sie: Nun, dann will ich Sie auch lieben. Sie schlang ihren Arm um meinen Nacken, näherte ihre Lippen den meinen und {hauchte} (drückte) einen {zarten, aber kurzen} (sanften) Kuß darauf. Mein Entzücken war grenzenlos. Noch nie {im Leben} hatte mich die Eroberung einer Frau so unsäglich beglückt. Ich befand mich in einem wahren Taumel - und eine {Reihe} (Reihe) seliger Tage begann. Denn wir waren nun vollständig eines Sinnes. Ich mußte kommen, so oft ich nur konnte - Vormittags, Nachmittags, [S.21] Abends. Mein so häufiges Erscheinen mußte im Hause auffallen, besonders dem Gatten. S i e bekümmerte das gar nicht (denn sie pflegte auf ihn niemals Rücksicht zu nehmen); ich aber fühlte mich {immer x-x} beengt, {obgleich ich wuß} obschon ich gleich anfangs erkannt hatte, daß die Ehe jedes inneren Zusammenhanges entbehrte und {wie} nur {rein} formell aufrechterhalten wurde. Daß aber der Mann über unsere Beziehungen mit einer Art {satirischer} (sarkastischer) Befriedigung hinwegsah, fing an, mich zu verdrießen. Ebenso das Benehmen des Knaben, des einzigen Kindes seiner Eltern. Er bezeigte sich {gegen mich} nicht gerade unfreundlich, aber zurückhaltend und lauernd, obgleich er {sich}, wenn er bei {xx} meinem Kommen um seine Mutter war, sofort das Zimmer verließ. Wie gesagt, das alles war mir peinlich, aber es ging unter in dem Gefühl des Glückes, das ich in der Nähe der Geliebten empfand. Eines Abends, als wir nach dem Whist bei dem üblichen kleinen Souper saßen, sagte der Mann plötzlich: Nun, der" - du wirst (ja) wissen wen ich meine - „muß ja jetzt dieser Tage {aus Rom} (von Nizza) zurückkehren. Da wird es endlich mit der {Hochzeit}J (Heirat)T Ernst werden. Sie erblaßte flüchtig. Dann warf sie ihrem Mann einen kalten Blick zu und sagte: „Ich wünsche ihm alles Glück dazu." Von da ab {machte} kam der {Mann} (Hofrat), so oft es {nur} anging, mit sichtlichem Behagen auf diesen Gegenstand zu(rück.){sprechen}. [S.22] Und als ich (endlich) fragte, wer denn der Herr eigentlich sei, sagte er: „Ein alter Freund meiner Frau. {„Sie aber schwieg beharrlich doch} (Er

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ist Ihnen wohl [S. 2 ] als Schriftsteller bekannt." Ich konnte das halb und halb zugeben; sie aber schwieg beharrlich, doch) [weiter auf S.22] kam auf ihren Wangen eine fleckige Röte zum Vorschein, was (bei ihr} (bei ihr) immer ein Zeichen innerer Erregung {war.} {{ist}) «war.» {Das alles machte auf mich einen beklemmenden Eindruck}, (Die Sache fing an, mich zu beklemmen,) und ich fühlte, wie eine unbestimmte, aber qualvolle Eifersucht in mir aufstieg, die ich nur mit aller Gewalt zu unterdrücken vermochte. Eines Tages hatten wir aus irgend einem Grunde {mir zum Glück} keine {Vorlesung} {{Schulstunden}) {{Vorlesungen,» und ich benützte diese {xx} (zufällige) Freiheit, um bei Maja - {diesen Kosenamen hatte ich ihr} (ein Kosename, den ihr) beigelegt{,} zu ungewohnter Stunde mich einzufinden{,} /il(I)ch dachte, sie damit freudig zu überraschen, wenn ich sie zu Hause antraf, {und} {dessen ich) ja nicht ganz sicher {war.} (sein konnte.) Bei meinem Eintritt ins Vorzimmer stieß ich fast mit einem Herrn zusammen, der eben im Fortgehen begriffen war. Wir maßen {einander} (uns gegenseitig) mit befremdeten Blicken und schritten ohne Gruß an einander vorüber. Mich aber hatte es sofort durchzuckt: das war er - der alte Freund. Das Stubenmädchen, das ihm beim Anziehen {seines} (des) Oberrockes behilflich gewesen, {ging} (beeilte sich), mich bei der Gnädigen zu melden, was sonst nicht der Fall zu sein pflegte. Ich begab mich inzwischen in den Salon, der an das Boudoir Majas [S.23] stieß. Von dort herüber vernahm ich {die} (ihre) zornige Stimme: {x} „Was J-lJ(J,l)T((?»T JJjUJ{{J»Tetzt?" Und irgend ein Gegenstand wurde heftig zu Boden oder sonst wohin geworfen. Bald darauf trat sie selbst ein, die Wangen fleckig gerötet. „Sie sind hier?" fragte sie. „Ich habe Sie nicht erwartet." „Das wußte ich," antwortete ich, über diesen Empfang betreten {, aber auch geärgert} und gereizt. „Aber ich habe zufällig diesen Vormttag frei und dachte -" „Nun ja," erwiderte sie einlenkend, {aber} (wenn auch) noch {immer} unfreundlich. „Aber ich liebe derlei Überraschungen nicht." „Es war doch schon {öfter} (hie und da) der Fall," sagte ich, „und Sie {schienen} (zeigten sich) immer {erfreut zu sein}, (erfreut -") „Das schien Ihnen vielleicht so. Aber immerhin. Von jetzt ab jedoch muß ich Sie bitten -" „O gewiß," versetzte ich, der in mir aufgestiegenen Unmut{h} freien Lauf lassend, „ich werde nicht mehr kommen. Da Sie jetzt andere Besuche empfangen, bin ich überflüssig." Sie warf das Haupt empor. „Was für {andere} Besuche?" „Nun, von ihrem alten Freunde."

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„Was wollen Sie damit sagen?" „Daß {in dem} (mir im) Vorzimmer {ich} ein{em} Herr{n} begegnet {bin} (ist), der eben von Ihnen wegging." [S.24] „Darf ich vielleicht keine Besuche empfangen?" ,,{O gewiß}. (Ohne Zweifel.) Ich aber habe nicht Lust, mich in {eine} Nebenbuhlerschaft(en) einzulassen." Damit (machte) ich eine förmliche Verbeugung und schickte mich an, den Salon zu verlassen. In ihrer Brust arbeitete es heftig. Sie ließ mich bis zur Tür gehen, dann rief sie: „Robert!" Ich blieb stehen. Sie war offenbar durch mein Benehmen überrascht{,}(:) {gar nicht für so stolz gegolten x-x x-x ich mich bis jetzt x-x wieder zärtliche} (Bei {x-x xx}> ((den zärtlichen» Empfindungen, die ich für sie hegte, (hatte sie mich {offenbar} für) demütig und unterwürfig ge{glaubt.}(halten;) {Mein} (mein) kurz angebundener Stolz {imponierte ihr.} (imponierte ihr.) „Kommen Sie zu mir, Robert," sagte sie mit sanfter Stimme und streckte mir die Hand entgegen. Ich war schwach genug, umzukehren und die Hand zu ergreifen. „Seien Sie vernünftig, Robert. Ich bin eine nervöse Frau und kann meinen Stimmungen nicht immer gebieten. Und was jenen Herrn betrifft, so ist er {nichts anderes} (wirklich nicht anderes) als ein alter Bekannter, {der jetzt zu heiraten gedenkt,} (dem ich) doch mein Haus nicht verschließen kann. Er gedenkt jetzt zu heiraten. Also bilden Sie sich nichts ein. Sie wissen(,) {ja,} ({ja auch}) daß ich Sie liebe." Damit schlang sie den Arm um mich und ließ ihre Lippen lang auf den [S.25] meinen ruhen. Und nun kamen Tage, lieber Freund, {sagte} (fuhr) er mit er mit verzweifelter Gebärde fort, „die ich zwischen Himmel und Hölle verlebte, bald in den einen erhoben, bald in die andere hinabgestoßen. Denn das Benehmen Majas wechselte beständig. Heute zärtlich und hingebend, war sie morgen kalt, rauh und von rücksichtsloser Härte. Ich stand vor einem Rätselabgrund und hatte keinen ruhigen Augenblick mehr. Denn wenn sie wirklich - was mir eine innere Simme zurief - den Anderen liebt{e}: warum leugnete sie es hartnäckig, wenn ich es ihr vorwarf? {Denn sie} (Sie) ist ja eine starke, entschlossene Natur, die keine Furcht kennt. Und (warum) {sie} sucht{e} sie mich immer wieder zu fesseln, so oft ich diesem unerträglichen Zustand ein Ende machen und mich losreißen {wollte} (will)?"Er brach ab und blickte wie verloren vor sich hin. {Ich schwieg. Dann sagte ich: „Die Lösung des Rätsels ist doch ganz einfach: Sie liebt den Anderen, und da seine Heirat noch immer nicht x-x ist, sucht sie ihn wieder an sich zu ziehen. Glaubt sie, in dieser Hinsicht

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Hoffnung schöpfen zu können, so ist sie gegen dich zärtlich; verzweifelt sie wieder, so ist sie gegen dich rauh und abstoßend!!"} (Ich schwieg. («Dann sagte ich:)»T „Nun, die Lösung des Rätsels ist doch ganz einfach«,»". [S.24V] ((sagte ich dann.»' [weiter auf S.25] Sie {sucht} 5 ((will» eben den Anderen, da die {Hochzeit noch nicht} Heirat noch nicht erfolgt ist, wieder zu sich hinüber{zu}ziehen - und dich dabei {doch} nicht ganz aufzugeben. „Aber das ist ja {ein gräßlicher Widerspruch!} (schändlich!") rief [S.26] er aus. 10 {Du erhx-x nicht. Denn wenn sie Hoffnungen zu haben glaubt, ist sie glücklich - und gar nicht nur mitleidvoll zu dir -" „Ich brauche kein Mitleid!" unterbrach er mich heftig. „Aber sie glaubt es. Und wenn sie verzweifelt, ist sie unglücklich und nicht dich zu x-x." 15 „Warum läßt sie ihn dann nicht gehen?" „Mein Lieber," entgegnete ich ruhig, „man sieht, wie schlecht du trotz deiner} („So scheint es uns. Aber die Frauen sind nun einmal so geartet, und man sieht, wie wenig du sie eigentlich trotz deiner) vielen Erfahrungen {die Frauen} kennst. Glaubst du denn, daß auch nur eine ({x} in ihrer 20 Lage) {den Mann,} (den Mann) von dem sie weiß, daß er sie wirklich liebt, willig ziehen läßt? Und du liebst sie doch {x} wirklich?" „Wie ich noch nie ein Weib geliebt!" {xxx} stieß er hervor. „Weil {es das erste ist, das dir überlegen gex-x x-x} (du zum erstenmal {x-x} «an))T eines {gefunden hast}1 ((geraten bist»T > das dir überlegen 25 ist." „Überlegen?" fragte er betroffen (und hochmütig zugleich) {x-x stolz x-x x-x} „Ja, ich muß es ({offen}1) dir «offen»T sagen. Sie ist dir {vielleicht} (überlegen - vielleicht) in jeder Hinsicht(.) {überlegen}. {Und so bleibt dir nur die ({dx}) Wahl, dich x-x ihr unterzuordnen} -" (Du müßtest dich ihr 30 eben unterordnen{xx.}")«.)> „Unter{zu}ordnen?!{"} Wie meinst du das(?") {fiel er mir stolz ins Wort}, (fuhr er auf.) [S.27] „{Daß du} (Du müßtest) dulden (lernen)«,» {kannst} {daß du} (müßtest) dich in ihren Seelenzustand (zu) finden {kannst} 35 ((wissen» und mit verständnisvoller Nachsicht alles an{xxxxxx},(wenden,> um {sie} (den Anderen), da du ihr doch jedenfalls nicht gleichgiltig bist, {jenen Anderen} vergessen zu machen und sie allmählich ganz zu dir hinüberzuziehen." 46

{„} Er sprang auf. „Du meinst also," schrie er, daß ich mich in einen Wettkampf einlassen soll? Mit diesem Skribler!" Er fühlte gar nicht, wie er mich selbst durch diese{n geringschätz} Bezeichnung verletzen mußte. „Unterschätze niemanden", erwiderte ich ruhig. ,Der Mann, von dem wir 5 sprechen, steht geistig sehr hoch." „ Das mag sein", knirschte er. „Aber er ist häßlich wie ein Affe!" „{Darüber kann es unterschiedliche Ansichten geben}. (Darüber ließe sich streiten.) Und sicher ist es, daß die Frauen in dieser Hinsicht ganz {anders empfinden als wir Männer.} (andere Anschauungen haben als wir.) 10 Bei ihnen ((geben» {geben} ({x-x}) Eigenschaften den Ausschlag, die nur für sie im Äußeren eines Mannes erkennbar sind. Aber ich sehe, daß du die Frau doch nicht eigentlich liebst, sondern daß dich deine schwer verletzte Eitelkeit in eine unheilvolle Leidenschaft hineingetrieben hat." Er schien die Wahrheit meiner Worte zu empfinden, denn er zuckte 15 zusammen. Aber er wies sie auch sofort von sich, indem [S.28] (aufsprang und) heftig im Zimmer hin- {und herschreitend ausrief}: (und herschritt.) „Sei es wie immer, ich ertrage diesen Zustand nicht länger! Ich gehe dabei zu Grunde." „Das begreife ich," sagte ich. {Und doch mußt du diesem Zustand ein 20 Ende machen und jene Beziehungen ein für allemal abbrechen!"} „{Das wollte ich schon längst}. („Höre!" fuhr er fort.) Vier Wochen sind es her, daß ich nach einer heftigen Szene erklärte, sie würde mich nicht wiedersehen. Sie machte {x} auch diesmal keinen Versuch, mich zurückzuhalten und ließ mich, sich kalt umwendend, gehen. Ein {ige} (paar) Tage 25 lang atmete ich befreit auf und {warf mich} (vertiefte mich) mit vollem Eifer {in} ({x} in) meine Studien, die ich inzwischen ganz vernachlässigt hatte - oder besser gesagt, ich war nicht fähig, ein Buch zur Hand zu nehmen. Bald aber stellte sich Erwartung ein - Erwartung, daß sie {mir schreiben} (mir ein Zeichen geben, mich wieder zu sich rufen) würde. Da 30 es nicht geschah, steigerte sich die Erwartung zur Marter, obgleich ich mir beständig sagte, daß ich ja den vollständigen Bruch gewünscht hatte und unbedingt wünschen müsse. Aber es nützte nichts, und ich war nahe daran, ihr zu schreiben. Da kam ein Brief voll zärtlicher Vorwürfe, voll inniger Beteuerungen. Ich wollte sofort zu ihr eilen. Aber kaum aus dem Hause 35 getreten, kehrte ich wieder um. Das Bild des Anderen war vor mir aufgestiegen und trieb mich zurück. Bleibe fest! rief ich mir zu. Ich blieb es und [S.29] beantwortete auch den Brief nicht. Aber ich konnte zu keiner inneren Ruhe gelangen. Ich zwang mich, zu arbeiten, zu lernen - {die Bücher lagen vor mir aufgeschlagen -} meine Gedanken {flogen darüber 40 weg}, (versagten.) So verging mehr als eine Woche. Eines Abends, schon

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sehr spät - ich hatte mich doch {schon} ein wenig zurechtgefunden - saß ich bei Lampenschein an meinem Arbeitstische, als es draußen klingelte. Ich hatte meinem Burschen gestattet, ins Wirtshaus zu gehen, und mußte nun selbst nachsehen. Als ich die Tür öffnete, stand Maja {draußen}1 (vor mir>T, in einen Theatermantel gehüllt, die Kapuze {in das} (tief ins) blasse {Ant}litz (Gesicht hinein)gezogen. Was soll ich dir weiter sagen: an jenem Abend geschah, was früher nicht geschehen war." Er setzte sich wieder und starrte vor sich hin. Ich schwieg gleichfalls. „Da wären wir ja wieder bei deiner ursprüngliehen Frage angelangt," sagte ich endlich. „Ja, ja", rief er aus und sprang wieder auf. „Und ich hätte sie mir doch selbst beantworten können/.U(!)T Denn Maja war {in mitten meiner x} in meinen Armen kalt wie Eis. Und als ich ihr das vorwarf, brauste sie auf in heftigem {x-x x-x mir geschah weiter x-x".} Zorn. Ich sei ein Undankbarer, schrie sie. Was ich denn {noch} wolle? Sie habe mir den höchsten Beweis ihrer Liebe gegeben - und noch immer hege ich Zweifel. Ich war im Augenblick ganz zerknirscht und tat ({x-x}> Abbitte." [S.30] „Und was geschah weiter?" „Was weiter geschah?(!>" {rief er aus und} (Er {x-x}> warf sich in den nächsten Stuhl. „Es folgten noch einige Zusammenkünfte, die mir erneute Qualen brachten. Denn {die} (deutliche) Anzeichen der Kälte wechselten bei (ihr) mit {plötzlichen} Ausbrüchen leidenschaftlicher Hingebung. Und siehst du, {in solchen Augenblicken x-x} ({im Augenblick}) (({x-x}» (((bei)» ((solchen Ekstasen» habe ich das Gefühl, daß sie in meinen Armen an jenen Anderen denkt. O, es ist ein Zustand, um wahnsinnig zu werden! Und dabei", fuhr er{, mehrmals mit der Zunge anstoßend,} (stotternd) fort, soll ich mich für die Prüfungen vorbereiten. Ich bin in allem zurückgeblieben - ich kann meine Aufgaben nicht mehr bewältigen. Falle ich durch, so bin ich verloren. Denn meine {x-x} (Karriere) ist dann abgeschnitten - und mir bleibt nichts als das höhnische Bedauern meiner Kameraden!" Er schlug die Hände vor das Gesicht und brach in ein Schluchzen aus. War meine Teilnahme bis jetzt auch eine geringe, nun, da ich Tränen zwischen seinen Fingern hervorquillen sah, wurde ich ergriffen. Ich stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Fasse dich. Deine Lage, ich seh' es ein, ist eine verzweifelte. Nur e i n Mittel gibt es, dich aus ihr zu befreien. Die volle und {reumütige} (rückhaltslose) Erkenntnis, daß du sie selbst {herbeigeführt hast. Die Qualen x-x dir x-x x-x} (herbeigeführt.") [S.31] Er ließ die Hand von den Augen sinken und sah mich verständnislos an. 48

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„Ja," fuhr ich fort, „du selbst hast sie herbeigeführt. Und die Qualen, die sie dir verursacht, mußt du als Sühne {so mancher früherer} (früherer) Verschuldung(en) betrachten. „Welcher Verschuldungen?" lallte er. „Denk{e}O an all die (du mit verheirateten} (Verhältnisse, die du mit) Frauen unterhalten hast. Es fällt mir nicht ein, dir Moral predigen zu wollen. {{Aber du mußt zugeben, daß du {in dieser Hinsicht} (in dieser Hinsicht) vieles auf dem Gewissen hast; wie du auch über diesen Punkt denken magst, bei reiflicher Überlegung wirst du dir zuletzt doch sagen müssen, daß du}} ((Aber wie du auch jetzt darüber denken magst, nach reiflicher Erwägung wirst du zugeben müssen, daß du)) wi(e)derholt unrecht gehandelt hast. {hast. Und} (Und) jedes Unrecht, {das man begangen hat, wirkt sich} ({das man behangen,}) ((muß» früher oder später im Leben {vor und muß} abgebüßt werden. {{Hast du einmal diese Überzeugung gex-x x-x x-x x-x x-x, dann wirst du {auch} die Kraft und {den Mut haben}, (finden)}} (Diese Erkenntnis, so peinlich sie auch für dich sein mag, wird dir die Kraft verleihen,) dich (-) {aus deiner ausweglosen Lage zu befreien} (und auch jene Frau ((in irgend einer Weise» aus der verworrenen) und unwürdigen Lage (zu befreien), in der ihr euch beide befmdetl,l(."> {zu befreien}." Er wand sich auf dem Sessel hin und her, und ich erkannte, daß meine Worte nur halb in ihn eingedrungen waren. Oder vielmehr: er fühlte ihre Wahrheit, aber nach Art schwacher Geister und untiefer Naturen vermochte er nicht(,> (eine Sache zu Ende zu denken und dabei) sich selbst zu Leibe zu gehen{,}(.) [S.32] {und so die letzte x-x zu x-x. Er ertrug} ({Er} ((Er» ertrug) die Wendung, die unser Gespräch genommen, nicht länger{. Er} (und) stand auf. „Ja, ja", sagte er, sich wiederholt über die Stirn fahrend, „du hast Recht(,){.} (du hast Recht... Aber," - er sah nach der Uhr - es ist Zeit, daß ich gehe. Ich danke dir, daß du mich so teilnehmend angehört hast. Wir werden ja sehen, wie sich alles gestaltet." Damit reichte er mir die Hand und ging. Es wird sich nicht gut gestalten, dachte ich, als ich jetzt allein war. Die innere Zerrüttung dieses {Mannes ist} (Mannes war) schon zu weit vorgeschritten, {x} /xl(A)uch körperlich {war er sichtlich} (schien er mir) gebrochen. Sein Gang war unsicher, seine Hände (fühlten sich) kraftlos und zittrig J.l(an.) Ich fürchtete für das Ende. Ob er sich jetzt zu ihr hinüber begeben hatte? Ich konnte mich nicht enthalten, {nun wiederholt} ans Fenster zu treten und den Garten ins Auge zu fassen. Es dauerte nicht lange, so sah ich die Beiden {dort} nebeneinander auf- und {nicht} nieder gehen 49

Einige Tage nachher brachten mehrere Blätter die Notiz, daß die Vermählung des Ändern wahrscheinlich während der Theaterferien {vor sich geh} stattfinden dürfte.

[S.33]

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III.

Der Sommer (war auf} (hatte) seine{r} Höhe {angelangt.} (erreicht.) Die Rosen in den Gärten waren verblüht, {nur} duftlose dahin gegangen {war}, (und sie selbst einigermaßen korpulent geworden war.) In das ältere [S.47] Fach übergetreten, zeigte sie ihr {großes}1 Talent von einer ganz neuen Seite und entzückte wieder das Publikum, das sich ihr schon ein wenig entfremdet hatte. Wir begrüßten einander als alte Bekannte, die sich schon lange nicht mehr gesehen hatten, und bei ihrer lebhaften, humoristischen Art brachte sie sogleich ein allgemein anregendes Gespräch in Fluß. Nur die junge blonde Frau verhielt sich dabei ziemlich teilnahmslos. Nach einer Weile erhob und verabschiedete sie sich. Sobald sie draußen war, sagte die Schauspielerin: „Mein Gott, was hat denn das liebe Frauchen? Sie ist ja kaum mehr zu erkennen. Vor einem halben Jahre traf ich sie noch blühend und strahlend in einer Soiree bei Weikers. Ist sie vielleicht leidend?" 57

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Auch mir war es aufgefallen. Die Hausfrau aber rückte etwas verlegen auf ihrem Sitze hin und her. „Sie wissen also nichts?" erwiderte sie nach einer Pause. „Nicht das geringste. Wir Komödianten leben ja eigentlich doch nur in unserer (Welt."} (Kulissenwelt.") „Auch Ihnen ist nichts bekannt?" wandte sich die Hausfrau an mich. Ich verneinte. [S.48] „Merkwürdig. {Man spricht} Es {wurde} (wird) doch überall davon gesprochen, und so ist es wohl keine Indiskretion, wenn ich Ihnen die Sache mitteile. Die junge Frau hat sich nämlich scheiden lassen, um den genialen Ästheten zu heiraten, der seit ein paar Jahren eine so große Rolle in der Gesellschaft gespielt. Sie kennen ihn ja beide?" Wir stimmten zu. „Nun aber hat es der Herr für gut befunden, zurückzutreten und {sich} nach London {zu begeben.} (abzureisen.) Welch ein Schlag das für die Ärmste war, können Sie sich denken. Mir selbst ist die {Affaire} Affäre auch deshalb peinlich, weil sie sich in meinem Hause angesponnen hat." „Ach Gott!" sagte die Schauspielerin. „Man darf derlei nicht zu tragisch nehmen. Die Frau ist ja noch so jung - sie wird sich schon wieder zurecht finden." „Das hoff ich auch," erwiderte die Dame des Hauses. „Übrigens hatte die Absicht, sich scheiden zu lassen, schon lange vorher bei ihr bestanden. Denn {ihr Mann} (der Baron) ist ein ganz unwürdiger Mensch. Ein Spieler, der das kleine Gut, das er besitzt, schon dreifach überschuldet hat. So reizend sie als Mädchen war, hat er sie doch nur ihres Geldes wegen geheiratet. Denn ihr Vater, der verstorbene Hofrat, hat ein sehr bedeu[S.49]tendes Vermögen hinterlassen." „Ja, die jungen Mädchen! sagte die Schauspielerin. „Die springen nur so in die Ehe hinein. Und nun gar mit der Aussicht{, sich eine} (auf eine) siebenzackige Krone {in die Trousseautruhe stecken lassen} (im {Trousseautruhe x-x} Trousseau.") „Da irren Sie sich. So oberflächlich war sie nicht, daß sie sich durch Titel ködern ließ. Es wirkten ganz andere Umstände mit. Sie hatte sich im elterlichen Hause sehr unglücklich gefühlt. Denn ihre Mutter hegte seit jeher eine ganz unbegreifliche Abneigung gegen sie, unter der sie sehr {zu leiden hatte.} (litt.) Der Baron war ein Bekannter ihres um zwölf Jahre älteren Bruders - und da hatte sie sich entschlossen." „Lebt ihre Mutter noch?" fragte ich. „Kennen Sie sie?" „Vor vielen Jahren bin ich flüchtig mit ihr zusammengetroffen." 58

„Sie kennen sie also nicht näher. {{Sie {war} ({ist})}} JJeU((E»ine ganz merkwürdige Frau. {Nicht} (Sie war nie) schön, aber höchst interessant ({und geistvoll)}. {Eine} ({stolze und}) ((Dabei eine stolze,)) herrische NaturJ,l(.) {mit Geist und Leben.} Sie {schien} (soll einst) sehr 5 leidenschaftlich (gewesen) {zu} sein - {{und {dabei} ({doch}) machte {sie meist} ({x-x x-x} }} ((mir aber hat» sie stets) den Eindruck großer, fast eisiger Kälte//.U ((gemacht.)) {x-x x-x sie immer in Px-x. ({{Jetzt ist {x-x x-x sie immer in Px-x.} }}> {{Jetzt ist}} ((Jetzt ist {{{sie}}}» sie schon seit zwei Jahren schwer krank. Eine Gesellschafterin und zwei Pfie10 gerinnen sind um sie. Ihre beiden Kinder - [S.50] auch der Sohn ist verheiratet - läßt sie nur selten vor sich." „Wer weiß, wie das alles zusammenhängt," bemerkte die Schauspielerin obenhin. „Das ist eben ein Rätsel. Was aber die Tochter betrifft, so kann ich nur 15 sagen, daß sie ein ganz wundervoller Charakter ist. Sie hat mir soeben anvertraut, daß sie dem Baron ihren fünfjährigen Knaben ein für allemal abgekauft hat. Das heißt: gegen so und soviel verzichtet er auf seine Vaterrechte. Sie mußte dabei schwere Geldopfer bringen, aber das Kind bleibt ihr bis zur Großjährigkeit erhalten. Sich ganz seiner Erziehung zu 20 widm{xx}(en), betrachtet sie jetzt als Lebensaufgabe. Sie heiratet gewiß nicht wieder. {Und} (Und im {xx} übrigen) wird (sie) {im übrigen auch} auf dem Gebiete der Frauenfrage und der öffentliche Wohltätigkeit einen angemessenen Wirkungskreis (zu) finden trachten." Zwei neue Besuche traten ein, das Gespräch unterbrechend

Blansko. März 1905.

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3. Der Hauptmann Karl von B. (Fragment) Text der Handschrift

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[S.l] Zu den Menschen, welche mir bei meinem Interesse für Lebensläufe in absteigender Linie lebhafte Theilnahme einflößten, gehörte auch d e r H a u p t m a n n { A u g u s t } K a r l v o n B . . . . In Folge einer Verwundung, die er im Feldzuge des Jahres 1859 erlitten, erwies er sich für den Waffendienst nicht mehr geeignet und wurde seither in einem Bureau des Kriegsministeriums verwendet. So sah sich denn der begabte und auch vielseitig gebildete Offizier, der seine Laufbahn unter glänzenden Auspicien angetreten - er war nämlich ein Neffe einer früherer Zeit vielvermögenden militärischen Persönlichkeit - {x}in eine Stellung versetzt, welche er(,) {sich} trotz ihrer in jeder Hinsicht geringen Bedeutung, doch nur mit großer Mühe hatte erlangen können, um nicht ganz und gar auf ein dürftiges Ruhegeld angewiesen zu sein. Dennoch würde er sich, genügsam von Natur und ohne {B} besonderen Ehrgeiz, wie er war, in derselben so weit es anging, zufrieden gefühlt haben, wenn er sich nicht nebenbei in Verhältnissen befunden hätte, in welche{x} feinsinnige, aber willensschwach {wir} nur allzuleicht hineingerathen. Er hatte nämlich [S.2] in jungen Jahren eine leidenschaftliche Neigung zu einer ebenso schönen wie verführerischen Frau gefaßt, welche, obgleich sie mit einem angesehenen Manne verheiratet war, doch in dem Rufe stand die Mätresse eines Fürsten zu sein und welche, wie besagte war, auch andere Beziehungen unterhielt. So lange ihre Reize in voller Pracht standen, hatte

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II. KRITISCHER APPARAT

l. Editorische Hinweise Abkürzungen und Zeichen: V WrStB I.N. > < {} {}J {{...{ } · · · } }

T « » ((( ))) ({ }> il i 1J [ ]

abc x-x x-x-x Sperrung

fortlaufendes Variantenverzeichnis. Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Inventarisierungsnummer. wird geändert in. entstanden aus. Tilgung. Tilgung durch Streichung in der zweiten Hauptschicht. Diese Stellen erscheinen in J. (Vgl. Ill.l.d.). Sekundäre Tilgung, eine primäre umschließend (so daß also eine Tilgung innerhalb einer Tilgung vorhanden ist). Hinzufügung (wobei für die vorliegende Edition die genauere Weise - über, unter der Zeile, usw. - nicht näher bestimmt wird). Hinzufügung in der zweiten Hauptschicht. Diese Stellen erscheinen in T. (Vgl. Ill.l.d.). Sekundäre Hinzufügung, innerhalb einer primären enthalten. Tertiäre Hinzufügung, innerhalb einer sekundären enthalten. Getilgte Hinzufügung. Tilgung durch Draufschreiben. Das endgültige Zeichen erscheint in den spitzen Klammern einer Hinzufügung. Tilgung durch Draufschreiben in der zweiten Hauptschicht. Diese Stellen erscheinen in J. Eckige Klammern umschließen Zusätze des Herausgebers, darunter auch die Seitenzahlen des Manuskriptes nach der handschriftlichen Paginierung durch den Autor. Dabei bezeichnen die Seitenzahlen X" (= versoj jeweils die Rückseiten der Seiten X, aufweichen der Autor wiederholt Hinzufügungen der Folgeseite notiert hat. unsichere Lesung unleserlicher Buchstabe unleserliches Wort unleserliche Stelle mit mehreren, nicht unterscheidbaren Wörtern Unterstreichung in H und in der Korrespondenz 63

kursiv

Im Saar-Text: Antiqua und lateinische Schrift. Im Kommentar: Text des Herausgebers

Man sieht1, wie die diakritischen Grundzeichen, die spitze und geschweifte Klammer, durch Vermehrung und Kombination folgerichtig weiterentwickelt, aufeinander bezogen und dergestalt für alle Situationen in der Handschrift einsetzbar sind. Ihre Anwendung kann natürlich bei besonders komplizierten Verhältnissen über die oben aufgeführten Möglichkeiten hinaus entsprechend vermehrt und variiert werden. Die einfachen, doppelten oder auch dreifachen Zeichen zeigen jeweils die relativ gleiche Korrekturschicht an; relativ: denn diese Zeichenfür ,sekundäre/tertiäre Tilgung' bezeichnen zwar Spätkorrekturen, aber nur solche, die durch frühere Hinzufügungen oder Tilgungen als zweite/dritte Korrekturschicht zu erkennen sind. Andere Spätkorrekturen, die zwar als solche erkennbar sind (etwa weil sie am Rande stehen), aber doch einen ersten Korrekturvorgang bilden, werden mit den einfachen Zeichen ausgewiesen. Das heißt, daß das hier angewendete Zeichensystem die relative Schichtung der Korrekturen innerhalb einer gewissen Textpassage ausdrückt, aber auf eine - ohnehin nur spekulativ mögliche - absolut chronologische Festlegung verzichtet. Indem die relativ gleiche Korrekturschicht ausgedrückt wird, ergibt sich zwangsläufig ein äußerlicher Unterschied zwischen der Anwendung der Hinzufügungs- und Tilgungszeichen: bei mehreren verschiedenartigen Hinzufügungen steht das einfache Zeichen außen und umschließt die später hinzugekommenen (sekundären/tertiären) Hinzufügungen; bei mehreren verschiedenartigen Tilgungen steht das mehrfache Zeichen außen und umschließt die schon früher vorhandenen Tilgungen. Nur dadurch ist innerhalb der betreffenden Textpassage eine konsequente Darstellung der Varianten nach ihrer Zusammengehörigkeit und ihrer relativen Chronologie zu gewinnen.

Siglen: Für die Textzeugen der Erzählung und die zitierten ungedruckten Briefe Saars werden Siglen verwendet, die in der Bibliographie verzeichnet und mit bibliographischen Angaben versehen sind. 1

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Die folgende Erläuterung der diakritischen Zeichen wurde von Karl Konrad Polheim entworfen und dient der vorliegenden Saarausgabe Kritische Texte und Deutungen als Standardtext.

Zitate und Verweise: Zitatnachweise aus der Erzählung Hymen erfolgen unmittelbar nach dem Zitat mit Seiten- und Zeilenangabe in runden Klammern. Ein V vor Seiten- und Zeilenangabe verweist auf das fortlaufende Variantenverzeichnis. Ebenfalls in runden Klammern in den fortlaufenden Text eingefügt werden die Siglen nach Zitaten und Hinweisen aus ungedruckten Briefen. Auch Titel aus der Sekundärliteratur, die in der Bibliographie aufgeführt sind, werden in den Anmerkungen in abgekürzter Form zitiert; die Kurzformen sind in der Bibliographie hinter dem jeweiligen Titel notiert.

Wiedergabe der Texte: Der originale Fraktur-Text der Erzählung in T sowie die Handschrift in Kurrent H sind in Antiqua wiedergegeben.

2. Zur Gestaltung des Apparats Für die kritische Edition der Erzählung wurden die Handschrift (WrStB L N. 3474, Sigle H) sowie ihre autorisierten ersten beiden (oben angeführten) Drucke herangezogen. Der ästhetische Text basiert auf der Grundlage der letzten autorisierten Fassung T (vgl. 111.2.b.). Unter dem vom Herausgeber gewählten Titel Der Hauptmann Karl von B. wurde zudem ein handschriftliches Fragment Ferdinand von Soars (WrStB I.N. 18.523) wiedergegeben, welches schon Jacob Minor als frühen Entwurf für die Figur Robert Sandeks bewertete*. Die Entstehung und Bewertung der Handschrift sowie der Drucke erfolgt im Teil III. der vorliegenden Ausgabe. Um das fortlaufende Variantenverzeichnis übersichtlich zu gestalten, werden zunächst die Sammelvarianten gebündelt angeführt. Im fortlaufenden Variantenverzeichnis werden die Lesarten in zeitlicher Reihenfolge genannt, d. h. bei mehreren Varianten zunächst H, dann J. Jacob Minor erwähnt im „Vorwort des Herausgebers" (SW 12,67) dieses „ältere Blättchen, das von einem Hauptmann Karl von B... erzählt", aus Saars Nachlaß als Indiz, daß sich Saar „Auch mit dieser Novelle [...] lange getragen zu haben [scheint]." So magazinierte Minor das Fragment zusammen mit den Drucken und zwei textkritischen Arbeiten aus seinem Seminar (WrStB I.N. 18.526 und 18.527).

65

3. SammelVarianten a. Orthographische Textvarianten . Vokalismus und Konsonantismus 1.

2.

3. 4. 5.

Umlaute als Majuskel (Ä, Ö, Ü), in H als solche geschrieben, werden in J zu Ae, Oe, Ue, erscheinen in T jedoch wieder als Ä, Ö, Ü (es ist anzunehmen, daß die Setzer von J nicht über die entsprechenden Drucklettern verfügten): 16,9: Äußeren H > Aeußeren J > Äußeren T; 28,3: Ärzte H > Aerzte J > Ärzte T; 19,28, sowie 29,25: Ärger H > Aerger J > Ärger T; 30,14: Ähnlichkeit H > Aehnlichkeit J > Ähnlichkeit T; 32,21: Ästheten H > Aestheten J > Ästheten T; 32,26: Ärmste H > Aermste J > Ärmste T; 18,9: Öfter H > Oefter J > Öfter T, 28,23: Öde H > Oede J > Öde T; 14,15: Übertreibung H > Uebertreibung J > Übertreibung T; 26,30: Übungslager H > Uebungslager J > Übungslager T; 29,77, sowie 31,30: Überraschung H > Ueberraschung J > Überraschung T; 32,32: Übrigens H > Uebrigens J > Übrigens T; Sonderfall: 24,11: Äußeren (Schreibversehen) H > Äußeren J > Äußeren T. Das Dehnungs -e fällt von J an weg bei hingibt (< hingiebt H, 19,5) und kommt von J an hinzu bei Wißbegierde (< Wißbegirde H, 13,25). d wird zu t von J an bei Brot (< Brod H, 29,21) Das Schluß -ß wird von J an zu -s bei Verhältnis (14,17, sowie 30,18), erst in T zu -s bei Vlies (30,5). Konsonanten werden von J an gedoppelt bei Kabinettphotographie (< Kabinetphotographie H, 16,24f), Novelletten (< Noveletten H, 29,8); erst in T bei Havanna (< Havana H J, 31,20) - Doppelkonsonantismus wird von J an vereinfacht bei literarischen (< litterarischen H, 16,36) und Literatur (< Litteratur H, 29,9). ß. Groß- und Kleinschreibung

1.

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Indefinitpronomina und Zahlwörter werden in T immer klein geschrieben, wie anderer, beide (beider, beiden); in J bereits klein geschrieben wird beiden (26,18); nur in J klein, in T mit Majuskel geschrieben werden Ändern (19,31), Andere (20,13; 20,14),

Anderen (20,6; 23,19; 23,25; 24,1; 25,17, 26,20). Einen Sonderfall bildet siebziger Jahre (13,16), was in H getrennt, jedoch groß geschrieben ist, in J hingegen zusammen als Nominalkompositum groß geschrieben ist: Siebziger Jahre H > Siebzigerjahre J > siebziger Jahre T. 2.

Zeitadverbien sind in J und T klein geschrieben, wie vormittags, nachmittags, abends (15,40; 21,15), mit Ausnahme von Vormittags (18,14).

3.

Das Personalpronomen Ihrem (22,30) wird in H klein ihrem, in J T groß geschrieben, während du / dir in allen Fassungen klein erscheint.

4.

im allgemeinen (20,20) und das geringste (32,15) werden in J groß geschrieben im Allgemeinen, das Geringste. Bei der Formulierung du hast recht (26,8f.) wird in J Recht groß geschrieben.

5.

Nach Doppelpunkt schreibt J Majuskel Ob / Warum (> ob / warum T, 19,9; 19,11}

6.

Französische Redewendungen werden nur in J mit Majuskel begonnen: On /Jours > on /jours (H) T (30,23 / 31,25)

. Getrennt- und Zusammenschreibung 1.

Zusammengesetzte Verben wie fein geschnittenen (< feingeschnittenen H, 14,38) werden von J an getrennt geschrieben. Zusammengeschrieben werden in T zusammengesetzte Verben wie herauszubekommen (< heraus zu bekommen H J, 16,34f.) oder dahingegangen (< dahin gegangen H J, 31,34). Nur in J getrennt geschrieben ist aufrecht erhalten (aufrechterhalten H T, 21,21), während zurecht finden (32,30f.) nur in J als zurechtfinden zusammengeschrieben ist. In H entgegen kamen > entgegenkamen in J T (29,39f.). Eine andere Gruppe bilden wiederaufgenommene Verbkomposita wie auf- und niederschreiten (18,2), hin- und hergehen (18,15), hin- und herrückte (18,34j), hin- und herschritt (24,17), wo J auf- und nieder schreiten, hin und her gehen, hin und her rückte, hin und her schritt (die letzten drei ohne Bindestrich nach hin) getrennt schreibt. An anderer Stelle (26,18) wird aufund niedergehen in H J getrennt geschrieben auf- und nieder gehen, dabei in J ohne Bindestrich hinter auf-. 67

2.

3.

4. 5.

Das Zahlwort ebensowenig (16,9) wird in H getrennt geschrieben ebenso wenig; allzuviel (27,28) erscheint in H J getrennt allzu viel. Dagegen soviel (33,2J) nur in J getrennt so viel. Präpositionen werden von J an zusammengeschrieben, wie Infolge (< in Folge H, 20,8), nur in T zusammengeschrieben, wie von einander (< von einander H J, 14,33), zugrunde (< zu Grunde H J, 24,18). Von J an getrennt geschrieben wird gar nicht (20,30), was in H jedoch ebenfalls getrennt erscheint (21,17). Nur in J zusammengeschrieben erscheint zuleibe (zu Leibe H > zuleibe J > zu Leibe T, 26,6), während nebeneinander (26,18) nur in 3 getrennt erscheint (neben einander J). Konjunktionen wie umso werden von J an getrennt geschrieben um so J T (14,2); hingegen so wie H in J T zusammen sowie (28,1) Das Indefinitpronomen irgendeiner / irgendein (22,3; 25,40f. / 26,30; 19,16) ist in H J getrennt geschrieben irgend einer / irgend ein, jedoch nur in J getrennt irgend ein (irgendein H T, 22,15). Nur in H getrennt ist an einander (> aneinander J T, 22, P).

. Angleichung von Fremdwörtern an die deutsche Schreibung und Lautung 1. 2. 3. 4.

Der Akzent bei par depit findet sich nur in J (> par depit T, 19,26; 19,27); Soiree in H > Soiree J T (32,10). Das französische ai findet sich nur in J bei Affaire (> Affäre T, 32,27); ähnlich Menü (31,7), wo J die franz. Form Menü beibehält. Lieutnant H > Leutnant J T (13,20) Havana H J > Havanna T (31,20), ähnlich Monocle H J > Monokel T (37,5;

. Der Apostroph Es werden nur wenige Apostroph-Zeichen gesetzt, von denen nur ich seh' (25,27) erhalten bleibt, während J an dieser Stelle ich sehe liest. Beim Imperativ Verzeih' H J fällt der Apostroph in T ersatzlos weg: Verzeih T (15,3). Der Genitiv-Apostroph bei Nietzsches' findet sich nur in H (> Nietzsches J T, 30,33). Als Schreibfehler darf den' Bäumen in H gewertet werden (> den Bäumen J H, 28,25). 68

b. Lautvarianten 1.

2.

3.

4.

Die Setzung des Dativ-e ist unregelmäßig. Es fällt in T bei Mann (30,17), Jahr (32,10), sowie nur in J bei Sohne (14,19) und Berufe (15,16) -weg - und kommt hingegen in J T bei Stirne (26,8), nur in J bei Stirn (15,11) und Gruß (30,9), nur in T bei Schreibtische (17,16), Gespräche (20,32), sowie Augenblicke (25,11) hinzu. Die Synkope eines -e in der unbetonten Endsilbe von anderen variiert zwischen den Druckfassungen: J liest ändern bei anderen H T, 30,21; 31,4 - umgekehrt setzt J das -e in 19,31 bei Ändern (Ändern H > anderen J > Ändern T). gleichgiltig wird in J T zu gleichgültig (24,1) gerundet. Eine ähnliche Variante findet sich bei hervorquillen H J, das erst in T zu hervorquellen (25,25) wird. Ein Fugen-s* tritt nur in J bei jünglingshaft (> jünglinghaft H T, 14,20) auf. Hingegen bleibt es bei rückhaltslose (25,28) erhalten, wo J rückhaltlose setzt.

c. Wortvarianten Die Wortvarianten sind fast ausschließlich Varianten der 2. Hauptschicht (s. II. 3.f.), wie bei dem T (13,1) < beim J; sehr feine T (17,5) < ungemein feine J, grauen T (l 7,6) < hellgrauen J; da T (l 7,18) < nun J; Heirat T (21,30) < Hochzeit J; an eines geraten bist T (23,34) < eines gefunden hast J; vor mir T (24,40) < draußen J; mir lieb gewordene T (27,22f.) < vertraute J; seit T (27,23) < schon seit J; Sandek H T (28,20) < Samek J; kann T (29,18) < konnte J; anglotzten T (29,25) < anstarrten J; ein Elfchen T (30,6) < eine Elfe J; Standesdamen T (31,6) < Damen J. Ausnahmen bilden denn T (17,30) < dann J; ab T (20,37; < an H J; aber T (77,40,1 < doch J; sowie Sandeks T (30,14) < Sameks H, wo Saar - im Gegensatz zu oben (28,20), wo die Korrektur von Samek zuerst vergessen und dann in der 2. Schicht vorgenommen wurde offensichtlich in H die generelle Tilgung der Urfassung Samek auch beim zweiten Durchsehen vergessen hat.

Schon Gierlich (S.45) weist auf den spezifisch österreichischen Gebrauch des Fugen-s hin, welches Hermann Lewi: Das österreichische Hochdeutsch. Versuch einer Darstellung seiner hervorstechendsten Fehler und fehlerhaften Eigenthümlichkeiten. Wien 1875 (S.27) „ein phonetisches Monstrum" genannt hatte.

69

d. Interpunktionsvarianten . Komma vor der Konjunktion „und" Saar setzt vor der Konjunktion und ein Komma, wenn sie zwei Hauptsätze verbindet. Diese Regel wird von T (in Übereinstimmung mit H) in 27,5, wo einzig J geöffnet, und; in 15,22, wo J Frühlingsanfang, und sowie in 28,32, wo J abgestiegen, und setzt, gebrochen. J hält ebenfalls an dieser Regel fest bis auf 16,2, wo bei gestattet, und das Komma fehlt: gestattet und J. Dementsprechend fehlt das Komma, wo und einen Nebensatz einleitet. In 27,20 setzt J jedoch das Komma vor und da der vorangegangene Nebensatz hier (im Unterschied zu H 1) innerhalb von Kommata gefaßt ist: Er bat mich, Platz zu nehmen, und [...] J.

ß. Komma anstelle eines Semikolons Mit Hilfe des Semikolons läßt Saar wiederholt gedanklich zusammengehörige Satzteile auch optisch als Einheit erscheinen*. Dies trifft besonders für T zu. In 19,23 setzen H J noch folgen, statt folgen; T; in 18,11 hat Saar das Manuskript in der 2. Schicht Damen, J in Damen; T geändert. In 14,28 setzt nur J kennen lerne, statt kennen lerne; H T.

. Komma anstelle eines Punktes 3 fügt hinter Ottomane. (16,22) satt eines Punktes ein Komma ein und verbindet den Satz mit dem folgenden. Fälschlich setzt J ein Komma in 23,18 am Satzende mehr., da der folgende Satz mit Majuskel Denn beginnt. Ein ähnlicher Fehler in H ist schien, statt schien J T (31,7).

. Komma anstelle eines Gedankenstriches Dieser Fall trifft wiederholt in J zu: 23,36: überlegen, J statt überlegen - H T; 29,19: vortrefflich, J statt vortrefflich - H T

4

70

Vgl. Kopp, S.38.

. Komma in abhängigen Sätzen 1.

Die Kommasetzung bei Objektsätzen ist unregelmäßig. In Fällen wie 22,5 läßt T das Komma hinter dachte wegfallen, was auch die Semantik verändert: Ich dachte, sie damit freudig zu überraschen, [...] H J bedeutet in diesem Sinne „Ich dachte, daß ich sie damit überrasche...", während die Fassung T sich liest wie „Ich (ge)dachte... " d.h. „Ich wollte sie damit überraschen... ". Ein ähnlicher Fall liegt in 29,8 vor: Hier heißt es glaubte mit seinen Novellen [...] T, während ] mit Komma glaubte, mit seinen Novellen [...] setzt. Ebenso 26,6: nicht T; 21,21: fing an T

2.

Bei Aufzählungen setzt J im Gegensatz zu H T das Komma: das anstoßende, sehr geräumige Rauchzimmer J > das anstoßende sehr geräumige Rauchzimmer H T, 31,10. Umgekehrt in 33,11: eine stolze, herrische Natur H T < eine stolze herrische Natur J

. Komma am Ende der wörtlichen Rede Während in H die Kommasetzung am Ende der wörtlichen Rede variiert und oftmals das Komma genau unter den schließenden Anführungszeichen zu stehen scheint, setzt J es immer vor die schließenden Anführungszeichen (also innerhalb der wörtlichen Rede), während T es immer nach den schließenden Anführungszeichen (also außerhalb der wörtlichen Rede) setzt und es damit syntaktisch von der wörtlichen Rede selbst ausklammert.

. Anführungszeichen bei wörtlicher Rede innerhalb der wörtlichen Rede H und i setzen sowohl bei wörtlicher Rede als auch bei wörtlicher Rede innerhalb wörtlicher Rede doppelte Anführungszeichen. Hingegen differenziert T und setzt wörtliche Rede in doppelte, wörtliche Rede innerhalb wörtlicher Rede in einfache Anführungszeichen. Ferner erscheint in J der „Sommernachtstraum" J > Sommernachtstraum (H) T', 30,6 in doppelten Anführungszeichen.

71

. Pünktchen bei abgebrochenen Sätzen, Striche bei Kapitelenden Um den Denkvorgang bei dem vorangegangenen Satz verharren zu lassen, beendet Saar wiederholt Sätze bzw. abgebrochene Sätze (nicht selten Absatzenden sowie Kapitelenden) mit mehreren Punkten, deren Anzahl zwischen den Fassungen variiert: In H ist deren Anzahl unbestimmt (4-9 Punkte), in J sind es immer 4 Punkte (außer 14,34, wo J einen Punkt am Satzende, dann drei abgesetzte Punkte setzt), während T durchgehend 3 Punkte setzt. Darüber hinaus zieht Saar im Manuskript H einen waagerechten Strich unter die Kapitelenden, am Ende der Erzählung zwei durch einen Punkt getrennte Striche.

e. Drucksatzvarianten An insgesamt drei Stellen hat Saar bestimmte Wörter durch eine Unterstreichung im Manuskript hervorgehoben und sie damit betont. Die Drucke haben dem Rechnung getragen, indem sie die unterstrichenen Wörter gesperrt gedruckt haben: S i e J T (21,16 sowie 29,15) < Sie H. Einzig bei ein H setzt J e i n, hingegen T nicht gesperrt ein.

4. Fortlaufendes Variantenverzeichnis Der Übersicht halber werden sowohl die Kapitelüberschriften als auch die drei Sternchen, welche die Rahmenerzählung vom 1. Kapitel und das 4. Kapitel von der wiederaufgenommenen Rahmenerzählung absetzen, in das folgende Variantenverzeichnis übernommen. 12, Titel 13, l 8f.

72

Hymen ] Hymen. Absatz Eine Geschichte in Arabesken. J bei dem ] beim J ihr Gesicht ] ihr. Gesicht J

I.

14, l 20 25 28 31f. 34 37 15, 3

6 9 11 13 15 22 25 29 30 16, 2 10 11 12 16 22 23 34 40 17, l 5 6 18 20 24 30

Fragen, die er ] Fragen, die H jünglinghaft ] jünglingshaft J Lovelace aus ] Lovelace heraus J kennen lerne; ] kennen lerne, J entfremdete er sich auch ] entfremdete er sich J war... ] war H; war. ... J ausgezeichnet. Das ] ausgezeichnet, das J „Verzeih, bis störe", ] „Verzeih', wenn ich dich etwa störe," J H „Aber] Aber H „Freut mich sehr", ] „Freut mich sehr," H J so weit! ] so weit, H J durchzuführen ] durzuführen H er] er, J „So, so - ] „So so - H J Frühlingsanfang ] Frühlingsanfang, J vor mir, als ] vor mir als J Zurückgekehrt ] Zurückgekehrt, H J der Quaste ] dem Griff J gestattet, und ] gestattet und J aufsuchte ] besuchte J hatte ] hatte ja J kommen... ] kommen J Mariahilf, in der ] Mariahilfinder J Ottomane. ] Ottomane, J Neben einem Bücherregal ein ] Ein J hatten oft Mühe ] hatten Mühe H sogar] sogar schon J fiel er] fiel H T sehr feine ] ungemein feine J grauen ] hellgrauen J da ] nun J „Verzeih',"] „Verzeih', H stören", ] stören," J denn ] dann J

73

. 4 7 8 11 12 16 21f. 32 33 19, 5 14 23 26 27 30 35 20, 2 3 5 7

9 11 18 21 22 23 26

37 74

Besseres ] besseres H J hatte als ] hatte, als H J Hofrat, ] Hofrat H J und wie es schien ] und, wie es schien, J Damen; ] Damen, J mir ] mir mir H Das war ihr Begleiter ] Das war ja ihr Begleiter H J die ebenso heftig erwidert wurden.] die von der anderen Seite ebenso heftig erwidert wurden. J „Ach nein", ] „Ach nein, H; „Ach nein," J heißt es, ] heißt es H hingibt ] hingiebt H „Gewiß] „gewiß H folgen; ] folgen, H J Naturen-] Naturen H J depit ] depit J depif, ] depit," J Stimme. „Du ] Stimme, „du J zu übertäuben - ] übertäuben - H Freund", ] Freund, H; Freund," J die Sache ] diese Sache J willst."] willst". J gewiß", ] gewiß," J Du] „Du H Er bis du - -?" ] Er sah mich mit halb offenem Munde an. „Woher weißt du?" — J; Er sah mich mit halb offenen Munde an. Absatz „Woher weißt Du -?" T habe."] habe". J Persönlichkeiten", ] Persönlichkeiten," H J jemandem in die ] jemanden in H auch die ] auch H befinde."] befinde". J Er schloß die Augen, wie um seine Gedanken zu sammeln. ] Er schloß die Augen. Offenbar sammelte er seine Gedanken. J an festgesetztem ] am festgesetztem H; am festgesetzten J ab ] an H J

21, 7 9

l Of. 22 28 29 29 29f. 31 36 37 40 22, 3

4 5

15

27 30 23, l 9 13 24f. 25 26 30 34

35 36 37

als ich] als H ,Sie bis also?' ] Sie lieben mich also? H; „Sie lieben mich also?" J ,Nun, bis lieben.' ] Nun, dann will ich Sie auch lieben. H; „Nun, dann will ich Sie auch lieben." J fing an ] fing an, H J kleinen ] kleiner J ,Nun, der' - ] Nun, der" - H; „Nun, der" - J wissen, ] wissen H wen ich meine -, ] wen ich meine - H J werden.' ] werden. H; wohl ] doch wohl J bekannt.' ] bekannt." H J aber] doch J Vorlesungen ] Vorlesungen, H J benutzte ] benützte H J den ich ] den H beigelegt - ] beigelegt H einzufmden. ] einzufinden H dachte ] dachte, H J ,Was?] „Was, J ,Ich] Ich J Fall', ] Fall," H J dem ] der H lassend. ] lassend, H J Ihrem ] ihrem H überrascht. ] überrascht: H nichts ] nicht H Freund,"] Freund, H er mit ] er mit er mit H Nun, ] Nun T erfolgt ist, ] erfolgt, J aufgeben." ] aufgeben. H J Mann, ] Mann H an eines geraten bist, ] an eines geraten bist H; eines gefunden hast, J zugleich. ] zugleich H es dir offen ] es offen dir J überlegen - ] überlegen, J unterordnen." ] unterordnen". H 75

24, 3 4 6 8 16 18 19 20 22 25, 2 5 6 7 18

27 28 32 26, 6 8 9 16

„daß] daß H soll?] soll?' J niemanden", ] niemanden," J „Der] ,Der H sein", ] sein," J indem er ] indem H zugrunde!"] zu Grunde." H J ich", ] ich," H J „Vier] Vier H zurückzuhalten ] zurückzuhalten, J an ] „An J angelangt", ] angelangt," H J ja", ] ja," J können!] können. J dabei", ] dabei," J „soll] soll H e i n ] ein T rückhaltslose ] rückhaltlose J betrachten." ] betrachten. H nicht] nicht, J H ja", ] ja," J Aber", ] Aber," H; Aber" J „es ] es H hatte? ] hatte? Absatz J

III. 23 27, 5 8 16 16f.

20

76

verblüht;] verblüht, H J geöffnet] geöffnet, J er. ] er H „Nun dann-"] „Nun dann" - J „Wollen Sie sich vielleicht einen Augenblick zu mir herein bemühen." ] „Wollen Sie vielleicht einen Augenblick zu mir herein bemühen." H; „Wollen Sie vielleicht einen Augenblick sich zu mir herein bemühen." J mich ] mich, J nehmen ] nehmen, J

21 23 25 28, 9 12 14 15 20 22 25

„Ich bin Witwer", ] Ich bin Witwer" Witwer," J seit ] schon seit J diesen Winter ] fehlt J „So", ] „So," H J „O sehr gern", ] „O, sehr gern," J machte... ] machte.... H J Oberst] Obersten J Sandek] Samek J Ende... ] Ende.... J den] den' H

H; „Ich bin

IV. 32 29, 6 8

9 18 19 21 22 29 30, 6 7 14 15 15f. 16 21 27 30

abgestiegen ] abgestiegen, J und ] und sich J glaubte ] glaubte, J Noveüetten ] Noveletten H Gedichten, ] Gedichten H Literatur ] Litteratur H kann ] konnte J vortrefflich - ] vortrefflich, J Brot] Brod H vorstelle!"] vorstelle! H in der ] in H Wandelhalle", ] Wandelhalle," H J Sommernachtstraum ] „Sommernachtstraum" J herben ] ihren herben J Sandeks] Sameks H fort: ] fort. H „Die Hofrätin-" ] „Es ist die Hofrätin" - J „Eine ] Eine H anderen ] ändern, J toujours... ] toujours H Während] Während, H ähnlich"... ] ähnlich"...." H; ähnlich...." J

77

33 31, 4 7 10 13

Nietzsches ] Nietzsches' H anderen] ändern J schien. ] schien, H anstoßende ] anstoßende, J wieder ] fehlt J

V.

32, l 32 35 40 33,11 15 16 20 25

78

Talent ] großes Talent J auch", ] auch," H J Mädchen!"] Mädchen! H Trousseau." ] Trousseau." kein Absatz Trousseau!" J stolze, ] stolze J vor sich." ] vor." J zusammenhängt", ] zusammenhängt," H J ein für allemal ] ein- für allemal J öffentlichen ] öffentliche H

H;

III. TEXT- UND WIRKUNGSGESCHICHTE

l. Die Entstehung der Erzählung bis zum ersten Druck in der Osterbeilage der Neuen Freien Presse vom 23.4.1905(1) a. Die letzten Lebensjahre Ferdinand von Saars Die Abfassung Hymens fallt in die späten Lebensjahre Ferdinand von Saars. Datiert „Blansko. März 1905." (59,25), entstand diese Erzählung während seines letzten mährischen Winters, der von jener tiefen Resignation überschattet war, die in der folgenden und letzten vollendeten Erzählung Die Pfründner Ausdruck findet. Die Forschung hat diesen späten Lebensabschnitt Saars bislang nur am Rande behandelt; ein Zusammenhang zwischen biographischer Situation und künstlerischem Schaffen wurde bislang nicht herausgestellt. Dem Blansko-Aufenthalt 1904/1905 waren Jahre zunehmender Enttäuschung über den ausgebliebenen Dichterruhm vorausgegangen, und die beständige Verschlimmerung eines unheilbaren Unterleibsleidens deutete das nahe Lebensende an. Zwar haben diese deprimierenden Umstände in Hymen keinen unmittelbaren Niederschlag gefunden, doch sind sie mittelbar für das Verständnis der Erzählung von großer Bedeutung. Daher sollen mit diesem Kapitel über die letzten Lebensjahre des Dichters die biographische Situation und die psychische Verfassung Saars als Hintergrund beleuchtet werden, vor welchem Hymen entstand. Tragik des Lebens - der Titel seines letzten Novellenbandes, in dem die Erzählungen Die Familie Worel, Sappho^ Hymen und Die Pfründner enthalten sind5 - kann ebenso über die letzten Lebensjahre Ferdinand von Saars gesetzt werden. Einsam6, schwerkrank und - fast das schlimmste 5

Ferdinand von Saar: Tragik des Lebens. Vier neue Novellen. Wien 1906. (s.

6

Die Einsamkeit hat Saars Leben immer begleitet. Als Halbwaise (er war fünf Monate alt, als sein Vater 34jährig starb, vgl. BrW 102) wuchs er ohne Vater und Geschwister auf. Er heiratete erst spät und verlor seine Frau schon nach dreieinhalbjähriger Ehe. Inwiefern die ersten Kindheits- und Jugenderfahrungen als Prägung des ewigen Melancholikers, der immer wieder selbst die Abgeschiedenheit suchte, aufgefaßt werden müssen, wäre ein Thema für eine eigene Untersuchung. Saar jedenfalls beklagte immer wieder seine Einsamkeit, so schon 1870, wo er an Josephine von Knorr schrieb: „Ich sitze am Weihnachtsabend ganz einsam in meinem öden Zimmer, in Decken gehüllt beim Ofen und denke über Vergangenheit und Zukunft nach. Wenn die Zukunft umwölkt ist - so ist's nur meine Schuld. Und doch wieder nicht meine Schuld!" (BrW 51). Auch in den letzten Tagen des Jahres 1903 beklagte er gegenüber Marie von Ebner-Eschen-

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- ungelesen fristete der „alte Wiener Poet", wie er sich selbst gerne bezeichnete7, in einer kargen, kasernenartigen Wohnung in WienDöbling seine letzten Jahre8. Dabei ist die berufliche und finanzielle Situation des Dichters an seinem Lebensabend durchaus von gewissem Erfolg gekennzeichnet. Bereits 1890 hatte er den Franz-Josephs-Orden, 1901 das Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft erhalten9, im Jahre 1902 wurde er gar in das österreichische Herrenhaus berufen10. Einkommen aus staatlichen Zuwendungen, einer kaiserlichen Ehrengabe, einer Pension der Schillerstiftung und aus dem Erlös seiner Werke11 nahmen ihm die drückenden

7 8

9

10 11

82

bach seine Einsamkeit am Weihnachtsabend (s. Jacobi, S.400). Daß Saar sich mit Gesellschaft in seinem Hause nicht leicht tat, zeigt ein Brief vom 12.7.1904, in dem der gebrechliche Mann über seine alternde Haushälterin „Musilka" (s. Anonymus) an Marie von Ebner-Eschenbach schrieb: „Ich sehe mit Schaudern dem Augenblicke entgegen, wo ich eine fremde Person in mein Haus nehmen muß. Trostloser Rest des Lebens!" (BrW 15). So z.B. in BrW 16 gegenüber Marie von Ebner-Eschenbach. So befand etwa Michael Maria Rabenlechner, der Saar in der Rudolfinergasse aufsuchte: „Wären an den Wänden nicht doch einige Bilder in Goldrahmen gewesen und an der einen Seite ein Kanapee, ich hätte den Eindruck nicht zu überwinden vermocht, ich befände mich im Kanzleizimmer einer Kaserne. Ein Blick in das Zimmer zur Rechten, das Schlafzimmer mit der eisernen Bettstatt, hätte diese Kasernenillusion nur noch zu verstärken vermocht." (Klauser: Poet, S.72). Vgl. BrW 10 (28.5.1890), in welchem der Bürgermeister von Ober-Döbling Saar die Auszeichnung durch den Franz-Josephs-Orden mitteilt. In seinem Nachlaß findet sich außerdem eine eigenhändige Abschrift der Urkunde zur „Anerkennung verdienstlicher Leistungen aus dem Anlasse der Weltausstellung in Paris 1900" durch „Seine k. und k. Apostolische Majestät" (BrW 36, 4.4.1901). Bettelheim: SW 1,172. Honorarvorstellungen und tatsächlich erhaltene Honorare teilt Saar verschiedentlich in der Korrespondenz mit. So etwa in BrW 76 vom 19.1.1902 an Stephan Milow: „Ich erhielt bis jetzt für eine größere Novelle (also etwa Requiem der Liebe oder Fridolin) 2-300 Gulden[,] für kleinere (also Tambi oder Sündenfall) 150 Gulden[,] für noch kleinere oder kleinste (Dissonanzen) 30-100 Gulden." (BrW 76). In einem Brief vom 6.4.1900 schreibt er an die Redaktion der Zeit: „[...] meine Novelle ,Die Brüder' [...] umfaßt circa 900, 14-16 sylbige Zeilen und steht gegen ein Honorar von 200 Kronen zur Verfügung." (BrW 174). Bei Rudolf Holzer bedankt sich Saar am 17.10.1904 für das Honorar für einen KalenderBeitrag (Der Hellene - Vgl. BrW 47): „In der vorigen Woche ist mir durch die Verlagshandlung Perler der ,Volkskalender' und ein Honorar von 30 Kronen zugegangen." (BrW 45). Der Reclam-Verlag bietet Saar ein Honorar von 150 M für den Abdruck von Ginevra und Die Troglodytin an (BrW 110-113, 29.12.1903; die Ausgabe erscheint mit einer Einleitung des Kritikers Adolf Bartels, der später auch die Tragik des Lebens rezensiert, s. BrW 7).

Geldsorgen, welche die ersten Jahrzehnte seines Schriftstellerdaseins geprägt hatten12. Zahlreiche Verlage und Herausgeber richteten sich an Saar, um die Genehmigung zum Wiederabdruck seiner Werke einzuholen oder mit der Bitte um noch unveröffentlichte Beiträge13. Vereine und Zeitschrif12

13

Bettelheim: SW l, S. 172. Noch 1892 erklärte Saar gegenüber seiner verwitweten Kusine Therese von Saar seine „ e i g e n e n Verhältnisse" für „viel zu schwankend und unsicher, als daß ich Dir und Deinen Kindern als positiver Anhaltspunkt dienen könnte" (BrW 118) und lehnte die Vormundschaft für seine Nichte Lola ab (vgl. auch BrW 119, 120). Hingegen verfugte er zum Zeitpunkt seines Ablebens über einiges Kapital (s. Maresch, S. 12): „Er bezifferte sein Barvermögen mit 52 000 Kronen, von denen er 30 000 als Legate auswarf. Dieses beträchtliche Vermögen hatte er in den letzten zehn Jahren gesammelt." Schon in den 80er und 90er Jahren erhält Saar Anfragen nach Wiederabdrucken seiner Werke sowie um gesonderte Gedichte (BrW 12 [12.10.1886], BrW 13 [21.1.1888]: Jacob Julius David bittet um ein Gedicht für die Neue Illustrierte Zeitung und um eine Novelle für die Wiener Mode, BrW 162 [4.12.1893]: der Wiener Kaufmännische Verein bedankt sich für einen Vortrag). Besonders um die Jahrhundertwende mehren sich die Anfragen (s. dazu BrW 9, 110, 111, 112, 113, 153, 161, 173, 175). Im Jahre 1901 erfolgt bereits von der k.u.k. Hof-Buchdruckerei und Hof-Verlagsbuchhandlung das Angebot einer Gesamtausgabe seiner Werke (s.BrW 35). Der gleiche Verleger (Otto Fromme) bittet Saar laufend um Novellen-Beiträge; schließlich wird ein österreichischer Novellenband geplant. Dazu schreibt Saar am 19.1.1902 an Milow: „Herr Fromme geht also schon mit vollen Segeln ins Zeug. [...] Er wollte ja fürs erste einen Novellen-Kalender herausgeben, und daher habe ich ihm einen Beitrag zugesagt. [...] Nun aber will er schon ein oesterr. N o v e l l e n b u c h mit historisch-kritischer Einleitung [...] herausgeben." (BrW 76). Am 2.9.1902 kündigt der Herausgeber der Brünner Theaterblätter ein Ferdinand von Saar-Festblatt an (BrW 126). Auch in den Jahren 1905/1906 erhält Saar zahlreiche Anfragen und Bitten um Beiträge und Gedichte. So bittet etwa Rudolf Holzer am 23.1.1905 um einen Kalender-Beitrag (BrW 47); der Max Hesse-Verlag bittet um den Abdruck der Gedichte Bitte und Bei einem Dichterbegräbnis. (BrW 40, 18.4.1905); Victor Eschen wünscht für die Nummer zum 1.10.1905 seiner jüngst erschienenen (April 1905) Zeitschrift Der Scherer einen Beitrag über Wien (bzw. die Wiener) (BrW 30, 24.8.1905); der Wiener Verlag fragt (während der Verhandlungen für die Tragik des Lebens) nach einer Erzählung von 6-8 Zeitungsspalten für die neugegründete Zeitschrift Der Weg an (BrW 172, 7.9.1905) - Saar antwortet, die Pfründner seien gewiß seine „letzte Novelle" (BrW 34); Oscar Fache bittet für das Jahrbuch des Scheffelbundes um einen literarischen Beitrag (BrW 106, 17.9.1905); Karl Krack aus Dessau fragt für seine Sammlung sozialer Lyrik nach dem Gedicht Arbeitergruss an (BrW 52, 4.10.1905); Theodor Arthur Waldau (Österreichs Illustrierte Zeitung) bittet am 25.10.1905 um Saars Mitarbeit (BrW 157) und dankt am 30.10.1905 (BrW 158) für die Geschichte eines Wiener Kindes, Elise von Reizenhoven bittet um ein Gedicht für die erste Nummer ihrer Zeitschrift Das Weltall zum 21.10.1905 (BrW 114) und erhält die Zusage für Nachklänge (vgl. BrW 115); Max Roden (Red. Literarisches Deutsch-Oesterreich) wünscht eine Nachdruckerlaubnis für ein Gedicht (BrW 116, 25.10.1905); Leonhard Adelt (Red. Die Zeit) 83

ten, Verleger und Professoren schrieben ihm. Saar erhielt Post auch aus Deutschland und Übersee14; zahlreiche Privatpersonen lobten in ihren Briefen seine Werke15, wie etwa der Germanist Hans Paul aus Linz: Auf die Weihnachtszettel meiner Schüler und Schülerinnen, die sie mir vorlegen, damit ich ihnen Lektüre aufnotiere, habe ich Ihre Bücher mit inniger Freude gesetzt und bedauere nur, daß meine Kollegen eine solche Einflußnahme auf die literarische Bildung ihrer Zöglinge unterlassen oder ablehnen. [...] In unser neues Lesebuch [...] haben wir auch 4 Ihrer Geschichten gebracht, damit unsere Schüler doch wissen, daß anno 1832 unsere Literatur nicht gestorben ist. (BrW 109)

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lobt das von Saar bereitgestellte Weihnachtsgedicht (vgl. BrW 4) und bittet um einen novellistischen Beitrag für die Festnummer (21.1.1906) zum 150. Geburtstag Mozarts am 27.1.1906 (BrW 3, 6.1.1906), weiterhin bittet er um die Bereitstellung eines Gedichtes zu Ostern und einer Novelle zu Pfingsten (BrW 5, 12.1.1906); Die Dieterich'sehe Verlagsbuchhandlung (Leipzig) wendet sich an Saar mit der Bitte um einen Beitrag für den Band Zehn lyrische Selbstporträts in je zehn Gedichten, selbstausgewählt von ihren Dichtern (präsentiert mit den Porträts der Dichter auf Stein gemeißelt von M. A. Stremel, mit Selbstbiographien und Wappen oder Bücherzeichen der Dichter) (BrW 14, 7.4.1906); Hermann Mack bittet um Abdruck des Gedichtes Nacht (BrW 61, 7.5.1906); eine Anfrage des Leipziger Sportverlages Grethlein et Co. beantwortet der Schwerkranke ablehnend (BrW 134, 24.6.1906). So etwa vom amerikanischen Germanistik-Professor Charles Handschin, der ihm am 15.9.1905 aus Oxford, Ohio, schrieb: „Da Sie die Güte hatten mir Erlaubnis zu erteilen eine Am. Ausgabe Ihrer ,Steinklopfer' zu veranstalten, so möchte ich Ihre Güte noch ferner in Anspruch nehmen, indem ich Sie bitte mir mitzuteilen was v e r s c h a l t (p.152, 6 Zeilen von unten) bedeutet." (BrW 39). So etwa Josef Vogler, der Saar am 9.4.1900 seine Begeisterung folgendermaßen mitteilt: „Freiherr von Berger, dessen Buchbesprechungen mir stets vielen Genuß verschafft haben, sagt zu Beginn seines Aufsatzes: ,Wer ein gebildeter Österreicher sein will, sollte mit Ferdinand von Saar's .Novellen aus Österreich' ebenso vertraut sein, wie mit den Dramen Grillparzers.' [...] Ich begann Innozens zu lesen und war auf das Tiefste gerührt. [...] Zu jener Zeit [...] schrieb ich in mein Merkbuch: ,Ich lese Saar: Novellen aus Österreich, und bin einfach verblüfft über die Zartheit, Innigkeit und die edle Güte der Darstellung der in schmerzliches Colorit getauchten Darstellungen ... Jedes dieser Lebensbilder hat seinen eigenen Reiz.'" (BrW 156). Richard Schaukai lobt Saar in einem Brief vom 31.12.1900: „Sie sind unser bester Novellist. Ehrlich: Ist das nicht wundervoll?" (BrW 125). Marie von Ebner-Eschenbach teilt dem leidenden Saar am 6.1.1905 aus Rom mit: „Könnte Ich Sie hierherzaubern! [...] meine herrlichen römischen Professoren, die für Poesie ebensoviel Sinn haben, wie für Archäologie würden Ihnen Gesellschaft leisten [...]. Sie sind Ihnen allen bekannt, Sie werden von allen verehrt." (BrW 21). Am 14.3.1906 lobt die Dichterin Saars Gedicht Stephan Mi low zu seinem 70ten Geburtstage (HN 3, s. Anm. 24): „Etwas so schönes, holdes, rührendes wie Ihr Gedicht an Stephan Milow sollen die Leute suchen gehen. Finden werden sie es nicht." (BrW 24). Ein Brief an eine anonyme Verehrerin in Oslavan vom 30.6.1899 zeigt, daß Saar auch außerhalb Wiens wirkte (BrW 56).

