Kritische Texte und Deutungen: Band 7 Leutnant Burda [Reprint 2010 ed.] 9783110945294, 9783484107359

"Leutnant Burda" is the latest in the ongoing series of historical-critical editions devoted to the prose narr

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German Pages 246 [252] Year 1996

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Table of contents :
I. Text
II. Kritischer Apparat
1. Editorische Hinweise
Abkürzungen und Zeichen
2. Zur Gestaltung des Apparates
3. Sammelvarianten
a. Orthographische Varianten
α. Vokalismus und Konsonantismus
β. Groß- und Kleinschreibung
γ. Getrennt- und Zusammenschreibung
δ. Angleichung von Fremdwörtern an die deutsche Schreibung und Lautung
ε. Der Apostroph
ζ. Der Bindestrich in zusammengesetzten Nomina
b. Lautvarianten
4. Fortlaufendes Variantenverzeichnis
III. Text- und Wirkungsgeschichte
1. Die Entstehung
a. Planung und Ausarbeitung
b. Das Manuskript
2. Die Erstveröffentlichung (J1)
a. K.E. Franzos' Deutsche Dichtung
b. Erste Reaktionen
3. Die Schicksale (S)
a. Die Umarbeitung der Erzählung von J1 zu S
b. Die erste Aufnahme von S
c. Die weitere Kritik des Leutnant Burda von 1890 bis 1897
4. Die Drucke der Jahre 1897 und 1898
a. Die dritte Auflage der Novellen aus Oesterreich (N3), die neue Auflage der Schicksale und der Abdruck in der Wiener Mode (J2)
b. Die Kritik ab 1897
5. Die vierte Auflage der Novellen aus Oesterreich von 1904 (N4)
a. Grundlage für den kritischen Text
b. Die Rezeption nach 1904
6. Die wissenschaftliche Literatur über Leutnant Burda
a. Der Einfluß weltanschaulicher Strömungen
b. Die Rolle des Zufalls
c. Die Liebesproblematik
d. Die Bedeutung des Historischen
e. Die soziale Problematik
f. Formale Kriterien der Erzählung
α. Personenzeichnung
β. Spannungserzeugung
δ. Gattungspoetische Fragen
g. Die Rolle des Ich-Erzählers
h. Autobiographische Bezüge
i. Burda als Don Quixote-Figur
IV. Deutung
1. Erzählte Lebenswirklichkeit
a. Biographische Bezüge
b. Zeitgeschichtliche Bezüge
2. Erzählte Literatur
a. Erzählte Literatur als Spiegelung bestimmter Themenkreise
α. Illusion und Realität: Die bezauberte Rose und Don Quixote
β. Täuschung, Verwirrung und Glück: Minna von Barnhelm und Martha
γ. Ruhmsucht, Ehre und Verblendung: Der Prophet und Ernani
δ. Zufall, Irrtum und Tod: Ernani und Romeo und Julia
b. Erzählte Literatur als Gestaltungselement der Erzählung
3. Erzählte Imagination
a. Burda
b. Ich-Erzähler
V. Bibliographie
1. Quellen
a. Textzeugen des Leutnant Burda
b. Sonstige Werke Ferdinand von Saars
α. Gedruckte Werke
β. Ungedrucktes aus dem Nachlaß Saars
c. Briefe von und an Ferdinand von Saar
α. Gedruckte Briefe
β. Originalbriefe
d. Übrige abgekürzt zitierte Primärliteratur
2. Sekundärliteratur
a. Literatur zu Saar und Leutnant Burda
b. Die übrige zitierte Sekundärliteratur
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Kritische Texte und Deutungen: Band 7 Leutnant Burda [Reprint 2010 ed.]
 9783110945294, 9783484107359

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FERDINAND VON SAAR KRITISCHE TEXTE UND DEUTUNGEN Herausgegeben von Karl Konrad Polheim und Jens Stuben Siebter Band

FERDINAND VON SAAR

KRITISCHE TEXTE UND DEUTUNGEN

Herausgegeben von Karl Konrad Polheim und Jens Stuben

SIEBTER BAND Leutnant Burda

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1996

FERDINAND VON SAAR

LEUTNANT BURDA

Kritisch herausgegeben und gedeutet von Veronika Kribs

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1996

In dieser Ausgabe ist vorher bereits erschienen (im Bouvier Verlag, Bonn): Band l Band 2 Band 4 Ergänzungsband l

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ferdinand von Saar, kritische Texte und Deutungen l hrsg. von Karl Konrad Polheim und Jens Stuben. - Tübingen : Niemeyer. Teilw. im Bouvier-Verl., Bonn NE: Polheim, Karl Konrad [Hrsg.] Bd. 7. Kribs, Veronika: Ferdinand von Saar, Leutnant Burda. - 1996 Kribs, Veronika: Ferdinand von Saar, Leutnant Burda / kritisch hrsg. und gedeutet von Veronika Kribs. Tübingen, Niemeyer, 1996 (Ferdinand von Saar, kritische Texte und Deutungen ; Bd. 7) NE: Saar, Ferdinand von: Leutnant Burda ISBN 3-484-10735-9 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

I. Text II. Kritischer Apparat 1. Editorische Hinweise Abkürzungen und Zeichen 2. Zur Gestaltung des Apparates 3. Sammelvarianten a. Orthographische Varianten a. Vokalismus und Konsonantismus ß. Groß- und Kleinschreibung . Getrennt- und Zusammenschreibung . Angleichung von Fremdwörtern an die deutsche Schreibung und Lautung . Der Apostroph . Der Bindestrich in zusammengesetzten Nomina b. Lautvarianten 4. Fortlaufendes Variantenverzeichnis III. Text- und Wirkungsgeschichte 1. Die Entstehung a. Planung und Ausarbeitung b. Das Manuskript 2. Die Erstveröffentlichung (J1) a. K.E. Franzos' Deutsche Dichtung b. Erste Reaktionen 3. Die Schicksale (S) a. Die Umarbeitung der Erzählung von J1 zu S b. Die erste Aufnahme von S c. Die weitere Kritik des Leutnant Burda von 1890 bis 1897 4. Die Drucke der Jahre 1897 und 1898 a. Die dritte Auflage der Novellen aus Oesterreich (N3), die neue Auflage der Schicksale und der Abdruck in der Wiener Mode (J^) b. Die Kritik ab 1897

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5. Die vierte Auflage der Novellen aus Oesterreich von 1904 (N4) a. Grundlage für den kritischen Text b. Die Rezeption nach 1904 6. Die wissenschaftliche Literatur über Leutnant Burda a. Der Einfluß weltanschaulicher Strömungen b. Die Rolle des Zufalls c. Die Liebesproblematik d. Die Bedeutung des Historischen e. Die soziale Problematik f. Formale Kriterien der Erzählung a. Personenzeichnung '. ß. Spannungserzeugung . Gattungspoetische Fragen g. Die Rolle des Ich-Erzählers h. Autobiographische Bezüge i. Burda als Don Quixote-Figur

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IV. Deutung 1. Erzählte Lebenswirklichkeit a. Biographische Bezüge b. Zeitgeschichtliche Bezüge 2. Erzählte Literatur a. Erzählte Literatur als Spiegelung bestimmter Themenkreise a. Illusion und Realität: Die bezauberte Rose und Don Quixote . Täuschung, Verwirrung und Glück: Minna von Barnhelm und Martha . Ruhmsucht, Ehre und Verblendung: Der Prophet und Emani . Zufall, Irrtum und Tod: Emani und Romeo und Julia b. Erzählte Literatur als Gestaltungselement der Erzählung 3. Erzählte Imagination a. Burda b. Ich-Erzähler

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V. Bibliographie 1. Quellen a. Textzeugen des Leutnant Burda b. Sonstige Werke Ferdinand von Saars a. Gedruckte Werke ß. Ungedrucktes aus dem Nachlaß Saars

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VI

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c. Briefe von und an Ferdinand von Saar a. Gedruckte Briefe ß. Originalbriefe d. Übrige abgekürzt zitierte Primärliteratur 2. Sekundärliteratur a. Literatur zu Saar und Leutnant Burda b. Die übrige zitierte Sekundärliteratur

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VII

Vorwort

An dieser Stelle möchte ich allen danken, durch die die vorliegende Arbeit gefördert und unterstützt wurde. Mein herzlicher Dank gilt zunächst dem J.G. Herder-Institut für die Gewährung eines Stipendiums. Die Wiener Stadt- und Landesbibliothek ermöglichte mir freundlicherweise Einblick in den unveröffentlichten Nachlaß Saars. Nicht unerwähnt bleiben darf hier auch der Einsatz derer, die durch ihre unverzügliche Auskunft auf ihre Weise zum Fortschritt der Arbeit beigetragen haben. Besonderen Dank aber schulde ich meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Karl Konrad Polheim, der die Arbeit unentwegt mit viel Engagement, Interesse und gutem Rat betreute. Schließlich möchte ich an dieser Stelle auch meinen Eltern danken für die Geduld, die Hilfe und das Verständnis, durch die sie am Werden dieser Arbeit Anteil nahmen.

Viersen, im Dezember 1993

Veronika Krihs

I. TEXT

LEUTNANT BURDA

Von

F e r d i n a n d von Saar

Kritischer Text auf Grund der vierten Auflage in Saars Novellen aus Oesterreich

1904 (N4)

I.

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Bei dem Regiment, in welchem ich meine Militärzeit verbracht hatte, befand sich auch ein Leutnant namens Joseph Burda. In Anbetracht seiner Charge erschien er nicht mehr allzu jung; denn er mochte sich bereits den Dreißigern nähern. Dieser Umstand würde schon an und für sich genügt haben, ihm bei seinen unmittelbaren Kameraden, die fast durchweg flaumige Gelbschnäbel waren, ein gewisses Ansehen zu verleihen; aber er besaß noch andere Eigenschaften, die ihn besonders auszeichneten. Denn er war nicht bloß ein sehr tüchtiger, verwendbarer Offizier, er hatte sich auch durch allerlei Lektüre eine Art höherer Bildung erworben, die er sehr vorteilhaft mit feinen weltmännischen Manieren zu verbinden wußte. Als Vorgesetzter galt er für streng, aber gerecht; Höheren gegenüber trug er eine zwar bescheidene, aber durchaus sichere Haltung zur Schau; im kameradschaftlichen Verkehr zeigte er ein etwas gemessenes und zurückhaltendes Benehmen, war jedoch stets bereit, jedem einzelnen mit Rat und Tat getreulich beizustehen. Niemand wachte strenger als er über den sogenannten Korpsgeist, und in allem, was den Ehrenpunkt betraf, erwies er sich von peinlichster Empfindlichkeit, so zwar, daß er in dieser Hinsicht, ohne auch nur im geringsten Händelsucher zu sein, mehr als einmal in ernste Konflikte geraten war und diese mit dem Säbel in der Faust hatte austragen müssen. Infolge dessen wurde er ein wenig gefürchtet, aber auch um so mehr geachtet, ohne daß er dadurch anmaßend oder hochfahrend geworden wäre, wenn es gleichwohl dazu beitrug, die etwas melancholische Würde seines Wesens zu erhöhen. Dem allen hatte er es zu danken, daß man auf eine große persönliche Schwäche, die ihm anhaftete, kein Gewicht legte - oder besser gesagt, sie wie auf Verabredung einmütig übersah. Er war nämlich ungemein eitel auf seine äußere Erscheinung, die auch in der Tat eine höchst einnehmende genannt werden mußte. Von hoher und schlanker Gestalt, hatte er ein wohlgebildetes Antlitz, dessen leicht schimmernde Blässe durch einen dunklen, fein gekräuselten Schnurrbart noch mehr hervorgehoben wurde, und auffallend schöne graue Augen, die von langen Wimpern eigentümlich beschattet waren. Es fehlte zwar nicht an Krittlern, welche behaupteten, daß er eigentlich schief gewachsen sei, und wirklich pflegte er beim Gehen die rechte Schulter etwas emporzuziehen. Aber gerade das verlieh seiner Haltung jene vornehme Nachlässigkeit, die mit der Art, wie er sich kleidete, in sehr gutem Einklänge stand. Denn obgleich sein Uniformrock stets von untadelhafter Weiße und Frische war, so zeigte er doch niemals jenes gleißende Funkeln, welches das unmittelbare Hervorgehen aus der Schneiderwerkstätte bekundet hätte, und wiewohl Burda gar sehr auf „taille" hielt, so saß doch, bis zur ele-

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ganten Beschuhung hinab (von der man wußte, daß sie stets nach einem eigenen Leisten hergestellt wurde), an ihm alles so leicht und bequem, als wäre es nur so obenhin zugeschnitten und angepaßt worden. In dieser Weise erschien das, was ein Ergebnis sorgfältiger Berechnung war, nur als der natürliche gute Geschmack eines vollendeten Gentleman, dessen Taschentücher, wenn sie entfaltet wurden, einen kaum merkbaren Wohlgeruch von sich gaben, und wenn man auch im stillen seine Glossen machte, daß sich Burda von seinem Burschen - der ein kurzes Privatissimum bei einem Haarkünstler hatte nehmen müssen - täglich frisieren ließ, so trachtete doch mancher, es ihm in seiner Weise gleich zu tun, ohne jedoch das Original auch nur im entferntesten zu erreichen. Daß diese raffinierte und gewissermaßen verborgene Sorgfalt, die er auf sein Äußeres verwendete, im letzten Grunde mit dem Bestreben zusammenhing, bei dem anderen Geschlechte den günstigsten Eindruck hervorzubringen, braucht wohl nicht erst ausdrücklich gesagt zu werden, und ebenso selbstverständlich ist es, daß sich Burda nach dieser Richtung hin für unwiderstehlich hielt. Nicht daß er etwa dieses Bewußtsein irgendwie zur Schau getragen oder gar, wie es wohl einige von uns pflegten, mit Herzenseroberungen geprahlt hätte; er beobachtete vielmehr in solchen Dingen die äußerste Zurückhaltung, und nur aus manchen Symptomen konnten Schlüsse gezogen werden. Da waren es denn entweder zarte Damenringe, die er am kleinen Finger seiner wohlgepflegten Hand trug, oder ein aus Haaren geflochtenes Armband, das zufällig unter seiner Manschette zum Vorschein kam - sowie plötzliches geheimnisvolles Verschwinden zu gewissen Stunden, was zu allerlei Vermutungen Anlaß gab, denen er zwar nicht geradezu widersprach, aber deren weitere Erörterung er sofort mit ernstem Stirngerunzel abschnitt. Überhaupt nahm er nur selten an Gesprächen teil, welche die Liebe und somit auch die Frauen zum Gegenstand hatten, welch letztere er von einem ganz eigentümlichen Standpunkt aus betrachtete. Wie nämlich für einen mehr berüchtigten, als berühmten Feldherrn der Mensch erst beim Baron anfing, so begann für Burda das weibliche Geschlecht erst bei der Baronesse. Den einfachen Geburtsadel einer jungen Dame ließ er nur dann gelten, wenn der betreffende Vater General oder Präsident irgend einer hohen Landesstelle war; auf gewöhnliche Hofratstöchter pflegte er mit einer Art von Mitleid herabzusehen; Damen der Plutokratie verachtete er gründlich. Alles andere existierte für ihn einfach gar nicht, und er gab jedesmal seiner Verwunderung Ausdruck, wenn er erfuhr, daß ein Offizier irgend eine wohlhabende Bürgerstochter geheiratet hatte (was er eine Mesalliance nannte); im schärfsten Tone aber tadelte er es, wenn jemand zu einer Dame von zweifelhaftem Rufe in mehr als ganz vorübergehende Beziehung getreten war. Diese hochstrebenden Neigungen konnten umso seltsamer erscheinen, als Burda selbst sehr bescheidener Herkunft war. Als Sohn eines kleinen Rechnungsbeamten hatte er eine nur dürftige Erziehung erhalten, anfänglich das Gymnasium besucht, aber sich bald als Eleve in das Amt seines Vaters aufnehmen lassen, um

diesem weiterhin nicht mehr zur Last fallen zu müssen. Später, als die Zeitläufte günstige Aussichten bei der Armee eröffneten, war er als Kadett in unser Regiment getreten. In jene Zeit schienen auch seine ersten Erfolge bei den Frauen gefallen zu sein. Denn wie die Sage ging, hatte sich damals die Tochter eines höheren 5 Generals, in dessen Adjutantur er, seiner schönen Handschrift wegen, verwendet wurde, schwärmerisch in ihn verliebt. Diesem Roman hatte jedoch der General, nachdem er einem geheimen Briefwechsel auf die Spur gekommen, sofort damit ein Ende bereitet, daß er den Helden nach Verona versetzen ließ, wo sich der Werbebezirk des Regimentes - das ein italienisches war - befand. Dort, unter süd10 lichem Himmel, in der Vaterstadt Romeos und Julias, hatte auch unverzüglich eine dunkellockige Marchesa ihr Auge auf den schmucken Krieger geworfen und mit ihm - einem eifersüchtigen, der österreichischen Fremdherrschaft äußerst abholden Gemahl zu Trotz - ein höchst leidenschaftliches Verhältnis begonnen, bei welchem es an nächtlichen Zusammenkünften mittels Strickleiter, blutigen Über15 fällen von selten des Marchese u.s.w. nicht gefehlt haben sollte. Kein Wunder also, daß Burda, einmal Offizier geworden, nicht tiefer mehr herabsteigen konnte und seine Netze bloß in den oberen Regionen aufrichtete. So glaubte man auch jetzt trotz seiner Zurückhaltung zu wissen, daß er in der ansehnlichen Provinzstadt, wo diese Geschichte zu handeln beginnt, die besondere Gunst einer Stiftsdame 20 erworben habe, die, obgleich nicht mehr ganz jung, als vollendete Schönheit galt. Nebenher wurde freilich auch behauptet, das Ganze bestehe darin, daß Burda sehr häufig unter den Fenstern des Stiftsgebäudes vorüberwandle und in der daranstoßenden Kirche jeden Sonntag die Messe höre; ein unschuldiges Vergnügen, das eigentlich jedermann geboten wäre. Wie dem aber mochte gewesen sein: die meisten 25 von uns, von einem ähnlichen romantischen Hange beseelt, hielten an der Überzeugung fest, daß Burda infolge seiner Vorzüge ein Auserwählter sei, und fuhren fort, mit einer Art sehnsüchtiger Bewunderung nach «hm emporzublicken. Indessen sollte doch einmal seinem Ansehen ein gelinder Stoß versetzt werden. Es war nämlich unter den jüngeren Offizieren die Gepflogenheit entstanden, 30 schriftliche Meldungen und sonstige Eingaben mit absichtlicher Flüchtigkeit zu unterzeichnen (was genial aussehen sollte), oder dabei die Buchstaben so grillenhaft zu verschnörkeln, daß die betreffenden Namen in der Tat oft nicht zu entziffern waren. Unser Oberst, eine schwarzgallige, pedantische Natur, nahm somit die stets erwünschte Gelegenheit wahr, dem jungen Volk am Zeuge flicken zu 35 können, und ließ die hervorragendsten Übeltäter, darunter auch meine Wenigkeit, vor sich bescheiden. Wir hatten schon vorher von der Sache Wind bekommen und waren nicht wenig erstaunt, auch Burda, dessen Unterschrift an kalligraphischer Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ, unter den Vorgeladenen zu erblicken. Nachdem uns der Oberst mit sarkastischem Behagen die corpora dilicti 40 vor Augen gehalten und mit näselnder Stimme jeden einzelnen gefragt hatte, wie er denn eigentlich heiße - und was d i e s und was j e n e s zu bedeuten habe,

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schloß er mit einem sehr scharfen Verweise, für die Zukunft exemplarische Strafen in Aussicht stellend. Dann wandte er sich in etwas gemäßigtem Tone an Burda: „Und auch Sie, Herr Leutnant, habe ich kommen lassen, um eine Frage an Sie zu richten. Seit wann sind Sie denn Graf geworden?" Burda zuckte leicht zusammen. Dann erwiderte er, allmählich bis unter die Stirnhaare errötend, mit fester, fast herausfordernder Stimme: „Graf? In welcher Hinsicht meinen dies der Herr Oberst?" Der Oberst trat einen Schritt zurück und kniff, wie es in Erregung seine Gewohnheit war, das rechte Auge zu. „In welcher Hinsicht? Mit Hinsicht auf Ihren letzten Wache - Rapport. Derselbe ist" - er hielt ihm das Schriftstück entgegen „mit Gf Burda unterzeichnet. Dieses Gf ist, wie ich aus den Unterschriften des Herrn Majors Grafen N... und des Herrn Hauptmanns Grafen K... entnehme, eine beliebte Abkürzung des Wortes Graf. Was haben Sie darauf zu erwidern?" „Ich erlaube mir zu bemerken," sagte Burda in strammster Haltung, „daß dieses Gf keineswegs das Wort Graf bedeuten soll. Es ist die Abkürzung meines Namens Gottfried." „Gottfried? Sie heißen ja Joseph!" „Allerdings. Aber es dürfte dem Herrn Oberst bekannt sein, daß man bei der Taufe in der Regel den Namen des Vaters mit empfängt. Mein Vater führte den Namen Gottfried; somit heiße ich Joseph Gottfried." Der Oberst trat noch einen Schritt zurück und zwinkerte krampfhaft mit dem rechten Auge. „Dann muß ich Sie bitten, Ihren Taufschein aktenmäßig vorzulegen, damit die Regimentslisten, in welchen, so viel ich weiß, bloß der Namen Joseph eingetragen erscheint, richtig gestellt werden können. Aber trotzdem werden Sie künftighin weniger zweideutige Abkürzungen zu wählen haben." Er machte eine kurze Verbeugung, und wir waren entlassen. Als wir die Tür hinter uns hatten und nun insgesamt die Treppe hinabschritten, herrschte peinliches Schweigen. Das Komische des ganzen Auftrittes hätte eigentlich zu allgemeiner Heiterkeit angeregt; aber die Gegenwart Burdas, der die Sache sichtlich ernst nahm und überdies nicht ganz ohne Verlegenheit schien, drängte die Äußerung einer solchen Stimmung zurück. Wir verabschiedeten uns von ihm mit einigen oberflächlichen Worten, und auch in der nächsten Zeit blieb uns diese Befangenheit ihm gegenüber, es war, als hätte etwas Fremdes, Unerwartetes seine leuchtende Erscheinung getrübt. Er selbst aber legte nun noch am selben Tage seinen Taufschein, der wirklich beide Namen enthielt, auf dienstlichem Wege vor und unterzeichnete von nun an mit augenfälliger Absichtlichkeit und ohne jede Abkürzung: Joseph Gottfried Burda.

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Dieser unliebsame Zwischenfall wurde übrigens wie alles, das keine bemerkenswerten Folgen nach sich zieht, umso eher wieder vergessen, als bald darauf ein Ereignis eintrat, welches die Gemüter in leicht begreifliche Aufregung versetzte. Das Regiment erhielt nämlich eines Tages ganz plötzlich den Befehl, in die Wiener Garnison einzurücken, was man damals als besondere Auszeichnung zu betrachten pflegte. Aber auch aus sonstigen Gründen wurde diese Anordnung von den Offizieren mit großer Freude begrüßt. Denn viele von uns waren gebürtige Wiener und konnten nunmehr ihre Angehörigen auf längere Zeit wiedersehen, während den übrigen Gelegenheit geboten wurde, das mehr oder minder fremde Leben der Hauptstadt kennen und genießen zu lernen. Nebenbei galt es, das Regiment in der kurzen Spanne Zeit, die hiezu noch vergönnt war, in den allerbesten Stand zu setzen, was jedem einzelnen rastlose Tätigkeit auferlegte - bis endlich der große Tag erschien, an welchem wir die Waggons bestiegen und, im Wiener Nordbahnhofe angelangt, mit klingendem Spiele der Kaserne entgegenzogen, die uns in einer der nächsten Vorstädte angewiesen war. Wien selbst trug damals noch ganz seinen früheren Charakter zur Schau. Die alten Tore mit den unbeweglichen Brücken über dem Stadtgraben bestanden noch; die Kastanien - und Lindenalleen auf dem Glacis führten nach den Vorstädten, und wenn heutzutage die innere Stadt von der Ringstraße wie von einem blendenden Juwelengürtel umspannt erscheint, so glich sie damals, von den Ringmauern der Bastei eingeschlossen, einem Schatzkästlein, in welchem die meisten Kostbarkeiten zusammengedrängt lagen. Auch der öffentliche Verkehr war einfacher, gleichsam intimer, als jetzt. Die verschiedenen amtlichen Berufszweige gingen räumlich nicht allzuweit auseinander, ebenso die mannigfaltigen Objekte des Vergnügens und des Genusses - und so hatte sich denn auch jeder von uns bald mit den Verhältnissen vertraut gemacht und in seiner Weise eingelebt. Diejenigen, welche zur Bequemlichkeit neigten und außerdienstlichen Begegnungen mit hohen und höchsten Vorgesetzten gern aus dem Wege gingen, vermieden es nach Möglichkeit, die Straßen und Plätze der Stadt zu betreten und verbrachten ihre freie Zeit in der Nähe der Kaserne. Andere hingegen - zumeist ältere Hauptleute mit stark entwickelten gastronomischen Neigungen - liebten die Weinstuben und Restaurants aufzusuchen, die sich eines besonderen Rufes erfreuten, woselbst sie auch meistens bis tief in die Nacht hinein hängen blieben, um dann in heiterster Stimmung nach Hause zurückzukehren. Schließlich aber gab es einzelne, die kein höheres Vergnügen kannten, als, aufs sorgfältigste angetan, das Pflaster des Grabens und Kohlmarktes zu beschreiten und solche Orte aufzusuchen, wo sie, um zu sehen und gesehen zu werden, ohne besonderen Kostenaufwand mit der vornehmen Welt zusammentreffen konnten. Daß zu diesen Wenigen auch Burda gehörte, versteht sich von selbst, und es war in der Tat bewunderungswür-

dig, wie vollendet er sich in dieser Hinsicht benahm. Wenn er so in nachlässiger Haltung vor dem weltberühmten Cafe Daum stand und die Vorübergehenden mit kühlen Blicken betrachtete, oder mit gemessenem Schritte seinen Rundgang auf der Bastei antrat, war er geradezu das Muster eines eleganten Offiziers. Niemand 5 vermochte im Wintersalon des Volksgartens, während die Kapelle der Gebrüder Strauß ernste und heitere Weisen zu hören gab, mit vollendeterem Anstände Platz zu nehmen, und im Stehparterre der beiden Hoftheater wußte er stets einen Pfeiler zu erobern, an welchen gelehnt, er seine Blicke nach den Logen, das heißt nach den weiblichen Insassen schweifen ließ. 10 In dieser Zeit war ich Burda, der mich bis dahin nur wenig beachtete, näher getreten. Den Anlaß hiezu hatte eine ökonomische Frage gegeben. Es mangelte nämlich in den Kasernen an einer ausreichenden Zahl von Offizierswohnungen, infolgedessen mehrere von uns entsprechende Geldentschädigungen erhielten. Da war es denn nun Sitte, daß die Besitzer von sogenannten „Naturalquartieren" einen 15 oder auch mehrere Kameraden bei sich aufnahmen, damit jedem einzelnen die entsprechende Zinsquote zur Aufbesserung der schmal bemessenen Gage dienen könne. Auch Burda, der eine Wohnung in der Kaserne hatte, mußte daran denken, einen Mieter zu suchen - oder , wie dies in seiner Art lag, sich einen solchen zu erwählen. Daß die Wahl auf mich fiel, mochte in erster Linie wohl damit zu20 sammenhängen, daß ich zu der Kompagnie versetzt worden war, bei welcher er selbst stand; aber ich hatte immerhin Grund, seine Aufforderung als Auszeichnung zu betrachten und sie umso lieber anzunehmen, als sich ein besonderer, mir sehr erwünschter Vorteil daran knüpfte. Denn ich hatte schon damals literarischen Neigungen nachgegeben und wünschte im Laufe des Tages einige ruhige, 25 völlig ungestörte Stunden zu haben, aber wie wäre dies in einer kameradschaftlichen Wirtschaft, wo es in der Regel ziemlich wüst herging, zu erreichen gewesen! Burda jedoch, der die Rücksicht in Person war und überdies stets seine eigenen Wege ging, bot mir in dieser Hinsicht alle Sicherheit. Ich kündigte sofort in dem Privathause, wo ich mich bereits eingemietet hatte, und zog in seine Wohnung, 30 welche eigentlich nur aus zwei Zimmern bestand; diese aber waren sehr geräumig, und jedes hatte seinen eigenen Eingang. Die Verbindungstür wurde abgesperrt, von beiden Seiten ein Kasten davor gerückt - und die Sache war in Ordnung gebracht. Anfänglich hielten wir uns beide ziemlich fern voneinander; er aus gewohnter 35 Zurückhaltung - ich aus Furcht, ihm lästig zu fallen; es war eben, als wohnte jeder für sich allein. Im übrigen befand sich Burda während des Tages nur selten zu Hause; war dies aber der Fall, so lag er gewöhnlich auf einer niederen Ottomane, die er aus zwei übereinander geschichteten Strohsäcken und einem Überwurf aus grell gemustertem Zitz höchst sinnreich hergestellt hatte, und las, was er sehr 40 gerne tat, französische Romane. Fast niemals drang ein störender Laut zu mir herüber, und ich konnte deutlich nachfühlen, wie er beim Kommen und Gehen 10

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den Schall seiner Schritte sorglich abdämpfte. Nur seine häufigen Waschungen vernahm ich und bisweilen auch ein leises Geräusch, welches er dadurch hervorbrachte, daß er seine neueste Uniform stets eigenhändig bürstete; ein heikles, wichtiges Geschäft, das er selbst seinem außerordentlich geschulten Diener nicht anvertrauen mochte. So trafen wir denn außer Dienst nicht allzu oft zusammen, am häufigsten noch im Burgtheater, das ich, begreiflicherweise, so oft es nur anging, besuchte, während Burda jeden zweiten Tag mit der Oper abwechselte. Fanden wir uns nach der Vorstellung zufällig im Foyer, so pflegten wir gemeinschaftlich nach Hause zu gehen, denn nach dem Theater zu soupieren, gestatteten unsere Mittel nicht. Hingegen lud er mich zuweilen in huldvoller Stimmung ein, bei ihm den Thee zu nehmen, was allerdings im eigentlichsten Wortsinne zu verstehen war, da in der Regel Rum und Sahne fehlten und höchstens etwas abgelegenes Weißbrot als Beigabe erschien. Eines Tages hatte ich mich eben an den Schreibtisch gesetzt, um den zweiten Gesang eines größeren Gedichtes in Angriff zu nehmen, zu dem ich mich unter dem Eindruck von Ernst Schulzes „Bezauberter Rose" hatte verleiten lassen, als ich an der Verbindungstür ein leises, immer eindringlicher werdendes Klopfen und zuletzt die Stimme Burdas vernahm: „Störe ich, wenn ich einen Augenblick hinüberkomme?" Obgleich mir nun diese Unterbrechung nicht sehr gelegen kam, so war es doch selbstverständlich, daß ich entgegen rief: „O, nicht im geringsten! Es wird mich sehr freuen, dich bei mir zu sehen." Und damit eilte ich an den Eingang, um Burda zu empfangen, der auch alsbald, ein zusammengefaltetes Papier in der Hand, bei mir eintrat. Nachdem ich ihn gebeten hatte, auf einem der beiden braun gestrichenen Stühle Platz zu nehmen, die einen großen Teil meiner Zimmereinrichtung bildeten, fragte ich, was ihn zu mir führe. „Ich habe hier," sagte er, „ein paar Verse niedergeschrieben, und da ich weiß, daß du dich mit Poesie beschäftigst, so wollte ich dich bitten, das Gedichtchen durchzusehen, ob sich nicht etwa Verstöße gegen das Metrum oder sonstige Fehler eingeschlichen haben. Willst du mir diese Gefälligkeit erweisen?" „Mit größtem Vergnügen," erwiderte ich, indem ich das Blatt entgegennahm. Es enthielt zehn bis fünfzehn Verse, die im ganzen ziemlich steif, aber vollständig korrekt waren und beiläufig mit folgenden Reimen schlössen: „Soll mir der Stern der Hoffnung nicht erbleichen, So gib, erhab'ner Engel, mir ein Zeichen!"

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„Es ist nichts daran auszusetzen," sagte ich, das Papier zurückgebend. „Ich dachte es wohl," entgegnete er ernst. „Aber ich wollte ganz sicher gehen." Jeden anderen würde ich möglicherweise jetzt gefragt haben, an wen eigentlich die Verse gerichtet seien; allein Burda gegenüber war das nicht zu wagen. Auch in11

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teressierte es mich nicht gerade übermäßig. Diesmal aber war es mir, als wollte er gefragt sein. Denn er blieb mit gekreuzten Beinen sitzen und blickte, die rechte Fußspitze hin und her bewegend, wie erwartungsvoll vor sich hin. Ich unterbrach endlich das Schweigen, indem ich, wenngleich noch immer etwas zaghaft, begann: „Und darf man vielleicht wissen — ?" Er wandte rasch das Haupt und streckte mir die Hand entgegen: „Lieber Freund, du hast in der Zeit unseres Zusammenwohnens nicht bloß meine Zuneigung, sondern auch meine Achtung in hohem Grade erworben. Ich kann und darf dich daher auch vollständig in alles einweihen - umsomehr, als es mir, offen gestanden, ein Bedürfnis ist, diesmal einen Vertrauten zu haben. So höre denn: die Verse sind an die Jüngste der Prinzessinnen L... gerichtet." Nun hatte ich allerdings nichts Geringes zu hören erwartet; dennoch erstarrte ich fast vor Erstaunen. Daß Burda seine Blicke so hoch erheben könne, überstieg all und jede Voraussetzung, wenn ich auch nicht umhin konnte, seinen sublimen Geschmack zu bewundern. Die Prinzessinnen L... gehörten zu den blendendsten Erscheinungen der aristokratischen Frauenwelt, welche damals an Schönheiten so auffallend reich war. Von mütterlicher Seite verwaist, dem Alter nach kaum um je ein Jahr voneinander verschieden, trugen sie alle drei mit ihren kühn und doch zart geschwungenen Nasen die ausgesprochenste Familienähnlichkeit zur Schau, und wenn sie, in der Regel gleich gekleidet, in der Loge saßen oder in den Prater fuhren, so mochte dieser Anblick wohl viele Herzen höher schlagen gemacht haben. Daß aber irgend ein Erdensohn, wenn er jenen Kreisen nicht angehörte, es wagen sollte, der Tochter eines Fürsten aus souveränem Geschlechte, welcher am Hofe eine der ersten Stellungen einnahm, in solcher Weise, mit solchen Erwartungen zu nahen, war unfaßbar. Ich blieb sprachlos. Burda schien sich an meinem Erstaunen zu weiden. „Nun," sagte er endlich lächelnd, „siehst du darin etwas so ganz Unmögliches?" Nun galt es wieder, ihn nicht zu verletzen. „O nein - durchaus nicht — ich habe nur nachgedacht. Auf welche Art willst du denn der Prinzessin das Gedicht zukommen lassen?" „Auf welche Art? Ganz einfach durch die Post." „Durch die Post?" „Natürlich. Du weißt, daß ich mich ein wenig auf Kalligraphie verstehe. Ich bringe also die Verse ohne Unterschrift und ohne meine Hand zu verraten aufs zierlichste zu Papier. Auf der Adresse ahme ich eine Damenschrift nach, und um die Empfängerin sofort wissen zu lassen, von wem der Brief kommt, siegle ich mit feinem, blaßgelbem Lack - mit der Farbe unserer Aufschläge," setzte Burda erklärend und bereits etwas ärgerlich hinzu, da er in meiner Miene noch immer keine verständnisvolle Zustimmung bemerken mochte. „Das ist alles ganz gut," warf ich jetzt ein. „Aber wie, wenn der Brief in unrechte Hände fällt?" 12

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Burda sah mich mit mitleidsvoller Überlegenheit an. „In unrechte Hände? Glaubst du denn, daß man in fürstlichen Häusern den Töchtern die Briefe öffnet, wie dies wohl in bürgerlichen Kreisen von Seiten mißtrauischer Väter und Mütter geschehen mag?" „Vom Öffnen ist nicht die Rede. Aber der Brief kann in Gegenwart anderer Personen überbracht werden. Und wenn dann hinsichtlich seiner an die Empfängerin eine Frage gerichtet wird - was soll sie erwidern?" Burda rückte ungeduldig auf dem Stuhl hin und her. „Lieber Freund," sagte er gereizt, „man sieht doch gleich, daß du keine Ahnung hast, was in der Aristokratie Sitte und Gepflogenheit ist. In solchen Familien hat jedermann seine eigenen Appartements, seine eigene Dienerschaft - und man empfängt eben seine Briefe für sich allein. Indessen hast du in gewissem Sinne recht," fuhr er nach einer Pause einlenkend fort; „ich selbst verkenne ja das Bedenkliche meines Unternehmens nicht. Aber du wirst zugeben, daß meinerseits etwas gewagt werden muß; denn die Prinzessin kann doch nicht den ersten Schritt tun. Im übrigen habe ich alles wohl erwogen und reiflich überlegt. Die Sache steht einfach so: entweder erwartet man - und ich habe Gründe, dies aufs bestimmteste vorauszusetzen - von mir eine Kundgebung, dann begreifst du wohl, daß es mit dem Briefe keine Gefahr hat. Denn selbst angenommen, daß er der Gegenstand irgend einer Frage würde, so besitzt man gewiß auch den nötigen weiblichen Scharfsinn, um sich aus der Affäre zu ziehen. Oden ich habe mich bis jetzt vollkommen getäuscht — nun, dann wird man die Verse einfach beiseite werfen - und alles ist aus." Diese ruhige Auseinandersetzung wirkte. Mir selbst kam jetzt das Ganze weniger befremdlich vor. Ich hätte freilich noch einwenden können, daß in dem Schritte, den er unternahm, etwas Verletzendes für die junge Dame selbst liege; aber ich unterdrückte diese Bemerkung und sagte bloß: „Ich sehe, du hast alle Umstände aufs genaueste in Betracht gezogen, und so kann ich dich nur bitten, mir zu verzeihen, daß ich mir gestattet habe — " „Du bist vollkommen entschuldigt," sagte er herablassend, indem er sich erhob. „Es war ja deine Pflicht, mich auf mögliche Zwischenfälle aufmerksam zu machen - und ich danke dir dafür. Damit du jedoch siehst, wie grundlos deine Einwürfe waren, so fordere ich dich auf, Zeuge meines Erfolges zu sein." Er stand einen Augenblick nachsinnend. „Heute ist der Zwölfte - morgen sende ich das Gedicht ab - am Vierzehnten erhält es die Prinzessin - und am Fünfzehnten hat man die Loge im Burgtheater, denn es ist ein ungerader Tag. Ich ersuche dich also, am Fünfzehnten mit mir gemeinsam das Burgtheater zu besuchen und während der Vorstellung an meiner Seite zu bleiben. Das weitere wirst du sehen." Damit reichte er mir die Hand und begab sich, von mir auf den Gang hinaus geleitet, in sein Zimmer. Als ich wieder allein war, wirbelte es mir im Kopfe. Sollte es möglich sein! rief ich aus. Sollte die Prinzessin wirklich .... Warum nicht? Es waren ja doch 13

schon ähnliche Fälle vorgekommen! Burdas Zuversicht hatte etwas Anstekkendes; sie schien sich jetzt auch mir mitteilen zu wollen. Aber nein, nein! Es ist ganz und gar undenkbar! sprach endlich die gesunde Vernunft und behielt das letzte Wort. Dabei vergaß ich freilich, daß ich vorhin selbst daran gegangen war, in dem zweiten Gesänge meiner Dichtung mit glühenden Farben ein geheimes Stelldichein zu schildern, welches zwischen einer Königstochter und einem Knappen (der sich allerdings am Schlüsse als Königssohn würde entpuppt haben) stattfinden sollte.