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Wenn Saar Selbstzweifel kamen und Mißerfolge - wie 1888 die plötzliche Abstandnahme von der Uraufführung des Dramas Thassilo aus Angst vor einem Fiasko - seinen Elan hemmten, erhielt er von Freunden immer wieder Zuspruch und Ermunterung zur Fortführung der Arbeit. Eine der Stimmen, die Saar schon früher ermutigt und späten Ruhm prophezeit hatte, war die des Gelehrten und Literaturkritikers Moritz Necker, mit dem Saar in regem Austausch stand16. Er hatte in einem Brief vom 2. April 1892 Saars gesellschaftliche Rolle gar als unterbewußtes Zeitgewissen gedeutet, dessen Ablehnung zwangsläufig erfolgen müsse und sich später in Ruhm verkehren werde: Es freut mich aufrichtig, daß Sie wieder Mut u. Lust zur Arbeit haben. Vertrauen Sie auf Ihren Stern! Es ist in Ihrem Schicksal als Dichter doch etwas Merkwürdiges, es ist doch nicht ganz unsinnig, wie es nur mit Ihnen erging. Vielleicht liegt Symbolik darin u. vielleicht wird man Ihre Stücke in der That umsomehr schätzen, je älter Sie werden. Verharren Sie im Vertrauen auf Ihren Stern u. wie Sie Trieb u. Lust zum Schreiben haben, so thun Sie's nur, ohne Rücksicht auf die Meinung der Zeit. Am Ende sind die Dichter doch unterbewußte Organe eines uns alle regierenden Geistes... freilich, schwer genug wirds ihnen oft gemacht." (BrW 104)

Necker gehörte auch zu denjenigen, die mangelnden Erfolg bei der breiten Leserschaft auf deren Unbedarftheit zurückführten und Saar darin bestärkten, unabhängig von der öffentlichen Resonanz seine Arbeit fortzuführen17. Im Kreise von Saars Freunden und getreuen Verehrern fanden immer wieder Lesungen seiner Werke statt18, welche manchen der Zuhörer zu

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Necker widmete Saar u.a. am Tag nach seinem Selbstmord einen ausführlichen Nachruf Ferdinand von Saar im Abendblatt der Zeit (Wien, Nr. 1375. 24.7.1906. S.2f.). In einem Brief an Saar vom 12.5.1892 schreibt Necker: „Das Schicksal der Dichter hängt von unglaublich vielen äußeren Zufälligkeiten ab [...]. Und ich muß auch sagen, daß ich Ihren Standpunkt der Wurstigkeit gegenüber dem äußeren Erfolg (inform von Auflagen) als den schließlich einzig vernünftigen halte. Das Publikum ist so blind u. so dumm wie Wind u. Wetter." (BrW 105). Saar bedankt sich beispielsweise am 13.4.1901 bei Emil Söffe, dem er seine Veröffentlichungen zuzusenden pflegte und um Beurteilung seiner Werke (z.B. Das Idyll) bat (s.WrStB I.N. 39.838 u. 39.842), mit den Worten: „Der Saar-Abend hat also stattgefunden! Und wie ich aus den Zeitungsausschnitten und sonstigen Mitteilungen entnehme: in g l ä n z e n d e r Weise!" (BrW 127). Gespannt erwartet Saar in Blansko den 4. Januar 1905, an dem Maja von Kralik in Wien Schloß Kostenitz vortragen wird. Er schreibt am 2.1.1905: „Übermorgen ist der große Tag! Ich sehe ihm mit Freude - aber auch, was die N o v e l l e s e l b s t betrifft, mit einigem Bangen entgegen." (BrW 53). 85

rühren und zu begeistern vermochten19, über den Kreis der eingeschworenen Saar-Verehrer hinaus jedoch wenig Resonanz hatten. Saar beklagt in einem Schreiben an Maja von Kralik vom 12.1.1905 aus Blansko das mangelnde Presse-Echo auf Schloß Kostenitz: Ich habe absichtlich gezögert, Ihnen zu schreiben. Denn ich hatte die Hoffnung gehegt, daß irgend Jemand aus Wien über die Vorlesung berichten würde. Aber n i c h t s ist erfolgt. Auch die Zeitungen, soweit ich sie zu Gesicht bekommen, haben geschwiegen. Nur die „Zeit" hat eine trockene, e i s k a l t e Notiz gebracht. Und gerade I h r e t w e g e n , Hochverehrte, hätte ich gewünscht, daß die Vorlesung auch außerhalb des geladenen Kreises zur Geltung gelangt wäre. Hätten Sie etwas von Hauptmann und Consorten gelesen, dann wären Sie auch in den Himmel erhoben worden. Aber Saar! „Wer ist Saar?" fragte unlängst ganz ernst der Direktor des deutschen Volkstheaters. (BrW 54)20

Überhaupt vertieft sich für Saar - trotz der vielen anerkennenden Bekundungen - der Eindruck, als Schriftsteller versagt zu haben bzw. von den ,Modernen' verdrängt zu werden21. Seinem Freund und Vertrauten Stephan von Millenkovich, den er noch aus seiner Militärzeit kannte22 und der - später unter dem Namen Stephan Milow selber schreibend23 Saars Schicksal begleitete und ebenfalls ungelesen blieb24, schreibt er am 11. April 1899 über seine Lyrik:

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Ein junges Mädchen namens Josefine Wareka schreibt Saar nach der Lesung von Schloß Kostenitz bei Maja von Kralik am 17.1.1905: „Hochverehrter Herr! Überwältigt von dem Eindrucke, den Ihre herrliche Novelle ,Schloss Kostenitz' in meinem Gemüte hinterließ, bin ich bis heute mit mir zu Rate gegangen, ob es denn nicht eine Vermessenheit sei, wenn ein unbedeutendes Mädchen einem geistig so hochstehenden, gottbegnadeten Dichter ihre Bewunderung zu Füßen legt [...]? [...] Am erschütterndsten wirkte auf mich die Schilderung der seelischen Konflikte der schönen unglücklichen Schlossherrin. [...] Lange noch werde ich über dieses herrliche Geschick nachgrübeln und hiebei mit tiefster Verehrung des genialen Dichters gedenken." (BrW 159). Immerhin hatte es doch eine positive Notiz im Neuen Wiener Tagblatt gegeben, die Maja von Kralik Saar nach Blansko zugesandt hat. Saar bedankt sich am 21.1.1905: „Ich hatte diese anerkennende Notiz nicht zu Gesicht bekommen, und so haben Sie mich damit sehr erfreut. Da ist doch etwas gesagt - und zwar Gutes und Richtiges." (BrW 55). Aus Habrovan schreibt Saar am 26.10.1901: „Auch habe ich als Dichter nicht viel mehr zu sagen. Jüngere Kräfte haben jetzt zu reden - und sie thun es auch." (BrW 2). Vgl. Kopp, S.50. Vgl. Jacobi, S.388. In einem Gedicht zum 70. Geburtstag Milows besingt Saar das gemeinsame Los des ausgebliebenen Dichterruhmes mit folgenden Zeilen (HN 3, betitelt Stephan Milow/ zu seinem 70ten Geburtstage/ 9' März 1906): „Lorbeer, den wir einst erstrebten, / Aber doch nicht voll erlebten, / Gönne nun mit dunklem Schimmer, / Um im Alter Dich zu mahnen / An vereinte Jugendbahnen."

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Die „Eisenbahnfahrt" stammt aus „unseren Zeiten", daher ich sie auch mit einigen Besserungen als Erinnerung aufgenommen. Zur Publikation wird das Buch freilich nicht weit vordringen. Denn man hat jetzt, wie ich hier deutlich erkenne, nur mehr für das „Modernste". Nun gar in der Lyrik, wo alles, was nicht Unsinn lallt, bei Seite geworfen wird. (BrW 64)

Immer wieder bringt er dem alten Freund gegenüber seine Trübsal über den ausgebliebenen Dichterruhm vor: Daß meine Stimmung eine elende ist, kannst Du Dir denken. Dennoch zwing' ich mich zu arbeiten. Aber es geht sehr langsam und mühselig, daß mir vor mir selber ekelt. Woher soll man auch im übrigen Freude zur Arbeit hernehmen? Was man auch bietet, wird nicht - oder kaum beachtet. Wenn man so sieht, wie anderen Leuten die Carriere „gemacht" wird, wie selbst ihre mißlungensten und fadesten Werke, trotz alles Mißerfolges, als Manifestationen des Genius hingestellt werden, während man selbst 40 Jahre hindurch blos einige hingeworfene Brocken der Anerkennung zu schnappen u. aufzulesen hat: möchte sich einem der Magen umdrehen. Der einzige Trost dabei ist, daß während dieser 40 Jahre schon eine Reihe solcher Erscheinungen an uns vorübergegangen ist - und daß wir [...] noch immer in gewissem Sinne aufrecht dastehen. (BrW 68, 17.2.1900)

Saar wird vor allem durch den aufkommenden Naturalismus verunsichert, den er abwehrend mit besonderer Geringschätzung betrachtet25. Wie im obigen Zitat (BrW 54) abschätzig die Rede von „Hauptmann und Consorten" ist, so gibt Saar gegenüber Milow doch offen seine Verunsicherung durch die Erfolge des naturalistischen Dramas zu. In einem Brief vom 31.7.1900, in welchem er Milows Bitte einer Beurteilung von dessen Schauspiel „Bundschuh" nachkommt, räumt er ein: Ich muß vorausschicken, daß ich seit Ibsen's Auftreten und den Erfolgen Hauptmanns dem Drama gegenüber eigentlich den Maßstab verloren habe und meinem eigenen Unheil mißtraue. Meine Aussprüche brauchen Dir also - im allgemeinen wenigstens - auch nicht maßgebend zu sein; sie sollen Dir nur den Eindruck kundgeben, den ich empfangen. (BrW 69)

Auch in der Handschrift unserer Erzählung findet sich ein durch mehrfaches Durchstreichen fast bis zur Unlesbarkeit getilgter ,Seitenhieb' auf den Naturalismus, namentlich auf Hauptmann. So heißt es von dem „damals sehr berühmten Bühnendichter" (56,35f.), er sei später „so ziemlich verschollen. Ibsen, Hauptmann und andere Größen hatten ihn verdrängt. Künstlerschicksal!" (57, l f.) Auch die Erwähnung der , jungen und jüngsten Damen" (31,1), die dem Zauber des Modegelehrten „aus der Schule Brandes' und Nietzsches" (30,32f.) erlegen seien, scheint sich auf den Naturalismus zu beziehen, bezeichneten sich doch dessen Schüler mitunter als „Junge und Jüngste".

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Vgl. Aspetsberger, S.271f. 87

In seiner Geringschätzung für Ibsen als kurzlebiges Zeitphänomen (was sich als Fehlbeurteilung herausstellen sollte) war Saar mit seiner spätrealistischen Dichterkollegin und Freundin Marie von EbnerEschenbach26 übrigens einer Meinung27. Diese schrieb Saar am 21. Juni 1906: Leider konnte ich in der letzten Zeit ,die freie Presse', meine fast einzige Lektüre, nicht mehr lesen, habe den Ibsen-Taumel nur zum Teil miterlebt. Wie sich die Leute heutzutage beeilen, Götzen aufzurichten. Als ob sie ahnen würden, daß ihre Begeisterung gar keinen Atem hat und sich in aller Geschwindigkeit .ausleben' muß. (BrW 27)28

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Mit Marie von Ebner-Eschenbach vefband Saar eine enge Freundschaft und reger literarischer Austausch. Vgl. Marie von Ebner-Eschenbachs Tagebücher, in denen Saar immer wieder genannt wird: Marie von Ebner-Eschenbach: Tagebücher I (1862-1869). Hg. v. Karl Konrad Polheim unter Mitwirkung von Rainer Bäasner. Tübingen 1989; (Dies.): Tagebücher II (1871-1878). Hg. v. Karl Konrad Polheim unter Mitwirkung von Markus Jagsch, Claus Pias und Georg Reichard. Tübingen 1991; (Dies.): Tagebücher III (1879-1889). Hg. v. Karl Konrad Polheim und Norbert Gabriel unter Mitwirkung von Markus Jagsch und Claus Pias. Tübingen 1993; (Dies.): Tagebücher IV (1890-1897). Hg. v. Karl Konrad Polheim und Norbert Gabriel unter Mitwirkung von Markus Jagsch. Tübingen 1995. [zitiert Ebner-Eschenbach: Tb. MV]. Schon 1891 hatte sich Saar „Ibsen- und Hauptmannmüde" gefühlt, ja über eine generelle „Literatur-Müdigkeit" gegenüber Marie von Ebner-Eschenbach geklagt (s. Heinz Kindermann [Hg.]: Briefwechsel zwischen Ferdinand von Saar und Marie von Ebner-Eschenbach. Wien 1957, [zitiert: Kindermann], S.85). Nicht selten hat die Dichterkollegin, die viel von Saars Unmut über den aufkommenden Naturalismus teilte, dem Dichter tröstend zugeredet. Dies bezeugt u.a. ein Brief vom 7.9.1905: „Sehen Sie, lieber, bester Freund, es sind schwere Stunden und Tage an uns vorüber gegangen, keiner von uns Beiden erfreut sich ungetrübter Gesundheit, aber wir dürfen uns doch sagen: umsonst haben wir nicht gelebt. [...] Mit einer Wonne, die ich nicht beschreiben kann, sehe ich, wie es jetzt geschieht, Ihren Namen mit den Ihm gebührenden Ehren erwähnt, in Zeitschriften und Litteraturgeschichten und höre Leute, die etwas verstehen von der Kunst, Sie preisen." (BrW 22). Marie von Ebner-Eschenbach äußerte sich wiederholt in diesem Sinne gegenüber Saar. So etwa am 12.5.1906: „Bester Freund, wie verständnislos bin u. bleibe ich der modernen Literatur gegenüber! [...] Mich langweilen diese neuen Schriftsteller in einem hohen, allerhöchsten Grade." (BrW 26). Ähnlich auch in einem Brief vom 6.7.1906: „Ja, das literarische Echo hat schon manche seltsame Behauptung aufgestellt. Wenn wir noch einige Jahre leben, werden wir's erleben, daß die ,Jungen' nicht bloss historisch, sondern gar nicht mehr betrachtet werden." (BrW 28). Überzeugt von Saars spätem Ruhm hat Marie von Ebner-Eschenbach am 18.7.1906, fünf Tage vor seinem Freitod, über eine Photographic des schwerkranken Dichters geschrieben: „Ihr Bild macht mir eine unbeschreiblich große, freilich etwas wehmütige Freude. Ernst u. leidend sehen Sie aus, nicht schwer krank lieber, verehrter Freund, Gott sei Dank - schwer krank nicht. Wenn ich Sie so recht betrachte, sage ich mir: viele von den schönen Gedanken die durch diesen

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Saar antwortet am folgenden Tag: Ja, der Ibsen-Rummel! Umgebracht hat er alle älteren Dramatiker - so nur ihm selbst, dem alten Fuchse, die Unsterblichkeit gesichert. Mir schadet und nützt's nichts, denn über mich ist die Zeit, die ich bis heute dichterisch begleitet habe, bereits hinweggegangen."29

Besonders im Sommer 1904 befällt ihn eine düstere Ahnung, als Schriftsteller versagt zu haben und für immer ungelesen zu bleiben. Diese Resignation30 teilt er seinen engsten Vertrauten, dem Ehepaar Milow (BrW 62, 2.7.1904) und Marie von Ebner-Eschenbach (BrW 15, 12.7.1904), mit: [...] kann ich doch das drückende Gefühl nicht los werden, daß ich als Dramatiker vollständig abgetan bin. Eigentlich auch sonst. Es hat eben in der Litteratur überhaupt in der Kunst - eine Darstellungsweise platzgewonnen, die alles Frühere nicht blos vorübergehend, sondern d a u e r n d verdrängt. Es ist fatal, daß man zu dieser Erkenntniß gerade am Schlüsse seines Lebens gelangen muß, auf dessen Arbeit man gern mit erhebendem Bewußtsein zurückblicken möchte. (BrW 62) Ich bin teils in Folge eines Mangels in meinem dichterischen Wesen, teils durch äußere Verhältnisse als Dramatiker verkümmert. Und meine Novellen sind auch nur Stückwerk gegen I h r e großzügig aus dem vollen geschöpften Leistungen.... (BrW 15)

Gegenüber Marie von Ebner-Eschenbach hat sich Saar immer als schwerfällig und wenig begabt empfunden31; seine dichterischen Selbst-

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edlen Dichterkopf ziehen, wird die Welt noch kennen lernen u. sich an ihnen erbauen." (BrW 29). Kindermann, Brief vom 22.6.1904 (s. Anm. 27). In den Briefwechseln seiner letzten Jahre finden sich immer wieder Zeugnisse, die Saars große Enttäuschung über den ausgebliebenen Ruhm verbürgen. So schreibt er am 2.9.1904 an Marie von Ebner-Eschenbach: „Übermorgen beginnt hier der internationale Parnaßkongreß zu tagen - und ich mußte schon nach allen Seiten hin Entschuldigungsschreiben richten. [...] Und das ist gut. Denn die Herren internationalen' (die Deutschen miteingerechnet) haben ja gar keine Ahnung von einem Dichter Saar - und würden mich anschauen wie die Kuh das neue Tor." (BrW 16). Dem Professor Hans Paul aus Linz (vgl. S.85), schreibt Saar am 20.11.1905: „Und wenn man mich auch in meinem 70. Lebensjahr mit Ehren und Würde ausgezeichnet hat: auf meine Zeitgenossen habe ich leider nicht gewirkt und bin im ganzen ein u n g e l e s e n e r Dichter geblieben." (BrW 107, dazu auch: Schall, S.20). Auch dem Brünner Professor Emil Söffe entgegnet er am 2.10.1905 auf die Ankündigung, Söffe wolle ihm eine Schrift widmen: „Setzen Sie dem Buche einen klangvollen Namen vor. Auf den meinen hört man wenig - oder gar nicht. Das ist nun einmal so - und nicht zu ändern!" (BrW 131; vgl. auch BrW 132). Der Literaturkritiker Moritz Necker, der wie nur wenige mit Saar in enger literaturtheoretischer Korrespondenz stand, erinnert ihn in einem Brief vom 21.3.1892 an seine Äußerungen über sein Gefühl der künstlerischen Schwerfällig-

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zweifei nahmen beständig zu, obgleich er aus dem Freundeskreis Unterstützung und Trost fand und sich mancher Verehrer immer wieder zu ihm bekannte32. So fanden sich auch in der Presse immer wieder positive Artikel und lobende Rezensionen, die jedoch zum guten Teil von Freunden stammten. Regelmäßig publizierte Milows Sohn Max, der unter dem Schriftstellernamen Max Morold schrieb33, im Neuen Wiener Tagblatt über Saar34. Und nicht unberechtigt sah sich Saar dadurch dem Vorwurf der Vetternwirtschaft' ausgesetzt und mußte gar in seinem letzten Lebensjahr das eifrige Engagement des jungen Freundes bremsen, als dieser an ihn mit der Bitte herantrat, Saar möge seinem Vater, Stephan Milow, zum 70. Geburtstag einen Jubiläumsartikel schreiben35. Die

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keit gegenüber Marie von Ebner-Eschenbach: „Einmal (wir gingen in der Kärntnerstrasse) sagten Sie mir im Gespräch: der Ebner fallen die Einzelheiten ein, mir nicht! Da warf ich Ihnen einen Seitenblick zu (und sagte nichts, es fiel mir nicht gleich das rechte Wort ein), der Sie leider zu verstimmen schien. Ich dachte: so redet ein Selbstquäler." (BrW 103). Auch in Momenten, in denen er mit seinem Werk zufrieden ist, schreibt Saar an die Dichterin (wie am 10.9.1905): „[...] heute darf ich sagen, daß ich trotz manchem Unzulänglichen die oesterreichische Litteratur bereichert habe, wenngleich ich als Novellist nicht würdig bin, Ihnen die Schuhriemen aufzulösen..." (BrW 19). Zu den treuen Verehrern gehört auch die junge Dichterin und Journalistin Ella Hruschka. Da sie selbst die Schwierigkeiten des Literatenlebens kannte, teilte sie Saars Verbitterung über den ausbleibenden Erfolg, wie sie am 30.1.1900 schreibt: „Wieviele Ihrer Sonette sind mir aus der Seele genommen. Sie verstehen es so wunderbar, auch die Erbitterung und den göttlichen Zorn in Poesie umzusetzen." (BrW 48). Überzeugt von Saars spätem Erfolg und im Glauben, Saars Leiden sei kurabel, schreibt sie noch zu seinem 72. und letzten Geburtstag dem unheilbar Kranken am 25.9.1905: „Als Geburtstagsgeschenk möchte ich Ihnen am liebsten Glück und Hoffnung bringen: die Hoffnung, daß Ihre im Übrigen noch so gesunde und kräftige Natur sich vielleicht doch noch selbst helfen wird, und den Glauben an die Unsterblichkeit Ihres Namens und Ihres Lebenswirkens und an eine Zukunft, in der Ihre Werke jene Popularität erlangen werden, die ihnen heute noch fehlt. Vgl. Bettelheim: SW l, 155. So etwa Der neue Saar (Nr.342. 14.12.1900), Ferdinand von Saar als Dramatiker ([September] 1903). Auch nach Saars Tod blieb Max Morold ihm treu und publizierte immer wieder über ihn (Saar und Milow. In: Österreichische Rundschau. Wien, Leipzig, Bd.19. H.4 (15.5.1909). S.321f; Zur Erinnerung an Ferdinand von Saar. In: Der getreue Eckart. Jahrbuch für Schüler. Wien, Bd.3. (1926). H.20. S.925f; Ferdinand von Saar zu seinem 100. Geburtstage. In: Der getreue Eckart. Wien, Bd. 10. (1933). H.2. S.888-890.; Die Dichter Wiens. In: Anton Haasbauer (Hrsg.): Wien. Geschichte, Kunst, Leben. Wien 1942. S.35-40. Im Brief vom 6.2.1906 heißt es: „Ich müßte da meine eigene Biographie wiederkäuen, was mir geradezu ekelhaft ist. Überdies: das Schreiben eines selbst u n g e l e s e n e n Dichters über einen anderen u n b e k a n n t e n , das heißt u n g e l e s e n e n Dichter widerstrebt mir a u f s ä u ß e r s t e . " (BrW 98). Ebenso

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durchgehend positiven Kritiken durch den jungen Max Morold - die Saar vom Sohn des Freundes auch erwartete36 - wurden ihm gar zum Nachteil, wie er selbst dem Feuilletonisten gegenüber zitieren muß: Denn mir wurde schon öfter von m e h r e r e n Seiten gesagt: aha! das hat Ihr Freund geschrieben! Oder: Dieser Morold ist der Sohn Ihres Freundes! Ein Prager Universtätsdozent sprach sich gegen Jemand folgendermaßen aus: Von Saar lese ich grundsätzlich nichts, der läßt im „Tagblatt" für sich Reklame machen. Man ist mir eben nicht so wohl gesinnt, als es den Anschein haben möchte. (BrW 99)

Ein weiterer treuer Saar-Kritiker war sein Freund Karl von Thaler, der für die Neue Freie Presse schrieb. Wiederholt bat Saar auch diesen Fürsprecher um Unterstützung37 und blieb ihm folglich stets zu Dank verpflichtet: Mein lieber Freund! Ich habe Dir heute doppelt zu danken. Und zwar erstens dafür, daß Du mich in Deinem monatlichen [...] Feuilleton so ausgezeichnet erwähnt hast - und zweitens für die freundliche Unterbringung der Notiz. Drücke Dir im Geiste wärmstens die Hand. (BrW 138)

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schreibt Saar am 7.2.1906: „Ich müßte da Vorwürfe vorbringen, die auch auf mich Bezug haben - ich müßte l o b e n , was ich an mir selbst zu loben hätte. Kurz: ein J u b i l ä u m s -Artikel, in dem der F r e u n d den F r e u n d herausstreicht und anhimmelt, widerstrebt mir gründlich." (BrW 99). Saar forderte Max Morold des öfteren auf, über seine Werke selbst mehrfach zu schreiben. So etwa am 5.5.1904 in bezug auf seine von Josef Reiter vertonte Schillerhymne: „[Die] letzten Feuilletons [haben] mit keiner Silbe Reiter's erwähnt [...]. Du wirst nun verstehen, was ich eigentlich gemeint habe, als ich mich über eine e i n m a l i g e (wenn auch geistige) Besprechung ad hoc geringschätzig äußerte." (BrW 88). Schon früher hatte Saar die Feuilleton-Beiträge von Max Morold gelobt (vgl. BrW 87, 92) und sich für die lobenden Worte bedankt: „Allerherzlichsten Dank für den prächtigen Artikel, der mich gewiß fördern wird [...]." (BrW 86, 18.3.1899); „Für Deinen schwungvollen Artikel dank' ich von Herzen!" (BrW 89, 27.6.1904); „Max hat im W. Tagblatt über meinen Heinrich einen gehaltvollen Artikel veröffentlicht." (BrW 62, 2.7.1904). Der junge Feuilletonist läßt seinerseits Saar regelmäßig seine lobenden Artikel zukommen: „Verehrter Freund! Sende Dir heute mein Feuilleton über Dich im ,N. Wr. Tgbl.' Hoffe, daß Du nicht ganz unzufrieden bist.' (BrW 100, 14.12.1900). Auch Milow gegenüber lobt Saar regelmäßig Max' Beiträge: „[...] Das Feuilleton war auch, ganz abseitig betrachtet, m e i s t e r h a f t geschrieben." (BrW 72, 17.12.1900); „Max hat im Tagblatt ein hübsches Feuilleton gehabt [...]." (BrW 73, 21.3.1901). So etwa im Brief vom 15.11.1900: „Es war mir sehr erwünscht, wenn Du die beiliegenden Zeilen, die wohl nicht als Reclame betrachtet werden können, in den ,Kunstnachrichten' der N. F. Presse unterbringen könntest." (BrW 139). Am 4.1.1901 schreibt Saar: „Sehr erfreut hast Du mich durch Deine liebe Mitteilung, daß Du über die ,Camera' geschrieben hast. Bin sehr neugierig!" (BrW 140). Auch die Tragik des Lebens wird schließlich von Karl von Thaler besprochen (vgl. BrW 152, s. III.2.c.,d.), nachdem Saar gegenüber Max Morold noch am 6.2.1906 (BrW 98) das Ausbleiben einer Kritik in der Neuen Freien Presse beklagt hatte. 91

Ein andermal zögerte Saar nicht, Thaler seine Erwartungen unverblümt mitzuteilen: Mein lieber Carolus! In Deinem Feuilleton hab' ich mich schmerzlich vermißt; wenigstens in der Einleitung hätte ich e r w ä h n t werden können. Nun, das war zu machen! (BrW 141)

Trotz dieser treuen Artikelschreiber blieb für Saar durchweg das deprimierende Gefühl bestimmend, seine Leserschaft nicht erreichen zu können38. Nicht selten aber machte er den gewandelten Zeitgeschmack der die in seinen Augen qualitativ schlechteren literarischen Werke auf der Bühne39, in der Lyrik und in der Prosa begünstige - für seine Mißerfolge verantwortlich. Dann lag der Grund für den ausbleibenden Erfolg auch darin, daß nunmehr schlechte Kritiker das Sagen hätten, während die in seinem Sinne urteilsfähigen' Stimmen durch ihr Schweigen dem ,Modernen' das Feld räumten. Schon 1902 schrieb er an Moritz Lederer: Es giebt nämlich keine E i n s i c h t i g e n mehr in der Litteratur, und die paar älteren Männer, die das Zeug dazu hätten, s c h w e i g e n , weil sie sehen, daß ihr Wort nicht mehr gilt. (BrW 57)

Auf die Unbedarftheit der Literaturwissenschaftler führte Saar auch den Umstand zurück, daß zu seiner Zeit noch kein Werk über die literarische

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Manche Stimmen in der Wiener Presse beklagten jedoch die ausbleibende Würdigung durch das Lesepublikum. So etwa Albin Schanil in seiner Abhandlung Der Wiener Roman. (3.Folge), in der es heißt: „Wie wenig [...] ist unser größter heimischer Dichter, Ferdinand von Saar gewürdigt und gelesen worden! Während Rosegger Ehren-Doktor der Heidelberger Universität geworden ist und seine Schriften bedeutende Auflagen aufweisen, dürften von Saar kaum 6000 Exemplare im Umlauf sein. Welchen Genuß aber bieten seine feinsinnigen meisterhaften Erzählungen [...]." Seinem Freund Stephan Milow gegenüber klagt Saar am 22.2.1903 über die sinkende Qualität des Theaters: „Zudem verliert man fast alle Lust, über litterarische Dinge zu verhandeln, denn es geht in dieser Hinsicht gar zu toll her. Es ist, als hätten die Leute all und jedes Urtheil verloren." (BrW 78). Hier spielt sicherlich auch die Verbitterung über die Mißerfolge seiner eigenen Dramen eine Rolle: 1867 fand das Trauerspiel Heinrich IV. bei der Leitung des Burgtheaters keine Resonanz; 1888 wurde von der Uraufführung Thassilos plötzlich Abstand genommen; 1904 wird Eine Wohltat nach nur vier Aufführungen abgesetzt (vgl. Bettelheim: SW l, S. 174). Milow gegenüber machte Saar aus seiner Verdrossenheit keinen Hehl: „Ich habe beim Theater stets die traurigsten Erfahrungen gemacht." (BrW 79, 27.6.1903). RoKek erkennt den Grund von Saars unermüdlichem Streben nach Bühnenerfolgen und seiner übergroßen Enttäuschung über den ausbleibenden Ruhm in einer spezifisch österreichischen fatalen Überbewertung des Theaters, an der das Erbe Grillparzers mitbeteiligt sei (vgl. S.535).

Gattung vorlag, als dessen Vertreter er sich empfand, wie aus einem Brief an Marie von Ebner-Eschenbach vom 20. Januar 1905 hervorgeht: Auch sollte einmal ein ö s t e r r e i c h i s c h e r Literaturhistoriker die Periode n a c h Grillparzer in Angriff nehmen und M. v. Ebner-Eschenbach, Hamerling, Anzengruber, Rosegger und Saar v e r e i n t behandeln und die Zusammenhänge nachweisen, die durch die Verschiedenheit der dichterischen Individualitäten, zwischen den Genannten bestehen. Das giebt einmal ein ordentliches, inhaltsvolles und bedeutendes Buch. Aber freilich: Dazu fehlt allen den Herren e i n e s . Nämlich der dazu notwendige G e i s t . (BrW 17)40

Die Deprimiertheit infolge des ausgebliebenen Dichterruhmes macht jedoch nur die eine Seite von Saars Resignation der letzten Lebensjahre aus. Denn zum mangelnden literarischen Erfolg gesellt sich auch das physische Gebrechen, das Saar immer mehr der Gewißheit aussetzt, sein Lebensziel - als erfolgreicher und berühmter Literat gefeiert zu werden - schon aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr erreichen zu können. Bereits vor der Jahrhundertwende hatte Saar gekränkelt und ein „Unterleibsleiden" brieflich erwähnt41. Im Herbst 1900 muß er wiederholt Besuche absagen wegen eines „Blasenkatarrhs" (s. BrW 70, 71). An anderer Stelle schreibt er von einem „peinlichen Übel", das ihn daran hindere, „das Döblinger Weichbild zu überschreiten"42. Rheumatismus

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Vgl. auch Nehring, S. 101; Besonders Ludwig Anzengrubers (1839-1889) Werke betrachtete Saar mit großer Bewunderung und schrieb dem Dichter über dessen Sternsteinhof am 26.2.1886: „Sie dürften aus einiger Erfahrung wissen, daß es nicht eben leicht ist, einem Autor etwas über sein Buch zu schreiben. Ihrem ,Sternsteinhof gegenüber wird es mir aber sehr leicht; denn ich habe nur ein einziges Wort hierher zu setzen. G r o ß a r t i g ! " (BrW 6). Shears (S.408) bestätigt Saar den Anspruch auf gemeinsame Betrachtung mit den genannten Zeigenossen; das 1992 erschienene Werk Rossbachers Literatur und Liberalismus (s. V.) sieht sich dieser Aufgabe verpflichtet: „Dem Wunsch Saars wird in diesem Buch zum größeren Teil entsprochen, aber der Wien-Bezug des Untertitels scheidet z.B. Peter Rosegger aus, und ähnliches gilt für Leopold Kompert, Karl Emil Franzos, Leopold von Sacher-Masoch." (S. 18). Vgl. Bettelheim: SW l, S. 170. Auch dem Intendanten des Stadttheaters Frankfurt a. M., Emil Claar, antwortete Saar am 15.5.1894 auf dessen Interesse am Thassilo, es sei zweifelhaft, „ob mir ein Unterleibsleiden", an dem er „seit Jahren laboriere, die Reise im Spätherbst oder im Laufe des Winters gestatten" werde (BrW 11). Vgl. BrW 1. Der ständige Stuhlabgang, den sein unheilbares Darmleiden verursacht (Vgl. BrW 59; s. auch III.I.e.), erfährt zu Beginn seines letzten Aufenthaltes auf Schloß Blansko im Winter 1904/1905 eine vorübergehende Linderung. 93

und Entzündungen plagen den alternden Dichter43, Ekzeme an seinen Fingern machen ihm das Schreiben unmöglich44. Am 8. Oktober 1901 teilt er Milow mit, es sei „eine starke Vergrößerung der Prostata als Ursache" seines „Leidens constatiert" worden (BrW 74). So wurde aus Sorge um Saars Gesundheit sein 70. Geburtstag zum Eintritt in das 70. Lebensjahr, also bereits an seinem 69. Geburtstag im Jahre 1902 offiziell begangen45. Zum 30. September 1903, Saars eigentlichem 70. Geburtstag, erscheint in der „Neuen Freien Presse" (am 19.9.1903) in der Rubrik „Mitteilungen aus dem Publikum" eine „Erklärung und Bitte": Seit längerem körperlich leidend, spreche ich hier öffentlich die Bitte aus, von meinem 70. Geburtstage umsoweniger Notiz nehmen zu wollen, als mir ja in dieser Hinsicht schon im vorigen Jahre von allen Seiten die ehrendsten und erfreuendsten Kundgebungen zuteil geworden sind. Wien-Döbling, 19. September 1903. Ferdinand von Saar.46

Saar sieht sich zu dieser Bitte um Abstandnahme gezwungen, da eine Prostata-Operation unumgänglich geworden ist. Am 5. August 1903 schreibt er an Karl von Thaler: Der Würfel ist gefallen. Ich war bei Dr. Gersuny, er hat mich unterrichtet und erklärt, daß eine Operation u n e r l ä ß l i c h sei. Keine gerade gefährliche, auch nicht s o f o r t nothwendige - aber je eher sie vorgenommen wird, je besser. (BrW 144)

Obwohl der Eingriff glücklich verläuft47, leidet Saar weiterhin an Unterleibsschmerzen und kann sich kaum aus dem Haus bewegen48. Seine für

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Vgl. Bettelheim: SW 1,170. Saar teilt Karl von Thaler am 25.1.1902 mit: „Ich hab' es [das Dankesschreiben] nicht geschrieben, da ich, noch immer (und zum Überfluß) mit einem Ekzem an a l l e n Fingern behaftet bin und eigentlich einen Sekretär brauchte." (BrW 142). Das Ekzem plagt ihn noch 1905, wie er am 14.6. an Karl von Thaler schreibt: „Zu all meinen Übeln hat sich nun wieder das böse Ekzem an den Fingern eingestellt, und an meiner Schrift wirst du erkennen, daß ich die Feder nicht recht halten kann. Und im übrigen s c h w i m m e ich infaecibus. Das sagt dir genug." (BrW 149). Vgl. Bettelheim: SW 1,171: Die Feier wurde vom Wiener Zweigverein der Deutschen Schiller-Stiftung angeregt. Zahlreiche Ehren wurden Saar zuteil, darunter eine Festschrift, Glückwünsche des österreichischen Unterrichtsministers und der Stadt Wien, Festartikel und Geschenke. Saar hat diese Notiz einem Brief an den Brünner Professor Emil Söffe vom 22.9.1903 (BrW 128) beigelegt. Seiner Kusine Therese von Saar schreibt Saar am 18.11.1903: „Liebe gute Terka! f...] Die O p e r a t i o n ist gut g e l u n g e n ; das Rudolfinerhaus habe ich verlassen - aber ich habe noch eine p e i n l i c h e N a c h b e h a n d l u n g durch zu

den Sommer 1904 geplante Abreise nach Blansko muß immer wieder verschoben werden49, der geschwächte Körper wird zudem immer öfter von Erkältungen heimgesucht50. Er klagt über die Verschlimmerung seines Augenleidens51, wodurch seine schriftstellerische Arbeit extrem behindert wird. Saars Zustand in Blansko nimmt kurz vor der Rückreise nach Wien bedenkliche Gestalt an. Zurück in der Hauptstadt kann er sich kaum noch auf den Beinen halten52, seine Wohnung nicht mehr verlassen und nur noch zwischen zwei und fünf Uhr nachmittags Besuche empfangen53. Infolge des Augenleidens darf er nicht länger als eine Stunde am Stück lesen und muß auch an kurzen Wintertagen das Sonnenlicht fliehen und sich in die rückwärtigen Räume der Haushälterin seiner

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machen, die wenigstens noch 3-4 Wochen dauern wird. G a n z g e s u n d werd ich (wenn überhaupt!) noch lange nicht sein!" (BrW 121; vgl. auch BrW 135). Am 9.3.1904 schreibt er an Karl von Thaler: „Aber seit Wochen bin ich derart . b e h i n d e r t ' , war nicht ein einziges Mal in der Stadt; [...] Auch sonst geht mir fast alles schief." (BrW 145). Am 25.7.1904 schreibt Saar an Max Morold: „Eigentlich sollte ich nach Blansko, um vieles Nötige in Ordnung zu bringen - wie soll ich aber bei meinem Zustande reisen?" (BrW 90). Am 22.8.1904 teilt er Karl von Thaler aus Döbling mit: „Ich bleibe bis auf weiteres hier: Denn zu meinen sonstigen Übeln hat sich nunmehr auch ein sehr lästiger G ü r t e l a u s s c h l a g gesellt [...]." (BrW 146). Vgl. BrW 154, 148; s. auch III.I.e. Vgl. BrW 147, 37; s. auch III.I.e. Nach seiner Ankunft in Wien schreibt Saar am 16.6.1905 an Karl von Thaler: „Bin vorgestern Abend hier eingetroffen - im j ä m m e r l i c h s t e n Zustand. B e s t ä n d i g e s Kotfließen; dabei starken Augenkatarrh. Es ist daher nicht daran zu denken, daß ich in die Stadt komme." (BrW 150). Sein Zustand hatte sich schon in Blansko drastisch verschlimmert, wie er seiner Kusine Therese am 20.7.1905 mitteilt: „Wie du siehst, bin ich in Wien, weil ich bei meinem leidenden Zustand eine größere Wohnung brauche und mich in meinem kleinen Blansko [...] gerade im Sommer sehr beengt fühle. Denn ich kann ja leider fast gar nicht ausgehen, da auch die Beine schon den Dienst versagen. Mein Oberleib samt dem Schädel ist noch gesund - im übrigen aber sieht es s e h r t r a u r i g mit mir aus ..." (BrW 124). Auch an den Brünner Professor Emil Söffe schreibt Saar am 2.10.1905: „Verehrter Freund! Bin gänzlich verkehrsunfähig. Der Oberleib mit Einschluß des Schädels ist aber noch ziemlich in Ordnung - und so will ich mein letztes Lebensziel schaffend ausruhen so weit es gehen kann ..." (BrW 131). Auf den Vorschlag eines Besuches sendet Saar seiner alten Bekannten Gizella von Vlahovszky am 18.7.1905 folgende Postkarte: „Verehrte Freundin! Jeden Tag zwischen 2 u. 5 Uhr N.M. Nicht früher und nicht später. Bin sehr leidend." (BrW 155). Auch Elsa Milow, der Frau seines alten Freundes, teilt Saar am 14.9.1905 durch eine Postkarte mit: „Mir geht es etwas schlechter als früher, so daß ich auch s e h r l i e b e Besuche nur zwischen 2 u 5 Uhr N.M. empfangen kann." (BrW 63). 95

Wohnung in der Rudolfmergasse zurückziehen54. In seinen Briefen finden sich erste Zeugnisse, in denen Saar sein Ende als Befreiung bezeichnet55; dazwischen tauchen immer wieder Belege einer vagen Hoffnung auf Heilung auf. Hatte er am 21. Dezember 1905 noch an Stephan Milow geschrieben: Es kann ja sein aber ich glaube es nicht, daß ich den Sommer noch erlebe. Ich kann es auch nur aufs innigste wünschen - denn meine Leiden sind schon in Folge ihrer Ekelhaftigkeit unerträglich... (BrW 84)

- so notiert er Weihnachten 1905 folgendes Gedicht (HN 2): Für das Jahr 1906 Möchte mit des Mundes Hauch, Mit der Zigarette Rauch Doch Dein schweres Leid verfliegen Oder so wie Asche auch Hier in diesen Schälchen liegen!

Statt dessen nimmt im Jahr 1906 mit dem Fortschreiten des Leidens, bei dem es sich - soweit man dies der Korrespondenz entnehmen kann allem Anschein nach um Darmkrebs handelt56, auch die Resignation zu. Denn parallel zur wachsenden Einsicht, daß ihm später Dichterruhm verwährt bleiben werde, wird Saar auf tragische Weise der Dichterberuf allein physisch unmöglich. Schon am 15. November 1903 hatte er geklagt: „... das Schreiben wird mir zur Qual, da ich auch nicht ordentlich s i t z e n kann." (BrW 80) Im Sehen behindert ist er „von V2 5 Uhr N.M.

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Am 31.7.1905 schreibt Saar an Emil Söffe: „Nunmehr bin ich aber auch ganz fertig, was mich umsomehr niederdrückt, als ich auch nicht mehr lesen kann, denn meine Augen versagen schon nach einer Stunde den Dienst. Sie sehen also, welch ein Leben ich führe " (BrW 130). An Marie von Ebner-Eschenbach schreibt er am 27.12.1905: „Aber leider geht's mir wirklich von Tag zu Tag schlechter. Und obendrein noch ein Augenkatarrh, der mir das Lesen und Schreiben ungemein erschwert." (BrW 20). Vgl. BrW 84, 85a. Saars genaues Krankheitsbild - wie es die Ärzte seiner Zeit beschrieben haben ist leider nicht mehr zu rekonstruieren. Eine Krankengeschichte ist auch in der Klinik „Rudolfmerhaus" in Wien-Döbling nicht erhalten; vielleicht wurde von den behandelnden Ärzten keine geführt. Denn erst das „Gesetz vom 15. Juli 1920 über die Errichtung, die Erhaltung und den Betrieb öffentlicher Heil- und Pflegeanstalten (Kuranstaltengesetz)" schreibt in §26 vor, „über die Ergebnisse der Untersuchung und Beobachtung der Kranken sowie über deren ärztliche Behandlung [...] K r a n k e n g e s c h i c h t e n fortlaufend zu führen" (s. Staatsgesetzblatt, Nr.327, IV. Abschnitt, §26).

an zum Nichtstun verurteilt" (BrW 37)57. Im folgenden Winter - seinem letzten - wird Saar auf diese Weise auch das Aufrechterhalten von brieflichen Kontakten schwer. In der dünner werdenden Korrespondenz des Jahres 1906 findet sich ein kurzes Schreiben an Stephan Milow, ein kleiner Zettel mit dem Datum 24.4.1906, der äußerlich geradezu wie ein ,Hilferuf* wirkt, auf den Saar mit Bleistift „Herzliche Grüße! Es geht mir m i s e r a b e l . Saar." gekrakelt hat (BrW 85a). „Bin auf den L e h n s t u h l angewiesen." schreibt er am 27. April 1906 an Emil Söffe, „Muß daher mit Bleistift schreiben, was ich zu entschuldigen bitte." (BrW 133) Aus diesen letzten unleserlichen Schreiben spricht, daß schon die körperlichen Leiden Saars schriftstellerischer Laufbahn ein Ende setzen. Physisch gebrochen muß der einsame, verwitwete Dichter, der keine Nachkommen hat, erleben, daß seine Werke ungelesen von den Produkten einer neuen Epoche beiseite gedrängt werden. Die Krankheitsgeschichte Saars und die Entwicklung seiner psychischen Verfassung in seinen letzten Jahren zeigen deutlich, wie sehr sich das physische Ende mit dem literarischen verbindet, wie die erlebte Depression - als „Schmerz meines Lebens" (BrW 55) in den Pfründern formuliert - sich im körperlichen Niedergang manifestiert. Die letzten Lebensmonate scheint Saar nur noch auf das verzögerte Erscheinen seiner Tragik des Lebens - gleich einem letztem Ausrufezeichen an seinem Lebensabend - zu warten, die nach zehnmonatigen Verhandlungen endlich im Mai 1906 auf den Markt kommt58. „Fast am Jahrestag des Endes seiner 57

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Im selben Brief aus Blansko an Louise von Gomperz vom 6. Februar 1905 beklagt Saar, daß er „bei Lampen- oder Kerzenlich[t] kein Buch und keine Feder anrühren" dürfe. Das Gefühl der Befreiung durch die Publikation der eigenen Manuskripte ist unter Schriftstellern kein Einzelfall. Schon Goethe konnte mitteilen, sich durch seinen Werther aus einer verstrickten Lebenslage befreit zu haben, in die er während seiner Wetzlarer Zeit geraten war. In Dichtung und Wahrheit (s. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 9, Hg.: Erich Trunz. 11. Aufl., München 1982. [zitiert Goethe: Werke 1-14.]) schreibt er, „ich hatte mich durch diese Komposition, mehr als durch jede andere, aus einem stürmischen Elemente gerettet, auf dem ich durch eigene und fremde Schuld, durch zufällige und gewählte Lebensweise, durch Vorsatz und Übereilung, durch Hartnäckigkeit und Nachgeben auf die gewaltsamste Art hin und wieder getrieben worden. Ich fühlte mich, wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frei, zu einem neuen Leben berechtigt." (S.588, Z. 11-19). Während sich Goethe durch seinen Werther zu neuem Leben befreite, zeigen andere Beispiele dieselbe Funktion, jedoch in ihr Gegenteil verkehrt - als Befreiung zum A b l e b e n . Ein derartiges Beispiel aus der Moderne bildet das Buch Mars - 1976 unter dem Pseudonym Fritz Zorn erschienen - mit welchem der krebskranke Verfasser die Ursachen seines Leidens zu erfassen vermeinte. Tatsächlich blieb der vom Tode Gezeichnete entgegen ärztlicher Prognosen 97

Frau," berichtet der Biograph Anton Bettelheim, „am 23. Juli 1906, jagte er sich aus einer alten, noch aus seiner Leutnantszeit stammenden Pistole eine Kugel in die Schläfe."59 Den Zusammenhang von psychischer Auflösung und fortschreitendem physischem Leiden haben Saars Zeitgenossen nicht gesehen, oder doch aus Höflichkeit den schwerkranken Dichter immerwieder zur Fortführung der Arbeit ermuntert60. Sie begriffen nicht, daß die Krankheit das Dichten vereitelte - daß aber das Ende des Dichtens und der ausbleibende Erfolg dem Dichter die Lebensgrundlage entzogen. Gerade das Zusammenwirken von physischem Leiden und künstlerischer Resignation machten Saars Tragödie aus - wenn sie einander nicht gar bedingten.

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solange am Leben, bis sein Manuskript - mit der Hilfe von Adolf Muschg - einen Verleger gefunden hatte. Im Klappentext der vorliegenden Ausgabe heißt es: „Am Abend des ersten November erfuhr der Verfasser von seinem Psychotherapeuten, der ihn im Spital besucht hatte, daß der Kindler Verlag das Manuskript zur Veröffentlichung angenommen habe. Anschließend verwirrten sich seine Gedanken. Am nächsten Morgen, um fünf Uhr, starb der tödlich Erkrankte." (Fritz Zorn: Mars. 11. Aufl. München 1977). Bettelheim: SW 1,178. Ella Hruschka schreibt Saar zu seinem 72. Geburtstag am 25.9.1905: „Bezüglich Ihres Leidens sollten Sie doch noch andere Ärzte konsultieren. [...] Möge Ihnen der 30. September recht viel Erfreuliches bringen und möge die Wendung zum Besseren in Ihrem Befinden nicht mehr lange auf sich warten lassen." (BrW 50). Marie von Ebner-Eschenbach teilt Saar noch am 6. Juli 1906, wenige Wochen vor seinem Selbstmord, mit: „Daß Sie ihre dichterischen Pläne, besonders den Plan zu einem Drama doch ausführen wollten! Für einen Schaffenden ist die Arbeit das allerbeste Heilmittel, der einzige Trost, der einzige Leitstern zur wenigstens relativen Zufriedenheit." (BrW 28). Auch ein Nachruf in der Grazer Tagespost vom 25.7.1906 spricht die unglücklichen Ermunterungen durch gutmeinende Freunde an (vgl. Anonymus): „Doch ließ sich Saar immer leicht trösten, bekam wieder Mut und war guter Dinge. Er täuschte sich dann selbst über seinen Zustand hinweg, zumal man ihm einredete, daß dies nur eine leichte Krankheit sei, die vom vielen Sitzen am Schreibtisch herrühre u.s.w." Die Sekundärliteratur entwirft hingegen gar die These vom Zusammenfall von Dichtung und Realität bei Saar, wie Herbert Klauser schreibt (s. Klauser: Vergänglichkeit, S.234): „Erschütternd ist die Tatsache, daß die Kongruenz zwischen Dichtung und Leben bei Saar so weit ging, daß er das Motiv des Selbstmords, das in seinen Novellen so sehr dominierte, aus der Sphäre der Kunst in die Realität seines Lebens transportierte. Die Schmerzen, die ,ein schweres unsäglich quälendes körperliches Leiden' verursachten, wurden schließlich unerträglich für ihn, und sie stürzten ihn in einen Abgrund der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, aus dem ihm ähnlich wie General Brandenberg kein anderer Ausweg möglich schien als der Griff zur Pistole, als die Flucht in den Tod."

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b. Der Hauptmann Karl von B. Obwohl die letzten Lebensjahre Ferdinand von Saars anhand der Korrespondenzen und Aufzeichnungen von Biographen umfassend rekonstruiert werden können, finden sich kaum Zeugnisse, die Aufschluß über Hymen geben. Lediglich in vier eigenhändigen Briefen, die aus dem Frühjahr 1905 stammen, erwähnt Saar die Erzählung überhaupt61; nur in einem davon wird sie mit Titel genannt (BrW 94). Über den Inhalt oder die Entwicklung des Stoffes wird nichts preisgegeben. Dies ist um so erstaunlicher, als Saar sonst fast regelmäßig seine Werke in Korrespondenzen erwähnt; auch über die anderen Erzählungen der letzten Lebensphase sind zahlreiche schriftliche Zeugnisse erhalten. Dementsprechend kann über die Stoff- und Werkgeschichte Hymens - wann der Autor das Sujet entwickelte und wie er bei der Abfassung vorankam - vielfach nur spekuliert werden. Den dünnen brieflichen Befund zu Hymen bereichert hingegen ein Fragment mit dem Titel Der Hauptmann Karl von B., das in mancher Hinsicht als Vorläufer von Hymen angesehen werden kann. Da das Fragment nicht datiert ist, kann nicht eindeutig geklärt werden, ob sich Saar mit dem Stoff wirklich „lange getragen" hat, wie Jakob Minor in der editorischen Vorbemerkung seiner Ausgabe von Hymen aus dem Fragment ableitet, das er als „älteres Blättchen" bezeichnet (SW 12,67). Daß der Hauptmann Karl von B. sich beim Italienfeldzug 1859 eine Verwundung zugezogen habe, wie das Fragment berichtet, deutet noch nicht darauf hin, daß Saar es in den Nachkriegsjahren, also zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn, verfaßt haben muß. Verschiedene Beobachtungen scheinen jedoch die Annahmen Jakob Minors zu bestätigen. Auf eine Entstehung zumindest vor der Jahrhundertwende - wenn nicht sogar zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt - lassen folgende Aspekte schließen: Zum einen deutet die Schreibung von „Theilnahme" (60,2) darauf hin, daß das Fragment vor der Orthographiereform 1901 entstand, da Saar sich bei seinen späteren Manuskripten an die neuere Schreibweise hält62. Zum anderen scheint der Stil des Fragments es als Zeugnis einer früheren Schaffensweise auszuweisen. Formulierungen 61

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BrW 46, 148, 149, 94. Schon am 25.6.1900 war Saar von seinem Verleger Georg Weiß aufgefordert worden, sich an die neue Rechtschreibung zu halten. In dem Schreiben heißt es: „Würden Sie sich nicht entschließen können, die amtliche Schulorthographie anzunehmen? Den Buchdruckern ist die Orthographie nach jedes Verfassers anderer Meinung ein Greuel und eine Qual, und uns Buchhändlern auch." (BrW 160).

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wie „bei meinem Interesse für Lebensläufe in absteigender Linie" (60, If.) oder der sehr lange, umständliche dritte Satz (60,6-13) zeugen nicht von der geschliffeneren, knapperen Sprache des Spätwerks. Die zweite Frage, ob es sich bei dem genannten Fragment nun um eine bloße Notiz oder um eine frühere Fassung der Erzählung handelt, kann ebensowenig mit letzter Sicherheit beantwortet werden. Aus seinen Korrespondenzen geht nicht hervor, ob Saar jemals einen authentischen Hauptmann Karl von B. kennengelernt hat. Einige Anhaltspunkte in der äußeren Form des Fragments (s. 1.3.) legen jedoch die Vermutung nahe, daß es sich um eine literarische Aufzeichnung, ja tatsächlich um eine frühe Fassung der Erzählung handelt. Denn das Manuskript Der Hauptmann Karl von B. zeigt mit demjenigen von Hymen eine große äußerliche Ähnlichkeit. Auch im Vergleich zu früheren Handschriften (etwa Ninon [WrStB I.N. 3478, verfaßt 1897] oder Die Steinklopfer [WrStB I.N. 37.556, verfaßt 1873]«) fallen einige Merkmale auf, welche das Manuskript des Fragments mit jenen von Saars Erzählungen gegenüber sonstigen eigenhändigen Notizen oder Briefen gemein hat: so etwa das offensichtliche Unterlegen eines Linienblattes; der Abstand des Textbeginns von etwa 6 cm zum oberen Seitenrand; das Einrücken der Absatzanfänge um etwa 2,5 cm, während der fortlaufende Text keine Seitenränder läßt; das Paginierungsverfahren der quergefalteten Blätter von Hand des Autors, auch wenn das Fragment Der Hauptmann Karl von B. keine (paginierte) Titelseite aufweist. Schließlich stimmt auch das Schriftbild des Fragments mit jenen der Manuskripte von Hymen, Ninon und Die Steinklopfer überein, so daß sich die Vermutung aufdrängt, es handle sich hierbei um eine frühere Fassung von Hymen. Eine Datierung des Fragments kann aufgrund dessen freilich nicht vorgenommen werden, da die zitierten sich ähnelnden Handschriften einem Zeitraum von 37 Jahren entstammen. Zwar sind während dieses Zeitraums auch Manuskripte mit anderem Erscheinungsbild entstanden, wie z.B. die Fragmente von Schloß Kostenitz (WrStB I.N. 18.456, datiert [von fremder Hand?] „Raitz 27 October 1890"), wo Saar einen breiten Rand ließ (für einzelne Anmerkungen oder Korrekturen), die Bögen auch rückseitig beschrieb, offensichtlich kein Linienblatt benutzte und insgesamt das Schriftbild weniger ordentlich ist. Offenbar handelt es sich hierbei jedoch um Aufzeichnungen, die nicht für den Druck bestimmt waren, während sich das Erscheinungsbild der für die

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HN 1: Hier hat Saar offensichtlich Entstehungszeit und -ort seiner Manuskripte notiert.

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Weitergabe an die Verlage bestimmten Manuskripte in dem genannten Zeitraum kaum veränderte64. Aus welchem Zeitraum das Fragment nun stammen mag - gewichtige inhaltliche Beobachtungen sprechen dafür, in dem Fragment Der Hauptmann Karl von B. den Grundstein der späteren Erzählung Hymen anzunehmen65, denn der Hauptmann Karl von B. trägt Züge Sandeks; noch deutlicher erinnert die „Mätresse des Fürsten" (60,21) an die Hofrätin Maja. Mit der Einführung der Verhältnisse dieser Gattin - war sie doch mit einem „angesehenen Manne" verheiratet (60,20) - reißt Saar die gleiche Personenkonstellation auf, die später in der Umgebung der Hofratsgattin Maja entsteht. Die Verstrickung des gebildeten, aber genügsamen Hauptmanns Karl von B. in eine seelisch verheerende Situation wird durch den Hinweis auf seinen Lebenslauf „in absteigender Linie" (60,2) sowie durch den Hinweis, er würde sich ohne seine „leidenschaftliche Neigung" (60,18) zu der Fürstenmätresse zufrieden gefühlt haben, angedeutet. Der Ich-Erzähler bezeichnet ihn als zu willensschwach, um der verführerischen Dame zu widerstehen, wie auch der Ich-Erzähler in Hymen den Hauptmann Sandek „nach Art schwacher Geister und untiefer Naturen" (26,5) charakterisiert. Daß es mit der Fürstenmätresse nicht gut ausgehen wird, deutet das Ende des Fragments an („So lange ihre Reize in voller Pracht standen, hatte"; 60,22f); auch die Hofrätin wird im Alter verbittert und „schwer krank" (33,14). Freilich bleiben zahlreiche psychologische Aspekte, die später in Hymen zum Tragen kommen, unerwähnt. Ebensowenig erfahren wir etwas über die persönliche Reife oder eine generelle Neigung des Hauptmannes Karl von B. zu älteren, verheirateten Damen, wie sie Sandek an den Tag legt. So wird der Hauptmann Karl von B. auch nicht als weibischer Jüngling charakterisiert, der - wie später Sandek - an militärischen Hürden scheitert, sondern vielmehr als der begabte und „vielseitig gebildete" (60,7) Veteran des Italienfeldzuges vorgestellt, dessen Kriegsverwundung seine militärische Laufbahn beschneidet und 64 65

Das Manuskript von Ninon (WrStB I.N. 3478) macht sogar den Eindruck einer Abschrift einer früheren Handschrift, da sich hier fast keine Korrekturen finden. Charue: Determinismus, S.262: Die Sekundärliteratur, soweit sie sich zu dem Fragment geäußert hat, geht wie selbstverständlich von der U r fas sung einer Erzählung aus. Charue etwa sieht in der Formulierung „in absteigender Linie'" einen für Saar typischen Beginn einer Erzählung und weist auf die Parallele in Die Geigerin hin, wo es heißt: ,,Ich bin ein Freund der Vergangenheit. [...] So fühl' ich mich stets zu Leuten hingezogen, deren eigentliches Leben und Wirken in frühere Tage fällt und die sich nicht mehr in neue Verhältnisse zu schicken wissen." (KTD 2, S.9). 101

ihn an eine Schreibtischtätigkeit fesselt. Daß die ungleiche Liaison zwischen dem verwundeten Krieger und der rücksichtslosen ,femme fatale' zu nichts Gutem führen wird, läßt sich hingegen schon erahnen. Mögen der Hauptmann Karl von B. und die laszive Fürstenmätresse nun literarische Figuren sein - für sie gilt gleich dem übrigen Personal in Saars Dichtung, was der Autor an anderer Stelle über sein erzählerisches Werk an Abraham Altmann schreibt: Sehr richtig ist, was Sie über mich als Lyriker [...] und Novellisten sagen. Als letzterer bin ich Kleinmaler [...] und ö s t e r r e i c h i s c h e r P o r t r ä t i s t nicht blos nach Oben, sondern nach allen Seiten hin. Daher sind auch alle meine Novellengestalten Original = das heißt wirklich g e s c h a u t e Figuren, wenn auch die H a n d l u n g fast ganz m e i n e Erfindung ist. Nur das „Requiem" habe ich „schaudernd selbst erlebt". Und gerade da habe ich mich auch selbst maskiert, während ich sonst meine Individualität als die des „Erzählers" hervortreten lasse. Viele Leser berührt das unangenehm, weil sie den Eindruck erhalten, als wolle ich meine Person v o r d r ä n g e n . Es ist aber nur ein künstlerischer Notbehelf, mittelst welchem allein ich meine Vorwürfe gestalten kann, indem ich mich gewissermaßen als Zuschauer und Beobachter gegenüberstelle. So erhalten dann meine Novellen das Gepräge des Selbst- oder Miterlebten, das die Lesewelt geringer anzuschlagen pflegt, als sogenannte „frei erfundene" Kunstwerke. Wie viel „freie Erfindung", wie viel „Kunst" in diesen meinen Arbeiten steckt, ahnt man nicht einmal. (BrA, S.67f.)

Dieses Zitat eröffnet nun eine weitere Deutungsmöglichkeit des Fragments. Demnach ist denkbar, daß der Hauptmann Karl von B. eine derartige „wirklich geschaute" Figur ist, die Saar unter einem Pseudonym auftreten läßt, wie es des öfteren in seinen Erzählungen geschieht66. Möglich ist, daß Saar noch als Militär tatsächlich einen Hauptmann kennenlernte, der das Schicksal des Hauptmanns Karl von B. erlitt - und Vorbild auch für Sandek wurde. Ob die Zuordnung seiner Person zur verführerischen Fürstenmätresse - wie später Sandeks67 - in Analogie zum Zitat „freie Erfindung" ist, kann nicht geprüft werden. Denn Saar formulierte stets verschlüsselt und erwähnte seine Zeitgenossen niemals namentlich, noch stellte er sie authentisch dar68. Auch in Hymen werden Namen ausgespart (s. 30,16; 30,17f.). 66 67

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So z. B. ,Herr A' (Marianne) oder ,Z' (Ninon). Dafür spricht, daß der Beginn des Manuskriptes kaum Korrekturen aufweist. Stand die Vorgeschichte Sandeks (59,17-60,40) Saar zu Beginn der Formulierung Hymens (noch) deutlich vor Augen? Vielleicht zählt für Saar zu den „wichtigen Gründen" (BrW 82), nach Blansko zu reisen, auch das existentielle Bedürfnis, die Figur des Hauptmanns Karl von B. und sein Schicksal endlich zu formulieren, um sich von dem Stoff, der ihn bedrückt, regelrecht ,zu befreien'. Schon früher (am 24.1.1886) hatte er seinem Freund, dem Schriftsteller und Redakteur der Wiener Neuen Freien Presse Karl von Thaler, über Thassilo Ahnliches geschrieben: „Du weißt, daß ich die Arbeit

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Der autobiographisch anmutende Beginn des Fragments, der die Annahme aufkommen läßt, es handle sich hierbei um eine persönliche Notiz, wirkt im Lichte des obigen Zitats, welchem zufolge Saar in seinen Erzählungen seine „Individualität als die des ,Erzählers' hervortreten" läßt, gerade wie ein weiterer Hinweis darauf, daß es sich bei dem Fragment um eine frühe Fassung einer Erzählung handelt. Das Fragment führt ähnliche Protagonisten und einen ähnlichen Problemkomplex ein wie jener, der später in Hymen behandelt wird. Eine weitere Beobachtung kann hier angeschlossen werden, die zum einen nahelegt, in dem Fragment Der Hauptmann Karl von B. einen Vorläufer von Hymen anzunehmen, zum anderen das oben zitierte Verhältnis von Saars Biographie zu der Figur des Erzählers in seinen Werken bestätigt: Bei der aufmerksamen Untersuchung der Zeitstruktur von Hymen (s. IV. 1.a.) fällt auf, daß die einzige - noch dazu ungenaue - Angabe einer Jahreszahl, die in der Erzählung gemacht wird („Zu Anfang der siebziger Jahre [...]" 13,16) auf die Zeit um 1860 zurückführt, als der IchErzähler und Sandek das letzte Mal vor dem Besuch des Hauptmanns beim Ich-Erzähler („nach mehr als einem Jahrzehnt" 14,35) zusammengetroffen waren. Auch damals hatten sie sich schon einige Jahre gekannt - also schon während der späten 50er Jahre. Diese rekonstruierbaren Daten der Erzählung decken sich auffällig mit den persönlichen Lebensdaten Saars. Bereits 1849 tritt Saar als Kadett in das kaiserliche Heer ein, wird 1854 zum Offizier befördert und quittiert im Mai 1860 den Dienst, um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen69. Im Zusammenhang mit dem obigen Zitat wird nun denkbar, daß auch Sandek ein authentisches Vorbild in Saars eigener Biographie hat, und zwar - falls das Fragment tatsächlich ein Vorläufer Hymens ist - das-

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schon aufgegeben hatte; aber die Gestalten, namentlich der Luitberga (vielleicht die Einzige, die Du nicht genug in ihrem Wesen gewürdigt hast) ließen mir keine Ruhe: ich mußte sie endlich von mir geben - um einigermaßen nicht daran zu ersticken." (BrW 137). An Anton August Naaff, der wiederholt über Saar publizierte, (u.a. in: Deutsches Tagblatt (Wien), Jg. 5, Nr. 95, 5.4.1908, S.lf; Nr. 101, 11.4.1908, S.lf; Die Lyra. Wiener allgemeine Zeitschrift für die literarische und musikalische Welt, Jg. 20, 1897, Nr. 2, S.28; Nr. 3, S.40; Deutsches Tagblatt. Darin: Einige Erinnerungen an den Dichter nebst bisher ungedruckten Briefen Saars. Wien, Nr. 95, 5.4.1908, S.lf., Nr.101, 11.4.1908, S.1-3) schreibt Saar über den genannten Zeitraum am 9.9.1893: „Da mein Vormund nach dem Jahr 1848 die Zeit zur Fortsetzung des Studiums nicht für günstig hielt, so trat ich nach der sechsten (damals letzten Classe) des Gymnasiums, als Cadet in das Regiment N°- 16 und wurde 1854 zum Offizier befördert. [...] Im Mai 1860 quittierte ich meine Lieutnants-Charge [...], um mich ganz der Litteratur zu widmen." (BrW 102). 103

selbe wie der Hauptmann Karl von B. Dafür spricht, daß sich - da der Hauptmann Karl von B. als Kriegs veteran von 1859 bezeichnet wird die Lebensdaten beider Figuren mindestens dem Alter und dem Dienstgrad nach, ja sogar in bezug auf das Scheitern der militärischen Laufbahn (auch wenn zwei unterschiedliche Gründe dafür vorliegen) gleichen. In diesem Licht scheint es abermals plausibel, daß es sich bei dem Manuskript Der Hauptmann Karl von B. um den Beginn einer nicht datierbaren frühen Fassung von Hymen handelt. Möglicherweise reicht die Geschichte des Erzählstoffes in Saars Biographie zurück, vielleicht sogar bis in die Militärzeit. Dafür spricht auch, daß die Thematik der Sexualität und Partnerschaft, die später auch den Kern von Hymen ausmacht, wenig in die letzte Lebensphase des alten kranken Mannes paßt. Sollte Saar bei der Niederschrift des Hauptmanns Karl von B. - zu welchem Zeitpunkt dies auch geschehen sein mag - eine „wirklich geschaute Figur" (vielleicht sogar eine Bekanntschaft aus Zeiten des Italienfeldzuges 1859, an dem Saar selbst teilnahm70) vor Augen gestanden haben, so wäre der Grundstein von Hymen bereits in den ersten Jahren von Saars schriftstellerischem Schaffen gelegt worden. Von welchem Zeitpunkt an Saar jedoch beabsichtigte, das Fragment (sofern es sich um eine frühe Fassung von Hymen handelt) zur Erzählung umzuarbeiten, kann anhand der überlieferten Quellen, seinem handschriftlichen Nachlaß und den Briefwechseln nicht definitiv rekonstruiert werden. Verschiedene Motive Hymens tauchen - neben Parallelen in Vae Victis! - schon in einem Fanuschka betitelten Fragment auf, das offensichtlich einen Vorläufer der Erzählung Außer Dienst (1904) darstellt und „6. Jänner 1902" datiert ist71. Die ambivalente Person der Hofrätin wird hier bereits mit den Worten eingeführt: Sie war schon über Dreißig, ganz verblüht - und eigentlich häßlich: Aber sie besaß Geist und hatte den Teufel im Leib. Sie war - was ich so nach und nach herausbrachte - in einen jüdischen Litteraten verliebt, der sie aber nicht mehr mochte. Aus Verzweiflung darüber hatte sie sich mir, um zu vergessen, förmlich in die Arme geworfen. Sie vermochte es aber nicht und gab mir eines Tages Knall auf Fall den Fußtritt. Und ich war verliebt in sie wie ein Narr. 72

Mit Recht weist Stockert darauf hin, diese Stelle „sei ein weiteres Beispiel dafür, wie eine Novelle bei Saar aus der anderen herauswächst."73 Auch hieraus ließe sich ableiten, daß der Stoff zu Hymen 70 71 72 73

Bettelheim: SW 1,29. Vgl. Stockert: Anatomie, S.216ff. Fragment in der WrStB, I.N. 18.498. Stockert: Anatomie, S.lSOf.

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wohlmöglich nicht Saars letzter Schaffensperiode entsprungen ist, sondern den Dichter seit langem beschäftigte (s. III.l.b.-c.).

c. Die Abfassung der Erzählung in Blansko So wenig der Entstehungszeitraum des Fragments Der Hauptmann Karl von B. datiert werden kann, so wenig kann mit Sicherheit geklärt werden, ob Saar vor seiner Abreise nach Blansko bereits beabsichtigte, das Blättchen umzuarbeiten, oder ob Hymen ein ,Nebenprodukt' seines letzten mährischen Winters ist, während dessen er eigentlich Die Familie Worel, Sappho und Die Pfründner verfassen wollte. Daß im Mittelpunkt des ursprünglich früher geplanten Aufenthaltes die Ausgestaltung älterer Stoffe stand74, belegt Saars Korrespondenz jener Zeit. Mit Blick auf die Reise nach Mähren, die im Rückblick wie ein letztes Sich-Aufraffen wirkt, um das literarische Werk zu vollenden75, schreibt der schon schwerkranke Dichter dem Brünner Professor und Literaturhistoriker Emil Söffe am 14. April 1904: Sommerpläne hahT ich für Blansko gefaßt - und wenn ich überhaupt r e i s e f ä h i g bin, so dürfte ich Ende Juli dort eintreffen - und dann überwintern. E i n Jahr möcht' ich noch haben, um die Arbeiten, die noch auf mir liegen, fertig zu bringen! (BrW 129)

74

75

Schon früher (am 8.7.1902) hatte Saar an seinen jahrzehntelangen Vertrauten Stephan Milow geschrieben: „Mit dem Arbeiten geht es jetzt auch nicht. Ich habe zwar ein paar Novellenstoffe im Kopf, aber noch nicht so entwickelt, daß ich mit der Ausführung beginnen könnte." (BrW 77). Saar bezieht sich hier wohl auf Die Familie Worel und Sappho, da er zwei Jahre später, am 14.10.1904, Milow mitteilt: „Geschrieben hab' ich allerdings zwei Novellen, die, wie ich glaube, nicht übel geworden sind. Habe sie zwei Jahre lang in mir herumgetragen - und so könnt ich sie endlich auch loswerden." (BrW 82). Daß Saar auch über Die Pfründner hinaus noch über Novellenstoffe verfügte, belegt ein Schreiben an den Verleger Fritz Freund vom Wiener Verlag. Dort beantwortet er dem neuen Verleger parallel zu den Verhandlungen für die Tragik des Lebens (vgl. III.2.a.) eine Anfrage nach einer Erzählung für die erste Nummer der Zeitschrift Der Weg (BrW 172). In dem Brief vom 10.9.1905 heißt es: „Die ,Pfründner' sind wohl meine letzte Novelle. Denn ich bin 72 Jahre alt - und kein Paul Heyse. Zudem bin ich s e h r krank. Ich habe zwar zwei Novellenstoffe in petto - ob und w a n n ich sie aber werde ausführen können, steht dahin." (BrW 34).