III. 10

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Der Tag, oder besser gesagt der Abend, an welchem Burda von dem „erhabenen Engel" ein Zeichen erwartete, war da. Wir begaben uns also - und zwar ziemlich früh - in die noch dämmerhaften Räume des Burgtheaters, um uns einen guten, vollkommene Umschau gewährenden Platz zu sichern. Diese Vorsicht erwies sich übrigens als überflüssig. Denn man gab Minna von Barnhelm, welches Stück bei den meisten von uns in dem Rufe stand, langweilig zu sein, und obgleich sein zweiter Titel für das Militär sehr anziehend hätte klingen sollen, so blieb doch diesmal das Parterre, wo es sonst von Uniformen wimmelte, um so spärlicher besucht, als im Kärntnertor-Theater der „Prophet" aufgeführt wurde, welche Oper damals mit Ander als Johann von Leyden noch immer eine sehr starke Zugkraft ausübte. Burda aber wollte in der Minna von Bamhelm ein besonders günstiges Vorzeichen erblicken; ja er warf sogar hin, daß man das Stück vielleicht auf ausdrücklichen Wunsch der Prinzessin angesetzt habe. Ich fand diese Voraussetzung ziemlich gewagt, was er auch zugab; indes blieb er dabei, es sei jedenfalls ein merkwürdiges Zusammentreffen der Umstände. Inzwischen hatte sich der lichtspendende Kronleuchter von oben herab gesenkt; das Haus belebte sich, das Niederklappen der Sperrsitze wurde vernehmbar und mischte sich mit einzelnen Klagelauten der Instrumente, die man im Orchester zu stimmen begann. Endlich war die Ouvertüre in gewohntem Mißklange verhallt - und die Vorstellung begann. Jetzt konnte man ganz deutlich wahrnehmen, wie spärlich das Theater überhaupt besucht war. Die Logen- und Sitzreihen wiesen klaffende Lücken auf, ein Beweis, daß die vornehme Welt das klassische Lustspiel ebenfalls nicht besonders zu schätzen wisse. Nur die Galerien erschienen stark besetzt. Auch die fürstlich L... sehe Loge zeigte sich zu sichtlicher Bestürzung Burdas leer. Schon hatte sich die erste Szene zwischen Just und dem Wirt - von Laroche und Beckmann aufs 14

köstlichste dargestellt - abgespielt; schon hatte Major Tellheim seinen Edelmut, Ludwig Löwe als Werner den unverwüstlichen Zauber seines Naturells zu entfalten begonnen, der Vorhang fiel - und noch immer gähnte die Loge wie ein dunkler Abgrund, in den die Hoffnungen Burdas zu versinken drohten. Da - als das 5 Orchester eben mit einer jammernden Zwischenmusik anhob, konnte man in dem nicht allzu geräumigen Viereck ein leichtes Schimmern und Wehen bemerken; Stühle wurden gerückt - und die drei Schwestern setzten sich, während Burda vor Aufregung zitterte, an die Brüstung. Der zweite Akt begann. Louise Neumann, als Franziska, schlug ihre schalkhaf10 testen und dabei innigsten Laute an, die Aktion verwickelte sich - und nun nahm das Stück einen immer lebhafteren Fortgang, bis es am Schlüsse des dritten Aktes zu stürmischem Beifalle hinriß. Ich betrachtete Burda. Er hatte die ganze Zeit über regungslos an seinen Pfeiler gelehnt dagestanden. Eine stille, wonnige Verklärung war über seinem Antlitz ausgebreitet, und seine Augen schimmerten in 15 feuchtem Glänze. Was nun die jungen Damen in der Loge betraf, so konnte ich durchaus nicht bemerken, daß man Burda irgend welche Beachtung schenke. Die Prinzessinnen hatten anfänglich etwas zerstreut nach der Bühne geblickt; bald aber war ihre Aufmerksamkeit gefesselt worden, und jetzt, nachdem sich der Vorhang wieder herabgesenkt, sprachen sie leise miteinander. Dabei sahen sie 20 wohl im Hause umher, und ihre Blicke schweiften auch über das Parterre; ob aber die Jüngste Burda besonders ins Auge gefaßt habe, ließ sich nicht ermitteln. Dieser verließ jetzt seinen Standort und winkte mir mit den Augen, ihm in den kleinen, niederen Seitengang zu folgen, welcher als Verlängerung des Parterres benützt wurde und, obgleich man von dort aus kaum die Bühne sehen konnte, in 25 der Regel ebenfalls überfüllt war. Heute aber zeigte er sich leer und vereinsamt, und Burda setzte sich auf die schmale, hartgepolsterte Bank, die an der Wand hinlief. Nachdem ich mich neben ihm niedergelassen hatte, flüsterte er mir zu: „Nun, hast du bemerkt?" „Bemerkt? Was denn?" 30 „Daß sie ganz in Gelb gekleidet ist." „Das ist mir nicht aufgefallen." „Weil du nicht darauf geachtet hast. Tritt hinaus und überzeuge dich, daß sie unsere - das heißt m e i n e Farbe trägt." Als ich mich nun wieder an meinen früheren Platz begab, hatte der vierte Akt 35 bereits begonnen. Ich blickte nach der Loge - und in der Tat, es war so, wie Burda gesagt hatte. Das tief in den Schultern ausgeschnittene Kleid war von mattem Gelb; im dunklen Haar wiesen sich gelbe Rosen - und vor allem leuchtete mir ein großer Fächer von hellem Goldgelb in die Augen, den die Prinzessin nachlässig auf und nieder bewegte. Ich begriff nicht, wie ich dies alles hatte übersehen kön40 nen, da es doch um so auffallender war, als die beiden älteren Schwestern heute anders, und zwar in zartes Blau gekleidet waren. Es sah wirklich wie Absicht aus. 15

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Das Stück näherte sich dem Ende. Burda war inzwischen wieder an meiner Seite erschienen, und als jetzt der Vorhang fiel, raunte er mir zu: „Komm, wir wollen sie noch in den Wagen steigen sehen." Wir eilten in die Garderobe, nahmen unsere Mäntel und stellten uns in der Einfahrt auf. Das Haus leerte sich diesmal rasch, es dauerte daher nicht lange, so erschienen die Prinzessinnen, in weiße, mit Schwan besetzte Theatermäntel gehüllt. Ihr Vater, der gegen Ende der Vorstellung im Hintergrunde der Loge sichtbar geworden, folgte ihnen auf dem Fuße, während zwei Wagen vorführen. Man sonderte sich paarweise; der Fürst mit der jüngsten Tochter stieg in den ersten Wagen, die beiden anderen in den zweiten - und die schmucken Gefährte rollten von hinnen. Wir sahen ihnen noch eine Weile nach, und ich glaubte zu bemerken, daß sie, auf dem Michaelerplatz angelangt, sich trennten und jedes eine andere Richtung nahm. Nun entfernten wir uns, und Burda schlug, ohne ein Wort zu sagen, den Heimweg ein, doch nicht wie gewöhnlich durch die Stadt, sondern über das verödete Glacis vor dem Burgtor. Es war im Dezember. Der Tag hatte sich frostig angelassen, jetzt aber war es milder geworden. Feiner weißer Nebel lag wie ein matt durchleuchteter Schleier über der Stadt; dabei fing es in weichen, dichten Flocken zu schneien an. Da Burda in seinem Schweigen verharrte, so schritten wir eine Zeitlang stumm nebeneinander hin. Aber ich fühlte, daß er erwartete, ich würde das Gespräch eröffnen, und begann daher endlich: „Nun, hast du eine weitere Kundgebung erhalten?" Er warf mir einen Blick von der Seite zu. „Eine weitere Kundgebung?" erwiderte er scharf. „Genügt denn nicht diese e i n e , daß sie, wie schon erwähnt, meine Farbe trug? Hätte sie mir vielleicht noch Zeichen machen - oder vor dem Theater in die Arme fallen sollen?" Ich sah, wie sehr ich ihn mit meiner Frage gereizt hatte. „Keineswegs," erwiderte ich, „ich meinte ja nur — Und wenn du wirklich überzeugt bist, daß die Wahl der Farbe eine absichtliche war - " „Überzeugt?" rief er noch mehr aufgebracht. „Als ob da ein Zweifel sein könnte!" Und sich gewaltsam mäßigend fuhr er fort: „Ich vergesse, lieber Freund, daß du das Recht hast, mich vor möglichen Selbsttäuschungen zu warnen. Aber wie soll ich dir meine Überzeugung beibringen? Das bleibt doch immer nur Sache des Gefühls." „Gewiß," bekräftigte ich, um einem unersprießlichen Streite vorzubeugen. „Und dein Gefühl wird jedenfalls das richtige sein - wenn ich auch nicht absehe, was sich aus dem allen entwickeln soll." Er blieb stehen und blickte mir bei dem Schein einer nahen Gasflamme ernst ins Gesicht. „Entwickeln! Entwickeln!" wiederholte er verächtlich. „Mich wundert nur, daß gerade du so fragen kannst. Du bist doch Poet - oder willst 16

es wenigstens sein, und so solltest du auch begreifen, daß es Verhältnisse gibt, die keine weitere Entwicklung zulassen, weil sie an sich schon der Gipfel alles Glückes sind. Oder ist es nicht das höchste Glück, zu wissen, daß man die Gedanken, die Phantasie eines solchen Wesens beschäftigt? Daß man in einem 5 s o l c h e n Herzen die ersten Empfindungen wachgerufen hat? Was kann, was darf ich mehr erwarten?" Ich gestehe, daß ich mich beschämt fühlte. Das Zarte, Vergeistigte seiner Auffassung imponierte mir, es war, als hätte ich ihm ein Unrecht abzubitten. „Verehrter Freund," sagte ich mit aufrichtiger Wärme, „ich ersuche dich, vor al10 lern zu glauben, daß ich mich sehr wohl in deinen Seelenzustand versetzen kann. Aber ich gestehe dir auch offen, daß ich dich, trotz deines idealen Sinnes, den ich stets bewundert, doch für einen Mann gehalten habe, dem ein solch traumhaftes Glück auf die Dauer nicht zu genügen vermag." Er sah mich eigentümlich an. „Vielleicht hast du recht," erwiderte er nach einer 15 Pause, indem er sich wieder in Bewegung setzte. „Und damit du siehst, wie weit mein Vertrauen zu dir geht, will ich dich auch noch in eine andere Angelegenheit einweihen. Sie ist zwar bis jetzt nicht viel mehr als ein Luftgebilde; sie kann aber im Laufe der Zeit festere Umrisse annehmen - und dann Aussichten auf Möglichkeiten eröffnen, die gegenwärtig ganz undenkbar sind. Wenn du bei mir eine 20 Tasse Thee trinken willst, so werde ich dir alles darauf Bezügliche auseinandersetzen." Wir schritten nun rascher aus, und so waren wir bald zu Hause angelangt, wo uns der Diener Burdas zeremoniell die Mäntel abnahm. Dann servierte er auf einer blank gescheuerten, wie Silber aussehenden Zinnplatte den Thee, welchem heute, 25 wie zu voraussichtlicher Feier des erfolgreichen Abends, etwas kalte Küche beigegeben war, schob auf einen Wink seines Herrn noch einige Kohlen in den Ofen und verschwand. Nachdem wir den Thee genommen und Zigarren angezündet hatten, stellte Burda die Lampe auf eine Konsole, die neben der Ottomane stand, und lud mich 30 mit einer Handbewegung ein, dort Platz zu nehmen. Hierauf schloß er ein versperrtes Schiebfach seines Schreibtisches auf und zog ein Pack vergilbter und brüchiger Papiere hervor, die er, indem er sich jetzt gleichfalls setzte, zwischen uns beiden niederlegte. „Du entsinnst dich vielleicht noch," begann er nach kurzem Schweigen, „jenes 35 ärgerlichen Auftrittes beim Regimentsrapport, als wir noch in Brunn waren?" Nun entsann ich mich dessen sehr wohl, wollte es aber nicht sofort merken lassen. „Ach ja," sagte ich nach einer Weile, „du meinst die Geschichte wegen der Unterschriften?" „Allerdings. Und ich kann dir jetzt gestehen, daß der Oberst mir gegenüber 40 nicht ganz im Unrechte war - denn ich hatte mit jenem Gf in der Tat einen Doppelsinn verbunden." Er legte die rechte Hand auf die Papiere und fuhr 17

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fort: „Ich habe nämlich Grund, anzunehmen, daß ich aus einem alten adeligen Geschlechte stamme. Und zwar aus einem Grafengeschlechte, das seinen Sitz in Böhmen hatte, nach der Schlacht am Weißen Berge jedoch, in welcher es an der Seite des sogenannten Winterkönigs gekämpft, von Ferdinand dem Zweiten seiner Güter entsetzt und gezwungen worden war, das Land zu verlassen. Gewissen Traditionen zufolge waren es zwei Brüder, welche dieses Los getroffen. Der eine von ihnen hat sich, wie man glaubt, nach Sachsen gewendet, wo noch heute ein adeliges Geschlecht meines Namens blüht. Der zweite blieb verschollen. Gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts aber soll ein direkter Nachkomme von ihm - allerdings als bloßer Bürgerlicher - wieder in Österreich eingewandert sein, der sich auch wirklich B u r d a geschrieben hat. Schon mein Großvater war auf die mutmaßliche Deszendenz unserer Familie von diesem Manne aufmerksam gemacht und ermuntert worden, Nachforschungen einzuleiten. Dies geschah, und die hier liegenden Schriftstücke sind das Resultat jener Bemühungen. Sie stellen auch den fraglichen Zusammenhang so ziemlich klar - allein über den Hauptpunkt: ob nämlich der erwähnte Einwanderer wirklich ein Nachkomme der verschollenen Grafen Burda gewesen ist, konnte leider nichts Bestimmtes ermittelt werden. Mein Großvater ließ also die Sache, welche mit nicht unbeträchtlichen Kosten verknüpft war, um so eher auf sich beruhen, als ja im besten Falle wohl der Grafentitel, keineswegs aber die Wiedererlangung der konfiszierten Güter erzielt werden konnte, welche in den Besitz anderer, zu jener Zeit treu gebliebener Adelsfamilien übergegangen waren. Mein Vater war nun schon gar nicht der Mann, eine solche Angelegenheit wieder aufzunehmen, und ich muß es als wahres Wunder betrachten, daß sich diese Papiere in seinem Nachlasse noch vorgefunden haben. Ich selbst legte sehr lange Zeit hindurch kein Gewicht darauf; erst nach und nach habe ich ihre Bedeutung kennen gelernt - und jetzt, da sie mir unter den dir bekannten Umständen unschätzbar geworden, ist mein Entschluß zur Reife gediehen. Schon morgen sende ich das Ganze an einen jungen Historiographen ab, den ich in Brunn kennen gelernt, und welcher gegenwärtig am dortigen Landesarchiv in Verwendung steht. Ich hatte ihm schon damals einige Andeutungen gemacht, infolge deren er sich bereit erklärte, mir mit Hilfe seiner gelehrten Verbindungen an die Hand zu gehen. Vor allem, meinte er, wäre es geboten, mit den v o n Burda in Sachsen Fühlung zu nehmen und ein Einverständnis zu erzielen. Dann könnte es vielleicht unseren gemeinschaftlichen Bestrebungen gelingen, durch einen Gnadenakt der betreffenden Souveräne für beide Linien den Grafentitel, der mir ja selbstverständlich vollkommen genügen würde, zu erreichen." Ich war diesen Auseinandersetzungen mit wachsendem Erstaunen gefolgt und wußte fürs erste nicht, was ich erwidern sollte. Einerseits lag die Sache nicht geradezu außerhalb all und jeder Möglichkeit; allein die Durchführung erschien mir 18

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mit Hinblick auf die damit verbundenen Schwierigkeiten ganz und gar illusorisch. Ich überlegte eben, wie ich dies in zartester Weise andeuten sollte, als mir Burda zuvorkam. „Ich verkenne nicht," fuhr er fort, „welche fast unübersteiglichen Hindernisse sich in den Weg stellen. Denn ganz abgesehen davon, daß sich der erwähnte Hauptpunkt wohl niemals ganz ins klare wird setzen lassen, so ist es auch gewiß, daß man von Seiten jener Familien, in deren Reihen die Grafen Burda neuerdings aufzutauchen hätten, alles anwenden wird, um solche, wenn auch berechtigte Eindringlinge fern zu halten. Und sie werden um so leichteres Spiel haben, als sich der betreffende Stammbaum leider nicht rein erhalten hat. Hingegen könnte freilich der Umstand, daß ich zu einigen, gegenwärtig sehr hervorragenden Adelsgeschlechtern - zum Beispiel mit den Y... und den Z... - infolge von Ehebündnissen, die vor Jahrhunderten geschlossen wurden, sogar in verwandtschaftliche Beziehungen treten würde - gerade dieser Umstand, sage ich, könnte vielleicht dazu beitragen, daß man von seilen anderer hoher Persönlichkeiten, die du erraten wirst, fördernd in die Angelegenheit eingriffe und sie dem erfreulichsten Resultat zuführte." Es war erstaunlich, wie Burda sich alles und jedes zurechtlegte. Und in der Tat, wenn er sich hinsichtlich der Gefühle, die er der Prinzessin zumutete, nicht einer vollständigen Täuschung hingab, so erschienen seine Hoffnungen, so abenteuerlich sich diese ausnahmen, nicht ohne einen gewissen Haltpunkt. Ich hütete mich aber sehr, ihn darin zu bestärken, und sagte bloß: „Das wirft allerdings ein neues Licht auf die Sache, und wie immer auch der Erfolg sich gestalten möge, meiner besten Wünsche, meiner aufrichtigen Teilnahme kannst du gewiß sein." „Das bin ich," antwortete er, mir herzlich die Hand drückend. „So wie deines unverbrüchlichen Schweigens." Er war aufgestanden, um die Papiere wieder zu versorgen; ich aber, da es mittlerweile spät geworden, empfahl mich und ging auf mein Zimmer. Im Bette liegend, dachte ich unwillkürlich über alle diese Mitteilungen nach und verfolgte die Fäden, die sich hier zu einem so wunderlichen luftigen Gewebe ineinander schlangen. Als ich endlich einschlief, hatte ich verworrene Träume, in welchen die Gestalten Burdas und der Prinzessin aufs seltsamste mit jenen meines romantischen Gedichtes zusammenflössen, das ich übrigens seither nicht wieder aufgenommen hatte.

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IV.

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Weihnachten und Neujahr waren herangekommen. Ich hatte diese festliche Zeit fast ausschließlich im Kreise meiner nächsten Verwandten zugebracht, war daher mit Burda, der jetzt mehr als je seine eigenen Wege verfolgte, nur wenig zusammengetroffen. Erst der beginnende Karneval brachte uns einander wieder näher. Burda forderte mich nämlich eines Tages auf, mit ihm den Hofball zu besuchen, der demnächst stattfinden sollte, und an welchem jeder Offizier teilnehmen konnte. „Du kannst dir wohl denken," sagte er, „was mich dazu bestimmt. Die Prinzessin erscheint jedenfalls auch, und somit ist die erste, vorderhand einzig mögliche Gelegenheit zu persönlicher Annäherung geboten. Man wird es herbeizuführen wissen, daß ich vorgestellt werde - das weitere findet sich dann. Im übrigen ist es jedenfalls interessant, ein solches Fest in Augenschein zu nehmen." Ich pflichtete bei, und wir trafen die nötigen Verabredungen. Es war ein eisig kalter, dunkler Januarabend, als Burda und ich - wir hatten einen Fiaker genommen - in der Hofburg vorführen und die hell erleuchtete Treppe hinanstiegen. Der Eintrittssaal war noch ziemlich leer; nur diensttuende Hofchargen, einige höhere Militärs - darunter auch der Adjutant des Fürsten L... , ein noch sehr junger, etwas stutzerhaft aussehender Major - und mehrere Staatsbeamte, welche Ordensritter waren, standen in kleine Gruppen verteilt. Nach und nach aber bewegte es sich immer zahlreicher durch die hohen, weit geöffneten Flügeltüren herein. Es glänzte und flimmerte von gold- und silbergestickten Uniformen, von Ordensbändern und Sternen; die Großwürdenträger des Reiches erschienen, darunter ungarische und polnische Magnaten in reicher, malerischer Nationaltracht. Endlich die Damen: ein blendendes Gewoge von Spitzen, Sammt und Seide, von Blumen und Federn, von Diamanten und Perlen. Entblößte Nakken und Arme schimmerten; stolze, ausdrucksvolle Frauenköpfe tauchten auf, helle und dunkle Augen leuchteten, rosige Lippen lächelten Grüße zu. All das bewegte und drängte sich mehr oder minder rasch dem großen Saal entgegen, der erwartungsvoll die Zuströmenden aufnahm. Die Prinzessinnen L... waren noch nicht erschienen, und schon begann das Antlitz Burdas, mit dem ich mich nahe am Eingang hielt, sich zu verfinstern - als sie in Begleitung einer älteren Dame von auffallender Hoheit in Gestalt und Blick hereintraten. Heute alle drei in duftiges, mit kleinen Silberflittem übersäetes Weiß gekleidet, Maiglöckchen im Haar - ein entzückendes Bild jugendlicher Anmut und Frische. Diesmal konnte ich deutlich wahrnehmen, daß Burda sofort bemerkt wurde. Um die Lippen der beiden Älteren zuckte es eigentümlich, während die Jüngste - ich glaubte mich nicht zu täuschen - wie unmutig das Haupt abwandte und mit einer gewissen Hast dem Saale zustrebte. Als nun auch wir ihn betraten, standen wir vor einer dichten Menge, die keinen Überblick gestattete, während der Schall der verworrenen Stimmen wie fernes 20

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Meeresbrausen an unser Ohr schlug. Plötzlich trat tiefe Stille ein und die Massen teilten sich. Eine Tür hatte sich geöffnet, auf deren Schwelle der Zeremonienmeister erschien, das Nahen des Hofes ankündigend. Gleich darauf zeigte sich der jugendliche Monarch, der damals seine hohe Braut noch nicht heimgeführt hatte, eine Erzherzogin am Arm. Hinter ihnen die männlichen und weiblichen Familienmitglieder - dann der gesamte Hofstaat, mit dem Fürsten L... an der Spitze. Der Kaiser geleitete seine Dame nach der Balustrade, woselbst sie im Kreise der übrigen Platz nahm. Gleich darauf erhob sich der Taktierstab des Kapellmeisters und der Ball begann. Sofort vollzog sich eine Bewegung im Saale. Die älteren Herren verließen ihn oder zogen sich in entfernte Ecken zurück, während die Tanzlustigen, so gut es anging, in der Nähe der Damen blieben, welche längs der Wände zu sitzen kamen. Ich selbst hatte mich von Burda zurückgezogen und war mit mehreren andern in eine offene Verbindungstür getreten; von dort aus konnte ich den ganzen Saal überblicken, wo der Tanz bereits begonnen hatte. Bald fiel mir auch unter den walzenden Paaren die Prinzessin ins Auge, die mit einem blutjungen Dragoneroffizier von kleiner, aber zierlicher Gestalt lustig dahinflog. Ich spähte nach Burda und fand ihn an einem Pfeiler stehen, den er auch hier, hart an einem Spiegel, zu behaupten gewußt hatte. Wie ich ihn so betrachtete, der, ein Bild starrer Erwartung, vor sich hinblickte, kam mir seine Erscheinung weit weniger vornehm und anziehend vor, als sonst; er wurde offenbar von der ganzen Umgebung in den Schatten gestellt. Auch fiel mir jetzt zum erstenmal auf, daß seine Gesichtszüge eigentlich unbedeutend waren und daß er eine sehr kleine, gedrückte Stirn hatte. Während ich so meine Betrachtungen anstellte, fühlte ich mich leicht an der Schulter berührt. Ich wendete mich um - und stand dem Adjutanten des Fürsten gegenüber. „Dürfte ich Sie bitten," sagte der Major sehr freundlich mit leiser Stimme, „mir einen Augenblick zu schenken, Herr Leutnant. Ich hätte ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen." Er faßte mich zuvorkommend unter dem Arm und führte mich in ein kleineres Nebengemach, wo ein vereinsamtes Büffet stand. Dort lud er mich zum Sitzen ein und begann, indem er mir vertraulich näher rückte: „Vor allem möchte ich Sie fragen, wie der große, schlanke Offizier heißt, welcher im Saale an einem Spiegelpfeiler steht. Sie werden wohl wissen, wen ich meine, da Sie, wenn ich nicht irre, in seiner Gesellschaft hier erschienen sind." Ich war begreiflicherweise gleich anfangs sehr betreten gewesen; nun aber suchte ich mich zu fassen und nannte mit möglichster Unbefangenheit den Namen Burdas. „Und darf ich mir erlauben, weiter zu fragen, ob Sie mit diesem Herrn näher bekannt sind - das heißt, ob Sie mit ihm auf vertrautem Fuße stehen?" 21

Ich erwiderte, daß Burda mein Freund sei. „Das ist mir lieb," sagte der Major, indem er seine Hand leicht auf die meine legte. „Denn Sie können Ihrem Freunde auch einen wahren Freundschaftsdienst erweisen. Wollen Sie das?" 5 Diese Worte klangen höchst einschmeichelnd; aber mir ahnte nichts Gutes. „Gewiß bin ich bereit - und wenn Sie mir erklären wollen — " Er lehnte sich zurück und hustete leicht. „Nun," begann er, „das Ganze ist von nicht allzu großer Bedeutung - aber immerhin eine delikate Angelegenheit. Ihrem Freunde hat es nämlich beliebt, an der jüngsten Tochter meines 10 Chefs Wohlgefallen zu finden. Nun steht dies allerdings jedermann frei, besonders einem in jeder Hinsicht ausgezeichneten Offizier, wie dies Ihr Freund ohne Zweifel ist. Nur mit den Kundgebungen seines Wohlgefallens sollte er, in richtiger Erwägung der Umstände, etwas vorsichtiger sein. Daß er im Theater beständig nach der fürstlichen Loge blickt, möchte noch hingehen. Allein 15 die Prinzessin kann seit einiger Zeit kaum mehr ans Fenster treten, ohne den Herrn Leutnant zu gewahren, der vor dem Palais auf und niederschreitet; sie kann keinen Spaziergang unternehmen, ohne von ihm, wie von ihrem Schatten, gefolgt zu werden - ja selbst, wenn sie ausfährt, weiß es Ihr Freund so einzurichten, daß er beim Ein- und Aussteigen stets in der Nähe ist. Unlängst 20 ist es sogar vorgekommen, daß, als der Wagen eine Zeitlang vor einem Juwelierladen hielt, eine Rose durch das offene Coupefenster geworfen wurde. Im Anfang," fuhr der Major mit ironischem Lächeln fort, „hat man die Sache nicht allzu übel aufgenommen. Sie wissen ja, junge Damen sind - wie soll ich nur sagen? - unter allen Umständen nicht ganz frei von einer gewissen Koket25 terie. Bald aber moquierte man sich - und jetzt, da bereits zum zweitenmale mit der Post anonyme Verse eingetroffen sind, in welchen die licentia poetica bis zum äußersten getrieben wurde - jetzt fängt man an, diese fortgesetzten Huldigungen unerträglich zu finden und hat sich bemüßigt gesehen, den durchlauchtigsten Papa ins Vertrauen zu ziehen. Dieser hat wieder mich be30 auftragt, die Sache in unauffälligster, schonendster Weise beizulegen, und ich selbst glaube am besten zu tun, wenn ich Sie jetzt herzlich bitte, Ihren Freund auf das Unstatthafte seines Benehmens aufmerksam zu machen." Da hatte ich nun, was ich vorausgesehen, und befand mich in größter Verlegenheit. „Sie werden nicht verkennen, Herr Major," sagte ich nach einer Pau35 se, „welch peinlichen Auftrag Sie mir da erteilen. Es fällt immer ein schiefes Licht auf denjenigen, der sich in fremde Angelegenheiten mischt, und oft wird gerade der wohlmeinendste Rat zur Beleidigung. Das aber habe ich meinem Freunde gegenüber zu befürchten, der in jeder Hinsicht von äußerster Empfindlichkeit ist. Da ich jedoch erkenne, daß ihm jedenfalls ein Wink gegeben 40 werden muß, so werde ich es trotzdem versuchen, wenn ich auch - und ich bitte dies wohl zu beachten - für den Erfolg nicht einstehen kann." 22

„Gewiß, das können Sie nicht," sagte der Major, indem er aufstand. „Aber ich lege Ihnen die Sache noch einmal ans Herz; denn ich würde es aufrichtig bedauern, wenn ich gezwungen wäre, andere Wege einzuschlagen." Er hatte bei diesen Worten eine etwas strenge Miene angenommen und reichte 5 mir die Hand zum Abschied. Den unerquicklichsten Gedanken und Empfindungen überlassen, ging ich noch eine Weile auf dem glatten Fußgetäfel des stillen Raumes auf und nieder, in welchen die Tanzmusik, leicht gedämpft, herüberdrang. Da war denn der leuchtende Traum Burdas zerflossen und hatte einer höchst unangenehmen Wirklichkeit 10 Platz gemacht! Was sollte ich nun tun? Wie dem Verblendeten die Augen öffnen, um ihn vor dem Fluch der Lächerlichkeit - und vielleicht vor noch Schlimmerem zu bewahren? Ich trat an das Büffet und trank ein Glas Limonade, ohne den Süßigkeiten Beachtung zu schenken, die vor mir in allen Formen und Farben aufgehäuft waren. Dann machte ich mich wieder auf den Weg nach dem Saale, wo eben 15 eine Fransaise zu Ende ging. Wie ich bemerken konnte, hatte die Prinzessin auch diese mit dem jungen Dragoneroffizier getanzt, dessen zartes, fast mädchenhaftes Gesicht sehr erhitzt aussah. Als sich jetzt die Reihen lösten und die Paare Arm in Arm nach rechts und links auseinander bogen, verließ eine Schar von Zusehern den Saal, darunter auch Burda, der kreidebleich war und mich kaum erkannte, als 20 ich jetzt auf ihn zuging. „Ah, du bist's!" sagte er endlich. „Wo hast du denn gesteckt?" „Ich war in einem Nebenzimmer, wo ich mich nach einigen Erfrischungen umgesehen hatte." „Und sonst - wie unterhältst du dich?" fragte er zerstreut. 25 „So ziemlich. Und du?" „O, gut, ganz gut! Aber ich gehe jetzt." „Schon jetzt?" , Ja; ich habe Kopfschmerzen - mir war den ganzen Tag nicht recht wohl - -" „Nun, dann gehe ich gleich mit. Ich habe hier auch nichts mehr zu suchen." 30 Ich konnte bemerken, daß ihm meine Begleitung sehr unangenehm war. Aber ich kehrte mich diesmal nicht daran. Er hatte sich offenbar in seinen Erwartungen getäuscht gesehen, war tief verstimmt - und so nahm ich mir vor, an seiner Seite zu bleiben und das Eisen zu schmieden, so lange es noch glühte. Auf der Straße angelangt, schlug er den Kragen seines Mantels hinauf und eilte 35 so rasch über den Josephsplatz, daß ich Mühe hatte, ihm zu folgen. „Warum läufst du denn so?" rief ich ihm zu. „Du hast doch gehört, daß ich Kopfschmerzen habe," erwiderte er zornig, ohne mich anzusehen. „Ich will bald zu Hause sein." „Du bist übler Laune," sagte ich. „Dir ist etwas Unangenehmes begegnet." 40 „Mir? Wieso? Warum?"

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„Ich weiß es," erwiderte ich fest. „Man hat sich auf dem Balle nicht umsonst deinetwegen an mich gewendet." Er blieb wie versteinert stehen. „An dich? Meinetwegen? Was willst du damit sagen?" fragte er mit bebender Stimme. Und nun teilte ich ihm, während wir weiter schritten, das Gespräch mit dem Major mit. Um ihn fürs erste möglichst zu schonen, streifte ich den heikelsten Punkt, nämlich den Unwillen der Prinzessin, nur flüchtig und legte das Hauptgewicht auf den Fürsten und auf den Auftrag, den dieser seinem Adjutanten erteilt hatte. Aber der Erfolg war ein ganz anderer, als ich vorausgesetzt. Bei jedem Worte, das ich sprach, schien er freier und leichter aufzuatmen; sein Antlitz erhellte sich - und plötzlich rief er mit triumphierendem Lachen: „ Also d a s ist es? Das!" Ich sah ihn verwundert an. „Also deswegen," fuhr er fort, „hat sie mich heute wie absichtlich keines Blikkes gewürdigt? Deshalb hat sie in einem fort mit diesem jungen Laffen, dem Prizen A... getanzt?! O, lieber Freund, ich könnte dich für deine Mitteilung umarmen!" Und damit schritt er, sich froh in die Brust werfend, dahin. „Aber lieber Freund, bedenke doch - " sagte ich ernst. „Nein! Nein! Kein Wort mehr, ich weiß genug. Es kann sein, daß ich mich in letzter Zeit etwas unvorsichtig benommen; vielleicht hat sich die Prinzessin selbst unklugerweise irgendwie verraten - und nun, da man merkt, wie es steht, will man mich ins Bockshorn jagen. O, ich kenne das!" Ich war äußerst unzufrieden mit mir und verwünschte es, daß ich so rücksichtsvoll vorgegangen. Ich hätte alles geradezu heraussagen sollen; denn nun hatte ich ihn gewissermaßen selbst zu dieser irrigen Auffassung verleitet. Diesen Fehler suchte ich wieder gut zu machen, indem ich sagte: „Du bist im Irrtum und sollst daher rundweg erfahren, daß sich die Prinzessin bei ihrem Vater über dein Vorgehen beschwert hat." Er lachte laut auf. „Das ist die rechte Höhe! Verzeih, lieber Freund, du bist in der Tat ein höchst naiver Mensch. Begreifst du denn nicht, daß man jetzt vor allem trachten muß, mich i h r gegenüber zu entmutigen? Nein, nein, mein Teurer! Bemühe dich nicht! Wie gesagt: ich weiß genug. Das Weitere wird meine Sache sein. Aber nun fühle ich das Bedürfnis, allein zu bleiben. Du wirst mich entschuldigen. Adieu! Schlaf wohl!" Und er ließ mich an der Ecke der Singerstraße, wo wir eben angelangt waren, stehen und bewegte sich raschen Ganges mit stolz erhobenem Haupte dem Stephansplatze zu. Ich ging langsam nach Hause. Je länger ich über das Vorgefallene nachdachte, desto mehr kam ich zur Einsicht, daß ich ein solches Ergebnis hätte erwarten können. Er hatte sich in seine fixen Ideen dermaßen verrannt, daß nur der allerunsanfteste Zusammenstoß mit der Wirklichkeit ihn zur Besinnung bringen 24

konnte. Mochte dieser Zusammenstoß erfolgen! Ich hatte das meinige getan und Burda mußte sich die Folgen selbst zuschreiben, wenn er meine Ermahnungen in den Wind schlug. —

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Seitdem waren kaum zwei Tage verstrichen, als er, der mir inzwischen sichtlich ausgewichen war, nach flüchtigem Pochen an die Tür in mein Zimmer stürzte. „Nun, was sagst du dazu?" rief er, indem er ein kleines bedrucktes Blättchen vor mich hin auf den Tisch schnellte. „Lies!" Es war ein Zeitungsausschnitt, der ein Inserat enthielt. Es lautete: „ T e 11 h e i m . Wir werden beobachtet. Äußerste Vorsicht geboten. Hoffe und vertraue! Unveränderlich F."

„Nun," drängte er, „verstehst du? Begreifst du?" „Was soll ich denn verstehen?" fragte ich, ihn zweifelhaft anblickend. „Nun, so will ich deiner Fassungskraft zu Hilfe kommen. T e 11 h e i m 15 damit bin ich gemeint. Wir w e r d e n b e o b a c h t e t - geht dir noch immer kein Licht auf? Ä u ß e r s t e V o r s i c h t g e b o t e n - werde ich mir nicht zweimal sagen lassen. H o f f e u n d v e r t r a u e ! U n v e r ä n d e r l i c h F . - Fanny. Du weißt doch, daß die Prinzessin Fanny heißt?" „Also du glaubst... ?" rief ich, außer mir vor Erstaunen über diese neue Phase 20 seines Wahnes. „Aus welcher Zeitung ist das?" „Aus dem Fremdenblatt." Dieses Journal wurde damals in den weitesten Kreisen gelesen und war so ziemlich das erste, das sich mit derlei Einrückungen befaßte. „Du setzest wirklich voraus, daß die Prinzessin sich an das Ankündigungs25 bureau des Fremdenblattes - " „Warum nicht?" unterbrach er mich rauh. „Es gibt doch vertraute Zofen, die man mit derlei beauftragen kann." ,Je nun - in Romanen. Aber selbst angenommen, daß man sich einer solchen Vermittlerin bedient, so wäre es doch weit einfacher - und auch weit besser gewe30 sen, wenn man dir geschrieben hätte." Er stutzte. „Vielleicht," erwiderte er verwirrt. „Und sie würde mir auch gewiß geschrieben haben," setzte er, froh eine Ausflucht vor sich selbst zu finden, rasch hinzu, „wenn sie meinen Namen wüßte." „An deiner Stelle würde ich es sehr sonderbar finden, daß dies noch nicht der 35 Fall ist. Es wäre doch sehr leicht gewesen, deinen Namen zu erfahren." 25

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„Allerdings," bekräftigte er, ärgerlich darüber, daß ich ihn in diese Klemme gebracht. Aber schon zeigte er sich von einer plötzlichen Eingebung erleuchtet. „Und man wird ihn auch wissen. Aber Geschriebenes bleibt nun einmal Geschriebenes und kann sich unter Umständen zu einem gefährlichen, weil verräterisehen Dokumente gestalten, während ein solches Inserat immer und ewig nur dem Eingeweihten verständlich bleibt. Ich sehe übrigens," fuhr er mit zusammengezogenen Brauen kühl und gemessen fort, „daß du dich, um mir nicht zustimmen zu müssen, gewaltsam gegen diese sprechende Tatsache verstockst. Ich finde dies, nachdem dich der Major ins Vertrauen gezogen, auch sehr begreiflich. Du kannst übrigens in dieser Hinsicht vollkommen beruhigt sein. Denn insoweit kennst du mich wohl, daß ich der Mann bin, der nunmehr, nach allem, was da vorgefallen, die äußerste Zurückhaltung beobachten wird. Daher auch diese ganze Angelegenheit zwischen uns beiden von heute an nicht mehr zur Sprache kommen soll." Er verbeugte sich sehr förmlich und ging aus dem Zimmer. Mochte er gehen! Wenn er nunmehr vollkommene Zurückhaltung bewahrte, so war dies gut für ihn, erwünscht für diejenigen, die seinen Kundgebungen ausgesetzt gewesen. Der Zweck meiner Mission war erfüllt. Im übrigen konnte die Sache auf sich beruhen.

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Seit jenem Tage war zwischen mir und Burda eine Entfremdung eingetreten; wir trafen nur bei unvermeidlichen Anlässen zusammen und sprachen dann über gleichgültige Dinge. Dazu kam noch, daß ich zu einer dienstlichen Verwendung bestimmt wurde, die mich eine Zeitlang von Wien ferne hielt, und so war bereits der Frühling im Anzug, als ich wieder dorthin zurückkehrte. Nicht ohne Unbehagen hatte ich meinem ersten Zusammentreffen mit Burda entgegengesehen, und war daher nicht wenig erstaunt, als er mich bei dem Besuche, den ich ihm doch abstatten mußte, sehr herzlich empfing. „Lieber Freund," sagte er mit einer gewissen Wehmut, indem er die Arme ausbreitete, „ich freue mich unendlich, dich wieder zu sehen. Offen gestanden, ich habe mich während deiner Abwesenheit sehr vereinsamt gefühlt. Allerdings," fuhr er leicht errötend fort, „durch eigene Schuld. Wir hätten ja wenigstens in brieflichem Verkehr bleiben können, wenn ich nicht damals durch mein schroffes Benehmen Nun, Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen, und ich kann dich nur bitten, zu vergeben und zu vergessen." 26

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Ich versicherte, daß dies längst der Fall sei. „Ich weiß, ich weiß, du bist ein guter, vortrefflicher Mensch - der einzige, dem ich mich anvertrauen konnte - und noch anvertrauen kann. Daher habe ich auch dein Eintreffen mit Sehnsucht erwartet. Denn du bist jetzt in der Lage, mir einen außerordentlichen Freundschaftsdienst zu erweisen. Ich habe nämlich," fuhr er etwas kleinlaut fort, „die Dame, die ich dir ja nicht erst zu nennen brauche, schon lange - schon sehr lange nicht mehr gesehen. Du kannst dir meine Bestürzung vorstellen, als sie aufhörte, im Theater zu erscheinen. Da sich aber endlich auch ihre Schwestern nicht mehr in der Loge zeigten, so schloß ich auf irgend einen besonderen Umstand - und hatte auch das richtige getroffen. Denn wie ich durch einen günstigen Zufall - nachzuforschen wagte ich ja nicht - in Erfahrung gebracht, waren im fürstlichen Hause die Masern ausgebrochen, an welchen sämtliche Töchter darnieder lagen. Nun aber sind die beiden älteren längst wieder gesund und man erblickt sie nach wie vor im Theater - nur die jüngste bleibt unsichtbar. Meine Besorgnis ist also umsomehr zum äußersten gediehen, als ich bei der Vorsicht, die mir, wie du weißt, zur Pflicht gemacht wurde, für meine Person keinerlei Erkundigungen einziehen kann. Du aber hast hier in bürgerlichen Kreisen Freunde, Verwandte und Bekannte und es dürfte nicht auffallen, wenn einer beim Portier Nachfrage hielte." Da dies leicht zu bewerkstelligen war, so sagte ich zu und konnte ihm auch schon binnen kurzem mitteilen, daß die Prinzessin noch immer an einem Folgeübel der Masern leide, aber baldiger Genesung entgegensehe, eine Nachricht, die Burda mit melancholischer Freude aufnahm. Inzwischen war es wirklich Frühling geworden. Die Bäume auf dem Glacis hatten Knospen und Blätter getrieben, der Rasen schimmerte in zartem Grün, und die Feierlichkeiten, welche zu jener Zeit anläßlich der kaiserlichen Vermählung stattfanden, waren von herrlichstem Wetter begünstigt. Aber nebenher war auch die orientalische Frage wieder einmal eine brennende geworden, und schon hatten sich die diplomatischen Fäden jener europäischen Verwickelungen angesponnen, welche später mit dem Krimfeldzuge und durch die Einnahme von Sebastopol einen vorläufigen Abschluß finden sollten. Auch Österreich mußte inmitten der allgemeinen Rüstungen Stellung nehmen und schob Observationstruppen an die nördlichen und südöstlichen Grenzen des Reiches vor. Infolgedessen wurden einige Regimenter auf den Kriegsstand gesetzt, so auch unseres, indem es gleichzeitig Marschbereitschaft erhielt, um, wie der Befehl lautete, vorläufig in Böhmen Standquartiere zu nehmen. Diese kriegerischen Aussichten wurden von den Offizieren mit begeistertem Jubel begrüßt, und auch Burda würde mit eingestimmt haben, wenn ihn nebstbei nicht der Gedanke betrübt und gequält hätte, daß er jetzt die Prinzessin kaum mehr würde sehen können - und daß er sie, wie er sich ausdrückte, in einer doppelt Ungewissen und schmerzlichen Lage zurücklasse. 27

Der Tag des Abmarsches kam heran. Am Abend vorher bat mich Burda, noch einmal mit ihm ins Burgtheater zu gehen. „Du wirst sehen," sagte er, „sie kommt heute. Etwas in meinem Inneren deutet darauf hin. Sie wird unter allen Umständen erfahren haben, daß das Regiment morgen marschiert — und 5 wird das möglichste daran setzen, mir wenigstens einen Scheideblick spenden zu können." Ich hatte mich schon gewöhnt, auf derlei Reden kein Gewicht mehr zu legen. Ich bestärkte ihn weder in seinen Voraussetzungen, noch entmutigte ich ihn; ich hörte mit einem gewissen teilnahmsvollen Schweigen zu, das er sich auslegen 10 mochte, wie er wollte. Übrigens hatte er selbst seine frühere Empfindlichkeit und Reizbarkeit verloren; er war weich und hingebend geworden. Es war ihm offenbar nur mehr darum zu tun, jemanden zu haben, dem er seine Gedanken und Gefühle aussprechen konnte, unbekümmert, ob man zustimme oder nicht. Es wurden drei kleine Stücke gegeben. Während des ersten blieb die Loge leer; 15 bei Beginn des zweiten aber - ich traute kaum meinen Augen - erschien wirklich die Prinzessin. Und zwar ganz schwarz gekleidet - und allein. Das heißt, so gut wie allein. Denn die Dame, welche neben ihr Platz nahm, war ohne Zweifel ein Gesellschaftsfräulein oder ähnliches. Burda stieß mich leicht an; denn sagen konnte er nichts in dem Gedränge, das 20 uns umgab. Ich blickte nach der Prinzessin. Sie sah auffallend bleich und angegriffen aus. In der Hand hielt sie einen kleinen Veilchenstrauß, welchen sie von Zeit zu Zeit, den Duft einatmend, nahe vor das Antlitz brachte. Nachdem das Stück zu Ende gegangen war, erhob sie sich mit allen Zeichen der 25 Ermüdung und verschwand samt ihrer Begleiterin. Da jetzt in der Zwischenpause um uns her einige Bewegung entstand, flüsterte mir Burda zu: „Ich glaube, man ist fort. Wir wollen noch den Beginn des letzten Stückes abwarten, dann gehen wir auch." Wir schoben uns, um später keine Störung zu verursachen, näher dem Ausgan30 ge zu, und da die Loge wirklich leer blieb, entfernten wir uns schon nach den ersten Szenen, die nun auf der Bühne folgten. Nachdem wir unsere Mäntel genommen hatten, blieb Burda im leeren Foyer stehen. „Nun, habe ich richtig geahnt?" Ich wußte nicht, was ich erwidern sollte. 35 „Man sah, wie leidend sie noch immer ist," fuhr er fort. „Welche Überwindung muß es ihr gekostet haben, das Theater zu besuchen. Und was sagst du dazu, daß sie in Trauer erschienen ist?" „Das kann ein Zufall sein," sagte ich, fast zornig gegen eine Annahme kämpfend, die, ich muß es gestehen, unwillkürlich in mir selbst aufgetaucht war. 40 „Vielleicht ein entfernter Todesfall in der Familie - oder eine Hoftrauer, deren Ansage uns nicht mehr zugekommen ist." 28

„Möglich," warf er leicht hin, meiner Meinung sorgfältig ausweichend. „Aber was ist das?" fuhr er fort, indem er mit der Hand seine linke Brustseite betastete. Dann knöpfte er rasch seinen Mantel auf und zog aus der inwendig angebrachten Tasche einen Veilchenstrauß hervor, den er anfänglich selbst mit ungläubiger 5 Überraschung betrachtete. Endlich aber richtete er sich hoch empor und sagte, indem er mir die Blumen entgegenhielt, sehr ernst: „Lieber Freund, ich rede jetzt nichts mehr. Du hast, dessen bin ich sicher, diese Veilchen in der Hand der Prinzessin gesehen - und nun finde ich sie in meiner Brusttasche. Leb* wohl! Ich darf dich nicht länger deinen Angehörigen, von welchen du wohl noch Abschied wirst 10 nehmen wollen, entziehen und danke dir für deine Begleitung." Damit reichte er mir die Hand und ging. Ich war betroffen und verwirrt. Sollten diese Veilchen wirklich ... ? Doch nein! Es war ein Strauß wie jeder andere von den vielen hunderten, welche um diese Jahreszeit an allen Straßenecken feilgeboten wurden. Mußte es also gerade derje15 nige sein, den die Prinzessin .... Dem will ich auf den Grund kommen, sagte ich zu mir selbst und kehrte nach einigen Schritten, die ich schon auf die Straße hinausgetan, wieder um, um mich in die Garderobe zu begeben. Der eine von den beiden Wärtern, ein schmächtiges, grauhaariges Männchen, das gewöhnlich die Offiziere zu bedienen pflegte, war 20 eben auf seinem Stuhl sanft eingenickt. Bei meinem Erscheinen fuhr er empor. Ich trat vertraulich auf ihn zu und fragte: „Erinnern Sie sich des Offiziers, der gerade vorhin mit mir wegging?" Der Alte sah mich immer noch etwas schlaftrunken an; dann rief er: „O gewiß! Wie sollt1 ich nicht? Der große Herr Leutnant, den kenn' ich sehr gut." 25 Ich hatte dies erwartet. Denn Burda, wenn auch im allgemeinen sehr haushälterisch, liebte es doch, sich solchen Leuten gegenüber äußerst freigebig zu erweisen. „Nun also, dann können Sie mir vielleicht auch sagen, auf welche Art ein Veilchenbouquet in die Manteltasche des Herrn Leutnant gekommen ist?" „Veilchenbouquet? In die Tasche des Herrn Leutnant!?" rief der Alte und 30 schlug fast die Hände über den Kopf zusammen. Dann wühlte er verzweifelt in den Militärmänteln, welche dicht übereinander an der Wand des schmalen Raumes hingen. „Richtig! Richtig!" stöhnte er, „da hab' ich eine schöne Konfusion gemacht!" „Wieso?" 35 „Nun sehen Sie: das Bouquet war von einer Dame im zweiten Parterre - nicht mehr jung - aber interessant, sehr interessant. Sie hatte mich gebeten, es einem Hauptmann vom Regiment Alexander - Sie kennen ihn vielleicht - den mit dem ungeheuren Schnurrbart - in die Tasche zu praktizieren. Nun hat er auch solche Aufschläge - wenn auch mehr orangegelb - aber so bei Nacht - und der Mantel 40 des Herrn Leutnant hing gleich neben dem seinen - und da "er vollendete nicht und machte nur bezeichnende Gebärden des Verwechselns. 29

„Nun, nun," sagte ich, „nehmen Sie die Sache nicht so tragisch. Es braucht ja weder der Hauptmann, noch die interessante Dame davon zu erfahren. Und sollte man Sie wirklich zur Rede stellen, so können Sie Ihr Versehen ruhig eingestehen; es war ja kein Verbrechen. Nehmen Sie dies zu einstweiligem Trost." 5 Er empfing das Gereichte mit einem devoten Knix, zeigte aber nichts desto weniger immer noch große Unruhe. D a s also war herausgebracht. Aber wie stand es mit der schwarzen Kleidung? Gewiß ebenso, wie damals mit der gelben Toilette, die man offenbar ganz zufällig gewählt, da man sich in der Absicht, nach dem Theater mit dem 10 Fürsten eine Gesellschaft zu besuchen, anders gekleidet hatte als die Schwestern. So dachte ich, als ich mich wieder auf der Straße befand. Da durchzuckte es mich. Die Prinzessin hatte das Burgtheater besucht - wie nun, wenn die beiden ändern sich in der Oper befänden, wo eben italienische Stagione war und die Medori ihre Triumphe feierte? Da müßte sich zeigen, was es mit der 15 Trauer auf sich habe! Es war noch nicht allzu spät, und so eilte ich in das andere Theater hinüber. Man gab Verdis Ernani. Das Haus war überfüllt; die Türen des Parterres standen zu beiden Seiten offen, um auf dem Gange für diejenigen Raum zu schaffen, welche, um wenigstens zu hören, auf das Sehen verzichteten. Ich versuch20 te mich durchzudrängen, unbekümmert darum, daß meine Rücksichtslosigkeit Zeichen der Mißbilligung hervorrief. Indes konnte ich nicht weit gelangen. Die Bühne, sowie die rechte Seite des Theaters blieben mir durchaus verschlossen, nur die linke konnte ich ins Auge fassen. Dort aber, in einer kleinen Proszeniums-Loge, saßen auch die zwei Prinzessinnen in Gesellschaft je25 ner älteren Dame, die mit ihnen auf dem Hofball gewesen - und zwar alle schwarz gekleidet. Meine Vermutung hatte mich also nicht getäuscht: eine Familientrauer, wenn auch um kein nahes Mitglied, sonst würde man wohl das Theater gar nicht besucht haben. Ich war zufrieden gestellt und entfernte mich, ohne auf den Todesgesang Ernanis zu achten, der jetzt hinter meinem 30 Rücken stürmischen Applaus entfesselte. Also auch h i e r ü b e r befand ich mich nun im Klaren und dachte nur noch, während ich meines Weges ging, darüber nach, was die Prinzessin ins Burgtheater geführt haben mochte? Ganz einfach der Umstand, daß für sie in jener Proszeniums-Loge kein Platz gewesen. Oder noch wahrscheinlicher: sie 35 wollte nach längerer Krankheit zum erstenmal wieder das Theater besuchen und hatte ein kleines, heiteres Stück, das sie vielleicht besonders gerne sah, einer lärmenden Oper vorgezogen. Der letzte Faden von Burdas Hirngespinst zerflatterte. Und dennoch konnte ich diesmal nicht über ihn lächeln. Vielmehr überkam mich eine tief ernste, fast traurige Stimmung. Mußte ich mir 40 doch sagen, daß, von seinem Standpunkt aus betrachtet, in allen diesen Zufällen ein Schein der Absichtlichkeit lag; ich selbst war ja einen Augenblick wie30

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der an meinen Überzeugungen irre geworden. Es sah fast aus, als hätte sich das Schicksal vorgesetzt, mit ihm ein grausames Spiel zu treiben. — Am folgenden Tage, morgens acht Uhr, marschierten wir ab. Als wir die Franzensbrücke überschritten hatten und uns dem Bahnhofe näherten, stauten sich am Ende der Jägerzeile einige Wagen, von der vorüberziehenden Truppe aufgehalten. Jetzt rollte auch ein Fiaker heran, der rasch seine Pferde zum Stehen brachte. So viel man bemerken konnte - auf einer Seite war der Vorhang zur Hälfte herabgelassen - saß in dem eleganten Coupe eine dunkel gekleidete Dame. Ich sah, wie Burda, der nicht weit vor mir in den Reihen dahinschritt, plötzlich zusammenzuckte, dann gegen alle Vorschrift heraustrat und sich gegen den Fiaker umwendete. Wie? Sollte er am Ende glauben, daß die Prinzessin hierher gefahren kam, um ihn noch einmal zu sehen? Gewiß, das war seine Meinung. Immerhin! Mochte er sich noch an dieser Täuschung erfreuen, es ist ohnehin die letzte. Aber es war anders beschlossen.

VI. Das Regiment hatte die Kantonierungs-Stationen in Böhmen bezogen. Der Stab befand sich mit einem Bataillon in einer ansehnlichen Kreisstadt, alles übrige war in größeren oder kleineren Ortschaften verteilt. Die Kompagnie, bei welcher Burda - der mittlerweile zum Oberleutnant vorgerückt war - und ich standen, 20 hatte einen Marktflecken in der Nähe einer Bahnstation zugewiesen erhalten. Die Gegend war nicht ohne Anmut. Wohlbebaute Felder, saftige Wiesen wechselten mit sanften, schön bewaldeten Höhen ab. Auch war ein großes, gut gehaltenes Wirtshaus vorhanden, wo wir beide - den Hauptmann hatte der Bürgermeister in Quartier genommen - ein ganz behagliches Unterkommen fanden. Am äußersten 25 Ende des Fleckens führte, nach der Seite abzweigend, eine stattliche Lindenallee zu einem kleinen Schlosse empor, das ganz wie ein mittelalterliches Kastell aussah. Die Ringmauer und der runde, aus mächtigen Quadern aufgeführte Turm, der in einer weiten Plattform endigte, stammten gewiß aus jener Zeit und waren mit sichtlicher Sorgfalt wohl erhalten worden; auch alles später Hinzugebaute zeigte 30 sich den Resten der Vergangenheit möglichst angepaßt. Dieses Schloß gehörte der reich begüterten gräflichen Familie M... und wurde früher nur bei herbstlichen Jagdausflügen benützt; jetzt aber war es von einem jungen Paare bewohnt. Ein jüngerer Sohn des Hauses hatte sich nämlich im Laufe des Winters vermählt und es einer Hochzeitsreise vorgezogen, mit seiner Gattin die Honigmonde in dieser

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ländlichen Zurückgezogenheit zu verbringen. Man erzählte allerlei von dem abgeschlossenen, menschenscheuen Leben der Neuvermählten. In der ersten Zeit habe man sie gar nicht zu Gesicht bekommen; erst jetzt, da besseres Wetter eingetreten, könne man sie hin und wieder zu Pferd oder zu Wagen sehen, jedoch immer vereint, wie unzertrennlich, und es wurde sogar behauptet, daß die junge Gräfin, amazonenhaft geschürzt, ihren Gatten auf jedem seiner Birschgänge begleite. An uns selbst waren die beiden, als eben eine Kompagnieübung stattfand, in einem leichten Jagdwagen, der mit vier kleinen, von der Gräfin selbst gelenkten Schecken bespannt war, vorübergefahren. Burda hatte bei dieser Gelegenheit die Bemerkung hingeworfen, daß es eigentlich der Anstand erfordere, im Schlosse eine Visite abzustatten - und zwar in corpore. Unser Hauptmann aber, eine etwas derbe Natur, hatte darauf erwidert, das würde so aussehen, als wolle man sich aufdrängen. Man dürfe sich um diese Aristokraten nicht eher kümmern, als bis sie selbst von den kaiserlichen Offizieren, die wir seien, Notiz genommen. Auf Burda jedoch übte das Schloß immer stärkere Anziehungskraft aus. Er umschritt es bei jedem unserer gemeinsamen Spaziergänge in immer engeren Kreisen und liebte es, von einer nahen Anhöhe herab auf die geheimnisvollen Baumwipfel des Parkes zu blicken, der sich, nicht allzu ausgedehnt, dem Walde entgegenzog. „Ach!" rief er eines Abends, als eben die Sonne versank und ihr letztes Gold am Horizont aufflammen ließ, „ach, welch ein Glück, mit der Königin seines Herzens in so stolzer Abgeschiedenheit hausen zu können!" Dann nach einer Pause und mit dem Arme einen Kreis in der Luft beschreibend: „Wer weiß, ob nicht einer meiner Vorfahren einst über diesen Boden geherrscht hat? Aber was nützt es mir?" schloß er achselzuckend mit einem leichten Seufzer. Ein Schweigen trat ein. „Aber weißt du," sagte er plötzlich, indem er wieder das Schloß ins Auge faßte, „daß eines Tages die Prinzessin hierher kommen könnte?" Ich sah ihn so überrascht an, daß es ihn, wäre er noch der frühere gewesen, tief würde verletzt haben. Aber nun achtete er kaum darauf und fuhr gewissermaßen im Selbstgespräch fort: „Wenn ich nicht irre, so sind die M... mit den L... irgendwie verschwägert. Und da wäre es denn auch - sobald man meinen Aufenthaltsort erfahren hat - nicht allzu schwer, einen Besuch ins Werk zu setzen. Jedenfalls leichter, als damals allein in der Loge zu erscheinen - und sich morgens darauf an der Nordbahn zu zeigen." Ich hatte mich inzwischen gefaßt und erinnert, daß ich über nichts mehr zu staunen habe. ,Je nun," sagte ich, „es ist immerhin möglich." Am folgenden Nachmittag saßen wir auf der Bank vor dem Wirtshause, rauchten unsere Tschibuke und blickten dabei, ziemlich gelangweilt, auf eine große, teichähnliche Pfütze, die sich auf dem Marktplatze ausbreitete, und an deren Rande sich eine Schar schneeweißer Gänse ruhig sonnte. 32

Plötzlich vernahm man das Geräusch nahender Wagen und bald darauf kamen zwei Gefährte in Sicht. In dem ersten, einem geräumigen Landauer, saß das gräfliche Paar tief zurückgelehnt, während die leichte Kalesche, die knapp dahinter fuhr, sich leer zeigte. Man jagte so rasch vorbei, daß das harmlose 5 Geflügel, wild aufgescheucht, mit lautem Kreischen und Schnattern in die Pfütze hinein flüchtete. „Da wird jemand von der Bahn geholt," sagte Burda, seine Uhr hervorziehend. „Es ist jetzt halb drei, in einer Viertelstunde kommt der Zug. Ich bin neugierig, wer da eintreffen wird." 10 Wir blieben sitzen. Nach einer Weile vernahmen wir den fernen Signalpfiff, das Näherbrausen des Zuges - und es dauerte nicht lange, so kamen die beiden Wagen wieder zurückgefahren. Neben der Gräfin saß jetzt eine junge Dame, in welcher, obgleich sie das Antlitz mit einem blauen Reiseschleier verhüllt hatte, sofort die Prinzessin zu erkennen war. Der Graf nahm mit einer anderen 15 Dame - derjenigen, welche damals mit in der Loge erschienen war - den Vordersitz ein. In der Kalesche hatte eine hübsche Zofe Platz genommen, die, von Koffern und Schachteln umgeben, mit lebhaften Augen ziemlich herausfordernd um sich blickte. Burda hatte den ausgebrannten Tschibuk sinken lassen. Jetzt erhob er sich und 20 ging, ohne ein Wort zu sagen, in sein Zimmer hinauf. Ich war darüber sehr froh, denn daß die Prinzessin nun in der Tat erschienen, hatte mich derart aus der Fassung gebracht, daß ich in Verlegenheit gewesen wäre, irgend eine Meinung zu äußern. Das ist denn doch höchst merkwürdig! sagte ich zu mir selbst, als ich jetzt al25 lein war und mich anschickte, einer mir obliegenden dienstlichen Verrichtung nachzukommen. Dabei ging mir dieser neue Zufall - denn was anderes konnte es sein? - beständig im Kopfe herum. Die Sache bekam nunmehr, ganz objektiv betrachtet, ein eigentümliches Interesse, und ich war neugierig, was aus dieser unvermuteten Komplikation entstehen würde. 30 Als ich später wieder dem Wirtshause zuschritt, sah ich, wie eben ein wohlgenährter Lakai mit glattrasiertem Doppelkinn und einer leichten Mütze auf dem Kopfe sich näherte. Er kam offenbar aus dem Schlosse und trat jetzt in die Schankstube, deren Fenster offen standen, so daß ich vernehmen konnte, wie er von einigen Gästen, die drinnen beim Bier saßen, laut begrüßt wurde. 35 „Ah, Herr Georg!" rief einer. „Lassen Sie sich auch wieder einmal sehen!" Ich konnte nicht verstehen, was der also Empfangene erwiderte. Ich vernahm eigentlich nur ein hastiges Schlucken und Gurgeln, dann wurde ein Glas auf den Schenktisch gestoßen. „Sie haben ja Besuch bekommen!" hieß es weiter. 40 Nunmehr hörte ich, wie der Lakai sagte: „Freilich. Die Prinzessin L... , die beste Freundin unserer Gräfin. Schon vor sechs Wochen hätte sie kommen sollen, 33

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um dann später mit uns nach Italien zu reisen. Stattdessen ist sie krank geworden. Wer weiß, ob jetzt noch etwas aus der Reise wird. Ein Glück war's, denn es ist nicht mehr auszuhalten in dem Nest!" Nach diesem für die Eingeborenen nicht sehr schmeichelhaften Ausspruch stürzte er, wie ich, ein wenig durchs Fenster blickend, bemerken konnte, ein zweites Glas hinunter und suchte nach kleiner Münze, um seine Zeche zu bezahlen. „Sie wollen schon wieder fort!?" „Ich muß zur Bahn laufen und telegraphieren lassen. Es ist eine Schachtel im Coupe vergessen worden. So geht's, wenn man keine männliche Dienerschaft mitnimmt!" Und ohne Gruß eilte er hinaus. So also standen die Dinge. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, welche Genugtuung Burda beim Anblick der Prinzessin mußte empfunden haben, welehe Hoffnungen und Erwartungen er nunmehr an ihren hiesigen Aufenthalt knüpfte ... Aber diese Hoffnungen und Erwartungen, die der Zufall wachgerufen, sollten von diesem selbst sofort wieder vernichtet werden. Denn die unentschiedene, ratlose Haltung, welche die Regierung den fortschreitenden Ereignissen gegenüber noch immer bekundete, hatte einen beständigen Wechsel der militärischen Dispositionen zur Folge - und so bekam auch unser Regiment noch am selben Abend den Befehl, die Standquartiere sofort zu verlassen und nach Prag in Garnison abzurücken. Burda, nachdem er diese Neuigkeit vernommen, lachte bitter auf. „Fatales Geschick!" rief er aus. .Jetzt, nachdem die Prinzessin auch diesen Effort unternommen - jetzt muß — es ist wirklich unglaublich! Wie würde sich jetzt alles entwickelt haben! Wir hätten Einladungen nach dem Schlosse erhalten, sei es nun zu einer Jagd, zu einem Diner - oder was weiß ich! - Übrigens," setzte er nach einigem Nachsinnen hinzu, „Prag ist so übel nicht - und der Verlust nicht allzu groß; denn ich bin überzeugt, daß auch s i e in einiger Zeit dort erscheinen wird." Dieser Behauptung zeigte ich mich doch noch nicht gewachsen; es war mir, als befände ich mich einem Wahnsinnigen gegenüber. Er bemerkte nicht, wie ich zusammenzuckte, und fuhr fort: „Prag ist der Sitz des ganzen böhmischen Adels. Man macht also eben wieder irgend einen Besuch. Überdies wird es mir jetzt immer deutlicher, daß die Prinzessin bereits in Kenntnis von der Angelegenheit ist, die ich, wie du weißt, verfolge; sie würde sonst nicht so geradeaus vorgehen." Nach diesen Worten rief er seinen Burschen und befahl ihm, zu packen, welches Geschäft er mit verschränkten Armen gebieterisch überwachte. Es war ein heller, taufrischer Maimorgen, als wir abzogen und Burda einen 34

letzten Blick nach den Fenstern des Schlosses emporsendete, wo noch alles in tiefem Schlafe zu liegen schien.

VII.

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Prag war zu jener Zeit ein sehr angenehmer Aufenthaltsort. Die nationalen Sonderbestrebungen waren noch nicht zu ausgesprochenen Konflikten gediehen; sie gährten und zuckten, dem unbefangenen Blicke verborgen, noch unter der Oberfläche, und wenn auch die Stadt, infolge des slavischen Grundelementes ihrer Bevölkerung, keine deutsche genannt werden konnte, so war sie doch im besten Sinne des Wortes international. Zwischen Wien und Dresden die Mitte haltend, wurde sie, zumal im Sommer, wo ein großer Zug nach den böhmischen Bädern stattfand, ob ihrer prachtvollen Lage und ihrer alten Baudenkmale von vielen Fremden besucht, wozu gute Hotels, ein sehr annehmbares Theater und sonstige Ressourcen wesentlich beitrugen. Kurz, man konnte in Prag wie in einer Großstadt leben, und doch waren alle Bedingungen einfacher und weniger kostspielig als anderswo. Dieser Umstand kam Burda bei unserem Eintreffen sehr zu statten. Mit großer Befriedigung hatte er vernommen, daß die Offiziere nicht in der Kaserne untergebracht würden, daher es seine erste Sorge war, eine passende Wohnung zu suchen, die er auch bald gefunden hatte und welche er nunmehr allein bezog. Denn, sagte er zu mir, es ist jetzt vor allem geboten, ein anständiges „Home" zu besitzen. Es könne sich mancherlei ereignen und jedenfalls müsse er, wie die Dinge nun stünden, gewärtig sein, daß eines Tages irgend ein vertrauter Sendbote eintreffe, welchem gegenüber man sich in jeder Hinsicht „comme ilfaut" zu erweisen habe. So trat er denn auch sofort mit einem Möbelverleiher in Verbindung, der ihn mit allern Nötigen versah; außerdem ließ er für seinen Burschen eine Livree anfertigen, welche der eines Leibjägers gleich kam. Sich derart einrichtend, widerstrebte es ihm auch, seine Mahlzeiten in einer jener unscheinbaren Gastwirtschaften einzunehmen, auf welche wir anderen mehr oder minder angewiesen waren, und zog es vor, zwischen fünf und sechs Uhr im „Englischen Hof" zu dinieren, was er sich insofern schon erlauben konnte, als er sodann auf ein Abendessen verzichtete. Dabei zog er sich mehr und mehr vom kameradschaftlichen Verkehre zurück, was zwar anfangs nicht besonders auffiel, da man von seiner Seite ein gewisses Sich-Abschließen von jeher gewohnt war. Nach und nach aber wurde man stutzig und fühlte sich umsomehr befremdet, als Burda nebstbei ein sehr hochmütiges Benehmen zu entfalten begann, was früher 35

nicht seine Art war. Mich selbst behandelte er jetzt mit einer gewissen Herablassung, und ich empfand, daß er mich wie jeden anderen würde übersehen haben, wenn es ihm nicht ein Bedürfnis gewesen wäre, mich bei seinem Ideengange an der Seite zu behalten. Auch brauchte er jemanden, der für ihn, wenn er dienstlich 5 verhindert war, ins Theater ging, um nachzusehen, ob die Prinzessin, deren Eintreffen er von Tag zu Tag erwartete, nicht in einer Loge auftauche. Diese unerschütterliche Erwartung erfüllte sich selbstverständlich nicht; dafür aber geschah es, daß eine hochgestellte militärische Persönlichkeit, der Generaladjutant des Kaisers, in Prag eintraf und daselbst einen Tag verweilte. Es fügte sich, 10 daß wir ihm, ohne noch von seiner Ankunft zu wissen, vor dem Hotel, in welchem er abgestiegen war, begegneten, wobei er unseren militärischen Gruß freundlichst erwiderte. „Das war Graf G... !" sagte Burda, als wir den General hinter uns hatten, ganz aufgeregt. „Was ihn wohl hierher geführt haben mag?" 15 „Wer kann das wissen. Vielleicht geht er nach Karlsbad; er leidet ja bekanntlich an der Leber." „Möglich. Aber hast du bemerkt, wie eindringlich er mich ins Auge gefaßt hat?" „Das habe ich nicht wahrgenommen." 20 „Aber ich," sagte Burda kurz und verabschiedete sich, da wir eben bei der Gasse angelangt waren, in der er wohnte. Am Abend besuchte der Generaladjutant das Theater, wo wir ihn mit dem Landeskommandierenden in dessen Loge sitzen sahen. Man gab die Oper Martha, die der Graf wohl oft genug gehört haben mochte. Er schenkte auch der Vorstel25 lung nur wenig Aufmerksamkeit, sprach eifrig mit dem Kommandierenden und blickte dabei manchmal durch das Opernglas nach den Offizieren im Parterre; eine Art von Musterung, welche durchaus in der Natur der Sache lag. Beim Nachhausegehen sagte Burda: „Gib acht, es scheint etwas im Zuge zu sein. Er ist offenbar nicht ohne besondere Absicht nach Prag gekommen. Und 30 daß man Martha gegeben hat, ist ebenfalls sehr bezeichnend." „Wieso?" fragte ich. „Denke nur ein wenig über das Sujet nach, und du wirst dahinter gelangen." Nun ließ sich, wenn man auf die Hirngespinste Burdas einging, allerdings eine gewisse Ähnlichkeit seiner Lage mit der Lionels herausfinden - daß er aber in der 35 Vorführung der Oper geheimnisvolle Absichtlichkeit vermutete, machte mir den beklemmendsten Eindruck: ich begann ernstlich für seinen Verstand zu fürchten. Dabei befand ich mich in der ratlosen Lage eines Menschen, der einen zweiten auf dem besten Wege sieht, irrsinnig zu werden, und doch niemanden davon in Kenntnis setzen darf. Denn wie hätte ich den Seelenzustand Burdas samt allen 40 Einzelheiten, die ihn hervorgerufen, ohne die zwingendste Notwendigkeit preisgeben können? Ich überlegte schon, ob ich nicht diesen Anlaß benützen und ihm 36

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eindringliche Vorstellungen machen sollte, aber wir waren bereits in der Nähe seiner Wohnung angelangt und so trennten wir uns schweigend. Zwei Wochen waren seitdem vergangen, als eines Tages mittels Regimentsbefehls verlautbart wurde, Seine Majestät habe mit allerhöchster Entschließung die Errichtung eines Adjutantenkorps angeordnet. Dies war dahin zu verstehen, daß sämtliche Offiziere, welche bei hohen Persönlichkeiten oder bei Generalaten in Verwendung standen, einen Körper für sich zu bilden haben und eine besondere Adjustierung erhalten sollten. Am Schlüsse erging eine Aufforderung, sich zu melden, an diejenigen, welche, bei nachzuweisender Befähigung, die Absicht hätten, in dieses Korps zu treten. „Nun?" fragte Burda, mit welchem ich im Kompagniedienstzimmer gemeinschaftlich den Befehl gelesen hatte. „Das kümmert mich wenig," erwiderte ich. „Denn ich habe durchaus nicht die Absicht, mich zum Eintritt zu melden. Auch bin ich nicht in der Lage, mir ein Pferd zu halten." „Darum handelt es sich nicht," entgegnete er scharf. „Ich frage dich, ob es dir nun klar ist, weshalb der Generaladjutant hier erschienen ist?" Ich sah ihn an. „Er ist gekommen," fuhr er im Tone vollster Überzeugung fort, „um Erkundigungen über meine Person einzuziehen, mich in Augenschein zu nehmen - und dann zu veranlassen, was nunmehr erfolgt ist. Man hat offenbar die Absicht, mich in unauffälliger Weise nach Wien und in die nächste Nähe hoher und höchster Persönlichkeiten zu bringen." „Wie?" rief ich aus. „Du glaubst, daß man deiner Person wegen ein eigenes Korps ins Leben gerufen habe - " „Nun, wenn auch nicht gerade das," erwiderte er, zum Glück noch das Ungeheuerliche seiner Voraussetzung fühlend, „aber die Aufforderung wurde ganz gewiß mit Hinsicht auf mich erlassen." „Wozu hätte es einer bedurft? Man könnte dich ja ohne weiteres sofort an eine solche Stelle berufen!" „Allerdings. Aber ich habe dir schon gesagt, daß man jeden in die Augen fallenden Schritt vermeiden will, was auch der einzige Grund ist, der die Prinzessin welche offenbar ihren Vater bereits gewonnen hat - von Prag fern hält. Denke dir nur, welches Aufsehen es erregen müßte, wenn man mich so Knall und Fall nach Wien beriefe." Das war zu viel! Ich konnte nicht länger an mich halten und beschwor ihn, sich keinen so weitgehenden Täuschungen hinzugeben, wobei ich mich freilich, um nicht das Kind mit dem Bade zu verschütten, bloß an den vorliegenden Fall hielt. Aber meine Vorstellungen blieben fruchtlos - ja noch mehr: er wurde mir ob meiner Einwürfe nicht einmal böse. Und schon am nächsten Tage, nachdem er sein Gesuch an den Mann gebracht, begab er sich zu dem hervorragendsten Mili37

tärschneider Prags und erkundigte sich, ob bereits ein Schema der Uniformierung für das neue Korps vorliege. Und als man ihm in der Tat ein solches zeigte, war es nur die Furcht, eine Indiskretion zu begehen, was ihn abhielt, sofort Maß nehmen und die betreffenden Kleidungsstücke herstellen zu lassen.

VIII. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, und die Herbstmanöver standen in Aussicht. Burda meinte, er würde diese wohl hier nicht mehr mitmachen, da bis dahin seine Einteilung in das neue Korps erfolgt sein müsse. Es wären ohnehin schon sechs Wochen seit dem Tage der Aufforderung verflossen, und er könne sich nur 10 wundern, daß noch keine Entscheidung herabgelangt sei. Er zeigte sich daher äußerst betroffen, als nach einiger Zeit verlautbart wurde, daß der Oberleutnant von H... , welcher der Sohn eines Feldmarschall-Leutnants und der einzige Offizier des Regiments war, der sich außer Burda gemeldet hatte, in das Korps berufen worden sei, und zwar mit dienstlicher Verwendung beim Generalkommando in 15 Lemberg. Aber er übertäubte diese Betroffenheit sofort vor sich selbst, indem er ausrief: „Nun ja, nach Lemberg! Mich hat man für Wien ins Auge gefaßt, und es wird sich dort bis jetzt keine offene Stelle ergeben haben." Aber noch am selben Tage wurde ihm, als wir gerade mit einigen anderen Offizieren im Kasernenhofe standen, von einer Ordonnanz ein Dienstschreiben über20 bracht, das er, beiseite tretend, hastig aufriß, erbleichend las und dann zu sich steckte. Sobald wir allein waren, sagte er mit heftiger, aber tonloser Stimme: „Mein Gesuch ist abschlägig beschieden." Das war vorauszusehen gewesen. Denn es mochten im ganzen doch viele Gesu25 ehe eingereicht worden sein, und da hatten wohl wie gewöhnlich Nepotismus und Protektion den Ausschlag gegeben. „Dahinter steckt eine Intrigue!" fuhr Burda fort. „Eine Intrigue?" „Gewiß. Hatte ich doch gleich Unheil geahnt, als ich den Generaladjutanten in 30 der Loge mit dem Kommandierenden verhandeln sah!" „Wieso?" „Ist der Kommandierende nicht ein Graf 2... ? Und gehören die 2... nicht zu jenen Familien, welche, wie ich dir sagte, gewissermaßen in die Rechte der ehemaligen Grafen Burda getreten sind? Was Wunder also, daß man, da der Gene35 raladjutant vertrauliche Mitteilungen gemacht haben wird, später alle möglichen 38

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Machinationen ins Werk gesetzt hat? Aber ich werde dem Generaladjutanten schreiben!" „Um Gotteswillen!" rief ich aus. „Bedenke doch, was du tun willst! Wie kannst du denn nur mit völliger Gewißheit annehmen, daß sich auch alles so verhält, wie es dir erscheint? Hast du denn überhaupt hinsichtlich jener Angelegenheit schon etwas erfahren?" „Nein, noch immer nicht. Und erst jetzt fällt es mir auf, daß bereits sieben Monate verstrichen sind, seit ich die Papiere nach Brunn gesendet habe. Ich werde sofort urgieren." „Das tu'," sagte ich, froh, einen Weg zur Ablenkung gefunden zu haben. „Und versprich mir, daß du nichts unternimmst, bis du Antwort erhalten hast. Und wenn sich dann zeigt, daß dein Verdacht gegründet ist — " Er sann einen Augenblick nach. „Du hast recht; ich muß meiner Sache vollkommen gewiß sein. Aber das sage ich dir, lange warte ich nicht. Ich werde auf sofortige Antwort dringen, und wenn diese nach Ablauf einer Woche nicht erfolgt ist, so schreibe ich dem Grafen G... und möglicherweise auch dem Fürsten. Denn wer weiß, was man d i e s e m alles über mich hinterbracht hat - und wie würde ich dann in i h r e n Augen erscheinen, wenn ich es an mir haften ließe." Damit ging er und überantwortete mich völliger Ratlosigkeit. Denn nunmehr schien es zum äußersten kommen zu wollen. Wenn er sich zu einem tollen Schritt hinreißen ließ - war er verloren! Schon in einigen Tagen kam er zu mir in die Wohnung gestürzt. „Da hast du den Beweis," sagte er und hielt mir einen Brief entgegen. „Schon aus dem insolenten Tone dieses Schreibens wirst du erkennen, wie sehr ich berechtigt war, Verdacht zu schöpfen." Ich entfaltete den Brief und las ihn. Am Eingang entschuldigte sich der Schreiber, daß er zu seinem Bedauern nicht in der Lage sei, Günstiges berichten zu können. Vor allem hätten sich jene Anhaltspunkte, die er bei den „von Burda" in Sachsen zu finden gehofft, durchaus hinfällig erwiesen. Denn diese angebliche „erste Linie" leite ihren Stammbaum nicht allzu weit zurück - und zwar bis zu einem sicheren Daniel Burda, der zu Anfang dieses Jahrhunderts als kurfürstlicher Sattelknecht aufgeführt erscheine. Nun müsse dies allerdings eine H of charge gewesen sein; allein wie es sich herausgestellt habe, sei besagter Daniel Burda, der Sohn eines einfachen Posthalters auf dem platten Lande, erst infolge jener Eigenschaft in den Adelsstand erhoben worden. Und was nun die „zweite Linie" beträfe, so wisse der Herr Oberleutnant am besten selbst, daß bereits das möglichste versucht worden sei, den allein maßgebenden Punkt aufzuhellen. Dies würde aber für alle Zeit umso schwieriger bleiben, als in Österreich, vornehmlich aber in Galizien, Böhmen und Mähren, eine ganz unübersehbare Anzahl von Personen existiere, welche den Namen „Burda" führen und dabei in den untergeordnetsten Le39

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bensstellungen sich befänden (Handwerker, Fuhrleute und dergleichen). Schreiber könne also nur mit bestem Wissen und Gewissen den Rat erteilen, diese ganz und gar in der Luft schwebende Angelegenheit endgültig fallen zu lassen. „Dieser Mensch ist offenbar bestochen!" schrie Burda, nachdem ich zu Ende gelesen hatte. „Aber ich werde das nicht so hinnehmen!" „Was willst du denn tun?" „Ich werde dem Kommandierenden eine Herausforderung zugehen lassen!" „Bist du wahnsinnig?" rief ich aus. „Oder fühlst du wenigstens nicht, daß dich ein solches Beginnen aller Welt gegenüber in den Verdacht des Wahnsinns bringen müßte? Und womit könntest du die Herausforderung begründen - angenommen selbst, daß dieser Brief von seilen des Kommandierenden inspiriert worden wäre? Wird er es zugestehen? Wird er überhaupt eine Herausforderung annehmen?" „Er muß! Er ist Offizier wie ich und du!" „Allerdings. Aber es ist dir doch bekannt, daß hohe Vorgesetzte derlei Zumutungen als schwere Subordinationsvergehen behandeln - und bestrafen lassen. Es könnte dir deine Charge kosten!" „Oho!" kreischte er. „Das möcht' ich denn doch sehen! - Aber du kannst recht haben," fuhr er nachdenklich fort. „Man darf ihm immerhin zumuten, daß er sich hinter seine Stellung verschanzt. Da muß man ihm denn indirekt zu Leibe gehen und sich an seinen Neffen halten." „An seinen Neffen?" „Nun ja! Du kennst doch den knabenhaften Ulanenrittmeister mit dem Molkengesicht, dessen Schwadron seit einigen Wochen auf Feuerpikett hier ist?" „Allerdings - vom Sehen -" „Dann wirst du auch bemerkt haben, wie arrogant der Bursche ist. Er dankt kaum, wenn man ihn grüßt." „Ich glaube, du tust ihm unrecht," erwiderte ich. „Ich halte ihn für einen ganz harmlosen Menschen. Seine Unart scheint mehr einer gewissen Verlegenheit zu entspringen." „Ach was!" entgegnete Burda gereizt. „Ich weiß das besser. Und jetzt wird mir auch klar, weshalb man sich seit einiger Zeit im Englischen Hof am Kavalleristentische sehr sonderbar benimmt." Daran war etwas Wahres, und ich selbst hatte davon gehört. Denn im Regiment, woselbst man an Burda seit dessen Bestreben, in das Adjutantenkorps aufgenommen zu werden, eine immer schärfere Kritik übte, wurde teils mit Entrüstung, teils mit Schadenfreude behauptet, er sei auf dem besten Wege, sich öffentlich bloßzustellen. So hätten sich die Kavallerieoffiziere, welche im Englischen Hof sehr opulent zu dinieren pflegten, bereits über die Grandezza lustig gemacht, mit der er im Hotel erscheine und ein Kuvert zu mäßigem Preise samt einer kleinen Flasche Rotwein bestelle. Infolgedessen habe man ihm dort (natürlich ganz harmlos und ohne zu ahnen, welche besondere An40