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Wegen seines Leidens muß Saar den Aufenthalt mehrmals verschieben76; noch zwei Tage vor der geplanten Abreise am 4. November 190477 stellt sein körperlicher Zustand die Fahrt in Frage78. Welche „Arbeiten" Saar gemeint haben mag, die er vor seinem drohenden Ableben zustande bringen will, wird aus zwei anderen Briefen ersichtlich. Am 25. Juli 1904 schreibt er an Stephan Milows Sohn Max: Indessen habe ich doch an den 3 Geschichten, die ich begonnen, weitergearbeitet, und hoffe sie, sobald ein Moment innerer Freiheit bei mir eintritt, auch relativ rasch fertig zu bringen. Dieser glückliche Moment wird aber leider auf sich warten lassen, da sich die äußeren Umstände immer ungünstiger fügen. [...] (BrW 90)

Und am 30. September 1904 - zwei Monate später - nennt er Max Morold die Titel jener Erzählungen: War in den letzten zwei stillen Monaten fleißig. Habe 2 Novellen geschrieben: „Sappho" u. „Herr Worel und seine Familie". Die „Pfründner" sind noch in Arbeit. (BrW 92)

Weil also die Abreise nach Blansko aus Krankheitsgründen immer wieder verschoben werden mußte, waren Die Familie Worel und Sappho (die später zusammen mit Hymen und Die Pfründner im Band Tragik des Lebens erschienen) schon in Wien beendet worden79. Die Pfründner harrten offensichtlich ihrer Vollendung: Ich habe vor, mich nach Blansko zu begeben, aus mehrfachen, f ü r s e l b s t w i c h t i g e n Gründen. (BrW 82)

mich

Zu diesen für ihn „selbst wichtigen Gründen", die er Stephan Milow gegenüber am 14. Oktober 1904 erwähnte, gehört offensichtlich die Vollendung der Pfründner. Saar bezeichnet diese Arbeit immer wieder als seine letzte80, und bewußt setzt er sie ans Ende seines literarischen Schaffens wie ein deutliches Ausrufezeichen. 76

77 78

79

80

Vgl. BrW 90. Am 24.10.1904 teilt Saar Max Morold mit: „Auch habe ich beschlossen, am 4* November nach Blansko abzureisen [...] (BrW 93). Im Brief vom 2.11.1904 bittet Saar Moritz Lederer, von einem Besuch abzusehen und erläutert: „[...] da sich meine Zustände in letzter Zeit verschlimmert haben, [ist es] immer noch fraglich, ob ich wirklich abreise." (BrW 58). Das Manuskript von Sappho (WrStB I.N. 3477) ist „Döblmg, Sommer 1904" datiert; an Max Morold hatte der bereits schwerkranke Saar noch am 28.7.1904 geschrieben: „Ich selbst hoffe trotzdem und alledem meine ,Sappho' noch in diesem Monat zustandezubringen." (BrW 91). Die Familie Worel erschien bereits am 6./7. Januar 1905 im Neuen Wiener Tagblatt (WrStB I.N. 18.517). Bereits am 21.1.1905 schreibt Saar an Maja von Kralik: „Ich habe jetzt eine l e t z t e [Novelle] begonnen, in die ich den ganzen Schmerz meines Lebens

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Der Befund aus der Korrespondenz des Zeitraumes ergibt, daß Saar schon vor seiner Abreise in Wien an den Pfründnern gearbeitet hat (vgl. BrW 92), im Januar 1905 wieder an den Pfründnern schreibt (vgl. BrW 55, 17), im Februar und März 1905 jedoch zuerst Hymen verfaßt, wie er am 14. Juni 1905 Karl von Thaler rückblickend mitteilt: Die letzte Novelle habe ich im Februar und März geschrieben, und es freut mich ungemein, daß sie dir gefallen hat. (BrW 149)

Aber auch bei der Niederschrift von Hymen ist Saar, von einer Erkältung befallen, für kurze Zeit ins Stocken geraten, wie die Zeilen an Karl von Thaler vom 22. Februar 1905 bezeugen: Lieber Alter! Seit 3 Wochen laboriere ich an einer schleichenden Influenza und huste Tag und Nacht. [...] Ich habe zwei kleine Geschichten begonnen; bin aber stecken geblieben. Der Himmel weiß, wann ich wieder weiter kommen kann. (BrW 148)81

Von jener Schaffenskrise82 zeugt auch ein Brief an den Verleger Rudolf Holzer83 vom 17. Februar 1905, der überdies einen weiteren Hinweis

81

82

zusammendrängen will. Möchte ich sie fertig bringen! ..." (BrW 55). Auch in einem Brief an Marie von Ebner-Eschenbach vom 20.1.1905 heißt es: „Jeder Tag bringt einen Haufen Briefe mit allenmöglichen zeitraubenden Anliegen, so daß ich bei meinem leidenden Zustand fürchte, ich werde meine letzte kleine Geschichte [...] gar nicht mehr fertig bringen." (BrW 17). Am 2.5.1905 schreibt er ebenfalls an Max Morold: „Jetzt schreib' ich trotz meines leidenden Befindens an einer l e t z t e n . " (BrW 94). Auch seinem Verleger Fritz Freund vom Wiener Verlag erteilt er am 10.9.1905 eine Absage mit Hinweis auf die Pfründner (vgl. Anm. 75, BrW 34). Auch an seine Bekannte Gizella von Vlahovszky schreibt Saar am 23. Februar 1905: „Seit 3 Wochen bin ich mit einer schleichenden Influenza behaftet und huste Tag und Nacht. Zu diesem bei meinem übrigen Leiden doppelt und dreifach peinlichen Zustand habe ich Ihren gütigen Brief erhalten [...]. Meine Augen sind s e h r s c h l e c h t . " ( B r W 154). Saar brauchte Zeit und Ruhe für die Abfassung seiner Erzählungen. So ist nachvollziehbar, daß er unter Termindruck leicht in eine Schaffenskrise hätte verfallen können. Wie penibel Saar arbeitete, hat einer seiner Zeitgenossen zusammengefaßt: „Die Art und Weise der Saar'schen Produktion war sehr langsam, fast umständlich. Es vergingen Wochen und Monate, eher er eine der kleinen Novellen zu Ende brachte. Da war ein Zusammentragen einer Menge kleiner Züge und Nuancen, ein langes herummodeln an dem Stoffe und ein einziges Feilen bei der Ausführung [...]." (Kopp, S.70, Anm. 97). Dazu auch BrW 76 (Saar an Stephan Milow, 19.1.1902): „[...] wie ich denn auch gleich bemerkte, daß ich keine N o v e l l e n - F a b r i k habe." Langwierige Produktionen waren bei Saar aber kein Einzelfall; an Marianne hatte er mit Unterbrechungen von 1868/1869 bis März 1873 geschrieben (vgl. auch Kopp S.70, Anm. 97). Wie sehr Saar sein Schaffen als Schwerstarbeit empfand, bezeugt sein Gedicht Arbeifergruss. Hier wird die geistige Tätigkeit mit der Arbeit in einer Stahlgießerei verglichen: „Du hast ja nie erfahren / Des Geistes tiefe Müh'n, / Und ahnst nicht, wie die Schläfen 107

darauf geben könnte, warum sich Saar zu diesem Zeitpunkt - noch vor der Vollendung der Pfründner - dem Stoff Hymens zuwendet: Es wird mir einigermaßen schwer, Ihren lieben Brief zu beantworten. Denn was meine „neue" Novelle betrifft, so dürfte es leicht möglich sein, daß ich keine mehr schreiben werde. Mit 71 Jahren fällt einem eben nicht mehr viel ein; auch schiebt schon mein seit einem Jahr körperlich leidender Zustand einen Riegel vor. Zwei Geschichten hab' ich allerdings entworfen - aber alle beide sind in der Ausführung stecken geblieben. Mir umso fataler, als ich der Neuen Freien für Ostern eine Zusage gemacht habe. (BrW 46)

Im Januar 1905 hatte Saar seinen Freunden geschrieben, er habe „eine l e t z t e [Erzählung] begonnen", in die er „den ganzen Schmerz" seines „Lebens zusammendrängen" wolle (BrW 55, vgl. BrW 17) - womit offensichtlich Die Pfründner gemeint waren. Im Februar arbeitete er also an zwei „Geschichten" gleichzeitig, und zwar - wie es scheint unter Zeitdruck, weil er „der Neuen Freien [Presse] für Ostern eine Zusage gemacht" hatte (BrW 46). Es drängt sich die Frage auf, ob er Hymen - offenbar ein alter Erzählstoff, wie das Fragment Der Hauptmann Karl von B, zu belegen scheint (s.o.) - nicht in eine Schaffenskrise bei der Formulierung der Pfründner ,einschob', um seiner Zusage nachzukommen, da er die Zeit bis Ostern für die Vollendung der Pfründner für zu knapp bemessen hielt und lieber auf einen älteren Erzählstoff zurückgriff. Die Pfründner - nach der Abfassung von Hymen (datiert „Blansko. März 1905." [59,25]) wieder zur Hand genommen -, runden schließlich den Aufenthalt in Blansko ab. Körperlich sehr mitgenommen, kündigt Saar am 5. Juni 1905 Max Morold seine Rückkehr nach Wien an: Wie ich bereits schrieb, hat sich mein Zustand im Laufe des Mai sehr verschlimmert. Darauf will ich - wenn überhaupt möglich - gleich nach Pfingsten, etwa Mittwoch, den 14', von hier abreisen. Mein Eintreffen in Döbling werde ich sofort bekannt geben. Zu reden giebt es viel. [...] Meine neue Novelle ist beendet. (BrW 95)

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/ mir heiß vom Denken glüh'n. / Du ahnst nicht, wie ich hämmre / Und feile Tag für Tag - / Und wie ich mich verblute / mit jedem Herzensschlag." (SW 1,110f.). Der Verleger Rudolf Holzer hatte sich in einem Brief vom 23.1.1905 für den Kalender-Nachdruck des Hellenen bedankt und um Bereitstellung einer weiteren Erzählung gebeten. In dem Schreiben heißt es: „Ich habe mit großem Interesse und Bewunderung die ,Sappho* gelesen und mich der unendlichen Feinheiten sehr gefreut. Ein Werk hoher stilistischer und psychologischer Darstellungskunst! [...] Bitte, könnte es nicht die Novelle sein, die jüngst im „Neuen Wien. Tagbl." stand?" (BrW 47). Damit war Die Familie Worel gemeint, welche am 6.-7.1.1905 (s. WrStB I.N. 18.517) dort erschien. Saar empfahl dem Verleger hingegen Die Parzen zum Abdruck, da diese „ W i e n e r G e s c h i c h t e " viel „biographische Arbeit" seiner „Wenigkeit" enthalte, wie er im Brief vom 17.2.1905 mitteilte (BrW 46).

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Die Frage, ob Saar mit seinem Hinweis, er wolle „aus mehrfachen", für ihn „selbst wichtigen Gründen" (BrW 82) nach Blansko reisen, auch die Abfassung von Hymen gemeint hat, und ob der Stoff von Hymen schon im Brief an Emil Söffe vom 14. April 1904 (BrW 129) mit den „Arbeiten, die noch auf mir liegen" gemeint ist, kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Eine andere Überlegung läßt jedoch annehmen, daß Saar die Abfassung von Hymen schon vor seiner Abreise nach Blansko vor Augen stand: Denn Saar, der für andere Erzählungen bis zu vier Jahre brauchte84, verfaßte Hymen in nur zwei Monaten, während die Pfründner halbfertig dalagen. Ganz ungewöhnlich schnell und reibungslos wäre dem gesundheitlich stark angegriffenen, unter beständigen Schmerzen leidenden und ansonsten so peniblen Dichter die Erzählung von der Hand gegangen, wäre diesen zwei Monaten nicht eine längere Zeit vorausgegangen, in der er die Stoffe im Kopf mit sich „herumgetragen" (BrW 82, s. Anm.74) hat. Früher hatte Saar langwierige Nachforschungen betrieben, um „nur nicht etwas ganz Unstatthaftes oder Unmögliches hin[zu]schreiben" (BrW 41). Sobald aber alle offenen Fragen geklärt waren, ging die Abfassung schnell von statten85. Auch mit dem Stoff von Hymen war Saar im Frühjahr 1905 offenbar derart vertraut, daß er diese Erzählung in einem Zuge zu Papier brachte. Ein Blick auf die Wiedergabe der Handschrift (1.2.) ergibt zwar, daß Saar am Text gefeilt und geändert hat, wie sekundäre Tilgungen und tertiäre Hinzufügungen (bes. auf den Seiten 53f.; 55f.; 56ff.) zeigen, doch schreibt er am 2. Mai 1905 über Hymen an Max Morold: 84

85

Mit der Familie Worel und Sappho war Saar - wie aus dem oben Gezeigten hervorgeht - offensichtlich über zwei Jahre beschäftigt. Heftige Schaffenskrisen hatten diese Arbeiten immer wieder unterbrochen (s.o. Anm.82). In einem Brief an Karl von Thaler vom 20.2.1903, der sich offenbar auf diese beiden Erzählungen bezieht, heißt es: „Ich sage Dir, lieber Alter, mein Gemüth ist furchtbar deprimiert - und mein Geist nicht weniger. Ich habe ein paar novellistische Arbeiten begonnen, aber keine geht vorwärts, da mich öfter ganz plötzlich ein fast physischer Ekel vor aller Schreiberei überkommt." (BrW 143). So verhielt es sich etwa mit der Abfassung von Leutnant Burda, einer nicht zuletzt biographisch motivierten Erzählung (vgl. BrW 136 an Adolf Stern, der Saar in einer Dresdener Zeitung gewürdigt hatte [s. BrW 135]). Saar hat sich für diese Erzählung im März 1886 bei der Fürstin Maria zu Hohenlohe genauestens nach den „Modalitäten" erkundigt, die ein „gewöhnlicher, nicht der hohen Aristokratie angehörender Officier bei einem Hofballe" (BrW 41) zu beachten habe. In einem zweiten Brief konkretisierte er sein Anliegen nochmals (BrW 42) und bedankt sich am 25.3.1886 bei der Fürstin mit den Worten, die ersten vier Kapitel seien „mit Ihrer Hülfe flott von statten [gegangen]" (BrW 43). Tags drauf teilt er mit: „Unsere Hofballgeschichte liegt beendet vor mir" (BrW 44). (Zur Rolle der Armee zwischen 1848 und 1859 „in höchsteigener Person" durch Leutnant Burda s. auch Korn, S.25f). 109

Über der Arbeit hat ein glücklicher Strom gewaltet, was nicht bei jeder der Fall ist. (BrW 94)

Sollten Saar - was diese Überlegungen nahelegen - tatsächlich Stoff und Gestaltung von Hymen bereits zu dem Zeitpunkt, als er sich zu seinem letzten Aufenthalt in Blansko entschließt, vor Augen gestanden haben, dann wäre die Annahme gerechtfertigt, daß die Erwähnung der „Arbeiten, die noch auf mir liegen" (BrW 129) auch den Stoff von Hymen miteinschließt, der als Fragment Der Hauptmann Karl von B. den Dichter schon länger zu beschäftigen schien.

Die große Bedeutung Schloß Blanskos in Mähren für Saars Dichtung ist schon anhand der Erzählung Marianne gezeigt worden86. Im Jahre 1872 hatte sich Saar auf Einladung einer seiner Gönnerinnen, der Altgräfin Elisabeth Salm, das erste Mal dorthin zurückgezogen, um ungestört am Drama Thassilo und der Marianne arbeiten zu können. Unter dem Titel des „Bibliothekars"87 hatte der damals noch fast mittellose Dichter dort die Existenz eines mittelalterlichen Minnesängers geführt, da er nicht vom Ertrag seiner Werke hätte leben können. In Blansko fand Saar schließlich den Rahmen, den er für seine Arbeit brauchte und in Wien nicht finden konnte. Hier hatte er Zugang zu den Kreisen des Hochadels und bekam zahlreiche geistige Anregungen88. Anders als in der beengten Dichterklause der Metropole bot erst das Schloß - wie später auch Raitz, Habrovan und Oslavan - die äußeren Koordinaten, in denen sein Schaffen gedeihen konnte. Milow gegenüber rühmt er diese Vorzüge noch in einem Brief vom 5. August 1899: In einem Schlosse lebt es sich immer besser als in anderen Gebäuden, denn man hat nach jeder Richtung hin R a u m . Ist nun das Schloß von nur wenigen Menschen bewohnt oder (wie jetzt Blansko) unbewohnt, so läßt sich für unser Einen, der nicht auf „Ansprache" oder „Unterhaltung" angewiesen ist, nichts Besseres denken. (BrW 66)

Immer wieder zog sich Saar auf dieses Schloß zurück, wo er dank der Großzügigkeit der Altgräfin und späteren Fürstin Salm unbegrenzt bleiben und ungestört arbeiten konnte. Zahlreiche seiner Werke sind dort entstanden, darunter neben einer Vielzahl von Gedichten ganz oder doch zum Teil die Erzählungen Marianne, Der „Exzellenzherr", Tambi, Leutnant Burda, Seligmann Hirsch, Die Troglodytin, Ginevra, Ge86 87

88

Vgl. Kopp, S.93ff. Ebd. S.96, Anm. 180. Ebd. S.102f.

110

schichten eines Wiener Kindes*9 - und während seines letzten Aufenthaltes Hymen sowie Die Pfründner. Die große Bedeutung des letzten Blansko-Besuches geht auch aus einem Brief an seine Kusine Therese hervor. Saar wird sein nahendes Ende schon bedrohlich vor Augen gestanden haben, als er am 15. Juli 1904 schrieb: Seid fröhlich! Ich selbst bin sehr traurig und verstimmt, obgleich es mir k ö r p e r l i c h etwas besser geht. Freilich noch lange nicht gut, daher es auch fraglich ist, ob ich nach Blansko werde reisen können, wohin ich mich im August begeben will, um einiges sehr Notwendige für meine weitere Lebensführung in Ordnung zu bringen. Der Himmel weiß, wie sich alles gestalten wird! [...] Jetzt stehen mir sehr schwarze Zukunftsbilder vor Augen... (BrW 123)

Saar meint, nur in Blansko seine „weitere Lebensführung" ordnen zu können. Dazu gehört zum einen jene Ruhe und Muße, die er zur Beendigung von unvollendeten Entwürfen benötigt, zum anderen die ländliche Abgeschiedenheit des Ortes, wo sein Leiden Linderung erfährt: „Wien, das fühl' ich, ist nicht blos mein geistiger Tod!" (BrW 65) hatte er schon 1899 von Blansko aus an Milow geschrieben und damit zugleich sein physisches Wohlbefinden auf dem Schloß ausgesprochen. Dem inzwischen Schwerkranken, der erst nach einiger Verzögerung die Reise antreten konnte, dient der Aufenthalt auch zur Erholung, wenngleich ihm der Ort einen zunehmend „verstädtelten"90 Eindruck macht. Wenige Wochen nach seiner Ankunft schreibt er am 19. Dezember 1904 an Moritz Lederer: Mir geht es in dieser Hinsicht mit meinem Hauptleiden insofern besser, als die Funktionen ziemlich leicht von statten gehen, was vielleicht mit dem hiesigen Trinkwasser zusammenhängt. Genug: Die peinlichen Z w a n g s z u s t ä n d e sind bis jetzt hier nicht aufgetreten. (BrW 59)

Die Linderung sollte nicht lange währen. Bald stellten sich wieder die alten Leiden ein91, so daß Saar am 8. Juni 1905 demselben Freunde schrieb: 89 90

91

Vgl. HN 1. Schon den vorhergehenden Aufenthalt im Winter 1901/1902 hatte Saar gegenüber Stephan Milow als seinen letzten bezeichnet, wie er am 12.1.1902 schrieb: „Außerdem fühle ich mich in Blansko nicht mehr so wohl wie früher. Der einst so ländliche Ort hat sich im Laufe der Zeit vergrößert und ,verstädtelt' [...]. So dürfte ich wohl diesmal den l e t z t e n Winter hier zubringen." (BrW 75). So schreibt Saar am 20.12.1904 an seine Cousine Louise von Saar: „Verehrte und liebe Frau Cousine! Wie Du siehst, habe ich mich wieder nach Blansko zurückgezogen, da ich bei meinem mehrfach leidenden Zustand den vielseitigen Anforderungen, die man in Wien an mich stellt, nicht mehr gewachsen bin. Es geht mir auch hier gar nicht gut [...]'* (BrW 117). Karl von Thaler schreibt er am 111

Über mich sage ich Dir nur: Daß mein Zustand zum ä u ß e r s t e n gediehen ist. (BrW 60)

Nachdem Saar Anfang Juni mitteilen kann, seine „neue Novelle" gemeint sind Die Pfründner (s.o. III.l.b.) - sei „beendet" (BrW 95), verläßt er bald (am 14. Juni 1905) Schloß Blansko. Weil „ich bei meinem leidenden Zustand eine größere Wohnung brauche und mich in meinem kleinen Blansko [...] gerade im Sommer sehr beengt fühle" (BrW 124) begründet Saar seine schnelle Abreise. Plötzlich ist das früher wegen seiner Geräumigkeit gerühmte Schloß (s.o.) dem Kranken in übertragenen Sinne - zu eng, da er in dem ansonsten unbewohnten Hause92 wohl nicht dieselbe Betreuung genießen kann wie in Wien und er sich offensichtlich nach den Pfründnern - oben wiederholt als bewußter Endpunkt seiner schriftstellerischen Karriere bezeichnet (s.o. III.l.b.) - keine weiteren Arbeiten vorgenommen hat. Als nach der Abfassung der Familie Worel und Sapphos (beide in Wien) sowie Hymens auch Die Pfründner beendet sind, kehrt Saar nach Wien zurück und kann dem Brünner Professor Emil Söffe, sobald die Publikation der Tragik des Lebens in Aussicht steht, am 31. Juli 1905 mitteilen: Ein neues Novellenbüchel, das ich im Verlauf des letzten Jahres (vom vergangenen Sommer an gerechnet) geschrieben habe, wird allerdings im Herbst erscheinen. Nunmehr bin ich aber auch ganz fertig [...]. (BrW 130)

Gerade im Zusammenhang mit dem Brief an Söffe vom April des Vorjahres, in dem es noch hieß „Ein Jahr möcht' ich noch haben, um die Arbeiten, die noch auf mir liegen, fertig zu bringen!" (BrW 129), unterstreicht diese Bilanz mit der Ankündigung, diesmal „ganz fertig" zu sein, die Absicht Saars im Jahre 1904, lange ausstehende Arbeiten gleichsam hinter sich zu bringen.

d. Die Handschrift (H) Bei dem in Blansko entstandenen Manuskript I.N. WrStB I.N. 3474 mit dem Datum „Blansko. März 1905." (59,25) handelt es sich um eine Sammlung von 25 Bogen mit den Maßen 28,4 22,6 cm. Sie entsprechen den meisten von Saar benutzten Briefbogen in den letzten

92

27.12.1904: „Wie du siehst bin ich in Mähren - befinde mich aber elend." (BrW 147). Vgl. BrW 37, 6.2.1905: „Salms sind in Wien."

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Jahren seines Lebens. Die Blätter sind im Querformat in der Mitte gefaltet, so daß sich - werden sie wie ein Heft gehalten - jeweils vierseitige Bogen ergeben mit den Maßen 22,6 14,2 cm je Seite. Von diesen Bogen sind jeweils die erste und dritte Seite beschrieben und vom Autor fortlaufend paginiert, pro Bogen also zwei Manuskriptseiten, bei 25 Bogen daher 50 Manuskriptseiten; Bogen 1: Seiten 1+2. Bei 25 Bogen umfaßt das Konvolut also 50 vom Autor paginierte Seiten. Auf Seite l - ebenfalls vom Autor paginiert - steht zentriert nur der Titel Hymen.; in der oberen linken Ecke ist die Inventarisierungsnummer in eckigen Klammern notiert: „[H.I.N. 3474]". Die Seiten des Manuskriptes umfassen in der Regel 22 Zeilen, die im Gegensatz zu den meisten von Saars Briefen - sehr waagerecht geschrieben sind. Offenbar hat Saar hier, wie auch bei anderen Erzählungen, z.B. Ninon (WrStB I.N. 3478), ein Linienblatt untergelegt. Bei Ninon handelt es sich um 25 Zeilen pro paginierter Seite - der Autor benutzte wohl ein anderes Linienblatt. Die erste Zeile des Erzählungstextes setzt auf Seite 2 in einem Abstand von 6 cm zum oberen Rand an. Auf den übrigen Seiten des Manuskriptes setzt die erste Zeile ca. l cm unterhalb des oberen Randes an; die letzte Zeile läßt ca. l cm zum unteren Rand frei. Die erste Zeile eines Absatzes ist jeweils um ca. 2,5 cm eingerückt (ähnlich auch bei Ninon). Das Konvolut steckt in einem blaugrauen Bogen (34 20,6 cm; quer gefaltet), den der Archivar - die schwer leserliche Schrift deutet auf Jakob Minor - mit Bleistift wie folgt beschriftet hat: H band XII / Hymen / 3474. / datiert Blansko März 1905 / Vlg (durch das x-x) für ersten Druck in N fr Presse (x-x-x), mit x-x wiederholt x-x, und x-x-x directe Vorlage aber auch für Abdruck in Tragik des Lebens 1906, mit dem die x-x-x und nachdem die bl-x-x Verlag x-x x-x.

In dem Manuskript lassen zahlreiche Korrekturen z.T. ganzer Passagen (vgl. 53,24ff.; 55,16ff; 56,21ff.) erkennen, daß Saar auch an dieser Erzählung viel ,gefeilt' hat. Das vielfach überarbeitete Manuskript (vgl. 1.2.) hat offensichtlich beiden autorisierten Drucken - in der Osterbeilage der Neuen Freien Presse (J) sowie dem Band Tragik des Lebens (T) - als Vorlage gedient. Zahlreiche Übereinstimmungen später getilgter Stellen mit dem Journaldruck zeigen, daß Saar die Handschrift für den zweiten Druck ein weiteres Mal überarbeitet hat. In der Wiedergabe der Handschrift (1.2.) wurden diese Stellen gesondert gekennzeichnet (s. ILL). Dieses Verfahren - das ursprüngliche Manuskript für den zweiten Druck nochmals zu überarbeiten - ist bei Ferdinand von Saar kein 113

Einzelfall, wie am Beispiel des Brauers von Habrovan schon gezeigt werden konnte93. Die Textgeschichte von Hymen zeigt, daß wir es auch hier mit zwei Schichten des handschriftlichen Bestandes zu tun haben94: Die erste, bereits vielfach verbesserte Fassung des Manuskriptes lag dem Druck in der Osterbeilage der Neuen Freien Presse vom 23. April 1905 (Ostersonntag) (WrStB I.N. 18.524, Sigle J) zugrunde; für den zweiten Druck im Novellenband Tragik des Lebens. Vier neue Novellen, Wien 1906 (WrStB I.N. 18.525, Sigle T), hat der Autor das Manuskript ein weiteres Mal durchgesehen und überarbeitet. Dieser Befund ergibt sich aus der Übereinstimmung zahlreicher getilgter und z.T. mit Hinzufügungen versehener Stellen der Handschrift mit der Fassung von Druck J. Im allgemeinen stimmt dabei die erste Schicht mit der Druckfassung von J, die zweite Schicht mit jener von T überein. Ausnahmen bilden die Varianten in der zweiten Schicht in 17,1; 20,7; 23,24f. sowie 25,27, wo in die Fassung von T eingegriffen wurde (vgl. dazu III.2.b.). Bei den insgesamt 31 Varianten der zweiten Schicht handelt es sich jedoch kaum um maßgebliche inhaltliche Änderungen; vielmehr ist für den Druck T stilistisch an der Erzählung gefeilt worden, wie denn auch Jakob Minor dem Text seiner Ausgabe die Feststellung voranstellte, im Ganzen habe „die Novelle nur wenig bedeutende Änderungen erfahren" (SW 12,67). Von inhaltlicher Bedeutung ist jedoch jene Variante in 52,20, wo in J noch die Rede von „Samek" anstelle von „Sandek" ist. Sie wird im Kapitel IV.3.a. in die Deutung einbezogen. Die Betrachtung des Manuskriptes ergibt, daß Saar in der ersten Niederschrift durchgehend den Namen „Samek" verwendet hat, denn immer, wenn der Name im Manuskript genannt ist, steht dort ein getilgtes „Samek". Offensichtlich hat der Dichter, nachdem die Erzählung bereits ganz formuliert war (bei einem ersten Durchsehen?), an sämtlichen dieser Stellen „Samek" getilgt und durch „Sandek" ersetzt - mit Ausnahme der nämlichen Stelle (52,20), wo es anscheinend vergessen wurde. Auf diese Weise gelangte „Samek" an dieser Stelle in die Fassung J und wurde erst beim zweiten Durchsehen (also in der zweiten Schicht) von Saar getilgt und durch „Sandek" ersetzt.

93 94

FS, S. 291-319. Dasselbe Verfahren wandte Saar auch bei Ginevra an. So weist auch dieses Manuskript zwei Schichten auf, wie die kritische Ausgabe Stefan Schröders Ferdinand von Saar: Ginevra zeigt, die ebenfalls in der Reihe Kritische Texte und Deutungen erschien.

114

e. Der Erstdruck in der Neuen Freien Presse vom 23.4.1905(1) Wem gegenüber Saar „der Neuen Freien für Ostern eine Zusage gemacht" hat (BrW 46), eine Erzählung für die Osterbeilage bereitzustellen, kann leider anhand des überlieferten Briefbestandes nicht rekonstruiert werden. Anzumerken ist lediglich, daß Saars langjähriger Bekannter Karl von Thaler für die Neue Freie Presse schrieb, so wie sich Saar selbst später einmal als „ihr Mitarbeiter" bezeichnete (BrW 98). Am Ostersonntag, dem 23. April 1904, erscheint Hymen im Erstdruck in der Osterbeilage der Neuen Freien Presse auf den Seiten 37-4495. In der gesamten Literaturbeilage, die 70 Seiten (S.31-100) umfaßt, sind zwölf Beiträge u.a. von Marie von Ebner-Eschenbach, Arthur Schnitzler, Hermann Hesse und Anatole France abgedruckt96. Die Druckvarianten (im Verhältnis zur Handschrift H und dem Druck im Band Tragik des Lebens T) wurden im kritischen Apparat (s. II.) aufgezeigt. Die Fassung J entspricht dabei der ersten Schicht. Dazu gehört auch die oben angeführte Variante „Samek" (52,20), die offenbar vom Autor, der sonst „Samek" durchgängig in „Sandek" änderte, übersehen wurde (s. III.l.d.). Die bei weitem auffälligste Abweichung von der Handschrift H, die auch im späteren Druck T - für welchen wiederum H als Grundlage herangezogen wurde (daraus ergeben sich die Korrekturen in der ersten und zweiten Schicht, s.o.) - nicht wieder erscheint, ist der Untertitel Eine Geschichte in Arabesken. Da sich Saar weder dort, noch in seinen Briefen jemals zu diesem Untertitel äußerte, kann über dessen Herkunft nur gemutmaßt werden. Hat ihn gar der Herausgeber der Neuen Freien Presse eigenmächtig gewählt, während Saar noch in Blansko weilte? Oder hat ihn Saar in einem nicht erhaltenen Dokument angewiesen? 95

96

Hymen nimmt auf den dreispaltig gesetzten Seiten jeweils die unteren Hälften ein (außer S.37-38, wo nur das untere Drittel eingenommen wird); insgesamt handelt es sich um 21 Spalten (auf S.37 um zwei Spalten, auf S.44 um 1A Spalte). Die zwölf Beiträge der Osterbeilage sind (Österreichische Nationalbibliothek [ÖNBJ 393.928-D Bd. l, 8/1905): Marie von Ebner-Eschenbach, Aus Rom, Arthur Schnitzler, Das neue Lied; Theodor Herzl, Lieschen von der Linde, Henri Lavedan (academic fran^aise), Rose d'Avril; Gabriele Reuter, Modes Erlebnis, Ferdinand von Saar, Hymen, Hermann Hesse, Aus den Erinnerungen eines Neunzigjährigen: Grazia Deledda, Die Osterfeier des Dichters, Anatole France (Academic Francaise), Der Theaterdichter, Raoul Auernheimer, Das Abenteuer; Max Burchard, Rat Schrimpf (3. Forts.); Paul Bourget, Fremdes Leid (32. Forts.). 115

Wie auch immer er zustande kam: Saar hat den Druck mit Untertitel hingenommen und ihn somit autorisiert. So muß der Untertitel auch in der Deutung der Erzählung bedacht werden (s. dazu IV. Lb.). Die Reaktionen unter Saars Freunden auf den Druck Hymens in der Neuen Freien Presse können nur zum Teil wiedergegeben werden, da nur wenige Briefe an Saar während seines Aufenthaltes in Blansko erhalten sind. Saar selbst äußert sich in einem Schreiben vom 2. Mai 1905 an Max Morold jedoch über verbreitetes Lob („Die Novelle findet a l l g e m e i n Beifall." BrW 94) und bekundet gegenüber Karl von Thaler, „es freut mich ungemein, daß sie Dir gefallen hat" (BrW 149). Marie von Ebner-Eschenbach gratuliert dem Dichter erst nach dem Erhalt der Tragik des Lebens im Dezember 190597. Auf die Publikation in der Neuen Freien Presse erhält Saar einen längeren - den einzigen erhaltenen - inhaltlichen Beitrag von der jungen Literatin und Feuilletonistin Ella Hruschka, die Saar seinerseits hoch schätzte98. Sie schreibt ihm am 15. Juni 1905, kurz nach seiner Rückkehr nach Wien: Hochverehrter Herr von Saar! Ich danke recht verspätet für Ihren lieben letzten Brief, weil ich erst Ihre Novelle „Hymen" gelesen haben wollte, bevor ich wieder schrieb. Zunächst gelang es mir nicht sogleich, mir das Blatt zu verschaffen [...]. So habe ich „Hymen" erst am Pfingstmontag gelesen. Ich bewunderte wieder, wie meisterhaft Sie es verstehen, das Interesse zu spannen und rege zu erhalten, während Sie von dem uns interessierenden Vorgange doch eigentlich nur sehr wenig verraten. Sie sind in hohem Grade was Schopenhauer einen „enthymematischen" Dichter nennt und abweichend von der Praxis der oft allzu geschwätzigen Realisten und Psychologen erzielen Sie Ihre Wirkungen zum Teil durch das, was Sie verschweigen. Le secret d'etre ennuyeux, c'est de tout dire. Die flüchtig, oder vielmehr nicht flüchtig, sondern mit wenigen wohlerwogenen Strichen skizzierte Maja ist sehr interessant und der feingezeichnete Sandek eine gute Type. Das Problem höchst modern, die Durchführung, die bei anderen zuweilen recht unwahrscheinlich ausfiel, hier sehr glaubhaft. Daß Sie selbst wieder in der Erzählung vorkommen, erhöht den intimen Reiz. (BrW 49)

Doch auch dieses Schreiben äußert wenig im Sinne einer inhaltlichen Deutung. Vordergründig scheint es, Ella Hruschka habe nur die ,oberste Schicht' der Erzählung vernommen, in der das Schicksal der Personen als Vertreter ihrer Zeit behandelt wird. Aus ihren Anmerkungen zu den äußeren Aspekten der Erzählung spricht jedoch, daß sie deren zugrundeliegenden Gehalt - zumindest ansatzweise - entdeckt haben mag. 97 98

BrW 23 vom 13.12.1905; vgl. auch HI.2.d. In einem Brief an Stephan Milow vom 8.10.1901 äußert Saar seine Anerkennung der jungen Literatin und vergleicht ihre Begabung mit der von Milows Sohn Max: „Der Aufsatz von Ella Hruschka hat mich aber wahrhaft erfreut, da er mit großem K ö n n e n geschrieben. Außer Max hat das hier noch Niemand zustande gebracht." (BrW 74).

116

Denn die Erwähnung, Saar „verrate von dem uns interessierenden Vorgange doch eigentlich nur sehr wenig", läßt annehmen, Ella Hruschka habe die mythologischen und psychologischen Aspekte der Handlung - auf deren Hintergrund das Schicksal der Helden erst seine eigentliche Bedeutung erhält - wenigstens vermutet. Die Äußerung, Saar erziele seine Wirkungen „abweichend von der Praxis der oft allzu geschwätzigen Realisten und Psychologen" (sind hier nicht die Naturalisten gemeint?) durch das, was er verschweige, könnte als Anspielung auf den tiefenpsychologischen Gehalt (das „Problem höchst modern") verstanden werden; der Hinweis auf die verschlüsselte Darstellung („sehr glaubhaft") ist ein Lob gegenüber dick auftragenden Werken anderer Künstler. Mit dem Verweis auf Schopenhauer beweist Ella Hruschka Sinn für die philosophische Ausrichtung Saars. Wie gut sie - sowie Saars übrige Zeitgenossen und Freunde - die Tiefe seiner Erzählungen - auch jener von Hymen - wirklich zu erfassen vermochten, muß dahingestellt bleiben. Zu einem früheren Zeitpunkt (1896) hatte Saar gegenüber Abraham Altmann einmal sein Leid geklagt über die „unmittelbaren Zeitgenossen, für welche ich so recht eigentlich geschrieben, die mich aber nur halb - oder richtiger, gar nicht verstanden haben"100. Insgesamt - das darf hier vorweggenommen werden - fallen die Beifall sbekundungen für Hymen jedoch wesentlich dünner aus als die Gratulationen zu den wiederholt angekündigten (und daher unter Saars Freunden wohl auch mit Spannung erwarteten) Pfründnern.

2. Die weitere Text- und Wirkungsgeschichte bis zum Band Tragik des Lebens 1906 (T) a. Die Verhandlungen für den Band Tragik des Lebens Die Entstehung des Bandes Tragik des Lebens kann anhand der überlieferten Briefwechsel recht genau rekonstruiert werden, da beinahe die komplette Korrespondenz Saars mit dem Wiener Verlag erhalten ist. Den Verhandlungen mit dem Wiener Verlag waren Saars schlechte Erfahrungen nach dem Tod seines langjährigen Verlegers Georg Weiß 100

BrA, S.66f,

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vorausgegangen. Schon mit Weiß, der bereits seinen Erstling Innocens sowie fast alle seine Werke verlegt hatte101, gab es im Jahr 1903 Differenzen, als Saar einen Wechsel zu Cotta erwog102. Nach dem Tod von Georg Weiß wurde dessen Verlag, den die Erbinnen nicht fortführten konnten103, von Franz Leichter aus Ohlau übernommen. Dieser neue Verleger aber zeigte sich höchst unkooperativ und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Unter anderem verlangte er eine immense Abfindungssumme falls Saar für weitere Auflagen den Verlag wechseln wolle104. So korrespondierten Saar und Fritz Freund vom Wiener Verlag nicht nur über die Herausgabe der Tragik des Lebens, sondern auch über ein gemeinsames Vorgehen gegen Franz Leichter, da Saar die Rechte an weiteren Auflagen seiner Werke dem Wiener Verlag übermitteln wollte105. 101

Auf den Tod von Georg Weiß schreibt Saar u.a. am 9.3.1904 an Karl von Thaler: „Mein Verleger ist plötzlich gestorben. Dadurch hat sich der Druck der neuen Auflage meines Heinrich IV. verzögert." (BrW 145). In sehr deprimierter Stimmung beklagt er Ostern 1904 auch gegenüber Stephan Milow (der ebenfalls bei Georg Weiß publizierte): „Mit der Litteratur ist's auch eine Krux. Der plötzliche Tod unseres alten Weiss hat das Erscheinen meiner neuen Auflage verzögert. Im Grunde genommen ist's ja alles eines —." (BrW 81). 102 Vgl. Kopp, S.139. 103 Saar schreibt an Elsa von Millenkovich am 2.7.1904: „Auch der Tod des alten Weiss hat recht unangenehme Folgen. Die Erbinnen (5 Töchter) können den Verlag nicht fortfuhren, möchten ihn also verkaufen. Das scheint ihnen so nicht gelingen zu wollen, wodurch eine gewisse Geschäftsstockung entsteht. Schließlich werden vielleicht die Verlagswerke auch verschleudert. Aber ich will den Teufel nicht an die Wand malen. Hat Milow von dort irgend eine Mitteilung erhalten?" (BrW 62). 104 Die mangelnde Zusammenarbeit mit Franz Leichter ist auch Gegenstand seines Briefwechsels mit Fritz Freund vom Wiener Verlag. So heißt es in einem Brief vom 17.7.1905, wo Saar u.a. bittet, mit dem Druck der Tragik des Lebens bald zu beginnen: „Ich habe an meinen Verleger geschrieben und den hier beigeschlossenen Brief erhalten. Die Hälfte der Abfindungssumme habe ich vorausgesehen, denn es ist begreiflich, daß der Mann jetzt schrauben möchte. Indes: da ich für die v i e r t e Auflage der ,Wiener Elegien' und für die d r i t t e von .Hermann und Dorothea' auf Honorar verzichte - für folgende Auflagen müssten natürlich weitere Vereinbarungen getroffen werden - ließe sich die Sache vielleicht doch bis zur Ostermesse durchführen. Erwägen Sie also - und entscheiden Sie." (BrW 32). 105 Über das gemeinsame Vorgehen gegenüber Franz Leichter schreibt Fritz Freund an Saar am 20.7.1905: „Ich muss Ihnen offen sagen, dass ich die gestellte Forderung unerhört hoch finde. Vor allem will der Mann uns nur deshalb in die Höhe treiben, weil er sieht, dass Sie jemand in Aussicht haben, der die Bücher übernehmen will. Er würde, falls Sie irgend ein Drama, oder die ,Nachklänge' verlangt hätten, geschrieben haben dass ihm gerade an diesem Werke besonders viel liegt und er viel lieber die ,Wiener Elegien' und ,Hermann und Dorothea' abgeben würde. Ich halte es daher für ganz ausgeschlossen auf eine Forderung in

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Während sich die ersten Verhandlungen über die Tragik des Lebens in wenigen Wochen vollzogen und die ersten gebundenen Exemplare im Dezember 1905 vorlagen, kamen die Verkaufsexemplare erst im Mai 1906 auf den Markt - mehr als zehn Monate nach Verhandlungsbeginn. Offensichtlich sucht Saar von sich aus im Sommer 1905 - kurz nach seiner Rückkehr aus Blansko am 14. Juni - den Kontakt zum Wiener Verlag. Am 30. Juni 1905 schreibt er: Sehr geehrter Wiener Verlag! Ich habe die Absicht, meine neuen Novellen, die im Laufe dieses Halbjahres in der Oesterr. Revue, im Neuen Wiener Tagblatt und in der Neuen Freien Presse erschienen sind, unter einem anziehenden Gesamttitel als Buch (12-13 Bogen) herauszugeben und erlaube mir die Anfrage, ob Sie geneigt wären, den Verlag zu übernehmen. (BrW 163)

Noch am gleichen Tag antwortet Fritz Freund vom Wiener Verlag: Wir sind außerordentlich geehrt durch Ihren Antrag und nehmen denselben selbstverständlich mit der grössten Freude an. Wir bitten Sie, uns freundlichst recht bald wissen zu lassen, welches Ihre Bedingungen sind, damit wir ehestens mit Ihnen abschließen können. (BrW 170)

dieser Höhe einzugehen. Wenn ich auch kein Honorar für die erste Auflage zu bezahlen habe, so muss ich doch für ein bereits erschienenes Buch M 500,bezahlen, etwas was sich selbstverständlich nie herausbringen lässt. Ausserdem ist noch etwas zu erwägen: Herr Leichter will erst am 1. Nov. die Sache übergeben, das heisst, er möchte sich noch so und soviel Monate freie Hand lassen, um was er an Exemplaren hat, wenn auch zu billigen Preisen unterzubringen. Er behauptet zwar, dass er nicht die Absicht habe, die Bücher in besonderer Weise anzukündigen und anzubieten, es ist aber doch klar, dass er die Absicht hat dies zu tun und uns den Markt für unsere neue Auflage für das nächste Jahr vollständig zu verlegen. Ich bin sogar fest davon überzeugt, dass er die Absicht hat, den Buchhändlern die Bücher zu einem billigen Preise zu liefern, um nur seine Vorräte anzubringen. Ich würde Ihnen daher raten, die Sache vorläufig in der Schwebe zu lassen und im Herbst noch einmal an den Mann heranzutreten. Ich habe auf diesem Gebiete die Erfahrung gemacht, dass man nur durch Zuwarten etwas erreichen kann, bei derart raschen Käufen die Preise aber in unverhältnismässiger Weise in die Höhe treibt. Ich werde mir im Herbst erlauben nochmals darauf zurückzukommen, und Sie bitten, sich mit Herrn Leichter ins Einvernehmen zu setzen, der dann jedenfalls gefügiger und mürber sein wird." (BrW 171). Wie sehr die augenscheinliche Übervorteilung durch Franz Leichter Saar belastet haben muß, geht aus zwei Schreiben an Stephan Milow und seinen Sohn Max Morold vom Oktober 1905 hervor. Dort heißt es in einem Brief vom 2.10.1905: „Unser Herr Leichter ist ein elender Kerl. Ich ärgere mich, wenn ich an ihn denke. Läßt sich aber nichts machen, da ich erfahrungsgemäß weiß, daß ihm gegenüber jedes Wort ein verlorenes ist." (BrW 83). Am 19.10.1905 schreibt Saar an Max Morold, der offenbar angeboten hatte, in der Sache zu vermitteln: „An einen Abstecher nach Ohlau war auch dann nicht zu denken, wenn das Städtlein auf Deiner Route läge. Der Mann verdient kein s c h r i f t l i c h e s W o r t , geschweige denn e i n e n B e s u c h . " (BrW 97).

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Die Verhandlungen gehen außergewöhnlich zügig voran, denn offensichtlich geht schon in den ersten Julitagen das Manuskript an den Wiener Verlag und von dort an die Druckerei, welche alsbald die erste Druckfahne über den Wiener Verlag an Saar zur Korrektur zurücksendet. Am 8. Juli schickt Saar die Korrektur bereits wieder an den Verlag mit den Anmerkungen: Hiermit lasse ich die erste Korrektur wieder an Sie zurückgehen für den Fall, daß Sie vielleicht noch Bemerkungen daran knüpfen möchten. Bei den weiteren Bogen aber bitte ich den direkten Verkehr zwischen der Druckerei u. mir einleiten zu wollen. Das Büchlein wird sich ganz hübsch machen, wenn es, worum ich ersehe, einen f a r b i g e n Umschlag mit modernem Titeldruck erhält. (BrW 165)

Wenige Tage später (am 13. Juli) sendet Saar dem Wiener Verlag den unterschriebenen Druckvertrag: Mit bestem Dank lasse ich den unterzeichneten Vertrag an Sie zurückgehen. Bitte der Druckerei Auftrag zu geben, daß das Korrektur Manuskript beigeschlossen werde. (BrW 31)

Am 20. Juli 1905 teilt Fritz Freund mit, daß mit „dem Druck Ihrer Novellen bereits begonnen [wurde] und in den allernächsten Tagen schon die Korrekturen an Sie abgehen" dürften (BrW 171). Mit dem Erscheinungsbild des Buchdruckes ist Saar zufrieden, bis auf die Doppelstriche, die an den oberen Seitenrändern den Text begrenzen (s. T, WrStB I.N. 18.525), welche er sich anders vorgestellt hatte. Er schreibt am 28. Juli 1905: Ich habe nicht gerade eine „L e i s t e" gewünscht, sondern nur eine l e i c h t e V e r z i e r u n g , wie sie bei Saltens „Schrei der Liebe" auf jeder Seite angebracht ist. Ich glaube eine ähnliche Verzierung zu A n f a n g jeder einzelnen Novelle würde das Aussehen unseres Büchleins heben. Da Sie aber dagegen sind, so will ich nicht darauf bestehen. Von der Neuen Freien Presse ist bereits die Korrektur an mich gelangt, und so dürften die „Pfründner" wohl bald dort erscheinen. (BrW 33)

Erst im September - nachdem Die Pfründner in fünf Folgen zwischen dem 15. August und dem 8. September in der Neuen Freien Presse erschienen sind106 - kann mit dem Druck des gesamten Novellenbandes begonnen werden, für den Saar erst am 21. September 1905 den Buchtitel mitteilt: 106 vgl. Exemplar in der WrStB I.N. 18.529. Anfang September ist sich Saar der raschen Veröffentlichung der Tragik des Lebens in gebundenen Exemplaren noch gewiß, denn er schreibt an Marie von Ebner-Eschenbach am 5.9.1905 über Zeitungsauszüge ihrer Jugenderinnerungen: „Erscheinen sie als Buch, dann lassen Sie mir wohl durch den Verleger ein Exemplar zukommen, das ich mit meinem winzigen neuen Novellenbücherl erwidern werde." (BrW 18).

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Die Druckerei hat mich ersucht, den „T i t e l" zusammenzustellen. Übersende daher die beiliegenden Blätter zur Ansicht und Genehmigung und bitte das weitere bei der Druckerei veranlassen zu wollen. Ob wir nicht doch auch Exemplare sollen binden lassen, überlasse ich Ihrer Einsicht und Entscheidung. (BrW 164)

Die ersten Ansichtsexemplare erscheinen bis Dezember 1905. Saar schickt sie an zahlreiche Bekannte und läßt sie über den Verlag auch Kritikern und Rezensenten zukommen107. Die zum Verkauf bestimmten Exemplare sind allerdings erst im Mai 1906 auslieferbar. Welcher Art die dafür verantwortlichen Verzögerungen sind, kann nicht rekonstruiert werden. Saar ist im Frühjahr 1906 schon schwerkrank und durch seine Gebrechen gänzlich immobil, er scheint geradezu nur noch das Erscheinen der Tragik des Lebens abwarten zu wollen, bevor er seinem unerträglichen Leiden ein Ende setzt. Ende Juli 1905 hatte er Emil Söffe geschrieben, ein „neues Novellenbücherl" werde „allerdings erst im Herbst erscheinen" (BrW 130). Ein dreiviertel Jahr später, am 27. April 1906, muß er dem Literaturhistoriker immer noch mitteilen: Es geht mir s c h l e c h t . Bin auf den Lehnstuhl angewiesen. Muß daher mit Bleistift schreiben, was ich zu entschuldigen bitte. {...] Mein neues Novellenbuch „Tragik des Lebens" ist noch n i c h t erschienen. Vielleicht giebt Ihnen die Druckerei f...] ein Ansichts-Exemplar! (BrW 133)

b. T als Grundlage des kritischen Textes Für die Edition von Hymen liegen nur zwei autorisierte Drucke vor, jener des Erstdruckes in der Neuen Freien Presse (J) sowie die zweite und letzte autorisierte Fassung im Band Tragik des Lebens (T). Damit ergeben sich für die Edition nicht jene Schwierigkeiten, welche etwa die Herausgeber von Saars Marianne oder Marie von Ebner-Eschenbachs Erzählungen Unsühnbar und Bozena hatten meistern müssen108. Zudem 107 108

Vgl. BrW 166, 167, 168, 169; vgl. auch III.2.C. Für Kopps Ausgabe der Marianne lagen sieben autorisierte Drucke vor; Burkhard Bittrichs Ausgabe von Marie von Ebner-Eschenbachs Unsühnbar hatte zwischen elf autorisierten (neben sechs nichtautorisierten) Fassungen zu wählen; die Ausgabe Kurt Binnebergs von Boiena hatte zwar unter weniger Druckfassungen zu werten, jedoch unterschieden sie sich in Umfang und Inhalt nachhaltig, da Marie von Ebner-Eschenbach den Stoff wiederholt überarbeitete (vgl. Polheim: Textkritik, S.XIIff.). - Burkhard Bittrich: Marie von Ebner-Eschenbach, Unsühnbar. (= Kritische Texte und Deutungen, hrsg. v. Karl Konrad Polheim, Bd. 1) Bonn 1978; Kurt Binneberg: Marie von Ebner-Eschenbach, Bozena. (= Kritische Texte und Deutungen, hrsg. v. Karl Konrad Polheim, Bd.2) Bonn 1978. 121

unterscheiden sich beide Fassungen von Hymen neben geringen ästhetischen Varianten hauptsächlich in bezug auf wenige, vorwiegend Interpunktion und Drucksatz betreffende Kriterien, welche unter Umständen sogar auf die Eigenmächtigkeit der Setzer zurückzuführen sind. Gerade jene, das äußere Erscheinungsbild betreffende, Anhaltspunkte machen die Wahl zwischen den sehr ähnlichen Fassungen einfach. Eine Vermischung beider Fassungen verbietet sich, will der Herausgeber nicht die Intention des Autors bei jeder einzelnen Fassung ignorieren und selbst eine neue kreieren109. Die Entscheidung für den Druck in der Tragik des Lebens110 ist dabei nicht durch die überholte Doktrin von der Bevorzugung der ,Ausgabe letzter Hand' motiviert, wie es in der älteren Editionslehre oftmals geschah111. Vielmehr geben ästhetische Verbesserungen den Ausschlag. Zunächst sprechen schon die verbesserte Rechtschreibung und Interpunktion für T als Grundlage für den ästhetischen Text. Denn die Orthographie in T ist - wo dieses in J noch nicht geschehen war - nach den Regeln der Orthographiereform von 1901 angeglichen worden. Zu nennen sind hier die als Sammelvarianten zusammengefaßten Abweichungen der Schreibung bei Vokalismus und Konsonantismus (s. II.3.a.a.), oder etwa die Angleichung von Fremdwörtern an die deutsche Schreibung und Lautung bei „Affäre", „Menü" oder „Leutnant" (s. II.3.a.8.). Damit hatte Saar die letzte Fassung der Erzählung in der Tragik des Lebens der Leserschaft des 20. Jahrhunderts mit modernem Textbild präsentiert112. Darüber hinaus erhellt das Interpunktionsverfahren bei T die innertextuelle Logik. Hier ist neben der Kommasetzung am Ende der wörtlichen Rede (s. II.3. .) vor allem die Setzung von doppelten Anführungszeichen bei wörtlicher Rede innerhalb wörtlicher Rede in J zu nennen (s. .3. . .), die gerade bei längeren Passagen irreführend wirkt und die Erzählstruktur undeutlich macht. So etwa bei Sandeks langem Monolog über sein Verhältnis zur Hofrätin (20,24-23,22), wo diese und andere Figuren von Sandek wiederholt zitiert werden, jene Zitate aber gängigerweise in einfachen Anfuhrungsstrichen wiedergegeben - durch 109

Vgl. Polheim. Textkritik, S.IX. Ebd. S.XI: „Dem Editor kann die Aufgabe nicht genommen werden, sich für e i n e n Text, e i n e Fassung zu entscheiden. Seine Entscheidung, ob sie nun für die ,erste' oder ,letzte' Fassung, den ,besten' oder ,richtigen' Text fällt, gründet vor allem auf der vergleichenden Interpretation der verschiedenen Fassungen, und die ästhetische Wertung liefert mithin wesentliche Kriterien für die Edition." 111 Dazu: Kopp, S. 141. 112 Diese Überlegung hatte auch bei Kopp u.a. dazu geführt, der letzten autorisierten Fassung von Marianne den Vorzug zu geben (s. S. 144). 110

122

die hier verwendeten doppelten Anführungsstriche nicht hinreichend gekennzeichnet sind. Auch die oben (III.l.d.) schon genannte Stelle, wo in J der Name „Samek" einmal erhalten blieb, spricht für die Fassung T als Grundlage des ästhetischen Textes (s. auch IV.3.a.). Schließlich legt die ungeklärte Herkunft des Untertitels Eine Geschichte in Arabesken im Journaldruck (s. III. l.d.) die Entscheidung für die Fassung der Tragik des Lebens nahe. Dieser Untertitel, der nicht im Manuskript enthalten ist, würde durch die Bevorzugung des Journaldrucks übermäßig aufgewertet. Es finden sich jedoch in T vier Textstellen, wo der Herausgeber aus ästhetisch-logischen Erwägungen in den Text eingreifen muß. An einer Stelle haben wir es gar mit einer Kombination von Autorfehler (im Manuskript) und Fremdfehler113 zu tun: Es handelt sich zum einen um die Stelle 17,1: In der Handschrift lautete der Satz ursprünglich „Er selbst fiel schon durch seine äußere Erscheinung eigentümlich auf." (38,13ff.). „Er selbst" wurde getilgt und „Eine stadtbekannte Persönlichkeit," hinzugefügt, so daß in H „Eine stadtbekannte Persönlichkeit, fiel schon durch seine äußere Erscheinung eigentümlich auf." entstand. Sowohl das Komma hinter „Persönlichkeit," als auch die maskuline Form des Possesivpronomens „seine", das nicht mit dem Feminin von „Persönlichkeit" im Einklang steht, vor allem aber der Kontext (es ist schon in den vorangegangenen Sätzen die Rede vom Schriftsteller) belegen, daß es sich hier um einen Autorfehler handeln muß, der durch Tilgung und Hinzufügung entstanden ist: Saar hat offenbar vergessen, hinter „fiel" ein „er" einzufügen, was erst dem Satz seine grammatikalische Logik gegeben hätte. Der Setzer von T hat daraufhin das Komma weggelassen und den grammatikalisch falschen („Persönlichkeit" „seine") und vom Zusammenhang her unsinnigen Satz „Eine stadtbekannte Persönlichkeit fiel schon durch seine äußere Erscheinung eigentümlich auf." gesetzt. Auf diese Weise kommt hier noch ein Fremdfehler hinzu. Aus den genannten logischen und textimmanenten Gründen muß hier das „er" hinzugefügt werden. In diesem Sinne wurde der Text emen113

Die Terminologie von „Autorfehler" und „Fremdfehler" orientiert sich an Karl Konrad Polheims Kleinen Schriften zur Textkritik und Interpretation, hier zum Textfehler. Begriff und Problem. Unter „Autorfehlern" werden jene verstanden, die der „Autor selbst verursacht", „sei es im inhaltlichen oder formalen Bereich, seien es Sachfehler, Sinnfehler, Schreibfehler usw.", während mit „Fremdfehlern" jene, „die nachweisbar von außen in den Text hineingekommen sind", bezeichnet werden (Polheim: Textfehler, S.67ff.). 123

diert. Auch der Setzer von J („Eine stadtbekannte Persönlichkeit, fiel er schon [...]") verfuhr auf diese Weise; die parallele Entscheidung in diesem Fall bedeutet jedoch keine Kontamination beider Fassungen. Bei der Stelle 23,24f. ist die Sache noch komplizierter: Aus der Handschrift (45,38-46,4) geht hervor, daß nach einer ersten getilgten Version »Dann sagte ich: „Die Lösung des Rätsels ist doch ganz einfach:"« Saar »„Nun, die Lösung des Rätsels ist doch ganz einfach."« schrieb. Als sekundäre Hinzufügung setzte er hinter „einfach" ein Komma und fügte „sagte ich dann." hinzu, so daß in der ersten Schicht der Handschrift und in J »„Nun, die Lösung des Rätsels ist doch ganz einfach," sagte ich dann.« erscheint. Bei der Überarbeitung für T (also in der zweiten Schicht der Handschrift) fügte Saar wiederum „Dann sagte ich;" vor »„Nun, die Lösung des Rätsels [...]"« hinzu, ohne jedoch „sagte ich dann" aus der ersten Schicht zu tilgen. Dieser Autorfehler kann dadurch geschehen sein, daß Saar die sekundäre Hinzufügung „sagte ich dann", die auf der Rückseite von S.24 des Manuskriptes vermerkt war, übersehen hat. Hier hat sich der Setzer von T für die letzte Hinzufügung „Dann sagte ich" entschieden, jedoch hinter „Nun," (23,24) das in H vorhandene Komma weggelassen - ein Fremdfehler, der einen Eingriff gestattet. Denn das Komma hinter „Nun," welches sich sowohl in H, als auch in J findet, muß in T schlichtweg vergessen worden sein, wie ähnliche Satzkonstruktionen (20,1: „,Nun, die Vermutung liegt doch nahe genug.'" oder 20,5: „,Nun, dann will ich dir [...]'") nahelegen. Einen Fremdfehler finden wir auch in 20,7, wo T nach „an." - im Kontrast zu H (41,36) und J - einen Absatz setzt. Dieses Verfahren in T steht jedoch im Widerspruch zur inneren Textlogik und zu vergleichbaren Textstellen. Denn im Dialog zwischen Sandek und dem Ich-Erzähler sind regelmäßig die Sprecher durch Absätze voneinander abgesetzt, so daß die Gliederung der Passage an dieser Stelle innerhalb der Rede eines Sprechers keinen Absatz zuläßt. Der Eingriff erfolgt jedoch nicht aufgrund einer Kontamination, sondern aus Berücksichtigung der textinternen Struktur. Einen weiteren Fremdfehler weist T in 25,27 auf: Alles von Saar in H durch Unterstreichung Hervorgehobene ist durchgehend in J sowie T gesperrt gedruckt worden, mit der Ausnahme von „ein", das zwar in H (48,36) unterstrichen und in J gesperrt gedruckt worden ist, jedoch in T offensichtlich aufgrund eines Setzerversehens nicht gesperrt erscheint. Es gehört zu Saars Stil, bestimmte Worte oder Passagen - auch in seinen Briefen - durch Unterstreichung hervorzuheben. Der Sinnzusammenhang ergibt, daß nicht der unbestimmte Artikel, sondern das numerale „e i n" gemeint ist, daß es nur ein e i n z i g e s Mittel für 124

Sandek gebe, sich aus seiner unheilvollen Lage zu befreien. Auch diese Emendation mischt nicht die verschiedenen Fassungen, sondern behebt einen Fehler in der textinternen Struktur114.

c. Die Rezeption der Tragik des Lebens Sobald im Dezember 1905 die ersten Druckexemplare der Tragik des Lebens vorliegen, bemüht sich Saar um die rasche Verbreitung und Besprechung des Buches - das er selbst oft als sein letztes bezeichnete115 -, indem er für die Versendung an Freunde, Literaturwissenschaftler und Rezensenten sorgt. Am 10. Dezember schreibt er dem Wiener Verlag. Für die Freiexemplare besten Dank. Die Ausstattung des Buches ist sehr nett und g e f ä l l i g ; schade daß es etwas verspätet ausgegeben wird. Die Versendung an schriftstellerische Persönlichkeiten werde ich soweit meine K r ä f t e reic h e n , selbst besorgen. Einstweilen bitte ich Sie, an die gelesenen Wiener Journale einschließlich der ,Oesterr. Rundschau' Rezensionsexemplare auszusenden. Sollten g e b u n d e n e Exempl. überhaupt hergestellt werden, so wären mir allerdings d r e i sehr erwünscht. Schließlich möchte ich auch bitten, an den deutschen Litteraturhistoriker: P r o f e s s o r A d o l f B a r t e l s Weimar. Lisztstrasse 5 sogleich ein Exemplar versenden zu lassen. (BrW 166)116

Bartels antwortet nach dem Erhalt des Bandes am 30. Dezember 1905:

114

In den genannten Fällen war jeweils entscheidend, daß mehrere Kriterien den Eingriff rechtfertigen und der Text durch die Fehler eine „offensichtliche oder nachweisbare Verschlechterung erleidet": „Den Nachweis hierfür liefert die Interpretation, die von der Betrachtung des Kontextes bis zur werkübergreifenden Umschau reichen kann, auf alle Fälle ihre Argumente stets offenlegen muß, so daß sie für jedermann nachprüfbar sind." (Polheim: Textfehler, S.87). 115 Vgl. auch Mailly, S. 117. 116 Adolf Bartels hatte schon in einem Brief vom 1. September 1905 mitgeteilt, er habe zwar Saars „letzte Novelle noch nicht gelesen" - damit war der Abdruck der Pfründner in der Neuen Freien Presse gemeint - allerdings von einer bevorstehenden Buchpublikation gehört („Ich las von einem neuen Bande Novellen? Sie müssen ja allerdings so weit fertig sein, daß ein Band gefüllt wird. Sehen Sie zu, daß ich sie rechtzeitig bekomme", BrW 7). Der Literaturhistoriker Bartels hatte Saar schon zu seinem 70. Geburtstag einen längeren Artikel gewidmet (Adolf Bartels: Ferdinand von Saar. In: Deutsche Welt. Wochenschrift der Deutschen Zeitung. Berlin, Jg. 6, Nr.1/3, 4/ 11.10.1903, S.3-5/ S.19-21.). Auch im Jahr 1905 veröffentlicht er einen langen Artikel (Adolf Bartels: Ferdinand von Saar. In: Adolf Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur. In 2 Bdn. 3.+4. Aufl. Leipzig 1905, Bd.2: Die neuere Literatur, S.634-641). 125

Ihren Novellenband habe ich erhalten und selbstverständlich sofort gelesen. Vor allem ,Die Pfründner' haben einen starken Eindruck auf mich gemacht, durch das einfache Herauswachsen aus dem Leben, die schlichte Form, das tiefe Grundgefühl. Aber auch die anderen drei Sachen sind interessant; eine eigentlich unappetitliche Geschichte wie „Sappho" so in die Sphäre des Fesselnden zu erheben bringt von den Jetztlebenden auch keiner wie Sie fertig. Nun wünschte ich, daß wir auch einige weniger trübe, einige warme und schöne Novellen von Ihnen erhielten. Die „Tragik des Lebens" werde ich bald besprechen. (BrW 8).

Saar präzisiert schon am 14. Dezember gegenüber dem Wiener Verlag seine Vorstellungen über Verbreitung und Besprechung des Buches, indem er eine Reihe von Personen nennt, denen der Band zugeschickt werden soll: In Folge der freundlichen Aufforderung übersende ich hiermit eine kleine Liste von Schriftstellern, an welche Sie das Buch m ö g l i c h s t b a l d absenden wollen, wofür ich schon jetzt besten Dank ausspreche. Was nun andere Persönlichkeiten betrifft, das heißt Privatpersonen, so möchte ich durch Zusendung der Bücher keinen Zwang üben lassen, da ich überzeugt bin, daß j e d e r , der einigermaßen mit mir befreundet ist, sich das Buch kommen läßt. In dieser Hinsicht war die heutige Notiz in der „Neuen Freien" sehr dienlich. Den gebundenen Exempl. sehe ich mit Freude entgegen. Ich hoffe, daß unser Buch e i n i g e r m a ß e n gehen wird. (BrW 167)

Drei Tage später, am 17. Dezember, als Saar die erbetenen ersten gebundenen Exemplare erhalten hat, fügt er der Liste der Kritiker und Wissenschaftler noch drei weitere Namen hinzu: Für die geschmackvoll gebundenen 3 Exemplare [...] verbindlichen Dank. Daß das Buch begehrt wird, freut mich sehr, wenn ich auch hinsichtlich einer 2'· Auflage mich nicht allzu großen Hoffnungen hingebe. Schließlich bitte ich noch d r e i Versendungen machen zu wollen: l./ H e r r n H o f r a t P r o f e s s o r A n t o n E . Schoenbach. G r a z Glacis(allee) 10 2.1 Herrn k. k. Professor H a n s P a u l Linz a/D. Spitalwiese 15. 3.1 Herrn B e r t o l d M o l d e n . Wien. Redaktion das Fremdenblatt. Schönbach wird in Graz, Hans Paul in Linz für das Buch wirken; Molden in ausländisch deutschen Blättern darüber schreiben. (BrW 168)117

117

Der Literaturprofessor Hans Paul antwortet Saar auf die Zusendung der Tragik des Lebens am 11. November: „Ich muß Ihnen sagen, wie sehr mich Ihre Dichtungen erheben, freuen, beruhigen und beglücken. [...] Jetzt lese ich Ihre Novellen mit doppeltem Genuß" (BrW 108). Ein anderes Mal schreibt er, er setze Saars Werke auf die Wunschzettel seiner Schüler (BrW 109). Anton Emanuel Schoenbach war Professor für Altgermanistik in Graz. In seinem mehrfach aufgelegten Buch Überlesen und Bildung. Umschau und Ratschläge, 7. Aufl., Graz 1905 (1. Aufl. Graz 1888), wird im Aufsatz Die neue deutsche Dichtung Saar ausführlich besprochen (S. 183-189). Das Fremdenblatt bringt am 27.12.1905 eine Besprechung der Tragik des Lebens (s.u.). Möglicherweise war Bertold Molden ihr Verfasser.

126

Zu Weihnachten übersendet Saar dem Dichter Max Kalbeck ein Exemplar mit der schwermütigen Widmung: Nimm dies Buch zu guter letzt! Alt und siech und wundgehetzt Hab ich's noch hervorgebracht. Jetzt doch sag ich ,gute Nacht'. Mich umfangt ein tiefes Dunkel Dich umleuchte Sternenfunkel! Dobling, Weihnachten 1905. (SW 3,99)

Im Dezember 1905 erscheinen auch die ersten Ankündigungen und Besprechungen der Tragik des Lebens in österreichischen und deutschen Zeitungen118. Als erste Besprechung bringt Die Zeit am 13. Dezember ein Kleines Feuilleton. Der weitgehend unkommentierten inhaltlich wiedergegebenen Einzelvorstellung der vier Erzählungen wird vorangestellt: Nach der Ebner-Eschenbach beschenkt uns nun auch Ferdinand von S a a r mit einem neuen Novellenbuch: „ T r a g i k des Lebens", erschienen im Wiener Verlag. Vier Novellen der geruhigen Lebensbetrachtung, ausgeglichen in der Form, abgeklärt in ihrer Anschauung von Welt und Menschen - aber in der psychologischen Gestaltung von ungeschwächter Eigenart und von intimster Nuancierung. [...] Saar liebt die novellistische Einkleidung, in der er Meister ist. Durch irgendeinen scheinbar nichtssagenden und zufälligen Vorfall angeregt, der aber in Wirklichkeit schon den Schlußpunkt unter die tragische Novelle setzt, rollt ein im zweiten oder dritten Grade Beteiligter das novellistische Bild von rückwärts auf. Gleichzeitig fällt mit der Person des Erzählers das Segment einer zweiten, kontrastierenden Novelle in den Lauf der Handlung ein.119

Die Münchner Allgemeine Zeitung bringt am 20.12.1905 folgende Notiz: Aus seiner Krankenstube sendet der schwer leidende Siebziger vier neue Novellen aus Oesterreich in die Welt, die in ihrer Kraft und künstlerischen Sauberkeit [...] unwiderlegbares Zeugnis geben, daß die eigentlich Jungen und Gesunden unter den Wiener Dichtern die dem Jahrgang nach alten und vom Siechtum heimgesuchten Meister geblieben sind. Saar malt diesmal slavische Arbeiter (Familie Worel); eine unselige Literatin (Sappho); eine böse Ehe-Irrung (Hymen); endlich eine Altwiener, im Pfründnerhaus mit Mord und Totschlag ausgehende Herzensge-

118

Das Polaer Morgenblatt bringt unter dem Pseudonym E. B. allerdings noch am 17.12.1905 ein lobendes Feuilleton über Saar, in dem Tragik des Lebens noch nicht genannt wird. Hier werden vielmehr ältere Werke empfohlen: „Saar gehört und das ist unbestritten - zu den Meistern der Novelle. Da Weihnachten vor der Tür steht, so kann man seine .Novellen aus Oesterreich' oder das ,Camera obscura'-Bändchen wohl nicht warm genug als passendes Weihnachtsgeschenk empfehlen." 119 [Anonymus]. In: Die Zeit, Wien, vom 13.12.1905. 127

schichte -: Tragik des Lebens, getaucht in die reine Stimmung des tief mitfühlenden Elegikers. Es sind nicht die geringsten Blätter des Meisters.120

Inhaltliche Einzelbetrachtungen der Erzählungen der Tragik des Lebens veröffentlicht das Neue Wiener Tagblatt am 24. Dezember 1905. Über den Erzählband heißt es hier: „ T r a g i k des L e b e n s " nennt der Meister der österreichischen Novelle, Ferdinand von Saar, den neuen Band, den er soeben veröffentlicht hat. Es sind in demselben vier Arbeiten der letzten Zeit vereinigt, deren Grundstimmung wohl dem Gesamttitel entspricht, von denen aber jede einzelne ein ganz anderes Milieu schildert und zu anderen Betrachtungen anregt. Man darf diese kristallklaren, in hellen Wasserfarben und in Freiluftstimmung gemalten Bilder aus dem sozialen Leben unserer Tage ohne Bedenken zu den reichsten Schöpfungen Saars zählen.121

Drei Tage später, am 27. Dezember 1905, stellt das Wiener Fremdenblatt den Band Tragik des Lebens vor (Verfasser Bertold Melden? - s.o. BrW 168): Daß in Saars Novellen die Liebe immer eine Rolle spielt, soll nicht geleugnet werden. Aber seine Dichtung ist nie im Spielen mit ihr aufgegangen und hat niemals müßig mit ihr getändelt. Für ihn ist der Inhalt des Lebens nicht Liebeszeitvertreib. Wenn die Liebe in das Schicksal seiner Gestalten eingreift, so kommt sie aus der Tiefe ihrer Natur oder trifft die Natur in der Tiefe; oder sie legt das ganze Wesen eines Menschen bloß, und es ist schließlich gleichgiltig, wo man den Menschen ansetzt, um ihn zu zeigen, wie er ist. [...] Der leitende Gedanke aller vier Novellen aber ist, daß der Mensch an sich zugrunde geht, daß er seine Tragik in sich selbst trägt.122

Die Besprechung sieht in dem Band eine Tetralogie von Tragödien. So werden Die Familie Worel als „Tragödie des Größenwahns", Sappho als „Tragödie der weiblichen Reizlosigkeit", Hymen als „Tragödie der Eitelkeit" und Die Pfründner als „Tragödie der Willensschwäche" bezeichnet. Eine weitere bloße Ankündigung der Tragik des Lebens bringt die Münchner Woche im Literarischen Wochenbrief, wo einzig Die Pfründner genannt und gegenüber den anderen Erzählungen hervorgehoben werden: Diese Novellen sind kleine Meisterwerke, die nur ein Menschenseelenkundiger, ein aufmerksamer Beobachter des Lebens, wie es Saar ist, hat fertigen können. Nirgends stößt man auf Erkünsteltes, hier ist alles naturwahr, lebensecht. Und 120

Allgemeine Zeitung, München, vom 20.12.1905, Rubrik Bücher und Zeitschriften. 121 [Anonymus]. In: Neues Wiener Tagblatt, Wien, Nr. 355 von Sonntag, dem 24. Dezember 1905, S.66f. 122 Epiker von heute, in Fremden-Blatt, Wien, Nr. 356 von Mittwoch, dem 27. Dezember 1905, S. 15. 128

darum auch die innige, von Rührung ergriffene Anteilnahme des Lesers an dem Sein und Vergehen der von der Tragik des Schicksals betroffenen Gestalten. Diese Menschen in ihren sie umgebenden Milieus weiß des Dichters feine Kunst der Schilderung fühlenden Herzen weiters noch so nahe zu bringen, daß sie die Armen noch so lieb gewinnen und deren herbes Los mit dem, der von demselben berichtet, wehmutsvoll betrauern. Die letzte Novelle des Buches „Die Pfründner" ist zweifelsohne die beste, zugleich aber auch das Bedeutendste, was in jüngster Zeit auf novellistischem Gebiete hervorgebracht worden ist.123

Mit dieser Bewertung der letzten Erzählung des Bandes steht die Münchner Woche nicht allein; immer wieder werden von der Rezension Die Pfründner als eigentlicher Kern der Tragik des Lebens ausgemacht124. Obwohl um die Jahreswende 1905/1906 eine Reihe von Ankündigungen und Besprechungen des Erzählbandes erfolgt sind, zeigt sich Saar Anfang 1906 verärgert, daß die Neue Freie Presse, in der Hymen und Die Pfründner als Erstdrucke erschienen, keine Besprechung des Erzählbandes bringt125. Weitere Ankündigungen, wie eine kurze Rezension von Adolf Bartels126 oder die lobende Notiz in Braumüllers literarischem Monatsbericht, widmen dem Erzählband nur wenig Raum. In dem Beitrag von J. L. Windholz heißt es:

123

Literarischer Wochenbrief, in Münchner Woche. Aktuelles illustriertes Blatt für Literatur, Kunst und Stadtrundschau. 2. Jahrgang. München, 14. Januar 1906. 124 Das Neue Wiener Tageblatt (24.12.1905, s.o.) etwa bezeichnet Die Pfründner als den „Clou" der Tragik des Lebens; die Berliner Deutsche Zeitung urteih in ihrer Literarischen Rundschau unter dem Titel Neue Erzählungen aus Deutsch-Oesterreich am 30.9.1906 (s.u.): „Das Meisterstück des Bandes ist unstreitig die Novelle ,Die Pfründner', die seiner berühmten Geschichte ,Die Steinklopfer' würdig an die Seite gestellt werden kann." (Vgl. auch III.2.d.). 125 Saar teilt Milows Sohn Max Morold am 6.2.1906 ohne Umschweife seine Enttäuschung mit: „[...] Kann ich es doch selbst nicht dazu bringen, daß mein neues Novellenbuch in der ,Neuen Freien' besprochen wird - und dabei bin ich doch ihr Mitarbeiter!" (BrW 98). Dabei richtet sich seine Erwartung nicht an Max Morold, denn gerade eine Rezension vom Sohn seines Freundes wäre dem Erfolg des Bandes abträglich: „Offen gestanden, habe ich Dich auch deshalb nicht gebeten, über mein neues Novellenbuch zu schreiben." (BrW 99, vgl. III. 1.a.). Milow schreibt er noch am 26. März 1906: „Die N. F. Presse macht sich wie immer g r a z i ö s . Sie war bis jetzt nicht zu brauchen, mein neues Novellenbuch besprechen zu lassen." (BrW 85). 126 Adolf Bartels: Ferdinand von Saar. In: Zeitfragen. Wochenschrift für deutsches Leben. Berlin, Jg. 2, H. 12, 19.3.1906. S.26-28. Hier heißt es am Anfang: „Von Ferdinand von Saar, dem österreichischen Dichter, [...] ist kurz vor Weihnachten noch ein neuer Novellenband erschienen, und das ist bei dem hohen Alter des Dichters wohl Ursache genug, noch einmal besonders über ihn zu schreiben. [...] Ja gewiß, sie [die Erzählungen] sind trübe und schwer, aber sie sind auch bedeutend."