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züglichkeit damit verbunden war) auch den Stichelnamen „der verwunschene Prinz" beigelegt. Ich sagte daher jetzt nicht ohne Verlegenheit: „Das solltest du gar nicht beachten. Man weiß ja, daß die Herren „auf stolzen Rossen" uns bescheidene Fußgänger immer ein wenig von oben herab ansehen." „Nein, nein, das ist es nicht allein. Der Rittmeister hat offenbar durch seinen Onkel Wind bekommen - und bei Tisch allerlei über mich vorgebracht." „Das sind Einbildungen, lieber Freund." „Durchaus nicht. Ich weiß es jetzt bestimmt. Und du sollst dich selbst überzeugen; ich lade dich ein, heute mit mir zu speisen." Diese Einladung war mir natürlich sehr unerwünscht; da er aber darauf bestand, und ich überdies befürchten mußte, daß er sich in der Stimmung, in der er war, ohne meine Begleitung zu einem Aufsehen erregenden Schritt könnte hinreißen lassen, so sagte ich schließlich zu. Der Speisesaal im Hotel zum Englischen Hof wurde am späteren Nachmittag wenig besucht. Um ein Uhr mittags und sieben Uhr abends fand dort Wirtstafel statt, an welcher eine gemischte, zumeist aus Fremden bestehende Gesellschaft teilnahm, in den übrigen Stunden kamen nur selten Gäste. Regelmäßig aber zwischen vier und fünf Uhr speisten an einem langen, eigens für sie bereitgehaltenen Tische die Offiziere des Feuerpiketts samt anderen Kavalleristen, die sich in Prag aufhielten. Unter den letzteren befand sich auch ein reckenhafter Kürassierleutnant namens Schorff, welcher dem Generalstabe des Kommandierenden zugeteilt war, eigentlich jedoch nur bei gewissen Gelegenheiten als Galopin verwendet wurde, eine militärische Sinekure, die er sich, weiß Gott wie, mochte zu erobern gewußt haben. Man hieß ihn allgemein den „Amerikaner", obgleich er in Deutschland geboren war, sein Vater aber sollte sich seinerzeit in den Minen Kaliforniens ein fabelhaftes Vermögen erworben haben. Andere behaupteten, dieser sei Spielpächter in Homburg gewesen. Gleichviel, der junge Baron Schorff - auch so wurde er, ohne es zu sein, genannt - erhielt von Hause wahre Unsummen Geldes, die er in auffallendster Weise verausgabte. Er hatte die schönsten und stärksten Reitpferde, einen prachtvollen Viererzug, hielt eine Loge im Theater, mehrere Mätressen und so weiter. Dabei war er ein Spieler und Raufbold ärgster Sorte, dem jedermann gern aus dem Wege ging; selbst die Frauen, die doch sonst von derlei Erscheinungen angezogen werden, wichen ihm mit einer Art von Entsetzen aus. Es war etwas über fünf, als Burda und ich im Englischen Hof erschienen. Am Kavalleristentische hatte man bereits abgespeist; Kaffee und Likör wurden soeben serviert. Aber die Gesellschaft schien nicht Lust zu haben, ein fröhliches Gelage, das offenbar stattfand, deshalb abzubrechen. Man hatte noch Champagnergläser vor sich, welche von neuem gefüllt wurden. Dabei herrschte eine laute, ausgelassene Heiterkeit, dergestalt, daß unser Eintreten, 41

sowie der Gruß, den wir darbrachten, nicht bemerkt - oder doch übersehen wurde. Burda warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Dann näherte er sich dem Tische und rief: „Meine Herren, wir haben gegrüßt, und ich ersuche Sie, unseren 5 Gruß in geziemender Weise zu erwidern." Die Gesellschaft hob die Köpfe und sah ihn überrascht an. Schorff aber, der mit dabei war, sprang auf, schnellte das Monocle, das er beständig im Auge trug, mit einem kunstvollen Ruck weit von sich und verbeugte sich in überaus grotesker Weise vor Burda, indem er in seiner rheinländischen Aussprache sagte: „Wir ha10 ben die Ehre, dem Herrn Oberleutnant unsere Reverenz zu machen." „Ich verbitte mir derlei Scherze, Herr Leutnant," entgegnete Burda mit absichtlicher Umgehung des kameradschaftlichen Du, „und mahne Sie an die Achtung, welche Sie Ihrem Vorgesetzten schuldig sind." „Was? Was ist das?" rief Schorff, dessen breites, bartloses Gesicht sich purpur15 rot färbte, während er mit wieder eingeklemmtem Glase Burda herausfordernd ansah. „Herr Rittmeister," sagte dieser, sich an den jungen Grafen Z... wendend, der obenan saß, „ich fordere Sie auf, Ihr Ansehen zu gebrauchen und dem Leutnant Schorff das Unziemliche seines Benehmens vorzuhalten." 20 Der Rittmeister nahm eine säuerlich lächelnde Miene an und zupfte verlegen an den dünnen Härchen auf seiner Oberlippe. Schorff aber kehrte sich gegen ihn und sagte: „Haben Sie gehört, Graf? Sie sollen mir einen Verweis erteilen - aber sagen Sie lieber dem verwunschenen Prinzen, daß er sich in acht nehmen möge, ich könnte ihm sonst an die Hüfte greifen." 25 Diese Worte erregten trotz der peinlichen Situation eine gewisse Heiterkeit; einige lachten sogar laut auf. Burda war leichenfahl geworden. „Das ist infam!" kreischte er jetzt. „Sie benehmen sich samt und sonders wie Buben!" 30 Nun folgte eine unbeschreibliche Szene. Die Kavalleristen waren aufgesprungen, um sich auf Burda zu stürzen, der an seinen Säbel griff. Schorff langte mit verkehrter Hand nach einer Champagnerflasche, die im Eiskübel steckte - die ärgsten Tätlichkeiten, ein blutiges Gemetzel standen bevor. Aber in diesem Augenblicke hatte ich auch die nötige Geistesgegenwart gefun35 den und trat dazwischen. „Meine Herren," rief ich, „ich bitte zu bedenken, wo wir uns befinden! Man wird bereits aufmerksam." Es war so. Ein Kellner, der eben hatte eintreten wollen, war mit offenem Munde in der Tür stehen geblieben. Hinter ihm erschien ein zweiter, ein dritter; auch vor den offenen Fenstern des ebenerdig gelegenen Saales hatten sich auf der 40 Straße einige Neugierige angesammelt, um nach der Ursache des Lärmes zu forschen. 42

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Das wirkte. Die Kavalleristen nahmen, wenn auch unwillig, ihre Plätze wieder ein. ,Jeder von uns weiß nunmehr, was zu geschehen hat," fuhr ich fort und legte eine Karte auf den Tisch. Burda, vor Aufregung am ganzen Leibe zitternd, tat desgleichen; hierauf ließen wir uns in einer entfernten Ecke des Saales nieder und befahlen unser Diner. Drüben war finsteres Schweigen eingetreten, nur Schorff wollte sich noch immer nicht zufrieden geben und konnte in seinen wiederholten halblauten Wutausbrüchen nur mit Mühe beschwichtigt werden. Endlich erhob man sich und ging, ohne uns anzusehen. „Das ist eine schöne Bescherung," sagte ich nach einer Pause. „Fürchtest du dich vielleicht?" entgegnete Burda in scharfem Tone. Er war bereits vollkommen ruhig geworden, und eine eigentümliche Befriedigung leuchtete aus seinen grauen Augen. „Ich fürchte für dich," sagte ich ernst. „Du wirst dich nun mehrere Male hintereinander zu schlagen haben." ,Je öfter, je besser! Das ist es gerade, was ich beabsichtigte!" Ich konnte nicht umhin, ihn mit einiger Bewunderung anzublicken. Was er da sprach, war keineswegs Prahlerei. Es entsprang, das fühlte ich, wirklichem Mute, wenn auch vielleicht dem Mute des Don Quixote, der es für sich allein mit ganzen Heeren aufnahm. ,Ja," fuhr Burda fort, indem er sich mit sehr gutem Appetit an das Gericht machte, das man uns eben vorgesetzt, „ja, es soll Aufsehen machen - es soll und wird eine cause celebre werden!" Ich verstand ihn. Er erwog, welchen Eindruck diese cause celebre auf die Prinzessin machen würde - und da war er denn wieder glücklich auf dem alten Wege. „Daran solltest du jetzt gar nicht denken," warf ich ernüchtert ein. Und von einem plötzlichen Gedanken befallen, setzte ich hinzu: „Wer weiß übrigens, ob alles wirklich so kommt, wie wir voraussetzen." „Wieso? Wieso?" fragte er hastig. ,Je nun, vielleicht beliebt es allen diesen Herren, sich hinter Schorff zu verschanzen - und ihn allein die ganze Sache austragen zu lassen." „Oho! Da habe ich auch ein Wort mitzusprechen!" „Allerdings. Aber du wirst es nicht verhindern können, daß Schorff den Anfang macht." Er erhob den Kopf und sah mich stirnrunzelnd an. „Was willst du damit sagen?" Ich schwieg, denn ich wagte nicht auszusprechen, daß Schorff ein sehr gefährlicher Gegner sei. ,Je nun, er ist ein bekannter Raufbold," warf ich endlich leicht hin. 43

„Das mag er sein. Auch wir führen unsere Klinge. Fatal ist es allerdings, daß sich gerade dieser freche, aufgeblasene Plebejer hat vordrängen müssen. Aber wenn es nicht zu ändern ist, immerhin! Der Herr Rittmeister wird mir nicht entgehen." Wir waren beim Dessert angelangt, und nachdem wir den Kaffee genommen hatten, forderte mich Burda auf, mit ihm den Abend auf der Sophieninsel zuzubringen, wo heute vor einem gewählten Publikum Konzert im Freien stattfand.

IX.

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Schon am nächsten Vormittage fand sich ein Hauptmann des Generalstabes in Begleitung eines Artillerieoffiziers in meiner Wohnung ein. Sie kämen, sagten die Herren, hinsichtlich des bedauerlichen Vorfalles, der gestern im Englischen Hof stattgefunden und welcher bereits zur Kenntnis der Militärbehörden gelangt sei. Man wünsche hohen Ortes, daß die Angelegenheit so rasch und einfach wie möglieh beigelegt werde. Demnach wären sie infolge eines von Seiten sämtlicher Beleidigten getroffenen Übereinkommens als Kartellträger des Herrn Leutnant Schorff ermächtigt, zu erklären, daß dieser im Namen aller übrigen die Sache zum Austrag bringen wolle. Es kam also, wie ich es vorausgesehen, und obgleich sich bei ruhiger Betrachtung dieses Vorgehen auch wirklich als das vernünftigste erwies, so lag darin für Burda doch eine Art Geringschätzung, die ich wider Willen mit empfand. „Ich glaube nicht, daß der Herr Oberleutnant Burda auf diese Proposition eingehen wird," sagte ich. „Er wird sich doch nicht mit jedem einzelnen schlagen wollen?" rief der Hauptmann, indem er, um seine Verwunderung auszudrücken, die Augen weit aufriß. ,Je nachdem." „Du mein Gott!" erwiderte er, die Achsel zuckend. „Indes, das wird sich ja ergeben. Fürs erste müssen wir aber an unserem Auftrage umsomehr festhalten, als Leutnant Schorff doch jedenfalls der Hauptbeleidigte ist." Dagegen ließ sich nichts einwenden, und der Artillerist stellte zu dem Duell einen Fechtsaal zur Verfügung, welcher, wie er ankündigte, mit seiner Dienstwohnung auf dem Hradschin in Verbindung stehe und zu derlei Zwecken besonders geeignet sei. 44

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„Du hast ihnen sehr gut geantwortet," sagte Burda, als ich ihm diese Unterredung mitteilte. „Ich danke dir. Was mich selbst betrifft, so werde ich die Sache jedenfalls zum äußersten treiben. Allerdings laufe ich dabei Gefahr, zum Krüppel gehauen zu werden. Aber ich vertraue meinem Stern." Pistolenduelle waren damals in der Armee nicht üblich; man schlug sich fast durchgehends mit Säbeln, eine Kampfweise, welche die Tötung des Gegners in der Regel zwar ausschloß, aber immerhin einen sehr bedauerlichen Ausgang herbeiführen konnte. Dies erwog man jetzt auch im Regiment, woselbst die üble Stimmung gegen Burda plötzlich in rege Teilnahme umgeschlagen war. Sein mannhaftes Auftreten gegen die Kavalleristen, das eine Art gemeinsamen Stolzes wachrief, imponierte den meisten, und es fehlte nicht an Zeichen der Anerkennung, die Burda mit ernster Zurückhaltung entgegennahm. Man wünschte aufrichtig, daß er den Strauß siegreich bestehe, wobei man sich freilich nicht verhehlte, wie schwer dies einem Schorff gegenüber sein möchte. Am nächsten Morgen - es war an einem Sonntage - fuhr ich mit Burda nach dem Hradschin, wohin sich der zweite Sekundant mit dem Wundarzte schon früher auf den Weg gemacht hatte. Wir wurden von dem Artillerieoffizier empfangen und in ein geräumiges Zimmer geführt, an dessen Wänden Rapiere, Schläger, Masken und Plastrons hingen. In einer Ecke hatte man für alle Fälle ein niederes Feldbett aufgestellt; Eisbecken und Verbandzeug befanden sich in der Nähe. Der Hauptmann des Generalstabes war bereits anwesend; er prüfte, als wir eintraten, eben die beiden Duellsäbel, die auf einem Tische lagen. Auch ein zweiter Wundarzt war zugegen. Es dauerte nicht lange, so hörte man den Viererzug Schorffs heranrollen, und bald darauf erschien dieser in aufrechter Haltung und kurzem Gruß in unserer Mitte. Dann reichte er seinen beiden Sekundanten die Hand und begann sich zu entkleiden. Als er sein buntgestreiftes Wollhemd ablegte, staunte ich über die Kraft und Fülle seiner Muskeln, die in auffallender Entwickelung hervortraten. Mit seinem breiten Nacken und dem gedrungenen Halse, auf welchem ein verhältnismäßig kleiner Kopf saß, hatte er etwas vom farnesischen Herkules, während Burda, der nun gleichfalls den Oberkörper entblößte, mit seiner zarten weißen Haut, seinen geschmeidigen, etwas weichlichen Formen an die Büste des Antinous mahnte. Eigentümlich war es zu sehen, wie jetzt die Gegner einander gegenübertraten und den üblichen Gruß austauschten. In den Mienen und Gebärden Schorffs lag Impertinenz, in jenen Burdas ritterliche Herablassung. Wir gaben das Zeichen - und der Kampf begann. Schorff, sein Glas im Auge, schien die Sache leicht zu nehmen; er glaubte offenbar, daß jeder seiner Hiebe, die er nur so obenhin führte, sofort sitzen müsse. Aber hierin irrte er. Burda verteidigte sich mit großer Ruhe und Sicherheit, die Schorff offenbar überraschte, aber auch reizte, und als er jetzt, vom Säbel seines Gegners ge45

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streift, leicht am Ohre zu bluten begann, geriet er in Wut. Mit einem wahren Hagel von gewaltigen Streichen drang er auf Burda ein, so zwar, daß dieser Mühe hatte, standzuhalten und bereits schwer zu atmen begann. Jetzt markierte Schorff eine Prim, führte aber in der Tat eine Terz, welche so mächtig traf, daß sofort auf der Brust Burdas ein langer, bluttriefender Spalt zum Vorschein kam. „Halt! Halt!" schrien die Sekundanten und warfen sich dazwischen. Aber zu spät. Denn schon war ein gewaltiger Kopfhieb gefolgt. Burda taumelte, sein Säbel klirrte zu Boden - und gleich darauf folgte er selbst mit blutüberströmtem Antlitze nach. „Das ist Mord!" rief ich aus. Selbst der Hauptmann war ganz bleich geworden und stammelte: „Aber Schorff, was haben Sie getan?" Dieser drehte sich auf den Hacken um und stieß durch die zusammengepreßten Zähne hervor ,// voulu!" Dann wusch er eine geringe Blutspur von der Wange, kleidete sich an, grüßte und ging. Inzwischen hatte man den Schwergetroffenen auf das Feldbett geschafft. Dort lag er bewußtlos und stöhnte leise, während man die Wunden untersuchte. Sie schienen derart gefährlich, daß beide Ärzte, die um Burda beschäftigt waren, den Kopf verloren und erklärten, es sei das Schlimmste zu befürchten, und sie könnten keine weitere Verantwortung auf sich nehmen. Der Herr Oberleutnant müsse sofort in das Militärspital gebracht werden. Der eine fuhr auch gleich mit dem Wagen, in welchem wir gekommen waren, dorthin voraus, um Vorbereitungen treffen zu lassen, während von seiten der Artillerie (in deren Kaserne wir uns befanden) eine Bahre samt Trägem beigestellt wurde. Es war eine traurige Rückkehr, die wir jetzt, der öffentlichen Aufmerksamkeit möglichst ausweichend, nach der sonntäglich ruhigen Stadt antraten. Im Spitale hatte man ein kleines, abgesondertes Zimmer ermittelt, wohin man nun Burda brachte. Nach der ersten raschen Untersuchung erklärte der Chefarzt, mit der Brustwunde habe es nicht viel auf sich, aber die Schädeldecke sei schwer verletzt. Ob und wie tief der Hieb in das Gehirn eingedrungen, müsse noch genauer erforscht werden, jedenfalls stehe eine höchst gefährliche Entzündung in Aussicht. Dies teilte er auch dem Regimentsadjutanten mit, der im Auftrage des Obersten und in Begleitung anderer Offiziere erschienen war, um Erkundigungen einzuziehen. Auch von seiten der übrigen Garnison, in der sich die Kunde von dem unglücklichen Ausgange des Duells rasch verbreitet hatte, zeigte sich lebhafte Teilnahme. Der Doktor aber bat, man möge jetzt, um jedes Aufsehen zu vermeiden, Nachfragen und Besuche einstellen; es würden zur rechten Zeit Nachrichten übermittelt werden. Da ich zu bemerken glaubte, daß ihm auch meine Gegenwart nicht sehr erwünscht sei, entfernte ich mich gleichfalls, nachdem ich als besonderer Freund des Verwundeten die Erlaubnis erbeten hatte, gegen Abend wiederkommen zu dürfen.

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Als ich am späten Nachmittag das schmale, längliche Gemach betrat, in welchem Burda lag, herrschte dort melancholisches Düster. Schon im Inspektionszimmer hatte ich erfahren, daß es schlecht stehe. Er habe zwar wiederholt die Augen aufgeschlagen und zu sprechen versucht, aber immer wieder sei 5 er in Bewußtlosigkeit zurückgesunken. Nun sah ich ihn auf dem dürftigen Bette, Brust und Haupt mit Eiskompressen bedeckt, die Augen geschlossen. Ihm zur Seite befand sich ein Wärter, der durch mein Erscheinen aus jener stumpfsinnigen Langeweile aufgeschreckt wurde, die ein solcher Dienst mit sich zu bringen pflegt. Er machte mir Zeichen des Bedauerns, wechselte die 10 Umschläge und sagte dann mit leiser Stimme, er wolle jetzt frisches Eis holen - und auch, mit meiner Erlaubnis, sein Abendbrot einnehmen, das eben jetzt zur Verteilung kommen werde. Ich war froh, fürs erste ungestört zu sein, und hieß ihn gehen. Dann setzte ich mich in einiger Entfernung von dem Bette nieder und betrachtete meinen 15 armen Freund, der in der Tat schon wie ein Sterbender, wie ein Toter aussah. Tiefer Schmerz überkam mich, und dazu gesellte sich etwas, wie ein Gefühl von Schuld. Hätte ich nicht verhindern können, daß es so weit gekommen? Hätte ich nicht schon längst alles anwenden sollen, um ihn, koste es, was es wolle, von seinen Täuschungen zurückzubringen? Aber hätt' ich es, nach al20 lern, was ich an ihm erfahren - mit ihm erlebt, auch wirklich vermocht? Wäre es überhaupt möglich gewesen, ihn von seinem Wahne zu heilen? Nein, es war nicht möglich! Es mußte alles so kommen, wie es kam: er war, wie jeder, dem unerbittlichen Schicksale seiner Natur verfallen. Und doch - trotz seiner Schwächen und Mängel, trotz seiner Irrtümer - welch ein vortrefflicher 25 Mensch war er! Welche vornehme Seele! Welch tapferes Herz! Er hatte ein besseres Los verdient ... Da schien es mir plötzlich, als rege er sich. Und in der Tat, es war so. Mit leichtem Stöhnen schlug er die Augen auf. Ich trat leise an das Bett und beugte mich über ihn. 30 „Wer ist - wer ist da?" hauchte er. Ich hatte alle Mühe, mich zu erkennen zu geben. „Ach du - du!" brachte er mühsam hervor, während ein Strahl der Freude seine bleichen Züge umflog. „Ich glaube, ich bin verwundet," fuhr er fort und machte einen schwachen Versuch, die Hand nach seinem Kopfe zu bewegen. 35 „Leider," erwiderte ich, „und zwar nicht ganz unerheblich. Indessen - -" „Aber wo bin ich denn?" fuhr er fort, die Augen mühsam hin und her bewegend. „Das ist ja nicht mein Zimmer - " „Allerdings nicht; du bist - du bist im Spital —" „Im Spital!" wollte er aufschreien, vermochte es aber nicht und ächzte nun „Im 40 Spital - im Spital - und wenn jetzt —" Er konnte nicht vollenden; sein Kinn sank zur Brust herab, und er verstummte. 47

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Ich aber wußte, was er meinte. Mit der Besinnung war auch jener unselige Wahn wiedergekehrt. Er hatte sagen wollen: Und wenn jetzt die Prinzessin von meiner Verwundung erfährt - und hierher eilt „Wo sind meine Kleider?" fragte er mit einem Mal hastig, meinen Gedankengang unterbrechend. „Deine Kleider? Die werden wohl in jenem Schrank sein — Da sind sie." „Bitte - sieh in meinem Rocke nach - ob sich ein kleines Etui - darin findet -" „Hier ist es!" „Gib! Gib!" drängte er. Ich reichte es ihm. Er war aber nicht imstande, es zu öffnen, und ich mußte es für ihn tun. Ein vertrocknetes Veilchenbouquet lag darin. Er nahm es in die bleiche, kraftlose Hand, senkte das Haupt und betrachtete es lange. Dann sagte er mit überraschend leichter und freier Stimme: „Lieber Freund - du hast mir sehr oft mehr oder weniger deutlich zu verstehen gegeben - daß ich in einer argen Täuschung befangen gewesen." Er seufzte tief auf. „Mein Gott! Wenn es sich wirklich so verhielte - wenn alles nur Traum - Einbildung - " Er verstummte wieder und atmete unruhig. Es war zu viel! Dieser Strahl von Erkenntnis, der in dieser bangen Stunde plötzlich in ihm aufleuchtete, war von erschütternder Wirkung. Ich mußte an mich halten, um nicht in Tränen auszubrechen. „Nein! Nein!" rief er jetzt, all seine Kraft zusammennehmend, „es kann nicht sein! Diese Veilchen - das mußt du selbst zugestehen - denn du weißt es - diese Veilchen sind von i h r ! " Wer wäre so grausam gewesen, es zu bestreiten? ,Ja, ja," sagte ich, „ich weiß es, sie sind von ihr." Er brachte mit letzter Anstrengung den Strauß vor das Antlitz und küßte ihn. „Er sollte mir ein Talisman sein - aber er hat mich nicht beschützt." Seine Hände sanken herab - er war wieder bewußtlos. Gleich darauf trat auch der Wärter ein; ich schickte ihn um den diensttuenden Arzt. Dieser, ein noch sehr junger Mann mit intelligentem, aber etwas barschem Gesichte, erschien sofort. „Nun?" fragte er mit einem Blick auf Burda. „Er war zu sich gekommen," sagte ich. „Hat er mit Ihnen gesprochen?" Ja." „Vernünftig?" „Ganz vernünftig," erwiderte ich nicht ohne Verlegenheit. „Und jetzt ist er wieder bewußtlos?" Er trat an das Bett, langte nach dem Arme Burdas und fühlte den Puls. „Heftiges Fieber. Das ist der Anfang vom Ende. Übrigens, wer weiß - vielleicht -" Dieses „Vielleicht" bestätigte sich nicht. Noch in derselben Nacht verstärkte sich das Fieber, Delirien traten ein; am nächsten Tage folgten Paroxismen - und 48

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als ich das Krankenzimmer wieder betrat, war Burda eine Leiche. Bei den letzten traurigen Vorbereitungen, die man in meiner Anwesenheit traf, suchte ich überall nach dem Veilchenstrauße - doch umsonst: Niemand wollte ihn gesehen haben. Man hatte ihn offenbar in den Kehricht geworfen. Zum Schlüsse machte sich der Zufall, der im Leben Burdas eine so große Rolle gespielt, noch einmal geltend. Fast am selben Tage, an welchem drei Ehrensalven über das Grab des Verblichenen hinwegdonnerten, war in den Zeitungen die Nachricht zu lesen, daß sich Prinzessin Fanny L.... mit dem Prinzen A... verlobt habe. Gegen Schorff aber kehrte sich jetzt allgemeiner Unmut, und man trachtete sogar eine ehrengerichtliche Untersuchung des Falles wider ihn durchzusetzen. Da jedoch der junge Graf Z.. in die Angelegenheit mit verwickelt erschien, so wurde alles weitere niedergeschlagen und Schorff bloß nach Ungarn zu seinem Regiment versetzt. Einige Jahre später war er aus den Listen der Armee verschwunden. Was aus ihm geworden, habe ich nicht in Erfahrung gebracht.

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Π. KRITISCHER APPARAT

1. Editorische Hinweise

Abkürzungen und Zeichen V WrStB I.N. > [] { } () P t x x-x x-x-x gesperrt

Vanantenverzeichnis Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschrifrensammlung, Inventarnummer wird geändert in Eckige Klammern umschließen Zusätze des Herausgebers innerhalb von Zitaten. Geschweifte Klammem umschließen Streichungen in den Korrekturfahnen und in den Briefen. Spitze Klammem umschließen handschriftliche Ergänzungen Soars in den Korrekturfahnen und in den Briefen. Punkte unter dem Buchstaben bezeichnen unsichere Lesungen. unleserlicher Buchstabe unleserliches Won unleserliche Stelle erscheinen alle unterstrichenen Wörter oder Buchstaben.

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2. Zur Gestaltung des Apparates Das Manuskript zu der Erzählung „Leutnant Burda", das Saar seinen eigenen Worten zufolge der Fürstin Salm, der er sich „vielfach verpflichtet" (BrW 16) fühlte, überlassen hat, ist uns ebenso wenig überliefen wie eventuelle Entwürfe oder Studien zu der Erzählung, von denen im Briefwechsel Soars aber auch nicht die Rede ist. Dagegen liegen sechs zu Lebzeiten des Dichters erschienene Drucke vor. der Druck der von Karl Emil Franzos herausgegebenen „Deutschen Dichtung" (1887) (J1), der Druck der Sammlung „Schicksale" (S), die im Herbst 1888 mit der Jahreszahl 1889 erschien, weiterhin die Veröffentlichung in den zweibändigen Ausgaben der „Novellen aus Österreich" von 1897 und 1904 (N3 und N4), dann ein Abdruck im elften Jahrgang der „Wiener Mode" (Heft 7 und 12) (J2) und eine zweite Auflage der „Schicksale" aus dem Jahre 1897, die auf demselben Satz wie die „Novellen aus Österreich" beruht und deshalb nicht ins Variantenverzeichnis aufgenommen wurde. Von zweien der Druckfassungen sind auch die mit Korrekturen Soars versehenen Fahnen, die die Autorisierung durch den Dichter bezeugen, erhalten, und zwar der Fahnenabzug der Ausgabe der „Schicksale" von 1889 (S1*), den ich dem freundlichen Entgegenkommen Herrn Detlef Haberlands verdanke, und der Bürstenabzug der „Novellen aus Österreich" (N4k), der in der Wiener Stadtbibliothek aufbewahrt ist. Da die genannten Korrekturbögen zu beiden Drucken vollständig erhalten sind, wurden sie in das fortlaufende Variantenverzeichnis übernommen, wobei auch handschriftliche Zusätze des Dichters an den entsprechenden Stellen dokumentiert sind. Im fortlaufenden Variantenverzeichnis werden alle Varianten in ihrer zeitlichen Abfolge aufgeführt. Um den Apparat zu entlasten, wurden allerdings orthographische Varianten und Lautvarianten, sofern dies opportun erschien, ausgesondert und im Sammelvariantenverzeichnis aufgelistet. Die Interpunktionsvarianten finden sich dagegen im fanlaufenden Variantenverzeichnis, da sich auch in ihnen das stete stilistische Ringen des Dichters niederschlägt, das so am besten zur Anschauung gelangen kann. Unterstreichungen werden durchgängig in Sperrungen aufgelöst.

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3. Sammelvarianten a. Orthographische Varianten . Vokalismus und Konsonantismus 1. Schaar begegnet in Sk S N5 J2 mit Doppelvokal, Bescheerung (43,11) weist in Sk S Doppel-e auf. 2. Die Schreibung von ä, ö, ü schwankt im Verlauf der Textgeschichte. In folgenden Fällen schreiben Sk S N3 J2 ae, oe und ue, während]1 N4k N4 ä, ö und ü aufweisen: Aehnliches, Aehnlichkeit, die Ackeren, Aerzte, Aeußeres, das Aeußerste, zum Aeußersten, Aeußerung, Oeffnen, Compagnie-Uebung, Uebelthäter, Ueberblick, Uebereinkommen(s), Ueberfälle(n), ueberhaupt, Ueberlegenheit, Ueberraschung, Ueberwindung, Ueberwurf, ueberzeugt, Ueberzeugung(en), die (den) Uebrigen, im Uebrigen, uebrigens. Oesterreich wird nur in J2 mit Oe geschrieben. 3. Geberde(n) in J1 Sk S N3 erscheint in N4k N4 als Gebärde(n). 4. J1 Sk S N3 J2 haben noch die veraltete Form gieb, J1 Sk S N3 die veraltete Form giebt Die Form schrieen wird nur in J1 mit Doppel-e geschrieben. 5. Umgekehrt weist ausschließlich J1 kein Dehnungs-h auf in gärten. 6. Die heute übliche Form allmählich begegnet zwar bereits in J1, wird aber in Sk S N3 J2 durch allmälig ersetzt. N4k N4 schreiben wieder allmählich. 7. In den Fassungen Sk S N3 J2 weisen insgesammt, sammt, sämmtliche(r), der gesammte Doppelkonsonantismus auf, während]1 N4k N4 die heutige Schreibweise verwenden. 8. Hacken weist in J1 Sk einfaches k auf. Haken. 9. Bei Substantiven mit der Endung -nis sowie deren adjektivischen Ableitungen tritt an die Stelle des Schluß-s in J1 in Sk S N3 J2 -ß, das erst wieder in N4k N4 dem -s weicht: Bedürfniß, Besorgniß, Einverständniß, Ereigniß, Ergebniß, Erlaubniß, Erkenntniß, geheimmßvoll(es), Kenntniß, Verhältniß, verhältnißmäßig, verständnißvoll(e). Das Schluß-s in deshalb, indes und überdies begegnet in J1 in der heutigen Schreibweise, wird in Sk S N3 J2 durch -ß ersetzt und erscheint in N4k N4 wieder als s. Ähnliches giltßr weßhalb, wo ß in Sk S N3 anstelle des s begegnet, J 2 aber inkonsequenter Weise s schreibt. Für -ß in bloß schreiben Sk S N3 J2 -s, J1 N4k N4 haben die heutige Schreibweise. 55

Davon abweichend erscheint das -ß in bloßzustellen in allen Fassungen mit Ausnahme von der Fassung]2, die bloszustellen schreibt.

10. Der Doppeldental dt begegnet in den Wörtern Todter und Tödtung in Sk S N3 J2, währendJ1 N4k N4 die heutige Schreibweise aufweisen. 11. Hirngespinst wird in J1 Sk S N3 J2 mit Doppel- geschrieben: Hirngespinnst. 12. Gemäß der Rechtschreibreform setzt sich allmählich die Schreibung t für th durch. Allerdings schwankt die Schreibweise von Wörtern, die in der älteren Form thfür t au/weisen, in den verschiedenen Fassungen erheblich. In J1 Sk S N3 J2 werden folgende Wörter mit th geschrieben: angethan, gethan, Burgthor, dienstthuend(e), Flügelthüre(n), Genugthuung, Kärntnerthor-Theater, (in der) That, that, Thätigkeit, Thätlichkeiten, Thatsache, Thore, Thränen, thun, Thür, Übelthäter, Verbindungsthür. Bei folgenden Wörtern begegnet th in den Fassungen Sk S N3 J2: Anrnuth, athmen, aufzuathmen, bemerkenswerth(en), Edelmuth, eigenthümlich, einathmend, eingemiethet, einmüthig, Eintheilung, entmuthigen, errathen, erröthend, ertheilen, Gastwirthschaften, geheirathet, Gemüther, gerathen, gerieth, hochmüthig(es), Hofrathstöchter, Irrthum, Irrthümer, Miether, mittheilen, Mittheilung(en), Muth, muthmaßlich(e), nöthig, das Nöthige, nöthigen, Nothwendigkeit, purpurroth, Rath, rathlos(e), Rathlosigkeit, Rothwein, thaufrisch(er), Theil, theil(t)e(n), Theünahme, theilnahmsvoll, theÜnehmen, theils, Theurer, Unmuth, unvermuthet(en), vermuthen, vermuthete, Vermuthung, vertheidig(t)e(n), vertheilt, Vertheilung, verrätherisch, verrathen, Vortheil, vortheilhaft, Wehmuth, Wirth, Wirthschaft, Wirthshaus, Wirthstafel, Wuth, Wuthausbrüche(n), zugetheilt, zumuthen, zumuthete, Zumuthung(en). unmuthig wird nur in Sk S J2 mit th geschneben. Eine Ausnahme bildet das Wort Thee, das durchgängig mit th geschrieben wird. 13. Abendbrod wird in Sk S N3 J2, Weißbrod in J1 Sk S N3 J2 mit d am Wortende geschneben.

ß. Groß- und Kleinschreibung 1. Sk S N3 J2 weisen Großschreibung auf bei bestimmten feststehenden Wendungen, die Substantive oder substantivierte Adjektive enthalten und adverbialen Charakter angenommen haben: in Allem, nach Allem, vor Allem, im Allgemeinen, aufs Bestimmteste, fürs Erste, im Ganzen, binnen Kurzem, ins Klare, im Stande, im Stillen, ohne Weiteres. Ausnahmen bilden im Klaren, das außer in ] überall großgeschrieben wird, weiterhin zu Folge, das im Gegensatz zu den oben angeführten Wendungen nicht in J2, wohl aber in Sk S N3 Großschreibung aufweist, schließlich von seilen, das zusätzlich zu Sk S N3 J2 auch in J1 großgeschneben wird. 56

2. Auch die unveränderliche Verbindung Alles und Jedes weist in Sk S N3 J2 Großschreibung auf. 3. Bei Verben, die mit einem Substantiv zusammengesetzt sind, findet sich Großschreibung in J1 Sk S N5 J2 bei in Acht nehmen, Unrecht tun, und nur in Sk S N3 J 2 bei Acht geben, Recht haben, Stand zu halten, Theil nehmen. 4. Indefinitpronomina und Zahlwörter weisen Großschreibung auf in Sk S N3 J2 bei Allen, Allerlei, Alles, Andere(n), Anderes, Beide, Beiden, Denjenigen, Diejenigen, alle (die) Drei, Einer, Einige, Einzelne(n), Etwas, Jeden, Jeder, Jedermann, Jemand(en), Mancherlei, Mehrere, die Meisten, Nichts, Niemand. Eine Ausnahme bildet das Won Mancher, das nur in J 2 großgeschrieben wird. 5. Die Demonstrativpronomina Dies und Jenes werden in Sk S N3 J 2 großgeschrieben. 6. Die Personalpronomina Dich, Du, Dir werden wie die Possessivpronomina Dein, Deine, Deinen, Deiner, Deines und die adverbiale Bestimmung Deinetwegen erst in N4k N4 kleingeschrieben. 7. In Sk S N3 J 2 werden die Zeitadverbien Abends, Mittags, Morgens großgeschrieben. 8. Bei verschiedenen substantivierten Formen schwankt die Schreibung sehr stark. Großgeschrieben werden in J1 Sk S N3 J2 folgende Wörter, das Möglichste, das Richtige. Nur in Sk S N3 J2 großgeschrieben werden: der Eine, der Einzige, das Meinige, die (aller) Uebrigen, der Zweite, einen Zweiten, den Letzteren, das Weitere. Nur in einem Fall (24,33) wird das Weitere auch in N4k N4 großgeschrieben. In Sk S N3, aber nicht in J2 großgeschrieben wird das Erste. Nur in Sk S großgeschrieben wird der Frühere. Umgekehrt findet sich eine Kleinschreibung folgender Wörter nur in J1: die aelteren, das ganze, günstiges, die jüngste, (diesen) wenigen, schließlich substantiviertes vielleicht. Nur in N4k N4 kleingeschrieben wird namens. 9. Nur in J1 großgeschrieben werden die Zahlen in den Uhrzeiten: halb Drei, über Fünf. 10. In J2 wird nach Doppelpunkt er großgeschrieben.

. Getrennt- und Zusammenschreibung 1. Auch die Schreibung der zusammengesetzten Verben bzw. Partizipien wird recht uneinheitlich gehandhabt. Auseinandergeschrieben werden in J1 Sk S N3 ^folgende Wörter, bereit gehaltenen, bunt gestreiftes, dahin flog, dahin schritt, empor sendete, glatt rasiertem, hinaus gethan, hinzu Gebautes, Stand zu halten, vorüber gefahren, wach gerufen. 57

In Sk S N3 J2 auseinandergeschrieben werden folgende Wörter, empor zu ziehen, entgegen gesehen, herein traten, hinab schritten, zusammen getroffen, zusammen zuckte. In J1 Sk S N3 auseinandergeschrieben werden die Wörter, entgegen nahm, entgegen zogen, gegenüber traten. In J1 S S J2 auseinandergeschnehen wird wieder kommen. In Sk S N3 werden auseinandergeschrieben: empor zu blicken, hinüber komme, zusammen treffen. In J1 Sk S werden auseinandergeschrieben·, auseinander setzen, zuvor kam. In S S werden auseinandergeschrieben: heran gekommen, zusammen hängen. In N3 auseinandergeschrieben wird heraus trat. J1 weist einige auffallige Unterschiede auf. Folgende Wörter werden nur in J1 auseinandergeschrieben·, daran stoßenden, wohl bebaute, hinweg donnerten. Dagegen werden nur in J1 zusammengeschrieben die Wörter, darniederlagen, entgegenrief, hinausgeleitet, mitempfand, weiterschritten. 2. Verbindungen einer Präposition bzw. eines adjektivischen Attributes mit einem Substantiv, die als Adverbien empfunden werden, werden auseinandergeschrieben: in J1 Sk S N3 J2: bei Seite; in Sk S N3 J2: begreiflicher Weise, in Folge, in Folge dessen, unkluger Weise, zum ersten Mal(e), zum zweiten Male. 3. Die Verbindung von Präposition und reziprokem Pronomen wird auseinandergeschrieben in Sk S N3 J2: in einander, von einander; in Sk S N3: neben einander, über einander, in Sk S: mit einander. 4. Weiterhin werden folgende Verbindungen auseinandergeschrieben·, in Sk S die Konjunktion wenn gleich; in J1 S S N3 J2 die adverbiale Wendung eine Zeit lang, das substantivierte Partizip hinzu Gebaute, das durch ein Substantiv ergänzte Partizip Präsens: Licht spendende. Die Wendung um so sowie Verbindungen mit ihr werden ganz uneinheitlich gehandhabt. um so wird auseinandergeschrieben in J1 (6,38/9,3), an einer Stelle (6,38) in allen Zeugen außer Sk S. Dagegen wird umsomehr nur in J1 zusammengeschrieben. Eine Ausnahme bildet in J1 die Stelle 44,29, wo statt der hier sonst üblichen Schreibweise umso mehr steht. Umgekehrt werden folgende Wörter zusammengeschrieben: in J1 Sk S N3 J2 irgendwelche; in]1: allzuweit, destoweniger, mehreremale, solang. Dagegen wird seiner Zeit nur in J1 auseinandergeschrieben.

5. Das Fragewort wieso wird in Sk S N3 J2 auseinandergeschrieben: wie so.

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6. Angleichung von Fremdwörtern an die deutsche Schreibung und Lautung 1. Fremdwörter französischen Ursprungs weisen noch die französische Schreibweise auf in J1 Sk S N3 J2: Affaire, Feldmarschall-Lieutenants, Kürassierlieutenant, Lieutenant, Oberlieutenant, des Herrn Lieutenants (mit Genitiv-s im Gegensatz zur deutschen Schreibung in N4k N4); in J1 N3 J2: Maitressen; in N3 J2: Liqueur, in J1 J2: Ouvertüre. Einige schon stark eingedeutschte Fremdwörter halten Elemente ihrer ursprünglichen Schreibung noch bei: in J1 Sk S: litterarischen; in Sk S das aus dem Italienischen stammende Gallerien; in J1 Sk S N3 J2 wird die ursprüngliche, nicht eingedeutschte Schreibweise von Couvert noch beibehalten. Dagegen zeigt Büffet in]1 S S N3 J 2 die eingedeutschte Schreibung, während N4k N4 Büffet schreiben. Der hebräische Name Joseph wird nur in J2 mit f geschrieben, Josephsplatz nur in]1. Folgende Wörter aus dem Französischen behalten ihren Akzent bei', in J2: Hotel; in]1: cause celebre, das in den übrigen Zeugen cause celebregeschrieben wird. 2. Die alte Schreibung der Verb-Endung -iren begegnet in Sk S N3 J2 in folgenden Wörtern: Adjustirung, Kommandirenden, konfiszirten, diniren, existire, existiren, existirte, frisiren, imponirte, inspirirt, interessirte, markirte, marschiren, marschirt, marschirten, moquirte, praktiziren, raffinirte, rasirtem, serviren, servirt, servirte, soupiren, Taktirstab, telegraphiren, triumphirendem, Uniformirung, urgiren. 3. In Fremdwörtern romanischen Ursprungs wird c vor e und i (y) gemäß der deutschen Aussprache zu z. Folgende Wörter behalten die alte Schreibung bei: in J1 Sk S N3 J2: ceremoniell, Ceremonienmeister, Cigarren, Descendenz, ProsceniumsLoge, Scene; in Sk S N3 J2: Concert; in Sk S J2: December. Eine Ausnahme bildet die Schreibung der Wörter Offizier und Offizierswohnungen. Sk S J 2 weisen zuweilen, aber nicht regelmäßig, die Schreibung mit c auf, während in allen übrigen Zeugen die heutige Schreibweise begegnet. In Sk S J2 werden Artillerie-Officier, Dragoner-Officier mit c geschrieben. 4. In Fremdwörtern romanischer Herkunft wird c vor a, o und u sowie vor Konsonanten gemäß der deutschen Aussprache zu k. Folgende Wörter behalten die alte Schreibung bei: in J1 Sk S N3 J2: Action, Compagnie-Dienstzimmer, Compagnie-Übung, Corpsgeist, Couvert; in Sk S N3 J2: Act - dagegen wird Actes nur in ]2 mit c geschrieben -, Adjutanten-Corps, Cadett, Carneval, Cartellträger, dassische, Commandirenden, Compagnie, Complication, Conflicte, Conflicten, Confusion, Console, Corps, correct, Documente, Eiscompressen, Generalcommando, indirect, Indiscretion, Landes-Commandirenden, Objecte, objectiv, Protection, Sinecure; in Sk S J2: Cavallerieofficiere, Cavalleristen, Cavalleristentische; in Sk S N3: Cantonirungs-Stationen; in Sk S: Caffee (41,37), 59

cameradschaftlichen; nur in J2: confiscirten, delicate, directer, Doctor, Gnadenact, Inspectionszimmer, Publicum, Secundant. Dagegen schreiben Cafe Daum nur Sk S: Kaffee Daum.

. Der Apostroph Das Auslassungszeichen, in der Endfassung und ihren Korrekturfahnen nicht mehr erhalten, findet sich noch: 1. vor der Genitivendung des Personennamens in S S N3 J2: Burda's, Ernani's, Ernst Schulze's, Verdi's, Romeo's und Julia's, Schorff's; 2. vereinzelt bei Verbformen, in denen ein unbetontes e ausgefallen ist, und zwar in Sk S NJ J 2 bei den Wörtern: Komm1, Schlaf'; in J2 bei den Wörtern: Sieh', Verzeih'. Umgekehrt fallt der Apostroph fort, während er in allen übrigen Zeugen erhalten bleibt: in J1 Sk S bei Au; nur in]1: Leb wohl, sollt (29,24). 3. Bei den Pronomina all' und welch1 bleibt der Apostroph nur in J2 erhalten. 4. Bei Wörtern, die durch die Verschmelzung einer Präposition mit einem bestimmten Artikel entstanden sind, bleibt der Apostroph an einigen Stellen erhalten: in Sk S N3 J2 in den Wörtern: an's (22,15/23,2), aufs (9,36/12,34/13,7/ 13,27/14,35/19,32), in's (15,21/22,29/24,23/28,2); in J2 in den Wörtern: in's (21,17/32,32/36,24/37,25/39,1), durch's (34,5). 5. Der Ausdruck L...'sehe Loge (14,34) wird in Sk S N3 J 2 mit Apostroph geschrieben. 6. Dagegen weist das Adjektiv erhabner in J1 Sk S N3 J2 kein Apostroph auf.

. Der Bindestrich in zusammengesetzten Nomina Die Schreibung zusammengesetzter Nomina schwankt ständig zwischen der Schreibung in einem Won und der Schreibung mit Bindestrich. Eine Gesetzmäßigkeit ist hier nicht zu erkennen, jedoch läßt sich in N4 ein Übergewicht der Zusammenschreibung konstatieren. Der Bindestrich erscheint: in J1 Sk S N3 J2 N4k in Landes-Commandierenden; in Sk S N3 J2 N4k in General-Adjutant(en), Kompagnie-Dienstzimmer, in J1 Sk S N3 J2 in Adjutanten-Korps, Dragoner-Offizier, in Sk S N3 J2 in Ankündigungs-Bureau, Artillerie-Offizier(s), Kompagnie-Übung, Kürassier-Leutnant, Militär-Schneider, in Sk S N3 in Militär-Spital. Einige Wörter werden in allen Zeugen außer in J 1 mit Bindestrich geschrieben, und zwar. Feldmarschall-Leutnants, Kantonierungs-Stationen, Proszeniums-Loge.

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b. Lautvarianten 1. In Sk S N3 J2 steht i statt ü in gleichgültig, umgekehrt in J1 Sk S N3 J2 N4k ü statt in Birschgänge und in J 1 Sk S N3 J 2 ü statt i in zu Hilfe. 2. Die alte, im Österreichischen noch gebräuchliche Form hieher wird nicht konsequent gehandhabt. Die Form findet sich in J1 S S N3 J 2 an den Stellen 32,27 und 36,14; in J1 Sk S N3 an der Stelle 48,3; in Sk S N3 an der Stelle 31,12. 3. Die alte Form mittelst begegnet in J1 Sk S N3 J2. 4. Inlautendes e wird synkopiert in Langeweile in J2: Langweile. Für ungeheuren weisen alle Zeugen außer Sk S J2 die synkopierte Form auf. In J1 Sk S erscheint fern hält als ferne hält. Der Genitiv Regimentes wird in J1 Sk S, der Genitiv Hauptmannes in]1 mit e in der Endung geschrieben. 5. Das Dativ-e wird uneinheitlich gehandhabt. Häufig fällt es erst in N4 N4 fort, manchmal jedoch auch früher. Das Dativ-e bleibt erhalten: in J 1 Sk S N3 J2 in den Wörtern: Gegenstande (6,26), Hofballe (30,25), Regimente (49,13); in J1 Sk S J 2 in den Wörtern: Biere (33,34), zum ersten Male (30,35); in J1 Sk S in: mit einem Male (48,4), Regimente (40,33f.); nur in J1 in: Anblicke (34,14), Regimente (45,8), Resultate (19,16), Schranke (48,6); nur in]2 in: Gesichte (32,3). Das Dativ-e wird in J1 J2 manchmal apokopiert, wo es in den übrigen Zeugen erhalten bleibt: in J1: Antlitz (46,9f.), am nächsten Tag (37,40), Beifall(15,12), Wahn (47,21), Wiener Nordbahnhof (9,14f.); in J2: Unrecht (17,40), Verkehr (35,32). Das Dativ-e in Kopfe setzen nur N4k N4. 6. J 1 setzt für die Akkusativ-Form Tür an der Stelle 8,27 Thüre. 7. von Seiten wird mitunter ohne n am Wortende geschrieben, und zwar in J1 durchgehend, in Sk S an den Stellen 13,3 und 19,7.

61

4. Fortlaufendes Variantenverzeichnis i. 5, 3 5, 4 5, 7 5, 8 5.11 5.12 5.15 5.16 5,18 5,21 5,24 5,28 5,32 5,35 5,37 6, 5 6, 8f. 6,18 6,18f. 6,20 6,27f. 6,37 6,39 6,39f. 7, 9 7,10 7,20 7,23f. 7,24 62

Leutnant ] Lieutenant, J1 Sk S N3 J2 Dreißigern] Dreißigen J1 Sk S J2 Druckfehler verleihen;] verleihen, J1 Offizier, ] Offizier, J1 Offizier. Sk S N3 J2 galt er] galt e{s} Herrn N4k empfängt. Mein ] empfängt, Mein J 2 Druckfehler Namen ] Name J1 Sk S N3 J2 Verbeugung, ] Verbeugung}1 Treppe ] Treppen J1 angeregt; ] angeregt, J'

II.

9,5f. 9,6f.

9,14f. 9,18 9,21 9.24 9.25 9,30 9,32f. 10, 2 10, 4 10, 6 10,8 10, 9

Wiener Garnison ] Wiener-Garnison Sk S einrücken, was man damals als besondere Auszeichnung zu betrachten pflegte. ] einrücken, was damals als große Auszeichnung betrachtet wurde. J1 Wiener Nordbahnhofe ] Wiener Nordbahnhof J1 WienerNordbahnhofe Sk S über dem Stadtgraben ] über den Stadtgraben J1 Sk S N3 J2 erscheint ] scheint J' intimer, ] intimer J1 auseinander, ] auseinander, Sk S N3 J2 zu betreten ] zu betreten, J1 Sk S N3 J2 liebten die Weinstuben ] liebten es, Weinstuben J' Cafe Daum ] Kaffee Daum Sk S antrat, war er geradezu ] antrat, er war geradezu J2 ernste und heitere ] heitere und ernste J1 gelehnt, ] gelehnt]1 Logen, das ] Logen - das J1 den weiblichen Insassen schweifen ] den weiblichen Insassen derselben schweifen J1 Sk S den weiblichen Insassen derselbe schweifen J2 Druckfehler 63

11.9 11.10 11.16 11.17 11,22 11,27 12, 3f. 12, 4

beachtete ] beachtet J1 Sk S N3 J2 oder auch mehrere ] oder mehrere J1 zu erwählen ] auszuerwählen J1 zu haben, ] zu haben; J1 bestand; ] bestand, J1 geräumig, ] geräumig Sk S N3 J2 geschichteten ] geschichteten J1 herüber,] herüber Sk S J2 sorglich ] sogleich J l ich und ] ich - und J1 das er ] daß er Sk S Druckfehler zusammen, ] zusammen; D Sk S N3 J 2 das ich, begreiflicherweise, ] das ich begreiflicherweise J1 anging, ] anging]J Sk S Vorstellung zufällig im Foyer ] Vorstellung im Foyer J1 gehen,] gehen;]1 zu dem ich ] zu welchem ich J1 Sk S N3 J2 „Bezauberter Rose" ] „bezauberter Rose" J1 „Bezauberte Rose" J 2 O, nicht ] O nicht J1 Sk S N3 J2 nehmen, die einen ] nehmen, welche einen J1 Sk S N3 J2 unterbrach endlich ] unterbrach also endlich J1 Sk S noch immer ] auch noch immer J2

12, 6

entgegen: ] entgegen; J2

12.11 12.12 12.13 12,13f.

die Jüngste] die jüngste J1 Geringes ] Geringeres J 2 Erstaunen. Daß ] Erstaunen, daß J1 könne, überstieg all und jede Voraussetzung, wenn ] könne, hatte ich doch nicht vermutet, wenn J1 wohl viele Herzen ] wohl schon viele Herzen J1 schlagen gemacht haben ] schlagen machen Sk S N3 J2 schlagen Augen." Ich An einigen Stellen wird die Konstruktion verbessert, ohne daß dadurch der Sinn betroffen wäre. Hier seien die betreffenden Beispiele angeführt: V 15,13 an seinem Pfeiler gelehnt > an seinen Pfeiler gelehnt V33,31f. mit glattrasiertem Doppelkinn und eine leichte Mütze auf dem Kopf > mit glattrasiertem Doppelkinn und einer leichten Mütze auf dem Kopf V 20,19 in kleinen Gruppen verteilt > in kleine Gruppen verteilt V 34,39 rief er seinem Burschen > rief er seinen Burschen V 36,5f. um nachzusehen, ob die Prinzessin ... auftauchte > um nachzusehen, ob die Prinzessin ... auftauche V 12,24 und ... einnehmend > welcher... einnahm Weiterhin hat Saar zahlreiche Veränderungen des Ausdrucks vorgenommen, offensichtlich aus recht unterschiedlichen Gründen. Sie reichen von Wortauslassungen über Verstärkungen bzw. Abschwächungen des Ausdrucks bis hin zu präziseren Formulierungen. Solche Varianten können freilich nicht gewertet werden, ohne sie in ihrem Zusammenhang zu sehen. Die Gründe für einige Änderungen liegen auf der Hand, da Saar sie selbst angegeben hat. Dies gilt zunächst für folgende Stellen, die Saar im Brief an Franzos vom 25. August 1887 (BrW 14) schon für den Druck der Deutschen Dichtung geändert wissen wollte, aber erst im Druck der Schicksale realisieren konnte: V 48,13-16 „Lieber Freund, du hast mir sehr oft mehr oder weniger deutlich zu verstehen gegeben, daß ich mich einer argen Täuschung hingebe." Er seufzte tief auf. „Mein Gott! Wenn es wirklich so wäre - wenn alles... > „Lieber Freund, du hast mir sehr oft mehr oder weniger

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deutlich zu verstehen gegeben, daß ich in einer argen Täuschung befangen gewesen." Er seufzte tief auf. „Mein Gott! Wenn es sich wirklich so verhielte - wenn alles ... Saar stört in diesen Sätzen der zweimalige Gebrauch des Verbs „geben". Aus einem ähnlichen Grunde ändert er auch die folgende Formulierung: V49,10f. Gegen Schorff aber kehrte sich jetzt allgemeiner Unmuth und man trachtete sogar eine ehrengerichtliche Untersuchung des Falles gegen ihn durchzusetzen. > Gegen Schorff aber kehrte sich jetzt allgemeiner Unmuth und man trachtete sogar eine ehrengerichtliche Untersuchung des Falles wider ihn durchzusetzen. Die doppelte Verwendung von „gegen" wird auf diese Weise umgangen. Aus den Korrekturfahnen zu den Schicksalen geht hervor, daß für die Änderung einer weiteren Textstelle keine stilistischen oder gehaltlichen, sondern vielmehr allein praktische Gründe ausschlaggebend waren. Es handelt sich um: V 19,15f. die Du ja errathen wirst, fördernd in die ganze Angelegenheit eingriffe > die du errathen wirst, fördernd in die Angelegenheit eingriffe Saar unterstreicht in den Korrekturfahnen die Wörter, die dann im Druck der Schicksale fortfallen, und merkt dazu unter der Seite an: Könnte hier nicht eines der unterstrichenen Wörter fortfallen, damit mehr Raum w ü r d e ? Die Wörter sind zusammengesetzt, weil es vermieden werden sollte, die nächste Seite mit einer Schlußzeile zu beginnen. Sie stehen aber zu eng, es sieht nicht gut aus!^

Saar möchte also aus raumtechnischen Gründen auf eines der unterstrichenen Wörter verzichten. Einige weitere Änderungen hat Saar offensichtlich aus grammatischen Erwägungen heraus vorgenommen, und zwar V17.17 Dieselbe > Sie V35,21f. ständen > stünden V39.29 bei den „von Burdas" > bei den „von Burda" V39.38 das würde aber > dies würde aber V41,37 Kavallerietische > Kavalleristentische V29, 3 Dann knüpfte er doch seinen Mantel auf > Dann knöpfte er doch seinen Mantel auf Außerdem ist auf einige rein stilistische Änderungen hinzuweisen, die ebenfalls ohne besondere gehaltliche Relevanz sind. Hier fallen gleich mehrere Gruppen ins 50

Vgl. Variantenverzeichnis, S.67.

105

Auge. Die erste Gruppe ist durch den Wegfall überflüssiger Wörter gekennzeichnet. In diesem Zusammenhang sind zu nennen: V5.37 gar sehr wohl auf > gar sehr auf V21,21 wohl schon viele Herzen > wohl viele Herzen V13,12 hast Du ja in > hast du in V19.15 die Du ja > die du V19.16 die ganze Angelegenheit > die Angelegenheit V21.30 einen Augenblick Gehör zu schenken > einen Augenblick zu schenken V22,ll in jeder Hinsicht so ausgezeichneten > in jeder Hinsicht ausgezeichneten V25,33 „wenn sie nur > „wenn sie V25,34 dies jetzt noch nicht > dies noch nicht V33,26 Dabei aber ging > Dabei ging V34,21f. am selben Abend ganz plötzlich den Befehl > am selben Abend den Befehl V35, 6 verborgen, gewissermaßen noch unter > verborgen, noch unter V43,4f. that desgleichen, und darauf ließen > tat desgleichen; hierauf ließen V46,18 die nun um Burda > die um Burda Die zweite Gruppe ist durch die Umstellung von Wörtern bzw. Wortgruppen charakterisiert. Hier können Gründe wie der Wohllaut ausschlaggebend sein, aber auch - insbesondere bei Wortgruppen - Aspekte wie die leichtere Durchschaubarkeit bzw. größere Eingängigkeit der grammatischen Konstruktion. In diese Gruppe gehören: V 7,24 gewesen sein mochte: > mochte gewesen sein: V 10,6 heitere und ernste > ernste und heitere V 15,6 leichtes Wehen und Schimmern > leichtes Schimmern und Wehen V 21,20f. Wie ich ihn, der, ein Bild starrer Erwartung, vor sich hinblickte, so betrachtete, kam > Wie ich ihn so betrachtete, der, ein Bild starrer Erwartung, vor sich hinblickte, kam Eine dritte Gruppe ersetzt einen Ausdruck oder ein Satzelement. Auch dabei tritt in der Regel kaum eine wesentlich andere Akzentuierung des Gehaltes auf. Es kann sich hier um Modus- und Tempusänderungen, aber auch um eine Änderung von Präpositionen, Konjunktionen, Artikeln und anderen Wortarten handeln. Bestimmend für solche Änderungen ist das Bemühen um Glätte, Wendigkeit, Anschaulichkeit und Präzision des Stils. Hierhin gehören folgende Änderungen: V 5,12 durchweg > durchaus V 5,21 auch > gleichwohl 106

V 6,39 V 7,23f. V 7,27 V 8,8f. V9,21 V9,32f. V10,19 VIl, l VI3,17 V14,29 V15.12 V18,40 V19,12f. V19,30 V20, 2f. V23,18 V28,23 V31, 7 V31,13 V32,24 V33,35 V34, 4 V34,26f. V35,30 V35,35 V36,17 V41.17 V42,39f. V44,32

V45,16 V46,4f. V47, 8 V47,25f.

von ziemlich dunkler Herkunft > sehr bescheidener Herkunft das auch jedem anderen geboten wäre > das eigentlich jedermann geboten wäre zu ihm > nach ihm kniff, wie er es in Erregung pflegte, das > kniff, wie es in Erregung seine Gewohnheit war, das umspannt scheint > umspannt erscheint liebten es, Weinstuben > liebten die Weinstuben auszuerwählen > zu erwählen Schritte sogleich abdämpfte > Schritte sorglich abdämpfte anzunehmen > vorauszusetzen abgespielt > verhallt Ich sah auf Burda > Ich betrachtete Burda sollte. Wohl lag die > sollte. Einerseits lag die infolge von früheren Ehebündnissen sogar in > infolge von Ehebündnissen, die vor Jahrhunderten geschlossen wurden, sogar in zu einem so seltsam luftigen Gewebe > zu einem so wunderlichen luftigen Gewebe Zeit, soviel es anging, im Kreise meiner Verwandten > Zeit fast ausschließlich im Kreise meiner nächsten Verwandten Zuschauern > Zusehern in das > an das nahe an das > nahe vor das auf der einen Seite > auf einer Seite es war ohnehin die letzte > es ist ohnehin die letzte einem leisen Seufzer > einem leichten Seufzer „Ach > „Ah, Ausdruck, > Ausspruch sich ja alles > sich jetzt alles sich insoferne wohl erlauben > sich insofern schon erlauben nebenbei > nebstbei wie auffallend > wie eindringlich welcher gemischte > welcher eine gemischte Saales waren auf der Straße einige Neugierige stehen geblieben, um > Saales hatten sich auf der Straße einige Neugierige angesammelt, um mitteilte > ankündigte mit einem Wundarzte > mit dem Wundarzte so mächtig war > so mächtig traf aufgescheucht > aufgeschreckt 107

V48,27 V49,14 V49,14f.

Er hätte ein besseres Los verdient .... > Er hatte ein besseres Los verdient... „Ich hatte ihn als Talisman mit mir genommen - > „Er sollte mir ein Talisman sein Nach einigen Jahren > Einige Jahre später

Schließlich wird an zwei Stellen eine eher passivische Wendung durch eine aktivische ersetzt, und zwar V32, 4 bekäme man sie hin und wieder zu Pferd oder zu Wagen zu sehen > könne man sie hin und wieder zu Pferd oder zu Wagen sehen V9,6f. einzurücken, was damals als große Auszeichnung betrachtet wurde. > einzurücken, was man damals als besondere Auszeichnung zu betrachten pflegte. Eine stärkere Präzision des Ausdrucks, deren Sinn mit der Gesamtintention des Textes in Zusammenhang stehen kann, ergibt sich an einigen Stellen aus der Einfügung eines oder mehrerer Wörter. Hier sind zu nennen: V 7,25 ähnlichen Hange > ähnlichen romantischen Hange V10,15 einen oder mehrere > einen oder auch mehrere VIl, 9 Vorstellung im Foyer > Vorstellung zufällig im Foyer V14,32 ein Beweis, daß die vornehme Welt das klassische Lustspiel nicht besonders zu schätzen wisse > ein Beweis, daß die vornehme Welt das klassische Lustspiel ebenfalls nicht besonders zu schätzen wisse VI 9,31-33 die Gestalten Burdas und der Prinzessin mit jenen meines romantischen Gedichtes zusammenflössen > die Gestalten Burdas und der Prinzessin aufs seltsamste mit jenen meines romantischen Gedichtes zusammenflössen V20,28f. der die Zuströmenden aufnahm > der erwartungsvoll die Zuströmenden aufnahm V23,ll und vor noch Schlimmerem > und vielleicht vor noch Schlimmerem V26,ll der nach > der nunmehr, nach V27,2f. dem ich mich anvertrauen kann > dem ich mich anvertrauen konnte - und noch anvertrauen kann V27, 6 nicht zu nennen brauche > nicht erst zu nennen brauche V27.18 Freunde und Bekannte > Freunde, Verwandte und Bekannte V39,40f. Anzahl existiere > Anzahl von Personen existiere V41,18f. zwischen vier und fünf speisten > zwischen vier und fünf Uhr speisten V45,40f. die Schorff überraschte > die Schorff offenbar überraschte 108

V46,30

Wie tief der Hieb in das Gehirn eingedrungen > Ob und wie tief der Hieb in das Gehirn eingedrungen

Neben den bereits angeführten Änderungen des Ausdrucks sind dann auch solche zu verzeichnen, die im weitesten Sinne zur Dramatisierung des Geschehens beitragen, indem sie - durch Einschübe oder Auslassungen - beispielsweise die wörtliche Rede dramatischer gestalten oder das Geschehen lebendiger vor Augen führen. Hier sind folgende Stellen anzuführen: V22,23f. wie soll ich sagen > wie soll ich nur sagen V25,26f. „Nicht sie - nicht sie selbst," unterbrach er mich rauh. „Bist Du denn so weltunkundig, daß Du nicht weißt, daß es vertraute Zofen giebt?" > „Warum nicht?" unterbrach er mich rauh. „Es gibt doch vertraute Zofen, die man mit derlei beauftragen kann." V34.26 jetzt muß ich - es > jetzt muß — es V34,35f. Adels. Überdies > Adels. Man macht also eben wieder irgend einen Besuch. Überdies V47.38 du bist - im Spital > du bist - du bist im Spital — V48,40-49,l Als ich am nächsten Tage das Krankenzimmer wieder betrat > Noch in derselben Nacht verstärkte sich das Fieber, Delirien traten ein; am nächsten Tage folgten Paroxismen - und als ich das Krankenzimmer wieder betrat Schließlich sind noch Abschwächungen bzw. Verstärkungen des Ausdrucks zu nennen, die ebenfalls den Aussagewert selbst etwas verändern. Sie dienen der deutlicheren Charakterisierung der Person bzw. ihrer Handlung oder rücken einen Sachverhalt, insbesondere, was die subjektive Seite seiner Wahrnehmung angeht, in ein treffenderes Licht. Hier sind folgende Varianten anzuführen: Erstens: Die einfache Form des Adjektivs wird durch einen Superlativ ersetzt und umgekehrt: V8,14 strammer > strammster V19.24 aufrichtigsten Teilnahme > aufrichtigen Teilnahme Zweitens: Worte oder Wortgruppen werden durch andere ersetzt: V12,13f. hatte ich doch nicht vermutet > überstieg all und jede Voraussetzung V12,25 das überstieg all und jede Voraussetzung > war unfaßbar V13,23f. weniger seltsam und gefährlich > weniger befremdlich V14,30 man auch deutlich > man ganz deutlich V41,25 Er galt als Amerikaner > Man hieß ihn allgemein den „Amerikaner"

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Außerdem ist auf drei Stellen hinzuweisen, wo durch Setzung des Fragezeichens im Druck der Schicksale gegenüber jenem der Deutschen Dichtung der Sinn leicht verschoben wird. Zweimal geschieht dies innerhalb der wörtlichen Rede (16,24/22,23f.), einmal innerhalb einer Reflexion des Erzählers über das Geschehen. In V22,22f. wirkt die Rede so lebendiger, an den beiden anderen Stellen findet auf diese Weise eine stärkere Differenzierung der Aussage statt: V16.24 Kundgebung!" > Kundgebung?" V22,23f. ich sagen - unter > ich nur sagen? - unter V36,41 können! > können? Schließlich bleibt noch hinzuweisen auf: V 43,4 meine Karte > eine Karte Hier ist es wohl nicht auszuschließen, daß diese Änderung in einem Versehen begründet ist, da die Wortwahl in der Deutschen Dichtung in diesem Fall die bestimmtere ist. Abschließend bleibt darauf hinzuweisen, daß der Druck der Schicksale gegenüber jenem der Deutschen Dichtung zusätzliche Absätze einführt, wodurch eine noch deutlichere und bewußtere Strukturierung des Textes bewirkt wird.

Bei den wenigen Verbesserungen, die sich in den vollständig erhaltenen Korrekturfahnen zur Erstausgabe der Schicksale (S^) finden, handelt es sich fast ausschließlich um solche von Druckfehlern, die sich teilweise aus der Änderung der Orthographie ergaben, an einer Stelle auch daraus, daß eine Variante im Druck nur teilweise ausgeführt wurde (V15,6: Schimmern und Wehen). Schließlich bleibt zu bemerken, daß die im fortlaufenden Variantenzeichen unter V38,16-31 angegebene und leider nur schwer zu entziffernde Bitte Saars an seinen Verleger Weiß, ihn durch einen anderen Modus der Zustellung vor weiterem Strafporto zu bewahren, die einen intimeren Einblick in den Umgang zwischen dem Dichter und dem Verleger gestattet, sich ebenfalls in den Korrekturbögen zu den Schicksalen befindet.

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b. Die erste Aufnahme von S Nachdem die Sammlung Schicksale im September 1888 erschienen ist, bleiben schnelle Reaktionen nicht aus. Zunächst äußert sich der Altgermanist Anton E. Schönbach, der sich ausführlich auch mit der zeitgenössischen Literatur auseinandersetzte, wie vor allem sein Buch Über Lesen und Bildung zeigt, das in vielen Auflagen, immer dicker werdend, erschien. Schönbachs uneingeschränktes Lob gilt gerade der Erzählung Leutnant Burda: ich danke Ihnen herzlichst für Ihre neue schöne gäbe, an der ich mir [sie!] sofort erfreut habe, den 'Lieutnant Burda' kannte ich schon aus der 'Deutschen Dichtung' und habe ihn wiederholt bei freunden mit erfolg vorgelesen, das ist ein ausgezeichnetes stück. (BrW 21)

Mit diesem Lob verbindet Schönbach dann aber eine Frage, die sich auf den Titel der Schicksale bezieht: und warum haben Sie das buch 'Schicksale' genannt? höchstens bei dem Lieut. Burda sind zufalle würksam, aber auch bei ihm leuchten des Schicksals Sterne in der eignen brüst. [...] 'Charaktere' wäre zutreffender gewesen, wenn es nicht so biographisch klänge. [...] wenigstens sehen Sie, wie mir bei Ihrem buch wieder einmal das herz aufgegangen ist. auch deswegen, weil es ein österreichisches buch ist. ich schmecke österreichische luft drin; und teile ich auch das laster meiner landsleute, an der heimat immer etwas tadelhaft zu finden, so teile ich doch auch den vorzug mancher, sie heimlich aufs innigste zu lieben. (BrW 21)

Die Erläuterung, die Schönbach hier an seine Frage knüpft, zeugt von einem tiefen Eindringen in die Erzählung, das ihn freilich noch nicht zu einer erschöpfenden Analyse führen kann; seine Kritik rührt daher, daß er um den von Schopenhauer geprägten Schicksalsbegriff, der die Erzählungen der Schicksale bestimmt und die Beziehung zwischen dem individuellen und dem allgemeinen Schicksal stiftet, wie die Deutung noch zeigen wird, nicht weiß. Im übrigen unterstreicht der letzte Teil den auch von Saar betonten zeitgeschichtlichen Charakter der Erzählung, der Schönbach darin „österreichische Luft" schmecken läßt. Dieser ersten ausführlicheren Reaktion folgt am 24. November 1888 eine Rezension Adam Müller-Guttenbrunns, für die sich Saar schon sechs Tage später, am 30. November, sehr herzlich bedankt: Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen für die warme, mich so sehr auszeichnende und anerkennende Besprechung meines neuen Novellenbuches hiemit herzlichen Dank sage. Das Blatt hat mir wohl gethan! (BrW 19)

In seiner Besprechung, die bereits im Abendblatt der Deutschen Zeitung vom 24. November 1888 fast im selben Wortlaut erschienen war, hatte Müller-Guttenbrunn die neuesten Novellen Saars als „zu seinen vortrefflichsten Arbeiten" zählend bezeichnet und u.a. eine knappe Inhaltsangabe Leutnant Burdas folgenden Wortlauts gegeben: Die erste Novelle: „Lieutenant Burda", entrollt uns das Schicksal eines von Liebe bethörten einfachen Officiers, der sein Herz an eine Prinzessin verloren und sich wiedergeliebt glaubt. Sein Wahn wird von zufälligen Ereignissen genährt und durch Vermahnungen, die ihm aus der 111

Umgebung der Prinzessin zutheil werden, sosehr gesteigert, daß er schließlich wie ein Irrsinniger lebt und handelt und an seiner Leidenschaft zugrundegeht.51

Im übrigen hebt Müller-Guttenbrunn den Reiz der Form hervor, der seiner Meinung nach über dem des Stoffes steht. Dieser Rezension der Schicksale folgen nun eine Reihe weiterer. Am 15. Dezember 1888 erscheint in der Deutschen Dichtung eine Besprechung unter dem Namen „Otto Hartungs", die Karl Emil Franzos in seinem Brief an Saar vom 13. Dezember diesem bereits angekündigt hatte und die wohl aus seiner eigenen Feder stammt, da er unter diesem Pseudonym teilweise in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Deutsche Dichtung in Erscheinung tritt52: Ich gratuliere Ihnen hiemit auch schriftlich zu Ihrem neuen Novellenbande, welchen meine Zeitschrift bereits besprochen hat. (BrW 17)

Der Artikel bespricht Saars neue Novellen in Form einer Sammelrezension. Wie viele andere Rezensenten, die sich immer wieder lobend über Saars Erstlingswerk, den Innocens, äußern, begreift auch er dieses Werk als den Höhepunkt in Saars Schaffen, hebt dann aber auch die Schicksale besonders hervor, wobei er sich, was ja in diesem Fall naheliegt, v.a. über Leutnant Burda respektvoll äußert: Gehen wir nun auf die einzelnen Novellen des Bandes ein, so sei zunächst, nicht um dieser Zeitschrift eine Verbeugung zu machen, sondern unserer Überzeugung gemäß, betont, daß die erste, den Band eröffnende Arbeit, „Lieutenant Burda", welche in der „Deutschen Dichtung" vor das Publikum getreten, die künstlerisch wertvollste des Buches ist.53

An dieses Lob knüpft der Autor dann aber seine Kritik: Wie bei der ersten Lektüre, so haben wir uns nun dem Eindruck nicht verschließen können, daß es sich hier um ein Kunstwerk handelt, das im Grunde nur ein Flecken entstellt: die Zufälle, welche die Einbildungen des unglücklichen Helden nähren, sind zu äußerlich; wären auch sie organisch in die Handlung eingewebt worden, so fände selbst der schärfste Tadel keinen Anhaltspunkt.54

Wir finden uns hier also auch seitens des Herausgebers der Erzählung selbst mit einem Argument konfrontiert, das die Kritik des Leutnant Burda bis in die Gegenwart beschäftigt und das die von Schopenhauer geprägte Vorstellung des Zufalls, die hinter der Erzählung steht und auf die an späterer Stelle eingehend zurückzukommen sein wird, nicht wahrnimmt. Drei Tage später, am 18. Dezember, tritt die Neue freie Presse mit einer Kritik der Schicksale hervor. Karl von Thaler stellt darin einen Bezug zwischen Leutnant Burda und Innocens her, da die „Feinheit der Ausführung" an das „Stilleben auf dem Wyschehrad" erinnere. Im Hinblick auf die Eigenart von Saars Kunst meint er feststellen zu können, daß sie „ihre Mittel hinter anspruchsloser Schlichtheit" 51 52 53 54

Müller-Guttenbrunn, S.2. Vgl. Martens, S.599. Härtung, S. 148. Ebd.

112

verberge und daher nur „schärferen Augen offenbar" werde - eine sicher nicht ganz unzutreffende, wenngleich etwas geheimnisvoll anmutende Wertung.55 Wieder in brieflicher Form äußert sich am 22. Dezember 1888 Josef Unger über die Schicksale. Er schwankt, welcher der drei Erzählungen er den Vorzug geben soll: Ich habe Ihre neuesten Novellen noch in Abbezio mit dem größten Interesse gelesen - ich finde alle drei meisterhaft - ob ich der ersten oder der dritten die Palme zuerkennen soll, darüber schwanke ich, doch möchte ich mich fast für die letzte entscheiden - aber auch die zweite ist vortrefflich und jeder Leser muß begeistert die Kunst bewundern, mit der Sie die verschiedensten „Schicksale" und Lebenssphären in ebenso einfacher als ergreifender Weise schildern. (BrW 25)

Ähnlich seinen Vorgängern, kommt auch Fritz Lemmermeyer in einer Sammelrezension der Blätter für literarische Unterhaltung vom 27. Dezember 1888 zu einer positiven Beurteilung des Leutnant Burda, wenn er einer kurzen Angabe über die Thematik der Erzählung die Sätze folgen läßt: Ein feines Seelengemälde: die psychologischen Vorgänge sind nur angedeutet und dadurch von bezwingendem Wahrheitsgehalte. Die Erzählung ist ruhig, künstlerisch geglättet: zwar nicht farblos, ist sie doch sparsam in der Farbe und fein erwogen.56

Es fällt hier das Urteil über den Stil auf, der in einer für die Literatur über Saar recht charakteristischen Weise völlig undifferenziert betrachtet wird. So heißt es auch am Schluß der Rezension: Der Reiz der Novellen besteht im wesentlichen in der Darstellung, im Stil — Stil in hohem Sinne, als der wie von selbst sich ergebende architektonische Ausdruck der Gedanken und Empfindungen.57

Nur eine Inhaltsangabe, die nicht gerade von tiefem Verständnis der Erzählung zeugt, bietet eine Rezension der Schicksale vom 30. Dezember 1888 im Sonntagsblatt des Bund (Bern). Da heißt es: „Lieutenant Burda", ein edler Charakter, hat die Schwäche, auf seine Erscheinung etwas eitel zu sein. Er wird dadurch zum Glauben verleitet, er werde von einer Prinzessin geliebt und durch eine Reihe von Zufällen in diesem seinem Glauben bestärkt, an welchem er schließlich zu Grunde geht. 58

Auf pathologische Züge in den Gestalten Saars hebt dagegen J. Silbermann ab. Ihm fällt dabei die Psychologie der Erzählung Leutnant Burda auf, die er im übrigen in die Tradition der Soldatengeschichten eingefügt sieht: Die Hauptpersonen seiner Novellen haben immer etwas Krankhaftes an sich, und eben aus diesem Defekt ihres Intellekts leitet der Verfasser jene Kämpfe mit ihrem unglücklichen Ausgange her. Diesen „Lieutenant Burda" mit der äußerlich blasierten Vornehmheit, der dabei doch so ein weiches Gemüt und eine so schwärmerische Phantasie besitzt, kennen wir wohl 55 56 57

58

Thaler, S.l. Lemmermeyer, S. 822. Ebd., S. 823. G.C..S.419. 113

aus den Hakländerschen und Winterfeldschen Soldatengeschichten. Aber wie psychologisch vertieft nach der ernsten Seite hin erscheint uns hier die Gestalt.59

Gegenüber dieser Rezension, die zumindest eine gewisse Vorstellung von Leutnant Burda vermittelt, bleibt das Urteil einer Rezension der Schicksale vom 1. Januar 1989 völlig undifferenziert. Die Erzählung wird als „merkwürdige Arbeit" gewürdigt, die niemand „ohne tiefere Anregung aus der Hand legen" werde.60 In ähnlicher Weise bezeichnet eine Rezension der Schicksale im 41. Jahrgang der Presse die Erzählung als „werthvolle Gabe". Leutnant Burda schildere „ein Stück österreichisches Soldatenleben in ergreifender Weise".61 Diese letzte Beobachtung, so banal sie klingen mag, trifft doch etwas Wesentliches, zielt sie doch auf den zeitgeschichtlichen Aspekt der Erzählung, den Saar - wie bereits gesehen - ja auch selbst besonders betont hat. Neben solchen Rezensionen finden sich immer wieder briefliche Äußerungen über die Erzählung, die die Besprechungen an Aussagekraft teilweise übertreffen. So schreibt zum Beispiel die Schriftstellerin Betty Paoli am 6. Februar 1889 über die Schicksale an Saar: Wie groß ist Ihre Menschenkenntniß und wie scharf Ihr Blick, wo es sich darum handelt in die verborgensten Tiefen des Gemüthes einzudringen! Gleich in der ersten Erzählung zeigen Sie uns, wie eine anscheinend ziemlich harmlose Einbildung allmä'lig zur fixen Idee werden, und immer weiter aus sich werfend, sich des ganzen Menschen bemächtigen und ihn dem Verderben überliefern kann. Allerdings wird Burda durch verschiedene, trefflich herbeigeführte Zufälligkeiten in seinem Wahn bestärkt, doch keineswegs wird er durch sie erzeugt. Nur die krankhafte Anlage in Burda's Geist bringt sie in einen geordneten Zusammenhang mit der ihn beherrschenden Wahnvorstellung, die aus ihnen neue Nahrung saugt. Es ist ein psychologisches Gemälde ergreifendster An. (BrW 20)

Betty Paoli beschließt dieses Urteil mit der Bemerkung: Das mußte ich Ihnen schreiben, um meinem Herzen Luft zu machen, sonst möchte es vor verhaltener Bewunderung bersten. (BrW 20)

Im Urteil Paolis steht somit die Frage nach Burdas Wahn im Vordergrund. Die Zufälle wertet sie als im Grunde äußerlich; sie würden durch fixe Ideen Burdas in einen „geordneten Zusammenhang" gebracht. Wenn Paolis Wertung - wie von einer kurzen brieflichen Äußerung nicht anders zu erwarten - auch keine erschöpfende Analyse des Verhältnisses von Zufall und Wahn liefern kann, so richtet sie doch, aus einem feinen Gespür für psychologische Zusammenhänge heraus, den Blick auf die zentrale Problematik der Erzählung. Auch eine Rezension der Schicksale im Fremdenblatt vom 16. April 1889 bemerkt, da sie Saars „tiefe Seelenkenntniß", seine „feine Schattirung und knappe, sichere Zeichnung", die „Klarheit" seiner Form und die „Durchsichtigkeit der

59 60 61

Silbermann. Vgl. von Weilen, S.62. Vgl.-r., S.13.