129

Die ganze reife Kunst des Dichters offenbart sich in diesen Novellen, und sie alle sind von einer Schlichtheit des Aufbaus und einer Gelassenheit und Vornehmheit des Vertrages, wie sie nur einem Meister allerersten Ranges zu Gebote stehen.127

Eine äußerst kränkende Kritik für Saar128 erscheint am 15. März 1906 im Berliner Literarischen Echo. Kurt Martens attestiert dem Dichter, er sei von seiner Zeit überholt worden und nicht mehr anders als „historisch" zu betrachten129. In dem Artikel heißt es u.a.: Der gemütvolle mährische Dichter, der in seiner Heimat fast den Ruhm eines Altmeisters genießt, weiß noch immer kleine, belanglose Erlebnisse auf eine so stille, freundliche und geschmackvolle Art vorzutragen wie vor dreißig Jahren. Er ist sich treu, ist sich gleich geblieben, unberührt von den Stürmen, den Vorstößen deutscher Erzählungskunst. [...] Wie farblos schon dieser pleonastische Titel „Tragik des Lebens"! Als ob es irgend eine Tragik außerhalb des Lebens gäbe! Wirklich tragisch ist keine der vier Novellen, von den wuchtigen Schritten eines Schicksals, „das den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt", nirgends eine Spur.130

Diese vernichtende Kritik macht u.a. deutlich, wie fremd in Deutschland das österreichische Kolorit, die melancholische Stimmung und das geschilderte Gesellschaftsleben in der Endzeit des Habsburgerreiches anmutete. Während viele österreichische Rezensenten zwar den literarischen Tiefgang seiner Werke nicht ergründen konnten, in Saar jedoch einen heimischen Meister der Erzählung sahen, der verklärten Blickes über das herbstliche Land schaute131, so mutete seine Dichtung 127

J. L. Windholz, in: Braumüllers literarischer Monatsbericht, hrsg. von Wilhelm Braumüller & Sohn, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhandlung, IV. Jahrgang, Nr. 3, Wien, März 1906, S.8. 128 Tief getroffen äußert sich Saar gegenüber Marie von Ebner-Eschenbach am 22.6.1906, einen Monat vor seinem Tode: „Unlängst schrieb ein ,Junger' im ,Litt. Echo': man könne mich, den alten vornehmen Herren, nur mehr ,historisch' betrachten. Gegen eine solche ,Eselei' kämpft man vergeblich an. Also sei's!" (s. Kindermann, Brief vom 22.6.106; s. Anm.27). 129 Vgl. auch Skreb, S.88. 130 Kurt Martens: Romane und Novellen, in: Das Literarische Echo, Berlin, 15.4.1906. 131 So heißt es etwa im Polaer Morgenblatt vom 17.12.1905: „Saar ist der österreichischste Dichter, den wir gegenwärtig besitzen. Das heißt, er ist nicht nur in seinem ganzen Fühlen und Denken und daher in seinem literarischen Charakter Oesterreicher, er hat auch die Schicksale Oesterreichs in den letzten fünfzig Jahren tiefer miterlebt als irgend ein anderer, und indem er seine Empfindungen und Lebenserfahrungen in seinen Werken niederlegte, sind diese Werke gleichsam zu kulturhistorischen Dokumenten für Oesterreich in der zweiten Hälfte des abgelaufenen Jahrhunderts geworden [...]. Ferd. v. Saar ist von einem Kritiker ein Dichter des Herbstes, ein Dichter der Resignation genannt worden. Und in der Tat, jene Müdigkeit, welche hauptsächlich durch Grillparzer wenigstens für den Altösterreicher typisch geworden ist, lagert, oft stärker fühlbar, oft nur wie ein

130

anderswo derart fremd und rückgewendet an, daß der Hintergrund, der mythologische, historische und psychologische Gehalt von Saars Erzählungen vielfach nicht erkannt wurde. Endlich jedoch - kurz nach der lange erwarteten und immer wieder verschobenen Auslieferung der Verkaufsexemplare der Tragik des Lebens - erscheint auch in der Neuen Freien Presse eine lobende Kritik von Karl von Thaler132. In dem Artikel vom 6. Mai betont der Freund des Autors die autobiographischen Züge des Erzählbandes und kommentiert die melancholische, düstere Stimmung von Saars letzten Erzählungen: Ein neues Buch von Ferdinand von S a a r ! [...] Auch wenn er nicht mein ältester, liebster Freund wäre, würde ich ihm den Vortritt lassen, den ihm die Jüngeren wohl gönnen. Nicht ohne Wehmut vermag ich sein Buch „ T r a g i k des L e b e n s " zu betrachten. Die vier Novellen, welche es enthält, stammen aus neuester Zeit. Einer Zeit schwerer körperlicher Leiden für den Dichter, dem kaum mehr eine gesunde Stunde beschieden ist. [...] Aus dem Titel seines Buches, der so sehr zu seinem eigenen Loose stimmt, hört ein feines Ohr die trübe Stimmung, welche ihn manchmal zu überkommen droht. [...] Die Tragik des Lebens hat Saar immer beschäftigt. Er lernte sie selbst zu gut kennen und verstehen. [...] Als Mensch kann er noch heute heiter sein, als Dichter hat er einen ernsten, fast schwermütigen Zug. Der Grundton seiner Novellen ist ein milder Pessimismus, hervorgegangen aus Erfahrung und Beobachtung. Sein Lebensgang dämpfte die angeborene Fröhlichkeit. Das Glück war ein seltener Gast bei ihm und schritt meist an seiner Tür vorüber, ohne einzutreten. Hat es vielleicht manchmal feines Aroma über allen Dichtungen Saars." Diese Einschätzung ist in Österreich (wo zumindest der Name Saar allgemeinhin nicht unbekannt ist und seine Werke (etwa Die Steinklopfer) mitunter zur Schullektüre gehören) noch heute vielfach vorhanden. So hat auch der Österreicher Prof. Dr. Alexander Giese in seiner Rede zur Eröffnung der Ferdinand-von-Saar-Ausstellung in der Döblinger Villa Wertheimstein anläßlich seines 150. Geburtstages am 30.9.1983 über Saar gesagt: „Er ist einer der großen Menschen - und Milieuschilderer des 19. Jahrhunderts. Ohne ihn wüßten wir viel, viel weniger von unseren Groß- und Urgroßeltern, von allen den Menschen, die zwischen 1848 und der Jahrhundertwende die k. u. k. Monarchie bewohnten. Ich bewundere Saar! [...] Ich bewundere Saar, denn er ist in meinen Augen der größte Dichter der zweiten Jahrhunderthälfte, der größte Wiener Poet. (...) Ein alter Mann geht Zigarre rauchend durch die Stadt. So stelle ich ihn mir vor. Mächtig, adrett, exakt gekleidet - einer der unheimlichen Großväter mit den strahlenden Augen. Melancholiker zutiefst; er ist ja ein Genie." 132 Dieser teilt in einem Nachruf von der Ungeduld und Freude Saars in bezug auf seine Rezension der Tragik des Lebens mit: „Am 2. Februar kam noch ein Schreiben von Saar, das eine festere Handschrift zeigte, als viele vorher gesendete. Er beantwortete darin meine Anzeige, daß ich über die ,Tragik des Lebens' schreiben wolle [...]. Als ich von meiner Reise nach Sizilien zurückkehrte, fand ich zu Hause einen lieben Brief von Saar, in welchem er mir mit herzlicher Freude für die nach übermäßig langer Wartezeit endlich gedruckte Besprechung der .Tragik des Lebens' dankte. Das war Anfang des Juni." (Thaler, S.270).

131

angeklopft, und er hat es in poetischen Träumen überhört? In der Welt der Wirklichkeit konnte er, vornehm denkend und weichen Herzens, keine Freude haben. Er entnimmt ihr die Stoffe seiner Novellen, die größtenteils aus dem Kern eines eigenen Erlebnisses aufsprießen, aber er sinkt nie zum Gewöhnlichen herab. Er schildert wahr, doch mit ästhetischem Feingefühl, und das Häßliche und Gemeine braucht er wie ein Maler die tiefen Schatten. Die Kunst, mit einfachen Mitteln starke Wirkungen zu erzielen, ist Saar zu eigen.133

Saar hat sich mit diesem Artikel134 sehr zufrieden gezeigt. Er fühlte sich durch die Heraushebung der autobiographischen Züge der Tragik des Lebens zutiefst verstanden und stimmte dem Rezensenten zu, den Titel des Erzählbandes auf seine letzte Schaffensperiode rückzubeziehen (vgl. III. 1.a.). Am 8. Juni 1906 schreibt er an Karl von Thaler: Dein Artikel in der N. F. P. hat nicht bloß mich, sondern alle die mir persönlich näher stehen, sehr erfreut. Nimm also den herzlichsten Dank entgegen von Deinem alten Saar. (BrW 152)

Infolge der Veröffentlichung des Erzählbandes erscheint am 15. Mai 1906 im Morgenblatt der Grazer Tagespost eine weitere wohlwollende Kritik, welche in den neuen Erzählungen jedoch nur Wiederholungen älterer Werke sieht. Auch hier wird der Buchtitel auf die biographische Situation des Autors bezogen. Emil Hadina stellt seiner Besprechung unter dem Titel Tragik des Lebens zunächst das Gedicht Vorgesang und eine Charakteristik Saars voran: Es ist immer der abgeklärte ältere Mann, der mit einem wehmütigen Lächeln sinnend ins Abendrot blickt. Herbststimmung. [...] Mit einem glücklichen Griffe hat er sich 1866, als er sein Meisterstück „Innozens" hinauswarf, den hervorragenden Platz unter den deutschen Novellisten errungen, ohne über sein Erstlingswerk hinaus wachsen zu können. „Innozens" und das zarte Brieftagebuch „Marianne" hat Saar, glaube ich, nicht wieder erreicht. „ T r a g i k des Lebens" hat Saar seine neuen vier Novellen genannt. Der Titel sagt, was wir zu erwarten haben. Es sind durchaus schwache Personen, deren Liebesleben und erfolgloses Hoffen wir kennen lernen, es sind durchaus still entsagende Naturen, die in der Einsamkeit beisammen sitzen und f r ü h e r e Tage aufleben lassen.135

Hadina schließt auf die folgende Einzelbetrachtung der Erzählungen mit den poetischen Zeilen:

133

Karl von Thaler, Neue Novellen und Romane, in: Neue Freie Presse, Wien, 6.5.1906. 134 Auf Marie von Ebner-Eschenbach hat diese Rezension Karl von Thalers einen wohlwollenden Eindruck gemacht, wie sie Saar am 9. Mai 1906 aufmunternd mitteilt: „Die Besprechung in der n. f. Presse war sehr gut gemeint und das muß man einem Kritiker vom Fach hoch anrechnen." (BrW 25). 133 Emil Hadina, „ Tragik des Lebens. " Neue Novellen von Ferdinand v. Saar, in Tagespost, Morgenblatt, Graz, Jg. 51, Nr. 132 vom 15.5.1906.

132

Das sind nun die vier Novellen des alten Saar. So geh denn hin, du schmuckes Spätkind deines Vaters, erzähle seinen Freunden, daß der Alte noch lebt und sinnt und dichtet, erfreue sie mit dieser neuen Gabe.

Im Juni 1906 erscheint eine weitere Rezension in den Wiener Mitteilungen aus dem Gebiete der Litteratur, Kunst, Kartographie und Photographic. Leopold Hörmann urteilt hier: „Tragik des Lebens" ist der Titel des Buches, mit Recht, denn in jeder der Geschichten richtet sich ein Schicksal vor uns auf, bald bemitleidenswert, bald erschütternd.136

Die nächste Rezension der Tragik des Lebens erscheint erst zwei Tage nach Saars Tod, am 25. Juli 1906. Dem Verfasser war zu dem Zeitpunkt, als er die Kritik schrieb, Saars Ableben noch nicht bekannt; die Redaktion hat in einer Anmerkung Saars Freitod erwähnt und wohl kurzfristig den Titel Letzte Novellen von Ferdinand von Saar gewählt. W. A. Hammer beginnt seine Besprechung im Dresdner Anzeiger. Trotz schwerer physischer Leiden, die dem Künstler jede Schaffenslust und Schöpferkraft zu rauben geeignet sind, beschenkte uns auch heuer der greise österreichische Poet mit einem neuen Novellenbande [...]. Kenner seiner Lebensgeschichte können in den durch prägnante Ausdrucksform gezeichneten Novellen eigene Erlebnisse des Dichters wiedererkennen oder wenigstens vermuten, wiewohl da überall der Dichter als Künstler wirkt und verschleiert, wo es sein Zartgefühl verlangt.137

Nach den Besprechungen der einzelnen Erzählungen (s. III.2.d.) schließt Hammer seine Rezension: Wenige Dichter unserer Zeit zeichnen sich durch eine solche Fülle von Schönheit, Reinheit und Kürze der Sprache aus wie Saar, wenige haben aber auch so spät Anerkennung im eigenen Vaterlande gefunden, wie er. [...] Der einfache und meist vorgebetete Vorwurf, daß seine Dramen der Bühne nicht angepaßt seien, war wohl für jene in erster Linie eine Ausrede [...]. Hoffentlich feiern seine Bühnenschöpfungen doch die wohlverdiente Auferstehung, die seine übrigen Werke schon erlebt haben. Seine Novellen haben schon einen mächtigen Leserkreis, der sich weit über Deutschlands Gaue erstreckt, und gehören der Weltliteratur an.

Ähnlich positiv bewertet auch die Berliner Deutsche Zeitung postum die Tragik des Lebens. Am 30. September 1906 erscheint in der Rubrik Literarische Rundschau unter dem Titel Neue Erzählungen aus Deutsch-O esterreich eine kurze Buchvorstellung, in der es heißt: 136

Leopold Hörmann: Neue Novellen von Ferdinand von Saar. In: Wiener Mitteilungen aus dem Gebiete der Literatur, Kunst, Kartographie und Photographic (= Lechner's Mitteilungen, N.F.). Wien, Jg. 18, Nr.2 (Juni 1906), S.llf. 137 W. A. Hammer, Letzte Novellen von Ferdinand v. Saar, in: Dresdner Anzeiger, Jg. 176, Nr. 202 vom 25.7.1906.

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Der reifende Sommer hat uns eine Anzahl von erzählerischen Büchern bekannter deutsch-österreichischer Dichter auf den Tisch gelegt, denen wir [...] kein besseres Attribut geben können als: reif. In erster Linie sei der kürzlich verstorbene Altmeister der österreichischen Novelle genannt: Ferdinand von Saar, mit seinem letzten Novellenbuch „Tragik des Lebens" [...]. Saar hat auch noch hier seine alte, scheinbar ganz kunstlose, in Wahrheit aber fein durchgearbeitete Erzählweise, die wir so lieb gewonnen haben. Er blendet nicht, aber er entzückt jeden, der sich ihm hingibt, durch die zarte und doch so eindringliche Seelenanalyse [...]. Auch hier zog es den Dichter, der selbst durch tiefes Leid gegangen ist, wieder zu den Enterbten des Glücks, und wie er uns von ihren Kümmernissen und Schmerzen [...] erzählt, da hört man seine eigene Stimme in Mitleid erzittern.138

Auch die Wiener Zeitschrift Das Wissen für alle bringt Ende 1906 eine Besprechung der Tragik des Lebens. Ernst Lissauer schreibt ohne jede Erwähnung von Hymen über den Band: Ferdinand von Saar, der vor wenigen Monaten schied, hat noch in diesem Jahre ein letztes Novellenbuch veröffentlicht: „Tragik des Lebens." [...] Dies Buch steht künstlerisch hinter anderen Arbeiten Saars zurück. Wenn man jedoch weiß, daß es unter körperlichen Hemmungen verfaßt ward, so fühlt man menschliche Hochachtung vor der Energie des Dichters. Es fugt dem Bilde Saars nicht neue Züge hinzu, doch es verstärkt die bekannten. [...] Saar bemüht sich in diesem Buche wiederum, sozial tiefstehende Schichten darzustellen. [...] Doch reicht das Vermögen des Dichters nicht aus. [...] Diese Themen mußten entweder ganz groß, symbolisch, in massigen Umrissen dargestellt werden oder mit sorglichster Kleinarbeit und Nuancierung des psychologischen und soziologischen Details. Dazu aber war Saar zu alt.139

Eine äußerst lobende Kritik seines letzten Erzählbandes veröffentlicht die Neue Zeitung, Bote für das Viertel und den Manhardsberg, Oberhallabrunn noch am 27. Februar 1907 zusammen mit einem Nachruf auf Saar. Im Feuilleton schreibt Viktor Traußl voll Bewunderung über Ferdinand von Saars letzte Novellen: Mit einem grellen Mißklang hat ein stilles Poetenleben geendet, das eigentlich [...] hätte ausgehen müssen wie das verbleichende Rot über den Gipfeln des Kahlenberges, wie der verklingende Hauch eines Liedes, das junge Mädchen, die vom Weine heimziehen, in die Sommernacht singen, wie das letzte verhauchende Flüstern des Abendwindes in den dunklen Wipfeln des Wienerwaldes [...] Ganz eigentümlich berührt es, wenn man die letzten Novellen des Dichters liest. „Tragik des Lebens" hat er selbst diese Sammlung benannt, als ahnte er die Tragik seines

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Neue Erzählungen aus Deutsch-Oesterreich, in: Literarische Rundschau, Deutsche Zeitung, Berlin, 30.9.1906. 139 Ernst Lissauer: Novellen, Skizzen, Abenteuer. [Eine Besprechung von Werken u.a. von Ferdinand von Saar, Georg Hirschfeld, Hans Land, Felix Holländer.] In: Literarische Rundschau, in: Das Wissen für Alle. Wien, Jg. 6 (1906). S.552f.

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eigenen Lebens. Vier Novellen sind in diesem Buche enthalten, Kabinettstücke feinster, psychologischer Untersuchung.140

Nachdem er jede einzelne Erzählung näher besprochen hat (s. III.2.d.), schließt Traußl: Auch wenn der verblichene Dichter nichts anderes als diese kleinen Novellen, die ich eigentlich eher psychologische Studien nennen wollte, geschrieben hätte, so wäre sein Name für urdenkliche Zeiten gesichert. Ein Hauch edelster Poesie, ein ahnungsvoller Todesschauer zittert in jeder Geschichte nach - den Erzählungen von der Tragik des Lebens.

Noch in einem späten Nachruf auf Saar heißt es über den Erzählband: Ermuntert begann Saar aufs neue zu schaffen und es ist bemerkenswert, wie meisterhaft gerade sein letztes Werk „Tragik des Lebens" (vier neue Novellen) gearbeitet ist. Die vier letzten Novellen Saars zählen unstreitig zu seinen besten und reichsten.141

d. Die Rezeption von Hymen Immer wieder bewerteten Rezensenten sowie Freunde und Bekannte Saars Die Pfründner als wichtigste Erzählung der Tragik des Lebens142. Ähnlich wie Adolf Bartels, der nach dem Erhalt des Bandes diese Erzählung hervorhob („Vor allem ,Die Pfründner' haben einen starken Eindruck auf mich gemacht, durch das einfache Herauswachsen aus dem Leben, die schlichte Form, das tiefe Grundgefühl.", BrW 8), hatten schon Saars Freunde auf die Publikation in der Neuen Freien Presse (15.8.-8.9.1905, WrStB I.N. 18.529) reagiert. Die Erzählung hatte Betroffenheit ausgelöst143. Dieses mochte u.a. daran gelegen haben, daß sie 140

Viktor Traußl, Ferdinand von Saars letzte Novellen, in: Neue Zeitung, Bote für das Viertel und den Manhardsberg, Oberhallabrunn, 27.2.1907. 141 Eduard Bacher: Ferdinand von Saar. Leipzig 1908 (= Beiträge zur Literaturgeschichte, H.43). 142 Vgl. etwa Neues Wiener Tageblatt (24.12.1905); Deutsche Zeitung (30.9.1906). Auch Hubicki urteilte noch 1909: „Aus der letzten Sammlung ,Tragik des Lebens' sei als Perle die Novelle ,Die Pfründner' hervorgehoben." 143 Der Erfolg der Pfründner bei Saars Freunden und Bekannten geht sicherlich auf deren autobiographische Züge zurück. Wer Saar kannte, mußte in den Pfründnern dessen eigene Tragödie erkennen (was bei späteren Rezensionen oft zur Bewertung der Pfründner als zentraler Erzählung in der Tragik des Lebens führte, s.u.). In einer Antwortkarte an Karl von Thaler vom 11.9.1905 gesteht Saar den Bezug zu seiner eigenen Tragödie offen ein: „Innig erfreut hat mich dein Lob der ,Pfründner'. Den meisten wird es zu wenig m o d e r n sein. Habe viel von meinem eigenen Jammer hineingelegt." (BrW 151). Rührung und Bestürzung 135

von Saar oftmals als letzte angekündigt worden war (s. BrW 17, 55) und mit ihrer Melancholie dem Gesamttitel am nächsten kam. Dazu nimmt sie im Band die Position der letzten Erzählung ein. Im Gegensatz zu den Pfründnern ist Hymen offensichtlich weniger mit dem Empfinden Saars in seinem letzten Lebensjahr identifiziert worden, was mit der Thematik der Reifung und Sexualität, die zu anderen Lebensphasen paßt, zu tun haben mag. Hinzu kommt, daß Saar seinen Bekannten über Hymen wohl wenig mitgeteilt hat. Seine enge Freundin und Vertraute Marie von EbnerEschenbach, die am 7. September 1905 - also auf die Publikation der Pfründner in der Neuen Freien Presse (15.8.-8.9.1905) hin - Saar versicherte, „Ihre neue Novelle [hat] mir's angetan" (BrW 22), schrieb ihm nach Erhalt der Tragik des Lebens am 13. Dezember: An Ihrem Buche, bester Freund, habe ich eine unbeschreibliche Freude. Denken Sie, daß ich ,Hymen' nicht kannte. Jetzt genieße ich die schöne Novelle ganz langsam, Zeile für Zeile, mit der intensiven Wonne, die ich nur beim Lesen Ihrer Arbeiten empfinde. Aber Ihr l e t z t e s Buch? Davon darf die Rede nicht sein. (BrW 23).

Die Rezensenten der Tragik des Lebens haben die Erzählungen vielfach nur an ihrer Oberfläche gedeutet, ohne auf die psychologischen oder mythologischen Hintergründe näher einzugehen144. Auch Adolf Barrels, der Verehrer und Freund Saars, bleibt bei einer kurzen Mitteilung: In der „Sappho" lernen wir einen nicht sehr sympathischen Typus der modernen Schriftstellerin kennen, „Hymen" erklärt uns ein seltsames Liebesverhältnis beide Novellen haben viel Abstoßendes, aber doch hat die Kunst das Recht, dergleichen bedenkliche Dinge zu behandeln, wenn es in der richtigen Weise geschieht145.

waren oft die Reaktionen auf diese melancholische Erzählung. So etwa bei Max Morold und seiner Frau Martha, die Saar am 13.9.1905 aus Graz eine Karte schrieben: „Wir lasen die ,Pfr.' u. waren von dieser b e s o n d e r s schönen u. meisterhaften Novelle z u T r ä n e n g e r ü h r t . W i e g e h t e s D i r ? " (BrW 101). Darauf antwortet Saar am 18.9.1905: „Daß die ,Pfründner' Euch beiden gefallen haben, freut mich sehr; auch sonst hör' ich nur Gutes drüber. Durch die Verteilung auf 5 Nummern hat die Gesamtwirkung doch gelitten." (BrW 90). 144 Diese Erfahrung war Saar nicht neu. So wurden etwa die Erzählungen Innozens (s. Gierlich, S.83ff), Seligmann Hirsch (s. Haberland: Seligmann, S.98ff), Herr Fridolin und sein Glück (s. Kaiser, S.lOlff.) sowie Die Geigerin (s. Gierlich, S. 61 ff.) ebensowenig nach ihrem ersten Druck in ihrer tieferen Bedeutung erkannt. 145 Adolf Bartels: Ferdinand von Saar. In: Zeit fragen. Wochenschrift für deutsches Leben. Bartels äußert sich hier wesentlich ausführlicher über Die Pfründner.

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Andere Kritiker sehen in der Erzählung Hymen lediglich „eine böse Ehe-Irrung" (Allgemeine Zeitung, München, 20.12.1905), ein andermal heißt es knapp: In „Hymen" geht ein Lebemann an Paralyse zu Grunde, nachdem er allzu regelmäßig fremden Ehegattinnen nachgestellt hat. Vielleicht glaubte Saar, hiermit „moderne Stoffe" zu behandeln. Angenommen, es wären welche, so liegen sie ihm keineswegs. Der sanfte, vornehme alte Herr kennt sich in diesen nicht immer durchsichtigen, vulgären Verhältnissen gottlob viel zu wenig aus.146

Dieses pauschale Urteil, das die Handlung auf eine gewollt „moderne" Stoffauswahl reduziert - oben konnte gezeigt werden, daß der Stoff von Hymen Saar möglicherweise schon lange vor 1900 vor Augen gestanden hat, vgl. III.l.b. -, wird jedoch von keinem anderen Kritiker geteilt. Hingegen wird Hymen auch als „Tragödie der Eitelkeit" apostrophiert, bei der „ein Offizier im Liebes-Konkurrenzkampf gegen einen Rivalen [...] die Niederlage nicht zu ertragen [vermag]" und deshalb im Wahnsinn ende147. Viktor Traußl reduziert die Handlung Hymens auf die Formel: Es ist die alte Geschichte, daß ein Mensch, weil er sich betrogen und nicht geliebt glaubt, sich selbst den Tod gibt.148

Dergestalt wird die fälschlich unter dem Titel „Hymne" vorgestellte Erzählung als Typenstudie aufgefaßt. Es heißt, in „diese alte Schablone" habe der Dichter „eine Fundgrube für psychologische Studien" gegeben, in dessen Zentrum Sandek als „eine Mustertype eines jener Wiener Lebemänner" stehe, „die die Liebe als tägliches, abwechslungsreiches Vergnügen genießen und bei der ersten großen, echten Liebe klein und schwach werden." Dementsprechend wird die Hofrätin als Opfer rücksichtsloser Männerinteressen gesehen, als eine Frau, „die eigentlich zwei Männer zu lieben glaubt und sich endlich dem rücksichtslosen Schriftsteller gänzlich in die Arme wirft, während sein Nebenbuhler in den Tod geht." Andere Interpreten gehen von der Hofrätin als eigentlicher Protagonistin der Erzählung aus. In der Wiener Zeit (13.12.1905) etwa wird sie als gehetzte, leidenschaftliche Natur vorgestellt, als „das Weib, das zuviel geliebt, zuviel begehrt wird [und] an seiner Natur zerschellt." Die Geschichte der passiven Heldin werde, so heißt es hier, „diesmal vom

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Kurt Martens: Romane und Novellen, in: Das Literarische Echo, Berlin, 15.4.1906. ™Fremdenblatt, Wien, 27.12.1905. 148 Viktor Traußl, Ferdinand von Saars letzte Novellen, in: Neue Zeitung, Bote für das Viertel und den Manhardsberg, Oberhallabrunn, 27.2.1907. 137

Dichter selbst als von ihrem zufälligen Beobachter erzählt", was sich nachteilig auf den Gehalt der Erzählung auswirke: Auf Beobachtung und Gesellschaftsklatsch angewiesen, bleibt uns die Novelle, ihrer scharfen psychologischen Motivierung ungeachtet, einigermaßen entrückt.

Von „pikantem Reiz" der Erzählung ist im Dresdner Anzeiger (25.7. 1906) die Rede. Der Rezensent W. A. Hammer sieht durch Hymen Saars profunde Frauenkenntnis bestätigt und vermutet ein besonderes Interesse der weiblichen Leserschaft am legeren Lebensstil der Hofrätin. Hingegen sei Sandek der tragische Held, der aus unerwiderter Liebe sterbe. In der Kritik heißt es: Diese Erzählung, die dritte im Bande, ist von pikantem Reiz, geradezu französischem Genre. Der Feder eines Guy de Maupassant hätte sie nicht besser gelingen können. Abgesehen von dem sittlichen Ernst, von dem sie durchdrungen ist, kann man sie doch keine Mädchenlektüre a la Marlitt oder Werner nennen. Sicherlich werden sie aber Frauen gern lesen; denn Saar zeigt sich da wieder einmal als ein feiner Kenner des Weibes, als ein Psycholog, der die rätselhaften Neigungen der Frauenseele zu deuten und zu ergründen weiß. Das blühende, lebensfrohe Weib in den Jahren ihrer vollen Reize an der Seite eines alternden und griesgrämigen Gatten, aber von heißspornigem jungen Blut umworben.

Als literarisches Zeugnis von Saars Kenntnis der weiblichen Psyche bezeichnet auch das Neue Wiener Tagblatt (24.12.1905) die Erzählung. Hier heißt es über Hymen: Mehr als jemals verrät der Dichter in dieser Erzählung seine tiefe Kenntnis des weiblichen Herzens, der weiblichen N a t u r . Er gruppiert um eine einzige Frau, die er überdies in ein gewisses Halbdunkel rückt, eine ganze Galerie von Gestalten, die durch romanhaft verschlungene Schicksalsfäden miteinander verknüpft sind, und er weiß damit den Eindruck eines vollen Wirklichkeitsbildes zu erzielen. Den männlichen Helden hat er sich wieder einmal, wie schon so oft, aus seinem einstigen Regiment geholt, und er mischt das Offiziersmilieu mit anderen Gesellschaftsschichten in jener reizvollen Weise, die wir immer an seiner Darstellungskunst bewundert haben.

Deutlich wird die Hofrätin als Mittelpunkt der Erzählung ausgezeichnet, um den herum sich die übrigen Figuren gesellten. Sandek wird wiederum als Typus aus Saars eigener Militärzeit, gar mit einem realen Vorbild aufgefaßt - ganz im Sinne von Saars eigener Aussage, die Personen in seinen Erzählungen seien alle „Original = das heißt wirklich ge s c h a u t e Figuren", während „die H a n d l u n g fast ganz m e i n e Erfindung ist."149 Der Kritiker des Neuen Wiener Tagblattes kommt hier zu einem ähnlichen Ergebnis, wie es im Zusammenhang mit dem Frag-

149

BrA, S.67(vgl. III.l.b.).

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ment Der Hauptmann Karl von B. gewonnen werden konnte (vgl. III. l.b.). Eine profunde Analyse Hymens erscheint im Morgenblatt der Grazer Tagespost (15.5.1906). Emil Hadina sieht hier ebenfalls die Hofrätin als eigentliche Akteurin des Geschehens, nennt aber als Thema der Erzählung „das Verlieben in eine verheiratete Frau, die sich mehreren hingeben kann, ohne im Schlamm zu versinken", womit Sandeks Tragödie in den Mittelpunkt gerückt wird. Seine Analyse beginnt Hadina jedoch von der Figur der Hofrätin ausgehend, deren Verwandtschaft mit Ninon er einleitend herausstreicht: „Gottes Wege sind wunderbar," schließt Saar seine Novelle „Ninon", „noch wunderbarer jedoch sind die der Frauen." Eine solche wunderbare Frau ist auch die Heldin der dritten Novelle unserer Sammlung, „Hymen".

Der Rezensent faßt sie als „Gegenspiel zu ,Sappho'" auf, denn sie wirke „beim ersten Anblicke abstoßend; pflegt man den Umgang mit ihr", werde sie „verführerisch und gefährlich", Sandek sei lediglich ihr Opfer: „Sie richtet ihn zugrunde." Weiter heißt es über die Hofrätin, die zu jenen Frauen gehöre, „die Vernunftehen geschlossen und nun auf Nebenwegen zu ihrem Glücke zu kommen suchen", sie sei zwar „energisch und willensstark" in bezug auf ihre Eroberungen, „eine Seelenstärke, der sich auch ihre Neigungen unterzuordnen haben, die eine harmonische Einheitlichkeit der Person bedingt", besitze sie aber nicht. In der ungezügelten, eigensüchtigen ,femme fatale' sieht Hadina eine Lieblingsfigur des Dichters: „Da haben wir wieder die Saarheldin." Sie wird als Urheberin der verhängnisvollen Wiederkehr des Unglücks ausgemacht, deren Tochter, die der Affäre mit Sandek entstammt und ebenfalls einen ungeliebten Mann heirate sowie von einem Intellektuellen getäuscht werde, unwillkürlich die Erfahrungen der Mutter wiederhole. Doch hier entdeckt der Rezensent die Unterbrechung des Unglückskreislaufes, welche auch in der vorliegenden Deutung zum Tragen kommt: Da spricht aber der Autor - Gott sei Dank! - ein energisches Halt und alles löst sich in Wohlgefallen auf. Die Tochter wird sich niemandem mehr hingeben, wird entsagen und sich nur der Erziehung ihres Kindes und öffentlicher Wohltätigkeit widmen. So wiegt sich auch über diesem verworrenen und unerquicklichen Bilde schließlich ein fröhlicher Zukunftssonnenstrahl.

Der Rezensent hat hier die Kette immer gleicher psychologischer Konstellationen gesehen und deren Auflösung durch die Tochter herausgestellt. Damit lieferte er die tiefgehendste und schlüssigste Deutung unter den erhaltenen Rezensionen zum Erscheinen der Tragik des Lebens. 139

3. Die Textgeschichte Hymens seit Saars Tod Die Erzählung ist seit Saars Tod lediglich in zwei weiteren Ausgaben erschienen: in Jakob Minors Gesamtausgabe von Saars Werken150 (in Fraktur), sowie in der 1959 erschienenen dreibändigen Ausgabe von Saars erzählerischem Werk im Wiener Amandus-Verlag151. Die beiden Ausgaben unterscheiden sich in einigen - wenn auch nur wenigen - Punkten von der Ausgabe letzter Hand im Band Tragik des Lebens (T), welche dem hier vorgelegten Text als Grundlage dient152 (vgl. III.2.b.). Dementsprechend weisen sie folgende Abweichungen von der vorgelegten Ausgabe auf: Es handelt sich um die orthographischen Sammelvarianten von Großund Kleinschreibung bei „Ändern / Anderen / Andere" (19,31; 20,6; 20,12; 20,13; 20,14; 23,19; 23,25; 24,1; 24,33; 25,17; 26,20), wo die Ausgabe Minors (SW) sowie jene im Amandus-Verlag (A) klein schreiben; um Getrennt- und Zusammenschreibung bei „fein geschnittenen" (14,38), wo A zusammenschreibt, bei „hin- und herschritt" (24,17), wo SW, A getrennt schreiben („hin und her schritt"), bei „irgendeiner" (25,39f.), wo SW getrennt („irgend einer") schreibt, bei „auf- und niedergehen" (26,18), wo SW, A getrennt („auf und nieder gehen") schreiben und bei „zurecht finden" (32,30f.), wo A zusammenschreibt, sowie um die Schreibung von „par depit" (19,26; 19,27), wo SW, A den französischen Akzent („par depit") setzen. Bei „Schinkenschnitte" (29,26) setzt A Plural -n („Schinkenschnitten"). Ferner ist der Wegfall des Dativ-e zu nennen bei „Gespräche" in A (13.7) und SW, A (20,32); bei „Augenblicke" (25,11) in A; bei „Stirne" (26.8) in SW, A. Ähnlich auch der Wegfall der -e bei „lange" (21,9) in SW, A; „benutzte" (22,4) erscheint in SW, A mit Umlaut („benützte"); „gleichgültig" (24,1) erscheint in SW mit -i („gleichgiltig"). Wortvarianten finden sich bei „dem" (13,2), wo SW, A „den" schreiben (Druckfehler?) und bei „nachdrücklich" (19,10), wo A „sehr" 150

Jakob Minor (Hrsg.): Ferdinand von Saars sämtliche Werke in zwölf Bänden. (Bde. 1-12 in 4 Bdn.), Leipzig o. J. [1908]; Bd. 12, S.65ff. [zitiert als: SW 1-121. 151 Ferdinand von Saar. Gesamtausgabe des erzählerischen Werkes. (Bde. 1-3), Wien 1959; Bd. 3, S.277ff. 152 Das auch hier verwendete Exemplar des Druckes T aus der Wiener Stadt- und Landesbibliothek (I.N. 18.525, s. V. La.) hat offenbar auch Jakob Minor benutzt, da dort die Varianten des Textes seiner Gesamtausgabe markiert sind (etwa T, S.94; 100; 105; 109; 114; 115). Dazu ist auf S.83 des Exemplars handschriftlich jenes „Vorwort des Herausgebers" notiert, welches in der Leipziger Gesamtausgabe (SW 12, 67) der Erzählung vorangestellt wird. 140

schreibt. Bei 16,40f., wo es heißt „Eine stadtbekannte Persönlichkeit fiel schon [...]" setzen SW, A „Eine stadtbekannte Persönlichkeit, fiel er schon" (vgl. III.2.b.). Als grammatische Variante setzt A bei „ein schwarz gerändertes Parte" (28,19) feminin „eine schwarz geränderte Parte" und dementsprechend im Folgesatz statt „Es" (28,19) „Sie". Verschiedene Interpunktionsvarianten fallen auf bei den drei Pünktchen an Satzenden, wo SW erst den Punkt zur Beendigung des Satzes, dann die drei Pünktchen setzt (14,34; 26,8; 26,18; 33,27) [in 26,18 setzt T nur einen Punkt am Satzende], sowie bei doppelten Gedankenstrichen, wo A wiederholt nur einen setzt (19,17; 19,34). Anstelle von doppelten Anführungsstrichen bei „Meister" (29,16) setzten SW, A nur einfache Anführungsstriche (»Meister'). Das Komma am Ende der wörtlichen Rede variiert bei „Verzeih'," (17,20) in A („Verzeih"',); bei „Par depit", (19,27) in SW („Par depit,"); bei „O," (19,34) in A („O",); bei Freund", (19,35) in SW (Freund,"); bei Persönlichkeiten", (20,11) in SW (Persönlichkeiten,"); bei Freund," (23,4) in A (Freund",); bei also," (24,3) in A (also",); bei „Ja," (25,31) in A („Ja",); bei „Ja, ja", (26,8) in SW („Ja, ja,"); bei Aber", - (26,8) in SW, A (Aber" -); bei Witwer", (27,21) in A (Witwer,") und bei irre," (28,6) in A (irre",).

4. Hymen und die wissenschaftliche Literatur Die Forschung hat von Hymen bislang wenig Notiz genommen. Arbeiten, die sich mit inhaltlichen Aspekten eingehend beschäftigen, liegen nicht vor. Offensichtlich wurde die Erzählung bisher als eine der weniger prägnanten und für Saars Erzählstil und Thematik weniger typischen Werke aufgefaßt, so daß auch Saars Biograph Anton Bettelheim sie nur beiläufig erwähnte153. Eine Ausnahme bildet allerdings Aspetsbergers Untersuchung von Saars Erzähl verhalten134. Hier wird auf die Erzählung näher eingegangen, deren Titel Aspetsberger mit „Hochzeitsgesang" übersetzt und 153

Bettelheim, SW 1: Hymen ist erwähnt auf S. 150 und 164, dazu i. E. s.u.; Bettelheim äußert sich gar nicht über Hymen in dem ausführlichen Nachruf: Anton Bettelheim: Ferdinand von Saar. [Nachruf] In: Die Nation. Wochenschrift für Politik, Wissenschaft und Literatur. Berlin, 23. Jg., Nr.44. 4.8.1906. Sp.695698. 154 Friedbert Aspetsberger: Die Typisierung im Erzählen Ferdinand von Saars. (s. Aspetsberger), S.268ff. 141

in deren Zentrum er die Tochter Sandeks sieht. Der Ausgang wird ironisch verstanden - und damit als ambivalent gedeutet. Die sonst eher geringe Beachtung, welche Hymen in der wissenschaftlichen Literatur genießt, mag ihren Grund zum einen darin haben, daß die Erzählung mit ihrer Thematik von Liebesränke und der poetischen Auflösung der Tragik in der dritten Generation so wenig in die letzte Schaffensperiode des Autors, die von Resignation und Krankheit gezeichnet war, zu passen scheint. Zudem erschien die Erzählung in der Tragik des Lebens an ungünstiger Stelle zwischen der mehr beachteten Sappho und den weitgehend mit Saars eigenem Lebensschmerz identifizierten Pfründnern., welche die Erzählung seitdem überschattet haben. Zum zweiten wurde diese - bis heute in der Sekundärliteratur vorherrschende - Überlagerung Hymens vor allem durch die Pfründner von Saar selbst mithervorgerufen, da er in überlieferten Briefen gegenüber Freunden und Bekannten Die Pfründner immer wieder als sein letztes Werk bezeichnete, in dem er den Schmerz seines ganzen Lebens zusammenfassen wolle (vgl. III.2.d.). Ein dritter Grund für die geringe Beschäftigung mit Hymen kann in ihrem hoch psychologischen Gehalt und der verschlungenen formalen Gestaltung liegen, die eine sehr detaillierte und umfassende Analyse verlangt. Die überwiegende Zahl der bisherigen Forschungsbeiträge über Hymen hat die Erzählung jeweils nur beiläufig, im Hinblick auf einzelne formale oder inhaltliche Aspekte erwähnt. Dabei blieben die jeweiligen Beobachtungen oftmals losgelöst vom Gehalt der Erzählung und man beschränkte sich auf oberflächliche Vergleiche mit anderen Werken Saars. Umfassende Analysen, bei denen der ganze Gehalt von Hymen zum Tragen käme, liegen nicht vor. Die Kriterien, unter welchen sich die Literatur bisher mit Hymen beschäftigt hat, lassen sich grob unter drei Gesichtspunkten zusammenfassen: Zum einen handelt es sich um äußere Aspekte, welche die Erzähltechnik und -Struktur betreffen. Hierher gehört Eduard Lütgens generelle Betrachtung von Saars Erzähltechnik, in der u.a. das Verhältnis von Rahmenerzählung zu Binnenerzählung, die Zeitstruktur sowie die Sprache und die verwendeten Stilmittel Hymens genannt werden155.

155

Lütgen bezieht sich an folgenden Stellen auf Hymen: S.8, 11, 12, 14: Erzählstruktur und die Rolle des Ich-Erzählers; S.21, 23, 25, 37f: Erwähnung von Zeitstruktur und Raum; S.46f., 58, 62ff, 73: Darstellung von Sprache und Stilmitteln; S.84, 86, 98ff: Beispiele für einen Vergleich sowie die Nennung äußerer Details zur Charakteristik von Figuren.

142

Lütgen bleibt allerdings bei einer bloßen Aufzählung der verwendeten technischen und sprachlichen Mittel. Die Rolle des Ich-Erzählers in Hymen wird bei Stocken als die eines Aufhellers gedeutet, der erst durch das Erzählen der Haupthandlung quasi hinter der Bühne Licht mache156. Wiederholt wird auf den hohen Identifikationsgrad Saars mit dem Ich-Erzähler hingewiesen157. Nagler sieht in dem Ich-Erzähler „Saar selbst"158. Die Sekundärliteratur erwähnt zum zweiten einzelne Motive, die in Hymen Ausdruck finden. Feiner sieht in diesem „Sittenbild", bei dem das Militärische im Hintergrund bleibe159, durch Sandeks Wahnsinn Saars Schopenhauer'sehe Kritik an der Liebe als „Wahnverstrickung" und „Besessenheit" dokumentiert160, der Sandeks Tochter nur aus Enttäuschung entsage, um sich ganz ihrem Sohn widmen zu können161. Die für Schopenhauer typische „Ineinssetzung von Liebe und Sexualität" sieht auch Prescher in der Erzählung thematisiert162. Als weiteres Beispiel für die Schopenhauer'sehe Frauenverachtung weist Hodge die Erzählung aus163. Als Beispiel für den „Determinismus bei Saar" zitiert Charue164 die Gedanken des Ich-Erzählers „Wie unerbittlich sich menschliche Schicksale vollziehen!" (28,13)165 und „Ich [...] dachte wieder über die Verkettungen des Lebens nach" (31,12f). Saar setze hier auch das Motiv der 156

Stocken. Anatomie, S. 159. Die Rolle des Ich-Erzählers erwähnt auch Hodge, S.97, S. 107. Wenske (S.36) spricht von „melancholischen (Künstler-)Figuren, die sehr oft auch gleich Erzählerfunktionen übernehmen" in den Erzählungen Marianne, Tambi, Geschichte eines Wienerkindes, Ninon, Doktor Trojan, Die Familie Worel, Sappho, Hymen. 157 So z.B. Klauser: Poet, S.214. 158 Nagler: Novellist, S.323. Als weitere Erzählungen, in denen Ich-Erzähler und Autor zusammenfielen, zählt Nagler Geschichte eines Wienerkindes, Ninon, Dr. Trojan, Conte Gasparo, Die Parzen, Der Burggraf, Außer Dienst, sowie Der Hellene auf. 159 Ebd. S.43. Detlef Haberland zählt in seinem Beitrag Dichtung und Wirklichkeit. Ferdinand von Saars Novelle .Seligmann Hirsch' (Haberland: Dichtung, S.74) Hymen zu der Gruppe von Saars Erzählungen, in denen - wie auch in Dissonanzen und Leutnant Burda - gesellschaftlich höhere Kreise im Mittelpunkt stünden. 160 Ebd. S.114. 161 Ebd. S. 133. 162 Prescher, S. 119, Anm. 5: Neben Hymen werden auch Sappho und Der Brauer von Habrovan genannt. 163 Hodge, S. 144. Im Folgenden wird hier Sandeks Abhängigkeit von der Hofrätin mit Conte Gasparo verglichen (S. 145, auch: S. 165). 164 Charue: Determinismus, S.235. 165 Dieses Zitat führt auch Klass (S.6) in bezug auf die „Schicksalsauffassung Ferdinand von Saars [Kap.l]" an. 143

Vererbung ein, um die Vorbestimmtheit der Existenz darzustellen, betont Charue. Die Amethystaugen Sandeks, die der Ich-Erzähler bei dessen Tochter wiederentdecke, seien dafür ein Beispiel: Die Kette Sandek, Ablehnung seiner Tochter durch die Hofrätin, die frühe Heirat der Tochter, ihre Neigung zum „Ästheten" und Entsagung zugunsten ihres Sohnes sei durch die vererbten Augen angedeutet166. Stockert sieht u.a. in der Identifikation des Gesichtes von Sandeks Tochter mit dem Sandeks durch den Ich-Erzähler - und die daran anknüpfende Erinnerung an die zurückliegenden Ereignisse und Sandeks Schicksal - das Motiv der Nostalgie in Saars Erzählkunst ausgedrückt167. Bei Klass168 sowie bei Kroeber wird die verheerende Wirkung der Leidenschaft herausgestrichen, denn der „Ausgang dieser Novellen ist immer tragisch, sie enden mit Selbstmord (Vae victis, Die Geigerin) oder einer sonst irgendwie ungewöhnlichen Todesart (Marianne, Hymen)."169 Infolgedessen sei das Ende „sehr düster und pessimistisch."170 Kroeber betont überdies das Motiv der Hingabe an einen ungeliebten Mann171. Marianne Lukas deutet dieses Motiv umgekehrt: Hier heißt es in bezug auf Hymen und Sappho, die „Liebesqual auch der Häßlichen wird uns von ihren triebhaften Seiten her bloßgelegt, damit aber sicherlich eine der tragischsten Seiten des Frauendaseins unbarmherzig entlarvt."172 Das Motiv der Kritik an der bürgerlich-liberalen Eheauffassung (durch die Darstellung der Untreue) erwähnt Egit im Zusammenhang mit Hymen173. Bei Wechsler wird die Erzählung im Hinblick auf die psychologischen Motive in Saars Erzählungen genannt174; Bettelheim spricht bei Hymen, Der Brauer von Habrovan und Sappho von Beispielen 166

Charue: Determinismus, S.244, Anm. 25; zu Wahnsinn durch Liebe auch S.250 i. Bez. auf Sandek. 167 Stockert: Nostalgie, S. 135. 168 Klass, S.28(s.u.). 169 Kroeber, S.32. 170 Ebd. S.34. 171 Ebd. S.80. 172 Lukas, S. 124. 173 Egit, S.87. 174 So fuhrt etwa Wechsler an: „Denn für die Krankheitssymptome seiner Zeit hatte Saar eine selten empfindliche Beobachtungsgabe; die Motivierung seiner Frauenschicksale (, ', ,Der Brauer von Habrovan', ,Hymen', ,Sappho', ,Sündenfall') nimmt gewisse Erkenntnisse der Psychopathologie um Jahrzehnte vorweg, und die Schilderungen der Wahnvorstellungen des Leutnants Burda sind ein in klassischer Prosa erzählter klinischer Bericht, der auch heute noch einem medizinischen Lehrbuch als Musterbeispiel zur Zierde gereichen wurde."

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„pathologischer Erotik"175. Mit bezug auf die Motive des Ehebruches, der Heirat ohne Liebe und des Rücktritts von der Hochzeit erwähnt auch Nagler die Erzählung176. Aufgrund ihrer schonungslosen Darstellungsweise des Verfalls zählt Visscher Hymen zu den typisch „spätrealistischen" Erzählungen Saars177, an anderer Stelle jedoch zur „Gruppe des Übergangs"178. Feiner sieht im Titel der als „Ehebruchsgeschichte" bezeichneten Erzählung ein Beispiel für Saars Ironie des Erzählens179. Die dritte Gruppe der genannten Kriterien betrifft die Erwähnung von einzelnen Figuren in Hymen. Dabei handelt es sich in der Regel um reine Typisierungen, welche die Figuren als bezeichnend für Saars Personal herausgreifen und mit Charakteren anderer Erzählungen vergleichen. Die Betrachtungen bleiben hier meist an der Oberfläche; tiefgehende Analysen der Bedeutung der Charaktere im Zusammenhang mit der Handlung oder eine umfassende Darstellung der Konfiguration bleiben aus. Besonders Sandek ist für Saars Personal als typischer Vertreter des Militärs erfaßt worden180. In Robert Müllers Charakterstudien wird er auf die Rolle als „Opfer seines wahnwitzigen Geltungsbedürfnisses"181 reduziert, dessen Liebe zur Hofrätin sich im „Nur-Erotischen" erschöpfe mit dem höchsten Bedürfnis, die Eifersucht des Hofrates zu erwecken. Im Gegensatz zu Schopenhauers Begrifflichkeit heißt es, aus Willensschwäche entwickle Sandek seine erotische Geltungssucht und entferne sich absichtlich von seinen Kameraden182. In diesem Sinne bezeichnet ihn auch Feiner als „Charakterschwächling", der zu willensschwach sei, um sich aus seiner Hörigkeit der Hofrätin zu befreien183. 175

Bettelheim: SW 1,150. Nagler: Novellist, S.211f, S.246; zum Ehebruch s. auch: Bettelheim, SW 1,164. 177 Visscher, S.85. 178 Ebd. S. 11 Of. 179 Feiner, S.42. 180 So u.a. bei Horvath, S.9. 181 R. Müller, S.41ff. Ähnlich auch Hodge, S. 165. Als Opfer sieht ihn auch Klass, allerdings nicht als Opfer seines Ehrgeizes, sondern als Opfer der Leidenschaft. Von dieser heißt es hier (S.28): „Sie ergreift den Menschen, macht ihn willenlos und treibt ihn dem Untergang zu. [...] Ein ehrgeiziger Offizier gibt seine Karriere auf, weil er sich in eine unheilvolle Leidenschaft verstrickt hat. Er endet im Irrenhaus (Hymen)." Der psychologische Gehalt der Figur Sandeks wird hier sehr verkürzt dargestellt und undeutlich zwar als Opfer der Leidenschaft, andererseits insoweit als aktiv handlungsfähig bezeichnet, als er seine Laufbahn selber aufgebe. Der Aspekt des Scheiterns an einer Reifungsherausforderung bleibt unberücksichtigt. 182 R. Müller, S.43. 183 Feiner S.42f. 176

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Auch Vana zählt Sandek, den er ansonsten mit Leutnant Burda für einen der Intellektuellen unter Saars Militärs hält184, zusammen mit Alexis (Die Geigerin), dem Burggrafen und Conte Gasparo zu den „verkrachten Existenzen"185 bei Saar. Sandek werde letztlich „durch die Frauen zu einem bösen Ende getrieben"186 und sei - wie den Worten des Vertreters der „Generation der ,Alten'", Oberst Wernhart, zu entnehmen - „ein Opfer der neuen Zeit."187 Nagler greift Sandek wieder als eine Figur des Verfalls heraus; sein körperlicher Niedergang gehe auf mangelnde Selbstdisziplin zurück. Sandeks Unreife wird zwar angesprochen, der tiefenpsychologische Zusammenhang bleibt jedoch unerwähnt188. Zipf hat in ihrer 1944 erschienenen Arbeit den Versuch unternommen, Saars Erzählwerk im Sinne des nationalsozialistischen Gedankengutes zu deuten. So heißt es hier, die Militärs - darunter Sandek trügen „in sich die Keime krankhafter Zersetzung"189 und führten mit ihrer „ins Krankhafte gesteigerten Sensibilität"190 zu „Brüchigkeit und Dekadenz"191, zum „Verfall der Ordnung". Gerade von den literarisch interessierten Offizieren wie Leutnant Burda und Sandek heißt es, die „unproduktive, lebenshemmende Grübelei entfernt sie von den Forderungen des Standes, dem es obliegt, zu schlagen, aber nicht nachzusinnen, wo Recht und Unrecht liegt."192 Auch die Figur der Hofrätin ist als Typus in Saars Erzählwerk zitiert worden. Zählt sie bei Robert Müller193 zusammen mit Toni (Sündenfall) zu den „sublimierenden Erotikern", welche einer „übermächtigen Ge184

Vana, S.96. Ebd. S.89f. 186 Ebd. S.90. Gaßner bezeichnet ebenfalls Sandek mit den Worten „der ehrgeizige Hauptmann, den Ehrgeiz und Frauen zugrunde richten" (S.46). Auch Castle bemerkt Sandeks Opferrolle („Sandek gibt sich der Gattin des Hofrates hin nur aus Zorn, weil ihr Geliebter ihr eine andere vorzuziehen scheint; sie ruiniert ihn, und er endigt im Irrenhaus"), während Schadauer anführt, daß Sandek u.a. infolge der 1868 mit der Einführung der Wehrpflicht verschärften Stabsoffiziersprüfungen scheitere (S.83). Gerlinde Steiner zitiert den „schmachtenden, aber auch gewissenlosen Lovelace" (14,25) - läßt jedoch die zugrundeliegende psychologische Struktur der Figur beiseite (S.95). Bei Herbert Klauser (Klauser: Poet, S.216) zählt er neben Bruchfeld (Requiem der Liebe) lediglich zu den von der Liebe Enttäuschten. 187 Vana, S.91. 188 Nagler: Novellist, S.289f. 189 Zipf, S.93. 190 Ebd. S. 116. 191 Ebd. S.95. 192 Ebd. S.117. 193 R. Müller, S.149f. Unberücksichtigt bleibt hier die Überlegung, ob sich die Hofrätin nicht zur Strafe des abtrünnigen Schriftstellers mit Sandek einlasse. 185

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fühlsspannung" folgten und „ihre Erotik [...] auf eine andere Person übertragen", so hält sie Reuter im Rahmen der „Liebesproblematik" für eine typisch tragische Gestalt, die in ihrer Liebe zum Schriftsteller „in die unglückliche Lage tiefster seelischer Qualen"194 versetzt werde und sich an Sandek räche, um ihren Schmerz zu vergessen. An anderer Stelle wird die Hofrätin als starke, aber kalte Frauennatur neben Ninon, Corona und Paula genannt195. Waitz stellt dieser Gruppe die Vertreterinnen der intelligenten, warmherzigen Frauen Anna, Luise und Raphaela gegenüber196. Klauser gesellt die Hofrätin als grausame Natur ganz im Sinne von Sacher-Masochs „Venus im Pelz" zu Corona (Vae Victis!) und Paula (Requiem der Liebe)191. Auf die äußere Erscheinung der Hofrätin beruft sich auch Charue. Der „ p s y c h o p h y s i s c h e oder b i o l o g i s c h e Determinismus" 198 Saars wird hier u.a. an der Hofrätin erläutert, von der es weiter unten heißt, sie sei Corona ähnlich, denn „,starke Naturen haben in der Regel kein Gewissen"'199.

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Reuter, S.49. In Sandeks Formulierung ,„Mit diesem Skribler!'" (24,4) sieht Reuter einen generellen Beleg für Saars Beklagen der allgemeinen Verachtung und Demütigung von Literaten (S.41). 195 Waitz S.54; Horvath, S.77. Den Vergleich mit Paula fuhrt auch Egit, S.86f. 196 Waitz, S.54ff. 197 KIauser: Poet, S.94F. Ebenso: S.97: Hier wird die Hofrätin als Ehebrecherin bezeichnet. 198 Charue: Determinismus, S.246f. 199 Ebd. S.257, Anm. 57.

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IV. DEUTUNG

l. Die Erzählung vom Hochzeitsgott Hymen a. Die Figuren Der du Helikons Höh' bewohnst, Sprößling du der Urania, Der zum Mann fuhrt die zarte Maid, Hymen, o Hymenaeus du, Hymen, o Hymenaeus, Kränz die Schläfen mit Blüten dir Des süß duftenden Majorans, Nimm das flammende Tuch und komm Fröhlich her mit dem roten Schuh An dem schneeweißen Fuße! Ruf die Herrin ins Heim, die schon Nach dem Bräutigam heiß sich sehnt, Bind in Liebe gar fest ihr Herz, Wie am Baum sich der Efeu hält, Hier- und dorthin windend. Reine Jungfraun, auch ihr, wohlan! Denen nah ist der gleiche Tag, Stimmet ein in die Melodie. ,Hymen' ruft, ,Hymenaeus du, Hymen, o Hymenaeus ' [...].

Catull besang mit diesen Versen im Hochzeitslied200 jenen mythischen Gott der Eheschließung, über den Meyers Großes Konversations-Lexikon im Entstehungsjahr der Erzählung verzeichnet: „Sohn des Dionysos und der Aphrodite oder des Apollon und einer Muse, oder ein athenischer Jüngling, welcher der ihm von den Eltern verweigerten Geliebten in Mädchenkleidung nach Eleusis zum Demeterfest folgte"201. Hymen ist ein „schöner Jüngling", dargestellt meist mit „Hochzeitsfackel und Kranz"202.

200

Catull: Hochzeitslied. In: Catull: Gedichte. Eingeleitet und übersetzt v. Helm, Rudolf. Stuttgart 1965 [zitiert Catull], Nr. 61, S.59f, Z. 1-40. 201 Meyer, Bd. 9, S.703f. 202 Ebd. S.703f; Pauly-Wissowa, Bd. XVII, Sp.130. Darin wird erwähnt: „Die bekannte Darstellung [Hymens] in der Casa di Meleagro zu Pompeii ist wohl die schönste und vollständigste [...]. Als flügelloser Jüngling, die lockigen Haare bekränzt, lehnt der nur mit einem Mantel bekleidete Gott, auf den linken Ellenbogen gestützt an einem Altar. Die rechte Hand hält einen Brautkranz, die linke eine brennende Fackel."

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Der „Sohn der Musen Urania, Klio, Terpsychore, Kalliope" wird 1845 in der Allgemeinen deutschen Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände als „ein sehr schöner Jüngling" bezeichnet, „welcher vor der Zeit starb, oder bei der Vermählung des Dionysos und der Ariadne nach Absingung des Brautliedes die Stimme oder das Leben verlor"203. Saars Rückgriff für den Titel der Erzählung auf diese Gestalt aus der Peripherie des griechischen Götterhimmels204 bleibt auf den ersten Blick hin undurchsichtig. Von Ehestiftung und harmonischer Vereinigung, gar vom „Stifter glücklicher Liebe"205 aus dem Gesang des Catull ist in Hymen nichts zu lesen. Bisweilen haben Interpreten den Titel in seiner zweiten Bedeutung als „Hochzeitsgesang" aufgefaßt und einen ironischen Gesang zum Schicksal zweier im Vorspann erwähnter Figuren gedeutet: der Tochter Sandeks und des sogenannten „Modegelehrten" (13,7)20«. Diese Geschichte um Liebesränke und außereheliche „Nebenwege", wie ein Zeitgenosse formuliert hatte207, kreist gleichwohl immer um das Thema versagten Eheglückes und gescheiterter Liebe. „Romanhaft ver203

Real-Encyklopädie, Bd. 7, S.379. Vgl. Bettelheim: SW l,12f: Saar dürfte mit der Welt der antiken Götter erstmals am Wiener Schottengymnasium, einer „altberühmte[n] Anstalt" mit klassischem Bildungskanon, bekannt geworden sein. Über den eher mäßigen Schüler Saar berichtet Bettelheim, er sei doch durch eine „unersättliche Lesegier" aufgefallen, „der nahezu ganze Bibliotheken zum Opfer fielen". 203 Catull, S.60, Z.45 (s. Anm. 200). 206 Vgl. Aspetsberger, S. 268f.: Aspetsberger übersetzt den Titel mit „Hochzeitsgesang" und versteht in diesem Sinne die Binnenerzählung nur als begleitende Nebenhandlung zum Schicksal der Tochter. Dabei läßt er die auffällige Ähnlichkeit Sandeks mit dem antiken Gott beiseite und bezieht den „Hochzeitsgesang Saars" auf Sandeks Tochter, ohne auf die Hofrätin näher einzugehen. Ebensowenig erfolgen Hinweise auf die Hochzeitslieder des Catull (s. Anm. 200). Die doppelte Bedeutung von „Hymen" sowohl als Hochzeitscarmen als auch im Sinne einer mythologischen Gottheit geht u.U. auf die wiederholte Anrufung im Kehrvers zurück, die den Liedern die Bezeichnung „Hymenäen" brachte. Einzelne Wissenschaftler haben die griechische Gottheit vom Kehrvers abgeleitet (s. PaulyWissowa, Bd. XVII, Sp.126). Meyers Lexikon (Bd. 9, S.703) verzeichnet: „H y m e n ä o s (auch H y m e n ) , bei den Griechen der Hochzeitsgesang sowie der in diesem angerufene Hochzeitsgott [...]." Die Allgemeine deutsche RealEnzyclopädie für die gebildeten Stände von 1845 (Bd. 7) setzt noch deutlicher den Gesang zuerst: „ H y m e n oder H y m e n ä u s hieß eigentlich der Hochzeitsgesang, den die Begleiter der Braut sangen, wenn diese aus dem väterlichen Hause in das des Bräutigams geführt wurde, dann in späterer Zeit personifiziert der Hochzeitsgott selbst [...]." 207 Emil Hadina, „ Tragik des Lebens. " Neue Novellen von Ferdinand von Saar, in Tagespost, Morgenblatt, Graz, 51. Jahrgang, Nr. 132 von Dienstag, dem 15.5.1906. (Ausführliche Erwähnung vgl. III.2.c.-d.). 204

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schlungene Schicksalsfäden"208 verknüpfen die Figuren vielfältig untereinander, und trotz der unglücklichen Verbindungen bleibt der Mythos des griechischen Hochzeitsgottes stets über dem Geschehen stehen. Mehr noch: Mit Hauptmann Sandek tritt eine Figur auf, deren Schicksal und Erscheinungsbild deutliche Parallelen zum antiken Gott aufweisen. Schon die äußeren Merkmale der Figur Sandeks deuten auf Übereinstimmungen mit dem mythologischen Vorbild hin: Analog zum antiken Gott, der „immer schön, [...] meistens mit blonden Locken, [...] welche mit Duft gesalbt sind"209, dargestellt wird, fällt der „schlanke und geschmeidige Wuchs" Sandeks auf, der das „blonde, leicht gelockte Haar noch immer dicht" (14,36f.) trägt und sehr „sorgfältig gekleidet" ist, „von einem leichten Hauch feinen Parfüms umweht" (17,18f). In Anlehnung an den „schneeweißen Fuß"210 bei Catull reicht Sandek dem Erzähler die „weibisch gepflegte weiße Hand" (17,20). „Er starb am Tage seiner Hochzeit"211, heißt es vom ,Hochzeitsgott', und Sandek erliegt in jungen Jahren den Folgen - man könnte sagen: seiner ,Hochzeitsnacht' - der ersten und vermutlich einzigen Liebesnacht mit der kaltblütigen Gattin eines Hofrates212. Diese unglückliche 208

Rezension des Bandes Tragik des Lebens. In: Neues Wiener Tagblatt, Wien, Nr. 355, 24.12.1905, S.66f. (ausführlicher zitiert in Kap. III.2.c.-d.). Im Erstdruck hatte die Erzählung gar den Untertitel Eine Geschichte in Arabesken getragen, der auf diese Verwicklungen abzuzielen schien. Auf die Bedeutung dieses (autorisierten) Untertitels wird im Kapitel IV.l.b. eingegangen werden (s. III.I.e.). 209 Pauly-Wissowa, Bd.XVII, Sp.130. In Sp.127 heißt es, in der Mythologie ließen sich vier Gestalten Hymens nachweisen: ,,a) H. als Sohn einer Muse; b) H. als frühgestorbener Jüngling; c) H. als Jüngling, der einige Jungfrauen aus Räuberhänden errettet; d) H. als Sohn des Dionysos und der Aphrodite." 210 Catull, S.59, Z. 10 (s. Anm. 200). 211 Meyer, Bd. 9, S.704. 212 Denkbar ist, daß Sandek noch weitere Liebesnächte mit der Hofrätin verbringt, denn er erwähnt noch „einige Zusammenkünfte" (25,14). Da er aber die Nacht, in der „geschah, was früher nicht geschehen war" (25,2f.) heraushebt und die späteren Treffen beinahe nebenbei erwähnt, kommt dieser Zusammenkunft herausragende Bedeutung zu. In der sexuellen Vereinigung - hier als Akt des Ehebruchs - erscheint der antike Gott Hymen in der Funktion „als ausschließlicher Gott der eigentlichen Begattung" (s. Pauly-Wissowa, Bd.XVII, Sp.130). Dieser Aspekt tritt auch in den Hochzeitsliedern des Catull zutage. (Catull, Lieder Nr.61 (S.59ff.) und 62 (S.66ff.) [s. Anm. 200]). So heißt es etwa in Lied Nr.61, Vers 188ff: „Auf! und bettet das Bräutlein nun! / Hymen ho, Hymenaeus ho! / Hymen ho, Hymenaeus! / So! Nun, Gatte, nun komm! Du darfst! / Deine Gattin ist im Gemach. / [...]". Der Schluß lautet in diesem Sinne (Vers 23 Iff.): „Schließt, ihr Mädchen, die Tür jetzt zu! / Jetzt genug des Gesangs! Doch ihr, / Brave Gatten, lebt glücklich nun / Und genießt in beständ'ger Lust / Eure kräftige Jugend!" 153

Liebe erinnert wiederum an die in der Allgemeinen deutschen RealEncyklopädie erwähnte Sage von Hymen als einem „schönen, aber armen attischen Jüngling, welcher eine Jungfrau aus reicher und vornehmer Familie ohne Erfolg liebte" und ihr in „Mädchenkleidung" zum Demeterfest nach Eleusis folgte, „um ihr nahe zu sein"213. Die unheilvolle Liebschaft dieses modernen ,Hochzeitsgottes' dreht die Vorzeichen des antiken Mythos jedoch um: Statt Eheglück zu stiften, nimmt er die Stellung des Nebenbuhlers bei dem nur noch äußerlich verheirateten Hofratspaar ein. Statt Liebe „gar fest in ihr Herz"214 zu binden, will er das ,Herz' der Hofrätin an sich selbst binden. Als er einsehen muß, daß diese verheiratete Frau in Wahrheit einen dritten liebt, steigert sich sein Gefühl der Verletztheit in den Wahn, und er stirbt an einer Gehirnlähmung. Der Krankheit vorausgegangen ist jene Liebesnacht, die dem Hauptmann das Rätsel aufgibt, wie sich eine Frau „ohne Liebe" (19,4) hingeben könne. An diesem Rätsel scheitert der junge Militär Sandek, der anders als Hymen die Jungfrauen als „Backfische" oder „Gänse" (14,30) schmäht und statt die Braut zum Altar zu führen „mit dem Ehebruch einen ganz offenkundigen Kultus" (14,26) treibt. An diesem Widerspruch zerschellt die Figur, strandet eine vielversprechende militärische Laufbahn und ein ehedem „lauterer, [...] jünglinghaft unschuldiger Charakter" (14,19f.). Die zentrale Liebschaft mit der Hofrätin bedarf an dieser Stelle jedoch einer eingehenden Betrachtung: Denn jenes Verhältnis geht nicht allein auf das Betreiben des weichlich gezeichneten Hauptmannes zurück, auch der Mann jener kaltblütigen Hofrätin, den Sandek als „heimtückischen Bureaukraten" (20,29) bezeichnet, sieht die entstehende Liebschaft mit „sarkastischer Befriedigung" (21,22). Denn seine Frau pflegt seit Jahren ein inniges Verhältnis mit einem erfolgreichen Schriftsteller, das den Hofrat äußerlich nicht zu beschäftigen scheint. Die Hofrätin, die Sandek zunächst wenig anziehend gefunden hatte, beginnt bald, auch auf ihn einen „eigentümlich charakteristischen Reiz" (21,3f.) auszuüben. Doch schon die Art von Sandeks „Eroberung" (21,13) zeigt, wie wenig er hier der aktive Teil ist und vielmehr den verbitterten Eheleuten zur gegenseitigen Abrechnung dient. Denn die trockene Antwort der Hofrätin „,Nun, dann will ich Sie auch lieben.'" (21,10f.) und ihr sanfter Kuß auf seinen „leidenschaftlichen" (21,8) 213

Real-Encyklopädie, Bd. 7. Catull, S.60, Z.33 (s. Anm. 200).