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psychologischen Entwicklung" hervorhebt, wesentliche Züge der Erzählung, weiß jedoch die Rolle der Zufälle, ähnlich wie Härtung und im Gegensatz zu Paoli, nicht einzuordnen und übt daher an ihr entschiedene Kritik: Dabei stört uns nur, daß sich gewisse kleine Zufälle, die seine Einbildung nähren, zu oft wiederholen, als daß dies der Wahrscheinlichkeit nicht Eintrag thun sollte.62

Dagegen beschäftigt sich die Rezension Josef Rüben Ehrlichs in der Nr. 136 der Wiener Zeitung, die sehr gründlich auf Leutnant Burda eingeht, mit dem Titel der Novellensammlung und rührt damit an einen Punkt, den bereits Schönbach in seinem Brief vom 26. April 1888 mit seiner Frage „und warum haben Sie das buch „Schicksale" genannt?" (BrW 21) angesprochen hatte: Es hat allerdings den Anschein, als ob der Verfasser den Begriff „Schicksal" unter denjenigen des „Fatums" stelle, denn mitunter entschlüpft ihm die Aeußerung, daß „der Mensch seinem Schicksale nicht entgehe", allein näher betrachtet, tritt das Schicksal in den Novellen als innere Nothwendigkeit, als Consequenz der Charakter-Eigenthümlichkeit auf, nur beging der Autor in der ersten Novelle „Lieutenant Burda" den Fehler, daß er diese Eigentümlichkeit viel zu viel in dem Temperamente festhält, während in den beiden anderen Novellen die m o r a l i s c h e Beschaffenheit der Hauptfiguren die Basis für die Entwicklung ihres Schicksals bildet.63

Wie Schönbach bemerkt damit auch Ehrlich, daß das Schicksal nicht in erster Linie von außen auf den Helden einwirkt, sondern vielmehr primär in seinem Seelenleben begründet ist. Eigentümlich und schwer verständlich erscheint dabei die Unterscheidung, die Ehrlich zwischen der „Rolle des Temperamentes" in Leutnant Burda und derjenigen der „moralischen Beschaffenheit" in den anderen beiden Erzählungen der Schicksale, also Seligmann Hirsch und Die Troglodytin, wahrnehmen möchte.64 Weiterhin gelten einige Bemerkungen in der Rezension Ehrlichs dem Wahn Burdas, dessen Rolle recht differenziert gewertet wird, wenngleich das dezidierte und normative Urteil über das, was in der Kunst interessiere und was nicht, für heutige Ohren etwas befremdlich klingt: Wie Andere an Größenwahn, so leidet Burda an Adelswahn. Derselbe ist zwar bei ihm nicht zur Psychose entartet, denn in diesem Falle wäre er krank, und Kranke interessieren in der Kunst nicht, allein er ist nahe daran und richtet sein Benehmen aristokratisch ein.65

Im Zusammenhang mit Burdas Wahn steht auch der Rekurs auf die Rolle von Saars Biographie im Hinblick auf Leutnant Burda, wobei Ehrlich als erster solche Zusammenhänge ausspricht: Den Anstoß hiezu [zur Schilderung des Adelswahns] gab ihm eine halb begründete, aus den nachgelassenen Papieren seines Vaters geschöpfte Vermuthung, daß er, der Bürgerliche, in der That einem alten Grafengeschlechte entstamme.66 62 63

64 65 66

h.,S.12. Ehrlich, S.2.

Vgl. dazu auch Haberland, S. 108f. Ehrlich, S.2. Ehrlich, S.2. 115

Ehrlichs weitere Darlegungen über Burdas Wahn betonen wieder die Gabe psychologischer Darstellung, die die Erzählung auszeichne, sie suchen dabei auch die Rolle des Erzählers zu berücksichtigen, der freilich - wie in allen Rezensionen dieser Zeit - ganz unkritisch mit dem Dichter selbst identifiziert wird: Herr von Saar, der in der Novelle als Freund Burda's figurirt und mit gesundem Verstande und sorglicher Zartheit in das Hirngespinst des Liebenden eingreift, um ihn zu klarer Einsicht zu bringen, vermag nichts gegen den Wahn, den neue günstige Zufälle und die treffenden Deutungen derselben von Seite Burda's in seinem Gemüthe befestigt.67

Wie sich an späterer Stelle noch zeigen wird, kann eine solch undifferenzierte Gleichsetzung von Autor und Erzählerfigur, die hier freilich, da sie über rein inhaltliche Aussagen kaum hinausgeht, harmlos bleibt, zu recht gefährlichen Werturteilen über die Erzählung führen, deren eigentliche Tendenz dann völlig übersehen wird.

Die doch - im ganzen gesehen - bemerkenswerte Zustimmung zu den Schicksalen, wie sie sich in diesen Rezensionen und Briefen ausdrückt, schlägt sich auch im Absatz des neuen Novellenbandes nieder, über den der Verleger Weiß am 7. August 1889 an Saar schreibt: Von den „Schicksalen" sind 170 Ex. im vorigen Jahr abgesetzt, die Kosten sind damit aber noch nicht gedeckt und deshalb folgt darüber noch keine Abrechnung. In diesem Jahr ist aber schon viel abgesetzt und ich hoffe auf ein gutes Resultat im nächsten Jahre. Soviel läßt sich wenigstens schon jetzt sagen, daß der Erfolg ein weit besserer war als bisher. (BrW 29)

Dieser Erfolg beschränkt sich nun keineswegs mehr allein auf die Schicksale^ sondern tangiert auch weitere Sammlungen, denn der Verleger fährt fort: Auch für die beiden anderen Novellen-Sammlungen ist die Aufmerksamkeit reger geworden. (BrW 29)

Eine Abrechnung läßt Weiß dann gut ein Jahr später, am 12. August 1890, folgen. Das begleitende Schreiben erscheint diesmal weit weniger „enthusiastisch", bestätigt aber erneut den guten Absatz der Schicksale: Endlich erhalten Sie hierbei die Abrechnung von 1889. Sie ist nicht glänzend, immerhin ist zu constatiren, daß von den „Schicksalen" nach Ablauf des zweiten Jahres ihres Erscheinens ebensoviel Exemplare abgesetzt waren, als von den „Neuen Novellen" nach Ablauf des siebenten Jahres, und daß ich Ihnen aus den „Schicksalen" nach Ablauf des 2ten Jahres 45 M. gutbringen kann, während ich von den „Neuen Nov.", die 1882 erschienen, erst 1885 l M 70 & gutschrieb. (BrW 30)

Weiß beklagt dann, daß selbst dieser verhältnismäßig gute Absatz in einem Mißverhältnis zu den „glänzenden Kritiken" stehe.

67

Ebd.

116

c. Die weitere Kritik des Leutnant Burda von 1890 bis 1897 Die spontane Zustimmung, die sowohl bei den ersten Rezensenten als auch in persönlichen Äußerungen dem Autor gegenüber spürbar ist, wirkt auf diesen selbst zurück. Am 27. Februar 1890 schreibt er an Franziska von Wertheimstein: Daß Ihnen mein „Burda" gefallen hat, freut mich außerordentlich; ich selbst halte ihn für eine meiner besten Arbeiten. (BrW 35)

Der Ebner gegenüber hatte Saar ja bereits erheblich früher - und zwar gerade im Zusammenhang mit Leutnant Burda - geäußert, er glaube, endlich das „lösende Wort gefunden"68 zu haben - ebenfalls ein Hinweis auf die eigene Wertschätzung seiner Arbeit. Im Mai/ Juni 1890 erscheint eine Studie Victor Hubls, in der zum einen der in der Tat bezeichnende Begriff des „Größenwahns" fällt, zum ändern Leutnant Burda als der „Höhepunkt in Saar's erzählenden Dichtungen" eingestuft wird. Da heißt es: Einen seelischen Zustand so zu schildern, wie er in „Lieutenant Burda" (1887) die allmählige Entwickelung des Größenwahns auf Grundlage persönlicher Eitelkeit und zufälliger äußerer Erscheinungen darstellt, und dann, nachdem die traurigste Katastrophe unabwendbar erscheint, einen so reinen tragisch versöhnenden Ausgang zu finden, solches vermag nur das Ingenium eines ganzen Dichters. „Lieutenant Burda" gilt mir bislang als der Höhepunkt in Saar's erzählenden Dichtungen - es ist ein würdigstes Gegenstück zu „Innocens" und „Vae victis".69

Neben der hohen Wertschätzung der Erzählung fällt in dieser Aussage der Hinweis auf den „reinen tragisch versöhnenden Ausgang" ins Auge, der eine richtige Beobachtung hinsichtlich des Todes Burdas bzw. dessen Wirkung auf den Leser enthält, wenn auch nicht erklärt wird, worin diese begründet ist. Positiv wertet auch Hermann Heller in Mährens Männer der Gegenwart: Biographisches Lexikon die Schicksale.™ Er bezeichnet diese Novellensammlung als die bedeutendste Saars. Nicht viel ergiebiger speziell im Hinblick auf Leutnant Burda ist auch der Artikel Karl Prölls Ferdinand von Saar als Novellist in der MorgenAusgabe der Nationalzeitung vom 14. Januar 1893, der nur die Thematik der Erzählung angibt, dabei allerdings den in der Tat treffenden Begriff „adelssüchtiger Größenwahn" verwendet: „Lieutenant Burda" Schilden uns die Konflikte, in die ein ernst angelegter, pflichttreuer Charakter geräth, weil ein adelssüchtiger Größenwahn sich seines Verstandes bemächtigt hat.71

Eine weitere Rezension aus dem Jahre 1893 stammt aus der Feder Benno Rüttenauers. Sie steht im Zeichen des sechzigsten Geburtstages des Dichters und 68 69 70 71

Brief vom 25. Januar 1887; Briefwechsel Ebner, S.79. Hubl,S.169f. Vgl. Heller, S. lOOf. Pröll.S.lff. 117

spricht als erste den Charakter der Erzählung als „Don Quixote-Geschichte" an: „Leutenant Burda" [sie!] z.B. ist eine Don Quichote-Geschichte, eben so groß durch die klare und reine Herausarbeitung der Idee wie durch die Lebendigkeit, Farbigkeit und persönliche Wärme der Darstellung, bis in die geringfügigste Kleinigkeit hinein.72

Dagegen geht die Rezension Lothars, wie die Rüttenauers aus Anlaß des sechzigsten Geburtstages Saars verfaßt, wieder besonders auf die Rolle des Zufalls in Leutnant Burda ein: Im „Lieutenant Burda" trägt eine Reihe kleiner Zufälle die größte Schuld an der Wahnidee des Verliebten. Hier besonders zeigt sich die Neigung Saar's, den Zufall als Factor der Composition seiner Novellen zu verwenden. Saar sagt einmal: „Der Zufall ist nichts Anderes als geheimnißvolle Notwendigkeit." So wirkt er auch als künstlerisches Moment. Denn wenn das innere Leben eines Menschen uns klar erscheint, wenn wir die Art kennen, wie Denken und Fühlen bei ihm sich ergänzen und ineinander greifen - und dies darzustellen schuldet uns der Poet - so empfinden wir eine von der Außenwelt gegebene Gelegenheit, die es ermöglicht, daß Gedanken und Gefühle sich zu Thaten umsetzen, nicht als Willkür, sondern als etwas vom Charakter der handelnden Person Bedingtes. 7J

Diese Darstellung der Rolle des Zufalls durch Lothar stellt nun insofern einen Fortschritt dar, als er dessen Bedeutung auf dem Hintergrund des in Schloß Koste· nitz begegnenden Satzes, der der Philosophie Schopenhauers entnommen ist, versteht, der Zufall sei „nichts Anderes als geheimnisvolle Nothwendigkeit". Diese Aussage bezieht Lothar auf die seelischen Vorgänge, die sich im Innern Burdas abspielen und die seine Handlungen erklären. In solchem Verständnis erscheinen jetzt Ansätze wie zum Beispiel derjenige B. Paolis, die ja bereits mit Recht das psychologische Moment betont hatte, um einen wesentlichen Gesichtspunkt erweitert. Noch einmal meldet sich Benno Rüttenauer am 7. Dezember 1893 in den Blättern für literarische Unterhaltung zu Wort.74 Diesmal betont er den seltsamen Charakter des Titelhelden, „der bei aller persönlichen Bestimmtheit zugleich symbolisch" sei. Bedauerlicherweise führt Rüttenauer diese sehr richtige Beobachtung, die ja in Saars Aussage, er habe das „Hohle undNichtige im Leben Burdas - ja der ganzen Zeitperiode" (BrWIO) zur Darstellung bringen wollen, eine Bestätigung findet, nicht weiter aus, sondern lobt die Milieuschilderung der Erzählung, in der Saar den Offiziersstand „mit seinen eigensten Manieren und Sitten vermittelst weniger Striche in die Anschauung gerückt" habe. Dagegen ist die Erwähnung Leutnant Burdas durch Wilhelm Arthur Hammer im Jahrbuch des Scheffel-Bundes nur unter dem Aspekt interessant, daß hier, wie ja auch schon andernorts, Innocens und Leutnant Burda in einem Atemzug erwähnt werden, wobei der Autor die jeweiligen Hauptcharaktere als „beschaulicher Ein72 7J 74

Rüttenauer, S. 620. Lothar, S.l. Rüttenauer, Ferdinand von Saar.

118

samkeit ergebene" Männer wertet, die schließlich zum tragischen Helden würden - ein in dieser Pauschalität kaum zutreffendes Urteil, das über die wesentlichen Kriterien beider Erzählungen hinweggeht.75 Auch die Studie Jacob Minors vom 21. Februar 1897 in der Vossischen Zeitung, die sehr den Unwillen Saars erregte76, setzt sich u.a. mit Leutnant Burda etwas eingehender auseinander. Sie betont den humoristischen Charakter der Erzählung und hebt das Don Quixotehafte der Gestalt Burdas hervor. An dem Strahl der Selbsterkenntnis, der Burda vor seinem Tode berührt, übt sie entschiedene Kritik: Oefter ist der Grundton des Charakters humoristisch, von dem sich die späteren ernsten Wirkungen dann um so eindringlicher abheben. Der „ L i e u t e n a n t Burda", ein eleganter, in der äußeren Erscheinung stets tadelloser Offizier, lebt in dem Wahne, daß er von hoher Abstammung sei und von einer Prinzessin geliebt werde. Der Zufall spielt mit ihm und nährt seinen Wahn. Burda erweist sich als ein wahres Genie der Illusionen und Einbildungen, die sich immer steigern, und ist zuletzt als ein echter Don Quixote bereit, den Kampf mit ganzen Heeren aufzunehmen. Aber auch im höchsten Wahn bleibt er immer noch eine ritterliche Erscheinung, deren Sanguinismus und Optimismus uns fast liebenswürdig erscheint, zumal da der Dichter bestrebt ist, seinen Einbildungen immer wieder eine gewisse subjektive Berechtigung zuzuerkennen. Psychologisch anfechtbar ist vielleicht nur der Strahl von Selbsterkenntniß vor dem Tode; aber auch der ist nur vorübergehend, und der Held stirbt in dem Wahn, der ihn noch auf dem Todtenbett tröstet.77

Aus einem Brief an seinen jungen Freund Abraham Altmann vom 17. April 1897 geht Saars Einschätzung dieser Studie deutlich hervor. Darin schreibt er. Minors Artikel hätt' ich schon längst geschickt, wenn sie nicht gar so zersetzen*/wären. Derlei steckt unwillkürlich und unmerklich an. Eine Anmerkung der Redaction nennt sie mit naiver Treffsicherheit „Untersuchungen". Das sind sie. Untersuchungen und Zerpflückungen meines dichterischen Wesens und meiner Schriften. Was er über die Dramen sagt, möchte hingehen, aber die Novellen hat er mir arg zugerichtet.78

In der Tat geht Minors Deutung der Erzählung hier ja wenig über eine Inhaltsangabe hinaus und wird dort, wo dies der Fall ist, sehr anfechtbar. Burdas Problematik tritt gar nicht ins Bewußtsein, vielmehr ist Minor bestrebt, ihn als liebenswürdigen Charakter erscheinen zu lassen, hinsichtlich dessen sich auch der Dichter selbst um einfühlendes Verständnis bemühe - eine Beobachtung, die schon deshalb fehlgehen muß, weil die notwendige Unterscheidung zwischen Dichter und Erzähler unterbleibt. Den „Strahl der Selbsterkenntniß vor dem Tode" - ein, wie wir noch sehen werden, nicht unwichtiges Element der Handlungsführung - toleriert Minor allein deshalb, weil er „nur vorübergehend" sei. So fehlt seinen Ausführungen im Hinblick auf Leutnant Burda in der Tat jede weiterführende Einsicht; auch setzt er völlig falsche Akzente, was sich wohl nicht zuletzt auf seine falsche Vorstellung von der Schaffensweise Saars zunickführen läßt, die der Dich75 76 77 78

Hammer, Nicht rasten, S.94 Vgl. Brief an Abraham Altmann vom 17. April 1897; Briefwechsel Altmann, S.130. Minor IV. Brief an Abraham Altmann vom 17.April 1897; Briefwechsel Altmann, S.130.

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ter in einem ebenfalls an Altmann gerichteten Brief vom 14. Mai 1897 wie folgt charakterisiert: Er ist so naiv zu glauben, dass ich, was ich da geschildert, wirklich Alles selbst erlebt hätte alle Personen wirklich vor mir gehabt! Fast das Gegentheil ist wahr! [...] Sie sind mit ihren Schicksalen aus zahllosen Eindrücken und Bildern geworden. [...] So urtheilt aber (zu meinem Schaden) auch das Publicum - und hat keine Ahnung, welche Kunst und Erfindung in meinen Geschichten steckt.79

Aus dem Jahr 1897 datiert auch eine Rezension Felix Poppenbergs, die den biographischen Bezug in Saars Erzählungen konstatiert, und beiläufig, wie ja schon in vorausgehenden Rezensionen gesehen, eine Beziehung zwischen Leutnant Burda und Innocens bemerkt: Aus den frühen Novellen spricht der junge Offizier, der nomadisirend hin und her verschlagen wird, der in Turin, Verona, Venedig rastet und in Prag tragische Idyllen erlebt. Ein junger melancholischer Träumer, dem jede Gestalt, die er trifft, zur Geschichte wird, von dem entsagungsstarken Priester Innocenz bis zum Donquixotesken Lieutenant Burda, dem armen Tragiker der Einbildung.80

Aus der Rezensionsgeschichte bis 1897, also bis zum Erscheinen der dritten Auflage der Novellen aus Oesterreich, geht einerseits die relativ weitreichende Resonanz hervor, die Leutnant Burda unter Kritikern und Rezensenten wecken konnte, andererseits wird aber auch deutlich, daß die meisten, oft gerade auch die wohlmeinenden Urteile, an wesentlichen Aspekten der Erzählung vorbeisehen oder sogar schlicht zu falschen Aussagen kommen. Daß dies nicht unbedingt eine breitere Rezeption der Erzählung sowie überhaupt des Werkes Saars fördern konnte, liegt auf der Hand. Dies hinderte aber nicht, daß im Jahre 1897 eine dritte Auflage der Novellen aus Oesterreich sowie eine zweite Auflage der Schicksale erscheinen konnte, die beide auf demselben Satz fußen. Sie sollen im Mittelpunkt des folgenden Kapitels stehen.

79 80

Brief an Abraham Altmann vom 14. Mai 1897; Briefwechsel Altmann, S.Hlf. Poppenberg, S.351.

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4. Die Drucke der Jahre 1897 und 1898 a. Die dritte Auflage der Novellen aus Oesterreich (N3), die neue Auflage der Schicksale und der Abdruck in der Wiener Mode (J2)

In den Jahren 1897 und 1898 erscheint Leutnant Burda gleich dreimal. Die Erzählung wird zunächst in einer Neuauflage der Novellen aus Oesterreich, die vier Jahre nach der zweiten Auflage in erweiterter Form und in zwei Bänden erscheint, veröffentlicht. Zudem wird im Herbst 1897 eine Neuauflage der Sammlung Schicksale veranstaltet, die nicht nach der ersten Auflage von 1889 erfolgt, sondern eine Titelauflage der ersten drei Erzählungen des zweiten Bandes der Novellen aus Oesterreich ist, wie auf der Rückseite des Titelblattes auch ausdrücklich vermerkt wird: „Sonderausgabe aus dem zweiten Band der 'Novellen aus Oesterreich' : Auflage von 1897." Daher kann diese Ausgabe für die Textkritik keine Rolle spielen. Im Jahre 1898 schließlich erscheint die Erzählung in den Heften 7 bis 12 der Wiener Mode, in der einige Jahre vorher bereits Die Troglodytin veröffentlicht worden war. Eine Titelauflage der Schicksale hatte Saars Verleger Weiß bereits im Mai 1892 erwogen (BrW 31), dann aber mit der Begründung, eine reine Titelauflage gebe „einen schlechten Beigeschmack", wieder davon abgesehen (BrW 32). Im Januar 1896 ist dann der Vorrat der Sammelbände Neue Novellen, Schicksale und Frauenbilder so stark geschrumpft, daß die Inangriffnahme einer Neuauflage unabdingbar erscheint. So schreibt Weiß am 17. Januar 1896 an Saar: Die Vorräthe der „Neuen Novellen", „Schicksale" und „Frauenbilder" sind stark zusammengeschmolzen, so daß ein Vergriffenwerden in diesem Jahre wohl möglich ist, und da hat mir denn allerdings der Gedanke vorgeschwebt, nicht so lange zu warten, sondern schon vorher eine Ausgabe dieser Novellenbände mit „Schloß Kostenitz" zu veranstalten, {x-x-x} die völlig der 2 t e n Auflage der „Novellen aus Oesterreich" entspricht, und die wohl 2 Bände stark werden würde. (BrW 33)

In der Tat hat Saar aber für die neue Ausgabe der Novellen aus Oesterreich seine Erzählungen noch einmal überarbeitet und so auch Leutnant Burda einer erneuten Revision unterzogen. Der so entstandene Text, vom gleichen Satz abgezogen wie die zweite Auflage der Schicksale und mit deren Text identisch, unterscheidet sich dagegen von dem, den die Wiener Mode bietet, obgleich auch dieser Text nach der Angabe des Herausgebers aufgrund der Novellen aus Oesterreich von 1897 veran121

staltet worden sein soll.81 Bevor dieses Problem eingehender besprochen wird, sei hier kurz die Umarbeitung von S zu NJ charakterisiert. N3 unterscheidet sich von den früheren Fassungen durch eine weitere Glättung des Stils, die wiederum vor allen Dingen durch Auslassungen von Wörtern, Änderungen des Ausdrucks sowie dadurch erreicht wird, daß die Demonstrativpronomina „der-, die-, dasselbe" durch „er, sie, es", „dieselben" durch „diese" ersetzt werden. Das -e- im Auslaut der Dativ- und Genitivendungen wird verschiedentlich beseitigt, außerdem werden, ähnlich wie im ersten Druck der Schicksale gegenüber jenem der Deutschen Dichtung, einige Adverbien und Präpositionen durch andere ersetzt, und an einer Stelle (V29,23) wird die Wortstellung verändert. Darüber hinaus fällt die Änderung der Steigerungsstufe des Adjektivs auf, ein Vorgang, der ebenfalls bereits im Verhältnis der beiden früheren Drucke zueinander zu beobachten war V28.14 Es wurden drei kleinere Stücke gegeben > Es wurden drei kleine Stücke gegeben V48,19 von erschütterndster Wirkung > von erschütternder Wirkung Nennenswert erscheinen schließlich noch folgende Änderungen des Ausdrucks: V20.38 und mit einer gewissen Hast dem Saale zudrängte > und mit einer gewissen Hast dem Saale zustrebte An dieser Stelle tritt nur eine geringfügig andere Nuancierung ein; wohl in erster Linie aus stilistischen Gründen wird der Ausdruck etwas abgeschwächt. Ahnliches gilt auch für folgende Stelle, wo die etwas plastischere Formulierung zugunsten einer gehobeneren Ausdrucksweise verworfen wird: V37,41 an den Mann gebracht > eingebracht Schwieriger als die Analyse der Fassung N3 ist die Bewertung der Fassung der Wiener Mode, von der Minor annimmt, daß sie „auf eine Handschrift oder auf Korrekturbögen" zurückgehe, „die für den Druck von 1897 dann noch weitere Änderungen erfahren haben" 82, so daß J2 also eine Art Vorstufe zu N3 darstellen würde. Daß Saar sich mit der Veröffentlichung eines solchen Textes allerdings einverstanden erklärt haben soll, erscheint bei der Sorgfalt seines sonstigen Vorgehens nicht sehr wahrscheinlich. Davon abgesehen, liegt für Minors These auch keinerlei Beweismaterial vor, und noch weitere Gründe sprechen gegen sie: Zum einen weist J2 einige Varianten auf, die in keiner anderen Fassung begegnen; zudem besitzt J2 Varianten, die in die letzte autorisierte Fassung der Novellen aus Oesterreich (N4) aufgenommen wurden, aber nicht auch in N3 eingegangen sind. Andererseits verharrt J 2 hinsichtlich mancher Varianten noch auf dem Stand von 81 82

Minor in Saar: SW 9, S.9. Minor in Saar: SW9, S. 9.

122

S, bleibt also hinter N3 zurück. Erstaunlich ist auch, daß die Fassung fünf Varianten nur mit J1 teilt. Da sie zudem zahlreiche Druckfehler aufweist, die in den übrigen Fassungen nicht begegnen, ist es zunächst naheliegend, viele Varianten auch auf die Nachlässigkeit des Setzers zurückzuführen. Um so wichtiger ist es daher, die Varianten aus J2 einer genauen Analyse zu unterziehen, wenn man die Frage nach einer dahinter stehenden Planung des Dichters und damit nach der textgeschichtlichen Bedeutung dieses Druckes beurteilen will. Sieht man von den Druckfehlern ab, so weist J2 auch darüber hinaus Varianten auf, die wohl auf eine Nachlässigkeit des Setzers zurückgehen und daher nicht mehr in die spätere Fassung der Novellen aus Oesterreich (N4) übernommen wurden. Hier sind vor allem die Aufgabe einer Sperrung (V30,7 Das > nicht gesperrt), die Aufgabe eines Absatzes (vgl. V47,12), der Wegfall eines Wortes (vgl. V10.9; V15,17f.; V32.28; V44,3 ) oder eines Buchstaben (vgl. V17,40; V31.32; V35,32) zu nennen. Auch die Einführung einer alten Schreibweise (vgl. V25,l), wie sie den sonstigen Prinzipien des Autors geradezu zuwiderläuft, oder die kaum wahrnehmbare Änderung bzw. Umstellung von Buchstaben (vgl. V26,31f.; V39,32; V40,19) lassen sich in dieser Weise erklären. Neben diesen Varianten, deren Nicht-Übernahme in N4 leicht zu verstehen ist, finden sich allerdings einige wenige nicht übernommene Varianten, die wohl auf eine bewußte Gestaltung durch den Autor zurückgehen könnten, wenn auch nicht mit zwingender Notwendigkeit, denn sie verändern niemals den Sinn einer Aussage. Es handelt sich hier um die Veränderung der Wortstellung, die Einfügung neuer Wörter, die Veränderung der Steigerungsstufe sowie der Zeitstufe und, in einem Fall, um eine deutlichere Veränderung eines Satzes. Um dem Leser einen genauen Einblick auch in diese Textänderungen zu vermitteln, seien die entsprechenden Varianten hier in chronologischer Reihenfolge angeführt: V10.4 antrat, war er geradezu > antrat, er war geradezu V12,12 Geringes > Geringeres V20.37 ich glaubte > ich glaube V27.20 und konnte ihm > und konnte ich ihm V32.6 begleite > begleitete V39.40 und Mähren > und in Mähren V43.22 Ja," fuhr > „Ha," fuhr V45,l "Du hast ihnen sehr gut geantwortet," > „Da hast du ihnen sehr gut geantwortet," V45.25 Haltung mit kurzem Gruß > Haltung und mit kurzem Gruß Bei jenen Varianten allerdings, die aus J2 in N4 übernommen wurden, läßt sich durchweg das Prinzip von Korrektur bzw. Modernisierung feststellen. So werden ein Druckfehler ausgemerzt (V15.3), das Komma in der Satzreihe gesetzt (V16,ll; V20.13; V48.10), weiterhin Kommas im Sinne der modernen Zeichensetzung ge123

setzt (V22,18; V34,34; V35,7f.) oder getilgt (V30.35), in einem Fall das Semikolon (V17,36), in anderen Fällen der Doppelpunkt (V18.28; V19.23) durch Komma ersetzt. In V19,6 fällt der Doppelpunkt ersatzlos, wodurch ebenfalls dem moderneren Empfinden Rechnung getragen wird. Auch die Setzung des Bindestrichs in V14,12 erscheint konsequent. Im Sinne einer moderneren Schreibung und Lautung ist schließlich die Korrektur folgender Wörter erfolgt, deren Varianten hier aufgelistet seien: VI 7,2 Entwickelung > Entwicklung V18,6 Loos > Los V20.24 Sammet > Sammt Die Bedeutung von J2, dessen besonderer Stellenwert aufgrund der zuletzt genannten Varianten deutlich wurde, ist somit erwiesen. Es soll hier aber auch abschließend auf jene Varianten hingewiesen werden, hinsichtlich derer J 2 hinter N3, ja sogar hinter S zurückbleibt. Die fünf nur J1 und J2 gemeinsamen Varianten sind dabei allerdings sehr geringfügiger Natur - ein Hinweis darauf, daß sie auch ohne eine eigentliche Benutzung der Erstfassung der Erzählung (J1), also zufällig oder versehendich aufgrund der bereits beobachteten Nachlässigkeit beim Setzen in die Fassung}2 eingedrungen sein können. Zu nennen sind hier: V22,28 zu finden > zu finden, V28,3 in meinem Inneren > in meinem Innern V32.39 Tschibuke> Tschibuks V35,25 Livree > Livree V49,10f. sogar > sogar, Anders sieht die Situation im Hinblick auf das Verhältnis von J 2 zu S aus. Es wird hier deutlich, daß der Autor mit dieser Vorlage gearbeitet haben muß, da es sich bei den S und J2 gemeinsamen Varianten fast durchweg um solche handelt, die hinter dem sonst in J2 wie auch in N3 zu beobachtenden Stand der Modernisierung zurückbleiben. So ist in V27.38 „denselben" noch beibehalten, V40.23 bewahrt noch die alte Schreibung von „Feuer-Pikett" mit Bindestrich, V10,41 und V46,19 verzichten auf die Setzung des Kommas in der Satzreihe, V30,41 setzt noch nicht Semikolon statt Komma, obgleich das Semikolon deutlich angemessener ist, VI8,17 und V37.1 behalten den Singular statt Plural bei, wo die Plural-Variante sicher die durchdachtere ist, V29,38 bietet noch keine Synkope des -e- in „ungeheueren", und in ähnlicher Weise verzichtet V34,37 auf die Setzung des Kommas. In V5,4 wird der Druckfehler noch nicht ausgemerzt. Die Schreibung von „corpora delicti" wird in J2 ebenfalls noch nicht im Sinne der endgültigen Fassung verändert, wobei sich hier allerdings über die vorzuziehende Variante streiten läßt (vgl. V7,39). Schließlich wird in J 2 auch noch der Ausdruck „innehielt", den N4 durch die eleganter Variante „bekundete" (V34,20) ersetzt, beibehalten. 124

Minors These, es handele sich bei J2 um eine Art Vorstufe zu dem Druck der Novellen aus Oesterreich von 1897, bedarf aufgrund des aufgezeigten Befundes wohl einer Ergänzung. Es ist zwar denkbar, daß Saar sich bei der Erstellung dieser Fassung einer entsprechenden Vorlage bediente, er hat dann aber diese Vorlage noch verändert, und zwar unabhängig von N3, da J2 selbständige Varianten enthält, an denen sich auch N4 orientiert, andererseits aber nicht alle Varianten aus N3, und zwar auch nicht solche, die später in N4 eingehen. Varianten aus J2, die nicht in N4 übernommen werden, gehen wohl in der Regel auf einen Irrtum des Setzers zurück oder sind so geringfügig, daß sie vom Dichter später nicht mehr berücksichtigt, andernfalls verworfen wurden.

b. Die Kritik ab 1897 Selbstverständlich hatten die neuen Ausgaben der Schicksale, der Novellen aus Oesterreich sowie der Wiederabdruck des Leutnant Burda in der Wiener Mode einen erneuten Schub von Rezensionen zufolge, zumal den Rezensenten nun ein Überblick über das gesamte bisherige Prosawerk Saars erheblich erleichtert war. Zunächst zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang zwei Aussagen Abraham Altmanns, die sich in seinem Briefwechsel mit Saar finden. Sie sind für uns hier vor allem deshalb von Interesse, weil sie zum einen die hohe Wertschätzung des Leutnant Burda auch von dieser Seite her bestätigen, zum ändern aber Saars Technik erstmals deutlicher charakterisieren. In einem Brief vom 6. September 1897 hatte Altmann an Saar geschrieben: Lieutenant Burda und Seligmann Hirsch sind Meisterstücke83,

um dann in einem Brief vom 11. September näher auf die Psychologie dieser Erzählungen einzugehen: Burda und Hirsch habe ich nochmals gelesen und nochmals bewundert. Diese minutiöse Psychologie ist so fein, dass sie dem Besten, was ich in dieser Hinsicht kenne, vollkommen die Wage hält.84

Noch aufschlußreicher ist aber eine Passage in dem Brief Altmanns an Saar vom 17. Februar 1898. Darin heißt es: Eine Beobachtung habe ich wieder einmal gemacht, die mir schon oft bei Ihren Vergleichen gekommen ist und die mich zu einem Schlüsse von vielleicht überfeiner Subtilitaet führt. Sie weisen in der Regel, wenn Sie Weiber- oder Männerkörper verdeutlichen wollen, auf ähnliche Werke der Malerei oder Plastik hin. [...] In Leutnant Burda auf den „farnesischen Herkules" und auf „Antinous". Diese Vergleiche sind alle nicht direct, nicht unmittelbar. Sie sind nicht der Natur, sie sind den verwandten 83 84

Brief Abrahm Altmanns vom 6. September 1897; Briefwechsel Altmann, S. 175. Brief Abraham Altmanns vom 11. September 1897; Briefwechsel Altmann, S.179f. 125

Künsten entnommen. Diese Mittelbarkeit scheint mir mit dem Grundzug Ihrer Natur zusammenzuhängen, die ich in dem Aufsatz über Ihre Lyrik als eine v e r h a l t e n e bezeichnet. So erscheinen mir auch all diese Vergleiche v e r h a l t e n . 8 5

Altmann berührt hier in der Tat ein sehr zentrales Problem. Die feinsinnige Charakterisierung der Technik Saars, die er hier gleich an mehreren Werken festmacht, bezieht er auf Saars „verhaltene" Natur. Es wird freilich noch zu prüfen sein, ob diese Erklärung ausreichend ist. Im Dezember 1897 finden sich unter der Rubrik „Empfehlenswerthes für den Weihnachtstisch" in Lechner's Mittheilungen aus dem Gebiete der Litteratur und Kunst, der Photographic und Kartographie einige Sätze von Leopold Hörmann über die Novellen aus Oesterreich, die den Charakter einer recht oberflächlichen Werbung für die Ausgabe freilich nicht überschreiten. Leutnant Burda wird hier im Zusammenhang mit jenen Erzählungen genannt, die einen Bezug zu Saars soldatischer Vergangenheit aufweisen: Den Reigen eröffnet die vielgerühmte Novelle „Innocens", mit welcher der Dichter im Jahre 1866 seinen Ruf als Erzähler begründet hat. Er fand den Stoff dazu während seiner Lieutenantszeit, die auch noch im „Lieutenant Burda" und in dem glänzenden Gesellschaftsbild „Vae victis!" ihre Nachwirkungen äussert.86

Unter anderem Aspekt sieht Anton Bettelheim Leutnant Burda. In einem Artikel der Cosmopolis von 1898 hebt er die Passivität der Saarschen Helden hervor, hinsichtlich derer seiner Ansicht nach die nicht genuin österreichisch-deutschen Helden, zu denen er auch Burda zählt, eine gewisse Ausnahme darstellen: In den gefahrlichsten Lagen stellen sich fast niemals heroische Entschliessungen ein: desto häufiger bringen hitzige Fieber, Himschlag und Herzkrankheiten unerwartete Lösungen (Marianne; Geschichte eines Wiener Kindes; Schloss Kosten)tz; Sündenfall). Und selten nur greift Selbsthilfe ein: fast allemal, bezeichnend genug, nicht bei Deutschösterreichern: beim italienischen Halbblut Ginevroi beim slavischen Lieutenant Burda; beim Juden Seligmann Hirxb.97

Es bleibt hier aber völlig im unklaren, worin im Falle Burdas die Selbsthilfe liegen soll. Wahrscheinlich ist daher, daß Bettelheim diese Erzählung bei Niederschrift der Zeilen nicht mehr genau in Erinnerung hatte. Paul Seliger, dessen Rezension der Novellen aus Oesterreich in Die Gegenwart vom 8. Januar 1898 datiert, beschäftigt vor allem das Problem des Tragischen in Saars Erzählungen, das er für eine „Vorliebe" des Dichters hält, die sich bei ihm unabhängig von den Stoffen - geltend mache: Diese Vorliebe für das Tragische macht sich sogar bei Stoffen geltend, die von vornherein gar nicht darauf angelegt sind, so in „Seligmann Hirsch", und noch mehr in „Lieutenant Burda" sehr zum Schaden des Gesamimeindruckes der Sammlung, in der nun hellere Farben vollständig fehlen.88 85 86 87 88

Brief Abraham Altmanns vom 17. Februar 1898; Briefwechsel Altmann, S.193f. Hörmann, S.4. Bettelheim, Cosmopolis, S.276. Seliger, S.23.

126

Seligere Einschätzung gerade auch Leutnant Burdas liegen hier eigenartige Wertmaßstäbe zugrunde, die weniger sachlich, als in seinem persönlichen Geschmack begründet scheinen. Den Grund für die von ihm beanstandete Tragik nimmt er überhaupt nicht wahr, so daß ihm zwangsläufig ein tieferes Eindringen in den Gehalt der Erzählungen verwehrt bleiben muß. Marie Heyrets Rezension, die im übrigen auch zu keinen bemerkenswerteren Ergebnissen kommt, zitiert den Satz aus der Erzählung: Es musste alles so kommen, wie es kam: er war wie jeder, dem unerbittlichen Schicksale seiner Natur verfallen.89

Sie hebt damit auf den Determinismus ab, der Burdas Schicksal zugrundeliegt. Einen längeren Abschnitt widmet Wilhelm Arthur Hammer, der sich im zweiten Band der Literaturbilder 1898 erneut zu Wort meldet, in einem Aufsatz über Ferdinand von Saar der Erzählung Leutnant Burda, die auch er zu Innocens in Beziehung setzt. Er hebt den dramatischen Aufbau beider Erzählungen hervor und verweist auf die vergleichsweise nur untergeordnete Rolle, die die Frau in ihnen spiele. Im Gegensatz zu den meisten anderen Rezensenten wertet Hammer Leutnant Burda, der sich wohl für seinen Geschmack zu sehr von der traditionellen Erzählkunst entfernt hat, negativ: „Leutnant Burda" ist eine echt moderne krankhafte Erscheinung, da der Held sich einbildet, von vornehmen und schönen Damen geliebt zu werden. Diese Novelle steht weit hinter vielen anderen Saars zurück; doch erinnert das grausam waltende Schicksal des jungen Offiziers an jenes des Paters Innocenz.90

Im Grunde anschließend an seine früheren Rezensionen, meldet sich Benno Rüttenauer am 24. Juni 1899 in der Nation noch einmal zu Wort. Wieder bildet die Tragik in Saars Erzählungen den Mittelpunkt seiner Aussagen: Saar hat einen Band seiner Novellen „Schicksale" betitelt; es hätten alle seine Novellen so heißen können. Sie erzählen selten einen einzelnen interessanten Fall; fast immer entrollen sie in großen Zügen ein tragisches Menschenleben, ein Schicksal. Doch ist Saar's Tragik selten rein. Seine Helden haben fast immer einen Stich ins Komische. Um so rührender wirken sie. So sein „Tambi", sein „Seligmann Hirsch", sein „Leutnant Burda".91

Eine Rezension der Novellen aus Oesterreich vom 15. Mai 1900 stammt aus der Feder Richard Schaukais. Im Hinblick auf Leutnant Burda, der übrigens als das „weitaus beste Stück der Sammlung" bezeichnet wird, ist sie nur insofern interessant, als auch sie wieder die Parallele zwischen dieser Erzählung und dem Innocens zieht und die beiden Erzählungen neben Kellers Romeo und Julia und Ludwigs Zwischen Himmel und Erde stellt.92

89 90 91 92

Heyret, Sp.155. Hammer, Litteraturbilder,SA\. Rüttenauer, Nation, S.559. Vgl.Schaukal.Sp.il 12-1114.

127

Sehr lobend äußert sich auch Hans Sittenberger über Leutnant Burda. In einem Artikel der Wiener Zeitung vom 29. Juni 1901 geht er recht ausführlich auf die „vortreffliche" Erzählung ein, die er zunächst mit den Steinklopfern vergleicht: Es geschieht sehr viel in dieser Erzählung, viel mehr als in den „Steinklopfern"; allein die Ereignisse schließen sich nur zeitlich, nicht eigentlich innerlich aneinander. Die Steigerung liegt denn auch nicht so sehr in den Begebenheiten an sich, als vielmehr in ihrer allmählich wachsenden Summe, und die Vorgänge sind nach der einfachen Formel der Addition gruppirt. Sie wirken wohl auf den „Helden" bestimmend ein, werden aber von ihm nur zum geringsten Theile beeinflußt. Es ist also nicht, wie in den „Steinklopfern", innere Bewegung in äußere umgesetzt, sondern umgekehrt äußere in innere. Man wird sagen: das liegt schon im Stoffe. Gewiß, und es wäre thörichte Pedanterie, eine derartige Composition für fehlerhaft zu erklären. Aber bezeichnend bleibt es immerhin für Saar: selbst hier, wo er der äußeren Handlung mehr Raum gönnt als sonst in seinen Novellen, behält die psychologische Studie durchaus die Oberhand.91

Auch, wenn Sittenberger zu einer positiven Bewertung Leutnant Burdas gelangt, erscheinen die Bemerkungen, die er über die Erzählung macht, kaum verständlich. So verkennt er das Verhältnis von innerer und äußerer Handlung völlig und kommt deshalb auch zu einer ganz falschen Einschätzung der Komposition, wie aus der Interpretation noch hervorgehen wird. Die weiteren Ausführungen Sittenbergers gelten der Gestalt Burdas, deren gelungene Charakterisierung, vor allem durch die wörtliche Rede, er hervorhebt. Mit der Charakterisierung Burdas als „moderner Don Quixote" schließlich reiht sich Sittenberger in die Reihe jener Rezensenten ein, die schon vor ihm denselben Bezug betonten. Gegenüber dem - wenn auch mißglückten - Bemühen Sittenbergers, Gehalt und Struktur Leutnant Burdas näher zu beschreiben, verbleibt Karl Neubauer mit seinem Beitrag in Deutsch-Böhmerwald (1901/02) völlig im allgemeinen, ohne gegenüber früheren Aussagen einen wesentlichen neuen Aspekt einzubringen. Auch er stellt wieder den Bezug zu Innocens her und weist im übrigen darauf hin, daß Saar auf dem Gebiete der „pathologischen Anatomie der Seele" „die tiefsten Probleme" mit „glänzender Kunst" behandelt habe.94 Nur am Rande erwähnt Karl Maria Klobs Artikel Deutsche Literaturbilder aus alter und neuer Zeit (März 1902) Leutnant Burda. Ähnlich wie bereits etliche Rezensenten vor ihm, gibt er Innocens vor Leutnant Burda, den er fälschlicher Weise derselben Schaffensphase zuordnet, den Vorzug, womit er einem damals offensichtlich weit verbreiteten Geschmack, der, um mit Saars Ausdruck zu sprechen, das „Duftige"95 besonders schätzt, Tribut zollt: Weniger anmuthend [als „Innocens"] ist die aus derselben Zeit stammende „Lieutenant Burda" [...] .96

9J 94 95 96

Sittenberger. Neubauer, S.167. Vgl. Brief vom 7.März 1881; Briefwechsel Hohenlohe. Klob,S.2.

128

Novelle

Dagegen bezeichnet Franz Zweybrück im Fremdenblatt vom 28. September 1902 Leutnant Burda als „köstliches Kabinettstück". Die Erzählung gilt ihm als Beweis für eine „zunehmende Reife" in Saars Werk, in dem der „wohlwollenden Theilnahme und Einflußnahme" des Anfangs in einer späteren Phase eine „herbe Objektivität" gegenübertrete.97 Dem gegenüber fällt das Urteil Robert Hirschfelds über Leutnant Burda wieder sehr kritisch aus. Ähnlich wie Sittenberger stuft auch dieser die äußeren Ereignisse als unzusammenhängend und der Charakterisierung des Helden abträglich ein: Fragmentarisch wie im „Haus Reichegg" ist er oft, skizzenhaft, oder er spinnt nur Ereignisse fort, wie in „Lieutenant Burda" („Schicksale", 1889), wo die Häufung von zahlreichen Einfallen die Charakteristik des Phantasten nur zerdehnt und nicht verstärkt.98

Daß eine solche Wertung völlig fehlgeht, wird sich in der Gesamtdeutung deutlich erweisen.

97 98

Zweybrück, S.18. Hirschfeld, S.lf. 129

5. Die vierte Auflage der Novellen aus Oesterreich von 1904 (N4) a. Grundlage für den kritischen Text Im Herbst 1903 erschien mit der Jahreszahl 1904 eine vierte Auflage der Novellen aus Oesterreich, die Saar, wie auch der - im Falle Leutnant Burdas vollständig erhaltene - Bürstenabzug zu dieser Ausgabe zeigt, erneut einer gründlichen Revision unterzogen hat." Vieles spricht, wie bereits an früherer Stelle gezeigt, dafür, daß Saar für die Verbesserung dieser Ausgabe auch den Druck der Wiener Mode, der im Vergleich zu den anderen Fassungen einige Abweichungen aufweist, herangezogen hat. Wie nun auch Detlef Haberland in seiner Ausgabe des Seligmann Hirsch unter Verweis auf Karl Konrad Polheims Einleitung zum ersten Band der Saar-Ausgabe darlegt100, befindet sich der Herausgeber einer wissenschaftlichen Werkausgabe heute in einem erfreulich vorurteilslosen Raum, der ihn nicht länger an die bisher üblichen Prinzipien der ersten bzw. letzten Fassung bindet, wenngleich ihm auferlegt bleiben muß, seine Entscheidung für einen bestimmten Textzeugen zu begründen. Daher ist auch die letzte Fassung wie die übrigen einer kritischen Prüfung zu unterziehen, bevor eine endgültige Entscheidung getroffen werden kann. Varianten, die N4 aus J2 übernimmt, sind bereits bei der Besprechung von J 2 aufgelistet worden. Hier war vor allem der Wille zur Modernisierung von Zeichensetzung und Rechtschreibung für entsprechende Änderungen maßgeblich. Es stellt sich nun die Frage, ob diese Zielsetzung auch die übrigen Varianten von N4, die nicht aus J2 stammen, bestimmt. Zunächst sollen kurz die Varianten aufgezeigt werden, die N4 aus N3 übernimmt. Im Falle von „Lieutenant" wird die Schreibung zu „Leutnant" modernisiert, „Feuer-Pikett" wird zu „Feuerpikett", und an die Stelle von „corpora delicti" tritt „Corpora dilicti"(V7,39). In V10.8 fällt das veraltete „derselben" fort, V18,17 und V37,l setzen Plural statt Singular, was in diesen Fällen wohl überzeugender ist. Die übrigen hierhin gehörenden Varianten modernisieren die Zeichensetzung (V10,41; V30,41; V46,19). Schließlich findet in zwei Fällen eine Änderung des Ausdrucks statt, wohl um diesen zu vereinfachen bzw. zu heben: 99 100

Zu den genauen Einzelheiten vgl. Haberland, S. 120. Polheim in Kopp.

130

V31,10 V34,20

aus dem Gliede trat > heraustrat innehielt > bekundete

Neben den Varianten, die N4 aus J2 bzw. N3 zieht, finden sich aber auch solche, die hier zum ersten Male begegnen. Auch sie verfolgen in der Regel das Prinzip der Modernisierung von Schreibung (V5,3 Lieutenant > Leutnant; V13.37 das Weitere > das weitere; V24.16 in einemfort > in einem fort; V43,19 Muthe > Mute), Lautung (V23,33 so lang>so lange; V25.14 zu Hülfe > zu Hilfe; V37,3 mittelst > mittels; V32.6 Bürschgänge > Birschgänge; V40,3 endgiltig > endgültig; V48,21 alle seine Kraft > all seine Kraft; V8,20 Name > Namen) und Zeichensetzung nach den auch schon früher beobachtbaren Gesetzen (V5,3; V5,15; V5.16; V6,8f.; V6.20; V6,39f.; V14.12; V34.4; V9.25; V9.30; V10.30; Vll,6; V11.22; V13,19). „Dieselben" wird durch „diese" (V5.18), „derselbe" durch „er" (V5.35) oder „dieser" (V41.27) ersetzt. Auch das Relativpronomen „welcher, welche, welches" in seinen verschiedenen Formen wird durch die moderneren Varianten von „der, die, das" (V7.20; VIl,16; VI 1,27) ersetzt. Daneben treten geringfügige grammatikalische Änderungen auf (V9,18 über den Stadtgraben > über dem Stadtgraben; V12,21f. schlagen machen > schlagen gemacht haben; V17,31f. einen Pack > ein Pack) sowie Setzung des Singulars statt Plural (V6,37 Beziehungen > Beziehung). In einem Fall wird der Modus der indirekten Rede korrigiert, indem an die Stelle des Imperfekts der Konjunktiv Präsens tritt (V28,13). Die Anrede wird jetzt durchgehend kleingeschrieben, die Chiffre „B..." in „Brunn" aufgelöst. An einer Stelle wird zur Verdeutlichung ein Wort ergänzt (V37.16), an einer anderen das veraltete „solchen" getilgt (V37,29). Auch die Änderung der Zeitstufe von „beachtet" (hier Form des Plusquamperfekts ohne Gebrauch des Hilfsverbs „haben") zu „beachtete" (V10.10) folgt einem modernen Empfinden, insofern der Fortfall von „hatte" im ersten Fall eher unüblich ist. In folgenden Fällen wird der Ausdruck zugunsten von Genauigkeit oder Eleganz verbessert: V21.8 erscholl > erhob sich V24.40 Er war in > Er hatte sich in V31.10 nach dem Fiaker > gegen den Fiaker V32.10 Anstand fordere > Anstand erfordere V33,31f. einer leichten Mütze auf dem Kopf > einer leichten Mütze auf dem Kopfe V35.25 versorgte > versah V35,33 seit jeher > von jeher V37,22 hoher oder höchster > hoher und höchster V37.37 keinen solchen weitgehenden > keinen so weitgehenden V45,19 niedriges > niederes 131

Es sind mit der Erarbeitung des Textbefundes auch der Fassung N4 die Voraussetzungen geschaffen, um die Wahl für die Grundlage des kritischen Textes zu fällen. Da im Falle Leutnant Burdas die Handschrift verschollen ist, kommen nur die Druckfassungen J1 S N3 J2 und N4 dafür in Frage. Nun hat ja die Text- und Wirkungsgeschichte gezeigt, daß die unterschiedlichen Drucke zwar hinsichtlich verschiedener Formulierungen voneinander abweichen, doch nicht so, daß dadurch der Gehalt im wesentlichen betroffen wäre. In der Regel handelt es sich um Glättungen des Stils oder Präzisierungen des Ausdrucks, so daß sich die Änderungen sogar streckenweise auf ein bestimmtes System beziehen lassen, das Saar von Ausgabe zu Ausgabe weiterverfolgt. Varianten der Zeichensetzung und Orthographie lassen sich in aller Regel dem Streben nach Modernisierung zuordnen. Aufgrund der Konsequenz, mit der Saar von Druck zu Druck seine stilistischen Prinzipien weiterverfolgt, drängt sich die Entscheidung für N4 als Grundlage der kritischen Edition geradezu auf. Offensichtlich kommt diese Fassung der Intention des Autors am nächsten: Sie ist unter ästhetischen Gesichtspunkten die ansprechendste, in stilistischer Hinsicht die glatteste. Daß Saar erst hier die Chiffre „B ..." in „Brunn" auflöst, stützt weiterhin die Entscheidung für diesen Text, der nicht zuletzt aufgrund der Modernisierung von Orthographie und Zeichensetzung auch als der leserfreundlichste erscheint.

b. Die Rezeption nach 1904 Die Beliebtheit, derer sich Saars Erzählung Leutnant Burda erfreut, spiegelt sich nach dem Tode des Dichters vor allem darin, daß viele Teilsammlungen, die eine Auswahl seiner Erzählungen veröffentlichen, Leutnant Burda enthalten. Hier sind z. B. die Sammlung des Johannes Günther Verlags in Wien von 1947101 oder jene des Wiener Globus-Verlags von 1957102, die mit einem Nachwort von Eduard Castle versehen ist, zu nennen. Auch der Manesse Verlag brachte 1982 unter dem Titel Ferdinand von Saar. Meisternovellen103 eine Sammlung heraus, die Leutnant Burda enthält, und die erst 1986 erschienene, von Roman Rooek herausgegebene Edition104 beinhaltet u.a. ebenfalls diese Erzählung. Eine 1976 veröffentlichte Ausgabe des Aufbau-Verlages von fünf Novellen Saars führt Leutnant Burda sogar 101

Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Eine Auswahl. Wien 1947. Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Mit einem Nachwort von Eduard Castle. Wien 1957. 10i Saar, Ferdinand von: Meisternovellen. Mit einem Nachwort von Hansres Jacobi. Zürich 1982 (-Manesse Bibliothek der Weltliteratur). 104 Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Herausgegeben von Roman Roiek. Wien-KölnGraz 1986. 102

132

im Titel.105 Ein deutliches Zeugnis für die Beliebtheit gerade Leutnant Burdas gibt eine illustrierte Einzelausgabe der Erzählung im Adolf Luser Verlag Wien/Leipzig aus dem Jahre 1939 ab, die neben den zwölf ganzseitigen Federzeichnungen Franz Katzers auch noch ein immerhin zweiseitiges Nachwort von Leopoldine Springschitz bietet.106 Dem entspricht, daß auch die nach 1904 erschienen Rezensionen zu Saars Werk, die meist mit besonderen Gedenktagen im Zusammenhang stehen, immer wieder auf Leutnant Burda hinweisen. Meist wiederholt sich darin bereits Gesagtes. Die Autoren versuchen, die Stimmung in Saars Werken, seine Thematik und seinen Stil zu charakterisieren, wobei sie selten über das oberflächlich Wahrnehmbare hinausgehen. Im Hinblick auf Leutnant Burda findet sich fast stereotyp der Hinweis auf den besonderen Wert dieser Erzählung, deren Wahnthematik und deren autobiographischer Charakter in der Regel angesprochen werden. Nicht uninteressant ist unter diesen Beiträgen die Rezension Otto Stoessls im Literarischen Echo vom 1. Juli 1909, da sie etwas differenzierter auf Saars Stil zu sprechen kommt: Alle diese Dinge sind in einer einfachen, klaren, zuweilen nüchternen, ja papiernen, immer aber gewissenhaften Prosa erzählt, trotz der fast durchgängigen Ichform schier unpersönlich. Aber gerade diese Unpersönlichkeit wird mit besonderer Feinheit als Kunstmittel ausgewertet, indem an einzelnen Stellen die leise Hebung des Ausdrucks, eine sparsam eingelassene subjektive Wendung überraschendes Licht verbreitet, eine zwingende Sinnfälligkeit erwirkt, wie denn in jedem einzelnen Stück die peinlichste Exaktheit der Arbeit fühlbar wird, ohne aufzufallen [...] ,107

Die Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität, die Stoessl hier beobachtet, trifft besonders auch auf Leutnant Burda zu. Wie sie erzähltechnisch begründet ist, muß uns an späterer Stelle noch beschäftigen. Erwähnenswert ist auch ein Artikel Karl Quenzels in den Alpenländischen Monatsheften aus dem Jahre 1928, in dem die Symbolik der Erzählung gegen ihre psychologische Dimension ausgepielt wird. Darin heißt es: Es ist ganz gut und hon sich ganz schön an, wenn jemand sagt, Saar habe in seinem „Leutnant Burda" und in seinem „SündenfaH" Kabinettstücke psychologischer Kunst geschaffen, aber für das Verständnis dieser wunderbaren Dichtungen ist damit nichts gewonnen. Wie alle echten Dichtergebilde sind diese Erzählungen Symbole. Und wer sie nicht als solche zu sehen und zu werten versteht, der wird freilich meine hohe Schätzung nicht begreifen.108

Bedauerlicherweise bleibt Quenzel allerdings die Begründung seiner durchaus richtigen Beobachtung schuldig. 105

Saar, Ferdinand von: Leutnant Burda. Fünf Novellen. Aufbau-Verlag, Berlin u. Weimar 1976 (-bb.369). 106 Saar, Ferdinand von: Leutnant Burda. Novelle. A. Luser. Wien-Leipzig 1939. 107 Stoessl, Sp.1366. 108 Quenzel, S.247f. 133

Etwas einseitig ist der Standpunkt, den Otto Koenig anläßlich des 25. Todestages des Dichters am 24. Juli 1931 in der Arbeiterzeitung (Wien) vertritt. Die soziale Problematik im Werke Saars erblickt er ausschließlich in einer „Abmüdung" und „Zermürbung" des einzelnen, die er auch in Leutnant Burda wahrnimmt.109 Nicht uninteressant ist eine Rezension Lutz Weltmanns zum hundertsten Geburtstag Saars vom 30. September 1933 in der Kölnischen Zeitung, die den aufschlußreichen Titel „Untergang im Verhängnis" trägt. Weltmann verweist auf die Saars Werk durchziehende Verknüpfung von „Liebe und Tod"; außerdem spricht er von der „Gefahr des Schauspielerischen für den österreichischen Menschen", wobei er allerdings dem Leser die Erklärung, wie er dies verstanden wissen möchte, nicht liefert.110 Schließlich sei noch auf drei weitere Rezensionen verwiesen, da sie gleichsam exemplarisch stehen im Hinblick auf die hohe Wertschätzung, der sich Leutnant Burda auch noch zu diesem späteren Zeitpunkt fast durchgängig erfreut. So schreibt Raoul Auernheimer in einem 1934 erschienenen Artikel der Neuen Freien Presse: Seinen [Saars] dichterischen Höhepunkt bildet „Leutnant Burda", eine launig erfundene, dämonisch gesteigerte längere Erzählung, die von Turgenjew sein könnte und die, wäre sie von Turgenjew, freilich weltbekannt wäre. In Oesterreich kennen sie ein paar hundert Menschen, zu Lebzeiten des Erzählers waren es ein paar tausend.111

Besonders fällt hier die Wendung „dämonisch gesteigert" ins Auge, in der der Verlauf der Handlung ganz treffend charakterisiert erscheint, wenn dies durch Auernheimer auch leider nicht deutlicher ausgeführt wird. Ahnlich wie die Rezension Auemheimers mißt auch Fröhlichs Besprechung der Novellen aus Oesterreich aus Anlaß des 30. Todestages des Dichters Leutnant Burda - neben Seligmann Hirsch - besondere Bedeutung zu. Da heißt es: Die beiden Novellen „Leutnant Burda" und „Seligmann Hirsch" sind kleine Meisterwerke seelischer Analyse und zeugen von feinster Menschenkenntnis. Burda ist ein Träumer und Don Quichotte. Er hatte mit seinem ausgeprägten Ehrgefühl, seiner Rechtlichkeit und seinem Mut den frühen Tod im Zweikampf gewiß nicht verdient, opfert er sich doch seinem Wahn. Da er aber bis zum Schlüsse an die unerreichbare Prinzessin und ihre Neigung glaubt, ist er dem höheren Gesetz seines Charakters treugeblieben. Wir können ihn bedauern und begreifen. Unser Dichter eröffnet hier eine Perspektive ins Große, Ewige. Der Idealist wird immer wieder an der Wirklichkeit zerbrechen. Das Kostüm, das er auf Erden trägt, ist unwichtig, als Typus gebührt ihm Unsterblichkeit und stumme Reverenz. Er ist ja der Träger neuer Ideen, die Welt und Menschheit vorwärtstreiben.112

Fröhlichs Einschätzung Burdas als eines Idealisten, die ganz im Bann dieses - u.a. auch anrührenden - Charakters zu stehen scheint, ist sicher zutreffend und durch109

Vgl. Koenig.

110

Weltmann.

111

Auernheimer. 112 Fröhlich.

134

aus nicht selbstverständlich, wird sie doch gerade auch von jüngeren Interpreten wie Hodge und Rossbacher - darauf wird an späterer Stelle noch einzugehen sein - in Frage gestellt. Allerdings muß hinter die letzte Aussage: Er ist ja der Träger neuer Ideen, die Welt und Menschheit vorwärtstreiben,

ein großes Fragezeichen gesetzt werden, wie sich aus der Gesamtinterpretation noch ergeben wird. Am Schluß sei noch der Dichter Reinhold Schneider zitiert, der im Rahmen einer Rezension, die einer Novellensammlung unter dem Titel Innocens gilt, geradezu beklagt, daß Leutnant Burda in diese Sammlung nicht aufgenommen wurde - ein Zeugnis auch für die nachhaltige Wirkung, die gerade diese Erzählung auf den Leser ausüben kann: Von einer freilich weit zurückliegenden Lektüre erinnern wir uns der besonders eindringlichen Novelle „Leutnant Burda", die in die vorliegende Auswahl nicht aufgenommen wurde.113

Eine anonyme Rezension des Innocens in Weiße Blätter (10. Jg. 1941) hat diesen Satz übrigens wörtlich abgeschrieben.114

113

Schneider, S.296.

114

Anonymus 1941.

135

6. Die wissenschaftliche Literatur über Leutnant Burda Mit der Ausgabe der Sämmtlichen Werke Saars durch Minor zu Weihnachten 1908 wurde für die Saar-Forschung eine Grundlage geschaffen, die in der Tat zu einem verstärkten Interesse seitens der Forschung an dem Dichter führte. Sein Werk wird nun unter verschiedenen Aspekten beleuchtet, wobei, gerade auch im Hinblick auf Leutnant Burda, Fragestellungen wie die nach der Bedeutung des Einflusses weltanschaulicher Strömungen, der sozialen Problematik und biographischer Bezüge, aber auch ästhetische Probleme im Vordergrund stehen. Eingehende Einzelinterpretationen der Erzählung Leutnant Burda gibt es allerdings so gut wie gar nicht, sieht man einmal von dem erst 1979 erschienenen Aufsatz Karlheinz Rossbachers unter dem Titel Leutnant Burda und sein Erzähler. Wahn und Wirklichkeit bei Ferdinand von Saar ab. Rossbachers 1992 erschienenes Werk Literatur und Liberalismus. Zur Kultur der Ringstraßenzeit in Wien geht dagegen nurmehr am Rande auf Leutnant Burda ein. Hingegen widmen die Dissertationen von Richard Korn (1918), Friedrich Vana (1945), Robert Müller (1952), Gerhard Rothbauer (1961), Adelheid Runggaldier (1978) und Kasim Egit (1981) Leutnant Burda einen eigenen Abschnitt, und auch die Ausführungen Hugo Steinmanns (1954) und J. Hodges (1961) gehen ausführlicher auf diese Erzählung ein. Zu nennen ist schließlich auch der 1986 erschienene Beitrag von Wolf gang Müller-Funk im ersten Halbband der Sprachkunst über Das Verschwinden der Gegenwart. Interpretatorische Überlegungen zur Traurigkeit des Glücks im Erzählwerk Ferdinand von Saars, der erste Ansätze enthält, die neuerdings erwachte Einsicht in die Beziehungen zwischen der historischen und der psychologischen Dimension in Saars erzählerischem Werk im Hinblick auf Leutnant Burda fruchtbar zu machen. Im folgenden soll die Literatur über Leutnant Burda in ihren wesentlichen Zügen dargestellt werden. Von Einzelbeobachtungen und sehr konkreten Fragestellungen wird dabei abgesehen, da sie im Rahmen der Gesamtdeutung noch zur Sprache kommen werden.

a. Der Einfluß weltanschaulicher Strömungen Unter den weltanschaulichen Strömungen, die auf Leutnant Burda gewirkt haben, werden immer wieder die Philosophie Schopenhauers, und, damit zusammenhängend, Determinismus und Vererbungslehre, Nihilismus und Psychologismus ge136

nannt. Schon ein Aufsatz Christine Touaillons aus dem Jahre 1911, der in Leutnant Burda ein Meisterstück sieht und die Titelgestalt - wie ja bereits zahlreiche Rezensenten zuvor - als „modernen Don Quixote" bezeichnet, formuliert das Problem der in der Erzählung thematisierten Nichtigkeit in recht plastischer Weise: N i c h t s ist geschehen, n i c h t s - und doch geht an diesem Nichts ein Leben zugrunde. Eine kleine, gleichgiltige Schwäche ist zum Angelpunkt einer furchtbaren Tragödie geworden. Sinnlos hat das Schicksal gewaltet, wie eine wilde elementare Naturkraft, neben der der Mensch ganz klein und ohnmächtig erscheint.115

Wenn Touaillon auch sehr richtig beobachtet, daß in der Erzählung tatsächlich nichts geschehe - bezogen ist diese Aussage wohl auf das vermeintliche Geschehen zwischen Burda und der Prinzessin - so kann doch nicht unwidersprochen bleiben, daß es sich im Falle der Eitelkeit Burdas um eine „kleine, gleichgiltige Schwäche" handele; denn Burdas Schwäche hat, wie aus der Interpretation hervorgehen wird, durchaus symptomatischen Charakter. Zu dieser Einsicht gelangt als erster Lockemann: Die Novelle „Leutnant Burda" (1887), die bezeichnender Weise zunächst „Vanitas" heißen sollte, sagt noch eindeutiger, daß es Wahn ist, was dem Leben heute Halt und Sinn verleiht. [...] Der Zufall bestärkt den Wahn des Helden, der seiner Anlage entspricht. So deutet es der Dichter ausdrücklich [...].116

Tiefer noch dringen Charue (1979) und Bittrich (1981) in diese Problematik ein. Charue spricht von einer sozialen und sogar historischen Tiefe, die durch die Vanitas-Problematik in die Erzählung eingehe117, und Bittrich betont den gleichnishaften Charakter, der aufgrund der Vanitas-Thematik Leutnant Burda anhafte: Leutnant Burda spiegelt in seinem ebenso lächerlich absurden wie ernsthaft ergreifenden Einzelschicksal den fast ausnahmslos illusionären Charakter des Lebens überhaupt. [...] Schein und Sein in ihrem Antagonismus also, das alte und immer wieder neu behandelte Zentralthema der österreichischen Literatur!118

Mit dem Thema des Determinismus setzt sich der Vortrag Rudolf Latzkes Ferdinand von Saar und seine Novellen aus Österreich aus dem Jahre 1934 auseinander, der in Leutnant Burda „mehr und anderes als den Gegensatz von Konvention und Freiheit" verkörpert sieht: Saar macht die Infanterieleutnantsuniform vielmehr zu einem Werkzeug des Determinismus, zu einem Mittel der Willensbindung, die Uniform bedeutet ihm dasselbe wie sonst Abstammung und Umwelt. [...] Standeskleid, Abstammung und Umwelt lassen sich eben auf den gemeinsamen Namen „Schicksal" bringen.119

Den Begriff „Schicksal" bezieht Latzke dann im folgenden auf die historische Situation der 1866 besiegten Armee. 115

Touaillon, S.303. Lockemann. S.264f. 117 Vgl. Charue (1979). 118 Bittrich (1981), S.375. 119 Latzke, S. 15. 116

137

Die Lehre von Determination und Vererbung schlägt sich auch nach Ansicht von Gerlinde Steiner (1952) in Leutnant Burda nieder, die hier den Einfluß Schopenhauers wahrnimmt, den sie an der oft zitierten Textstelle festmacht: [...] es mußte alles so kommen, wie es kam: er war, wie jeder, dem unerbittlichen Schicksal seiner Natur verfallen.120

Im gleichen Sinne nimmt Erasmus von Klass (1953) auf Schopenhauer Bezug, sieht allerdings einen stärkeren Einfluß im „Psychologismus des 19. Jahrhunderts".121 Eigenwillig ist die Interpretation Hans-Günther Preschers (1954), die die „konventionelle Determination", z.B. „bürgerliche Moral" und „Ehe", durch das „Naturwesen des Menschen" durchbrochen sieht, das nun selbst determinierend wirke.122 Auch Horvath (1971) bezieht sich u.a. auf Leutnant Burda, wenn er schreibt: They all express the firm conviction that people are essentially determined by their given character to act and live as they do.123

Martini schließlich (1981) nennt „gesellschaftliche Lage", „Leidenschaften", „Triebkräfte", „psychische Belastungen" und „biologisches oder gesellschaftliches Erbe" als die den Saarschen Menschen determinierenden Faktoren.124 Besonderen Akzent auf das determinierende Gewicht gerade der Vererbung legen Anne Theobald125 und Bernhard Siert Lambertus Visscher, der dadurch die „Schuldfrage in den Hintergrund gedrängt" sieht.126 Jean Charue vermutet hinter der Darstellung mancher Aspekte der Vererbung neben dem Einfluß Schopenhauers auch persönliche Erlebnisse Saars.127 Eng mit der Frage der Determination ist der Schicksalsbegriff verbunden, der hinsichtlich Leutnant Burdas ja nicht zuletzt auch deshalb von Interesse ist, weil die Novelle neben Seligmann Hirsch und Die Troglodytin Bestandteil der Sammlung Schicksale ist. Für Marianne Lukas (1947) handelt es sich hier um einen „Schopenhauerisch gemeinten Titel", unter dem sich „drei Erfahrungswelten, die scheinbar unendlich voneinander abliegen und doch vom Dichter in gleicher seelischer Feinheit bewältigt werden", verbinden unter dem Aspekt der „Düsternis", der „bangen Hoffnungslosigkeit", des „ohnmächtigen Empörens gegen ein Unabwendbares".128 Bereits 1918 hatte Richard Korn auf den Zusammenhang von Charakter und Schicksal in Saars 120

Steiner, S.7. Vgl. v. Klass, S.6. 122 Vgl. Prescher, S.130. 123 Horvath, S.60. 124 Martini, S.256. 121

125

Vgl. Theobald, S.29.

126

Vgl. Visscher, S. 115. 127 Charue, Determinismus, S.258. 128 Vgl Lukas, S.43f.

138

Erzählungen hingewiesen. Leutnant Burda und Tamhi setzte er dabei zueinander in Beziehung, indem er schrieb: Die Entwicklung eines Charakters etwa im Hebbel'schen Sinne zeigt uns lediglich die Dichtergestalt in „Tambi". Freilich ist es eine Entwicklung absteigender Art, und der Dichter verrät hohe Kunst darin, wie er das Schicksal dieses Mannes erst in Einwirkung auf seinen Charakter zeigt, um nach eingetretenem Wendepunkt darzustellen, wie nun der Charakter des traurigen Helden zu seinem Schicksal wird. Denselben Gang der Entwicklung bemerken wir bei Leutnant Burda.129

Auch Eduard Lütgen (1928) hebt hervor, daß es sich um Schicksale handelt, „die in den Menschen selbst begründet sind"130, ein Standpunkt, den ebenso Gerta Waitz (1947) vertritt unter Hinweis darauf, daß sich hier die „eigentliche Frucht der Schopenhauerischen Philosophie, nach der die reine Notwendigkeit die Welt regiert und zusammenhält"131, zeige. Ähnlich urteilen auch Walter Feiner (1936)132 und Brunhilde Reuter (1943)133. Für Rossbacher (1992) ist dagegen der Titel der Novellensammlung in der Gemeinsamkeit der gestalteten Lebensläufe begründet, „in denen neben anderen Aspekten auch Aufstieg bzw. Statuswechsel eine Rolle spielen."134 Der Schicksalsbegriff in seiner tieferen Dimension wird hier nicht reflektiert. Erika Soukup (1946) deutet die Saars Gesamtwerk durchziehende Schicksalsidee unter einem deutlich davon unterschiedenen Aspekt, nämlich als in dem „Interesse an naturwissenschaftlichen Gedankengängen"135 begründet, während Ingund Gaßner (1948) eine Unterscheidung zwischen dem Spät- und Frühwerk Saars vornimmt und dabei zu dem Schluß gelangt, daß „in den späteren Werken fast alle Gestalten ihr Leben lang von Mißgeschick verfolgt werden und auf das traurigste endeten", wobei besonders „die auf der Welt herrschende Ungerechtigkeit betont" werde. Im Hinblick auf die Erzählung Leutnant Burda, sieht sie diese These durch den in der Erzählung enthaltenen Satz bestätigt: Er hätte ein besseres Los verdient.136 Schließlich betont Hans-Günther Prescher (1954) ganz zu Recht, wie sich noch zeigen wird, die Neigung Saars, „den besonderen Fall zu verallgemeinern oder in einem Schicksal das Schicksal der Menschheit überhaupt zu sehen".137

129

Korn, S.143. Vgl. Lütgen, S.89. 131 Waitz, S.52. 132 Vgl. Feiner. 133 Vgl. Brunhilde Reuter, S.14. 134 Rossbacher, Literatur, S. 294. 135 Vgl. Soukup, S.40. 136 Gaßner, S.94. 137 Prescher, S.llSf. 130

139

b. Die Rolle des Zufalls Eng mit dem Problem der weltanschaulichen Strömungen, die die Erzählung beeinflußt haben, hängt die Frage nach der Bedeutung des Zufalls zusammen, dem in Leutnant Burda, wie wir noch sehen werden, geradezu eine strukturbildende Funktion zukommt. An seiner Rolle im Rahmen der Handlung wird nun ständig Kritik geübt, und zwar in erster Linie von jenen Autoren, die die Stellung des Zufalls im Schopenhauerschen System, das ganz entschieden auf die Erzählung gewirkt hat, übersehen. Unter ihnen ist z.B. Eduard Lütgen (1928) zu nennen, für den es „nicht einer gewissen Trivialität entbehrt", „wie das tragisch empfundene Ende des jungen Offiziers herbeigeführt ist",138 und noch Hans-Günther Prescher bemängelt, obgleich bereits einige Autoren vor ihm zu tieferen Einsichten gelangt waren: Die Geschichte vom Leutnant Burda beruht auf einer geradezu unwahrscheinlichen Abfolge von Zufällen, die eine Zumutung an die Aufnahmefähigkeit des Lesers bedeuten.139

Solchen Urteilen stehen Versuche gegenüber, die Rolle der Zufälle aus dem Kontext der Erzählung heraus zu legitimieren. So verweist beispielsweise Brunhilde Reuter (1943) darauf, daß das Empfinden eines Erlebnisses als Zufall im Grunde stets im Individuum selbst begründet sei: Alles, was aus dem Rahmen des Erwarteten herausfällt, das Unberechenbare, erscheint dem Menschen in der Begrenztheit seines Intellekts als Zufall.140

Für Ruth Zipf (1944) sind die Zufälle in Leutnant Burda von „hoffnungsloser Tragik umwittert"141, während Erasmus von Klass die Wirkung des Zufalls darin sieht, daß er das Gesamte zum „zusammenhanglosen Fragment" mache.142 Tiefer sehen jene Autoren, die einen notwendigen Zusammenhang von Zufall und Schicksal im Werk Saars wahrnehmen. Hier ist zum Beispiel Josef Schall zu nennen, der in diesem Zusammenhang sehr feine Beobachtungen anstellt. Zu Recht bemerkt er, daß der Zufall gesehen werde als der „Schnittpunkt zweier Kausalreihen" 143, womit er, ähnlich wie später Rossbacher, der die Zufälle als eine Art Stütze für Burdas Phantasiegebilde in der Realität deutet 144, auf eine Stelle des für das Verständnis der Erzählung wesentlichen Schopenhauer-Kapitels über Die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen1** anspielt. In ähnlicher Weise bezieht sich auch Robert Müller auf Schopenhauer, wenn er schreibt: 138

Lütgen, S.20. Prescher, S.154. 140 Bruhilde Reuter, S.20. 141 Zipf, S.106. 142 v. Klass, S.7. 139

143

Schall, S.35.

144

Vgl. Rossbacher, S.lSOf. 145 Schopenhauer: SW 5, S.215-237.

140

Da alles aus Notwendigkeit geschieht, gibt es bei Saar auch keinen Zufall. Auch er ist nur „eine geheimnisvolle Notwendigkeit".14*

Lockemann (1957) beurteilt die Rolle des Zufalls deshalb positiv, weil durch ihn die „novellistische Verdichtung des Schicksalsgefühls" gelinge und die „Ballung des Geschehens in einem schicksalhaften Ereignis" gefördert werde147, und Anne Theobald (1959) sieht in den Zufällen „measured and accurately calculated happenings".148 Für von Stocken, der die Rolle des Zufalls auf der Folie der ihr zugrundeliegenden weltanschaulichen Zusammenhänge betrachtet, offenbart sich im Zufall eine „immanente Rationalität", „die durch den Wahn des Helden, d.h. durch seine Seele vermittelt ist".149 Im gleichen Sinne urteilt schließlich auch Charue (1979), daß die Begriffe „Zufall" und „Schicksal", wie sie in der Erzählung begegnen, quasi austauschbar seien.150

c. Die Liebesproblematik Werden in der Bedeutung des Zufalls Aspekte des Determinismus, des Psychologismus und der Schicksalsproblematik sinnenfällig, so gilt Analoges für das Phänomen der Liebe, wie es in Leutnant Burda begegnet. Schon früh wird in der Literatur der die Erzählung charakterisierende Zusammenhang von Liebe, Tod, Schuld und Wahn wahrgenommen. So beobachtet z.B. Richard Korn (1918) in der Darstellung der Liebe eine „äusserst gelungene psychologische Verbindung von romantischen und realistischen Elementen", die zu einer „phantastischen und unerwiderten Liebe" führten.151 Walter Feiner (1936) betont den Zusammenhang von Liebe und Wahn. Er schreibt: Wie Liebe blind macht, Liebe als Verblendung, die den Wahnbefallenen grausam vernichtet, ist der Gegenstand, den Saar hier mit außerordentlicher innerer Dynamik gestaltet hat.152

Liebe bedeute in Saars Werk allgemein „Wahnverstrickung, Besessenheit, die den von ihr Befallenen schicksalhaft ins Verderben ziehe".153 In gleicher Weise urteilt wesentlich später noch Kasim Egit (1981): Hier [in „Leutnant Burda"] ist die Liebe etwas Eigenartiges, bedeutet Wahn und Besessenheit, hat einen vernichtenden Charakter.154

146

Müller, S.171. Vgl. Lockemann, S.264f. 148 Theobald, S.28. 149 v. Stocken (1970), S.182. 150 Charue (1979). 151 Vgl. Korn, S.124. 152 Feiner. 15J Ebd. 154 Egit, S.82. 147

141

Feiner forscht nach den Ursachen für ein solches Verständnis von Liebe, das er im Nachvollzug der Philosophie Schopenhauers begründet sieht. In allerdings unpassend pathetischer Form spricht er dies aus: Bei Saar sind Liebe und Tod stets in jener untrennbaren Verbindung gefaßt, welche sich notwendig ergibt, wenn Liebe Schopenhauerisch gesehen als unendliche Sehnsucht nach der unerfüllbaren Vereinigung, Identifizierung mit einem wahnhaft als Schicksalsruf empfundenen Du, worin alle Mannigfaltigkeit, die Ganzheit des Seins Inbegriffen wird, an die Schranken der Individuation stößt, und derart, in selbstvernichtendem vergeblichen Ansturm an diesen Schranken zerschellend den Untergang des Individuums bewirkt. Der Tod erscheint hier im Sinne Schopenhauers als Sühne für das Dasein als Schuld.155

Auch für Brunhilde Reuter (1943) tritt uns in Leutnant Burda die „einsame Liebe" als „schuldlose Schuld" entgegen, für die der junge Offizier „den Tod erleide".156 Mit dem Problem von Sinnlosigkeit und Langeweile ist für Ruth Zipf (1944), Erika Soukup (1946) und Robert Müller (1952) das Liebesthema in Leutnant Burda verbunden. So bemerkt Zipf, die Offiziere hätten „kein eigentliches Verhältnis zu ihrem Beruf", da sie von der „übertriebenen Neigung zum anderen Geschlecht völlig beherrscht" seien.157 Zipf verwechselt in dieser - übrigens unangemessen verallgemeinernden - Aussage Ursache und Wirkung, deren Verhältnis sich in der Deutung Soukups schon treffender charakterisiert findet, da sie Liebe in Saars Werk versteht als „Amüsement, etwas, womit man die Langweile und Eintönigkeit des Alltags erfreulich unterbricht", einen „ergötzenden" Zeitvertreib, eine willkommene Abwechslung, ein Vergnügen, [...] das man eigentlich immer und überall" suche.158 Für Robert Müller schließlich wird Liebe, da das Leben als sinnund zwecklos dargestellt werde, „zu einem Wahn"159, - ein Gedanke, der auch Rossbachers knappe Aussage zu diesem Problem in seinem 1992 erschienenen Werk bestimmt: Das Motiv der Vanitas [...] ist, mit derselben Ingredienz der äffenden Liebe, Thema von Ferdinand von Saars Novelle 'Leutnant Burda' geworden, die in einer Vorfassung 'Vanitas1 hieß und durchaus schlecht ausgeht ...16°

Gegenüber solchen Ansätzen reflektiert Hermann Kunisch (1979) eher die äußere Seite der Liebeserfahrung, die sich in der Erzählung ins „Sonderlinghafte" und „Skurrile" gesteigert zeige und so die „Grenzen des Wahrscheinlichen"161 berühre, ein Urteil, das zwar auf der Linie auch anderer Aussagen über Leutnant Burda liegt - man denke v. a. an die Analyse des Zufalls -, deshalb aber kaum mehr zu überzeugen vermag. 155

Feiner. Vgl. Brunhilde Reuter, S.45f. 157 Vgl. Zipf, S.119. 158 Vgl. Soukup, S.21f. 159 Vgl. Müller, S.185. 160 Rossbacher, Literatur, S. 149. 156

161

Kunisch, S.266.