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Antrag offenbaren, daß vielmehr die Hofrätin ihn in ihren Sog zieht und nicht seinen Hofierungsversuchen erliegt. Die Zuwendung von Seiten der Hofrätin erfolgt offensichtlich erst in dem Augenblick, als jener langjährig vertraute Schriftsteller sein Verhältnis mit ihr lösen will, um eine junge Schauspielerin zu heiraten. Damit folgt die Hingabe der Hofrätin an Sandek nicht „einer bloßen Laune" (19,22), sondern weil „,sie sich von einem geliebten Manne verlassen weiß. Um ihren Schmerz zu übertäuben - oder auch nur zu erproben, ob und wie ihre Reize auf einen Ändern wirken.'" (19,29), wie der Erzähler den Sachverhalt gegenüber Sandek richtig deutet. Aus Rachsucht und Schadenfreude spricht nun der Hofrat immer wieder von der bevorstehenden Hochzeit des Schriftstellers, der ,ja jetzt dieser Tage von Nizza zurückkehren" (21,30) müsse. Damit verletzt er seine Frau und schürt in Sandek die Eifersucht. Mit „sichtlichem Behagen" (21,34) provoziert er den Eklat zwischen seiner Frau und Sandek, der zu der Liebesnacht „par depit" (19,26) führt, indem er dieses Thema immer wieder aufgreift. Der Figur des Hauptmanns Sandek steht im zentralen Konflikt also nicht allein die Hofrätin gegenüber, sondern auch ihr Gatte und mittelbar der Schriftsteller, der ihr langjähriger Liebhaber ist. Alle drei Personen heben sich deutlich in Alter und Profession vom jungen und eitlen „Frequentant des Stabsoffizierskurses" (15,8) ab. In diesem Gesellschaftskreis, in welchen Sandek erst „durch einen Empfehlungsbrief, der ihm „in Prag mitgegeben wurde" (20,24f), Eintritt erhält, bleibt er ein Außenseiter. Das zeigt sich schon darin, daß ihm der Name des berühmten Schriftstellers - eine „stadtbekannte Persönlichkeit" (16,40-17,1) immerhin - nur „halb und halb" (21,37) bekannt ist, wie auch bei den „Whistabenden" (20,38) im Hause des Hofratspaares „meist alte und ältere Herren mit ihren Frauen" (20,35) zu Gast sind. Von Anfang an fühlt sich Sandek in diesem Hause „nicht besonders angemutet" (20,28) und bemerkt, daß man „dem Militär nicht besonders gewogen zu sein" (20,27f.) scheint. Um so mehr bemüht er sich seinerseits um die Anerkennung des Hausherren, dem er schließlich mit seinem Whistspiel „zu imponieren" (20,37) glaubt. Doch auch aus der hämischen Duldung durch den Hofrat spricht, daß Sandek offenbar weniger im Sinne eines gefährlichen Konkurrenten oder gar denkbaren Partners für die extravagante ,Maja' aufgefaßt wird als der erfolgreiche Schriftsteller, der ähnlich wie der Hauptmann dem Sog der Hofrätin erlegen ist. Denn es scheint, als habe sich der Schriftsteller, wenngleich er sich ansonsten „nicht binden" (16,35) wollte, durch die angesprochene Heirat, die nicht zustande kam, von der Hof155

rätin befreien wollen. Leberkrank kehrt er im Alter zur Hofrätin zurück - als Opfer der früheren Verwicklungen. Die Verstrickung Sandeks in das schon bestehende und spannungsgeladene Dreiecksverhältnis von Hofrätin, Hofrat und dem Schriftsteller paßt zu seiner schon in jungen Jahren ausgeprägten Neigung zu älteren, meist verheirateten Frauen. Schon als Achtzehnjähriger ging er eine Liebschaft mit der kapriziösen Gemahlin eines „hohen Generals" (14,6), ein; bald darauf ist der Ehebruch sein Metier. Der Ich-Erzähler bezeichnet ihn treffend als „gewissenlosen Lovelace" (14,25) - in Anspielung auf den rücksichtslosen Herzensbrecher Robert Lovelace aus Samuel Richardsons Roman Clarissa Harlowe™, mit dem Sandek seinen Vornamen gemein hat. Über die Romanfigur „Robert Lovelace" hinaus rührt dieser Vorname noch an eine weitere - in diesem Falle mittelalterliche - Sage: an die ursprünglich französische Legende von „Robert dem Teufel" aus dem 13. Jahrhundert: Die Herzogin der Normandie hat aus Verzweiflung über ihre Kinderlosigkeit dem Teufel ihr lang ersehntes Kind versprochen. Der Knabe Robert entwickelt sich bald zum Räuber, Priestermörder und Frauenschänder. Als ihm aber seine Mutter das Geheimnis seiner Entstehung eröffnet, pilgert er nach Rom und tut Buße als Narr unter den Hunden des Kaisers. Nachdem er Rom dreimal als mysteriöser „weißer Ritter" vor den Feinden gerettet hat, will der Kaiser dem unbekannten Retter seine stumme Tochter zur Frau geben. Ein unehrlicher Seneschall gibt sich als „weißer Ritter" aus, doch da erhält wie ein Wunder die Tochter ihre Stimme wieder und berichtet von der wundersamen Wandlung des Bettlers zum Ritter, die sie beobachtet hat. Robert aber lehnt die Hand der Tochter ab und wird zum Eremiten216. Der Stoff der Legende gelangte auch nach Deutschland und Österreich und wurde auf Anregung Uhlands von Gustav Schwab für die Romanzen von Robert dem Teufel (1820) aufgegriffen. 1830 verwendete Karl von Holtei den Stoff für ein Drama, ein Jahr später komponierte Giacomo Meyerbeer die Oper Robert der Teufel, die Nestroy 1833 mit Robert der Teuxel parodierte. Noch 1898, sieben Jahre vor dem Entstehen Hymens, befaßte sich Adolf von Wildbrandt - 1881-87 Direktor des Wiener Burgtheaters - in seinem Drama Der Herzog mit der Legende. 215

Samuel Richardson: Clarissa Harlowe. Übersetzt u. bearbeitet v. Ruth Schirmer. Zürich, 1966 [zitiert Richardson]. 216 Nachzulesen ist die Legende etwa in Ulf Diederichs (Hrsg.) Sammlung Märchen aus Frankreich, übersetzt von Felix Karlinger, Ernst Tegethoff u.a., Reinbek bei Hamburg 1992, darin: Robert der Teufel befreit Rom von den Türken. (S.37-44).

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Auf diese Weise kommt dem Stoff im Wien der Jahrhundertwende eine gewisse Aktualität zu, die Saars mögliche Anspielung auf die Sage plausibel werden läßt. Möglicherweise spielt der Vorname „Robert" auf die verbrecherischen Liebschaften der Sagenfigur an, dazu passen Sandeks Vorlieben für gebundene Frauen und sein Verhalten jenseits bürgerlicher Moralvorstellungen. Umgekehrt kommt auch der Läuterungsgedanke aus der Sage bei Hymen zum Tragen, da ja der IchErzähler Sandek mehrmals auffordert, er solle „dulden lernen" (23,39) und sein Mißgeschick als „Sühne früherer Verschuldungen" (25,32) begreifen. Auf die tiefenpsychologische Dimension der Buße wird im Kapitel IV.3.a. einzugehen sein, wo auch die Bedeutung des Nachnamens „Sandek" untersucht wird. Seine unheilvolle Liebschaft mit der Hofrätin führt den Protagonisten in den Wahnsinn und schließlich in den Tod. Damit ist die Erzählung jedoch nicht zu Ende. Diese moderne Geschichte des antiken ,Hochzeitsgottes' „Hymen" wird mit Sandeks Tod erst angestoßen und schlägt ihre Wellen über Generationen in die Zukunft. Denn dem Verhältnis von Sandek und der Hofrätin entspringt eine Tochter, deren physiognomische Ähnlichkeit mit ihrem Vater versinnbildlicht, daß die Geschichte Hymens (als Figur) in ihr weiter wirkt. Bezeichnenderweise trägt diese Tochter, deren Beschreibung als „schlanke blonde Frau" (13,1) zu Beginn der Erzählung schon die Ähnlichkeit mit Sandek vorwegnimmt, bei der im 4. Kapitel geschilderten Begegnung in der Kur einen „kranzartig" geflochtenen „Genzianenzweig" (30,5) auf dem Kopf - ähnlich wie der besungene ,Hochzeitsgott' in antiken Darstellungen217. Die phänotypische Ähnlichkeit zwischen Sandek und seiner Tochter spiegelt überdies Saars Affinität zur Vererbungslehre und den Thesen Darwins, welche seine Zeit nachhaltig prägten218. Die Tochter befindet sich zum Zeitpunkt des eingangs geschilderten Diners, wie dessen wiederaufgenommene Schilderung später verrät, in einer ähnlichen Situation wie seinerzeit ihre Mutter, kurz bevor der Schriftsteller sich zur Heirat mit der jungen Schauspielerin entschloß. Denn auch die Tochter ist mit einem ungeliebten Mann vermählt, einem Baron, der beim Diner am anderen Tischende keinen Anstoß daran

217

Vgl. Meyer, Bd. 9, S.704; Pauly-Wissowa, Bd.XVII, Sp.130; Catull, S.59, Nr.61, Z.6f: „Kränz die Schläfen mit Blüten dir / Des süß duftenden Majorans, / [...]" (s. Anm. 200). 218 Bei Saar spielt das Motiv der Vererbung immer wieder eine wichtige Rolle (s. Charue: Determinismus, S.243ff.). Den starken Einfluß der Darwinschen Thesen auf Saar und die geistigen Strömungen der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erwähnt bes. Nagler (Nagler: Geburtstag, [Sp.2]).

157

nimmt, daß seine Frau Gefallen am Jungen Modegelehrten" (13,7) findet. Die „ganz unbegreifliche Abneigung" (33,4) ihrer Mutter, der Hofrätin, deren Ursache dem Ich-Erzähler und dem Leser jedoch vertraut ist, hat diese Tochter offenbar dazu gebracht, kaum volljährig den nächstbesten Mann zu heiraten, einen Bekannten ihres älteren Bruders. So ist auch diese Ehe „keine glückliche" (31,19), denn der Baron ist ein Trinker und Spieler. Auf diese Weise steht auch die Tochter, gleich ihrer Mutter, zwischen einem ungeliebten Ehemann und einem erfolgreichen Intellektuellen, der sich - wie ehedem der Schriftsteller - mit ihr „nicht binden" (16,35) will. Angesichts dieser Parallelen erinnert sich der Erzähler an die Mutter und formuliert die sich aufdrängenden Fragen „Was wohl mit der Mutter geschehen sein mochte? Und ob nicht vielleicht der Tochter ein ähnliches Los bevorstand?" (31,13-31,15). Doch als sich der Modegelehrte219 schließlich nach London absetzt, reagiert die Tochter anders als seinerzeit ihre Mutter: Statt sich auf ,Nebenwegen' umzusehen und ihre Reize fortan an dritten zu probieren, kauft sie, da die Scheidung vom Baron schon eingereicht und die Heirat mit dem jungen Gelehrten geplant gewesen ist, dem Baron seine Vaterrechte an dem gemeinsamen fünfjährigen Sohn ab und beschließt, sich fortan nur noch dessen Erziehung zu widmen.

Aus den parallel gestalteten Situationen von Mutter und Tochter ergibt sich an dieser Stelle das Gerüst einer Konfiguration. Beide Frauen stehen zwischen ungeliebten Ehemännern und bindungsscheuen Intellektuellen, die sich plötzlich von ihnen lossagen. Die Hofrätin reagiert darauf mit der Hingabe an Sandek, der auf diese Weise zum Vater der „schlanken blonden Frau" (13,1) wird. Damit ist Sandek das Bindeglied zwischen zwei Dreiergruppen. Seine Funktion als ,Ausweg' für die Hofrätin, um sich an dem Schriftsteller zu rächen, spiegelt sich in gewisser Hinsicht auch in der Figur seines Enkelsohnes, dem sich die Tochter nach der Abreise des Modegelehrten ganz widmen will. Unterschiedlich bleiben jedoch die Beweggründe von Mutter und Tochter: Während die Liebschaft der Hofrätin mit Sandek 219

Rossbacher: Ginevra, S.342: Hier heißt es über den „genialen Ästheten" (32,21), er gehöre - als ein Schüler Brandes' und Nietzsches - neben Alexis (Die Geigerin) und Röber (Geschichte eines Wienerkindes) zu jenen „driftenden Männern, die die an sie gebundenen Frauen verlassen'', an denen Saar „die Prinzipienlosigkeit des Epoche" zeige.

158

aus Niedertracht geschieht und Unheil heraufbeschwört, kümmert sich die Tochter um ihren Sohn aus Fürsorge. Während Sandek zwischen den Dreiergruppen um Hofrätin und Tochter steht und sie somit verbindet, bleibt er als Charakter weitgehend isoliert. Über andere familiäre oder freundschaftliche Bindungen Sandeks - abgesehen von der Tochter, die er nie kennenlernt, und der zurückliegenden Bekanntschaft mit dem Ich-Erzähler, welche diesen nicht einmal „sonderlich erfreut" (13,19) - erfahren wir nichts. Zu keiner selbstbewußten Handlung fähig, um sich aus seiner unglücklichen Liebschaft zu befreien, stirbt Sandek einsam im Irrenhaus. Die eigentlich handelnden Figuren sind Frauen.

Es ergibt sich folgendes Konfigurationsmodell, das die komplexen Beziehungen nochmals zu verdeutlichen vermag: ICH-ERZÄHLER Wernhart

Gastgeberin

Trivialschriftsteller

Generalsgattin

Hofrat

! ! Sohn

Baron

Hofrätin

Schriftsteller

l l

l l

Sandek

Tochter

Sdauspidenn-Bühnendiditer

Modegelehrter

l Sohn Hier sind die parallelen Situationen von der Hofrätin zwischen Hofrat und Schriftsteller sowie der Tochter zwischen Baron und Modegelehrtem, dem sie später die Rechte über den gemeinsamen Sohn abkauft, untereinander angeordnet. Dazwischen steht Sandek, als Bindeglied und als Zentrum der Konfiguration im generationsübergreifenden Geschehen. 159

Die vertikale Linie veranschaulicht jene „Verkettungen des Lebens" (31,13), die der Ich-Erzähler schon bei dem Diner anspricht und welche den kausalen Zusammenhang herstellen zwischen dem Verhalten der Hofrätin, die sich aus Enttäuschung über den Schriftsteller „par depit" Sandek hingibt und dem der so entstandenen Tochter, die von ihrer Mutter wegen der Erinnerung an Sandek abgelehnt wird und selbst möglichst schnell einen Bekannten ihres älteren Bruders heiratet. Auch die Generationszugehörigkeit der einzelnen Figuren wird durch diese Anordnung sichtbar. Sandeks Enkel, als jüngste Figur, die in die Zukunft weist, steht am unteren Ende; Hofrat und Schriftsteller, die zum Zeitpunkt des eingangs geschilderten vorösterlichen Diners schon verstorben sind, stehen am oberen Ende. Die Einteilung beruht jedoch nicht allein auf der Unterscheidung nach genealogischen Generationen von Hofrätin, Tochter und deren Sohn, sondern differenziert auch nach psychologischen Gesichtspunkten. Sandek gehört etwa weder seinem Alter nach noch seiner Persönlichkeit halber zu der gesellschaftlichen Gruppe um das Hofratspaar, obwohl er nicht der Sohn einer Figur dieser Gruppe ist. Aber er nimmt hier die Position des sarkastisch beäugten jungen Nebenbuhlers ein, bei dessen Eintreten selbst der Sohn der Familie argwöhnisch das Zimmer verläßt. Damit wird Sandek eher zum Gegenspieler des Kindes um die Gunst seiner Mutter als zum Konkurrenten für den Hausherrn. Entsprechend beginnt ihn auch das Gebaren des Hofratssohnes „zu verdrießen" (21,22). Dem tiefenpsychologischen Aspekt der Mutterbindung zwischen Sandek und der Hofrätin wird im Kap. IV.3.a. noch näher nachzugehen sein. Der ,Generation' von Sandek und dem Hofratssohn, die auf der horizontalen Ebene u n t e r h a l b von Hofrat, Hofrätin und Schriftsteller steht, gehört auch die junge und, wie es heißt, schöne Schauspielerin (s. 16,39f.) an, deren Verhältnis zum greisenhaft gezeichneten Schriftsteller den Gegenentwurf zum Verhältnis von Sandek und der Hofrätin darstellt. Die beiden Intellektuellen, Schriftsteller und Modegelehrter, bilden ein ambivalentes Paar: Der Schriftsteller gehört zu den „bedeutendsten Schriftstellern jener Tage" (16,31); sein Aussehen „mahnte an das des Sokrates" (17,3f.) und wirkt „beim ersten Anblick häßlich" (17,4). Diesem „Sokrates", dessen historisches Vorbild für unablässige Suche nach Wahrheit und letzter Gewißheit bekannt ist220, steht der Junge Modegelehrte" gegenüber, der durch den „Zauber seines Wortes zu 220

Vgl. besonders Platons Apologie oder des Sokrates Verteidigungsrede vor dem Gerichtshof in Athen oder die Dialoge Kriton und Phaidon.

160

umstricken" (30,35) versteht und mit seinem „feingeschnittenen orientalischen Kopf (30,33f.) auch äußerlich den glatten Gegensatz zum überlieferten Bild des antiken Philosophen markiert221. Die geistige Heimat des Modegelehrten ist die „Schule Brandes' und Nietzsches" (30,32f), des dänischen Vorkämpfers für den Naturalismus (vgl. III. 1.a.) und des deutschen Philosophen, dessen vom Kampf-ums-Dasein-Prinzip des Darwinismus geprägten Schriften sich stark von der anthropologischen Ethik des Sokrates abheben222. Der umfassende Generationsunterschied zwischen Sokrates einerseits und Nietzsche und Brandes andererseits ist auch hier in vertikaler Linie dargestellt. Ausgerechnet Nietzsche aber wetterte besonders über das Aussehen des Sokrates und vermeinte, darin den „Dekadent" ,par exellence' zu erblicken: Man weiss, man sieht es selbst noch, wie häßlich er war [...]. Die Anthropologen unter den Criminalisten sagen uns, dass der typische Verbrecher hässlich ist: monstrum in fronte, monstrum in animo. Aber der Verbrecher ist ein decadent. War Sokrates ein typischer Verbrecher?223

Der Schriftsteller, dessen Essays und Kritiken „immer mit Spannung erwartet und mit andächtigem Eifer gelesen" (16,32f.) werden, hebt sich auch stark vom Trivialschriftsteller ab, der als „wohlhabender Müßiggänger" (29,5) mit seinen „Novelletten und Gedichten" (29,8), die er selbst in „prächtiger Ausstattung" (29,9) herausgibt, vorgestellt wird. Wie sehr dieser Schriftsteller als psychologisch komplexe Persönlichkeit erscheint, zeigt seine scheinbar widersprüchliche Darstellung. Denn er wird zwar zu den „bedeutendsten Schriftstellern jener Tage" gezählt und für seine „geistvollen Essays" gelobt (16,31 f.), doch heißt es von ihm, er schreibe wenig, und die Zeitungen hätten oft Mühe, 221

Vgl. Abb. Rom, Thermenmuseum, in: Brockhaus, Bd. 17, S.70. Vgl. Schischkoff, S.489ff und S.643f: Nietzsches Vorstoß zur Befreiung des Individuums aus kirchlicher und bürgerlicher Moral zum Ü b e r m e n s c h e n zielt gerade in die entgegengesetzte Richtung von Sokrates' Forderung nach Selbstdisziplin und Genügsamkeit für transzendente Erfahrungen. Während in der Erzählung der Sokrates ähnelnde Schriftsteller durch seine „geistvollen Essays" (16,32) glänzt, wird der „Modegelehrte" als „gefährlicher Tischnachbar" (30,33) geschildert, der „nur Hoffnungen zu wecken - keine zu erfüllen" (31,3) wisse. 223 Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung, das Problem Sokrates. In: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bdn. Hrsg.: Giorgio Colli / Mazzino Montinari. Berlin, New York 1980 [zitiert KSA 1-15.], Bd.6, S.68f. Fraglich ist allerdings, ob Saar an dieser Stelle tatsächlich auf Nietzsche anspielt. Denn weder zeichnet sich die Figur des Schriftsteller als D e c a d e n t in Nietzsches Sinne aus, noch weist er kriminelle Eigenschaften auf. Umgekehrt wird gerade der Vertreter „aus der Schule Brandes' und Nietzsches" (30,32f,) als „Modegelehrter" (30,32) bezeichnet. 222

161

„etwas von ihm herauszubekommen" (16,34f.). Zwar wolle er „sich nicht binden" (16,35), stehe jedoch einer schönen wie geistvollen Schauspielerin nahe, „man sprach sogar von einer Verlobung" (16,40). Ein „weltmännischer Sonderling" (16,37) also, „beim ersten Anblick häßlich" (17,4), dessen „Leuchtkraft seiner tiefliegenden grauen Augen" (17,6) seinem Äußeren doch charakteristische Züge verleiht? Die Ambivalenz dieser Figur zeigt Saar durch das stilistische „Strukturprinzip Umkehrung", das den Leser „immer wieder ins Leere" laufen läßt224. Diesem Prinzip folgt auch die Schilderung der Hofrätin, von der es heißt, ihre Gestalt habe etwas „Gedrungenes, Gestauchtes" (17,8), wobei ihre „Gliederbewegungen [...] von anmutiger Energie" (16,8f.) seien. Ein weiteres Paar, das sich allein durch die Generationszugehörigkeit unterscheidet, bilden Hofrat und Baron. Beide Ehepartner haben eine behäbige Gestalt gemein und nehmen an ihren Nebenbuhlern keinen Anstoß. Wie der Hofrat über die Beziehung seiner Frau zu Sandek mit „sarkastischer Befriedigung hinwegsah" (21,22), so hält sich auch der Gemahl der Tochter, „ein etwas aufgeschwemmt aussehender Baron mit eingeklemmtem Monokel" (31,4f.), am Menü „schadlos" und trinkt „sehr viel Champagner" (31,7f), während seine Frau mit dem Modegelehrten flirtet. Über den Sohn der Hofratsfamilie hatte er die junge Frau kennengelernt, die er offenbar wegen des Erbes des verstorbenen Hofrates geheiratet hatte. Als weitere Figur muß der nur am Rande erwähnte Bühnendichter, den die Schauspielerin an Stelle des Schriftstellers geheiratet hatte, in die Konfiguration aufgenommen werden. Offenbar war die Schauspielerin in jungen Jahren selbst „nur so in die Ehe hineingesprungen]" (32,39) - was sie der Tochter zutraut -, hatte sich aber aus der unglücklichen Verbindung gelöst, anstelle - wie etwa die Hofrätin sich ungeachtet der Verbindung anderweitig umzusehen. Eine andere Variante zum Verhalten der Hofrätin liefert die zu Beginn des 1. Kapitels erwähnte Generalsgattin, von der „es hieß, daß der jeweilige Adjutant ihres Gemahls auch immer ihr jeweiliger Liebhaber gewesen sei" (14,14f). Offenbar hatte diese Dame der Gesellschaft, sozusagen als ,Vorstufe' zur Hofrätin, mit „dem blutjungen" (14,16) Sandek ein Verhältnis begonnen, um - wie der Ich-Erzähler gegenüber Sandek zu bedenken gibt - „zu erproben, ob und wie ihre Reize auf einen Ändern wirken" (l9,3Of), jedoch nicht um einem anderen Liebhaber damit zu schaden. 224

Polheim: Erzählkunst, S.19.

162

Der Ich-Erzähler, aus dessen Perspektive wir die Erzählung vernehmen, steht wegen seines räumlichen und inhaltlichen ,Überblickes' über das Geschehen oberhalb der Konfiguration. Durch die Betonung seiner Rolle als Verfasser der „kleinen Geschichte" (13,14f.) ist er von Anfang an von dem Geschehen distanziert. An den Vorgängen ist er nur als Beobachter und Ratgeber gegenüber Sandek beteiligt. Direkte Kontakte zu den übrigen Personen pflegt er nicht225. Von beiden Literaten hebt sich der insgesamt bescheidene Ich-Erzähler, dem es auch materiell ,„So, so - den Umständen angemessen'" (15,15) geht, deutlich ab. Über die Geltungssucht des Trivialschriftstellers ist er erhaben, obwohl es ihn natürlich kränkt, daß die Kurgäste, denen er vom Trivial Schriftsteller vorgestellt wird, von seiner Existenz „keine Ahnung gehabt hatten" und ihn „mit offenem Munde anglotzten" (29,24f.). Gleichzeitig ist ihm an großen Auftritten aber nicht gelegen, da er sich auch bei offiziellen Anlässen - wie dem geschilderten Diner und der Abendeinladung im 5. Kapitel - eher im Hintergrund hält. In diesem Sinne unterscheidet er sich auch von dem Schriftsteller, der als „weltmännischer Sonderling" durch gelegentliches Erscheinen in den „Wiener Salons" (16,37f.) auf sich aufmerksam macht. Im Gegensatz zu dem Trivialschriftsteller nennt der Ich-Erzähler außer Sandek und Wernhart keine Namen und entlarvt die Geschwätzigkeit des Trivialschriftstellers, indem er sie dort, wo dieser Namen nennt, auffällig ausspart (,„Die Hofrätin -' er nannte den Namen [...] ,hat jahrelang mit' - er nannte wieder den Namen - ,ein sehr intimes Verhältnis gehabt [...]'", 30,15ff.)226. Damit verhält er sich im Sinne Saars, der über seine Diskretion beim Erzählen schrieb, daß er zwar seine Figuren porträtiere, die Handlung jedoch frei erfinde227. Dabei zeichnet Saar seine Figuren durchaus - bei allem Feingefühl mit einem leichten Lächeln. In der Forschung wird Saar mit „aller Kreatur" in einer „Leidgemeinschaft" verbunden genannt228, und an einer Stelle heißt es: Wir fühlen, daß Saar ein guter Mensch war. Selber im Innersten unglücklich, suchte er, wo immer es ihm begegnet, fremdes Leid zu verstehen und zu lindern. Er kennt keinen Spott, keine Überheblichkeit, keine beißende Ironie.229

225

Zur Rolle des Ich-Erzählers und seiner Perspektive s. IV.I.e. Ein derartiger Fall liegt auch in der Geschichte eines Wienerkindes vor, wo Frauenlob den Ich-Erzähler vorstellt, der seinen Namen im Text ausspart (SW 9,234). 227 BrA, S.67. Brief an Altmann vom 6.9.1896 (s. III. l.b.). 228 Feiner, S.216. 229 Soukup, S.91. 226

163

Wenn es auch nicht um beißende Ironie geht, so erzeugen doch einzelne Schilderungen beim Leser ebenso wie beim Ich-Erzähler ein Schmunzeln; Saar schreibt hier mit dem gleichen „überlegenen Lächeln", das Gaßner (S.45) für die Darstellung des Soldatenlebens in der Pincelliade beobachtet: So etwa als Sandek an den Ich-Erzähler die Frage richtet, ob sich eine Frau ohne Liebe hingeben könne, worauf der Ich-Erzähler zugibt, ein „leichtes Lächeln" (19,7) kaum unterdrücken zu können. Als nun der Ich-Erzähler die allgemeine Formel für den leicht ersichtlichen Sachverhalt zitiert: „Du liebst eine Frau - und diese Frau liebt einen Anderen" (20,5f.) und Sandek ihn mit „halb offenem Munde" (20,7) anstarrt und entgeistert fragt: „Woher weißt du —?" (20,7), da ist es am Leser, zu lächeln. Sofort steht der Leser auf der Seite des Ich-Erzählers und glaubt die „abgeschmackten Fragen" (14,1) aus Sandeks Jugend. Derselbe Mechanismus vollzieht sich, als Sandek aus verletzter Eitelkeit den Vergleich mit dem „Skribler" (24,4) von sich weist, da dieser wenn auch „geistig sehr hoch" (24,7) stehend - doch „häßlich wie ein Affe" (24,8) sei. Auch dieser Ausbruch kindlicher Eitelkeit ringt dem Leser ein Lächeln ab - zusammen mit dem Ich-Erzähler. Neben dem Ich-Erzähler treten drei weitere Figuren auf, die in lockerer Verbindung zu den anderen Figuren stehen und nur über bruchstückhafte Kenntnis der Hintergründe verfügen. Sie dienen dem Ich-Erzähler sozusagen als ,Hilfsbeobachter', indem sie die Handlung kommentieren. Der Ich-Erzähler läßt Teile des Geschehens mit ihren Worten mitteilen. Der erste dieser ,Hilfsbeobachter' ist Oberst Wernhart, der lediglich Sandek kennt und über die Ursachen von dessen Wahnsinn mutmaßt, daß „auch eine Liebesgeschichte mit im Spiele" (28,8) sei. Er berichtet von Sandeks Anfall und schickt ein „gerändertes Parte", das von Sandeks Tod im Irrenhaus kündet. Er ist - von Sandek abgesehen - die einzige Figur, deren Nachname genannt wird. Die etymologische Bedeutung aus ahd. war/an (wehren) und ahd. hari (Heer) kann als der Wehrhafte übersetzt werden230 und scheint seinen militärischen Stand zu unterstreichen. Im 4. Kapitel, in dem nicht mehr von Sandek, sondern von seiner Tochter die Rede ist, übernimmt der geschwätzige Trivialschriftsteller die Funktion des ,Hilfsbeobachters'. Auch er ist Teil der Handlung, übermittelt jedoch dank seiner Kenntnis der „Wiener Skandalchronik" (29,llf.) das Scheitern der Heirat des Schriftstellers mit der jungen Schauspielerin. Auch von der Rückkehr des nunmehr kranken Schrift230

Bahlow, S.557.

164

stellers zur Hofrätin weiß der Trivial Schriftsteller zu berichten. Über die Herkunft der blonden Tochter kann er hingegen bloß Vermutungen anstellen. Zunächst hatte der Ich-Erzähler ihn „lieber zu allen Teufeln gewünscht" (29,4); mit Blick auf seine Kenntnis des Wiener ,Tratschs' räumt er ihm jedoch ein, er könne auch „hin und wieder [...] ganz unterhaltend" (29,12f.)sein. Als dritte kommentierende Figur ist die Gastgeberin aus dem 5. Kapitel zu nennen. Zwar weiß sie nichts über die Hintergründe der Entstehung der Tochter, doch erst durch ihre Mitteilungen über deren Schicksal sowie deren Entscheidung für die Aufzucht ihres Sohnes erhält die Handlung, die bis dahin mit den Schicksalsfragen des Ich-Erzählers über die „Verkettungen des Lebens" (31,13) im Ungewissen geblieben war, ihre Auflösung. Da die drei Kommentatoren außerhalb des eigentlichen Konfliktes stehen und mit ihm nur lose verbunden sind, so sind sie o b e r h a l b der anderen Figuren angeordnet

b. Die Struktur Die Auswirkungen von Sandeks Liebesverhältnis mit der Hofrätin bis in die übernächste Generation spiegeln sich auch im Aufbau der Erzählung wider. Saar weicht bei Hymen von der ,klassischen' - auch von ihm oft verwendeten - Gestaltung von Rahmen- und Binnenerzählung231 ab: Hymen weist eine dreiteilige Struktur auf. Denn in der Erzählung sind nur die Kapitel 1-4 von der Rahmenerzählung umschlossen, während das 5. Kapitel der wiederaufgenommenen Rahmenhandlung - dem eingangs geschilderten Diner - nachgestellt wird. Die Wiederaufnahme des Rahmens nach dem 4. Kapitel macht Saar durch drei Sternchen kenntlich (30,30); es sind dieselben drei Sternchen, die auch zu Beginn die Rahmenhandlung vom 1. Kapitel trennen (13,15). Die Schilderungen der Schicksale von den drei Hauptfiguren Sandek, der Hofrätin und ihrer gemeinsamen Tochter übertreten diese Gliederung in Rahmen, Binnenerzählung und das nachgestellte 5. Kapitel. Gleichzeitig illustriert aber die äußere Form das inhaltliche Geschehen - ganz im Sinne des Autors Saar, der gegenüber Abraham Altmann die Formulierung gebrauchte „nicht der Inhalt, sondern die Form bedingt"232. So soll das Zusammenspiel von Form und Inhalt an dieser 231 232

Zu Rahmen- und Binnenerzählung s. Weinrich, S.200ff. BrA, S.68. Brief vom 6.11.1896.

165

Stelle eingehend untersucht werden. Die Überschneidungen der inhaltlichen Schicksalsbeschreibungen mit der äußeren Form Hymens macht folgende Graphik deutlich:

Ostern 1896

1871

I.Kap. 137 Z.

S. T.

2.Kap.

336 Z.

Sandek

1877 3.Kap. 4.Kap. 78 Z.

79 Z.

Ostern 1896

Herbst 1896 S.Kap.

80 Z.

Sandeks Tochter

Die schematische Darstellung zeigt, daß sich das 5. Kapitel von Rahmen und Binnenerzählung abhebt. Die Trennung vom Vorausgegangenen ist jedoch nicht nur äußerlich, sondern auch inhaltlich bedingt und läßt das Kapitel als Schluß der Erzählung eine besondere Bedeutung einnehmen233. Denn in diesem - durch einen Zeitsprung von einem halben Jahr von der Rahmenhandlung abgesetzten - Kapitel wird das Schicksal von Sandeks Tochter erhellt und deren Sohn eingeführt, während bei dem Diner kurz vor Ostern, das als Rahmenhandlung die Binnenerzählung umschließt, die Tochter zwischen dem Baron und dem Modegelehrten erst am Scheideweg ihres Geschickes beschrieben wird und das Ende noch offen ist234. Auf diese Weise kann die Erzählung in drei Texteinheiten unterteilt werden: in Rahmen, Binnenerzählung und das nachgestellte 5. Kapitel. Insgesamt wird aber das Schicksal von Sandeks Tochter - die dreigegliederte Form der Erzählung übergreifend - im Rahmen, im 4. Kapitel und im nachgestellten 5. Kapitel behandelt; Sandeks Schicksal ist hingegen nur Thema der ersten drei Kapitel der Binnenerzählung. 233

Lütgen (S.12) bewertet das 5. Kapitel als eigenständige Texteinheit: „,Hymen"' bringt ein ausfuhrliches Schlußstück, das die Tochter der eigentlichen Heldin in ihrem Schicksale begleitet und eine selbständige Erzählung ausmacht." 234 Diesen Aspekt und die Parallelen zwischen Hofrätin und Tochter hebt Aspetsberger besonders hervor (Aspetsberger, S.269).

166

Die Darstellungen der Schicksale beider Figuren überschneiden sich nicht: Sandek hat seine Tochter nie kennengelernt. Die Erwähnung der Hofrätin erfolgt in den ersten beiden sowie im 4. und 5. Kapitel, jedoch nicht im 3. Kapitel und in der Rahmenhandlung. Damit überschneiden sich die Geschehnisse um die Hofrätin und die Tochter in den letzten beiden Kapiteln. Das 4. Kapitel bildet dabei mit der Schilderung der Tochter als ein „etwa sechsjähriges Mädchen" (30,1) die Brücke zwischen Binnenerzählung und Rahmen. Eingangs bildet die Tochter den Auslöser für das Erzählen der Binnenhandlung, da der Ich-Erzähler sich erinnert, sie „schon einmal als Kind gesehen" (13,9f.) zu haben. Auf die Beschreibung dieser Begegnung in der Kur folgt rasch die Wiederaufnahme der Rahmenhandlung. Die Darstellung der Tochter im Rahmen bleibt jedoch aus der Distanz heraus, da der Ich-Erzähler von ihr beim Diner durch einen Tafelaufsatz getrennt ist und sie - ähnlich wie auch die Hofrätin - immer nur im Vorbeigehen sieht, wie sie auch nicht persönlich zu Wort kommt235. Gleichzeitig gibt die Begegnung mit ihr den Anstoß zur Binnenerzählung, die sich als Hintergrund um ihre Herkunft rankt. So löst sich die Binnenerzählung förmlich aus der Rahmenhandlung heraus, hinter welcher der Ich-Erzähler bildhaft Licht macht236. Da der Ich-Erzähler mit der Tochter nicht ins Gespräch kommt, ist seine Beschreibung ihrer äußeren Erscheinung als „schlanke blonde Frau" (13,1) mit dem Hinweis auf „ihr lichtes Antlitz" (13,2) für die Interpretation um so wichtiger. Denn ihre äußeren Merkmale, besonders die merkwürdige Farbe der „dunklen Amethystaugen" - auf deren symbolische Bedeutung unten noch zu kommen sein wird (s. IV.2.C.) werden am Anfang der Binnenerzählung mit der Beschreibung Sandeks wieder aufgegriffen. Auch bei ihm werden der „schlanke und geschmeidige Wuchs" und das „blonde, leicht gelockte Haar" hervorgehoben (14,36f.) und der Ich-Erzähler erwähnt, daß seine Augen „an dunkle Amethyste erinnerten" (14,39-15,1). Als durch die Spekulationen des Trivialschriftstellers am Ende des 4. Kapitels die Frage nach dem Vater der blonden Tochter aufkommt, die ihrer Mutter gar nicht ähnlich sehe, nimmt der Ich-Erzähler die Rahmenhandlung wieder auf. Es wirkt, als hätten sich seine Gedanken an Vergangenes am Antlitz der Tochter ihm am Tisch gegenüber wieder gefangen. Damit wird ihre Ähnlichkeit mit Sandek zum Angelpunkt zwi235 236

Ebd. Vgl. Stockert: Anatomie, S. 159: Die Rolle des Ich-Erzählers in Hymen wird hier treffend als die eines Aufhellers gedeutet, der erst durch das Erzählen der Haupthandlung hinter der Bühne Licht mache.

167

sehen Rahmen und Binnenerzählung. Das Thema der Vererbung, das oben schon als sinnbildliche Darstellung für die Weiterführung von Sandeks Rolle durch seine Tochter gedeutet wurde (s. IV. 1.a.), hat also auch strukturelle Bedeutung. Das 5. Kapitel zeigt dann die Lösung der verworrenen Verhältnisse, obwohl vom Protagonisten Sandek nicht mehr die Rede ist. In den Mitteilungen über die Entscheidung der Tochter gegen neue Verbindungen und über das Schicksal der Hofrätin als alte kranke Frau werden die Handlungsstränge von Rahmen (Position der Tochter zwischen Baron und Modegelehrtem) und Binnenerzählung (Hofrätin zwischen Hofrat, Schriftsteller und Sandek) vereinigt. Denn aus der Entscheidung der Tochter für die alleinige Erziehung ihres Sohnes spricht, daß sie es ihrer Mutter nicht gleichtun wird und sich keinem zweiten Sandek hingeben wird, was eine Wiederholung der Geschichte der Hofrätin bedeuten würde. Dadurch ist ihrem Sohn, dem Erben in der dritten Generation, eine andere Zukunft möglich. Diese Distanz des Enkels zu Sandek - und die Funktion der Tochter als Klammer zwischen den Generationen - spiegelt sich auch in der Struktur: Sandek stirbt im 3. Kapitel, von der Tochter ist die Rede vom 4. Kapitel an und der Enkel wird erst im letztem Kapitel genannt, das abseits von Rahmen und Binnenerzählung steht und in die Zukunft weist.

Die Anordnung des Geschehens in einer dreiteiligen Struktur mag auch die Erklärung für den nur im Erstdruck erscheinenden Untertitel Eine Geschichte in Arabesken bieten. Dieser Untertitel, der im Manuskript nicht auftaucht (vgl. 1.2., III.I.e.), scheint sich nicht allein inhaltlich auf die verworrenen Beziehungen der Figuren untereinander zu beziehen, wo das unglückliche Verhältnis zwischen Sandek und der Hofrätin sich gleich den Wellenbewegungen eines in einen Teich geworfenen Steines in der nächsten Generation fortsetzt und an den Verhältnissen der Nebenfiguren (des Schriftstellers und der Schauspielerin) bricht - wie die Wellen an einzelnen Inseln im Teich. Die Verwendung des Begriffes „Arabeske" im Untertitel gibt auch über das Zusammenwirken der äußeren, gegenläufigen Textsegmente von Rahmen und Binnenerzählung sowie dem 5. Kapitel Aufschluß. Zunächst rührt der Begriff „Arabeske" von der Malerei her und meint jene Ornamentik, die einmal als verzierendes Beiwerk, ein andermal als Selbstzweck im orientalischen Ornament erscheint237. Übertragen auf die 237

Vgl. hierzu und zum Folgenden Polheim: Arabeske, S.12f.

168

Literatur, tritt das verzierende Beiwerk als Abschweifung bei der Fabel (,Digression') sowie als minder wichtiges Nebenprodukt des dichterischen Gesamtwerkes eines Autors zutage; als Beispiele für den ornamentalischen Selbstzweck finden sich hier nur wenige Werke wie etwa Sternes Roman Tristram Shandy, für den Friedrich Schlegel den Begriff der Arabeske verwendet238. Doch hat die „Arabeske" immer wieder andere Bedeutungen erfahren: Einmal als Verzierung oder im Zusammenhang mit der Vermischung literarischer Formen gebraucht, taucht der Begriff bei Eichendorff auch als positives Charakteristikum des Mittelalters auf, während Gogol das Unerklärliche, Phantastische und Poe das Grauenhafte, Düstere im „Arabesken" anklingen lassen239. Welche Bedeutung die „Arabeske" für Saar besaß, kann nicht mehr rekonstruiert werden. Ein literarisches Werk, das dazu beitragen kann, die Bedeutung des Untertitels zu entschlüsseln, ist Karl Immermanns Münchhausen (183 8/3 9)240. Denn dieser Roman ist vom Autor mit demselben Untertitel Eine Geschichte in Arabesken versehen worden, was auch Saar bekannt gewesen sein dürfte. Im Falle des Münchhausen scheint zunächst die Bedeutung der „Arabeske" im Sinne von Abschweifung gemeint zu sein. Denn das umfangreiche Werk umfaßt vier Teile, acht Bücher, 96 so benannte Kapitel, zwischen welche immer wieder Briefe, Intermezzi und Märchen eingeschoben werden. Bei näherer Untersuchung zeigt sich das vermeintliche Beispiel literarischer „Digression" mit seinen insgesamt 103 (zum Großteil einzeln betitelten) Abschnitten jedoch als höchst durchdachtes Konstrukt, in dem jeder Abschnitt seine spezifische Bedeutung trägt. Die Sekundärliteratur hat herausgearbeitet, wie Schlegels Bestimmung der Arabeske als ,künstlich geordnete Verwirrung' sich hier im Sinne einer „sinnvollen poetischen Konzeption" entpuppt, „in welcher sowohl für die Spannungen zwischen romantischer und realistischer Welt als auch für die darin verstrickten Individuen eine Lösungsmöglichkeit" entfaltet wird241. So findet etwa der Wahn des 238

Ebd. S. 13. Ebd. S.363ff: Als Vermischung literarischer Formen nennt Polheim den IX. Band von Tiecks Schriften mit dem Titel Arabesken, Brentano wird genannt in bezug auf Arabesken als „Verzierungen" (S.364); Eichendorff wird mit Krieg den Philistern (S.365), E. A. Poe in bezug auf Tales of the Grotesque and Arabesque und Gogol im Zusammenhang mit seinen Arabesken (S.367) erwähnt. 240 Karl Immermann. Werke in fünf Bänden. Hg. von Benno von Wiese. Unter Mitarbeit von Hans Asbeck, Helga-Marleen Gerresheim, Helmut J. Schneider, Hartmut Steinecke. Frankfurt a. M. 1971-77, Bd. 3, Frankfurt a. M 1972. 241 Vgl. Karrasch, S.147ff. 239

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Barons in jenem Oswalds sein Pendant und wirft die Romanze zwischen Münchhausen und Emerentia ein Licht auf das Verhältnis zwischen Oswald und Lisbeth. Die eingeschobenen Briefe formieren den Rückbezug „des werkimmanenten, fiktiven Realismus auf die historische Realität"242 und die Konfrontation von Münchhausen-Welt und Oberhofwelt zeigt, „daß die Überwindung des Wahns in beiden Handlungssträngen möglich gewesen ist, daß aber für die Erkenntnis desselben, besonders in der quasi-realistischen Oberhofwelt, ein Vergleich beider Welten nötig war"243. Bei Hymen kann von Abschweifungen nicht eigentlich die Rede sein, da die Erzählung - zwar mit Ort- und Zeitsprüngen - knapp und stringent komponiert ist. Hingegen haben wir es auch hier mit zwei scheinbar gegenläufigen Handlungssträngen zu tun: dem Rahmen, der vom Schicksal der Tochter handelt und der Binnenerzählung, die das vorausgegangene Verhältnis Sandeks mit der Hofrätin schildert. Erst im 5. Kapitel, in dem das Schicksal der Hofrätin wieder aufgegriffen wird, finden die beiden Handlungsstränge zusammen. Der maßgebliche Konflikt um die Hofrätin und Sandek setzt sich in anderen, parallel dazu entstehenden Verhältnissen zwischen dem Schriftsteller und der Schauspielerin, die später einen Bühnendichter heiratet, sowie in der folgenden Generation in den Verhältnissen von Sandeks Tochter fort. Auch hier herrscht also scheinbare ,Verwirrung', die sich erst am Schluß auflöst, wobei die Offenbarung der Pläne von Sandeks Tochter und die Erwähnung ihres Sohnes in die Zukunft weisen. Haben derartige Überlegungen Saar dazu geführt, jenen Untertitel zu wählen oder doch passiv zu autorisieren? Immerhin war die Bezeichnung von Romanen, Erzählungen, Gedicht- und Essaysammlungen als „Arabesken" im 19. Jahrhundert keine Seltenheit: „die Arabeske als Titel [hatte sich] vor allem in der Trivialliteratur breitgemacht"244. Im Zusammenhang mit der Struktur der Erzählung steht auch ihre innere Zeitgestaltung. Während bei dem Diner der Rahmenhandlung die „zahlreichen Gänge" (13,10) gereicht werden, betont der Ich-Erzähler zu Beginn, er habe „Zeit" gehabt, „um über allerlei Vergangenes nachzudenken" (13,11). Das Diner geht also gleichzeitig fort, während der Ich-Erzähler die Geschehnisse der Binnenerzählung vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen läßt und sich deshalb seinen Tischnachbarinnen 242

Ebd. S.160. Ebd. S.161. 244 Polheim: Arabeske, S.368. 243

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gegenüber sehr „zerstreut und einsilbig" (13,12) zeigt. Unter Umständen braucht er dafür ebenso lange, wie das Lesen der Binnenerzählung erfordert. Dann stimmen auf dieser ,Ebene' „Erzählzeit" und „erzählte Zeit" überein245. Die Binnenerzählung spinnt den Faden in die Vergangenheit246 und holt erst mit einem größeren Zeitspung am Ende des 4. Kapitels die Rahmenhandlung wieder ein. Besonders während der Binnenerzählung baut Saar mittels eines kunstvollen Umgangs mit „Erzählzeit" und „erzählter Zeit" eine dramatische Spannung auf, die ihren Höhepunkt im 2. Kapitel erreicht. Verschiedene Zeitraffungen des „einfachen Überspringens"247 („Und nun trat er nach mehr als einem Jahrzehnt bei mir ein." [14,35]; „Er kam auch nicht so bald." [16,13]; „Meine Vermutungen bestätigten sich bald." [18,1]248; „Eines Vormittags jedoch [...]." [18,14]) leiten die entscheidende Begegnung von Ich-Erzähler und Sandek im 2. Kapitel zu dem zentralen Diskurs über Sandeks Liebe zur Hofrätin ein. Die Zeitraffungen stehen jeweils zu Beginn eines Absatzes und brechen allgemeinere, abschweifende Überlegungen ab, um bestimmte Begebenheiten anzukündigen. Dabei werden die erzählten Zeitabstände immer kürzer („mehr als ein Jahrzehnt", „nicht so bald", „bald", „eines Vormittags"), und Sandek erscheint noch im selben Absatz nach der letzten Raffung in der Wohnung des Ich-Erzählers. Sofort verlangsamt sich die erzählte Zeit: Pausen treten ein („Ich sah ihn erwartend an. Er schwieg eine Weile;" 19,1), schließlich wird die erzählte Zeit länger als die Erzählzeit, als der Ich-Erzähler Zurückliegendes berichtet, bevor er auf Sandeks Frage antwortet, ob sich eine Dame „ohne Liebe" (19,4) hingeben könne. Im Laufe des Gesprächs zwischen Sandek und dem Ich-Erzähler stimmen Erzählzeit und erzählte Zeit überein, besonders, während Sandek sein Verhältnis mit der Hofrätin schildert. Bei seiner Darstellung führt Sandek wieder einzelne Zeitraffungen ein, welche die

245

Die Begrifflichkeit orientiert sich an Günter Müller. Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst, (s. G. Müller). 246 Vgl. Lütgen, S.U. 247 G.Müller, S. 17: Müller unterscheidet zwischen verschiedenen Zeitraffern. Zum einen nennt er „einfaches Überspringen" als Zeitraffer, dann nennt er Steigerungen wie „Veni, vidi, vici" und schließlich die Raffung der Ereignisse durch die Betonung ihrer allgemeinen Züge („täglich..."). 248 Innerhalb dieses Absatzes sind wiederholt auch „iterative" Zeitraffer zu finden wie „öfter, besonders gegen Abend, war der Garten sehr belebt." (18,9f.). 171

Unterredung mit dem Ich-Erzähler auf ihren Höhepunkt führen, als er die Liebesnacht mit der Hofrätin gesteht. Die vorhergehende Verlangsamung des Erzähltempos durch immer kürzer werdende Raffungen bis zur Kongruenz von „Erzählzeit" und „erzählter Zeit" erzeugt eine zermürbende Spannung, die den Leser auf einen klärenden Ratschlag des Ich-Erzählers hoffen läßt. Als Sandek jenen Ratschlag von sich weist, geschieht das Gegenteil: die schnelle Beschleunigung des Erzähltempos. Die Spannung fällt durch mehrere Raffungen des Überspringens in immer größeren Intervallen: Einige Tage nachher brachten mehrere Blätter die Notiz [...]. (26,19) Der Sommer hatte seine Höhe erreicht. (26,22) Nach einiger Zeit [...] trat ich eine [...] kleine Rundreise durch Italien an. Als ich zurückkehrte [...]. (28,15ff.)

Unmittelbar darauf, am Tiefpunkt der Spannungskurve, folgt die Erwähnung von Sandeks Tod. Schon am Ende des 2. Kapitels hat sich die nahende Katastrophe angekündigt („Es wird sich nicht gut gestalten", 26,12). Die Verlegung des Anfangs des 3. Kapitels in den Hochsommer, dessen Ende aber in den Herbst, raffen Klimax und Fall zusammen. Im Zentrum der Erzählung (22,3-25,3) werden als entscheidende Begebenheiten das Zusammentreffen Sandeks mit dem Schriftsteller im Vorzimmer der Hofrätin und die anschließende Zeit „zwischen Himmel und Hölle" (23,14) bis hin zum Ehebruch genannt. Die Maskierung der Hofrätin mit einem Theatermantel in der Liebesnacht unterstreicht die dramatische Bedeutung dieser Zusammenkunft. Die erklärenden Ausführungen des Ich-Erzählers zum Verhalten der Hofrätin und seine Aufforderung an Sandek, durch Reife zu überzeugen, stehen am Scheitelpunkt der Erzählung. Sandeks Ablehnung jener Ratschläge steht im Zusammenhang mit seiner späteren Krankheit (s. IV.3.a.). Er verspielt mit der Verweigerung jeder Einsicht die Chance, das Geschehen aktiv weiterzulenken. Nach seinem Tod wird die Tochter sein Vermächtnis weitertragen (s. IV.La.; IV.3.a.) In der Binnenerzählung kommt im 4. Kapitel, das mit einem größeren Zeitsprung beginnt („Jahre waren verflossen." (28,26), die Rede auf sie. Zunächst werden die Umstände in der Kur geschildert; das Zusammentreffen des Ich-Erzählers mit der Hofrätin und ihrer Tochter findet nach einer Raffung von nur drei Tagen statt. Das Kapitel endet mit dem Monolog des Trivialschriftstellers zunächst verlangsamt, bevor eine dort bereits als Steigerung angelegte Raffung in den Rahmen zurückleitet: 172

Was aber die Kleine betrifft [...]. Während des Interregnums soll ihrer Mama ein Offizier nähergetreten sein. [...] das Töchterchen sieht weder dem Hofrat noch seiner Gemahlin ähnlich ... * * Und nun saß dieses Töchterchen [...]. (30,26ff.)

Auf diese Weise knüpft die Schilderung der Begegnung mit der Tochter im Kurort wieder an das Diner in der Rahmenhandlung an. Während sich - wie oben gezeigt werden konnte - die Binnenerzählung aus dem Rahmen sozusagen ,herauslöste' (s.o.) und die Rahmenhandlung den ursächlichen Hintergrund für die Binnenerzählung darstellte, bilden die Kapitel der Binnenerzählung jetzt den Hintergrund für den Fortgang des Diners. Ähnlich wie ein Kleidungsstück, das einmal rechts- und einmal linksgekehrt getragen werden kann, stellen Rahmen und Binnenerzählung zwei Seiten ein- und derselben Geschichte dar, die einander bedingen und beleuchten. Erst der abermalige Zeitsprung zu Beginn des 5. Kapitels, der zwischen dem Diner „knapp vor Ostern" (31,22) und der Abendgesellschaft im „November" (31,24) - wie zum Beweis der Parallelität des Geschehens - wiederum einen „Sommer" (26,22) vergehen läßt (wie zwischen dem ersten Besuch Sandeks beim Ich-Erzähler und der Nachricht von seinem Tod im Herbst desselben Jahres), bricht mit der gradlinigen Zeichnung der „Verkettungen des Lebens" (31,13) seit Beginn des 4. Kapitels. Denn in diesem Sommer zwischen dem Diner in der Rahmenhandlung und der Abendeinladung im 5. Kapitel liegt die Lebensentscheidung der Tochter, die Vaterrechte ihres Sohnes zu erstehen und ledig zu bleiben. In beiden Jahreszyklen von Frühjahr bis Herbst wird die Vergänglichkeit symbolisch dargestellt: In der Rahmenhandlung dienen Ostern und der Trauermonat November als Symbole für Neuanfang und Tod. In der Binnenerzählung deuten Naturerscheinungen den Verfall an: Bei der ersten Begegnung des Ich-Erzählers mit Sandek seit der gemeinsamen Miltitärzeit ist „eben Frühlingsanfang" und ein „weißes, hier und dort von einem zarten Rot durchschimmertes Blütenmeer" vom Wohnungsfenster des Ich-Erzählers aus sichtbar. Im 3. Kapitel hat der Sommer „seine Höhe erreicht" und die „Rosen in den Gärten" sind „verblüht" (26,22f.). Ebenso verliert „das Grün der Wipfel allmählich seinen Schimmer" (26,24). Stattdessen künden „farbenprächtige Feuerlilien und Gladiolen" die nahe Katasthrophe an, deren Ende Sandeks Tod besiegelt, während ein „rauher Nord" die „letzten Blätter von den Bäumen" fegt (28,24). 173

Ebenso wie die strukturelle Gliederung in Rahmen, Binnenerzählung und 5. Kapitel, weist auch die Gestaltung der historischen Zeit eine Dreiteilung auf. Die Rahmenhandlung spielt zu einem fiktiven Zeitpunkt, von dem aus die Binnenerzählung zunächst in die Vergangenheit führt, mit dem Schluß des 4. Kapitels den Rahmen jedoch wieder einholt. Das nachgestellte 5. Kapitel, das ein halbes Jahr später stattfindet, weist vom Rahmen aus in die Zukunft. Auf diese zeitliche Dreiteilung bezieht sich auch der Ich-Erzähler, indem er erwähnt, daß er beim Diner über „allerlei Vergangenes" (13,11) nachgedacht habe, wobei sich ihm bereits „die kleine Geschichte" gestaltet habe, die er erst n a c h der Abendgesellschaft des 5. Kapitels beginne „niederzuschreiben" (13,141). Eine genaue Datierung der Geschehnisse in Hymen, die einen Zeitraum von mehr als 36 Jahren umfassen, kann nicht vorgenommen werden. Hingegen ist die vage historische Einordnung möglich: Die einzige - allerdings ungenaue - Jahreszahl in der Erzählung wird zu Beginn des ersten Kapitels genannt: „Zu Anfang der siebziger Jahre" (19,16)249 heißt es, erhalte der Ich-Erzähler Besuch von Sandek, und zwar „nach mehr als einem Jahrzehnt" (14,35). Dies bezieht sich auf die letzte Begegnung beim Militär, die folglich um 1860 stattfand. Sandek habe sich damals „im Laufe einiger Jahre" zu einem „Lovelace" (14,24f.) entwickelt; die Bekanntschaft reicht also einige Jahre vor 1860 zurück, zu deren Beginn Sandek achtzehn Jahre alt war. Die Handlung der ersten drei Kapitel fällt in ein und dasselbe Kalenderjahr „Anfang der siebziger Jahre". Für die Zeitabstände zwischen den Besuchen Sandeks und dem Ich-Erzähler werden keine genaueren Angaben als „nicht so bald" (16,13) und „eines Tages" (18,28) gemacht. Sandeks erster Besuch fällt in den „Frühlingsanfang" (15,21f.); das 2. Kapitel findet in der warmen Jahreszeit statt. Denn zu dessen Beginn sieht der Ich-Erzähler die Hofrätin „in einem Garten auf- und niederschreiten [...]" (18,If.) und beobachtet den Hofrat dort des öfteren bei seiner Zeitungslektüre. Auch Abendgesellschaften finden in besagtem Garten statt - ein weiterer Hinweis auf die warme Jahreszeit. Am Anfang des 3. Kapitels hat der Sommer bereits „seine Höhe erreicht" (26,22); im darauffolgenden Herbst erhält der Ich-Erzähler Nachricht von Sandeks Tod.

249

Damit fallt die Handlung der ersten drei Kapitel noch in die sogenannte „Ringstraßenzeit" (s. Rossbacher: Literatur), in der „sich die wesentlichen Wandlungen innerhalb der Gesellschaft Oesterreichs ab [spielten].4' (Wollerer, S. 142).

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Etwa sieben Jahre später - die Tochter ist bereits ein „etwa sechsjähriges Mädchen" (30,1) - begegnet der Ich-Erzähler der Hofrätin und ihrer Tochter während der Kur. Die Ereignisse der Rahmenhandlung und des 5. Kapitels - das Diner vor Ostern und die Abendeinladung im darauffolgenden Herbst - finden wiederum etwa achtzehn Jahre später statt. Denn es heißt, „ein Vierteljahrhundert" (31,33) sei über die „Blütezeit" (31,34) der Schauspielerin hinweggegangen, jene Zeit, in der sie den Schriftsteller hatte heiraten wollen. Sandeks Tochter ist jetzt 24 Jahre alt und Mutter eines fünfjährigen Knaben. Sie hat offenbar schon im Alter von etwa achtzehn Jahren geheiratet um der Abneigung ihrer Mutter zu entgehen. Bald darauf ist sie selbst Mutter geworden. Einen letzten Zeitbezug bietet die von 1868 an geltende Vorschrift über höhere Anforderungen bei den Stabsoffizierskursen250. Sandeks Klagen werden so auch im historischen Kontext plausibel.

c. Die Perspektive Die Erzählung mit ihren vielfach verschlungenen Einzelschicksalen teilt eine Figur mit, die sich als Schriftsteller entpuppt. „Mir aber gestaltete sich schon an jenem Abend die kleine Geschichte, die ich jetzt niederzuschreiben beginne." (13,14f.), leitet der Erzähler das 1. Kapitel ein. Was geschildert wird, und wie es abgefaßt ist, geht also auf seine Perspektive zurück. Weil darin auch die Wahl des Titels Inbegriffen ist (denn er gehört ja zur Erzählung), geht die Beobachtung jener Geschichte des modernen mythologischen Hochzeitsgottes also auf die Bildung und Übersicht dieses Erzählers zurück. Mit dem einleitenden Satz stellt er sich ,über' das Geschehen, an dem er doch selbst teilnimmt. Die Sekundärliteratur hat diese Perspektivengestaltung wiederholt mit einer biographisch ausgerichteten Motivation des Autors erklärt und den Erzähler mit dem Dichter Saar identifiziert251. Diese These stützt sich auf Parallelen zwischen den genannten Lebensumständen des Erzählers 250 251

Vgl. Schadauer, S.83. Vgl. Nagler: Novellist, S.323. Als weitere Erzählungen, in denen Ich-Erzähler und Autor zusammenfielen, nennt Nagler Geschichte eines Wienerkindes, Ninon, Doktor Trojan, Conte Gasparo, Die Parzen, Der Burggraf, Außer Dienst, Der Hellene. Wenske (S.36) spricht im Zusammenhang mit Hymen von „melancholischen (Künstler-)Figuren, die sehr oft auch gleich Erzählerfunktionen übernehmen." Vgl. auch Die Zeit, Wien, vom 13.12.1905. 175

und jenen des Autors: Auch Saar schied 1860 aus dem Militärdienst232, wie offenbar der Erzähler, der Anfang der siebziger Jahre Sandeks Karte vorfindet - nach mehr als einem Jahrzehnt seit dem letzten Treffen beim Militär. Ebenso genoß Saar - ähnlich wie der Ich-Erzähler - Anfang der siebziger Jahre aus seiner Wohnung in der Alleegasse 13 in Döbling den Blick „über eine weite Flucht von Gärten hinweg auf die ragenden Türme und Kuppeln der Stadt" (15,20f.)253. Eine Parallele zu der kleinen „Rundreise durch Italien" (28,16f.) des Erzählers bildet Saars eigene Italienreise im Herbst 1873 (vgl. SW 1,90). Dieses Kalenderjahr könnte sich auch - nimmt man an, daß Saar die Daten des Erzählers bewußt an seine Biographie anlehnte - hinter der Angabe „Anfang der siebziger Jahre" verbergen und damit die gesamte Erzählung zeitlich fixieren. Da der Erzähler aber die erfundenen Figuren wie etwa Sandek kennt, muß auch er Teil der fiktiven Handlung sein254. Das Ich des Erzählers bleibt ein erfundenes Ich des Autors, wieviele historische Parallelen dieser ihm auch andichten mag. Es handelt sich hier also um einen typischen „Ich-Erzähler", der stets „erzählendes Medium" bleibt: Sämtliche Begebenheiten werden nur aus seiner Perspektive geschildert255. Am deutlichsten tritt dies zutage bei seinen Beobachtungen des Hofrats-Gartens mit einem Opernglas: Was dabei beschrieben wird, sieht der Ich-Erzähler aus s e i n e r Perspektive - das Opernglas ist sein besonderes »Objektiv', das den ihm eigenen Überblick aus einiger Entfernung, aber mit großer Brennweite versinnbildlicht. So handelt es sich nicht um „neutrales Erzählverhalten", 232

An Anton August Naaff schreibt Saar am 8.9.1893: „Im Mai 1860 quittierte ich meine Lieutnants-Charge [...] um mich ganz der Litteratur zu widmen." (BrW 102). 253 Vgl. Bettelheim, SW 1,62: Hier heißt es, Saar „blickte" aus besagter Wohnung „auf ein wahres Wipfelmeer von Gärten, auf die weitgedehnte Stadt, auf die grünen Auen der Donau". Der hohe Identifikationsgrad Saars mit dem IchErzähler spricht überdies aus dem Manuskript (H): Während Saar an anderen Figuren (wie etwa Schriftsteller und Trivialschriftsteller) lange ,gefeilt' hat (vgl. 62,40ff.; 78,Iff.), scheinen ihm die Passagen, die den Ich-Erzähler betreffen, deutlich vor Augen gestanden zu haben (etwa 61,26ff.; 66,26ff.). 254 Stocken hat die Unmöglichkeit, daß Autor und Ich-Erzähler zusammenfallen, aus der immanenten Logik heraus begründet, daß der Dichter als solcher sich selbst nicht als realistische Figur schildern könne: „Vor allem aber, auch wenn es Saar gelänge, authentisch seine Erlebnisse zu rekonstruieren und die Rolle, die er dabei gespielt, dann ist gerade der Dichter damit nicht getroffen. Im Gegenteil, ihn muß der Ich-Erzähler verleugnen, damit nicht die ganze Geschichte und er selber mit ihr für erdichtet, für Illusion erkannt wird. Dichterische Selbstdarstellung des realistischen Dichters ist realistischerweise unmöglich." (Stockert: Anatomie, S.159). 253 Petersen, S.57. 176

da sich der „auktoriale" Ich-Erzähler an anderer Stelle wertend und beurteilend ins Gespräch bringt („Wie unerbittlich sich menschliche Schicksale vollziehen!", 28,13)2S6. Der Erzähler tritt hier als „Identität des Ich in seiner Differenz"237 auf, d.h. als „erlebendes" u n d „erzählendes Ich", da er frühere Perspektiven („Wie unerbittlich sich menschliche Schicksale vollziehen! So sprach es in mir [...]" [28,14f.]; „Was wohl mit der Mutter geschehen sein mochte? Und ob nicht vielleicht der Tochter ein ähnliches Los bevorstand?" [31,13ff.]) als Momentaufnahmen zitiert, in denen er nicht über den gleichen Kenntnisstand wie zum Zeitpunkt der Niederschrift verfügte. Insofern steht das „erlebende Ich" zeitlich hinter dem „erzählenden Ich" zurück, da Sandeks Schicksal und der Aufenthalt in der Kur zum Zeitpunkt der Niederschrift schon Jahre zurückliegen. Den überwiegenden Teil seines Verhältnisses mit der Hofrätin berichtet Sandek aus s e i n e r Perspektive dem Ich-Erzähler und tritt damit als Binnenerzähler auf. Einen ähnlichen Perspektivenwechsel bildet die Schilderung des Vorlebens der Hofrätin in den Worten des Trivial Schriftstellers. Dieser gibt nicht nur inhaltlich wichtige Informationen wie die Nachricht, daß der - nunmehr leberkranke - Schriftsteller zur Hofrätin zurückgekehrt sei, sondern fügt mit den Wendungen „der schwarzgallige Lessing" und „die blauäugige Undine" (30,19) zwei deutungsrelevante Bilder ein, auf die unten zurückzukommen sein wird (s. IV.3.b.). Der Grund für diese Technik, das Geschehen von mehreren Seiten zu beleuchten, indem es zum Teil aus der ,Optik' anderer Figuren mitgeteilt wird, liegt in der „Frage nach der Wahrheit, von welcher der moderne Mensch weiß, daß sie nicht absolut, sondern nur relativ, nur durch die Annäherung von unterschiedlichen Richtungen, erfaßbar ist"258. Saar umstellt das Geschehen und läßt die Figuren sprechen, wodurch eine graduelle

256

Diese auktorialen Eingriffe des Ich-Erzählers, die nach Stanzeis Einteilung schlechterdings nicht möglich wären, bestätigen Petersens Kritik an der Unterteilung in auktoriale, personale Erzählform und Ich-Form: „Er [Stanzet] argumentiert in aller Naivität, [...] das Ich sei eines und in sich nicht differenziert [...]." (Ebd. S.55). E|it (S.102ff.) übernimmt Stanzeis Dreiteilung und erläutert sie an den Erzählungen Die Steinklopfer, Dissonanzen und Die Geigerin. Schon bei den Steinklopfern wirkt dies nicht überzeugend. Obwohl deutlich ein IchErzähler auftritt, sieht Egit in dessen Selbstreflexion (seinem „Zwischenreden") den Grund, die Erzählung als Beispiel für die „auktoriale Erzählsituation" zu wählen - im Gegensatz zur „Ich-Erzählsituation", die an der Geigerin erläutert wird. (Vgl. Stanzel, a.a.O.). 257 Petersen, S.56. 258 Polheim: Erzählkunst, S.22. 177

,Objektivität' möglich wird und die Handlung ihre unaufhaltsame Dynamik entfaltet. Im Hinblick auf den (textinternen) Vorsatz des Ich-Erzählers, „die kleine Geschichte [...] niederzuschreiben" (13,14f.), fallen „erzählendes Ich" und „erlebendes Ich" zusammen259, da - auch wenn frühere Perspektiven zitiert werden - für die Intention des Ich-Erzählers die Perspektive zum Zeitpunkt der Niederschrift maßgeblich bleibt. Schon die A u s w a h l der Begebenheiten sowie deren P r ä s e n t a t i o n beinhalten das Vorhaben des Ich-Erzählers zum Z e i t p u n k t der N i e d e r s c h r i f t . Mit der Ankündigung, die „kleine Geschichte", die sich ihm „schon an jenem Abend" gestaltete, Jetzt niederzuschreiben" wird quasi die ,Brille' oder das ,Objektiv' des Ich-Erzählers vor die beschriebenen Ereignisse gehalten, wird das Geschehen mit seinen Augen gesehen260. Insofern sich dem Ich-Erzähler eine Geschichte „gestaltete" (13,14), heißt dies, daß ihm während des Diners auffiel, daß bestimmte Episoden aus der Vergangenheit, die sich auf die Tochter beziehen, eine zusammenhängende Geschichte ergeben. Niedergeschrieben hat er die Geschichte aber zu einem späteren Zeitpunkt, als er bereits über die Kenntnis der im 5. Kapitel mitgeteilten Geschehnisse verfügte. Erst zu diesem Jetzt" (13,15) - das sich offenbar sogar auf den Zeitpunkt der Niederschrift jener Zeile bezieht („niederzuschreiben beginne", 13,15) ist die Geschichte soweit abgerundet, daß der Erzähler mit ihrer Abfassung beginnen kann. Der Zeitpunkt dieses Jetzt" ist maßgeblich für Gehalt und Ausgestaltung der Erzählung.

Zur Beschreibung der „Erzählperspektive" (der Intention, die „kleine Geschichte [...] niederzuschreiben"; 13,14f.) gehört überdies die Untersuchung des erzählerischen „Standortes"261.

259

Petersen, S.56: „[Es] zeigt sich, daß das Erzählen eines Ich-Erzählers einen Doppelaspekt enthält: Es läßt den Erzählenden ebenso erkennbar werden wie den Erlebenden, das Erzählen wird bipolar." 260 Goethe: Werke, Bd. 6, S.499ff. Die Funktion des Opernglases wird um so deutlicher, zieht man Goethes Novelle heran: Honorio gewahrt erst durch den Blick durch das „förderliche Werkzeug" - ein Fernrohr - von einem erklommenen Felsen aus, „von dem man eine Aussicht hatte, die [...] schon in den Blick eines Vogels überging", die „unerhörte Begebenheit", den Brand in der Stadt. Hier drängt sich die Parallele zum Ausblick von der hochgelegenen Wohnung des IchErzählers auf. (Vgl. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 2. Aufl., München 1982. [zitiert Eckermann]; (zu Goethe s. Anm. 58). 261 Petersen, S.65ff.

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Auf den ersten Blick beschränkt sich der Ich-Erzähler auf eine „Außensicht"262: Wichtige Figuren wie die Tochter oder der Schriftsteller kommen selbst nicht zu Wort; auch die Hofrätin wird von Sandek zitiert. Die Beobachtung dieser Figuren u.a. mittels jenes Opernglases bestätigt diese „Außensicht". Selbst die lange monologartige Passage Sandeks im zweiten Kapitel scheint nur die „Außensicht" des Ich-Erzählers wiederzugeben. Denn er beschreibt nicht Sandeks Gefühle während des Berichtes von der Beziehung mit der Hofrätin, sondern er zeigt Sandek von a u ß e n , wie er ihn „mit halb offenem Munde" (20,7) ansah und verständnislos „lallte" (25,33). Aber gerade diese Details teilt der Ich-Erzähler deshalb mit, weil sie von größter Bedeutung für die Interpretation der Textpassage sind: Sie dokumentieren Sandeks psychisches Krankheitsbild263, das in der psychoanalytischen Deutung ausführlich untersucht wird (s.u. IV.3.a.). Das Beispiel zeigt, wie gut der Ich-Erzähler die Hintergründe der Handlungen der ihn umgebenden Figuren kennt und zu deuten weiß. In diesem Sinne ließe sich beim Ich-Erzähler gar eine Art „Innensicht", der sogenannte »„olympische' Standort"264, vermuten: „Warum sollte ein Ich-Erzähler nicht auch von dem Innenleben Dritter berichten, wenn er plausibel machen kann, daß er vom Äußeren auf das Innere schließt?"265 Da der Ich-Erzähler selbst an dem Geschehen teilnimmt und nirgends die Rede davon ist, daß er Gedanken lesen könne, m ü s s e n seine Schilderungen eher auf eine geschulte Beobachtungsgabe und seine Bildung zurückgeführt werden. Vielmehr g e s t a l t e t der Ich-Erzähler seine Außensicht so, daß sie eine Innensicht ermöglicht. Damit nimmt der Ich-Erzähler aber eine besondere gesellschaftliche Rolle ein266. Sandeks mißliche Situation kennt er „Infolge durchaus unwillkürlicher Beobachtungen." (20,8), womit nicht nur die zufälligen Begegnungen mit der Hofrätin und dem Schriftsteller bei ihrem Morgen262

Ebd. S.67. Bräutigam, S.114f; vgl. IV.3.a. 264 Petersen, S.65: „Bekannt ist der sogenannte „olympische" Standort, der auch als der der Allwissenheit bezeichnet wird - nicht ganz zu Recht, denn allwissend ist ein Erzähler nur, wenn ihm auch die Innensicht, also der Blick in das Seelenleben der Figuren zur Verfugung steht." 265 Ebd., S.68. 266 Gegenstand der Untersuchung ist hier nicht Rothbauers „gesellschaftlicher Standort des Erzählers", der auf die soziale Stellung des Dichters abzielt; vielmehr handelt es sich um die intellektuellen Qualitäten des Erzählers. Rothbauer hat in seiner Analyse derartige Betrachtungen nicht angestellt und in bezug auf die exemplarische Bedeutung jeder einzelnen Figur gefolgert: „So fehlt es den angestrebten zentralen Ereignissen oft an allgemeingültiger Bedeutung." (S. 179). 263

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spaziergang sowie die Beobachtungen vom Fenster aus gemeint sind (die spätestens, wenn der Ich-Erzähler das Opernglas zur Hand nimmt, nicht mehr „unwillkürlich" sind), sondern auch seine Beobachtungen des Verhaltens der ihn umgebenden Menschen, deren Beweggründe er zu erkennen vermag. Einen deutlichen Hinweis auf diesen psychologisch geschulten Blick gibt auch die Beschreibung der Hofrätin auf dem Photo bei Sandek, die Erwähnung, daß aus ihren Augen eine „ungemeine Willenskraft" (17,10) spreche. Als Intellektueller mit humanistischer Bildung kann der Ich-Erzähler in Sandek Parallelen zum antiken Gott „Hymen" erkennen, er kennt das Aussehen des Sokrates, an den ihn das „Antlitz" des Schriftstellers „mahnte" (17,3), und er kann am Gebiß der Hofrätin, die, wie ihm bei früheren Begegnungen aufgefallen war, „prachtvolle Zähne" (17,13) besitzt, aggressive Züge entdecken. Dank seiner literarischen Kenntnis kann der Ich-Erzähler Motive und Verwicklungen wiedererkennen, die von der Literatur oft schon aufgegriffen wurden. Dazu gehört sowohl die Bezeichnung der Hofrätin als „Lady Macbeth" (30,7; s. IV.2.a.), als auch der Vergleich Sandeks mit Robert Lovelace, dem Protagonisten von Samuel Richardsons Roman Clarissa Harlowe (vgl. Anm. 210; s.o. IV. La.). Innerhalb der menschlichen Verstrickungen, in denen der Ich-Erzähler einen ,roten Faden' erkennen kann, tritt er als Freund und Ratgeber gegenüber Sandek auf. Als dieser seine Ratschläge in den Wind schlägt, erkennt der Ich-Erzähler bereits sein drohendes Schicksal („Es wird sich nicht gut gestalten", 26,12). Auch die Raumaufteilung267 erfolgt aus der Sicht des Ich-Erzählers, dessen Perspektive maßgeblich bleibt. Seine ,Kameraführung' gestaltet die Einteilung in drei verschiedene Sphären: Gesellschaftliche Anlässe, Privatwohnungen, das Freie. Die Rahmenhandlung, der Anfang des 4. Kapitels (die Kurgesellschaft) sowie das Geschehen des 5. Kapitels zeigen gesellschaftliche Kreise. Dabei markieren die Abendgesellschaften der Rahmenhandlung sowie des 5. Kapitels und die abendliche Jause im Kurhaus Gegenpole. Während in Wien Champagner gereicht wird und man in einer „auffallenden Besuchstoilette" (31,32) erscheint, sitzen die „nicht 267

R a u m wird hier anders als bei Runggaldier nicht als „Organisationsprinzip [...] eines bestimmten Weltbildes" (S.68) verstanden, vielmehr als Gestaltung des Handlungsschauplatzes, der auf seine sinnbildliche und psychologische Bedeutung hin untersucht wird.

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sonderlich anziehend" (29,2f.) wirkenden Kurgäste bei „Milch und Schrotbrot" (29,2) beisammen in „düster beleuchteten Räumlichkeiten" (28,33f.). Die Verlegung der Rahmenhandlung in eine Abendgesellschaft steht in der literarischen Erzähltradition268. Der Grund für die derartige Eröffnung der Handlung liegt jedoch tiefer, denn Saars Werk ist geprägt von der Skepsis gegenüber dem Gesellschaftsleben269. Der Reigen der Reichen und Schönen bietet aber Saars Erzählern die Möglichkeit, hinter Kulissen und Maskeraden zu blicken. Dort erkennen sie verborgene Zusammenhänge und menschliche Schicksale. So zieht es der Ich-Erzähler beim Diner in der Rahmenhandlung vor, über „allerlei Vergangenes" (13,11) und die „Verkettungen des Lebens" (31,13) nachzudenken, statt sich mit seinen Tischdamen über Kunst ,zu unterhalten'. Den »wirklichen' Künstler, den Literaten, beschäftigt vielmehr Sandeks Tochter und der Hintergrund ihrer Entstehung. Auf diese Weise - durch die Lenkung der Aufmerksamkeit des IchErzählers auf die Vergangenheit270 der jungen Dame gegenüber - kristallisiert sich die Binnenerzählung aus der Rahmenhandlung heraus, löst sich das Einzelschicksal aus dem „Meer der Langeweile"271. Die Schilderung des Loses des Einzelnen wird durch das Diner als Rahmen umschlossen; damit vollzieht sich das individuelle Schicksal sozusagen ,innerhalb' des gesellschaftlichen Ganzen; als B e s o n d e r e s wird es exemplarisch für das A l l g e m e i n e und erhält auf diese Weise symbo268

So verhält es sich etwa auch bei Tausend und eine Nacht, Historia septem sapientium, Boccaccios Decamerone sowie Navarras Heptameron, um nur einige Beispiele zu nennen. 269 So in Dissonanzen, Ninon, Sündenfall etc. 270 Die Bedeutung der Vergangenheit wird in der Sekundärliteratur immer wieder herausgestellt. So sieht Stockert u.a. in der Identifikation des Gesichtes von Sandeks Tochter mit dem Sandeks durch den Ich-Erzähler - und der daran anknüpfenden Erinnerung an die zurückliegenden Ereignisse und Sandeks Schicksal - das Motiv der Nostalgie in Saars Erzählkunst ausgedrückt (Stockert: Nostalgie, S. 135). Mit Bezug auf das Fragment Der Hauptmann Karl von B. weist Charue auf den für Saar typischen Anfang einer Erzählung und die Parallele zur Geigerin hin (Charue: Determinismus, S.262), wo es zu Beginn heißt: „Ich bin ein Freund der Vergangenheit. [...] So fühl' ich mich stets zu Leuten hingezogen, deren eigentliches Leben und Wirken in frühere Tage fällt, und die sich nicht mehr in neue Verhältnisse zu schicken wissen." (KTD 2, S.9). 271 So wird eine prunkvolle Abendgesellschaft in Saars Erzählung Sündenfall bezeichnet (SW 10,241). An anderer Stelle heißt es ebd.: „Zwischen den besternten und unbesternten Fräcken, den bekannten entblößten Schultern und mehr oder minder vorquellenden Busen ist es ja wirklich nicht auszuhalten. Und doch geht man immer wieder in Gesellschaft. [...] So geht es dann mit Grazie fort, bis endlich der Sensenmann sein Veto einlegt."

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lische Funktion272. Dasselbe gilt für das 5. Kapitel, dessen Beginn die gesellschaftliche Funktion der Jours" erläutert, während deren das kurze Gespräch über das b e s o n d e r e S c h i c k s a l von Sandeks Tochter stattfindet. Da die Vergangenheit der jungen blonden Dame mit der Bekanntschaft des Ich-Erzählers und Sandek zusammenhängt, beginnt die Beschreibung ihres Einzelschicksals mit der Einführung von Sandeks Person. Diese findet in der Wohnung des Ich-Erzählers - einem privaten Ort - statt, wo Sandek seine Visitenkarte abgibt. Die „Fernsicht" aus seiner „hochgelegenen Wohnung" (15,19) auf die „ragenden Türme und Kuppeln der Stadt" (15,21) und den Garten der Hofratsfamilie symbolisiert den geistigen ,Überblick' des Ich-Erzählers und steht in polarem Gegensatz zur Wohnung Sandeks, dessen Horizont bis zur „trostlosen Reihe von Fenstern und Dächern" (15,25f.) gegenüber reicht. Keinen Blick nach draußen gewährt die Wohnung Weraharts, der auch geistig über wenig Weitblick verfugt und Sandeks psychische Krise nicht erfassen kann. Statt dessen schwärmt der „Oberst in Pension" (27,14f.) nur von ,seiner' Zeit, wo alles „ganz anders" (27,36) war. Sein Zuhause ist in diesem Sinne bildlich „durch herabgelassene Jalousien gegen das Eindringen der Sonnenstrahlen geschützt" (27,18f). Die Interieurs der Wohnungen von Sandek und dem Ich-Erzähler stützen diese Beobachtungen: Während der Ich-Erzähler im „neuen Berufe" (15,16) in seiner Wohnung mit „ziemlich kahlen Wänden" (15,14) auskommt, bestätigt Sandeks „Garconinterieur" (16,22) - so kann man mit dem französischen Literaturwissenschaftler Bachelard argumentieren - sein Verbleiben „im Lande der unbeweglichen Kindheit"273. Dort steht auch ein „zierlicher Schreibtisch" (16,23f.), auf dem „allerlei Nippes" (16,24) liegt, welcher nach Bachelard zu den „Fossilien" gehört, an denen sich das Unbewußte aufhalte274. Über diesen Reliquien

272

Vgl. Kurz, S.69: Kurz faßt die Bedingungen für Goethes Symbolbegriff (s. Goethe: Werke 12, S.470 [Nr.749], s. Anm. 58) mit A n s c h a u l i c h k e i t und r e p r ä s e n t a t i v e r B e d e u t u n g zusammen. Das Schicksal von Sandeks Tochter, das mit dem Sandeks verbunden ist, wird in der Erzählung ans c h a u l i c h dargestellt und r e p r ä s e n t i e r t ein Merkmal der Gesellschaft durch „Stellvertretung" und „Vergegenwärtigung"; es vertritt also als „Besonderes" ein „Allgemeines". Die Schicksale sind somit ^ s u m m a r i s c h e ' Darstellungen des Allgemeinen". 273 Bachelard, S.39. 274 Ebd. S.41.

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der Kindheit scheint die „Kabinettphotographie" der Hofrätin (16,25) geradezu als mächtige Mutterfigur zu wachen275. Im Wiener Stadtbezirk Mariahilf liegt Sandeks Zuhause „in der Nähe der Stiftskaserne" (16,16), der Schule der männlichen sozialen Reifung, in deren Prüfungen er versagt. Spiegel an den Wänden verraten den Narziß; eine Ottomane weist - als wichtiges Requisit aus SacherMasochs Venus im Pelz™ - auf Parallelen zur Masoch'schen Leidenschaft. In diesem Raum infantiler Beschränktheit und sexueller Hörigkeit gewinnt der Wahnsinn Gewalt über Sandek. Oberst Wernhart, Sandeks Vermieter, pflegt sein eigenes „behaglich eingerichtetes Gemach" (27,18) als Refugium der Vergangenheit. Er hatte es einst mit seiner Familie bewohnt und konnte sich nach dem Tod seiner Frau nicht davon trennen. Daher vermietet er „seit Jahren die Hälfte an Offiziere der Kriegsschule" (27,23f.). Das Wohnzimmer ist nur durch ein „schmales Vorzimmer" (27,17) zu erreichen, das symbolisch die Verengung seines Blickwinkels veranschaulicht. Als dritte Raumsphäre tritt den Räumen, in denen Gesellschaften stattfinden und den Privatwohnungen das Freie gegenüber. Dazu gehört der Garten bei der Sommerwohnung der Hofratsfamilie. Hier sieht der Ich-Erzähler die Hofrätin mit ihrem Sohn auf und ab gehen und beobachtet den Hofrat, „wie er nachmittags unter einer Linde saß und die Zeitung las" (18,9). Die Linde, als einzige erwähnte Pflanze des Gartens, trägt mit ihren „herzförmigen, am Rande gesägten Blättern"277 die Bedeutung eines Liebessymbols, das schon die mittelalterliche Literatur erwähnt278. Es 275

Vgl. ebd. S.38. Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz. [1869]. Frankfurt a. M. 1980 [zitiert Sacher-Masoch], S. 14: Bei Severin hängt ein großes Ölgemälde, auf welchem „ein schönes Weib [...] nackt in einem dunklen Pelz auf einer Ottomane [ruht]; ihre rechte Hand spielte mit einer Peitsche, während ihr bloßer Fuß sich nachlässig auf den Mann stützte, der vor ihr lag wie ein Sklave, wie ein Hund". Wanda empfangt auf einer Ottomane liegend ihren „Sklaven", welcher bekennt: „Ich sank von der Ottomane herab zu ihren Füßen, mein Auge hing noch zweifelnd an dem ihren. ,Du kannst es nicht glauben', sprach sie [...] ,ich langweile mich, und Du bist eben gut genug, mir ein paar Stunden die Zeit zu vertreiben [...]'" (S.98). 277 Bächtold-Stäubli, Bd.5, Sp.1306. 278 So etwa bei Walther von der Vogelweide: Unter der Linde (Walther von der Vogelweide. [Lieder]. Herausgegeben v. Franz Pfeiffer. In: Deutsche Classiker des Mittelalters. Bd. l, 6. Aufl., Leipzig 1880. S.23f): „Under der linden / an der beide / da unser zweier bette was, / da muget ir vinden / schöne beide / gebrochen bluomen unde gras. / vor dem walde in einem tal, / tandaradei! / schone sanc diu nachtegal." Als Hort kontemplativer Zuflucht erscheint die Linde in Wilhelm Müllers Gedicht Der Lindenbaum, das durch seine Vertonung von Franz Schubert (im Liederzyklus Winterreise, 1827) große Popularität gewann. 276

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unterstreicht die Funktion des Gartens als Ort, an dem sich wichtige Episoden aus dem Liebesleben der Hofrätin zutragen. Der Hofrat, auf den seine Frau „niemals Rücksicht zu nehmen" pflegt (21,181), liest jedoch unter der Linde die Zeitung. Auf diese Weise wirkt er von dem Geschehen um seine Frau - zumindest äußerlich - ebenso unberührt, wie er über die häufigen Besuche Sandeks gelassen hinwegzusehen scheint279. Solange sich in dem Garten das - äußerlich betrachtet - harmonische Familienleben der Hofratsfamilie abspielt, bleibt er eine „Region des Friedens und der Unschuld"280, eine Art ,Paradies', ähnlich dem Garten in Saars Erzählung Marianne2*1. Sandeks Erscheinen bei Abendgesellschaften lassen den Garten jedoch zu einem „Ort der Versuchung"282 werden. Zum Schauplatz des „Schuld- und Ehebruchproblems"283 wird der Garten aber durch das Streitgespräch zwischen Hofrätin und Schriftsteller, bei dem die Hofrätin sich anschickt, dem Schriftsteller „heftige Vorwürfe zu machen, die ebenso heftig erwidert wurden" (18,211). Offenbar ist es hierbei zu dem entscheidenden Zerwürfnis gekommen, das den Anlaß für den Ehebruch der Hofrätin mit Sandek gibt. Den Gegenentwurf zum Garten bildet die Alpenlandschaft um den Kurort „auf halber Alpenhöhe" (28,271). Saar gibt - ähnlich wie auch in Seligmann Hirsch294 - zu dem Ort einige detaillierte Hinweise, etwa daß sich die Kurstätte eines „weitverbreiteten Rufes erfreute" (28,28) und von einem berühmten Arzt, einem „der ersten, die das Naturheilverfahren in Schwung gebracht" haben (28,29), geleitet werde. Auffällig ist auch die Hervorhebung der „ungewohnten" (28,32) Beleuchtung „mit Petroleumlampen - elektrisches Licht gab es damals noch nicht" (28,33) 279

Daß der Hofrat die Affaren seiner Frau aber nicht mit völliger Gleichgültigkeit erträgt und das Verhältnis seiner Frau mit Sandek in gewisser Hinsicht selbst einfädelt, wurde oben schon erwähnt (IV. 1.a.). Inwiefern er selbst Schaden an den unglücklichen Verwicklungen nimmt, läßt die Erzählung offen. Zum Zeitpunkt, an dem das Diner der Rahmenhandlung stattfindet, ist er jedoch verstorben. In diesem Zusammenhang ist der Aberglauben erwähnenswert, man sei „unter einer Linde [...] vor Blitzschlag sicher", während Berechnungen schon um 1912 ergaben, daß nach „statistischen Feststellungen [...] jedoch gerade unter L.n häufig Menschen vom Blitz erschlagen" werden. (Bächtold-Stäubli, Bd.5, Sp.1307.). 280 Kopp, S.241. 281 Ebd. S.240ff. 282 Ebd. S.241. 283 Ebd. 284 Vgl. Haberland, S.212f.: In diesem Fall konnte nachgewiesen werden, daß es sich bei dem beschriebenen Kurort um Frohnleiten handelt.

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und die genaue Beschreibung der „Rundsicht" (29,38) auf die „Anstalt mit den umliegenden, gleichfalls von Kurgästen bewohnten kleinen Villen" (29,36f). Diese Hinweise ermöglichen eine genaue Lokalisierung des historischen Ortes in der Steiermark anhand der Literatur um die Jahrhundertwende. So beschreibt etwa Josef Andreas Janischs Topographisch-statistisches Lexikon von Steiermark aus dem Jahre 1885 - also nur wenige Jahre nach dem für das 4. Kapitel errechneten Zeitraum (s. IV. 1.a.) den Ort St. Radegund als „einen ausgeweiteten Ruf genießende Kaltwasser-Heilanstalt"285, „auf einer kleinen Hochebene, einem Ausläufer am südlichen Abhang des Hochschickeis" gelegen. St. Radegund wird „mit dem neuen Cursalon, den neugebauten Villen" als beliebte Kurstätte beschrieben, die 1841 „der Wundarzt August Demelius" eingerichtet habe und die von 1854 an von Adalbert Spornes geleitet worden sei. 1864 habe Dr. Novy die Leitung der Heilanstalt übernommen „und hob sie in wenigen Jahren auf den gegenwärtigen blühenden Standpunkt", heißt es weiter286. Über St. Radegund wird an anderer Stelle berichtet, daß die Kuranstalt kein elektrisches Licht besitze. So hebt ein Reiseführer noch 1914 hervor, „die weitberühmte Wasserheilanstalt, wodurch St. Radegund zu einem Kurort ersten Ranges" geworden sei, verfüge nur über „Azetylbeleuchtung"287. Auch hier heißt es: „Die Kaltwasserheilanstalt wurde [...] nach dem Muster von Prießnitz [...] von den Deutschen Gustav Novy und Gustav Ruprich ( 1912) stets den modernsten Entwicklungen angepaßt"288. Saar kürte selbst in St. Radegund im Herbst 1874289. Der Biograph Bettelheim vermutet sogar eine historische Begegnung Saars mit einem aufdringlichen Literaten in St. Radegund, wie das Zusammentreffen des Ich-Erzählers mit dem Trivialschriftsteller. Er schreibt, Saars Umgang habe sich selbstverständlich nicht auf Literaten beschränkt, „wenn er ihnen auch, selbst in der Wasserheilanstalt Radegund (wie der Dichterling in der Novelle ,Hymen' bezeugt) niemals völlig zu entfliehen vermochte" (SW 1,107). An diesem dem Fegefeuer gleichen Ort der Erholung, der - entrückt den schillernden Gesellschaften der Metropole - etwas „Unheimliches, Niederdrückendes" (28,34-30,1) hat, fällt jede Maskerade der Figuren; 285

Janisch, S.593. Ebd. 287 Gawalowski, S.309ff. 288 Ebd. 289 Vgl. SW 1,107. 286

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„tiefhängende graue Nebelschleier" (28,31) gewähren zwar zunächst keinen räumlichen Überblick, doch um so entblößter zeigen sich die „Gestalten" (29,39) und offenbaren ihre ,wahren Gesichter'. In Wien hatte der Ich-Erzähler die Personen mit einem Opernglas , außen4 beobachtet; in der Kur treten manche ihrer inneren Eigenschaften zutage. So entpuppen sich Hofrätin und Tochter mit ihren nach morgendlicher Sitte offenen Haaren als „Lady Macbeth" (30,7) und „Elfchen aus dem Sommernachtstraum" (30,6), was viel über ihre unterschiedlichen Charaktereigenschaften preisgibt (s. IV.2.a. u. IV.3.b) und durch den Kontrast die Ablehnung der Hofrätin gegenüber ihrer Tochter, die im 5. Kapitel durch die Gastgeberin erwähnt wird, vorwegnimmt. Das Zusammentreffen ist in ein „felsiges Waldgebiet" (29,38) verlegt, in eine Umgebung also, die sinnbildlich als ,Traumwelt' gedeutet werden kann, als eine zivilisationsferne Landschaft, in der das Unbewußte ans Tageslicht kommt. Der oben schon zitierte Literaturwissenschaftler Bachelard sieht gerade im Wald eine Art „ U n e r m e ß l i c h k e i t " , in der das Individuum sozusagen „wachse", d.h. sich selbst bestimme und selbst schaffe290. In diesem Sinne paßt die Beschreibung von Hofrätin und Tochter als Lady Macbeth und Elfe aus Shakespeares Sommernachtstraum als tiefenpsychologische Deutungen ihrer Charaktere zu der Verlegung der Begegnung in die .Traumwelt' eines Waldgebietes291, von dem aus man keine „Rundsicht" (29,38) mehr auf die zivilisatorischen Einrichtungen des Ortes und der Kuranlagen hat. Ähnliche Beobachtungen macht der Ich-Erzähler auch auf dem Glacis, wo er der Hofrätin und dem Schriftsteller bei morgendlichen Spaziergängen begegnet. Auf diese Begegnungen auf der Bastion am Rand des alten Wiener Stadtkerns geht sein Vergleich des Schriftstellers mit Sokrates und die Beschreibung der Hofrätin als willensstarke Natur zurück (17,4ff.). Den einzelnen genannten Raumsphären - den gesellschaftlichen Anlässen, den Privatwohnungen und dem Freien - kommen unterschiedliche inhaltliche Bedeutungen zu. Denn in jeder Sphäre macht der Ich-

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Bachelard, S.214f. Ebd. S.214: „Wir träumen in einer unermeßlichen Welt. Die Unermeßlichkeit ist die Bewegung des unbeweglichen Menschen. Die Unermeßlichkeit ist einer der dynamischen Wesenszüge der ruhigen Träumerei."

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Erzähler andersartige Beobachtungen aus wechselnden Blickwinkeln heraus. So wirken die gesellschaftlichen Anlässe wie ,Einstiegsluken', bei denen dem Ich-Erzähler Einzelheiten auffallen und ihn anregen, „über allerlei Vergangenes nachzudenken" (13,11). Gleichzeitig wirft das Nachdenken hier Fragen auf („Was wohl mit der Mutter geschehen sein mochte?" [31,13]; „Wer weiß, wie das alles zusammenhängt [...]" [33,16]), die den erzählerischen Rückbezug auf frühere Gespräche und Beobachtungen auslösen. Bei den Gesprächen wie etwa der Unterredung des Ich-Erzählers mit Sandek oder den Mitteilungen der Tochter an die Gastgeberin im 5. Kapitel, welche diese an die übrigen Gäste weitergibt, geht es unmittelbar um das Schicksal der Figuren. Sie finden sämtlich im Inneren von Gebäuden, in Privatwohnungen statt. Hier werden vielfach die Weichen für die Einzelschicksale gestellt. Auch jene die Handlung initiierende Bekanntschaft zwischen Sandek und der Hofrätin hat an einem privaten Ort, im Hause der Hofratsfamilie begonnen. Hier spricht der Hofrat „bei dem üblichen kleinen Souper" (21,28) die Rückkehr des Schriftstellers aus Nizza an und provoziert damit den Ehebruch seiner Frau mit Sandek. Ebenso erteilt der Ich-Erzähler in seiner Privatwohnung Sandek Ratschläge, wie er sich aus seiner Lage befreien könne. In der Wohnung Oberst Wernharts erfährt er von Sandeks Wahnsinn und bittet dort um „ein paar Zeilen" über den „weiteren Verlauf (28,11) von dessen Schicksal. Selbst die Beobachtungen des Ich-Erzählers bei der Unterredung mit Sandek im 2. Kapitel beziehen sich direkt auf den Verlauf des Schicksals, den sie düster vorausahnen, wie etwa die Beobachtung von Sandeks Stottern und gebrochenem Gang, deren psychologische Bedeutung unten näher untersucht wird (s. IV.3.a.). Im Freien hingegen - wo keine Dialoge stattfinden - macht der IchErzähler Beobachtungen aus der Ferne oder im Vorbeigehen, die in einem losen Zusammenhang mit dem Geschehen stehen und allmählich erst zueinander in Bezug treten und sich zu einem Bild verdichten. Dazu gehört die Begegnung mit der Hofrätin und dem Schriftsteller zu früherer Zeit bei ihren Spaziergängen auf dem Glacis, die Beobachtung der Auseinandersetzungen im Garten der Hofratsfamilie, deren Verlauf nur durch die Gestik der Betroffenen auszumachen ist, sowie die Beobachtung des Verhältnisses zwischen der Hofrätin und ihrer Tochter im Wald während der Kur, wenngleich der Trivialschriftsteller diese Begegnung kommentiert. Eine Variante zu den gesellschaftlichen Anlässen als /Einstiege' in das dichterische Erzählen bildet das 5. Kapitel, das als Schlußstück der 187

Erzählung die Bewegung abrundet. Nur jenen Figuren (wie der Schauspielerin), welche die Zusammenhänge nicht kennen, drängen sich noch Fragen auf („Wer weiß, wie das alles zusammenhängt [...].", 33,16). Entsprechend bleibt für die Schauspielerin, die weiterhin in ihrer „Kulissenwelt" (32,16) lebt, und auch für die Gastgeberin, die von der gescheiterten Ehe der Tochter berichtet, der Hintergrund ihrer Entscheidung „eben ein Rätsel" (33,18), während „neue Besuche" (33,27) das Gesellschaftskarussell weiterdrehen.

2. Das Hymen als Signum der Jungfräulichkeit a. Die dominante Verführerin Die Figur des mythologischen Hochzeitsgottes birgt mehrere Schattierungen. Es handelt sich beim „Gott der Eheschließung und der Ehe"292 nicht nur um den Jüngling, der die Braut zum Altar führt293. Denn mit der Figur des Gottes als „jung oder am [eigenen] Hochzeitstag Gestorbene[n]"294 kommt die Bedeutung des Hymen im physiologischen Sinne hinzu295. Sofern hier die Verbindung zur Jungfernhaut hergestellt werden kann, versinnbildlicht der Tod der mythologischen Gottheit am Hochzeitstag die Zerstörung des Hymen beim Vollzug der Ehe. Während die Literatur vom Gott der Eheschließung immer wieder zu berichten weiß296, ist diese zweifache Bedeutung als Gott und Signum der Unschuld in Hymen einzig.

292

Pauly-Wissowa, Bd.XVII, Sp.126. Hymen wurde v.a. in den berühmten Liedern des Catull angerufen (s. Catull, Nr.61, 62, S.59ff.); (s. Anm. 200; vgl. IV. 1.a.). 294 Pauly-Wissowa, Bd. XVII, Sp.129; Meyers, Bd.9, S.704: „Er starb am Tage seiner Hochzeit." 295 Duden: Fremdwörterbuch. Hg. und bearbeitet von Günther Drosdowski. Mannheim, Wien, Zürich 1975, S. 184: „ H y m e n [aus gleichbed. g r . - l at. hymen, eigentl. ,Häutchen']: das (auch d e r ) ; -s, -: dünne Schleimhautfalte [...] (Jungfernäutschen; Med.). 296 So etwa in: Goethe: Werke 1: Metamorphose der Pflanzen. S.200; Die Braut von Korinth. S.270; Bd.5: Die Natürliche Tochter. S.275; Bd. 12: Phaethon. S.318 (s. Anm. 58). William Shakespeare: Ein Sommernachtstraum. Übersetzt v. August Wilhelm Schlegel, herausgegeben v. Dietrich Klose. Stuttgart 1990 [zitiert Shakespeare: Sommernachtstraum], S. 17; ders.: The Tempest, S.94 (In: Frank 293

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In bezug auf Sandek, der oben mit der antiken Figur in Verbindung gebracht wurde (s. IV. 1.a.), geht aus der doppelten Bedeutung von „Hymen", daß sein Tod infolge des unglücklichen Verhältnisses mit der Hofrätin auch mit dem Verlust einer Art Jungfernschaft zusammenhängen muß. Doch sind hier die Vorzeichen zum klassischen Ehevollzug insofern umgedreht, als der Mann (in Person des ledigen Sandek) durch die Frau (in Person der verheirateten Hofrätin) seine ,Unschuld' verliert. Die Schuld-, bzw. Unschuldthematik hat an dieser Stelle durchaus Berechtigung, da es sich zum einen beim Zusammentreffen von Sandek und der Hofrätin um ein außereheliches, d.h. gesellschaftlich illegitimes Verhältnis handelt, zum anderen der Begriff der „Unschuld" Aspekte des Erwachsenwerdens aufgreift. Hierbei geht es um keine moralische Bewertung - wie auch der Ich-Erzähler unterstreicht, es falle ihm nicht ein, „Moral predigen zu wollen" (25,35) -, sondern um die Fähigkeit, ,schuldig' werden zu können durch den Eintritt in das reife Geschlechtsleben, oder umgekehrt ausgedrückt: um die Verantwortung, die für den Knaben aus dem Eintritt in das Mannesalter erwächst. Sandek verliert durch die Verbindung mit der Hofrätin eine Art jugendlicher Unschuld im Sinne kindesgleicher Sonderstellung. Denn aus der Verbindung „par depii" (19,26) erwächst für ihn die Notwendigkeit, sich als Mann mit jenem abtrünnigen Liebhaber zu messen, den die Hofrätin wirklich liebt. Er kann also nicht länger - wie bei früheren Verhältnissen, etwa mit der leichtlebigen Generalsgattin - eine Stellung als geduldeter Liebhaber außer Konkurrenz bekleiden; die Konfrontation mit einem noch dazu „geistig sehr hoch" (24,7) stehenden Konkurrenten um die gleiche Frau zwingt zu einer Art „Wettkampf' (24,3f.), den Sandek erschrocken ablehnt. Mit dem Prinzip ,Flucht vor Verantwortung' durch die ausschließliche Hinwendung zu verheirateten Damen - die ja als echte Partnerinnen nicht in Frage kommen - und der Ablehnung junger, ungebundener Mädchen, die ernste Absichten hegen könnten, ist Sandek bei der Liebschaft mit der Hofrätin gescheitert. Seine Tragödie liegt in dem unlösbaren Widerspruch, jene Verantwortung für die Folgen einer Liaison übernehmen zu müssen, die er mit dem Schwärm für bereits gebundene Frauen vermeiden wollte. Der unlösbare Konflikt führt unausweichlich in den Wahn mit tödlichem Ausgang. Diesem Aspekt wird auch in tiefenpsychologischer Hinsicht noch nachzugehen sein (s.u. IV.3.a.).

Kennode: The Arden Edition of the Works of William Shakespeare. London 1958, Bd. 12), wo der Hochzeitsgott von Catull (Nr. 61, s. Anm. 200) abgeleitet wird.

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Die Zeugung der Tochter unterstreicht in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Schuld im Sinne mangelnder Verantwortung für die Folgen eitler Tändelei. Die Vaterschaft beendet sinnbildlich die jugendliche Unschuld dieses als „gewissenlosen Lovelace" (14,25) apostrophierten Hauptmannes. Die Initiative zur schicksalhaften Liebesnacht geht jedoch nicht auf Sandek allein zurück, der ,ja den vollständigen Bruch gewünscht" (24,28f.) hatte und auch den „Brief [...] voll inniger Beteuerungen" der Hofrätin (24,30f.) nicht beantwortete. Vielmehr erscheint die Geliebte selbst eines abends unerwartet an seiner Tür, als dann „geschah, was früher nicht geschehen war" (25,2f.). Damit wird die Hofrätin zur Verführerin. Einen weiteren Hinweis in diese Richtung birgt der Vergleich, den der Ich-Erzähler zwischen der Hofrätin und „Lady Macbeth" (30,7) anstellt. Denn ähnlich wie Lady Macbeth, die ihren Mann wegen seiner Skrupel vor dem Königsmord der Unmännlichkeit zeiht297, zielt auch die Hofrätin auf Sandeks Männlichkeit, als sie ihn zur Liebesnacht aufsucht. Allerdings erscheint hier die Versuchung - in Umkehrung des Macbeth-Motivs - nicht als Verführung zum Mord, sondern zum Zeugungsakt. Die Hofrätin scheint während der gesamten Affäre die treibende Kraft zu bleiben298, und manche Kritiker und Interpreten sehen in ihr die Hauptfigur der Erzählung299. Dabei wird vor allem auf ihre Verwicklung zwischen drei Männern hingewiesen und der Titel, der sich doch offenbar auf Sandek bezieht (s. IV. 1.a.), weniger in Betracht gezogen. Mit Verweis auf Saars „tiefe Kenntnis des weiblichen Herzens, der weib297

William Shakespeare: Macbeth. Übersetzt v. Dorothea Tieck, herausgegeben v. Dietrich Klose. Stuttgart 1990 [zitiert: Shakespeare: Macbeth], S. 18: Lady Macbeth verhöhnt Macbeths Zaudern vor dem Mord an Duncan mit den Worten: „War die Hoffnung trunken, worin du dich hülltest? / Schlief sie seitdem, und ist sie nun erwacht, / So bleich und krank das anzuschauen, was sie / So fröhlich tat? - Von jetzt ab denk ich / Von deiner Liebe so. Bist du zu feige, / Derselbe Mann zu sein in Tat und Mut, / Der du in Wünschen bist? / [...] / Als du es wagtest, da warst du ein Mann; / Und mehr sein, als du warst, das machte dich / Nur um so mehr zum Mann." 298 Vgl. IV.La.: Hier wurde angesprochen, daß schon die Umstände der Eroberung erkennen lassen, daß die Hofrätin den jungen Hauptmann in ihren Bann zieht und sich mehr aus Berechnung, denn aus Überzeugung und infolge seiner Hofierungsversuche auf ihn einläßt. 299 So etwa in: Die Zeit, Wien, vom 13.12.1905; in: Neues Wiener Tagblatt vom 24.12.1905; in: Tagespost, Graz, vom 15.5.1906 fs. Hadina], (vgl. III.2.c.). Nehring bestätigt allgemein für Saars Werk: „Aber es sind nicht die Männer, die die Liebesbeziehungen bestimmen, sondern die Frauen, mögen sie starke Naturen sein oder - bisweilen - auch schwache." (S. 111).

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liehen Natur" 300 ist Hymen gar als Fortsetzung des Schlußsatzes von Ninon ,„Gottes Wege sind wunderbar - noch wunderbarer jedoch die der Frauen'" (SW 10, 102) gedeutet worden301 und von „geradezu französischem Genre" die Rede gewesen302. Mit Sicherheit gehört die Hofrätin zu den Schlüsselfiguren des Geschehens, denn der ursprüngliche Konflikt geht in der Tat wesentlich auf ihr ,Spiel' mit Hofrat, Schriftsteller und Sandek zurück. Daß sie alle drei Männer überlebt, mag als Hinweis auf Saars darwinistisch geprägte Formel gelten, daß sich im Leben stets die Rücksichtslosen durchsetzen303.

Eine rücksichtslose ,femme fatale' wie die Hofrätin gibt es nicht nur im Werke Saars304. Sie hat ihre Vorbilder in der europäischen Literatur 300

Neues Wiener Tagblatf, Wien, Nr. 355 von Sonntag, dem 24.12.1905, S.66f. Hadina, a.a.O.: „,Gottes Wege sind wunderbar,' schließt Saar seine Novelle , ', ,noch wunderbarer jedoch sind die der Frauen.' Eine solche wunderbare Frau ist auch die Heldin der dritten Novelle unserer Sammlung, ,Hymen'". Sie wird als „Gegenspiel zu ,Sappho'" aufgefaßt, denn hier wirke die Protagonistin „beim ersten Anblicke abstoßend; pflegt man den Umgang mit ihr", werde sie „verführerisch und gefährlich". 302 Hammer, a.a.O.: „Diese Erzählung [...] ist von pikantem Reiz, geradezu französischem Genre. Der Feder eines Guy de Maupassant hätte sie nicht besser gelingen können." (Vgl. III.2.d.). 303 Nagler: Geburtstag (Sp.2): „Mit Darwin hat Saar das Dasein als endlosen Kampf des Stärkeren gegen den Schwächeren, als ein einziges Quälen und Gequältwerden betrachtet. War doch die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine Epoche des Kampfes um die Macht und Vorherrschaft auf allen Gebieten, und es war natürlich kein Zufall, daß sie von Darwin eingeleitet worden war." Vgl. auch: Charue: Determinismus, S.257: „Wirklich starke Helden sind eigentlich nur Corona, Pernett, Ginevra, Ninon, Maja, eine erstaunlich kleine Zahl. Dazu muß festgestellt werden, daß die ..ethische Kraft' im wahren Sinne des Wortes nur bei Pernett und Ginevra wirkt; die anderen drei Gestalten plagen dagegen weder Skrupel noch Gewissensbisse: ,starke Naturen haben in der Regel kein Gewissen' heißt es bezüglich Coronas (VIII, 39)." 304 Saars negatives Frauenbildnis - was ihn immer wieder rücksichtslose Heldinnen zeichnen ließ - mag zu einem wesentlichen Teil seiner eigenen Hingezogenheit zum anderen Geschlecht entsprungen sein, die ihn bedrängt haben mochte. Die Beobachtungen einiger seiner Zeitgenossen wirken aufschlußreich, will man die negative Darstellung der Figuren wie der Hofrätin biographisch erklären. Rossbacher zitiert hierzu: „Ein Zeitgenosse und Freund beschreibt einerseits Saar als sexuellen Aggressor mit den Zügen naiv-puerilen Habenwollens: ,Keine schöne Frau konnte er sehen, ohne sinnlich angeregt zu werden, keiner näher treten, ohne sie zu begehren. [...] Er wollte besitzen, was ihm gefiel.' [...] Demselben Berichterstatter ist aber auch Evidenz über die dunkle Seite des Don-Juanismus zu verdanken, die man zu den ,stehenden Denkkonventionen' der Zeit gewählt hat: die 301

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jener Epoche. So verweist der Ich-Erzähler - selbst ein Literat - Sandek bei der Frage, warum sich eine Frau ohne Liebe hingeben könne, auf „viele französische Romane" (19,21). Der Blick fällt etwa auf Emma Bovary, zu der einige Parallelen zutage treten. Denn auch diese Frau, die ihre Tochter ablehnt305, laviert zwischen drei Männern: Charles, Leon und Rodolphe. Dabei zeigen sich weder der weichliche Charles306, der kindesgleich zwischen Mutter und Gattin steht307, noch Leon308, mit dem sich Emma nach einer Enttäuschung Ablenkung verschafft, dieser Frau gewachsen. Nur Rodolphe, ein literarischer Vetter von Valmont (Les liaisons dangereuses) und Don Juan309, ermöglicht Emma den Ausbruch aus der Langeweile an der Seite von Charles. Hierin liegt am Mittel- und Wendepunkt des Romans Madame Bovary das Motiv zum Seitensprung - eine weitere Variante der vielen, die „so zahlreich wären wie die Brombeeren" (19,18f.). Denn Emma gibt sich nicht „par depit" (19,26), sondern aus tödlicher Langeweile als Frau Tendenz, die Triebhaftigkeit des Mannes ihrem Objekt, der Frau, anzulasten. Es sei ihm, schrieb Saar 1867 und schob damit sein Sexualproblem auf das gesamte andere Geschlecht, ,noch in keiner Hinsicht gelungen, den Dämon Weib, von dem ich besessen bin, auszutreiben'." (Rossbacher: Literatur, S.329). Trägt also Sandek Züge Saars und verkörpert eine Art Abrechnung des Autors mit sich selbst? Die Vagheit der zitierten Aussage Karl von Thalers (so Rossbacher: Literatur, S.517) und die mangelnde biographische Nachprüfbarkeit mahnen hier zur Vorsicht vor übereilten Schlüssen. Der immer wieder auftretende Typus der ,femme fatale' vom Schlage Ninons, Coronas (Vae victis!) oder der Hofrätin geben jedoch zu denken. 305 Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Moeurs de province. Hg., eingeführt und kommentiert von Beatrice Didier. (Librairie Generale Fran$aise), Paris 1983 [zitiert Flaubert], S. 149: Die Ablehnung der Tochter reicht bis zur Mißhandlung: „Eh! Laisse-moi done! fit-elle en la repoussant du coude." 306 Ebd. S.75: „II ne savait ni nager, ni faire des armes, ni tirer un pistolet." 307 Ebd. S.77: „Charles ne savait que repondre; il respectait sa mere, et il aimait infiniment sa femme; il considerait le jugement de l'une comme infaillible, et cependant il trouvait l'autre irreprochable." 308 Ebd. S.313: „II ne discutait pas ses idees, il acceptait tous ses gouts; il devenait sa maitresse plutot qu'elle n'etait la sienne." Ebenso S.311: „Elle devenait irritable, gourmande, et voluptueuse; eile se promenait avec lui dans les rues, tete haute, sans peur, disait-elle, de se compromettre. Parfois, cependant, Emma tressaillait a l'idee soudaine de rencontrer Rodolphe, car il lui semblait, bien qu'ils fussent separes pour toujours, qu'elle n'etait pas completement affranchie de sa dependance." 309 Didier, S.396: „Ce personnage du seducteur, s'il a peut-etre eu des modeles dans la reaiite, [...] surtout eu des nombreux modeles litteraires, ä commencer par Valmont des Liaisons dangereuses et surtout Don Juan. [...] Mais si Rodolphe est un avatar de Don Juan, il faut admettre qu' il en est une bien mediocre reincarnation."

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eines mittelmäßigen Landarztes - beinahe „einer bloßen Laune" (19,22) folgend - dem begüterten, routinierten Verführer Rodolphe hin. Im Unterschied zur Hofrätin, die ihre Liebhaber überlebt, setzt Madame Bovary ihrem Leben selbst ein Ende310. Beide Protagonistinnen verbinden überdies auffällige Wesenszüge: So wie der „resolute Ton" die Hofrätin in Sandeks Augen zunächst „zu wenig weiblich" (20,31) erscheinen läßt, werden auch Emma Bovary maskuline Attribute nachgesagt311. Die „Qualen" (25,14) bis zur „Marter" (24,28), welche die Hofrätin dem jungen Hauptmann bereitet, erinnern an das Bild Emmas mit der Peitsche in der Hand312 - ein Hinweis auch auf Sacher-Masochs Venus im Pelz313. Ein derartiges Symbol für den Sexus, der den Mann erniedrigt, ist auch Zolas Nana. Im Jahre 1880 - elf Jahre nach der Entstehung von Sacher-Masochs Venus im Pelz - läßt Zola seine Heldin die „blonde Venus" auf den Pariser Bühnen spielen. Neben den zahlreichen Prominenten, die ihr erliegen, entspinnt sich vor allem mit dem Comte Muffat ein sado-masochistisch geprägtes Verhältnis, das in der Erniedrigung zum Hund gipfelt314. Dabei steht der devote, gehörnte Comte315 stellver-

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Vgl. Leo N. Tolstoj: Anna Karenina. Übersetzt v. Fred Ottow. 7.Aufl., München 1990 [zitiert Tolstoj: Anna Karenina], S.915: Den Selbstmord hat Emma mit Anna Karenina gemein, die sich ebenfalls aus enttäuschter Liebe - und aus Rache - unter einen Eisenbahnwagen wirft. Deren letzte Worte zu sich selbst lauten: „Dorthin! [...] gerade in die Mitte; und ich bestrafe ihn und befreie mich von allem und von mir selbst." 311 Didier, S.22: „Peut-etre, n'est-il pas etonnant qu'un autre createur, Baudelaire, ait mieux que personne compris l'ambiguüte d'Emma, et a le premier souligne son caractere masculin. [...] la violence, le desir de dominer, intelligence sont considerees comme virils. Emma est belle, ,la taille serree dans un gilet a la fa?on d'un homme'." 312 Flaubert, S.49, S.222 (s. Anm. 305). 313 Didier, S. 22: „A deux fois (faut-il y voir des secrets fantasmes de Venus a la fourrure?) eile tend une cravache - qu'elle s'empresse, il est vrai, de remettre ä homme. [...] Flaubert n'a pas voulu lui donner cet attribut traditionel de la femme: le goüt de la maternite." 314 Emile Zola: Nana. Hg. und kommentiert von Auguste Dezalay. (Librairie Generale Francaise), Paris 1984 [zitiert Zola], S.439: „D'autres fois il etait un chien. Elle lui jettait son mouchoir parfume au bout de la piece, et il devait courir le ramasser avec les dents, en se trainant sur les mains et les genoux." Gerade die ,Hundenatur' ist kennzeichnend für das masochistische Verhältnis, wie es die Venus im Pelz selbst gegenüber Severin bekräftigt (Sacher-Masoch, S.68): „Ich kenne dich jetzt, deine Hundenatur, die anbetet, wo sie mit Füßen getreten wird und um so mehr, je mehr sie mißhandelt wird." (s. Anm. 276). 315 Zola, S.436: „Muffat avait accepte les autres. Maintenant, il mettait sä deraiere dignite ä rester ,Monsieur' pour les domestiques [...]." (s. Anm. 314).

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tretend für ,tout Paris'316 - d.h. das gesamte französische Kaiserreich das am Tag nach dem Tod dieses ,Vamps'317 sich im Schlachtruf ,Auf nach Berlin!'318 vergißt. Nana wird von den Blattern entstellt319 - die Hofrätin leidet im Alter an schwerer Krankheit320. Parallelen zur Hofrätin sind auch in Saars Werk zu finden. Besonders fällt die Verwandtschaft mit Ninon (SW 10,63ff.) auf, die ihrerseits schon ihrem Namen nach Zolas Nana verwandt - als verführerische Schauspielerin bekannt wird. Zuvor war das „Krawall-Ninerl" (SW 10,69) Malennodell und ließ sich einmal als Madonna, ein andermal als griechische Hetäre Phryne oder Lais321 abbilden. Von größerer Schönheit als die „nicht schön", „eher klein als groß" (17,7) wirkende Hofrätin, zeigt auch diese wechselhafte Madonna-Hetäre ein unberechenbares Gebaren „von rücksichtsloser Härte" (23,16f). So wie bei der Hofrätin „deutliche Anzeichen der Kälte" mit „Ausbrüchen leidenschaftlicher Hingebung" (25,15f.) wechseln, gibt sich auch Ninon ihren 316

Dezalay, S.480: „Car au-delä des hommes eux meines, c'est Paris tout entier que Nana va corrompre et desorganiser [...]. Paris qui la desire comme un gigantesque male: eile va l'attirer avec un sür instinct de carnassier pour en faire sä proie, dans le renversement des roles: ,mettant le pied sur Paris, en maitresse toute puissante.'" 317 Dezalay, S.479: Nana verschlingt geradezu die Männer: „[...] finalement eile s'identifie ä se gouffre qui se creuse sous son hotel, oü s'engloutissant: ,les hommes avec leurs biens, leurs corps, jusqiTa leurs noms'". 318 Zola, S.467(s. Anm. 314). 319 Choderlos de Laclos: Schlimme Liebschaften. Frankfurt a. M. 1972, S.482: Diese besonders zynische Strafe teilt Nana mit der Marquise de Marteuil. Diese stirbt zwar nicht an den Blattern, wohl aber trägt die Krankheit eine große symbolische Bedeutung: die ,Häßlichkeit' (und hier trifft die etymologische eigentliche Bedeutung ,HassensWürdigkeit' zu!) der Seele wird zur physischen Entstellung; Frau von Volanges schreibt in den Liaisons: „Ich hatte wohl recht, als ich meinte, es wäre vielleicht ein Glück für sie, wenn sie an den Blattern stürbe. Sie ist zwar davon genesen, aber grauenhaft entstellt; besonders hat sie dabei ein Auge verloren. [...] Die Marquise von ... sagte gestern, als von ihr die Rede war, die Krankheit habe sie umgewendet, und jetzt trage sie die Seele im Gesicht. Unglücklicherweise stimmte es, nach aller Ansicht." Der Tod Nanas durch die Pocken stellt nicht nur ihre Bestrafung dar, sondern auch den Untergang des dekadenten Kaiserreiches; er hat also über das Einzelschicksal hinausgehende Bedeutung. 320 Die Alterskrankheit und Vereinsamung der Hofrätin ist nicht nur ein symbolisches Motiv der Strafe, sondern auch die Folge der psychologischen Entwicklung dieser Figur, die zu keiner erfolgreichen Bindung findet. 321 Vgl. Pauly-Wissowa, Bde. , , Sp.531ff u. , , Sp.894ff: Es wird unterschieden zwischen einer älteren Lais, der hohe Forderungen und Rücksichtslosigkeit nachgesagt werden, und einer jüngeren Lais, welche liebenswürdig ihren Liebhabern gegenübertrat, um der berühmten zurückhaltenden Phryne, die sich als schönste Hetäre nicht schminkte, in nichts nachzustehen. 194

Liebhabern, „wenn man es am wenigsten erwartete, ganz plötzlich, wie dem Antrieb einer Laune folgend hin", versteht es aber auch, sich diesen „wie ein Aal [...] zu entwinden und die rosigen Nägel der zarten Finger zur Abwehr zu gebrauchen" (SW 10,68). Ähnlich wie die Hofrätin ihren Schmerz über die Zurückweiseung durch den Schriftsteller an Sandek rächt, läßt Ninon andere für die Abfuhr durch den schnöden Peppi büßen, besonders den „armen Rudi, der sie leidenschaftlich liebte" (SW 10,69) und sich aus Unglück erschießt. Ninon gibt nicht „so viel" um ihn und bleibt „im Innersten kalt" (SW 10,67). Besondere Rücksichtslosigkeit, kühle Berechnung zur Verwirklichung ihrer Ziele sowie plötzliche Gefühlsausbrüche kennzeichnen diese Frauen, die zwar ein Heer von Verehrern gewinnen, aber nicht glücklich werden, weil sie von den wirklich verehrten Männern abgewiesen werden oder weil nur jene ihnen begehrenswert erscheinen, die sich nicht beherrschen lassen322. Die Verkörperung dieses Frauentypus - und offensichtlich die Vorlage für Ninon - ist Wanda von Dunajew, SacherMasochs Venus im Pelz in der gleichnamigen Erzählung323, wie die deutlichen Parallelen beider Werke zeigen324.

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Reuter, S.50, bleibt dabei, diese Frauen als „dämonische Verfuhrerinnen" darzustellen; die Ambivalenz und die volle Tragweite des Machtkonfliktes, daß vornehmlich unbeherrschbare Männer ihnen begehrenswert scheinen, kommt nicht zur Geltung. Feiner, S.128f., führt an, Saar selbst habe sich Frauen wie Ninon nicht gewachsen gefühlt und habe eine „von Anbeginn wurzelnde Unsicherheit gegenüber dem anderen Geschlecht" empfunden, deren extreme Verkörperung Ninon sei. Saenze folgt den Hinweisen auf Machtverhalten und Masochismus nicht und nennt es lediglich die „kindische Sucht nach Glück", „wenn die Frau aus rein selbstsüchtiger Erwägung dem blinden Triebe ihres leidenschaftlichen Begehrens folgt" (S.89). 323 Sacher-Masoch: Venus im Pelz (s. Anm. 276). Krischker, S.83, äußert sogar die Ansicht, Saar habe nicht nur die Figur der Wanda von Sacher-Masoch übernommen, sondern alle „Grundcharaktere seiner Helden": „In allen Frauengestalten liegt entweder der Keim zu einer Wanda - in geringen Ausnahmen zu ihrem Gegenteil - und alle männlichen Helden sind im Zeichen des Severin, dem beinahen Opfer dieser ,Venus im Pelz' geboren." 324 Sacher-Masoch, S. 15: „Kaltes Fleisch und Eier zum Tee" werden gereicht, als Severin dem Erzähler seine Notizen der Tage mit Wanda zu lesen gibt; Ninon will bei „einer Tasse Tee und einigem kalten Aufschnitt" (SW 10,66) dem Erzähler ihre Geschichte anvertrauen. Schon äußerlich ähnelt Ninon der rothaarigen Wanda („wie üppig ringelt sich das rote Haar -ja, es ist rot", Sacher-Masoch, S.24), und doch hatte diese anfänglich gar nicht die Herrscherin über Severin sein wollen. Dieser aber erinnert sich, „sie hing förmlich an meinen Lippen" (S.30), als er aus den Römischen Elegien vorlas, obwohl sie - als er auf Knien um ihre Liebe bat abwehrte mit den Worten: „Aber Severin, das ist ja unanständig!" (S.32), (s. Anm. 276).

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Gefesselt von der Vorstellung der Macht, wird Wanda zur Beherrscherin des Erzählers Severin, der so zwangsläufig zu ihrem Opfer wird und schließlich ihre Liebe verliert. Gerade die Schwachen werden Opfer der Herrschsucht dieser Frauen325 - und mit der Schwäche schwindet der Respekt und mit ihm die Liebe326. Am Schluß bestätigt der Erzähler Severin seine Heilung durch die ,Kur' der Venus mit der „Moral von der Geschichte: Wer sich peitschen läßt, verdient, gepeitscht zu werden."327 Die Formulierungen Sandeks, mit denen er dem Ich-Erzähler sein Verhältnis zur Hofrätin schildert, weisen deutlich auf die Bedeutung von Qual und Unterjochung auch in dem Verhältnis mit der Hofrätin hin. Ob Saar hier nachdrücklich die Ideen Leopold v. Sacher-Masochs im Sinn hatte, kann anhand der erhaltenen Korrespondenzen seiner letzten Lebensjahre nicht rekonstruiert werden. Wie hoch er seinen Kollegen Sacher-Masoch aber schätzte, hat die Sekundärliteratur wiederholt hervorgehoben328. So verwundert es nicht, daß seine Heldinnen immer wieder deutliche Parallelen zu den Masoch'sehen Frauengestalten aufweisen. Schließlich findet man auch in Hymen - den geschilderten Umständen und der Wortwahl - deutliche Hinweise auf ein von Gewalt geprägtes Verhältnis zwischen Sandek und der Hofrätin im Sinne Sacher-Masochs. Bezeichnend hierfür ist das wechselhafte, rätselhafte Verhalten der Hofrätin, das - nach dem Zusammentreffen Sandeks mit dem Schrift325

Die Mißachtung Ninons gegenüber dem „armen Rudi" und der Hochmut der Hofrätin gegenüber dem willfährigen Sandek, als der Schriftsteller sich ihr durch die Heirat mit der Schauspielerin entziehen will, könnte nicht deutlicher ausgedrückt werden als mit den Worten Wandas (ebd. S.34): „[...] jeder Mann - ich kenne das - wird - sobald er verliebt ist - schwach, biegsam, lächerlich, wird sich in die Hand des Weibes geben, vor ihr auf den Knien liegen, während ich nur jenen dauernd lieben könnte, vor dem ich knien würde." 326 Ebd. S. 137: Entsprechend heißt es in einem nachträglichen Brief an Severin: „Jetzt [...] darf ich Ihnen noch einmal gestehen, daß ich Sie sehr geliebt habe, Sie selbst aber haben mein Gefühl erstickt durch Ihre phantastische Hingebung, durch Ihre phantastische Leidenschaft. Von dem Augenblicke an, wo Sie mein Sklave waren, fühlte ich, daß Sie nicht mehr mein Mann werden konnten, aber ich fand es pikant, Ihnen Ihr Ideal zu verwirklichen und Sie vielleicht - während ich mich köstlich amüsierte - zu heilen. Ich habe den starken Mann gefunden, dessen ich bedurfte [...]." 327 Sacher-Masoch, S. 138 (s. Anm. 276). 328vgi prescher, S. 140; Krischker, S.84f.; Feiner, S.92f. Saars Bewunderung von Sacher-Masoch erwähnt auch Bettelheim, der die „1868 in Wien gemachte Bekanntschaft mit dem (wohl zu sehr) geschätzten Sacher-Masoch" erwähnt: „Saar las dem von ihm höchlich bewunderten Erzähler des ,Don Juan von Kolomea' und dessen erster Frau Wanda seinen ,Hildebrand' vor" (SW 1,107).

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steller - ihm Tage „zwischen Himmel und Hölle" (23,14) bereitet, seine Sehnsucht nach einer Zeit der Trennung (die auch zur Bestrafung des Masochisten gehört) „zur Marter" (24,28) werden läßt und ihm bei den letzten Zusammenkünften „erneute Qualen" (25,14) bereitet. Sandek berichtet, „deutliche Anzeichen von Kälte wechselten bei ihr mit Ausbrüchen leidenschaftlicher Hingebung" (25,14ff.) und die Hofrätin sei manchmal „kalt wie Eis" (25,7), schlinge dann aber plötzlich ihre Arme um ihn und lasse „ihre Lippen" lange auf den seinen „ruhen" (23,12). Das „,Benehmen Majas wechselte beständig. Heute zärtlich und hingebend, war sie morgen kalt, rauh und von rücksichtsloser Härte'" (23,15ff.), klagt Sandek. Damit tritt die Hofrätin Sandek gegenüber mit jener Härte auf, die auch die Natur dem Menschen zukehre, „immer dies dreifache Gesicht des Kalten, Mütterlichen und Strengen", wie es der französische Philosoph Gilles Deleuze an dem Masoch'schen Frauenideal zeigt329. Deutlich treten diese drei Wesenszüge bei Sandeks Zusammentreffen mit dem Schriftsteller im Vorzimmer der Hofrätin zutage. Dort fragt sie mit zorniger Stimme: ,„Was? Jetzt?'" (22,15), als Sandek sich unerwartet melden läßt. Dieser Zorn korrespondiert mit der Strenge, mit der sie Sandek zurückruft: ,„Robert!'" (22,39), worauf Sandek stehenbleibt. Noch einmal ruft sie mit „sanfter Stimme" und streckt ihm „die Hand entgegen" (23,4f.). Eine der Hofrätin namens- und wesensverwandte Figur findet sich auch in der bildenden Kunst. Der Kosename „Maja" ist nicht nur in Hinsicht auf seine (von Schopenhauer aufgenommene) Bezeichnung für ,Täuschung' in der indischen Philosophie wichtig für die Deutung von Hymen (s. IV.3.c.); er weist überdies auf Goyas berühmte Porträts der 13. Herzogin von Alba mit den Titeln Bekleidete Maya und Nackte Maya. Obwohl nicht geklärt ist, ob die Herzogin selbst den beiden um 1800 entstandenen Gemälden330 Modell gestanden hat, geht doch die Kunstgeschichte zumindest davon aus, daß Goya bewußt die Ähnlichkeit herausstellte331. 329

Deleuze, S.207: Mit ihrer wechselhaften, unberechenbaren Art erfüllt die Hofrätin auch die von Gilles Deleuze analysierte „Dreifaltigkeit des masochistischen Traumbildes: Kalt-Mütterlich-Streng, Eisig-Empfmdsam-Grausam" (S.203). 330 Schickel, S.106: Die Gemälde entstanden im Auftrag des damaligen Premierministers Godoy. 331 Ebd.: „Natürlich glaubt niemand, es handle sich um Porträts der Herzogin von Alba. Aber wenn Goya sie um diese Zeit malte, ist es dann nicht möglich, daß er, die Erinnerung an die Herzogin noch frisch im Gedächtnis, ein Modell engagierte,

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Die Herzogin war bereits mit Anfang Zwanzig „wahrscheinlich die berühmteste und umstrittenste Frau Spaniens"332. Als gefeierte Schönheit fiel sie durch ihre Mißachtung gesellschaftlicher Konventionen auf333; gerne mischte sie sich unters Volk um ihrer Verachtung für ihre eigene Gesellschaftsschicht Ausdruck zu verleihen334. Soziale Wohltätigkeit und Grausamkeit gegenüber Verehrern waren für sie Wege, aus der Langeweile des Aristokratenlebens - sie war mit einem zarten, gebrechlichen Mann verheiratet, der sich nur für Musik interessierte335 auszubrechen, ähnlich wie Emma Bovary. Diese Ambivalenz spiegelte sich in ihren Begleitern, einer Negerin und einem lahmen, stotternden Mönch, welche - an sich Sozialfalle - als „exotisches Haustier" und „Zielscheibe [...] von Streichen und Possen" ihrer Unterhaltung dienten336. Zu ihrer Gesellschaft gehörte Mitte der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts auch Goya, der noch an den Folgen eines Schlaganfalls aus den frühen neunziger Jahren litt337. Während eines Winteraufenthaltes 1796-97 auf dem Landgut der Herzogin entspann sich ein Verhältnis zwischen den beiden, über dessen Grad an Intimität wenig bekannt ist. Auf den betreffenden Gemälden erscheint die Herzogin jedenfalls als gebieterische, willensstarke Natur338. Goya, der Versuchung erlegen, eine Dauerbeziehung anzustreben, mußte bald erleben, daß seine Partnerin Rivalen ins Haus brachte - und reiste erbittert zurück nach Madrid339. Er hatte - wie der lahme Mönch und die kleine Negerin - bloß dem Vergnügen der Herzogin gedient. Die Wesensverwandtschaft der Maya von Alba und der Hofrätin liegt weniger in der Neigung zum extravaganten Vergnügen als im willensstarken Despotismus. Die Herzogin ist eine weitere Variante der gebie-

das ihr ähnlich sah? Ist es nicht möglich, daß er beim Malen dieses Doubles diese Ähnlichkeit mit der Herzogin bewußt betonte? [...] Es ist mehr als nur möglich: derart verschlagen zweideutige Handlungen waren ihm nicht fremd; auch hatte Goya [...] seiner verbitterten Meinung über den Charakter der Herzogin noch weit öffentlicher als in diesem Fall Ausdruck verliehen." 332 Ebd. S. 100. 333 Sacher-Masoch, S.27: Auch Wanda als die ,Venus im Pelz' drückt ihre Verachtung gesellschaftlicher Konventionen mit den Worten aus: „Ich verzichte auf euren heuchlerischen Respekt, ich ziehe es vor, glücklich zu sein!" (s. Anm. 276). 334 Schickel S. 101. 335 Ebd. S. 100. 336 Ebd. S. 101. 337 Ebd. S.97f. 338 Ebd. S. 102. 339 Ebd. S. 104.

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terischen ,femme fatale' und »Verführerin', der - spätestens seit der Venus im Pelz - masochistisch-strafende Züge nachgesagt werden. Es ist durchaus denkbar, daß Goyas Porträts auch Saar vor Augen gestanden haben, hatte er doch eine Vorliebe für den Vergleich seiner weiblichen Figuren mit Bildnissen bedeutender Maler340.

b. Der fremdbestimmte Hamlet Der dominanten Verführerin in Gestalt der Hofrätin steht mit Sandek ein blasser, blondgelockter ,Beau' gegenüber, „von einem leichten Hauch feinen Parfüms umweht" (17,19), den der „geschmeidige Wuchs" (14,36) auszeichnet. Dieser eitle Militär341 scheint seine Uniform als ,Schmuckstück', als ,Lizenz' zu tragen, um in „höheren Kreisen" (14,31) zu verkehren342; dementsprechend stellen die Gattinnen aus der gehobenen Gesellschaft für ihn auch Karrieremittel dar. Schon in jungen Jahren hatte sich Sandek durch das Verhältnis zur Frau eines Generals „in eine vornehmere gesellschaftliche Sphäre erhoben" (14,21f.) gefühlt und „gezierte Allüren" (14,23) angenommen. Für den bald routinierten Nebenbuhler Sandek, der weder den Geist eines Generals (Vae victis!) oder den eines Leutnant Burda besitzt, noch über das nüchterne Kalkül eines „gewohnheitsmäßigen Herzensbrechers" vom Zuschnitt des Grafen Poiga (Schloß Kostenitz)343 verfügt, ist der Kriegsschauplatz auf das 340

S. Kopp, S.228 (dort auch Anm. 564): Ähnlich wie Marianne mit Gemälden von Jean-Baptiste Greuze verglichen wird, werden Ludmilla (Innozens) mit Raffael, die Gräfin (Das Haus Reichegg) mit Murillo und Rubens, Raffaela (Das Haus Reichegg) mit Cranach, Corona (Vae victis!) mit Palma dem Älteren in Verbindung gebracht. 341 Zu diesem Typus des Militärs vgl. auch Stuben, S.279. 342 Welche Ächtung den Uniformen, besonders denen der Generäle, entgegengebracht wurde, berichtet Freud auf ironische Weise (Siegmund Freud: Briefe 1873-1939. Hrsg. von Ernst Freud / Lucie Freud. 2.Aufl., Frankfurt a. M. 1968, [zitiert Freud: Briefe], S.226): „Die Bedienung [im Kaffeehaus von Olmütz] leidet aber unter dem militärischen Wesen, wie alles andere. Wenn die zwei oder drei Generale - die mich immer an Papageien erinnern, ich kann nichts dafür, aber Säugetiere pflegen sich sonst nicht in solche Farben zu kleiden, von den rotblauen Schwielen des Mandrills abgesehen - wenn die Generale irgendwo beisammensitzen, umschwärmt sie der ganze Kellnertroß, und alles andere existiert nicht für sie." 343 Vana, S. 109; Steiner bescheinigt dem Grafen Poiga „neben seiner Rücksichtslosigkeit ein kühles Draufgängertum" und bezeichnet ihn als einen „mit aller

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Schlachtfeld der Liebe verlegt. Entsprechend spielt er „in nervöser Hast mit der Quaste seines Säbels, den er nicht abgelegt hatte" (15,30f.)344, als er die Geliebte in ihrem Garten vom Fenster des Ich-Erzählers aus erblickt. In diesem Verhältnis ist die Hofrätin die dominante Figur. Schon eingangs wurde erwähnt, wie sehr die Hofrätin Sandek in ihren Bann zieht und nicht seinen Hofierungsversuchen erlegen ist (s. IV. 1.a.). Als Sandek sich von ihr trennen will, ruft sie ihn von der Tür zurück und schreibt ihm anschließend leidenschaftliche Briefe. Auch zur besagten Liebesnacht (25,2f.) sucht sie ihn überraschend zu Hause auf. Das Verhältnis bleibt maßgeblich durch ihre „ungemeine Willenskraft" (17,10) bestimmt. Wie erwähnt (s. IV. 1.a.), hat nicht nur die Hofrätin, sondern auch der Hofrat maßgeblichen Anteil an der schicksalhaften Beziehung, deren Zustandekommen er begünstigt und dessen unglücklichen Verlauf er mit der andauernden Erwähnung des Schriftstellers forciert. Denn immer wieder wird der junge Hauptmann „zu ganz kleinen Whistabenden gebeten", bis er Gefallen an der resoluten Hausherrin findet; mit „sichtlichem Behagen" (21,34) schürt der Hofrat dabei den Gram seiner Frau und Sandeks Eifersucht, den er mit „sarkastischer Befriedigung" (21,22) in seinem Hause sieht. Als ob er im drohenden Eklat zwischen den ungleichen Partnern seine Genugtuung für die Liebschaften seiner Gattin fände, gießt er Öl in das schwelende Feuer. Es wirkt, als habe er Sandek auserkoren, seine Schmach zu rächen. Dieses Motiv, das zwischen den Zeilen durchschimmert, in denen Sandek den Beginn seiner Liebe schildert, entspringt einem literarischen Vorbild, auf das der Text selbst einen Fingerzeig gibt: An zentraler Stelle, unmittelbar nach der Frage Sandeks, ob sich eine Frau ohne Liebe hingeben könne, erwähnt der Ich-Erzähler Shakespeares Hamlet345 mit dem Hinweis, Sandek habe dieses Drama eigentlich nicht verstanden. Sowenig Sandek seine eigene Lage zu analysieren und zu lösen vermag, sowenig hatte er als junger Mann verstanden, wie „Hamlet, der Begeisterung" seinem Stand angehörenden Militär, „dem er dann auch sein Leben opfert" (S.95). 344 In der Handschrift (H) hatte Saar zunächst statt „Quaste" „Griff geschrieben, was noch im ersten Druck (J) erhalten ist (s. 61,38; 2. Variante in der 2. Schicht, s. S.46; V, S.48). Das Bild des ,Dandys', der sich an seinem Säbel ,festhält', erscheint hier noch deutlicher; möglicherweise liegt somit ein ähnlicher Fall vor wie bei der Variante „Samek", wo Saar die Anspielung zu offensichtlich gewesen sein mochte (s. VI.3.a.). 345 William Shakespeare: Hamlet. Übersetzt v. August Wilhelm Schlegel, hg. v. Dietrich Klose. Stuttgart 1990 [zitiert Shakespeare: Hamlet].

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fünf Akte lang nicht wisse, was er tun soll, wirklich der Held - dieses Wort betonte er nachdrücklich - einer Tragödie sein könne" (19,9ff). Bei näherem Hinsehen treten die Parallelen auffällig zutage: Der Hofrat sieht sich - ähnlich wie der ermordete König von Dänemark durch seinen Bruder - vom Schriftsteller betrogen und ,entthront'; Sandek wird - ähnlich wie Hamlet durch den Geist seines Vaters346 vom Hofrat selbst zur Rache am Nebenbuhler und der untreuen Gattin bestimmt - durch dessen zynische Einfädelung von Sandeks Liebschaft mit seiner eigenen Frau. Der Grundkonflikt liegt also ähnlich wie in Shakespeares Drama, doch hat Saar die Verhältnisse umgekehrt: An die Stelle des Geistes vom ruchlos ermordeten rechtmäßigen König setzt er einen „heimtückischen Bureaukraten" (20,29); statt der Machtgier von Hamlets Onkel ist tatsächlich die Liebe zwischen dem Schriftsteller und der Hofrätin das Motiv für den Betrug an der Hofratsehe, die „nur formal aufrechterhalten" (21,20f.) wird; an Stelle des zaudernden, aber schließlich doch agierenden Hamlet, der mit Laertes ficht und den intriganten Onkel schließlich ersticht, verweigert der „weibisch" (17,20) gezeichnete und zunächst forsch auftretende Sandek im entscheidenden Moment jeden „Wettkampf' (24,4f.) und flieht in den Wahnsinn. Die Hofrätin wird nicht - wie Hamlets Mutter - Opfer der Intrige des Nebenbuhlers gegen den Sohn, der zur Rache des Mordes bestimmt ist, sondern rächt sich ihrerseits am harmlos ergebenen Sandek - analog zu dem Bild der kaltblütigen Medea, das zusammen mit der Erwähnung Hamlets in der Erzählung an besagter Stelle (l 9,11 f.) zitiert wird347. Ihren Unmut über den Schriftsteller läßt die Hofrätin an Sandek aus; mit dessen Verführung trachtet sie den flüchtigen Geliebten zu treffen, der sich durch die Ehe mit einer anderen aus dem unrechtmäßigen Verhältnis lösen will. Die Umkehrung der Motive348 macht deutlich, daß der Hamlet-Stoff in Hymen eine neue Ausgestaltung erfahren hat, in der nicht mehr Hamlet 346

Shakespeare: Hamlet, S.25. „Geist. Ich bin deines Vaters Geist: / [...] / Wenn du je deinen Vater liebtest - / Hamlet. O Himmel! / Geist. Räch seinen schnöden, unerhörten Mord." 347 Vgl. Euripides: Medea. Übersetzt von J.J.C. Donner. Stuttgart 1991 [zitiert: Euripides], Z.1210ff. Auch dieses Motiv hatte der jugendlich-naive Sandek ebenfalls nicht verstehen können (19,1 If.). Unten (s. IV.3.b.) wird nochmals ausführlich die Rede auf dieses mythologische Motiv kommen. 348 Polheim: Erzählkunst, S.19: Die Komplexität menschlicher Psyche und das Ausmaß zwischenmenschlicher Verwicklungen werden bei Saar auf eine besonders raffinierte Art durch ,Umkehrung' der Verhältnisse dargestellt: „Das Strukturprinzip Umkehrung durchzieht das ganze Werk." 201

die Handlung vorantreibt349, sondern die Hofrätin die ,Zügel' des Geschehens in der Hand hält. Sie bleibt die bestimmende Figur in der Erzählung und überlebt schließlich alle drei Männer, die sie gegeneinander ausgespielt hat. Im Versagen Sandeks, dem ,Spiel' der Hofrätin ein Ende zu setzen, liegt auch der Grund für den analogen Fortgang des Geschehens - die Zeugung der Tochter und die Wiederholung der Verwicklungen bis zu deren Entscheidung zugunsten der Erziehung ihres fünfjährigen Sohnes. Sandek verläßt als ein zum Handeln unfähiger Hamlet die ,Bühne' des Geschehens in Hymen, da er nicht in der Lage ist, „sich selbst zu Leibe zu gehen" (26,6f.) und sich durch ein verantwortliches Agieren aus seiner mißlichen Situation zu befreien. Diese Aufgabe übernimmt seine Tochter, was durch die auffällige Ähnlichkeit sinnbildlich zutage tritt. Dergestalt offenbart sich Hymen als eine Variante des HamletStoffes, in welcher nicht der ,Sohn' das Verbrechen von ,Onkel' und ,Mutter' sühnt, sondern die ,Mutter' in der Figur der Hofrätin als Hauptakteurin das Geschehen bestimmt. Sandeks Schicksal erscheint hingegen als F o l g e der intriganten Verwicklungen zwischen Hofrätin, Hofrat und dem Schriftsteller. Der ,fremdbestimmte Hamlet' in der Haut Sandeks ist jedoch mitverantwortlich für die Existenz der unehelichen Tochter, die jene Abneigung der Hofrätin zu spüren bekommt, welche Sandek gegolten hatte. Um dieser Abneigung zu entgehen, heiratet sie alsbald und wird selbst Mutter. Doch hier unterbricht sie jene „Verkettungen des Lebens" (31,13), über die der Ich-Erzähler beim Diner sinniert. Damit nämlich dieses Kind anders als sie selbst nicht unter dem Eindruck dauernder Nebenbuhlerschaften seiner Eltern aufwächst, kauft sie dem Baron seine „Vaterrechte" (33,2If.) ab, um sich fortan nur noch seiner Erziehung zu widmen. Wieder tritt hier eine Parallele zu Hamlet zutage, denn auch dort ist von einem unbelasteten Erben der Ränke um Macht und Einfluß die Rede: Fortinbras, der Prinz von Norwegen, kehrt am Schluß der Tragödie siegreich aus Polen zurück und wird zum Nachfolger Hamlets bestimmt350, denn er hat „alte Recht' an dieses Reich, die auszusprechen mich mein Vorteil heißt"351 - wie er selbst formuliert. Damit steht am Ende von Shakespeares Drama ein junger, strahlender Held auf der 349

Shakespeare: Hamlet, S.67: Hamlet stellt zunächst seinen Onkel durch ein Possenspiel auf die Probe, wobei er dessen Schuld erkennt: ,Jiamlet. O lieber Horatio, ich wette Tausende auf das Wort des Geistes. Merktest du? / Horatio. Sehr gut, mein Prinz. / Hamlet. Bei der Rede vom Vergiften? / Horatio. Ich habe ihn genau betrachtet." (s. Anm. 345). 350 Vgl. ebd. S.122f. 351 Ebd. S.123. 202

leichenübersäten Bühne - so wie am Ende von Hymen der weithin noch nicht charakterisierte Enkelsohn Sandeks als Vertreter einer neuen, noch unbelasteten Generation für eine möglicherweise andere Zukunft steht. Freilich tritt jener Enkel nicht unmittelbar in Sandeks Fußstapfen wie Fortinbras, der sofort nach Hamlets Tod denselben beerbt352. Erst muß die Tochter aus der dazwischenliegenden Generation durch eine selbstbewußte Entscheidung in der analog angelegten Situation wie jener, in der sich ihre Mutter befand, erreichen, was Sandek seinerzeit verspielt hatte: Während der Hauptmann nicht an sich halten konnte und der Intrige der Hofrätin erlag, entsagt die Tochter eben jenen Gefahren des falschen Liebesspiels und ermöglicht damit dem Erben in der dritten Generation eine andere Zukunft.

c. Die entthronte Männlichkeit Das künftige Engagement der Tochter „auf dem Gebiete der Frauenfrage und der öffentlichen Wohltätigkeit" (33,25f.), das einhergeht mit dem Entschluß, nicht mehr zu heiraten und den Sohn abseits von Liebesintrigen aufzuziehen, hat weitreichende Auswirkungen. Denn es deutet eine Verschiebung der klassischen Männer- und Frauenrollen an, bei der die weibliche Bevölkerungshälfte erstmals in bislang festgeschriebene Männerdomänen vordringt. Kaum merklich, fast nebenbei liefert Saar hier die Schlüssel zu einer politischen Deutung der Erzählung. Denn mit der „öffentlichen Wohltätigkeit" und der „Frauenfrage" werden Themen angeschlagen, die im Wien um die Jahrhundertwende aktuell und gesellschaftspolitisch brisant waren. Dort engagierten sich couragierte Frauen für die Emanzipation ihrer Geschlechtsgenossinnen und gegen Diskriminierungen durch die vorherrschenden konservativen Gesellschaftsnormen353. Der Allgemeine Österreichische Frauenverein (AÖF, gegründet 1893) und der Bund österreichischer Frauenvereine (BÖF, gegründet 1902), in dem dreizehn einzelne Vereine aufgingen, waren nur die bekanntesten Gruppierungen dieser Frauenbewegung354; 352

Ebd. S.122f. Eine umfassende Darstellung der österreichischen Frauenbewegung legte die englische Germanistin Harriet Anderson unter dem Titel Vision und Leidenschaft. Die Frauenbewegung im Fin de Siede Wiens vor [s. Anderson, Lit.-Verz.]. Die Darlegung der historischen Umstände beruft sich wesentlich auf dieses Werk. 354 Anderson, S. 61 ff. Der ÖF war der erste politische Frauenverein. Gruppierungen wie der Verein der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen (1885) oder die Vereinigung der arbeitenden Frauen (1901) konzentrierten sich v.a. auf soziale und 353

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Zeitschriften wie etwa Die Frauenbewegung (gegr. 1898), Dokumente der Frauen (gegr. 1899) oder Neues Frauenleben (gegr. 1902)355 befaßten sich mit Frauenbelangen und wirkten als Forum für sozialreformerische Ideen. Nach ersten Aktivitäten im Revolutionsjahr 1848356 hatten die Frauen Wiens in den 60er Jahren damit begonnen, sich zu organisieren, um (zunächst nur) die wirtschaftliche Not ihrer Geschlechtsgenossinnen zu mildern. Die wirtschaftlichen Folgen des verlorenen Krieges gegen Preußen mit der Niederlage von 1866 hatten viele Familien der Mittelschicht in den Ruin gestürzt357. Bald standen Bildung und Ausbildung im Mittelpunkt des Engagements, wobei oftmals die traditionelle Rolle der Frau nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Die Gründung von Schulen und Kunstvereinen358 vollzog sich mitunter gar im Hinblick auf die Heranbildung von Frauen zu besseren Erzieherinnen ihrer Kinder - zum Nutzen der Allgemeinheit359. Insgesamt herrschte aber die Ansicht vor, „daß Ideen radikale Veränderungen herbeiführen können. Bildung und die damit einhergehende Kultivierung des Intellekts sowie die Erweiterung des berufsbildende Maßnahmen. Als Forum zum „Lesen, sich unterhalten oder Billard spielen" (S. 171) wurden Klubs wie der Couragierte Wiener Frauenclub im Jahr 1900 ins Leben gerufen. 355 Ebd. S.70ff. Vgl. ebd. S.60ff.: Vorläufer waren etwa Der Lehrerinnen-Wart (gegr. 1889, später Frauenleben)', Das Recht der Frau. Organ für die moderne Frauenbewegung, Beilage der Volksstimme (erstmals 1893, später Die Frauenbewegung). Später erschien durch den BÖFdie Zeitschrift Der Buna. Zentralblatt des Bundes Österreichischer Frauenvereine (gegr. 1905). 356 Rossbacher: Literatur, S.321f.: „Karoline von Perin, geb. von Pasqualati (18081888) initiierte im August des Revolutionsjahres 1848, eine Woche nach einer Demonstration von Wiener Arbeiterinnen, die Gründung des ,Wiener demokratischen Frauenvereins'. Das Ziel des Vereins, der 40 Mitglieder zählte, war, das demokratische Prinzip in allen weiblichen Kreisen zu verbreiten. Noch am 17. Oktober 1848 veranstaltete er eine Frauendemonstration mit c.a. 300 Teilnehmerinnen. Karoline von Perin wurde im Zuge der Niederschlagung der Revolution Anfang November verhaftet und emigrierte im April 1849 nach München. Das Reaktionsjahrzehnt nach 1849 hemmte nicht nur die allgemeine politische Entwicklung, sondern auch die Aktivitäten der Frauenbewegung." 357 Anderson, S.43: Im November 1866 wurde der Wiener Frauen-Erwerbverein gegründet, um den Frauen der Mittelschicht den Zutritt zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. 358 Ebd. S.45ff: Gründung einer vierjährigen höheren Bildungsschule 1871 (S.45); Gründung des Vereins Kunstschule für Frauen und Mädchen 1897 (S.46); erstes privates Mädchengymnasium 1892 (S.49); 1896: Zugang für Frauen zum Medizinstudium (S.50) etc. 359 Ebd. S.53. Vgl. auch die später erschienene Schrift von Irma v. Troll-Borostyäni So erziehen wir unsere Kinder zu Vollmenschen (Oranienburg 1912). 204

Horizonts habe die Frauenfrage überhaupt erst hervorgerufen"360. Der sozialreformerische Ansatz der Bewegung liegt hier auf der Hand. Die Theorien der namhaftesten Aktivistinnen wie Auguste Fickert (AÖF, Herausgeberin Neues Frauenleben), Rosa Mayreder (Herausgeberin Dokumente der Frauen), Marianne Hainisch (BÖF, Verein für erweiterte Frauenbildung) oder Marie Lang (Verein Wiener Settlement, Herausgeberin Dokumente der Frauen) reichten von der Losung „nicht gleich, aber ebenbürtig" (Hainisch)361 bis zur Verdammung des Männlichen als „Fluch der Welt" und der Forderung nach städtischer Gliederung in Frauen- und Männerbezirke (Helene von Druskowitz)362. Während Auguste Fickert zwar die Berufstätigkeit als Voraussetzung für weibliche Selbstbestimmung forderte363 und gleichzeitig das politische Machtpotential in der traditionellen Rolle der Hausfrau herausstrich364, beteuerte Marie Lang, das Aufbrechen des Sittenkodexes und die Aufwertung der Mutterschaft könnten das gestörte Verhältnis von Mensch und Natur wieder ins Lot bringen365. Mit ihrem Verein Wiener Settlement engagierte sich Lang in den Wiener Armenvierteln. Dem Verein Wiener Settlement und dem AÖF waren gemein, daß sie im „Wandel des Individuums [die] Voraussetzung gesellschaftlicher Veränderung" sahen366. Im Verein für erweiterte Frauenbildung engagierten sich auch Saars Dichterkollegin und Freundin Marie von EbnerEschenbach (s. III. 1.a.)367 sowie Bertha von Suttner, die in den Frauen „die vernünftigere Hälfte einer vernünftiger werdenden Menschheit" erkannte368. Natürlich schlug den Aktivistinnen in der Frauenfrage harte Kritik entgegen - von Männern wie Karl Hauer, der die Bewegung als „Geschlechtsneid" verfemte und Kultur als Werk des Mannes sah369, wie Otto Weininger, der im weiblichen Prinzip an sich kein Bedürfnis nach Emanzipation erkannte und nur die maskulinen Züge einiger Frauen als Motor der Bewegung bezeichnete370, oder wie Lanz von Liebenfels, dem 360

Ebd. Ebd. 362 Ebd. 363 Ebd. 364 Ebd. 363 Ebd. 366 Ebd. 367 Ebd. 368 Ebd. 369 Ebd. 370 Ebd. 361

S.213. S. 140. S.211. S. 103. S. 125. S.86. S.155f. S.300. S.169. S. 12.f. S.13f: Otto Weininger: Geschlecht und Charakter (1903).

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späteren Mentor Hitlers, der die Aktivistinnen „unglückselige, hysterische Zwitter" schimpfte371. Der Wiener Bürgermeister Karl Lueger kritisierte Auguste Fickert wegen ihrer antiklerikalen Haltung, und auch Karl Kraus stand der Frauenbewegung distanziert gegenüber372. So veröffentlichte Bertha von Suttner ihr sozialreformerisches Werk Das Maschinenalter. Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit (1889) unter dem Pseudonym „Jemand", da man Frauen allgemein nicht zutraute, anspruchsvolle Stoffe zu formulieren; Irma von Troll-Borostyanis Schrift Gleichstellung der Geschlechter und die Reform der Jugenderziehung (1884) wurde gar als Plagiat von August Bebels Die Frau und der Sozialismus abgetan373. Unterstützung für die Frauenbewegung kam hingegen von Männern aus linksliberalen Kreisen der Wiener Avantgarde. Etwa der Philosoph Friedrich Jodl, der Physiker Ernst Mach, der Sozialdemokrat Karl Renner und der Gräzist Theodor Gomperz374 sowie die Künstler der Sezession375 gehörten zu jenen Repräsentanten der Männerwelt, die Rosa Mayreders These belegten, daß es nicht allein um die Belange der Frauen, sondern um die Emanzipation der gesamten Gesellschaft gehe376. Die Bewegung schaffte es jedoch nicht, massenhaft Mitglieder zu sammeln, wie es etwa dem antisemitischen und antiemanzipatorischen Christlichen Wiener Frauenbund gelang, der 1894 über 14 000 Mitglieder zählte. Aufsehenerregend waren die Vorstöße der Frauenaktivistinnen gegen die klassische Sexualmoral. Neben den Aktionen gegen die Prostitution377 taten sich Theoretikerinnen wie Grete Meisel-Hess mit der Forderung hervor, Frauen brauchten ein aktives Sexualleben378, oder wie Thusnelda Vortmann, die eine Ehe von fünf bis zehn Jahren vorschlug als Übergang zur freien Liebe mit staatlichem Mutterschutz379. 371

Ebd. S. 12. Ebd. S.88. 373 Ebd. S.223f. 374 Ebd. S.33ff.: Theodor Gomperz war ein Bekannter von Saar und Mitglied im Verein für erweiterte Frauenbildung. 375 Ebd. S.72f: Marie Lang, die bis 1899 zusammen mit Rosa Mayreder die Dokumente herausgab, stand in engem Kontakt nicht nur mit Gustav Klimt und Adolf Loos, sondern auch mit Gustav Mahler, Hugo Wolf, Ruth Andreas-Salome und den Familien Hofmannsthal und Wittgenstein. 376 Ebd. S.32. 377 Ebd. S. 11 Of. 378 Ebd. S.218: Grete Meisel-Hess stand unter großem Einfluß von Freud, der sie in ihrer Meinung unterstützte, „daß Frauen ein aktives Sexualleben benötigen, wenn sie gesund an Geist und Körper sein wollten". 379 Ebd. S.211. 372

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Saar stand den Idealen der Frauenbewegung insgesamt reserviert gegenüber. In dem plötzlichen Vordringen des anderen Geschlechts in die Domänen der Männerwelt vermeinte er einen Widerspruch zu grundlegenden Eigenschaften des weiblichen Wesens zu erkennen, den er im Gedicht An die Frauen (1881) zum Ausdruck brachte. Dort beklagt er den „Zwiespalt", wie denn die Damen, „schöner denn je, und erfinderischer im Schmücken des Leibes, als zur Zeit verruchten Hetärentums", gleichzeitig verlangen könnten, nicht länger „irdisch gemeine Lust zu stillen" (SW 2,82f). Dabei spricht er ihnen den „Geist, der jetzt den Mann zum Herrscher macht" nicht grundsätzlich ab und ruft ihnen zu: „Ja, er waltet in euch!" - doch folgt sogleich seine Warnung: Glücklich werdet ihr stets nur werden Durch eure Schönheit - (SW 2,83)

Die Idealisierung der Schönheit im unvereinbaren Gegensatz zur Berufstätigkeit hat Saar auch im Gedicht Die Post-Elevin (1885, SW 2,141f.) dargestellt380. Tief trifft ihn der „Bruch, / Der sich im Weib vollzogen", so daß auch hier Berufstätigkeit und weiblicher Reiz gegeneinander ausgespielt werden. Der jungen Postangestellten, die bei seinem Anblick errötet, attestiert er gar: Nein, jenen Schwestern gleichst du nicht, Die mit verschnitt'nen Haaren Und Brillen vor dem Angesicht Sich zum Erwerben scharen. (SW 2,142)

Eine solche Dame mit „verschnittenen Haaren" und Brille ist Frau von Ramberg in der Geschichte eines Wienerkindes (1892). Als „gerader Gegensatz" zur eleganten Elsa Röber wird ihre Erscheinung als Inbegriff der Frauenaktivistin beschrieben: Sie trug das fahlblonde Haar rund abgeschnitten und zu einer kunstvollen Kräuselfulle aufgebauscht, was ihr im Verein mit der stolzen Kopfhaltung und einem schwarz geränderten Kneifer, den sie nunmehr, weiß Gott warum, auf die Stumpfhase gesetzt hatte, fast das Aussehen eines jungen Mannes verlieh; auch der hagere, eckige und von einem übertrieben einfachen Kleide bis an das Kinn

380

Ebd. S. 122: „1872 wurden als Experiment die ersten 40 Frauen als Telegrafmistinnen eingestellt. Zwei Jahre später stellte die Post erstmals Frauen an, die nicht Familienangehörige der Postmeister waren - diese waren in kleineren Postämtern schon seit 1869 beschäftigt worden. Das Zeitalter der Beamtin hatte begonnen. Ihre Arbeitsbedingungen waren skandalös, und die Dokumente wurden nicht müde, daraufhinzuweisen."

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hinauf umschlossene Leib stimmte dazu. So hatte denn die ganze Erscheinung etwas Zwiespältiges, das leicht ein Lächeln hätte hervorrufen können, aber der scharfe, böse Zug um die schmalen, blutlosen Lippen der Dame mahnte zur Vorsicht. (SW 9,256)

Schnell denkt man hier an die „Reformkleider" der Frauenbewegung381 oder an Frauen wie Irma von Troll-Borostyani, die sich mitunter a la George Sand in Männergarderobe hüllte und als „hochbegabte Frau" galt, die „so ganz und gar aus dem Rahmen des gang und gäbe »Weiblichen'" heraustrat382. Auch Frau von Ramberg gilt als „geistig sehr bedeutend" (SW 9,250). Es heißt, sie „beschäftigte sich viel mit der Frauenfrage, war Mitglied mehrerer weiblicher Vereine" (SW 9,250). Schließlich nennt Saar auch in den Dissonanzen die „Ziele der modernen Frauenbewegung" im Herzen einer - ebenso wenig weiblich gezeichneten - Frau, die „in ihrer körperlichen Entwicklung etwas zurückgeblieben" (SW 11,177) war383. Sie ist die Freundin eines NietzscheVerehrers, dessen Pendant in Hymen in der Figur des „Modegelehrten" (13,7) erscheint, „aus der Schule Brandes' und Nietzsches" (30,32f.)384. Im Poem Fin de Siede (1899) geht Saar mit seiner Kritik an der Frauenemanzipation noch weiter und wettert: Vermannte Weiber! Brütet erfindrisch aus Die hohen Satzungen des lesbisch Zwitterverheißenden Frauenstaates! (SW 3,66)

Auch auf dem Gebiet der Kunst sah Saar das massenhafte Vordringen der Frauen mit großer Skepsis. Offenbar befürchtete er eine neue Kunstauffassung, welche dem klassischen Postulat des Wohlüberlegten, Gebildeten und Reifen die bloße Fertigkeit - und damit in seinem Sinne 381

Ebd. 166: „Kleidung stand auch für Feministinnen im Zentrum der Aufmerksamkeit. [...] Die treibende Kraft hinter der Wiener Bekleidungsreformbewegung war Hugo Klein. [...] Er betonte den gesteigerten Komfort der Reformkleidung und verabscheute Korsett und Wespentaille. Reformkleidung sei die Kleidung, die dem neuen Lebensstil der unabhängigen, berufstätigen Frau entspreche." (Vgl. auch S.37: Abb. Rosa Mayreder im „Reformkleid"). 382 Ebd. S.224; vgl. Abb. S.221. 383ygj auc]j Furness, S.159: „The social historian in Dissonanzen, the young teacher and the young lady who dreamt of emancipation - these are Wagner's disciples, representing a tendency which Saar may well have found reprehensible and exessive." 384 Mit dieser negativen Wertung Brandes' und Nietzsches, aus deren Schule der „Modegelehrte" stammt, welcher - ähnlich wie die „Maja" - die Tochter „mit dem Zauber seines Wortes zu umstricken schien" (30,35), wird auch jenen Philosophen eine Mitschuld an der unheilvollen ,Täuschung', dem weltlichen Trugbild nach Schopenhauers Philosophie zuteil (vgl. IV.3.c.).

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Kulturlosigkeit - entgegenstellte. Die Erschütterung des Ideals vom (männlichen) Gelehrten durch den Vormarsch der jungen Frauen und ihrer technischen Fertigkeit - in der bildenden Kunst wie in der Literatur - dokumentiert ein Brief an Stephan Milow vom 18.10.1899: Was nun diese interessante Gräfin betrifft, so ist es in der That merkwürdig, welchen Aufschwung die Frauen genommen haben. In Wien zeigt sich das besonders bei den jungen Mädchen. Eine Fülle von Begabungen! Namentlich zur Bildhauerin. Ohne etwas gelernt zu haben, modelliert ein so junges Ding eine Portraitbüste, flott gemacht und oft schreiend ähnlich. Auch die schriftstellerischen Leistungen können sich sehen lassen; freilich ist dazu mehr geistige Vertiefung nothwendig, aber die Muße ist oft genug bravourös. Schließlich wird es dahin kommen, daß Jedermann, er sei nun Männlein oder Weiblein, ein ganz nettes Bild malen, eine Novelle oder ein bühnenwirksames Stück schreiben kann, ohne sich besonders anzustrengen. Die Tragik wird Gemeingut werden - dann aber dürfte es auch mit der Kunst, wie wir sie bisher verstanden, so ziemlich ex sein. (BrW 67)

Damit war nun auch der Vorwurf der „Blaustrümpfigkeit"385 ausgesprochen, die eifrige Kreativität fleißiger, aber unbegabter Mädchen. Saar, der selbst mit etlichen schreibenden Frauen wie Marie von EbnerEschenbach, Ada Christen oder Josephine von Knorr befreundet war, dürfte etwa die Haltung des Kritikers Fritz Lemmermeyer geteilt haben, der zwischen „echten Talenten" und der ,„Verweiblichung' der Kultur" durch die Vielzahl frauenaktivistischer Schreiberinnen unterschied386. Und ist nicht Elsa Röber auch eine der Frauen, die ihre amourösen Memoiren aufschreibt - mehr aus Zufall, ,„weiß ich doch selbst kaum, wie ich dazu gekommen bin'" (SW 9,236), wie sie zugibt, was ihr Mann triftig „blaustrümpfeln" (SW 9, 243) nennt?

Saars Skepsis gegenüber der Frauenfrage mahnt zur Vorsicht bei der Deutung der Figur von Sandeks Tochter. Deren Lebensumstände zeigen auf den ersten Blick - wie auch die Verhältnisse der Hofrätin - Parallelen zu historischen Vorbildern. Denn auch die Aktivistinnen in der Wiener Frauenbewegung lebten privat in unkonventionellen Verhält385

Dazu: Meyer, Bd. 3, S.38: „Seit dem 18. Jahrh. ist der Name Blaustrumpf] gebräuchlich für gelehrte, schri ft steuernde Damen, namentlich in tadelndem Sinn. Die Bezeichnung stammt aus England (blue stockings) und bezog sich anfangs nur auf Gesellschaften, an denen Herren und Damen teilnahmen, und deren Hauptzweck, unter Verbannung des Kartenspiels, geistvolle Unterhaltung war. Als die Seele dieser um die Mitte des 18. Jahrb. in London aufkommenden Gesellschaften wird der Gelehrte Stillingfleet (gest. 1771) bezeichnet, der dabei, sein Äußeres vernachlässigend, stets in blauen Kniestrümpfen erschien. [...]". 386 Anderson, S.314. 209

nissen, die den geschilderten Umständen in Hymen nicht nachstehen: Auguste Fickert lebte zwölf Jahre mit ihrer Freundin Ida Baumann zusammen387; Rosa Mayreder führte außereheliche Beziehungen und nahm hin, daß ihr zweiter Geliebter Prostituierte aufsuchte, während sie sich vehement gegen die Prostitution engagierte388; Marie Lang verließ ihren ersten Mann und ihr Kind für den Bruder ihrer Schwägerin und erzog die Kinder ihrer zweiten Ehe im Geiste der ,Libertinage'. Mit neunzehn Jahren nahm sich ihr Sohn Heinz das Leben - nach der schicksalhaften Affäre mit einer Architektengattin389. Zu diesen historischen Vorbildern paßt die dargestellte Biographie der Tochter und ihr Engagement in der Frauenfrage. Anders als Elsa Röber (Geschichte eines Wienerkindes), die ihr Geld überraschend für ein Kinderheim hergab, um „vielleicht mit dieser Spende [...] an fremden Kindern gut[zu]machen, was sie einst an den eigenen verbrochen" (SW 9,251), erbringt die Tochter „schwere Geldopfer" (33,22), um sich ganz ihrem eigenen Kind zu widmen. Damit erhält ihre Figur einen durchaus positiven Akzent, da sie mit der Entscheidung für die Aufzucht des Knaben auf Berufstätigkeit verzichtet und mit ihrem karitativen Engagement als rein liebende und fürsorgende Mutter dargestellt wird (vgl. auch IV.3.c.). Dementsprechend zeichnet sie auch nicht der spröde maskuline Zug einer Frau von Ramberg aus; vielmehr wirkt die „schlanke blonde Frau" (13,1) mit „voll entwickeltem Frauenreiz" (30,31) durchaus attraktiv. Auf diese Weise erscheint auch die Frauenfrage in einem anderen, weniger negativen Lichte als etwa in den Gedichten An die Frauen oder Die Post-Elevin. Doch dürfte Saars politische Einstellung zu den frauenemanzipatorischen Strömungen seiner Zeit hier eher eine untergeordnete Rolle spielen; vielmehr springt ins Auge, daß mit der Tochter am Schluß der Erzählung eine Frau die erzieherischen Rechte über den Enkel Sandeks erwirbt, die sich in der Frauenfrage engagieren will. Damit ist angedeutet, daß der Schlüssel zur Zukunft des Knaben - als Vertreter künftiger Generationen - auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht in den Händen des weiblichen Geschlechts liegt, ganz im Sinne etwa Auguste Fickerts (AÖF), die gerade in den traditionellen Rollen der Frau ihre gesellschaftliche Machtposition sah und gar den Staat „mit einem riesigen Haushalt und einer Großfamilie" verglich390.

387

Ebd. Ebd. 389 Ebd. 390 Ebd. 388

210

S.195. S. 197. S.202f. S. 125.

Schon die Hofrätin hatte sich als dominante Figur in ihrer menschlichen Umgebung gezeigt, während der Hofrat zu hämischer Rache Zuflucht nahm und der Schriftsteller reumütig zu ihr zurückkehrte „allerdings schon in etwas schadhaftem Zustande" (30,23). Ebenso wenn auch in anderer Richtung - beweist die Tochter Charakterstärke mit ihrer Entscheidung gegen neue Verbindungen und für die alleinige Aufzucht ihres Sohnes. Selbst die „schöne Schauspielerin" (31,32) „entzückt" nach 25 Jahren auf der Bühne noch immer das Publikum, während der ehedem ihr vermählte, „damals sehr berühmte Bühnendichter" (31,18f.) seinen Ruf einbüßte391. Durchweg bestimmen die Frauen das Geschehen in Hymen, wie einst auch die Generalsgattin, die sich die Adjutanten ihres Gemahls als Liebhaber hielt, während die Männerfiguren - wie der zynische Hofrat, der geschwätzige Trivialschriftsteller, der alkoholisierte Baron oder der hybride Modegelehrte - geradezu wie Karikaturen gezeichnet sind. Besonders markiert aber Sandek den Übergang der gesellschaftlichen Dominanz auf das andere Geschlecht. Denn der Hauptmann steht seit seiner Jugend in Abhängigkeit von vornehmlich älteren Damen; an der seelischen Abhängigkeit von der Hofrätin geht er schließlich zugrunde. Als Vertreter der von Männern bestimmten Institution des Militärs nimmt er doch nach femininer Art „gezierte Allüren" (14,23) an. Entsprechend dieser geradezu weibischen Züge reizt ihn an der Hofrätin, die ihm anfänglich „gar nicht" gefiel, ihr eher maskulines Auftreten wie der „resolute Ton" (20,30f.), den sie anschlägt. Feminin wirkt auch, daß er offensichtlich in jungen Jahren selbst ,geblaustrümpfelt' hatte: Er besaß eine „große Lern und Wißbegierde" (13,25) und las alle Bücher, die der Ich-Erzähler ihm leihen konnte; jedoch „zeigte sich bald, daß er sie nicht verstand" (13,27). Das zwitterhafte seiner Gestalt - als Übergang zum weiblichen Prinzip - ist auch in der Figur des antiken Hochzeitsgottes Hymen angelegt, dem homoerotische Eigenschaften zugeschrieben werden. Hymen, der sich in „Weiberkleider zu vermummen" pflegte, ist auch als Geliebter Apollons, Hesperos' und der Erfinder der Knabenliebe Argynnos und Thamyris überliefert392. Dazu paßt Sandeks Begeisterung für die eher 391

Über den Bühnendichter heißt es in einer getilgten Fassung im Manuskript gar, er sei „seitdem so ziemlich verschollen. Ibsen, Hauptmann und andere Größen hatten ihn verdrängt. Künstlerschicksal!" (57, l f.) - womit Saar gleichzeitig seinen Unmut über den Naturalismus zum Ausdruck gebracht hatte. (Zum Naturalismus vgl. III. 1.a.). 392 Pauly-Wissowa, Bd.XVII. Sp.129.

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herbe Hofrätin, die ihm anfanglich „zu wenig weiblich" (20,31) erschien. Einen bezeichnenden Hinweis auf diese zwitterhaften' Züge gibt auch die herausgehobene Farbe seiner Augen, die er an seine Tochter vererbt hat. Die Amethystfarbe (l5, l)393 ist violett, eine Mischung aus rot und blau - die Verschmelzung des Blauen, wie man es dem männlichen Kind anzog, mit dem Rosaroten, in das man Mädchen hüllte. Daß diese ungewöhnliche Augenfarbe bei der Tochter wieder erscheint (13,3), weist ein weiteres Mal daraufhin, daß sie Sandeks Vermächtnis weiterführt, im Sinne einer „Sühne" für seine „Verschuldungen" (25,32)394. Da die Tochter auf eine neue Ehe verzichtet, kann sie sich ganz der Erziehung ihres Sohnes und den Angelegenheiten in der Frauenfrage widmen. Dadurch erhält sie im Privaten sowie im GesellschaftlichPolitischen einen „angemessenen Wirkungskreis" (33,26), der ihr die aktive Mitgestaltung der Zukunft ermöglicht. Ein Stück , Menschheitsgeschichte' liegt damit in ihrer Hand. Gerade durch ihr karitatives Engagement vereint sie herkömmliche weibliche Züge mit politischer Tätigkeit. In dieser Hinsicht wirkt sie modern, wenngleich dem klassischen Frauenbild verpflichtet. Es fehlt ihr freilich das Lebensglück der Ehe und der intakten Familie. So scheint sich hier Saars Warnung aus dem Gedicht An die Frauen zu bewahrheiten: Aber nimmermehr wähnt, Daß damit euch anbrechen werden Höhere, frohere Tage des Seins! (SW 2,83)

Vielmehr deutet ihre Entscheidung für die Aufzucht des Sohnes, die von dem Vorhaben begleitet wird, sich in der Wiener Frauenfrage und für die öffentliche Wohltätigkeit zu engagieren, auf generelle soziale Um393

Dem Amethysten werden auch apotropäische Eigenschaften nachgesagt. Es heißt, mit Bezug auf sein ,,weinfarben[es]" Äußeres, das Mittelalter habe aus dem Altertum den Aberglauben übernommen, „daß der A[methyst] als Amulett gegen Gift, giftige Schlangen, vor allem aber gegen Trunkenheit schütze." (BächtoldStäubli, Bd.l, S.366). Insofern man annimmt, daß die Amethystaugen möglicherweise die Tochter vor einer falschen Entscheidung schützten, damit sie nicht das Schicksal ihrer Mutter wiederhole, so könnten sie doch bei Sandek keine Schutzfunktion tragen, da er ja seinem Hang zur Hofrätin erliegt. Daher bleibt die Bedeutung dieser Eigenschaft für Hymen fraglich. 394 Das Motiv der Vererbung spielt stets eine wichtige Rolle (s. Charue: Determinismus, S.243ff). Hierin zeigt sich auch die Bedeutung von Darwins Lehren für Saars Werk, wie die Darwin'sehen Thesen überhaupt die letzte Hälfte des vorigen Jahrhunderts mitprägten (s. Nagler: Geburtstag [Sp.2]); (s. Anm. 217).

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brüche hin, die das Ende der maskulinen Dominanz einleiten - ein ambivalentes Thema, das Saar an seinem Lebensabend beunruhigt haben muß. Die scharfe Beobachtung zeitgenössischer Entwicklungen seiner letzten Jahre verleiht dem Spätwerk des Wiener Dichters fortdauernde Brisanz. Hieran zeigt sich ein weiteres Mal, inwieweit Saar der Moderne den Weg mitbereitete395.

3. Die Selbstzerstörung Hymens a. Der tiefenpsychologische Gehalt Neben dem äußeren Erscheinungsbild des antiken Hochzeitsgottes Hymen, dem Sandek ähnelt (s. IV. 1.a.), und der Bedeutung des Hymens im physiologischen Sinne im Zusammenhang mit Sandeks frühem Tod (s. IV.2.a.-c.) tritt ein weiteres Merkmal dieser mythologischen Gestalt hervor, das für die Erzählung von Bedeutung ist: Es handelt sich um jenen Teil des antiken Mythos, der die selbstzerstörerische Eigenschaft Hymens betrifft. Die Verwandtschaft mit Dionysos offenbart, daß im Namen des Hochzeitsgottes auch die Bezeichnung für denjenigen enthalten ist, der das Hymen zerstört: Den besten Beweis für den Zusammenhang der beiden Götter bringt ein [...] Beiname des Dionysos $. [ . - - ] wenn vom physiologischen Standpunkt aus das Kennzeichen der Jungfräulichkeit bedeutet, ist § vielleicht das verpersönlichende Wort für den, der sie zerstört; der Dichter gibt diesen Namen dem Dionysos selbst.396

Der Logik folgend, daß Hymen als ein am eigenen Hochzeitstag gestorbener Ehegott mit der Zerstörung des Hymen beim Vollzug der Ehe synonym wird, ist also die eigene Vernichtung dieser mythologischen Gottheit in ihrem Wesen selbst angelegt. Die Tragödie dieser - auf 395

Polheim: Erzählkunst, S.42: „So wie Saar in seiner geradezu kubistischen Technik (...) ein Vorläufer der Moderne ist, so auch in seiner zugleich realistischen und tiefsymbolischen Erzählkunst. [...] Aber Saar ist nicht nur der Übergang vom österreichischen Spätrealismus zum Jungen Wien. Seine Bedeutung reicht weiter. Die moderne epische Dichtung ist es ja, die so oft in einer vordergründigen Handlung kunstvoll große Themen der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte sich spiegeln läßt." 396 Pauly-Wissowa, Bd.XVII, Sp.129.

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diese Weise zur Jungfräulichkeit verdammten - Gestalt liegt darin, daß sie beim Vollzug ihrer eigenen Bestimmung - der Eheschließung - ihre Existenz verliert. Die Selbstzerstörung ist also eine Wesenseigenschaft dieser Figur und macht eine weitere Schattierung des Titels Hymen aus. Analog dazu ist auch an Sandek das selbstzerstörerische Element zu erkennen. Bei ihm handelt es sich jedoch um keine ureigene Eigenschaft, wie sie im Wesen des Hochzeitsgottes liegt, sondern um eine bewußte Verhaltensweise. Während der antike Gott - in symbolischer Anlehnung an die Vernichtung des Hymens - stirbt, damit die Ehe realisiert werden kann, verliert Sandek das Leben, weil er nicht in der Lage ist, eine erfolgreiche Bindung einzugehen und die dafür notwendigen Konsequenzen zu tragen. Sein Schicksal vollzieht sich auch damit in Umkehrung des antiken Mythos397. Sandek ist - wenn auch von der Hofrätin zur Liebesnacht verführt (s.o. IV.2.a.) - so doch selbst verantwortlich für seinen Untergang, der mit seiner Reaktion in der unglücklichen Lage zusammenhängt. Sandek w i r d erst zu Hymen, i n d e m er seinen Untergang selbst herbeiführt. Deutlich läßt sich das an der tiefenpsychologischen Analyse seines Verhaltens zeigen, wofür zunächst weiter ausgeholt werden muß: Parallel zum tragischen Verlauf der Beziehung mit der Hofrätin steuert Sandek auf die Stabsoffiziersprüfungen zu, deren Vorbereitung ihm immer schwerer fällt. ,„Ich zwang mich zu arbeiten, zu lernen meine Gedanken versagten.'" (24,35f.) gesteht er dem Ich-Erzähler und fügt hinzu: „,Falle ich durch, so bin ich verloren. Denn meine Karriere ist dann abgeschnitten - und mir bleibt nichts als das höhnische Bedauern meiner Kameraden!"' (25,20ff.) Deutlich pointiert hier der Text den Zusammenhang zwischen der Vorbereitung auf das militärische Examen und dem Sich-Zuspitzen der Liebesbeziehung. Denn je verworrener das Verhältnis zur Hofrätin wird, um so weniger kann sich Sandek auf seine Arbeit konzentrieren - wahrhaftig ,„ein Zustand, um wahnsinnig zu werden'" (25,17f.), womit Sandek sein eigenes Ende im Irrenhaus vorwegnimmt. Solange der Ich-Erzähler annimmt, daß Sandek die Hofrätin „wirklich" liebe (23,32), fordert er ausdrücklich, Sandek müsse lernen sich „unterzuordnen" (23,37) und die Geliebte „allmählich" zu sich „hinüberzuziehen" (24,2). Sandek versteht darunter einen „Wettkampf' (24,3f.) und lehnt entrüstet ab - ein Hinweis darauf, daß er die Hofrätin „doch nicht eigentlich " liebt (24,12). Dabei würde er sich gerade durch 397

Oben (IV. 1.a.) konnte schon gezeigt werden, daß Sandek in vielfacher Weise den Mythos des antiken Gottes umkehrt. Das Strukturprinzip der Umkehrung ist typisch für Saar (s. Anm. 224).

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diesen „Wettkampf', den die militärischen Prüfungen symbolisch verkörpern, als denkbarer Partner und glaubhafte Alternative zum flüchtigen Schriftsteller behaupten. Dem selbstbewußten Auftreten dem Konkurrenten gegenüber, das Voraussetzung für die Achtung der Geliebten ist, steht aber die „schwer verletzte Eitelkeit" (24,13) im Wege, zu deren Überwindung wiederum jene Charakterreife nötig ist, die zu militärischer Führungskraft gehört. Auf diese Weise wird die Stabsoffiziersprüfung zur symbolischen Reifeprüfung398. Diese Reife setzt jedoch zunächst - als Befreiung aus der ersten fundamentalen Abhängigkeit von einer Frau - die Unabhängigkeit von der eigenen Mutter voraus. Zwar erfahren wir nichts über Sandeks Mutter, aber seine Vorliebe für die „reife und erfahrene Frau" (14,28f.) läßt Zweifel aufkommen, ob Sandek in dieser Hinsicht ,erwachsen' ist, selbst wenn an keiner Stelle explizit die Rede davon ist, daß er sich nach .Mutterliebe' sehne. Ein Befund aus der Textgeschichte zeigt aber, daß Sandek durchaus als eine Art,Muttersöhnchen' konzipiert ist: Denn aus der Handschrift geht hervor, daß Saar in der ersten Niederschrift durchgehend den Namen „Samek" verwendete, den er später in „Sandek" änderte. (Dabei gelangte „Samek" an einer Stelle noch in den Erstdruck J; s. H: 52,20; vgl. auch III.l.d.) Von diesem ursprünglichen Namen „Samek" geht ein entscheidender inhaltlicher Hinweis aus, zieht man hinzu, was das Lexikon der Wiener Volkssprache von 1873 dazu verzeichnet: Sam, der Saum. (Red.): Er sitzt seiner Muad'r (oder sein' Weib) allerweil aufm Sam (d.h. er kann ohne sie nicht sein).399

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Diese Verbindung von militärischem, sportlichem Wettkampf und Minne kennt schon die mittelalterliche Literatur. So verläßt etwa Siegfried im Nibelungenlied (Das Nibelungenlied. Altdeutsch und übertragen von Karl Simrock, Bde. 1-2. (Der Tempel Verlag), Leipzig 1924, Bd.l, S. 19, Strophen 53f.) das elterliche Haus, um Kriemhild zu gewinnen, weil er nicht mehr ,,ohn' edler Frauen Minne" (Strophe 53) sein will. Die Liebe der Königstochter gewinnt er durch seine Überlegenheit in jedweder Kampfesdisziplin (Strophe 129). Auch Parzival (De Boor-Newald, Bd.2, S.157ff.) verläßt seine Mutter, die ihn in der Abgeschiedenheit einer bäuerlichen Waldsiedlung aufzog. Den Halbwüchsigen zieht es in die Welt, ungerührt „reitet [Parzival] über das Leid der Mutter fort" (S.96). Mutig schlägt er den „roten Ritter" und gewinnt die Liebe Condviramurs im Kampf um ihre Stadt. Die Reihe dieser Helden ließe sich fortführen, doch sollen diese beiden prominenten Beispiele genügen, um die kulturhistorische Verankerung der drei grundlegenden Reifungskriterien vor Augen zu führen: die Überwindung der Mutterbindung, der Wettstreit innerhalb des männlichen Geschlechtes, die Gewinnung der weiblichen Liebe durch Mut, Wehrhaftigkeit und Unabhängigkeit. 399 Vgl. Hügel, S. 123.

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Demnach bedeutet „Samek" - passend zum hörigen Verhältnis zu der Hofrätin, die dem Ich-Erzähler auf dem Porträt bei Sandek „einigermaßen gealtert" (17,14f.) vorkommt - etwa „der am Rockzipfel seiner Mutter Hängende", was soviel wie ,Muttersöhnchen' heißt. Hat Saar, der insgesamt sehr verschlüsselt schrieb und generell nur wenige Hinweise auf Deutungsmöglichkeiten seiner Erzählungen gab, den Namen geändert, weil er ihm zu deutlich schien? Diese Frage kann nicht mit letzter Sicherheit beantwortet werden. Das ,Muttersöhnchen' paßt jedoch vortrefflich zu der Art von Verhältnis, die Sandek mit der Hofrätin pflegt. Seine Vorliebe für ältere, besonders verheiratete Damen und seine Abneigung gegen junge Mädchen dechiffrieren seine Neigung als Hang zu Mutterfiguren. Damit rührt die Erzählung allerdings an ein Thema, zu dem sich Saar zwar niemals explizit äußerte, welches aber das intellektuelle Leben Wiens um die Jahrhundertwende entscheidend prägte: die Psychoanalyse.

Schon in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten Freuds Studien in Wien Aufsehen erregt. In den 90er Jahren erschienen einige gemeinsame Publikationen von Freud und Josef Breuer zur Hysterie400, darunter die Vorträge Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene (1893) und Zur Ätiologie der Hysterie (1896)401 sowie Freuds Studien über Hysterie (1895)402; im Herbst 1902 wurde die Psychologische Mittwochs-Gesellschaft gegründet403. Wie gut Saar die Studien Freuds und Breuers kannte und ob er den psychologischen Forschungsstand besonders in seinen letzten Lebensjahren überhaupt mitverfolgte, geht aus seinem überlieferten Kor-

400

Vgl. Reichmayr, S. 16: Freud bekam von Breuer maßgebliche Anregungen sowie wissenschaftliche Unterstützung. 401 Vgl. Sigmund Freud: Studienausgabe, Bde. I-X. Hrsg.: Alexander Mitscherlich / Angela Richards / James Srachey. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1972. [zitiert Freud: Werke I-X.]. Darin: Freud: Werke VI: Der erste Vortrag wurde am 11. Januar 1893 im Wiener Medizinischen Club gehalten und Ende Januar in der Medizinischen Presse veröffentlicht (S. 11); den zweiten hielt Freud am 21. April 1896 vor dem Verein für Psychiatrie und Neurologic, welcher anschließend in der Klinischen Rundschau veröffentlicht wurde (S.52). 402 Reichmayr, S. 17. 403 Ebd. S. 19: „In der Mehrzahl Ärzte, waren unter den Teilnehmern jedoch auch geisteswissenschaftlich ausgebildete und in verschiedenen Berufen tätige Intellektuelle, vorwiegend aus dem liberal-jüdischen Bürgertum. Im kulturellen Geflecht, in das die Anhänger dieses auf privater Basis betriebenen wissenschaftlichen Unternehmens eingebunden waren, kam ein weiteres Publikum mit den neuen Gedanken in Berührung."

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respondenzen nicht hervor. Saars Skepsis gegenüber den damals modernen Strömungen (Naturalismus404, wissenschaftlichem Materialismus405, den Werken Nietzsches und Brandes'406 etc.) lassen zunächst Zweifel aufkommen. Hingegen ist frappierend, mit welchem - nicht nur psychologischen, sondern p s y c h o a n a l y t i s c h e n - Feingefühl Saar die Verwicklungen in Hymen darstellte. Denn die Komposition des Konfliktes und die Darstellung der Figuren überzeugen auch hier wie „ein in klassischer Prosa erzählter klinischer Bericht, der auch heute noch einem medizinischen Lehrbuch als Musterbeispiel zur Zierde gereichen würde"407. Sein psychologischer Scharfblick408 war noch zu Lebzeiten und kurz nach seinem Tod gerühmt worden, u.a. im Zusammenhang mit der Tragik des Lebens409. Für die neuere Sekundärliteratur steht das tiefenpsychologische Vorgehen Saars - sowie der Psychoanalytiker in jedem großen Dichter - außer Frage410. Verschiedene historische Gegebenheiten machen überdies plausibel, daß Saar mit den Studien Freuds und Breuers zumindest in Berührung gekommen sein dürfte. So war etwa Josef Breuer, der die Jahre 1882-95 404

Vgl. III. 1.a. Vgl. etwa Saars Zustimmung zu Josef Hyrtls Kritik am wissenschaftlichen Materialismus (s.u.). 406 Mit dem „Modegelehrten" tritt ein negativ gezeichneter Vertreter „aus der Schule Brandes' und Nietzsches" (30,32f.) auf. 407 Zu Saars 40. Todestag schrieb Constantin Wechsler einen lobenden Nachruf, in dem es heißt. „Denn für die Krankheitssymptome seiner Zeit hatte Saar eine selten empfindliche Beobachtungsgabe; die Motivierung seiner Frauenschicksale (, ', ,Brauer v. Habrovan', ,Hymen', ,Sündenfall') nimmt gewisse Erkenntnisse der Psychopathologie um Jahrzehnte vorweg [...]." 408 Rossbacher faßt Saars psychologischen Scharfblick und die Schlüssigkeit in der Darstellung mit folgender Formel zusammen (Rossbacher: Ginevra, S.335): „In Saars Novellen finden wir einen realistisch-psychologischen Typ der Wirklichkeitsdarstellung. Er beherrscht die Kunst des ,wenn außen x, dann innen y' (H. Hillmann)." 409 Vgl. Deutsche Zeitung, Berlin, vom 30. September 1906; Ernst Lissauer [Besprechung der Tragik des Lebens] in. Das Wissen für alle, Wien, 1906; Viktor Traußl [Besprechung der Tragik des Lebens] in: Neue Zeitung. Bote für das Viertel und den Manhardsberg, Oberhallabrunn, vom 27.2.1907; W. A. Hammer: Letzte Novellen von Ferdinand v. Saar, in: Dresdner Anzeiger, 176. Jahrgang, Nr. 202 von Mittwoch, dem 25.7.1906 (Vgl. III.2.c.,d.). 410 Polheim: Erzählkunst, S.39f. Auch Roiiek lobt Saars psychologische Beobachtungsgabe: „Lange noch vor Breuer und Freud erkannte er - vielleicht auch darin ein getreuer Schüler Schopenhauers - wie sehr die dunklen, die nicht eingestandenen, die verdrängten Wünsche und Begierden Denken und Handeln selbst derer bestimmen, die sich auf die Stringenz ihrer Vernunft etwas zugute halten." (S.540). 405

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in enger Zusammenarbeit mit Freud verbrachte, in den 80er und 90er Jahren Hausarzt von Marie von Ebner-Eschenbach, bei welcher der Dichter regelmäßig zu Gast war411 und mit der er bis zu seinem Tode in regem Austausch stand412; Marie von Ebner-Eschenbach besprach mit Breuer ihre Dichtungen413. Und in Saars eigener Geschichte eines Wienerkindes wird nach dem Nervenzusammenbruch Elsa Röbers gar nach einem „Doktor Breuer" geschickt (SW 9,271). Freuds Traumdeutung414 sorgte für großes Aufsehen und wurde international rezensiert, darunter in den zahlreichen Wiener Publikationen415, die Saar z.T. regelmäßig las und in denen seine eigenen Werke besprochen wurden416. Schließlich aber spricht aus der Erzählung selbst eine deutliche Kenntnis der ödipalen Verwicklungen des reifenden Jünglings. Denn hier handelt es sich nicht um Beziehungen zwischen Gleichaltrigen, sondern um einen Konflikt zwischen Generationen, der auch in der 411

Vgl. Marie von Ebner-Eschenbachs Tagebücher aus den Jahren 1862-1878. (s. Anm. 334). 412 Vgl. etwa BrW 15-29 (s. III. 1.a., S.97ff). 413 Ebner-Eschenbach: Tb. III, S.791 (s. Anm. 26). Tagebucheintragung vom 14. November 1889: „14. Do. Breuer Ein schöner Wunderschöner Tag. Jeder ist zu beneiden, der ihn auf dem Lande zubringen kann Breuer brachte mir die 3t Abthlg v. U[nstihnbar] zurück, gab ausgezeichnete Rathschläge. (Scene der Katastrophe) lobte ohne Vorbehalt den Schluß." Zu Breuers z. T. täglichen Besuchen s. Ebner-Eschenbach: Tb. IV, Eintragungen 28-31.12.1891; 18.20.3.1893; 8.-11.1., 6.-21.4., 17.-25.5. sowie 17.-27.12.1897. 414 Freud: Werke II, S. 15: Die erste Auflage der Traumdeutung erschien (bei Franz Deuticke, Leipzig und Wien, 375 S.) bereits im November 1899, wurde aber auf das Jahr 1900 datiert. Bis 1930 wurde die Traumdeutung von Freud wiederholt erweitert und ergänzt (s. Anm. 401). 415 So etwa: H. K.: Träume und Traumdeutung. In: Fremden-Blatt. Jg. 54, Nr. 67, 10.3.1900, S. 13-14; Kareil, Ludwig: Träume. In: Beilage zur Allgemeinen Zeitung. Jg. 1900, Nr. 234, München 12.10.1900, S.4-5; Stekel, Wilhelm: Traumleben und Traumdeutung. In: Neues Wiener Tagblatt. Wien 29./30.1.1902; Max Burckhard: Ein modernes Traumbuch. In: Die Zeit. Bd. 22, Nr. 275, 6.1.1900, S.9-11 u. ebd. Nr. 276, 13.1.1900 S.25-27. 416 So etwa der Band Tragik des Lebens. Er wurde besprochen u.a. in: Die Zeit. Wien, 13.12.1905; Allgemeine Zeitung. München, 20.12.1905; Neues Wiener Tagblatt. Wien, Nr. 355, 24.12.1905, S.66f; Fremden-Blatt. Wien, Nr. 356, 27.12.1905, S. 15 (vgl. III.2.c.). Zur Traumdeutung äußerte sich auch der Schriftsteller und Kritiker Jacob Julius David ([Ders.]: Die Traumdeutung. In: Die Nation. Nr. 17, Berlin 1900, S.238-239.), der in den 80er Jahren über Saars Werke schrieb (vgl. Kopp, S. 117: so 1888 über Marianne, Innocens und Tambi) und der Saar wiederholt um Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften bat (wie am 12.10.1886 um ein Gedicht für die Neue illustrierte Zeitung (Hrsg.: Balduin Grosser, s. BrW 12) oder am 21.1.1888 um einen Novellen-Beitrag für die Zeitschrift Wiener Mode (Verl. Colbert & Ziegler), s. BrW 13).

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Konfiguration zum Ausdruck kommt (vgl. IV. La.). Der Altersunterschied zwischen Hofrat, Hofrätin und Schriftsteller zu Sandek, der für die älteren Männer keine ernstzunehmende Konkurrenz darstellt, sowie Sandeks Neigung zu älteren, verheirateten Frauen deuten darauf hin, daß es sich - im psychologischen Sinne - auch um einen ElternKind-Konflikt handelt, der keine individuelle, sondern generelle Bedeutung trägt. Die Annahme, daß es sich bei den Hauptfiguren der Erzählung auch um Vater-, Mutter- und Kind-Figuren handelt, weist deutlich auf die Thesen der Psychoanalyse hin. Freuds „Ödipuskomplex" - das Verlangen des Sohnes nach der Mutter und die Beseitigung des Vaters - griff diesen Konflikt erstmalig und umfassend auf. In seiner Traumdeutung (Kap. V.D.b.) leitet Freud den Komplex von dem Zusammenhang zwischen dem Traum „vom Tod teurer Personen"417 und der kindlichen Libido nach dem komplementären Elternteil ab: Es verhält sich - grob ausgesprochen - so, als ob eine sexuelle Vorliebe sich frühzeitig geltend machen würde, als ob der Knabe im Vater, das Mädchen in der Mutter den Mitbewerber in der Liebe erblickte, durch dessen Beseitigung ihm nur Vorteil erwachsen kann.418

Die erste Liebe des Kindes gilt demnach dem jeweilig komplementären Elternteil, so daß der Junge im Vater, das Mädchen in der Mutter den störenden Mitbewerber erkennt. Freud beruft sich auf seine empirische Beobachtung, daß „die Träume vom Tode der Eltern überwiegend häufig den Teil des Elternpaares betreffen, der das Geschlecht des Träumers teilt"419. Die sexuelle Wahl werde gleichzeitig von den Eltern eingeleitet, da der Vater in der Regel die Tochter verwöhne, die Mutter den Sohn unterstütze420.

417 418

419 420

Freud: Werke II, S.254 (s. Anm. 401). Ebd. S.260.

Ebd. Ebd. S.262: Freud sieht in der Sage des „König ödipus" - besonders im Drama des Sophokles - diesen „uralten Traumstoff' (S.267) verbürgt, der bis zu den frühesten griechischen Mythen von Chronos, der seine Kinder verschlingt, und Zeus, der seinen Vater entmachtet, zurückreiche. Daß dieses Drama von den Zeitgenossen wie seinerzeit von den alten Griechen nicht zurückgewiesen werde, müsse an dessen allgemeiner Gültigkeit liegen, wie Freud in der Traumdeutung schreibt: „[...] es muß eine Stimme in unserem Innern geben, welche die zwingende Gewalt des Schicksals im ödipus anzuerkennen bereit ist, [...] weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn. Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Haß und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon." (S.266).

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In Hymen - es wurde oben schon erwähnt (s. IV. 1.a.) - entspinnt sich das Verhältnis zwischen Sandek und der Hofrätin nicht nur, weil Sandek den Typus der älteren Frau favorisiert, sondern weil sich die Hofrätin am Schriftsteller rächen will, der im Begriff ist, die Schauspielerin zu ehelichen. Dergestalt - nimmt man in psychoanalytischer Terminologie für Hofrat und Schriftsteller ,Vaterfiguren' an - bestraft die ,Mutter' (Hofrätin) mit dem ,Sohn' (Sandek) den ,Vater' (Schriftsteller), weil dieser sich mit der ,Tochter' (Schauspielerin) einläßt. Die eigene leibliche - in der quasi „ödipalen" Vereinigung gezeugte Tochter - wird, analog zu dieser Anordnung, von der Hofrätin wiederum abgelehnt. Sandek spielt in diesem psychoanalytischen Figurenkabinett aber nicht die Rolle eines drängenden König Ödipus, der die „ g e h a ß t e Vaterfigur"421 entthront und die Mutter zur Frau nimmt; ebensowenig ringt er sich nach langem Zaudern zur Tat durch, wie etwa Hamlet, den Freud als ,typischen Hysteriker' bezeichnete422. Der Impuls zur ödipalen 421

Ebd. S.264: Auch wenn Freud das Verhältnis vom Kind zu den Eltern als von „Verliebtheit gegen den einen, Haß gegen den anderen Teil des Elternpaares" geprägt darstellt, so muß betont werden, daß dieser Haß das R e s u l t a t des Konfliktes ist, daß nämlich der eine Elternteil „nicht ohne die Erschwerung der Beziehung zum anderen Teil" für sich zu gewinnen ist (s. Hoffmann-Hochapfel, S.43f.). Wird dieses Eltern-Kind-Verhältnis nicht überwunden, kommt es zur Ausbildung von Neurosen. 422 Ebd. S.266ff.: Im Zusammenhang mit dem „Ödipuskomplex" kommt Freud in der Traumdeutung auch auf Hamlets Skrupel zu sprechen, die Rache an seinem Onkel zu vollziehen. Gerade hierin erblickt er eine deutliche Ausgestaltung des mythologischen Ödipus-Stoffes. Hamlet solle „keineswegs als eine Person erscheinen [...], die des Handelns überhaupt unfähig ist" (S.268), da er Polonius erschlage und Rosenkranz und Güldenstern in jene Todesfalle schicke, die ihm selbst zugedacht war. Vielmehr könne Hamlet alles, „nur nicht die Rache an dem Mann vollziehen, der seinen Vater beseitigt und bei seiner Mutter dessen Stelle eingenommen hat, an dem Mann, der ihm die Realisierung seiner verdrängten Kindeswünsche zeigt." (S.268) Es sind wieder ausgerechnet die Träume, die ihn davon abhalten, dieser Reifungsanforderung durch den Tod zu entgehen: „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: / Ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern / Des wütenden Geschicks erdulden, oder, / Sich waffnend gegen eine See von Plagen, / Durch Widerstand sie enden. / [...] Sterben - schlafen - / Schlafen! Vielleicht auch träumen! - Ja, da liegt's: / Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen, / Wenn wir den Drang des Ird'schen abgeschüttelt, / Das zwingt uns stillzustehn [...!." (Shakespeare: Hamlet, S.55; s. Anm. 345). In dem TraumArgument ist der essentielle Konflikt zusammengefaßt, denn der Traum repräsentiert Wunsch und Gewissen; Verlangen nach der Mutter und Schuld gegenüber dem Vater. Aus diesem Konflikt gibt es kein Entrinnen - schon gar nicht durch den plötzlichen Tod - außer der Überwindung des Komplexes. Und dies geschieht im Drama in dem Moment, als Hamlets Mutter - Opfer der Intrige gegen den Held selbst - tot zu Boden sinkt; erst dann ist Hamlet in der Lage, den Vater zu rächen und anschließend - durch ein vergiftetes Schwert tödlich verwundet - selber zu 220

Vereinigung geht vielmehr von den ,Eltern' dieser Konstellation aus; Sandek stellt mit seinem Hang zu älteren gebundenen Damen bloß die fehlende Figur im ,Spiel' der ,Erwachsenen' dar. Dennoch trägt Sandek Schuld an seinem Schicksal und ist nicht etwa nur Opfer der Abrechnung zwischen dem Hofratspaar und dem Schriftsteller. Seine Verantwortung für das Scheitern an der Herausforderung, sich und die Hofrätin aus der „verworrenen und unwürdigen Lage zu befreien" (26,1), wird vom Ich-Erzähler deutlich ausgesprochen: Er wand sich auf dem Sessel hin und her, und ich erkannte, daß meine Worte nur halb in ihn eingedrungen waren. Oder vielmehr: er fühlte ihre Wahrheit, aber nach Art schwacher Geister und untiefer Naturen vermochte er nicht eine Sache zu Ende zu denken und dabei sich selbst zu Leibe zu gehen. (26,3ff.)

Diese „Worte" des Ich-Erzählers, die er zuvor an Sandek gerichtet hatte, fordern von ihm gerade die Überwindung des unheilvollen Verhältnisses. Die „volle und rückhaltslose Erkenntnis", daß Sandek seine Lage „selbst herbeigeführt" habe (25,28f.), und die Sühne „früherer Verschuldungen" (25,32) seien die einzigen Mittel, sich aus seiner Sacksterben: „(Königin:) Nein, nein! der Trank, der Trank! - 0 lieber Hamlet! / Der Trank, der Trank! - Ich bin vergiftet. (Sie stirbt.) l (Hamlet:) O Büberei! - Ha! laßt die Türen schließen. / Verrat! sucht, wo er steckt. /[...]/ Hier, mörderischer, blutschändnscher, verruchter Däne! / Trink diesen Trank aus! - Ist die Perle hier? / Folg meiner Mutter! (Der König stirbt.)" (Shakespeare: Hamlet, S.120f; s. Anm. 345). Bis zu dieser finalen Tat flieht Hamlet in Stummheit, in ein Schweigen, das darin besteht, sich nicht mehr verständlich zu äußern, Wahnsinn vorzutäuschen, da es ihm „dienlich scheint, ein wunderliches Wesen anzulegen" (S.30). Freud urteilt hier: „wenn jemand Hamlet einen Hysteriker nennen will, kann ich es nur als Folgerung aus meiner Deutung anerkennen" (Freud: Werke II, S.268; s. Anm. 401). Dennoch schafft Hamlet es, Hysterie und Mutterbindung zu überwinden und die entscheidende Tat zu begehen, die ihn im Tod zum Helden werden läßt: „Laßt vier Hauptleute Hamlet auf die Bühne / Gleich einem Krieger tragen: denn er hätte, / War' er hinaufgelangt, unfehlbar sich / Höchst königlich bewährt [...]." (Shakespeare: Hamlet. S. 123; s. Anm. 345). Freuds Hamlet-Thesen hat auch die literaturwissenschaftliche Forschung übernommen. Schon 1949 bestätigte Jones (Jones: Lösung, S.293), daß „Hamlets Widerwille gegen seine Aufgabe unbewußt ist" und folgert, „daß Shakespeares außerordentliche Beobachtungsgabe und sein Scharfsinn ihm hierbei ein Maß an Einsicht gewährten, das die Welt erst nach drei Jahrhunderten erreichen sollte" (S.313). Deutlicher argumentiert Jones an anderer Stelle psychoanalytisch (Jones: Hamlet, S. 108): „The association of the idea of sexuality with his mother, buried since infancy, can no longer be concealed from his consciousness. [...] The long "repressed" desire to take his father's place in his mother's affection is stimulated to unconscious activity by the sight of someone usurping this place exactly as he himself had once longed to do. More, this someone was a member of the same family, so that the actual usurpation further resembled the imaginary one in being incestuous."

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gasse zu befreien. Sandek solle - so hieß es vorher - „mit verständnisvoller Nachsicht alles anwenden" (23,40) um die Hofrätin „allmählich ganz" zu sich „herüberzuziehen" (24,2). Es scheint, als spreche aus diesen Zeilen Freuds Forderung zur Überwindung der „ödipalen Phase" durch die Einsicht, den begehrten Elternteil nicht für sich haben zu können, welche - nach Freud - mit der Entwicklung der Gewissensinstanz des „Über-Ichs" einhergeht. Ist in der Aufforderung des Ich-Erzählers, Sandek solle sich als ernstzunehmender Partner neben dem Schriftsteller bewähren, nicht die Herausbildung männlicher Reife gefordert, die das männliche Kind durch die Überwindung der „ödipalen Phase" erlangt?423 Gerade die Stabsoffiziersprüfungen, die parallel zu dem unglücklichen Verlauf des Verhältnisses mit der Hofrätin liegen, versinnbildlichen die „Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil"424 in der Auseinandersetzung mit den Geschlechtsgenossen, durch die das Kind seine bleibende Geschlechtsrolle annimmt. Mit Sandeks Scheitern an diesen männlichen Reifeprüfungen geht die Ausbildung krankhafter Symptome einher, die Freud als Konsequenz eines gescheiterten Reifungsprozesses ausmacht425: In der Ahnung, es werde sich „nicht gut gestalten" (26,12), teilt der Ich-Erzähler über den Schluß seiner Unterredung mit Sandek mit, daß dieser „lallte" (25,33), und „körperlich [...] gebrochen" (26,14) schien mit unsicherem Gang und Händen „kraftlos und zittrig" (26,15). Zusammen mit dem „Anfall von Tobsucht" (27,39f.)426, von dem Oberst 423

Vgl. Hoffmann-Hochapfel, S.44-48. Die Ü b e r w i n d u n g des regulär auftretenden Komplexes vollziehe sich in der Einsicht des Kindes in die Unmöglichkeit seines Wunsches, den entsprechenden Elternteil für sich zu haben und den anderen aus dem Weg zu räumen, liest man in zeitgenössischer Fachliteratur. Diese Resignation - die mit der etwa gleichzeitigen Bildung der Gewissensinstanz des „Über-Ich" einhergehe, führe im 6.-8. Lebensjahr zur Überwindung der „ödipalen Phase" (vom 4. bis 6. Lebensjahr), heißt es hier. Darauf folge die „Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil", durch die das Kind seine bleibende Geschlechtsrolle annehme, die in der Pubertät als erneuter Entwicklungsschub in der Auseinandersetzung mit den Geschlechtsgenossen gefestigt werde. Gelinge die Überwindung der „ödipalen Phase" nicht, dann entwickle sich eine Neurose (S.264), wie das von Freud zitierte Beispiel eines jungen Mannes, der wegen der Zwangsneurose, er bringe die Passanten auf der Straße um, das Haus nicht mehr habe verlassen können (s. Freud: Werke II, S.264. s. Anm. 401). 424 Hoffmann-Hochapfel, S.44. 425 Vgl. Freud: Werke II, S.264 (s. Anm. 401). 426 Vgl. Ebner-Eschenbach: Tb. II (s. Anm. 26): Derartige „Anfälle von Tobsucht" kannte Saar von sich selbst; sie hatten indes mit dem hysterischen Anfall nichts gemein (vgl. auch RoCek, S.533). So notierte Marie von Ebner-Eschenbach über einen Besuch des Autors (3. März 1875): „[...] Nachm: Pachler. Joh: Ebner.

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Wernhart berichtet, erfüllen diese Beobachtungen vollständig die Symptomatik einer Freud'sehen „Konversionshysterie" - der „Umsetzung eines nichtbewußtseinsfähigen Konfliktes (,Komplex'), der verdrängt werden muß, in die körperliche Symptombildung, also die Lähmung, den Anfall"427. Freud bezeichnet den Anfall als „Koitusäquivalent"428, das hier offenbar „im Dienste der primären Tendenz, als Ausdruck der ,Flucht in die Krankheit'" auftritt, „wenn die Wirklichkeit peinlich oder schreckhaft" wird429. Dabei werde - so Freud - die kindliche Erfüllung des Wunsches nach der Vereinigung mit der Mutter wiederbelebt, wie es psychisch offenbar in der Verbindung mit der Hofrätin stattgefunden hat. Damit repräsentiert der Anfall auch das Sexualleben Sandeks. Als Frauenkrankheit aus der Antike tradiert430, erscheinen hysterische Symptome bis in das 19. Jahrhundert in der Literatur vor allem bei weiblichen Helden431. Einzig in Hamlet meinte Freud einen typischen Wilhelm, Sephine, Saar, Zweigelt. Saar hatte einmal wieder einen Anfall von Verfolgungswahn, raste im Zimmer herum und misshandelte die Meubel; daß Moritz ihn einmal ums andere ermahnte: Aber Saar! Saar, meine Sessel! half garnichts. [...]". 427 Bräutigam, S.114f: Noch in der modernen psychologischen Fachliteratur heißt es, diese Symptome brächten „in symbolischer Weise den verdrängten Konflikt zur Darstellung: so der große hysterische Anfall die verdeckte sexuelle Hingabe." (S. 115) Selbst die Definitionen des typischen Hysterikers treffen auf frappierende Weise die Figur Sandeks: „Die Persönlichkeit des Menschen mit hysterischen Symptomen hat stets i n f a n t i l e und n a r z i s t i s c h e Züge. Sie sind i n t e l l e k t u e l l meist e i n f a c h . " (S. 116). 428 Ebd. S.203. 429 Ebd. S.201. 430 Dies geht auf den Namen der Krankheit aus lat. (ursprüngl. gnech.) hystericus „an der Gebärmutter leidend" (s. Basler-Kirkness, Bd.Ill, S.277) zurück, denn die typischen Anfälle, Lähmungen und Schmerzzustände wurden seit der griechischen Zeit nur bei Frauen festgestellt und deren Zentrum so in den Gebärmutterbereich gelegt. Erst im letzten Jahrhundert wurde u.a. durch Freud herausgefunden, daß auch bei Männern hysterische Symptombildungen nachzuweisen sind. Einen hysterischen Anfall erleidet auch Elsa Röber in der Geschichte eines Wienerkindes, woraufhin nach einem „Doktor Breuer" geschickt wird und Frau von Ramberg bekundet: „Ich halte das ganze für den Beginn einer höchst traurigen Frauenkrankheit." (SW 9,271) 431 Hier sei im Zusammenhang mit den französischen Romanen, aus denen Sandek die Gründe für die Hingabe ohne Liebe kennen solle (vgl. 19,21f), vor allem auf Madame Bovary und ihr spanisches Pendant Die Präsidentin hingewiesen. (Es handelt sich um den 1885 unter dem Titel La Regenta in Barcelona erschienen Roman von Leopolde Alas, der sich darin nannte (darin [Leopoldo Alas): Die Präsidentin. Übersetzt v. Egon Hartmann. 3.Aufl., Frankfurt a. M. 1986). Die Geschichte der Frau eines betagten Gerichtspräsidenten, die in einer spanischen Provinzstadt zu ersticken droht und durch das Kokettieren mit dem geistlichen

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Hysteriker zu erkennen432. Daß auch Sandek hysterische Symptome aufweist, die selbst den heutigen klinischen Forschungsstand widerspiegeln, deutet ein weiteres Mal auf die schon erwähnten Parallelen zu Hamlet hin und wirft überdies die Frage auf, in wie weit Saar den psychiatrischen Forschungsstand seiner Zeit verfolgte. Im Vortrag Zur Ätiologie der Hysterie (1896) äußert Freud, „daß die Symptome der Hysterie [...] ihre Determinierung von gewissen traumatisch wirksamen Erlebnissen des Kranken herleiten, als deren Erinnerungssymbole sie im psychischen Leben desselben reproduziert werden"433. Die „traumatische Kraft", die jenen Erlebnissen ihre „determinierende Eignung"434 zur Ausbildung hysterischer Symptome Versucher, dem Generalvikar, und dem weltlichen Verfuhrer von Vetusta, das mit dem Duelltod des Gatten endet, ihrem eintönigen Leben zu entrinnen sucht, trägt starke Züge der 1856 in der Revue de Paris erschienenen Madame Bovary.) Emma Bovary legt hysterische körperliche Reaktionen an den Tag („On versa du vin de champagne a la glace. Emma frissonna de toute sä peau en sentant ce froid dans sä bouche." S.82; sobald es Frühling wird, heißt es: „Elle sentait des etouffements aux premieres chaleurs." S.95; wenn sie erregt ist, erfahren wir: „Sa gorge haletait a coups rapides." S.226) und erlebt in einer früheren Fassung beim Zusammentreffen mit Rodolphe beinahe einen hysterischen Anfall („[...] Flaubert avait ecrit, dans une premiere version: ,Ce n'etait pas la marche ou le poids de son vetement qui la faisait haleter, mais une etrange angoisse de tout son etre, comme si une attaque de nerfs lui allait venir.'" Didier, S.16f). Die Präsidentin entwickelt eine Migräne aufgrund ihrer Lebensumstände („Die Wahrheit war, daß ihre Gedanken [...] unbewußt geheime Beziehungen zwischen den Dingen suchten, und sie empfand für alles eine melancholische Liebe, aus der schließlich eine heftige Migräne wurde." darin, S. 101) und hat Pulsstörungen bei dem Gedanken an die Beichte beim Generalvikar („Ein Schauer überlief sie, und überrascht merkte sie, daß sie die Zähne zusammenbiß und sogar einen dumpfen Schmerz verspürte. Sie strich sich mit einer Hand über die Stirn, fühlte den Puls und hielt sich dann die Finger beider Hände vor die Augen. Das war ihre Art zu prüfen, ob sie noch sehen konnte. Sie beruhigte sich. Es war nichts. Am besten wäre es, nicht daran zu denken, dachte sie. Generalbeichte!" Clarin, S.63). 432 Freud: Werke II. S.268: „[...] wenn jemand Hamlet einen Hysteriker nennen will, kann ich es nur als Folgerung aus meiner Deutung anerkennen." (s. Anm. 401). Freud hat seine Hysterie-Theorien in verschiedenen Schriften dargestellt, die erst nach Saars Tod erschienen, u.a. in den Studien Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität (1908), Allgemeines über den hysterischen Anfall (1908), und Hemmung, Symptom und Angst (1926; Freud: Werke VI, S.188, S. 198, S.229). Allerdings studierte er das Phänomen schon vor der Jahrhundertwende. In der zusammen mit Breuer verfaßten Vorläufigen Mitteilung (1893) zu den Studien über Hysterie hatte er sich bereits zu dem hysterischen Anfall und der Konversion geäußert; auch im Vortrag Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene (1893; Freud: Werke VI, S. 11) kommt er auf den hysterischen Anfall und dessen Folgen zu sprechen. 433 Ebd. S.54f. 434 Ebd. S.55.

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verleiht, hat Freud im Vortrag Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene (1893) dargelegt. Dort heißt es: Dieses Trauma muß gewisse Bedingungen erfüllen; es muß schwer sein, d.h. von der Art, daß die Vorstellung einer Lebensgefahr, der Bedrohung der Existenz damit verbunden ist, es darf aber nicht so schwer sein in dem Sinne, daß die psychische Tätigkeit dabei aufhört; sonst entfällt der Effekt [...].435

Eine derartige traumatische Erfahrung bildet möglicherweise den Hintergrund zur zentralen Frage Sandeks, ob sich eine Frau „ohne Liebe" (18,4) hingeben und in seinen Armen an einen Anderen denken könne. Seine Nervosität bei der Unterredung, besonders aber die Auswirkungen dieses Traumas auf seine militärische Laufbahn unterstreichen die große Bedrohung, die davon ausgeht. Zunächst grübelt Sandek über diesen „Rätselabgrund" (23,17) nach seine psychische Tätigkeit wurde folglich durch das Trauma - bis zum Ende der Unterredung beim Ich-Erzähler - nicht außer Kraft gesetzt. Es treten jedoch mit dem ,Lallen' und dem ,unsicheren Gang' die typischen Kontrakturen - Lähmungen der Motorik und Sprachstörungen - auf, die Freud neben Anorexic und Erbrechen zu den bezeichnenden Folgen traumatischer Erlebnisse zählt436. Sie gehören zur „Regression" auf ein kindliches Stadium, ein Ausweichen „vor dem unlustvollen Impuls [...] auf eine Wiederbelebung früherer Entwicklungsstufen"437. Diese „Abwehrmechanismen"438 dienen nach Freud dem Ziel, den eigentlichen Konflikt unbewußt zu machen. In diesem Sinne wehrt Sandek die Ermahnungen des Ich-Erzählers ab mit einem lakonischen ,„Ja, ja, [...] du hast recht, du hast recht... Aber [...] es ist Zeit, daß ich gehe'" (26,8ff). Weder läßt er sich auf die Herausforderung eines direkten Vergleichs mit dem Schriftsteller ein, noch ist er zum Dulden und zu Zurückhaltung bereit. Die Reifungsanforderung, den kindlichen Anspruch auf die ,Mutterfigur' der Hofrätin abzutreten - Voraussetzung für die Überwindung des Traumas -, beantwortet er mit der Weigerung jeder Einsicht in eigene „Verschuldungen" (25,32). Statt dessen folgt die hysterische Rückentwicklung auf das physiologische Niveau eines Kindes. Die „Gehirnlähmung" (28,20) - als hysterisches Symptom, das den Stillstand der psychischen Tätigkeit sinnbildlich verkörpert - und der Tod durch psychische Paralyse werden zu literarischen Sinnbildern des klinischen

435

Ebd. S. 14. Ebd. S.17-19. 437 Hoffmann-Hochapfel, S.55. 438 Ebd. S.56. 436

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Phänomens. Die Paralyse ist Gipfel der psychischen Rückentwicklung; der Tod kehrt sich in die Geburt439. Wichtiger Motor für Sandeks hysterischen Anfall, dem die geistige Paralyse folgt, ist auch seine extreme, quälende Eifersucht auf den Schriftsteller440. Die daraus resultierende Nervosität und Unsicherheit folgt der Saar 'sehen - oftmals umformulierten441 - Definition im Brauer von Habrovan, die auch Frauenlob (Geschichte eines Wienerkindes, SW 9,236) im Zusammenhang mit Röber nennt: „Man fordert in der Regel Beweise und erkennt nicht, daß die Eifersucht an sich schon der triftigste Beweis ist. Sie entspringt einem Mangel an Selbstgefühl, herbeigeführt durch das mehr oder minder deutliche Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit einer geliebten Person gegenüber. Daher das beständige Mißtrauen, der stets lauernde Verdacht - ein höchst qualvoller Zustand, der bei Individuen von schwächerer Gehirntextur schließlich zur Raserei führen kann." (SW l

Zur Deutung des Motivs der „Gehirnlähmung" (28,20) muß auch die medizinische Lehre um die Jahrhundertwende beachtet werden, die Einfluß auf Saar hatte. Parallelen in seinem Werk lassen gerade im Zusammenhang mit dem Brauer von Habrovan den Blick auf den Anatomieprofessor Josef Hyrtl fallen. Denn schon am Brauer konnte Saars Sympathie für dessen Kritik am wissenschaftlichen Materialismus ge-

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Im Jahr der Entstehung Hymens (1905) notiert die 6. Auflage von Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 7, S.478: „G e h i r n l ä h m u n g, Aufhebung der Gehirnfunktionen, die unter anderem Aufhören der Herztätigkeit und der Atmung bedingt, so daß sofort der Tod eintritt." Einen derartigen Gehirnschlag hatte auch Stadier in der Geschichte eines Wienerkindes erlitten, nachdem ihn seine Frau Elsa verlassen hatte (SW 9,224f.). '"«'Zur Eifersucht bei Saar vgl. auch: Theobald, S.88f. 441 Vgl. FS, S.298, Z.olff. 442 Die Eifersucht auf den Nebenbuhler führt in der Literatur nicht immer zum Bewußtseinsverlust, wie er sich in der „Gehirnlähmung" vollzieht. Etwa Pozdnysev in Tolstojs Kreutzersonate (Leo N. Tolstoj: Die Kreutzersonate. Übersetzt v. August Scholz. Berlin 1946 [zitiert Tolstoj: Kreutzersonate]) ersticht aus Eifersucht, aber bei vollem Bewußtsein seine Frau. Sein verhaßter Nebenbuhler zeigt Ähnlichkeit mit Sandek, dessen „weibisch gepflegte weiße Hand" (17,20) der IchErzähler erwähnt. Denn auch Vasilij Pozdnysev drückt mit „ausnehmender Freundlichkeit" die „weiße, weiche Hand" s e i n e s Nebenbuhlers, als er ihn in seinem Hause vorfindet. Ähnlich wie Sandek wird auch dieser Nebenbuhler als weichlicher ,Beau' beschrieben, der einen „modernen, geckenhaften Mantel" (S.245) trägt und bei Pozdnysev eine gewisse Abscheu erregt. Im Hinblick auf Saars Verehrung für die russische Literatur ist durchaus denkbar, daß er bewußt die Parallelen herausstrich. An Nelly Gomperz schrieb Saar am 11.8.1898: „Ja, die Russen können leicht schreiben, wenn sie Talent haben. Ihr Land, ihr Volk hat ,Schicksale', die der Darstellung werth sind." (BrW 38). 226

zeigt werden443. Hyrtls Inaugurationsrede Die materialistische Weltanschauung unserer Zeit hat auch für die Symptomatik der „Gehirnlähmung" Bedeutung. Denn das Gehirn, das „keine der Beobachtung zugängliche materielle Tätigkeit aufbringend [...] eine innere Wirksamkeit [hat], die wir mit unserer sinnlichen Anschauung nicht erreichen"444, spiegelt bei Hyrtl die Einheit von Körper und Seele: Sie [die Pathologie] hat nur gezeigt, daß es kein Organ im Gehirne gibt, dessen Erkrankung nicht mit Geistesstörung einhergehen könnte, aber auch keines, bei dessen physischem Leiden die Seele nicht unberührt geblieben wäre. Sie hat gezeigt, daß bei Geisteskranken materielle Hirnstörungen um so auffallender hervortreten, wenn mit der Geisteskrankheit auch körperliche Leiden, Paralysen, Krämpfe, Atrophien vergesellschaftet waren l...].445

Sandeks Leiden, das sich auch als körperliches Gebrechen durch unsicheren Gang und Lallen offenbart, steht folglich im Zusammenhang mit einer geistigen, seelischen Fehlentwicklung. Der hysterische Anfall sowie das Symptom einer „rasch fortschreitenden Paralyse" (28,4) bilden die äußere Form seines seelischen Leidens, das physische Erscheinungsbild der psychischen Regression, über deren Zusammenspiel Hyrtl sagt: Die Rückwirkungen geistiger Zustände auf den Körper sind nicht weniger auffallend, als die von den Materialisten ausschließlich hervorgehobenen Geistesverstimmungen durch körperliche Einflüsse. Furcht und Erregung, Sehnsucht und Schreck, jede tiefe Erregung des Gefühls äußern auf die biologischen Bedingungen des kranken und gesunden Organismus den offenkundigsten Einfluß.446

Mit der Zeugung eines Kindes von Sandek und der Hofrätin wird dieser psychische Komplex in die nächste Generation getragen. Die auffallende Ähnlichkeit der Tochter mit Sandek veranschaulicht ihr seelisches Erbe. Hier stellt sich die Frage, ob Saar der Meinung war, daß psychische Eigenschaften ebenso vererbt würden wie physiologische Merkmale. Freud hatte die These Charcots, die Heredität als eigentliche Ursache der Hysterie aufzufassen, bereits 1896 im Vortrag Zur Ätiologie der Hysterie verworfen447. Auch Saar scheint nicht im Sinne Charcots gedacht zu haben, da er ja die Möglichkeit offenhielt, die psychische Kausalkette zu unterbrechen, wie es Sandeks Tochter mit ihrer Ent-

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Polheim: Erzählkunst, S.24ff. Hyrtl, S.13. 445 Ebd. S.24. 446 Ebd. S.23f. 447 Ebd. S.53.

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Scheidung gegen neue Beziehungen und zugunsten ihres Sohnes tut448. So kann in Hymen die Weitergabe der psychischen Komplexe nicht genetisch, sondern nur durch ihre soziale Umgebung veranlaßt sein. Vielmehr hat Saar mit der sozial determinierten Übertragung psychischer Zusammenhänge in die nächste Generation die zwangsläufige Wiederholung sozialer ,Genogramme' - der immer wieder gleichen Choreographie der Familienmitglieder und deren Geschlechtspartner über Generationen hin - treffend dargestellt. Durch die Weitergabe ungelöster Problemkomplexe an die Nachfahren offenbart sich auch die Richtigkeit des Satzes, Jedes Unrecht muß früher oder später im Leben abgebüßt werden" (25,37f). Als ob bildlich ein ,Stück Schuld' erhalten geblieben und noch nicht gesühnt sei, wiederholt sich der Konflikt in der nächsten Generation449. Denn Sandeks ,Flucht' vor dem Abbüßen der Schuld - der Überwindung des ödipalen Verhältnisses - in die hysterische Regression bis hin zur ,Gehirnlähmung' taugt nicht zur Lösung des ödipalen Konfliktes, der im

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Aus heutiger Perspektive könnte argumentiert werden, daß gerade die Aufzucht ohne den Vater dazu führe, daß das männliche Kind auf seine Mutter fixiert werde und später einen Hang zu Mutterfiguren entwickeln werde. Denn der fünfjährige Sohn von Sandeks Tochter ist genau in dem Alter, nämlich dem „6. oder 7. Lebensjahr", in dem sich „das Über-Ich, also die Gewissensinstanz, infolge dieser Identifizierungen [mit dem Vater] endgültig strukturiert" (Hoffmann-Hochapfel, S.44). Moderne Lehrbücher benennen diese Konstellation als typische Voraussetzung für das Mißlingen der Überwindung der ödipalen Phase: „Eine typische pathogene Fixierung ödipaler Art resultiert z. B. beim Mann, wenn die [...] eindringende, dem Kind keinen Freiraum lassende Mutter mit einem schwachen, submissiven Ehemann verheiratet ist, wie häufig der Fall ist. Das männliche Kind hat hier keine Möglichkeit, dem Zugriff der Mutter durch Identifizierung mit dem Vater zu entgehen. Die Identitätsübernahme vom Vater gäbe dem Jungen eine Chance, sich gegenüber der Mutter abzugrenzen, sich ihr innerlich zu widersetzen. So ist er darauf angewiesen, sich ganz oder teilweise mit der stärkeren Mutter zu identifizieren, was dann im Leben zu weiteren Problemen führt." (HoffmannHochapfel, S.46). Wäre eine derartige Wendung des Geschehens in Hymen gemeint, indem der Enkel in die , Fußstapfen' Sandeks tritt, dann ließe sich eine Wiederholung ad infinitum annehmen. Saar macht aber das Verhalten Sandeks in keiner Weise etwa von dessen Kindheit abhängig, sondern spart diesen Komplex vollständig aus. Zu viele Hinweise deuten hingegen auf den Bruch mit dem zentralen Konflikt durch das Entsagen der Tochter am Schluß der Erzählung. Dazu kommt, daß Freud, dessen Forschungen über den „Ödipuskomplex" hier die Referenz bilden, die Ausbildung einer Neurose durch die unüberwundene ödipale Phase nicht von der Alleinerziehung durch die Mutter herleitet, sondern gerade von der störenden Vaterfigur für die Libido des männlichen Kindes ausgeht. 449 Das Konfigurationsschema trägt dieser Beobachtung Rechnung, indem der Konflikt der Tochter analog zum Konflikt der Hofrätin angeordnet ist, wobei Sandek die Verbindung herstellt (s. IV. 1.a.). 228

Gegenteil durch die Zeugung der Tochter erhalten bleibt450. Mit der ,Flucht' aber, der Verweigerung des seelischen Reifungsprozesses, wird die geistige Paralyse provoziert. Sandeks Ende ist damit „selbst herbeigeführt" (25,29f.), und er wird zum §, der an seiner eigenverursachten ,Entjungferung' zerbricht.

b. Die mythologischen Motive Von der Bedeutung des antiken Hochzeitsgottes und seinem Mythos ist bereits ausführlich die Rede gewesen (s. IV. 1.a.; IV.2.a., c.; IV.S.a.). Neben dieser Figur und ihrem Schicksal begleiten noch weitere literarische und mythologische Motive das Geschehen in Hymen. Als der abtrünnige Schriftsteller nach mißglücktem Heiratsversuch zur Hofrätin zurückkehrt, leidet er an der Leber. Dieses Leiden und die Rückkehr „in etwas schadhaftem Zustande" (30,23) wird vom Trivialschriftsteller beinahe als Bestrafung für die ,Eskapade' mit der Schauspielerin dargestellt. Mit der Bemerkung, seine Leber sei dabei, „ganz und gar einzutrocknen" (30,24f), kommt durch die „blauäugige Undine" (30,19) ein weiteres Sagen-Motiv hinzu. Die Sagengestalt Undine aus de la Motte Fouques gleichnamiger Erzählung verschwindet in den Donaufluten, als ihr Gemahl Ritter Huldbrand sie bei einer Schiffahrt als „Gauklerin" beleidigt451. Und auch hier ist eine andere Frau im Spiel, die Widersacherin Bertalda452. Ihre Goldkette, welche die Wasserwesen raubten, verleitet Huldbrand zu den schicksalhaften Verwünschungen. Anstelle einer Beleidigung löst in Hymen der Versuch des Schriftstellers, die Schauspielerin aus ihrer Umgebung herauszulösen - er wollte sie „vom Theater wegheiraten" (30,19f.) - die Strafe aus. Die „blauäugige Undine" (30,19) blieb jedoch ihrem ,Element' treu und „hatte bald darauf dennoch geheiratet. Einen damals sehr berühmten 450

Vgl. Charue: Determinismus, S.244: Auch hier wird daraufhingewiesen, daß Saar offensichtlich das Motiv der Vererbung einsetzt, um die Vorbestimmtheit der Existenz darzustellen. Die Amethystaugen Sandeks, die der Ich-Erzähler bei dessen Tochter wiederentdecke, seien dafür ein Beispiel: Die Kette Sandek, Ablehnung seiner Tochter durch die Hofrätin, die frühe Heirat der Tochter, ihre Neigung zum Modegelehrten und Entsagung zugunsten ihres Sohnes sei durch die vererbten Augen angedeutet (vgl. auch III.4.). 451 Friedrich de la Motte Fouque: Undine. Stuttgart 1991 [zitiert Fouque], S.81: „So hast du denn immer Verbindung mit ihnen? Bleib bei ihnen in aller Hexen Namen mit all deinen Geschenken und laß uns Menschen zufrieden, Gauklerin du!" 452 Ebd. S.87: Huldbrand wird von der verstoßenen Undine hingerichtet, weil er obgleich mit Undine vermählt - Bertalda heiraten will.

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Bühnendichter" (31,18f.). Die Strafe der vertrocknenden Leber erleidet der „schwarzgallige Lessing" (30,19)453 - wie oft bei Saar - in Umkehrung des Motivs aus der Erzählung Undine, in der die Wasserfee den untreuen Ehemann in liebevoller Umarmung in ihrer Tränenflüssigkeit ertränkt454, wie das Gesetz der Wasserwesen es ihr befahl455. Es scheint, als erhielten sowohl der Schriftsteller als auch Sandek, denen die blonde Tochter „gewissermaßen ihr Dasein verdankt" (31,16), mit dem Leberschaden und der ,Gehirnlähmung' drakonische Strafen für ihre Liebschaften mit der durchgehend bestimmenden Hofrätin. Diese erscheint auch in der Gestalt der Medea, deren Mord an ihren Kindern der junge Sandek nicht verstehen konnte. Dabei ist seine Frage, „warum Medea statt ihrer Kinder nicht lieber den Jason oder die Kreusa umgebracht habe?" (19,llf.) schon vom Ansatz her falsch. Denn Medea tötet ebenso wie in der Fassung des Euripides456 auch bei Grillparzer457 Kreusa durch verwunschene Geschenke. Ihr geht es vor allem darum, am abtrünnigen Mann Rache zu üben, indem sie ihn isoliert und unglücklich zurückläßt. Dafür ist ihr selbst der Tod der eigenen Kinder recht, die sie eigenhändig erdolcht458. Das Leid, das sie Jason zufügen 433

Vgl. Meyer, Bd.7, S.266; Brockhaus, Bd.6, S. 182: Die Eigenschaft „schwarzgallig" bezieht sich auch auf den schlechten Gesundheitszustand des Schriftstellers. Dies geht auf den römischen Arzt Galenus (129-199) zurück, der die Lehre der vier Körpersäfte aufgestellt hat, von denen die schwarze Galle eine sei. Nach Galenus gehen Krankheiten darauf zurück, daß das Verhältnis dieser Körpersäfte gestört wird. „Schwarze Galle" wurde auch als Ursache für Melancholie gesehen, was zur Rückkehr zur Hofrätin paßt. Als Kritiker und Essayist mag der Schriftsteller, der für seine „scharfen Theaterkritiken" (16,32) bekannt war, dem Trivialschriftsteller auch ,gallig', d. h. ,bösartig' vorgekommen sein. 454 Fouque, S.92: „Die Tränen drangen in des Ritters Augen und wogten im lieblichen Wehe durch seine Brust, bis ihm endlich der Atem entging und er aus den schönen Armen als ein Leichnam sanft auf die Kissen des Ruhebettes zurücksank. ,Ich habe ihn totgeweint!' sagte sie zu einigen Dienern [...]." (s. Anm. 451). 455 Ebd. S.87: Kühlebora rät in Huldbrands Traum: „Und doch, Nichte, seid ihr unseren Elementargesetzen unterworfen, und doch müßt ihr ihn richtend ums Leben bringen, dafern er sich wieder verehelicht und euch untreu wird." 456 Euripides. Medea. Übersetzt v. J.J.C. Donner. Stuttgart 1991 [zitiert: Euripides], S.47, Z.1141. 457 Franz Grillparzer: Medea. Trauerspiel in fünf Akten. Stuttgart 1990 [zitiert Grillparzer], S.70, Z.2154. 458 Euripides, S.53, Z.1328ff: ,^iedea: Du durftest nicht, nachdem du meinen Bund entehrt, / Ein wonnig Leben führen und hohnlachen mir; / Nicht ungestraft aus diesem Lande durfte mich / Die Fürstin treiben oder der sie dir vermählt. / So nenne mich denn Löwin, wenn es dir beliebt, / Und Sylla, wohnend im Geklüft Tyrrhenias! / Getroffen hab ich nach Gebühr dein falsches Herz. / Jason: Und trauerst selbst auch, hast an meinem Leide teil. / Medea: Doch lindert es den Kummer, lachst d u meiner nicht." (s. Anm. 456). 230

will, liegt darin, daß er sein Leben lang trauern soll als Buße für das Unrecht, durch das sich Medea gedemütigt sieht. Jason soll deshalb selbst am Leben bleiben und nicht durch den Tod von Leid und Buße befreit werden459. So wenig Sandek diese Bestrafung Jasons zu verstehen vermochte, so wenig kann er die Qualen durch die Beziehung mit der Hofrätin als „Sühne früherer Verschuldungen" (25,32) auffassen460. Vor allem ist es ihm unmöglich zu verstehen, daß die Hofrätin ihre Rache für die Abtrünnigkeit des Schriftstellers an i h m vollzieht. 459

Diesen Aspekt hat besonders Grillparzer herausgestrichen (S.78, Z.2373): „Jason: Verwaist! Allein! O meine Kinder! / Medea: Trage! / Jason: Verloren! / Medea: Dulde! l Jason: Könnt ich sterben! l Medea: Büße!" (s. Anm. 457). 460 Das vielleicht grellste mythologische Urbild für die Sühne begangener Verbrechen bildet die Selbstblendung des Ödipus. (Sophokles: König Ödipus. Übersetzt v. Kurt Steinmann. Stuttgart 1989 [zitiert Sophokles: König Ödipus]; Sophokles: Oidipus auf Kolonos. Übersetzt v. Ernst Buschor. Stuttgart 1990 [zitiert Sophokles: Oidipus auf Kolonos].) Mit der Ermordung des Vaters und der Heirat der Mutter hatte Ödipus - freilich in unwillkürlicher Erfüllung des allmächtigen Orakelspruches - den „uralten Traumstoff' realisiert, den Freud als archaisches, kollektives Erbe einstuft (Freud: Werke H. S.267, s. Anm. 401; vgl. IV.S.a.). Die Sühne durch Selbstblendung führt aber zur Überwindung des „Ödipusverhältnisses" und erlaubt Ödipus, im Hain der Erinnyen entrückt zu werden (s. Gustav Schwab: Die Sage von Ödipus. In: (Ders.): Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. München, Zürich 1967. S. 170-186). Dazu kann das Geheimnis des Himmelfahrtsortes an Theseus weitergegeben werden, zum Schutz vor „Thebens Saat", die dem Götterfluch unterliegt (Ebd. S. 185: Ödipus antwortet seinem Sohn Polyneikes, der seine Hilfe für die Erkämpfung des Thrones gegen seinen Bruder sucht: „Auch harrt eurer schon der Götter Rache. Du wirst deine Vaterstadt nicht tilgen; in deinem Blute wirst du liegen und dein Bruder in seinem."): „Und sind wir dort allein, so lehr ich dich / Geheimen Brauch, den keine Zunge nennt; /[...]/ Bewahr ihn ganz für dich, und wenn das Ziel / Des Lebens naht, gib deinem Ältesten / Die Kunde, die er sterbend weitergibt; / Nur so wird niemals dieses Land bedroht / Von Thebens Saat [...]." (Sophokles: Oidipus auf Kolonos, S.73). Das Sühnemotiv erscheint hier sinnbildlich als ,Aussöhnung mit der Welt', als Vereinigung mit,Mutter Erde', denn „die Erde tat sich auf und nahm ihn sanft in ihren Schoß" (Ebd. S.77), wo Ödipus - in übertragener Hinsicht - wieder sehen kann, da er den Weg in die Erdspalte allein geht: „Dies ist es, was man hier bestaunen muß. / Denn als er euch verließ, da hat ihn ja - / Du weißt es selber keine Hand geführt, / Nein, ganz allein ging er voran." (Ebd. S.75). Dieses milde Ende hebt seine Qualen auf und söhnt ihn mit den Göttern aus: „Ganz ohne Qual und Krankheit ward der Mann / Entrückt und wunderbar wie nie ein Mensch [...]." (Ebd. S.77). Dieses geht darauf zurück, „daß die Götter erkannten, daß Ödipus wider seinen Willen sich gegen die Natur und die heiligen Gesetze der Menschengesellschaft versündigt hatte. Gebüßt mußte so ein schweres Verbrechen freilich werden, wenn es auch unfreiwillig war; aber ewig sollte die Strafe nicht währen." (Schwab: Ödipus, S. 179, s. Anm. 460). Die Selbstblendung nimmt direkten Bezug auf das Verbrechen - Ödipus blendet sich mit den Spangen von lokastes Gewand - weil er sein Unheil nicht mehr sehen will. Erst diese Sühne befreit aus der ödipalen Schuld (vgl. Sophokles: König Ödipus, S.56, Z. 1269). 231

Bei diesem Racheakt wird die Tochter gezeugt. Sie nimmt die Rolle der Kreusa ein, insofern als auch sie bestraft wird, jedoch nicht - wie in der A/ei/ea-Tragödie - durch Tötung, sondern durch die lebenslange Ablehnung durch ihre Mutter. Damit steht sie zwischen Sandek und der Hofrätin wie das ,goldene Vlies', bei dessen Raub einst Medea Jason half461. Ihr blondes Haar „wie ein goldenes Vlies" (30,4f.) erinnert symbolisch daran. Ihre Entstehung durch einen Racheakt steht auch im Kontrast zum Bild vom „Elfchen aus dem Sommernachtstraum" (30,6). Der „blühende Genzianenzweig" (30,5), den sie bei der Begegnung in der Kur trägt, erinnert nicht nur an den „Kranz aus Gold", der in Feuer aufgeht, sobald Kreusa ihn aufgesetzt hat462, sondern auch an die Wundermittel von Shakespeares Elfen, die zwischen Demetrius, Helena, Lysander und Hermia für Verwirrung sorgen463. Darauf deutet der „Genzian" (= Enzian) hin, der in der Spezies des „Kreuz-Enzians" als Aphrodisiacum verehrt wurde, da seine „Wurzel wie ein weiblich glid zerspalten" sei464. Bei Shakespeares Sommernachtstraum handelt es sich zwar um Stiefmütterchen465, doch bleibt das Bild in seiner Umkehrung erhalten: Während die Elfen mit dem Stiefmütterchen-Extrakt Liebe stiften, ist die Tochter mit dem „Genzianenzweig" (30,5), das Produkt der Eitelkeit und Rachsucht, der Bosheit und des Zynismus'. Mit dem Bild von Mutter und Tochter mit ihren kontrastierenden Haarfarben kommt die Schuld-Unschuld-Thematik hinzu: Während die Haare der Hofrätin „wie ein dunkler Mantel" (30,3) aussehen und an den „Theatermantel" (25,1) erinnern, den sie beim schicksalhaften Besuch bei Sandek trägt, scheinen die Haare der Tochter „von hellem Blond" ihre Unschuld an dem Konflikt um ihre Entstehung zu versinn461

Euripides, S.21, Z.473ff: ,Jtf.edea: Den Drachen, der in vielgewundenen Ringen sich / Ums goldne Vlies wand und schlaflos hütete, / Erschlug ich; also strahlte dir des Heiles Licht." (s. Anm. 456). 462 Euripides, S.47, Z.lloOf: „(Bote:) Der goldne Kranz um ihre Schläfe wunderbar! -, / Er strömte Feuer aus, ein allverzehrendes [...]." (s. Anm. 456). 463 Shakespeare: Sommernachtstraum, S. 19: Mit einem ,Liebesbalsam' sorgen die Elfen für Verwirrung: „Oberen: [...] Doch merkt' ich auf den Pfeil wohin er fiele. / Er fiel gen Westen auf ein zartes Blümchen, / Sonst milchweiß, purpurn nun durch Amors Wunde, / Und Mädchen nennen's: Lieb' im Müßiggang, l Hol mir die Blum'! Ich wies dir einst das Kraut; / Ihr Saft, geträufelt auf entschlafne Wimpern, / Macht Mann und Weib in jede Kreatur, / Die sie zunächst erblicken, toll vergafft; / Hol mir das Kraut; doch komm zurück, bevor / Der Leviathan eine Meile schwimmt." (s. Anm. 296). ^Bächtold-Stäubli, Bd.2, Sp.863. 465 Shakespeare: Sommernachtstraum, Anm. 16: „love in idleness (= Stiefmütterchen)."

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bildlichen. Zwar schreibt Saar auch in anderen Werken von „Gentianen"466, in diesem Zusammenhang scheint der „Genzianenzweig" (30,5) jedoch Bezug auf Robert Hamerlings Gedicht Vor einer Genziane461 zu nehmen. Saar kannte das Gedicht, wie aus seiner Korrespondenz mit Altmann hervorgeht468. In dem Gedicht wird die Schuldfrage des Individuums angesprochen gegenüber der unschuldigen Blume, die „in himmlischer Lebensunschuld die wunderbaren Kronen" wiegt. „Ach, immer wohl drückt Schuld, drückt nagende Selbstanklage die sterbliche Brust", wird geklagt, und am Ende heißt es: „O blicke nicht allzu vorwurfsvoll mich an, du stille Träumerin; ich habe gelebt, ich habe gelitten!" Zwar können mit der Anspielung auf das Gedicht die möglichen Gewissensbisse der Hofrätin kaum gemeint sein, da sie doch bis ins Alter den Eindruck „eisiger Kälte" macht. Doch scheint der „Genzianenzweig" (30,5) die Schuldproblematik aufzugreifen, die sich trefflich in das Bild der (schuldbeladenen) „Lady Macbeth" (30,7) und dem (unschuldigen) „Elfchen aus dem Sommernachtstraum" (30,6) fügt.

Mit dem Aspekt der Strafe und Sühne schließt sich auch der Kreis zur Moderne. Wie Ödipus, der sich selbst blendet, um seine Schuld zu sühnen, durch Freuds Studien Eingang in die moderne Psychologie gefunden hat, ist auch das Medea-Thema noch in der Moderne präsent469. 466

So etwa in Die Steinklopfer, SW 7,123: „Bienen über den Gentianen". Robert Hamerling: Vor einer Genziane (in: Hamerlings sämtliche Werke in 16 Bänden. Hrsg.: Michael Maria Rabenlechner. Leipzig 1900, Bd.4, S.SOf). 1893 hatte Saar gegenüber Moritz Necker beteuert, ,„daß A n z e n g r u b e r , H a m e r l i n g und ich [...] doch zusammengehören, wie die drei Blätter eines Kleeblattes f...]" (Bettelheim: SW 1,186). Im Gedicht heißt es: „Ach, immer wohl drückt Schuld, drückt nagende Selbstanklage / Die sterbliche Brust, und du, Blume, du wiegst / In himmlischer Lebensunschuld / Die wunderbaren Kronen: / Doch blicke nicht allzu vorwurfsvoll mich an! / Sieh, ich hab doch eines voraus vor dir: / Ich habe gelebt: / Ich habe gestrebt, ich habe gerungen, / Ich habe geweint, / Ich habe geliebt, ich habe gehaßt, / Ich habe gehofft, ich habe geschaudert, / Der Stachel der Qual, des Entzückens hat / In meinem Fleische gewühlt, / Alle Schauer des Lebens und des Todes sind / Durch meine Sinne geflutet, / Ich habe mit Engelchören gespielt, ich habe / Gerungen mit Dämonen. / Du ruhst, ein träumendes Kind, / Am Mantelsaum des höchsten... / [...] / O blicke nicht allzu vorwurfsvoll mich an, / Du stille Träumerin; / Ich habe gelebt, ich habe gelitten!" 468 Vgl. BrA, S.28, Brief Altmanns an Saar vom 28.9.1896. 469 Vgl. etwa Heiner Müllers Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (1982) [In: Heiner Müller: Herzstück. Berlin 1983, S.91-101] (Inszenierungen am Schauspielhaus Bochum, am Berliner Ensemble, in Frankfurt a. M. etc.); Christa Wolf: Medea. Stimmen. München 1996. 467

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Und bildet Medea nicht auch das Urbild der strafenden Frau, die in den Werken de Sades und Sacher-Masochs eine späte Renaissance erlebte? Der Masochismus (vgl. IV.2.a.) erscheint in Hymen auch als Form moderner Sühne von mythologischer Dimension. Unter dem masochistisch geprägten Verhältnis von Sandek und der Hofrätin schimmert mythologischer Grund hervor: Denn jener „Rätselabgrund" (23,17), der durch das wechselhafte Verhalten der Hofrätin entsteht, erinnert an ödipus' Kampf mit der Sphinx470, deren Rätsel er zur Befreiung Thebens löst. Und wieder bildet die Überwindung des archaischen Untiers - ein Stoff, der gerade zur Zeit der Entstehung Hymens die Literatur wieder beschäftigte471 - eine männliche Reifungsanforderung, 470

Schwab, S.170ff.: Bezeichnenderweise ist dieses Ungeheuer „vorn wie eine Frau, hinten wie ein Löwe gestaltet". Selber die Tochter der Echidna, einer „schlangengestalteten Nymphe" und „Mutter vieler Ungeheuer" (S. 172), ist dieses furchteinflößende Untier der Inbegriff weiblicher Bedrohung. Auf einem Felsen gelagert, tyrannisiert es die Bewohner von Theben und weicht nicht eher, bis ein kluger Jüngling die Rätsel der Sphinx löst - im anderen Falle werden die Kandidaten zerrissen und gefressen. Dieser Herausforderung stellt sich der fremde ödipus, der ihre Frage nach dem Wesen beantwortet, das „am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig" ist, und antwortet: ,„Dein Rätsel ist der Mensch.'" (S. 173). Darauf stürzt sich die Sphinx „aus Scham und Verzweiflung [...] selbst vom Felsen und zu Tode", und ödipus erhält „zum Lohne das Königreich von Theben und die Hand der Witwe, [...] seine [r] eigene [n] Mutter" (S. 173) (s. Anm. 460). 471 So etwa Hugo von Hofhiannsthal in seinem psychoanalytisch beeinflußten Drama Ödipus und die Sphinx. (Hugo von Hofhiannsthal: Sämtliche Werke, Bde. I-XXX. Hrsg.: Wolfgang Nehring / Klaus E. Bohnenkamp. Frankfurt a. M. 1983, [zitiert Hofmannsthal: Werke I-XXX], Bd.VIII, S.187ff). Schon die 1903 entstandene Elektra wies eine typische hysterische Hauptgestalt auf. Hofhiannsthal - dessen Entwicklung Saar in den 90er Jahren „mit großem Interesse" verfolgte und dessen erstes lyrisches Drama er mit einer Huldigung vorgelegt bekam (vgl. Hirsch, S.274) - schrieb Ödipus und die Sphinx (entstanden 1905-1906, also kurz nach der vorliegenden Erzählung), um „ein modernes mythologisches Stück mit der Tragödie des Sophokles zu verbinden" (Hofhiannsthal: Werke VIII, S.189). Vorlage war ein 1903 in Paris entstandenes Stück von Josephin Peladan Oedipe et le Sphinx, das sich u.a. darin von der antiken Vorlage unterscheidet, daß die Sphinx ödipus verführen will, nachdem das Rätsel gelöst ist; ödipus, der abwinkt, schlägt das Ungeheuer dadurch, daß er sich nicht verführen läßt, und nicht durch die Lösung des Rätsels. Die Enthaltsamkeit macht ihn zum Herrscher von Theben. Im Werk Hofmannsthals findet sich an der Stelle eine andere Nuance: Das Ungeheuer, das Ödipus treffend als „Weib" bezeichnet, hat ihn erwartet und grüßt: „Da bist Du ja, [...] auf den ich gewartet habe, heil Dir ödipus! Heil, der die tiefen Träume träumt" (S. 109). Es versetzt den Helden gerade dadurch in Schrecken, daß es ihn erkennt und auf die unausweichliche Erfüllung seines Traumes hinweist. Vor dieser Schicksalsgewalt weicht das weibliche Untier jedoch selbst zurück in den Abgrund. Die thematische Variation bildet die Überwindung des Ungeheuers durch die Schicksalsgewalt - statt der Rätsellösung. Es

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ähnlich den Abenteuern mittelalterlicher Sagenhelden wie Siegfried, der den Drachen schlägt (vgl. auch IV.S.a.). Sandek hingegen weigert sich geradezu, den „Rätselabgrund" (23,17) - das wechselhafte Verhalten der Hofrätin - zu ergründen, da er nicht bereit ist, den zugrunde liegenden Sachverhalt anzuerkennen (,„Aber das ist ja schändlich!'" [23,27]), die nötigen Konsequenzen zu ziehen (,„Du meinst also, [...] daß ich mich in einen Wettkampf einlassen soll? Mit diesem Skribler!'" [24,3f.]) und die Verantwortung für seine unglückliche Situation zu übernehmen, indem er sein Mißgeschick als Folge eigener Verschuldungen begreift („»Welcher Verschuldungen?'" [25,33]). Damit trägt er die Schuld für sein weiteres Schicksal und wird zum Hymenaios, der sich selbst zerstört. Daß er das Rätsel nicht lösen will, wird durch die Krankheit zum Ausdruck gebracht, an der er stirbt: „Gehirnlähmung" (28,20).

c. Der philosophische Hintergrund Saars Verehrung Arthur Schopenhauers472, den er den „Frankfurter Weltweisen"473 nannte, hat auch in Hymen Niederschlag gefunden. Dies zeigt schon der Kosename der Hofrätin: „Maja" (22,4). Sandek nennt diesen Namen bei der Schilderung seines Zusammentreffens mit dem Schriftsteller im Boudoir der Hofrätin, wo ihre Wangen, die „fleckig gerötet" (22,16) sind, zwar ihre Liebe zum Schriftsteller verraten, die Hofrätin diese aber verleugnet und angibt, er sei ein „alter Bekannter" (23,9), der gedenke „zu heiraten" (23,10). Die handelt sich hier also weniger um die männliche Reifung, die Überwindung der ödipalen Phase, sondern um die Unentrinnbarkeit des geträumten Schicksals, da ödipus nach der Überwindung der Sphinx seine eigene Mutter heiratet; bzw.: Die Lösung des Orakels und des Rätsels um den Tod des Königs Laios ist ödipus selbst, der, nachdem er sein Schicksal erkannt hat, durch Kreons Hand sterben möchte. Kreon aber weicht vor der Macht des Orakels aus Furcht zurück: „Du bist der Sieger, ödipus, du bist / der Sieger, König bist du jetzt in Theben! / [ . . . ] / Du bist ein Gott! es schwebte / der ungeheure Blitz aus blauer Nacht / hernieder wie ein goldner Adler hinter dir!" (S. 11 Of). 472 Die Werke Schopenhauers werden zitiert nach: Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Bd. 2: Die Welt als Wille und Vorstellung (Bd. I); Bd. 4: Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik. Hg. v. Arthur Hübscher. 3.Aufl., Wiesbaden 1972, [zitiert Schopenhauer: W I; Schopenhauer: E]. 473 Vgl. Polheim: Erzählkunst, S.26 (dort auch Anm. 51). Zur Bedeutung Schopenhauers im Werke Saars s. auch Kopp, Gierlich, Haberland, Stuben, Kaiser sowie die Arbeiten von Feiner, Krischker, Prescher und Waitz.

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Unsicherheit, in die sie Sandek stößt, spricht deutlich aus ihrer harschen Erklärung ,„Sie wissen, daß ich Sie liebe.'" (23.11). Für dieses , Versteckspiel' steht der Name „Maja", der in den ältesten heiligen Schriften der Inder, den Veden, zum einen die „wunderbare, schöpferische Macht" der Götter verkörpert, zum anderen aber die „Täuschungs-, Verstellungs-, Zaubermacht" der Dämonen bezeichnet. Im buddhistischen Sprachgebrauch meist negativ gebraucht, bedeutet „Maja" vornehmlich ,„Täuschung, Betrug' (als menschliches Verhalten oder Gesinnung) oder ,Zaubertrug' (als eine bestimmte Art von Sinnestäuschung)" und dient schließlich als „ G l e i c h n i s für die Weltillusion"474. Schopenhauer greift in seiner Philosophie den Begriff auf und zeigt den Zusammenhang von „Maja" und Traum - über den schon Platon sage, „daß die Menschen nur im Traume leben", während „der Philosoph allein sich zu wachen bestrebe"475. In diesem Zusammenhang weist Schopenhauer auch auf Sophokles hin, „neben welchem am würdigsten Shakespeare" stehe476. Die Linie zu Freud drängt sich hier beinahe auf und läßt die Überwindung des ,Ödipuskomplexes' - bei Freud der „uralte Traumstoff'477 - wie das Erwachen aus einem kindlichen Traum erscheinen, wie den Triumph der ,Erkenntnis' über die ,Täuschung'. Sandeks erotische Hörigkeit gegenüber der Hofrätin zeigt seine Befangenheit innerhalb der „Maja", von der Schopenhauer sagt, „daß die Maja der Inder, deren Werk und Gewebe die ganze Scheinwelt ist, [...] durch amor paraphrasiert"478 werde. So gelingt es dem eitlen479 Sandek, der schon seit Jugendjahren durch seine Passion der Liebschaften innerhalb der „Maja" gefangen ist, nicht, die ,Täuschung' zu überwinden, das ,Rätsel' um das Verhalten der Hofrätin zu lösen; auf entsprechende Ratschläge sieht er den Ich-Erzähler „verständnislos an" (25,30). Stattdessen gibt er sich weiterhin der quälenden Eifersucht hin. Über den Zusammenhang von „Maja" und amor schreibt Schopenhauer weiter: Die Genitalien sind viel mehr als irgend ein anderes äußeres Glied des Leibes bloß dem Willen und gar nicht der Erkenntniß unterworfen: ja, der Wille zeigt sich hier fast so unabhängig von der Erkenntniß, wie in den, auf Anlaß bloßer Reize, dem

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Ritter-Gründer, Bd.5, Sp.949. Schopenhauer: W I, S.20 (§ 5) (s. Anm. 472). 476 Ebd. 477 Freud: Werke II, S.267 (s. Anm. 401). 478 Schopenhauer: W I, S.389 (§ 60) (s. Anm. 472). 479 Ebd. S.390 und S.393 (§ 61): Für Schopenhauer zeigt auch die Eitelkeit den Mangel an „Erkenntniß" und wird dem „Willen" zugeordnet. 475

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vegetativen Leben, der Reproduktion, dienenden Theilen, in welchen der Wille blind wirkt, wie in der erkenntnislosen Natur.480

Daß es bei der Liebschaft von Sandek und der Hofrätin zur „Reproduktion" kommt und die Tochter entsteht, unterstreicht, daß die Hingabe ein Akt des „Willens" ist - bei Schopenhauer der „entgegengesetzte Pol des Gehirns, des Repräsentanten der Erkenntnis"481. Wenn auch die Hofrätin Sandek „par depit" (19,26) verführt, also nicht aus Täuschung durch Liebe in Schopenhauers Sinne, so offenbart ihr Motiv der Rache auch ein niederträchtiges Motiv, das der Heimtücke482 des Hofrates ähnelt, die dessen „teuflische"483 Bosheit offenbart. Im Kosenamen „Maja" ist auch die Kernfrage Sandeks umschrieben, ob sich eine Frau „ohne Liebe" (19,4) hingeben könne, die auf die Täuschung durch die Hofrätin zurückgeht. Dieser vorsätzlichen Täuschung484 - in seinen Armen „kalt wie Eis" (25,7) gab Maja „den höchsten Beweis ihrer Liebe" (25,9f.) - verfällt Sandek „nach Art schwacher Geister und untiefer Naturen" (26,5). Das Scheitern an der Kernfrage 480

Ebd. S.389(§60). Ebd. S.390. 482 Diese Heimtücke stellt den Hofrat in eine Reihe mit einem ebenso notorischen Bureaukraten in der russischen Literatur: mit Alexej Alexandrowitsch Karenin (vgl. Tolstoj: Anna Karenina, S.339; s. Anm. 310): Auch dieser betrogene Ehemann sucht Genugtuung, nachdem ihm seine Frau ihre Liebe zum Grafen Wronskij gestanden hat. Obwohl er sich zwar durch die eindeutige Schuldzuweisung wie von einem ,entsetzlichen Zahnschmerz' befreit fühlt, sinnt Karenin dennoch auf Vergeltung, weil Anna „nicht triumphieren, sondern die gerechte Strafe für ihr Verbrechen erhalten sollte. [...] Sie mußte bei ihm bleiben [...] und er mußte alles tun, was in seinen Kräften stand, um das Verhältnis zwischen ihr und Wronskij zu unterbinden, und vor allem - was er sich selbst nicht eingestand - seine Frau bestrafen." Motor der Vergeltung ist bei Karenin ein abstrahierter Ehrenkodex, der bei Hymen nicht - wenigstens nicht expilizit - zum Tragen kommt. Von Karenin heißt es, „[...] ihre und ihres Sohnes Zukunft [...] beschäftigten ihn nicht mehr. Das einzige was ihn noch interessierte, war die Frage, wie er auf die beste, geschickteste, bequemste und daher auch gerechteste Weise diesen Schmutz abschütteln konnte, mit dem sie ihn in ihrem Fall befleckt hatte, und wie er dann seinen nutzbringenden Weg als tätiger Ehrenmann fortsetzen konnte." Ein Blick auf die Handschrift (67,19ff.) zeigt, daß Saar bei der Beschreibung der ,Heimücke' des Hofrates viel .gefeilt' hat. Hier hatte es in getilgten Fassungen geheißen: „Man schien sich einem Militär gegenüber x-x zu fein zu fühlen." (67,22), und: „Der Hausherr schien mir ein eingebildeter Bureaukrat und x-x-x zu sein." (67,24ff.). 483 Schopenhauer: E, S.225 [§ 17] (s. Anm. 472): Der Philosoph nennt hier die Schadenfreude „das eigentlich teuflische Laster". 484 Die ,Täuschung' im Sinne Schopenhauers besteht schon darin, sich in ,echter' Liebe hinzugeben. Die vorsätzliche ,Täuschung' der Hofrätin wandelt die Thesen des Philosophen jedoch ab, was beweist, daß Saar ihm „nur eine Strecke weit" folgt und dann „ins Dichterisch-Humane" abbiegt (Polheim: Erzählkunst, S.28). 481

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aus sexueller Hörigkeit führt ihn geradlinig in die Katastrophe. Dem „Willen" zur „Reproduktion"485 unterworfen, gelangt Sandek nicht zur „Erkenntniß"486, sondern entwickelt beim verzweifelten Versuch, die Liebe Majas und die militärische Karriere zu „erzwingen" (27,30), eine Reduktion auf den „Willen", den Stillstand des Denkens. Dieser Stillstand ist ausgedrückt durch das klinische Symptom der „Gehinilähmung" (28,20). Die „Paralyse" (28,4) der „Erkenntniß" zeitigt bei Schopenhauer die Hinwendung zum „Willen", der bloß vegetativen Existenz. Damit ist die „Gehirnlähmung" Ausdruck des Lebenswillens, der Bejahung des physischen Daseins. Sie entspringt dem sexuellen Verlangen, der Selbsterhaltung (dem Unvermögen, „sich selbst zu Leibe zu gehen" [26,6f.]) und - als Folge - der Selbsttötung (Regression), dem elementaren Kennzeichen des Lebenswillens bei Schopenhauer: Der Wille zum Leben also erscheint eben so wohl in diesem Selbsttödten (Schiwa), als im Wohlbehagen der Selbsterhaltung (Wischnu) und in der Wollust der Zeugung (Brahma).487

Das Aufhören des Denkens zeigt sich so auch als eine Form des Selbstmordes488, den Schopenhauer gerade „das Meisterstück der Maja, als der schreiendste Ausdruck des Widerspruchs des Willens zum Leben mit sich selbst"489 nennt. Sandeks bewußte Verweigerung der „Erkenntniß" um seine Situation und die daraus erwachsenden Folgen - immerhin hatte er die „Wahrheit" (26,5) der Worte des Ich-Erzählers gefühlt, aber die Konsequenzen nicht ziehen wollen - läßt ihn wie einen Selbstmörder erscheinen, einen „Kranken, der eine schmerzhafte Operation, die ihn von Grund aus heilen könnte, nachdem sie angefangen, nicht vollenden läßt, sondern lieber die Krankheit behält."490 Die Ablehnung 485

Schopenhauer. W I, S.389 (§ 60) (s. Anm. 472) Ebd. 487 Ebd. S.471 f. (§ 69). 488 Ebd. S.472: Den Selbstmord nennt Schopenhauer „eine ganz vergebliche und törichte Handlung". Doch hat auch Saar seinem unheilbaren Leiden durch Suizid ein Ende gemacht (vgl. Bettelheim: SW 1,178). 489 Schopenhauer W I, S.472 (s. Anm. 472). 490 Ebd. S.472f. Die Verbindung von Eros und Selbstmord hat besonders in Goethes Werther (Goethe: Werke 6, S.7ff, s. Anm. 58) ihre literarische Ausgestaltung gefunden. Denn über das Motiv seines Suizids schreibt Werther an Lotte: „Du bist von diesem Augenblicke mein! mein, o Lotte! Ich gehe voran! [...] und fliege dir entgegen und fasse dich und bleibe bei dir vor dem Angesichte des Unendlichen in ewigen Umarmungen." (S. 117). Werther will über seine „traurige Abhängigkeit" (S.102) von Lotte nicht hinausreifen, „ein Mann" (ebd.) werden und ,entsagen'; Lotte erkennt Werthers Trotz: „Warum denn mich, Werther? just mich, das Eigentum eines anderen? just das? Ich furchte, ich furchte, es ist nur die Un486

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kennzeichnet auch hier die Herbeiführung des eigenen Endes als selbstzerstörerischer Hymenaios. Erst die Überwindung der „Maja" führt zur „Erkenntniß" - dem Gegenteil der Täuschung. Diese Überwindung leistet die Tochter. Sie heiratet zwar baldmöglichst einen heruntergekommenen Adeligen und bekommt ein Kind - womit auch sie der „Reproduktion" Vorschub leistet491 -, doch in ähnlicher Lebenslage wie einst die Hofrätin, entscheidet sie sich gegen neuerliche Verbindungen und „heiratet gewiß nicht wieder" (33,24). Ihre Absage an künftige Liebesverhältnisse entspringt der Einsicht in die unheilvollen Verwicklungen zwischen den Geschlechtern, einer Absage an die Täuschung, die von der falschen Hingabe ausgeht492. Deshalb entscheidet sich die Tochter - nachdem auch sie zuvor dem „Zauber" (30,35) des „genialen Ästheten" (32,21) erlegen war - für das Alleinsein. Dieser Akt der „Erkenntniß [...] giebt die Möglichkeit der Aufhebung des Wollens, der Erlösung durch Freiheit [,..]"493. Ihre Enthaltsamkeit löst den Konflikt, dem sie selbst ihre Existenz verdankt494. So steht Sandeks Enkel am Schluß der Erzählung befreit von der generationsübergreifenden Dynamik des Geschlechterkampfes von Hofrätin und Sandek da, weil seine Mutter, die physiologisch und möglichkeit, mich zu besitzen, die Ihnen diesen Wunsch so reizend macht." (S. 102). So flieht Werther in die Idee „,daß ich mich opfere für dich'" (S. 104): „Eins von uns dreien muß hinweg, und das will ich sein! O meine Beste! in diesem zerrissenen Herzen ist es wütend herumgeschlichen, oft - deinen Mann zu ermorden! - dich! - mich! - So sei es denn!" (ebd.). In seinem Entschluß „Ich will sterben!" ist sein ganzes Wollen, in dem verzweifelten Wunsch, die Vereinigung im Tod zu erreichen, sein ganzer Lebenswille ausgedrückt. So schimmert schon hier durch, was Schopenhauer später in seiner Philosophie festhielt (Schopenhauer: W I, S.472 |§69] s. Anm. 472): „Eben weil der Selbstmörder nicht aufhören kann zu wollen, hört er auf zu leben, und der Wille bejaht sich hier eben durch die Aufhebung der Erscheinung, weil er sich anders nicht mehr bejahen kann." Sinnbildlich erscheint der Selbstmord als Wille ,nicht mehr zu denken', da es von dem Sterbenden, der sich eine Kugel in den Kopf geschossen hat, heißt: „[...] das Gehirn war herausgetrieben" (Goethe: Werke 6, S. 124; s. Anm. 58). 491 Vgl. Schopenhauer: W I, S.389 (§ 60) (s. Anm. 472). 492 Zur Bedeutung von Schopenhauers Postulat des ,Entsagens' bei Saar und der Überwindung der ,Urschuld', die infolge der sexuellen Vereinigung jedem Individuum anhafte, vgl. insbes. Stuben, S.354ff. 493 Schopenhauer: W I, S.390 (§ 60) (s. Anm. 472). 494 Ro£ek, S.540: „In der Enthaltsamkeit sah Ferdinand von Saar jene Tugend, durch die unser Denken aus dem Höhenrausch des Abstrakten wieder auf die Erde herabgeholt werden könnte. Sie allein würde dem Denken Maß geben, würde ihm menschliche Dimensionen zurückgeben können." Zu Lebzeiten Saars hat als einziger Interpret Emil Hadina diesen Aspekt der Unterbrechung der Leidenskette durch die Entscheidung der Tochter erkannt (s. Hadina, a.a.O.; vgl. III.2.d.).

239

psychisch das Erbe Sandeks übernommen hatte, durch ihre Entscheidung löste, was Sandek nicht zu lösen vermocht hatte. Durch den Bruch mit der unseligen Fortsetzung der Verwicklungen wird der Enkel zum ,neuen Menschen', zum Neuanfang am Schluß der Erzählung. Damit bildet die Lebensentscheidung der Tochter einen »poetischen' Ausweg aus der Schicksalskette um ihre eigene Entstehung. In diesem Sinne hebt auch die Gastgeberin hervor, sie sei ein „wundervoller Charakter" (33,19). Obwohl sie die unglückliche Schicksalskette durchbricht, wird der Tochter aber keine glückliche Zukunft im herkömmlichen Sinne zuteil. Sie wird nach der gescheiterten Ehe mit dem Baron - da auch die zweite Ehe mit dem Modegelehrten nicht zustande gekommen ist - alleine bleiben. Damit wirkt ihre Lebenssituation allenfalls wie eine .poetische Nische', in welche Niedertracht, Rachsucht und Eitelkeit künftig keinen Einzug mehr erhalten; eine Schlußidylle, wie sie die Liebenden Georg und Tertschka in den Steinklopfern erleben495, wird der alleinerziehenden Tochter jedoch nicht zuteil.

495

Ebd. S.73: Der Lebensabend in der Bahnwärterhausidylle wurde hier als Zugeständnis Saars gedeutet, „seine Helden ausnahmsweise ,glücklich zu machen fürs ganze Leben'".

240

V. LITERATUR

1. Quellen a. Textzeugen von Hymen H:

Eigenhändiges Manuskript mit Korrekturen, datiert „Blansko. März 1905." (I.N. 2374).

J:

Journaldruck (Erstdruck) in der „Neuen Freien Presse" vom 23.4.1905 (Ostersonntag, Nr. 14608) (I.N. 18.524).

T:

Druck im Band „Die Tragik des Lebens. Vier neue Novellen."; Wiener Verlag, Wien 1906, S.83-131 (I.N. 18.525).

b. Textzeugen von Der Hauptmann Karl von B. Ha:

Eigenhändiges Manuskript aus dem handschriftlichen Nachlaß Ferdinand von Saars. Undatiert. (I.N. 18.523).

c. Sonstige Werke Saars Die Erzählungen Marianne, Die Geigerin, Seligmann Hirsch, Innocens und Herr Fridolin und sein Glück werden zitiert nach: Ferdinand von Saar: Kritische Texte und Deutungen. Herausgegeben von Karl Konrad Polheim. KTD l

Bd.l: Marianne. Kritisch herausgegeben und gedeutet von Regine Kopp. Mit einer Einführung von Karl Konrad Polheim. Bonn 1980. S.3-26.

KTD 2

Bd. 2: Die Geigerin. Kritisch herausgegeben und gedeutet von Heinz Gierlich. Bonn 1981. S.7-36.

KTD 3

Bd. 3: Seligmann Hirsch. Kritisch herausgegeben und gedeutet von Detlef Haberland. Tübingen 1987. S. 1136.

KTD 4

Bd. 4: Innozens. Kritisch herausgegeben und gedeutet von Jeans Stuben. Bonn 1986. S. 11-50.

243

KTD 5

Bd. 5: Herr Fridolin und sein Glück. Kritisch herausgegeben und gedeutet von Lydia Beate Kaiser. Tübingen 1993. S.9-42. Der Brauer von Habrovan. Genetisch-kritisch herausgegeben von Karl Konrad Polheim. In: Polheim, Karl Konrad: Ferdinand von Saar. Ein Wegbereiter der Moderne. Festschrift zum 150. Geburtstag mit den Beiträgen der Bonner Matinee und des Londoner Symposions sowie weiteren Beiträgen. Bonn 1985. S.291319.

FS

Die übrigen Werke Saars werden zitiert nach: SW 1-12

Minor, Jakob (Hrsg.): Ferdinand von Saars sämtliche Werke in zwölf Bänden. [Bde. 1-12 in 4 Bdn.], Leipzig o. J. [1908].

Einzelne, unedierte Blätter aus Saars Nachlaß werden wie folgt zitiert: HN HN

l

HN

2

HN

3

= Handschriftlicher Nachlaß in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek. = Eigenhändige Liste [mit Bleistift] der eigenen Werke. Undatiert [1901?] (I.N. 70.638). Eigenhändiges Gedicht, betitelt: Für das Jahr 1906. Döbling, Weihnachten 1905 (I.N. 122.642). = Eigenhändiges Gedicht, betitelt: Stephan Milow zu seinem 70ten Geburtstage. Wien-Döbling, 9.3.1906 (I.N. 68.461).

d. Briefe von und an Ferdinand von Saar Briefe von und an Abraham Altmann werden zitiert nach: BrA

= Charue, Jean (Hg.): Ferdinand von Saar: Briefwechsel mit Abraham Altmann. Bonn 1984.

Unveröffentlichte Briefwechsel aus dem Archiv der Wiener Stadtbibliothek werden zitiert nach: BrW 244

= Briefe in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek.

BrW

l

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= An [unbekannt]. Wien-Döbling, 20.12.1900 (I.N. 140.958). = An [unbekannt]. Habrovan bei Neu-Rausnitz, Mähren, 26.10.1901 (I.N. 30.509). = Von Leonhard Adelt. Wien, 25.11.1905 (I.N. 17.851). = Von Leonhard Adelt. Wien, 6.1.1906 (I.N. 17.852). = Von Leonhard Adelt. Wien, 12.1.1906 (I.N. 17.853). = An Ludwig Anzengruber. Blansko in Mähren, 26.2.1886 (I.N. 16.275). = Von Adolf Bartels. Bad Suiza, Thüringen, 1.9.1905 (I.N. 50.731). = Von Adolf Bartels. Weimar, 30.12.1905 (I.N. 50.732). = Von Ludwig Basch. Wien, 18.11.1901 (I.N. 17.863). = Vom Bürgermeister von Ober-Döbling. Wien, OberDöbling, 28.5.1890 (I.N. 18.285). = An Emil Claar. Raitz in Mähren, 15.5.1894 (I.N. 24.977). = Von Jacob Julius David. 12.10.1886 (I.N. 17.967). = Von Jacob Julius David. 21.1.1888 (I.N.70.967). = Von der Dieterich'schen Verlagsbuchhandlung. Leipzig, 7.4.1906 (I.N. 18.263). = An Marie von Ebner-Eschenbach. Wien-Döbling, 12.7.1904 (I.N. 49.973). = An Marie von Ebner-Eschenbach. Wien-Döbling, 11.9.1904 (I.N. 49.970). = An Marie von Ebner-Eschenbach. 20.1.1905 (I.N. 49.972). = An Marie von Ebner-Eschenbach. Wien-Döbling, Rudolfmergasse 6, 5.9.1905 (I.N. 61.019). = An Marie von Ebner-Eschenbach. Wien-Döbling, 10.9.1905 (I.N. 49.974). = An Marie von Ebner-Eschenbach. Döbling, 27.12.1905 (I.N. 49.977). = Von Marie von Ebner-Eschenbach. Rom, Piazza Spagna 9, 6.1.1905 (I.N. 55.470). = Von Marie von Ebner-Eschenbach. Mähren, 7.9.1905 (I.N. 55.471). = Von Marie von Ebner-Eschenbach. Wien, 13.12.1905 (I.N. 107.614). = Von Marie von Ebner-Eschenbach. 14.3.1906 (I.N. 55.474). = Von Marie von Ebner-Eschenbach. Wien, 9.5.1906 (I.N. 55.407).

245

BrW 26 BrW 27 BrW 28 BrW 29 BrW 30 BrW 31 BrW 32 BrW 33 BrW 34 BrW 35 BrW 36 BrW 37 BrW 38 BrW 39 BrW 40 BrW 41 BrW 42 BrW 43 BrW 44 BrW 45 BrW 46 BrW 47 246

= Von Marie von Ebner-Eschenbach. 13.5.1906 (I.N. 55.477). = Von Marie von Ebner-Eschenbach. Hotel Luisenbad, Reichenhall, 21.6.1906 (I.N. 55.479). = Von Marie von Ebner-Eschenbach. Reichenhall, 6.7.1906 (I.N. 55.408). = Von Marie von Ebner-Eschenbach. 18.7.1906 (I.N. 55.478). = Von Victor Eschen. Wien, 24.8.1905 (I.N. 17.978). = An Fritz Freund (Wiener Verlag). 13.7.1905 (I.N. 30.072). = An Fritz Freund (Wiener Verlag). 17.7.1905 (I.N. 30.071). = An Fritz Freund (Wiener Verlag). Wien-Döbling, 28.7.1905 (I.N. 30.065). = An Fritz Freund (Wiener Verlag). Wien-Döbling, Rudolfmergasse 6, 10.9.1905 (I.N. 30.064). = Von Otto Fromme. Wien, 9.7.1901 (I.N. 17.966). = Vom k.k. Statthalter Gioranelli. [Eigenhändige Abschrift durch Ferdinand von Saar.] Wien, 4.4.1901 (I.N. 18.285). = An Louise von Gomperz. Blansko in Mähren, 6.2.1905 (I.N. 127.026). = An Nelly Gomperz. Blansko, Mähren, 11.8.1898 (I.N. 122.120). = Von Charles Handschin. Oxford, Ohio, 15.9.1905 (I.N. 18.039). - Vom Max Hesse Verlag. Leipzig, 18.4.1905 (I.N. 18.052). = An Marie zu Hohenlohe. Blansko in Mähren, 10.3.1886 (I.N. 116.287). = An Marie zu Hohenlohe. Blansko, 13.3.1886 (I.N. 116.288). = An Marie zu Hohenlohe. Blansko in Mähren, 25.3.1886 (I.N. 116.289). = An Marie zu Hohenlohe. 26.5.1887 (I.N. 116.297). = An Rudolf Holzer. Wien-Döbling, 17.10.1904 (I.N. 176.296). = An Rudolf Holzer. Blansko in Mähren, 17.2.1905 (I.N. 176.297). = Von Rudolf Holzer. Wien, 23.1.1905 (I.N. 18.056).

BrW 48 BrW 49 BrW 50 BrW 51 BrW 52 BrW 53 BrW 54 BrW 55 BrW 56 BrW 57 BrW 58 BrW 59 BrW 60 BrW 61 BrW 62 BrW 63 BrW 64 BrW 65 BrW 66 BrW 67 BrW 68 BrW BrW BrW BrW

69 70 71 72

BrW 73

= Von Ella Hruschka. Wien, 30.1.1900 (I.N. 50.505). = Von Ella Hruschka. Wien, 15.6.1905 (I.N. 50.607). = Von Ella Hruschka. Grünau im Almtal, Oberösterreich, 25.9.1905 (I.N. 50.608). = An Josephine von Knorr. [24.12.] 1870 (I.N. 39.940). = Von Karl Krack. Dessau, 4.10.1905 (I.N. 18.073). = An Maja von Kralik. Blansko in Mähren, 2.1.1905 (I.N. 97.577). = An Maja von Kralik. Blansko, 12.1.1905 (I.N. 97.578). = An Maja von Kralik. Blansko in Mähren, 21.1.1905 (I.N.97.579). = An Mary Kucera. Oslavan in Mähren, 30.6.1899 (I.N. 17.359). = An Moritz Lederer. Blansko, 10.3.1902 (I.N.221.024). = An Moritz Lederer. Döbling, 2.11.1904 (I.N. 221.033). = An Moritz Lederer. Blansko, 19.11.1904 (I.N. 221.035). = An Moritz Lederer. Blansko, 8.6.1905 (I.N. 221.037). = Von Hermann Mack. 7.5.1906 (I.N. 18.079). = An Elsa von Millenkovich. Wien-Döbling, 2.7.1904 (I.N. 48.449). = An Elsa von Millenkovich. Wien XIX./I, 14.9.1905 (I.N. 68.452). = An Stephan Milow. Wien-Döbling, 11.4.1899 (I.N. 68.381). = An Stephan Milow. 16.6.1899 (I.N. 68.382). = An Stephan Milow. Blansko in Mähren, 5.8.1899 (I.N. 68.383). = An Stephan Milow. Habrovan bei Neu-Rausnitz, Mähren, 18.10.1899 (I.N. 68.384). = An Stephan Milow. Blansko in Mähren, 17.2.1900 (I.N. 68.388). = An Stephan Milow. Döbling, 31.7.1900 (I.N. 68.397). = An Stephan Milow. Döbling, 27.9.1900 (I.N. 68.402). = An Stephan Milow. Döbling, 9.10.1900 (I.N. 68.404). = An Stephan Milow. Wien-Döbling, Villa Wertheimstein, 17.12.1900 (I.N. 68.409). = An Stephan Milow. Döbling, Villa Wertheimstein, 21.3.1901 (I.N. 68.411). 247

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= An Stephan Milow. Schloß Habrovan bei Neu-Rausnitz, Mähren, 8.10.1901 (I.N. 68.432). = An Stephan Milow. Blansko, 12.1.1902 (I.N. 68.426). = An Stephan Milow. Blansko, 19.1.1902 (I.N. 68.427). = An Stephan Milow. Döbling, 8.7.1902 (I.N. 68.429). = An Stephan Milow. Wien-Döbling, Billrothst. 44, 22.2.1903 (I.N. 68.440). = An Stephan Milow. Wien-Döbling, Billrothst. 44, 27.6.1903 (I.N. 68.441). = An Stephan Milow. Wien-Döbling, Rudolfmergasse 6, 15.11.1903 (I.N. 68.445). = An Stephan Milow. Döbling, Ostern 1904 (I.N. 68.448). = An Stephan Milow. Wien-Döbling, 14.10.1904 (I.N. 68.450). = An Stephan Milow. Döbling, 2.10.1905 (I.N. 68.458). = An Stephan Milow. Döbling, 21.12.1905 (I.N. 68.459). = An Stephan Milow. Döbling, 26.3.1906 (I.N. 68.463). = An Stephan Milow. 24.4.1906 (I.N. 68.465). = An Max Morold. Döbling, 18.3.1899 (I.N. 70.301). = An Max Morold. Döbling, 18.4.1899 (I.N. 70.307). = An Max Morold. Döbling, 5.5.1904 (I.N. 70.602). = An Max Morold. Döbling, 27.6.1904 (I.N. 70.605). = An Max Morold. Undatiert [25.7.1904] (I.N. 70.606). = An Max Morold. Döbling, 22.8.1904 (I.N. 70.608). = An Max Morold. Döbling, 30.9.1904 (I.N. 70.610). = An Max Morold. Döbling, 24.10.1904 (I.N. 70.612). = An Max Morold. Blansko, 2.5.1905 (I.N. 70.619). = An Max Morold. Blansko, 5.6.1905 (I.N. 70.622). = An Max Morold. Döbling, 15.9.1905 (I.N. 70.629). = An Max Morold. Döbling, 19.10.1905 (I.N. 70.630). = An Max Morold. Döbling, 6.2.1906 (I.N. 70.632). = An Max Morold. Döbling, 7.2.1906 (I.N. 70.633). = Von Max Morold. 14.12.1900 (I.N. 75.555). = Von Max und Martha Morold. Graz, 13.9.1905 (I.N. 75.559). = An August Anton Naaff. Wien-Oberdobling, 8.9.1893 (I.N. 49.562). = Von Moritz Necker. Wien, 21.3.1892 (I.N. 50.987). = Von Moritz Necker. Wien, 2.4.1892 (I.N. 50.992). = Von Moritz Necker. Wien, 12.5.1892 (I.N. 50.995).

BrW 106 BrW 107

= Von Oskar Fache. Wien, 17.9.1905 (I.N. 18.147). = An Hans Paul. Wien-Döbling, Rudolfinergasse 6, 20.11.1905 (I.N. 30.494).

BrW BrW BrW BrW BrW BrW BrW

108 109 110 111 112 113 114

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= = = =

131 132 133 134

Von Hans Paul. 16.11.1905 (I.N. 50.787). Von Hans Paul. Undatiert [1905/1906?] (I.N. 50.788). Von Philipp Reclam. 10.9.1900 (I.N. 18.195). Von Philipp Reclam. 26.7.1901 (I.N. 18.196). Von Philipp Reclam. 12.9.1901 (I.N. 18.197). Von Philipp Reclam. 29.12.1903 (I.N. 18.198). Von Elise von Reizenhofen. Undatiert. [1905?] (I.N. 18.199). Von Elise von Reizenhofen. Wien, 14.10.1905 (I.N. 18.200). Von Max Roden. Wien, 25.10.1905 (I.N. 18.202). An Louise von Saar. Blansko in Mähren, 20.12.1904 (I.N. 138.365). An Therese von Saar. Raitz in Mähren, 12.5.1892 (I.N. 19.701). An Therese von Saar. Wien, 29.7.1894 (I.N. 19.710). An Therese von Saar. Habrovan bei Neu-Rausnitz in Mähren, 26.10.1899 (I.N. 19.715). An Therese von Saar. Wien-Döbling, Rudolfinergasse 6, 18.11.1903 (I.N. 19.721). An Therese von Saar. Döbling, 30.5.1904 (I.N. 19.723). An Therese von Saar. Wien-Döbling, 15.7.1904 (I.N. 19.724). An Therese von Saar. Wien-Döbling, Rudolfinergasse 6, 20.7.1905 (I.N. 19. 726). Von Richard Schaukai. 31.12.1900 (I.N. 50.805). Von Leopold Schwarz. Brunn, 2.9.1902 (I.N. 18.285). An Emil Söffe. Wien-Döbling, 13.4.1901 (I.N. 39.829). An Emil Söffe. Wien-Döbling, Billrothstrasse 44, 22.9.1903 (I.N. 39.857). An Emil Söffe. Wien-Döbling, Rudolfmergasse 6, 14.4.1904 (I.N. 39.860). An Emil Söffe. Wien-Döbling, Rudolfinergasse 6, 31.7.1905 (I.N. 39.864). An Emil Söffe. Wien-Döbling, 2.10.1905 (I.N.39. 865). An Emil Söffe. 29.12.1905 (I.N.39. 866). An Emil Söffe. Döbling, 27.4.190[6] (I.N. 39.867). An den Sportverlag Grethlein et Co. [von fremder Hand]. Wien-Döbling, 24.6.1906 (I.N. 18.299). 249

BrW 135 BrW 136 BrW 137 BrW 138 BrW 139 BrW 140 BrW 141 BrW 142 BrW 143 BrW 144 BrW 145 BrW 146 BrW 147 BrW 148 BrW 149 BrW 150 BrW 151 BrW 152 BrW 153 BrW 154 BrW 155 BrW 156 BrW 157 BrW 158 BrW 159

250

= An [Adolf Stern] [von fremder Hand]. Wien-Döbling, Billrothstrasse 44, 5.10.1903 (I.N. 17.361). = An [Adolf Stern]. Wien-Döbling, 31.12.1903 (I.N. 17.361). = An Karl von Thaler. Blansko in Mähren, 24.1.1886 (I.N. 30.221). = An Karl von Thaler. Döbling, 11.11.1900 (I.N. 30.251). = An Karl von Thaler. 15.11.1900 (I.N. 30.253). = An Karl von Thaler. Döbling, Villa Wertheimstein, 4.1.1901 (I.N. 30.256). = An Karl von Thaler. Döbling, Villa Wertheimstein, 29.1.1901 (I.N. 30.258). = An Karl von Thaler. Wien-Döbling, 25.1.1902 (I.N. 30.271). = An Karl von Thaler. Döbling, 20.2.1903 (I.N. 30.273). = An Karl von Thaler. Wien-Döbling, 5.8.1903 (I.N. 30.276). = An Karl von Thaler. Wien-Döbling, Rudolfmergasse 6, 9.3.1904 (I.N. 30.286). = An Karl von Thaler. Döbling, 22.8.1904 (I.N. 30.288). = An Karl von Thaler. Blansko in Mähren, 27.12.1904 (I.N. 30.293). = An Karl von Thaler. Blansko, 22.2.1905 (I.N. 30.295). = An Karl von Thaler. Blansko, 14.5.1905 (I.N. 30.296). = An Karl von Thaler. Wien-Döbling, Rudolfmergasse 6, 16.6.1905 (I.N. 30.297). = An Karl von Thaler. Wien-Döbling, Rudolfinergasse 6, 11.9.1905 (I.N. 30.289). = An Karl von Thaler. Döbling, 8.6.1906 (I.N. 30.300). = Von Hermann Tischler, Redaktion ,Die Gartenlaube*. Stuttgart, 20.7.1900 (I.N. 18.251). = An Gizella von Vlahovszky. Blansko in Mähren, 23.2.1905 (I.N. 85.636). = An Gizella von Vlahovszky. Wien XIX, 18.7.1905 (I.N. 85.638). = Von Josef Vogler. Wien, 9.4.1900 (I.N. 50.859). = Von Theodor Arthur Waldau. Wien, 24.10.1905 (I.N. 18.261). = Von Theodor Arthur Waldau. Wien, 30.10.1905 (I.N. 18.262). = Von Josefine Wareka. Wien, 17.1.1905 (I.N. 50.623).

BrW 160 BrW 161 BrW 162 BrW 163 BrW 164 BrW 165 BrW 166 BrW 167 BrW 168 BrW 169 BrW BrW BrW BrW

170 171 172 173

BrW 174 BrW 175

= Von Georg Weiß. Heidelberg, 25.6.1900 (I.N. 17.833). = Von Otto Wenzel. Dresden, 13.9.1899 (I.N. 18.275). = Vom Wiener Kaufmännischen Verein. 4.12.1893 (I.N. 18.285). = An den Wiener Verlag. Wien-Döbling, Rudolfmergasse 6, 30.6.1905 (I.N. 30.067). = An den Wiener Verlag. Wien-Döbling. Rudolfmergasse 6, 21.9.1905 (I.N. 30.063). = An den Wiener Verlag. Wien-Döbling, Rudolfmergasse 6, 8.7.1905 (I.N. 30.066). = An den Wiener Verlag. Wien-Döbling, Rudolfmergasse 6, 10.12.1905 (I.N. 30.069). = An den Wiener Verlag. Wien-Döbling, 14.12.1905 (I.N. 30.061). = An den Wiener Verlag. 17.12.1905 (I.N. 30.060). = An den Wiener Verlag. Wien-Döbling, 25.3.1906 (I.N. 30.062). = Vom Wiener Verlag. Wien, 30.6.1905 (I.N. 17.989). = Vom Wiener Verlag. Wien, 20.7.1905 (I.N. 17.990). = Vom Wiener Verlag. Wien, 7.9.1905 (I.N. 17.991). = An die Redaktion der ,Zeit'. Habrovan bei NeuRausnitz in Mähren, 4.11.1899 (I.N. 49.557). = An die Redaktion der ,Zeit'. Blansko in Mähren, 6.4.1900 (I.N. 49.560). = Von der Redaktion der ,Zeit'. 30.10.1899 (I.N. 18.013).

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