142

d. Die Bedeutung des Historischen Neben den weltanschaulichen Strömungen, die auf Leutnant Burda eingewirkt haben, werden auch die historischen Bezüge sowie die soziale Problematik in der Erzählung angesprochen. Es handelt sich dabei um eine sehr vielschichtige Thematik, so daß wir es hier auch in der Sekundärliteratur mit zahlreichen divergierenden Einzelbeobachtungen zu tun haben, die durchaus jeweils für sich genommen treffen können, aber eigentlich nie die gesamte Problematik in den Blick bekommen. In diesen Themenkreis gehört zunächst die Problematik des Historismus, auf die zuerst Ingund Gaßner (1948) hinweist. Zu Unrecht moniert sie, daß in Leutnant Burda „das damalige Bild Wiens" geschildert werde, „ohne eine Beziehung zu den Gestalten der Erzählung herzustellen".162 Ahnlich wie Ingund Gaßner konstatiert auch von Stockert, daß sich die von Saar seinem Brief an die Fürstin Hohenlohe vom 25. März 1886 zufolge beabsichtigte „Glorifizierung" des alten Wien auf eine nüchterne Aufzählung bestimmter Gebäude und Einrichtungen beschränke163, die allerdings „von einem Wallungswert für den zeitgenössischen Leser"164 gewesen sein müsse und daher ihre Wirkung wohl kaum verfehlt habe. Immer wieder, zuletzt bei Karlheinz Rossbacher, wird auch auf Saars Selbstaussage hingewiesen, der die Betrachtung seiner Novelle vom „culturgeschichtlichen Standpunkt aus"165 für die einzig richtige gehalten habe, und eine solche Vorgehensweise befürwortet. Für Rossbacher ist in diesem Zusammenhang vor allem auch die „Verweigerung gegenüber dem Geist der Gründer- und Ringstraßenzeit" bedeutsam.166 Diese sicher richtige Beobachtung verdeutlicht er allerdings nicht an Leutnant Burda, was, wie sich zeigen wird, sehr sinnvoll wäre, sondern bezieht sie vor allem auf die Erzählungen Vae victis und Geschichte eines Wiener Kindes. Frühere Untersuchungen, die auf kultur- und zeitgeschichtliche Fragen eingehen, bleiben durchweg noch recht oberflächlich. So weisen einige Autoren, z.B. Erika Soukup (1946), auf die „Wahrheit und Klarheit der konkreten kulturhistorischen Bilder bei Saar"167 hin oder sprechen, wie Ingund Gaßner, u.a. mit Blick auf Leutnant Burda, die Wehmut an, mit der der Dichter die Wandlung seiner Vaterstadt zur modernen Großstadt wahrgenommen habe: Mit Wehmut hat er [Saar] bei seinen Aufenthalten in Wien die rasche und unaufhaltsame Entwicklung zur modernen Großstadt beobachtet [...].168

162

Gaßner, S.26. 163 Vgl. v. Stockert, 1970 und Festschrift. 164 v. Stockert (1970), S.188. 165 Vgl. Rossbacher, Literatur, S.27. 166 Ebd., S.19. 167 Soukup, S.138. 168 Gaßner, S.8. 143

Gertrud Wollerer (1949) beschreibt diese Entwicklung, indem sie die historischen Fakten nennt, ohne damit aber irgendeine interpretierende Aussage zu verbinden, was sich wohl schon aus der Themenstellung ihrer Arbeit Ferdinand von Saar und das Oesterreicb des Kaisers Franz Josef I. ergibt. Ein solches Vorgehen ist aber auch für andere Arbeiten charakteristisch, die in den in Leutnant Burda erwähnten historischen und politischen Ereignissen nichts als ein Indiz für den „kulturhistorischen Wert" der Erzählung sehen. So bleibt z.B. die sehr richtige Beobachtung Richard Korns, daß Saar die „ A u f t a k t e zur grössten Welttragödie aller Zeiten" in Leutnant Burda mit dem „für die W i e n e r besonders bedeutsamen Ereignis" der „kaiserlichen V e r m ä h l u n g " verbinde, ohne weitergehende Konsequenzen für seine Interpretation.169 Dagegen zeigt sich in den jüngeren Arbeiten über Saar verstärkt das Bemühen, die in der Erzählung erwähnten historischen Ereignisse im Hinblick auf deren Interpretation fruchtbar zu machen. Hier ist zunächst Robert Mühlher (1973) zu nennen, der schreibt: Für die junge Dichtergeneration der „Moderne" von 1890 ist das Historische zum Seelenzustand (etat d'äme) geworden, weil das Element der „Zeit" nunmehr stärker als früher in den Vordergrund tritt. Die Zeit wird als ein Spielen des Menschenschauspielers auf der KomödienBühne der Geschichte empfunden. Ort und Zeit werden nun nicht mehr als Bildungsfaktor, sondern als Seelenzustand aufgefaßt.170

Diese Aussage verbleibt freilich zu sehr im allgemeinen, als daß sie den Weg zu noch tieferen Einsichten führen könnte. Das gilt in ähnlicher Weise auch für Hans-Heinrich Reuter, der in dem Begriff des „Leidens an der Wirklichkeit" das „schmerzlich-spannungsvolle Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, geliebter Tradition und gehaßter Moderne, zwischen Träumenwollen und Sehenmüssen" in Saars Werk zu charakterisieren sucht.171 Er spricht damit übrigens dasselbe Phänomen an, das bei von Stocken unter dem Begriff der „Nostalgie" gefaßt ist, den dieser auf „die Geschichte des Pessimismus und ihren geistigen Ahnherrn im 19. Jahrhundert, auf Arthur Schopenhauer, und weiter auf seine Entdeckung der indischen Philosophie" bezieht.172 Deutlicher und konkreter als die zuletzt genannten Autoren hat neuerdings Wolfgang Müller-Funk in seinem Aufsatz Das Verschwinden der Gegenwart die Beziehung zwischen dem individuellen Einzelschicksal und der historischen Realität in Leutnant Burda zu charakterisieren gesucht: Es liegt Saar gänzlich fern, seinen traurig endenden Gestalten ein falsches Bewußtsein vorzuhalten. Lange vor Paul Watzlawick hat dieser zu früh und zu spät gekommene Novellist des 19. Jahrhunderts nämlich erkannt, daß Selbsteinschätzung, Vorstellung und Projektion für den betreffenden Menschen Wirklichkeiten sind, die sein Handeln und womöglich auch seinen Lebensweg entscheidend prägen. Deshalb erweist sich der Hinweis auf „die" eine (womöglich 169

Korn, S.22. Mühlher, S.296. 171 Vgl. Hans-Heinrich Reuter, S.239. 172 v. Stocken, Festschrift, S. 121f. 170

144

bewußtseinsmäßig gar nicht akzeptierte) „Realität" als höchst irreführend. Dieser irritierenden Entdeckung hat Saar eine ganze Novelle gewidmet, die kompositorisch zum Interessantesten gehört, was der Dichter überhaupt geschrieben hat: „Leutnant Burda", die Erzählung eines Menschen, dessen Leitbilder und Ideale in einem schiefen, aber psychologisch zugleich einsichtigen Verhältnis zu den (geschichtlichen) Gegebenheiten stehen. Dieser weltmännische Offizier ohne Fehl und Tadel, ein Vorläufer von Roths Trotta-Figuren und Doderers Leutnant Melzer, identifiziert sich voll und ganz mit der alten vornehmen, schon im Versinken begriffenen Welt, mit Hochadel und Kaiserhaus [...].173

Müller-Funks Ansatz läuft so auf die These hinaus, in Leutnant Burda werde die „Inadäquatheit von Bewußtsein und historischer Sitauation" freigelegt174, ein sicher zutreffendes Urteil, dessen Tragweite allerdings kaum deutlich wird, da Müller-Funk darauf verzichtet, seine Thesen auf die verschiedenen Schichten der Erzählung, die sich eben nicht allein in der vordergründigen Liebeshandlung erschöpfen, zu beziehen.

e. Die soziale Problematik Ein weiterer Schwerpunkt innerhalb der Literatur über Leutnant Burda liegt auf der in der Erzählung enthaltenen sozialen Problematik. Diese wird zum einen mit dem Bestreben Burdas, in die Welt des Adels vorzudringen, in Zusammenhang gebracht, zum ändern auf die Rolle des Militärs sowie des einzelnen Soldaten in der damaligen Gesellschaft bezogen. Zunächst sei aber auf zwei Ansätze hingewiesen, denen im Hinblick auf das Verständnis der sozialen Thematik der Name der Novellensammlung Schicksale, in der Leutnant Burda ja erschienen ist, symptomatisch erscheint. Hier ist zunächst wieder Richard Korn zu nennen, der nach den Gemeinsamkeiten zwischen den in dieser Sammlung erschienenen Novellen sucht: In der Eigenart der Kausalverknüpfung liegt auch das die drei zuletzt besprochenen Novellen [...] Verbindende. Die Stoffe sind aus gänzlich anderen Sphären, dort der Auswurf der Menschheit, in Seligmann Hirsch das in Assimilation begriffene Judentum, dort die Zuchthausprinzessin - hier das wirkliche Fürstenkind gegenüber dem armseligen überspannten Leutnant. Wir sehen keine Beziehung und wissen zunächst nicht, warum der Dichter die Bilder unter dem Titel Schicksale eingerahmt hat. Dies eben wird uns aus dem Kausalzusammenhang klar: Die schroffe Abgrenzung der Gesellschaftssphären ist in allen dreien die Ursache der sich entwickelnden Seelenkonflikte. Sowohl Maruschka, als Seligmann, als Leutnant Burda versteigen sich in ihren Ansprüchen ans Leben in Regionen, in die sie nicht hineingehören. Diese Heterogenität zwischen den Gedanken und der rauhen Wirklichkeit bringt in den beiden ersten Novellen die Entwicklung zur unausweichlichen tragischen Höhe. In „Leutnant Burda" führt wohl das ähnliche Moment das tödliche Renkontre herbei, jedoch ohne logische Notwendigkeit.175

173

Müller-Funk, S. 18. Ebd., S. 22. 175 Korn, S.162. 174

145

Korn kommt dann im Hinblick auf Leutnant Burda zu dem Schluß: Unsere Zeit ist trotz der hie und da sich ereignenden Ausnahmsfällen doch sozial noch nicht so invelliert [sie!], dass es nicht im allgemeinen in das Reich romantischer Träume gehört, wenn ein gewöhnlicher L e u t n a n t B u r d a man denke, ein einfacher Bürgerssohn, ein Irgendwer, seine Augen zu einer Prinzessin Liechtenstein erhebt.176

In diesen Ausführungen Korns wird die soziale Problematik der Erzählung in einer Weise charakterisiert, die für die Literatur über Leutnant Burda kennzeichnend ist: Burdas Streben wird einfach als anmaßend dargestellt, mit solcher „Anmaßung" scheint die Ursache seines Untergangs genannt. Auch die Kritik an dem Mangel an „logischer Notwendigkeit" der Katastrophe begegnet recht häufig. Sie erklärt sich aus einer recht oberflächlichen Betrachtung der Handlung und ist ohne weiteres zu widerlegen, wie die Interpretation noch zeigen wird. Auch die Literaturgeschichte von Gysi/Böttcher (1975), die wie so viele andere Leutnant Burda als die „bekannteste Erzählung" Saars einstuft, sieht in der sozialen Problematik die gemeinsame Thematik der in dem Band Schicksale gesammelten Erzählungen. In ihrem Verständnis ist es der „Zusammenstoß zwischen Individuum und Gesellschaft und die schicksalhaft gesehene Vernichtung und Selbstvernichtung des einzelnen", die das Zentrum der Erzählungen bildet, eine freilich ziemlich nichtssagende Behauptung, die auch nicht weiter präzisiert wird.177 Zahlreiche weitere Interpreten betrachten die soziale Problematik auf dem Hintergrund der Situation des Militärs in der damaligen Zeit. Hier ist zunächst Helene Saenze zu nennen, die darauf hinweist, daß Saar in Leutnant Burda den „in seiner Zeit besonders ausgeprägten Klassen- und Korpsgeist des Offiziers" schildere. Eine soziale Problematik sieht sie auch innerhalb des Heeres selbst: [...] Diese Begünstigungen [durch die Bevorzugung des Militärstandes] wurden jedoch nur solange unterstützt, als ihre Auswüchse nicht den Interessenkreis der noch höher gestellten Gesellschaftskreise störten. [...] Saar ist sich der Grenzen bewusst, die dem Offiziersstande gezogen sind [...]. Dass er der Rangordnung innerhalb des Militärstandes zustimmend gegenübersteht, geht daraus hervor, dass er den sich über diese Ordnung hinwegsetzenden Burda aufmerksam macht, dass er sich durch sein aggressives Vorgehen gegen seinen Kommandierenden ein schweres Subordinationsvergehen zuschulden kommen lasse.178

Die unzulässige, zur Abfassungszeit dieser Arbeit aber noch übliche Identifikation von Autor und Erzähler verführt Saenze zu dem völlig verfehlten Schluß, Saar befürworte die Rangordnung innerhalb des Militärs. Dem gegenüber weist Friedrich Vana (1945) lapidar darauf hin, daß Offiziere „an den sozialen Verhältnissen in der Armee scheitern".179 Robert Müller (1952) sieht sich durch die Kluft zwischen Adel und Offiziersstand, die innerhalb der Erzählung gezeichnet werde, zu recht aggressiver und zudem völlig unberechtigeter Kritik veranlaßt: 176

Ebd., S.133f.

177

Vgl. Gysi/Böttcher, S.877. 178 Saenze, S.31f. 179 Vgl. Vana, S.93.

146

Im „Leutnant Burda" wäre Gelegenheit, sich mit dem Problem des niederen Offiziersstandes und des Adels zu befassen. Aber auch hier wird nirgends näher dieser Gegensatz berührt. Er wird als unüberwindlich hingenommen. Burda kann die Prinzessin nie heiraten, wenn er nicht auch in den Adelsstand gehoben wird.180

Der Aspekt, unter dem hier die soziale Problematik beleuchtet wird, erinnert stark an die Positionen der 1961 erschienenen Arbeit von Gerhard Rothbauer, dessen Thesen später (1978) durch Adelheid Runggaldier weitgehend übernommen werden. Beide Arbeiten werden schon deshalb, weil sie völlig einseitig und unreflektiert vom marxistischen Standpunkt aus argumentieren, Saars vielschichtiger Erzählkunst in keiner Weise gerecht. So identifiziert zum Beispiel Rothbauer völlig unkritisch den Novelleninhalt mit der Biographie des Dichters. Die zentrale Thematik der Erzählung besteht für ihn nämlich in dem Streben Burdas, in das Zentrum des Schlosses zu gelangen, - einem Streben, das er ohne jede Skepsis auf die Problematik Saars selbst zurückführt: Saar wohnt im N e b e n g e b ä u d e des Schlosses, er kämpft sein Leben lang darum, ins Zentrum des Schlosses zu gelangen, dort als vollwertiges Mitglied aufgenommen zu werden. Auch in seiner Novelle „Leutnant Burda" ist Saar noch von dieser Vorstellung gefangen. Er beschreibt dort mit grausamer Ironie das Scheitern des Titelhelden, eines ebensolchen „Bastards", ins Zentrum der feudalen Welt zu gelangen.181

Im Tod Burdas sieht Rothbauer eine „tiefere gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit". In einer anderen Weise bezieht Hugo Steinmann (1954) die soziale Problematik auf persönliche Erlebnisse des Dichters, der sich „in der Uniform nie wohlgefühlt habe", da eine „Protektionswirtschaft" skrupellos den Adel und Pseudoadel im Heer begünstigt und den mittelständischen Offizier fast vollständig erdrückt habe.182 Für Rossbacher in seinem 1992 erschienenen Werk leuchtet die soziale Problematik insbesondere in der beiläufig erwähnten Gestalt des Fürsten Windischgraetz auf, der „Symbolfigur" sei für die strikte Abgrenzung nach unten. Rossbacher gewinnt aus seiner Beobachtung aber nicht Einsichten für die Erzählung selbst, sondern ihn interessiert sie in erster Linie im Hinblick auf das Erscheinungsbild der in ihr behandelten Epoche: Sieht man von einigen Durchbrechungen dieser Absonderung ab, blieb sie doch für die liberale Ära bestimmend.183

Daß Leutnant Burda auf dem Hintergrund persönlicher Erlebnisse Saars zu verstehen sei, betonen auch Erika Soukup (1946), Gerlinde Steiner (1952), Adalbert Schmidt (1964) und Stadler/Tranninger (1983). Auf die Spannungen, die innerhalb der Armee in Leutnant Burda zwischen Infanterie und Kavallerie bestehen, weist dagegen Ingund Gaßner hin (1948). Walter Feiner (1936) spricht vom „harten, 180

Müller, S.182. Rothbauer, S.56. 182 Steinmann, S.41. 183 Rossbacher, Literatur, S.119. 181

147

entbehrungsreichen, zwischen den anderen Gesellschaftsschichten oft sehr problematisch unentschieden gelagerten Dasein des jungen Armeeoffiziers"184, das für ihn insofern symptomatischen Charakter annimmt, als er Saar als den „Dichter der geschlagenen Armee" versteht, der den „langsamen Zersetzungs- und Verfallsprozeß" des alten Österreich beschreibe.185 Dem gegenüber meint Friedrich Vana (1945), trotz der Darstellung der Zustände im Offizierskorps gelte das „Hauptinteresse der Person und dem Charakter Burdas".186 Walter Pollak (Hg.) (1973) bringt insofern einen interessanten Aspekt, als er im unbefriedigenden Soldatenleben die Ursache für Burdas Wunschvorstellungen sieht: Er [Saar] spürt dem Schicksal des Offiziers nach, der auf schmale Gage gesetzt ist, dem das Garnisonsleben keine Befriedigung gibt, der sich in Wunschvorstellungen und in den Traum flüchtet sich sein Leutnant Burda, weil sonst die Wirklichkeit nicht zu ertragen wäre. Er sieht in der kleinen Welt des einsamen Menschen das Brüchige, vor dem das Morbide der Zeit reflektiert wird.187

Äußerst verwundert dagegen die Bedeutung, die in ihrem Nachwort zur LuserAusgabe des Leutnant Burda Leopoldine Springschitz dem Soldatentum Burdas beimißt, das sie als „Sinnbild für männliche Geradheit, Treue und gelassene Selbstüberwindung" deutet.188 Gründlicher kann man den Charakter Burdas wohl kaum mißverstehen, dem zwar sympathische Züge nicht gänzlich abgehen, der aber in erster Linie ein Irrender ist, dem seine persönliche Schwäche, seine Eitelkeit, zum Verhängnis wird.

f. Formale Kriterien der Erzählung Im Hinblick auf die formalen Kriterien, die die Erzählung in den Augen vieler Interpreten kennzeichnen, lassen sich folgende Aspekte unterscheiden: Zum einen gilt das Interesse der Personenzeichnung, die in der Regel als besonders gelungen angesehen wird; weiterhin stehen gattungstheoretische Fragen, also Probleme der Novellentheorie, im Vordergrund zahlreicher Darstellungen; als bedeutsam wird auch die Rolle des Ich-Erzählers angesehen; schließlich treten elementare Darstellungsmittel wie Komik und Humor, die Erzeugung von Spannung oder die Rolle der Dialoge in das Zentrum des Interesses.

184

Feiner. Ebd. 186 Vana, S.57. 187 Pollak, S.272. 188 Springschitz, S.90. 185

148

. Personenzeichnung Da die Frage der Personenzeichnung einen recht übergeordneten Gesichtspunkt darstellt, soll zu Beginn hierauf eingegangen werden. Zunächst ist in diesem Zusammenhang auf Ella Hruschka (1902) hinzuweisen, die Leutnant Burda als eine „besonders lebensvolle Charakterstudie" bezeichnet. Sie rühmt die Anschaulichkeit der Darstellung, hinter der sich entweder „Treue des Gedächtnisses" oder „Kraft des Vorstellungsvermögens" verbergen müssen. 189 Auch Marianne Lukas wertet die Personenzeichnung als geglückt.190 Eduard Lütgen (1928) legt Wert auf die Feststellung, daß die Handlungen der Personen „folgerecht aus ihrem Charakter fließen", und bescheinigt Saar eine „tiefe Menschenkenntnis".191 Zudem verweist er auf die Rolle, die bei der Darstellung des Menschen „die Beschreibung des Aeußeren" spiele.192 Saar charakterisiere seine Personen auch durch sprachliche Kriterien als „verschiedenen Berufs- und Bildungsgruppen" zugehörig.193 Clara Kinscherf (1925) spricht von der Kunst indirekter Charakterisierung bei Saar und verweist in diesem Zusammenhang auf die Funktion der Kleidung und Zimmereinrichtung. Gerade im Hinblick auf Leutnant Burda hebt sie allerdings hervor, daß hier auch „direkte Charakterschilderung" ihre Verwendung finde, indem der Held vom Erzähler als „sehr tüchtiger, verwendbarer Offizier" bezeichnet werde.194 Kinscherf übersieht dabei allerdings, da sie dieses Urteil völlig losgelöst von seinem Kontext betrachtet, wie sehr es durch die Erzählung selbst relativiert wird. In ähnlcher Weise wie Kinscherf deutet auch Robert Müller (1952) die Bedeutung der Kleidung für die Personencharakterisierung. Er geht dabei deutlich über ihre Ergebnisse hinaus, indem er in diesem Zusammenhang eine „engere Beziehung" von Sexualität und Geltungsbedürfnis beobachtet. Burda zählt er zu den „Herzensbrecher-Gestalten", bei denen diese Verbindung besonders stark hervortrete.195 Ist schon die Bezeichnung Burdas als „Herzensbrecher" an sich fragwürdig - die Erzählung läßt den Leser ja sehr im unklaren darüber, wieweit Burda jemals dieser Definition entsprochen haben mag - so sind es erst recht die Folgerungen, die Müller aus seiner vermeintlichen Beobachtung zieht: Erstmalig trifft er auf eine Frau [die Prinzessin], die den kleinen und unbedeutenden Leutnant nicht beachtet. Burda, der sich als unwiderstehlich fühlt und für dessen Geltungsbewußtsein diese Möglichkeit der Nichtbeachtung gar nicht besteht, wird gerade durch diese angezogen. Burdas Bestreben geht nun dahin, ein Zeichen der Anerkennung zu finden. Da er aber keines 189

Vgl. Hruschka, S.llSf. Vgl. Lukas, S. 116. 191 Lütgen, S.47. 192 Ebd., S.97. 193 Ebd., S.101. 194 Kinscherf, S.79. 195 Vgl. Müller, S.41. 190

149

erhält, so sucht er nach Zeichen der Erhörung in der Überzeugung, daß er sie übersehen habe.196

Wir haben es hier eindeutig mit einer Uberinterpretation zu tun, die sich von den Intentionen der Erzählung ziemlich weit entfernt. Der Aussage Müllers, Burdas Selbstwertgefühl sei unecht197, ist dagegen wieder zuzustimmen. Dies dürfte in späterem Zusammenhang noch deutlich werden. Die Arbeit Gerlinde Steiners (1952) bezieht sich auf die Typenlehre Kretschmers, auf deren Hintergrund die Gestalten Saars charakterisiert werden sollen. In Burda sieht Steiner den „schizoiden Typ"198 verkörpert, woraus sich für sie auch der „Zusammenhang von Liebe und Wahn" ergibt.199 Dieser Argumentation ist entgegenzuhalten, daß, um den in Leutnant Burda gegebenen Zusammenhang von Liebe und Wahn zu erklären, keineswegs erst die Typenlehre Kretschmers bemüht werden muß, da er sich weit leichter aus der Philosophie Schopenhauers, die Saar ja sehr gut kannte, erklären läßt. Daß es aber möglich ist, eine Gestalt wie Burda in die Typenlehre Kretschmers einzuordnen, wie den Ausführungen Steiners ohne weiteres zugestanden werden muß, spricht für die feine psychologische Beobachtungsgabe des Dichters.

ß. Spannungserzeugung Neben der Personenzeichnung fallen weitere formale Elemente ins Auge, die den Interpreten als für die Erzählung in spezifischer Weise konstituierend erscheinen. Hierhin gehört zum Beispiel die Erzeugung von Spannung. So schreibt Wolfgang Kroeber (1934): Die Entwicklungslosigkeit der Novelle schließt freilich nicht aus, daß zuweilen eine dramatische Steigerung (Marianne, Vae Victis, Troglodytin, Herr Stäudl), ja sogar eine erhebliche Spannung (Leutnant Burda) die Handlung vorwärts treibt.200

Hans-Günther Prescher (1954) sieht den „Schwerpunkt der Spannungserzeugung" in den Kapiteleinsätzen. Während in der „Kernerzählung" die „Betonung der Personencharakteristik" liege, finde sich hier das „handlungsfördernde, fortschreitende Moment". Eine Förderung der Spannung erblickt er darüber hinaus auch in einer „bewußt breiten Schilderung von Nebensächlichem".201 Charue beobachtet dagegen in der Erzählung eine dramatische Spannung, die die Neugierde des Zuhörers sowie des Lesers hervorrufe.202 m

Ebd., S.39.

197

Vgl. ebd., S.41. 198 Vgl. Steiner, S.41-43. 199 Vgl. ebd., S.50. 200 Kroeber, S.49. 201 Vgl. Prescher, S.152f. 202 Vgl. Charue (1979).

150

Nach Mitteln der Spannungserzeugung in Leutnant Burda sucht auch Clara Kinscherf (1925). Für ihr Verständnis ist entscheidend, daß das Verhältnis der Personen zueinander sich als ein ganz anderes erweise, „als der Leser oder sie selbst glauben". Dadurch, daß der Erzähler die Spannung anders auflöse, als es der Erwartungshaltung des Lesers entspreche, rufe er Überraschung hervor. Traditionelle Mittel der Spannungserzeugung wie die „bewußte oder absichtliche Täuschung" oder ein „Nebeneinanderlaufen verschiedener Stämme", die an spannender Stelle abgebrochen oder ersetzt werden, vermißt Kinscherf dagegen.203 Sie stellt damit eine richtige, allerdings wenig weiterführende Beobachtung an.

. Komik und Humor Neben dem Element der Spannung werden auch Komik und Humor der Erzählung häufig hervorgehoben, wobei sich hinsichtlich dieser Darstellungsmittel ganz unterschiedliche Wertungen finden. Komik erblickt man in erster Linie in der Behandlung der Gestalt Burdas. So spricht Ella Hruschka (1902) von dem „halblächerlichen Leutnant Burda"204, und Horvath (1971) macht Burdas Lächerlichkeit an seiner Eitelkeit fest: [...] his extreme vanity is almost humorous in its effect. 205

Auf die Darstellungsweise innerhalb der einzelnen Abschnitte bezieht sich dagegen Korn, der hier „gemütlichen" oder „ironischen" Humor bemerkt.206 Befremdlich wirkt dem gegenüber die Aussage Erika Soukups (1946), die in der Erzählung eine „beinahe jugendlich sorglose Heiterkeit" zu erkennen meint.207 Auch Ingund Gaßner findet in der Erzählung „Heiteres" und verweist in diesem Zusammenhang, durchaus zu Recht, auf die Unterschriftenepisode208, während Charue das Problem des Adelsbriefes überhaupt „de facon humoristique" beschrieben findet.209

203

Vgl. Kinscherf, S.72.

204

Vgl. Hruschka, S.l 13. Horvath, S.69. 206 Vgl. z.B. Korn, S.99. 207 Vgl.Soukup,S.100f. 208 Vgl. Gaßner, S.48. 209 Vgl. Charue (1979), S.723. 205

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. Gattungspoetische Fragen Ein weiterer Schwerpunkt der Forschung über Leutnant Burda liegt auf der Struktur der Erzählung - mit einigem Recht, hatte sie doch bereits Saar selbst mit Stolz hervorgehoben.210 Dabei nun spielen Begriffe wie „Rahmentechnik", „Zuschauernovelle" oder „unerhörte Begebenheit" eine gewisse Rolle. So bezeichnet Clara Kinscherf die Erzählung als „Zuschauernovelle, die sie im Sinne einer „Ich-Erzählung ohne Rahmen" definiert.211 Den Begriff der „Zuschauer-Novelle" übernimmt dann auch Josef Schall (1934).212 Während diese Qualifizierung zumindest partiell richtige Beobachtungen impliziert, finden sich daneben, und gerade auch in jüngeren Arbeiten, ausgesprochen falsche Behauptungen zu dieser Thematik. Hier ist vor allem wieder auf Gerhard Rothbauer hinzuweisen, der im Hinblick auf einen vermeintlichen Rahmen, dessen Existenz er weniger formal begreift, als daß er ihn rein gehaltlich auf Saar als den Autor im „Nebengebäude des Schlosses" bezieht, folgendes ausführt: In den „Steinldopfern" schrumpft der Rahmen auf die Ankündigung des Erzählers zusammen. [...] Diese Ankündigung fällt in den Ich-Erzählungen „Leutnant Burda" und „Seligmann Hirsch" noch weg.2tj

Vermutlich durch diese Bemerkung inspiriert, fühlt sich dann Adelheid Runggaldier zu der in dieser Dezidiertheit sicherlich falschen Aussage verleitet, wir hätten es in Leutnant Burda mit einer „Rahmenerzählung" zu tun.214 Andere Beobachtungen zur Struktur betreffen die Novellentheorie im allgemeinen, d. h. sie gehen von dem Goetheschen Dictum von der „unerhörten Begebenheit" aus. Korn bemerkt zu Recht, daß dies auf die Erzählungen Saars schon insofern nicht übertragbar sei, als hier die Handlung in die Seele der Helden verlegt werde, stellt dann aber im Hinblick auf Leutnant Burda fest: Eine unerhörte „Seelenbegebenheit" aber immerhin würde etwa die Fabel zu Leutnant Burda darstellen [,..]215,

wobei als Hintergrund für diese Aussage deutlich der Versuch erkennbar ist, die Goethesche Theorie doch noch auch für Saar zu retten. Dagegen tritt für Soukup und Müller hinsichtlich der Struktur der Erzählung aus demselben Grund die Frage der Wiederholung in den Vordergrund, da auch sie dem Prinzip der 210

Vgl. Brief an Marie von Ebner-Eschenbach vom 25. Januar 1887; Briefwechsel Ebner, S.79: „[...] so kann ich nach Ablauf von 6-8 Wochen ein kleines Kunstwerk vor mir liegen haben, an dem ich schon so viel gethan und das, wenigstens der Form nach, vollendet sein soll." 211 Vgl. Kinscherf, S.51. 212 Schall, S.33. 213 Rothbauer, S.169. 214 Vgl. Runggaldier, S.82. 215 Korn, S.138.

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„unerhörten Begebenheit" entgegenwirke. Müller begegnet dem Vorwurf Soukups, die ständige Wiederholung ähnlicher Begebenheiten mache Saars Novellen zu bloßen Erzählungen, mit dem Argument, daß durch eben diese Wiederholung eine dramatische Steigerung bewirkt werde.216 Wie all diese Versuche zeigen, versperrt das Festhalten an traditionellen Vorstellungen der Novellentheorie den Blick für das Spezifische der Saarschen Erzählkunst. Die dargestellten Ansätze müssen daher gerade die ausgesprochenen Stärken des Leutnant Burda unberücksichtigt lassen.

g. Die Rolle des Ich-Erzählers Der Darstellung der wichtigsten in der Literatur vertretenen Thesen zur Rolle des Ich-Erzählers muß vorausgeschickt werden, daß die Unterscheidungen, die wir heute in der Erzähltheorie vornehmen, wie z.B. die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler, erst relativ spät in die Literaturwissenschaft eingegangen sind. Damit stand aber dem Wissenschaftler lange ein nur sehr dürftiges Instrumentarium zur Verfügung, das sich auch auf die Wahrnehmung bestimmter Phänomene nicht gerade förderlich auswirken konnte. Dies macht sich nun auch im Hinblick auf entsprechende Aussagen über Leutnant Burda bemerkbar, zumal es sich hier um ein Werk handelt, in dem der Erzähltechnik ein ganz übergeordnetes Gewicht beizumessen ist. Die Frage nach der Rolle des Ich-Erzählers in Leutnant Burda hat die Literatur über die Erzählung schon früh beschäftigt und ist bis heute eigentlich nicht verstummt. Bereits ein Artikel Ludwig Geigers in Wettermanns Monatsheften vom Dezember 1906 gilt dieser Problematik; und der erst 1979 erschienene Aufsatz Karlheinz Rossbachers beschäftigt sich ebenfalls hauptsächlich mit ihr. Von dem Artikel Geigers, der sich in nahezu polemischer Weise mit der Figur des Ich-Erzählers auseinandersetzt, soll nun zuerst die Rede sein. Für Geiger ist die Gestalt des Ich-Erzählers in Leutnant Burda eine „recht traurige Figur", die an ihrer Aufgabe, Burda von seinem Irrtum abzubringen, in „wahrhaft kläglicher" Weise scheitert. Geiger nennt verschiedene Gelegenheiten, die sich der Erzählerfigur zur Lösung ihrer Aufgabe bieten, um dann zu folgendem Resümee zu kommen: [...] er [im Verständnis Geigers: der Dichter] wird direkt aufgefordert, seinen Freund von den impertinenten und gänzlich aussichtslosen Annäherungsversuchen an die junge, hochstehende Dame zurückzuhalten - und er tut nichts, denn es ist geradezu jämmerlich, wie er seinen Auftrag durchführt, wie schlecht er den Mentor spielt, wie wenig er imstande ist, als wirklicher Freund zu sprechen und zu handeln. Spräche und handelte er energischer, so würde der Be216

Müller, S.V. 153

dauernswerte vielleicht einer Heilanstalt zugeführt werden, in die er gehört, oder durch Selbstmord enden, man wäre um eine tragische Geschichte ärmer, der Erzähler aber hätte sich als tatkräftiger Mann, als pflichtbewußter Freund erwiesen. Man wende nicht etwa mit vornehmem Lächeln ein: die Geschichte ist ja so passiert; in diesem Falle hätte der Erzähler in Rücksicht darauf, daß Dichtung und Wahrheit denn doch nicht immer verknüpft sein müssen, den Fall einfach als ein psychologisches Problem darstellen müssen, hätte aber nicht nur die menschliche, sondern auch die dichterische Pflicht gehabt, seine werte Persönlichkeit zu unterdrücken.217

Diese scharfe Kritik Geigers an der Funktion der Erzählerfigur dürfte zu allererst auf der unzulässigen Identifikation von Autor und Erzähler beruhen, die auch hinter zwei weiteren Aussagen seines Artikels steht. Da heißt es zum einen: Man kann geradezu behaupten, der Autor erweist sich häufig als weit- und gesellschaftsfremd. Er spinnt sich in seine Vorstellungen ein und konstruiert, an seinem Schreibtisch sitzend, Zustände und Ereignisse, wie sie entweder nie waren oder jedenfalls der Welt nicht entsprechen, in der er lebt.218

Ziemlich am Schluß des Artikels findet sich das Urteil: Aber die Beschränkung auf sein österreichisches Milieu und die unglückselige Manier, sich selbst beständig in den Vordergrund zu stellen, ohne sich doch als wirklich Mithandelnden zu bewähren, verdarben ihm die besten Wirkungen.219

Die Widersprüchlichkeit dieser beiden Aussagen liegt auf der Hand: Dem Vorwurf der Weltfremdheit steht der zu großer Gebundenheit an die eigene Erlebnissphäre gegenüber. Auch das Verhältnis, in das in den Ausführungen Geigers Dichtung und Leben treten, ist durchaus nicht nachvollziehbar. Offenbar urteilt der Autor nicht unter ästhetischen Rücksichten, sondern von einem moralisierenden Standpunkt aus, dessen Kriterien zudem schwer eruierbar erscheinen. So ist ja nicht einzusehen, warum ein Ende des Helden in der „Heilanstalt" oder im „Selbstmord" seinem tatsächlichen vorzuziehen sei. Sieht man von solchen Widersprüchen ab, so werfen die Ausführungen Geigers doch auch eine grundsätzliche Frage auf, die die Literatur weiterhin beschäftigen wird: Ist das Unvermögen der Erzählerfigur, Burda von seinem Wahn zu befreien, in deren eigenem Verhalten begründet, oder besteht dafür eine objektive Notwendigkeit, die auf den Wahn selbst zurückzuführen ist? Dieses Problem bewegt besonders Karlheinz Rossbacher, der in seinem Aufsatz Leutnant Burda und sein Erzähler. Wahn und Wirklichkeit bei Ferdinand von Saar u.a. schreibt: Wie andere Erzählerfiguren Saars ist auch dieser Erzähler nicht bloßes Erzählmedium; er ist in Einfühlungsvermögen, Rücksichtnahme, Vermeidung des Grellen, Passivität und fehlender Entschlußkraft eine typische Saar-Figur.220

217

Geiger, S.429. Geiger, S.430. 219 Ebd., S.437. 220 Rossbacher, S. 153. 218

154

Gegenüber den Analysen Geigers und Rossbachers, die vor allem der Charakterisierung der Erzählerfigur gelten, finden sich auf der anderen Seite solche, die stärker deren rein formaler Funktion nachspüren. Während Walzel (1911) z.B. die Erzählerfigur sehr treffend als „Begleiter und Genossen des Helden" bezeichnet221, wird sie andernorts ausschließlich in der Rolle des Beobachters gesehen. Dies gilt beispielsweise für L.H.C. Thomas (1963) ebenso wie für Adelheid Runggaldier, bei der die Verabsolutierung dieser Ansicht zu der eindeutig falschen Aussage führt, der Erzähler „greife niemals direkt in das Geschehen ein".222 Sie sieht diese These durch die Behandlung des Raumes in der Erzählung bestätigt, da sich der Erzähler „stets abseits von den eigentlichen Schauplätzen des Geschehens" aufhalte223 - eine Beobachtung, die in dieser Absolutsetzung auch nicht zutrifft. Runggaldiers Überlegungen zum Standort des Ich-Erzählers greifen im übrigen, obgleich sie durchaus auch richtige Beobachtungen enthalten, deshalb fehl, weil sie sich zu sehr von der vom marxistischen Standpunkt geprägten These Rothbauers beeinflußt zeigen, Saar als „Schloßdichter" habe in dieser Erzählung, die eigentlich sein „Selbstbildnis" zeichne, um seines adligen Publikums willen die „wirkliche, objektive Welt von der eingebildeten Wirklichkeit Burdas" trennen müssen.224 Für Runggaldier verzichtet Saar daher auf eine „Standortbeschreibung des Ich-Erzählers", um „nach außenhin eine stärkere Autonomie des Geschehens" zu bewirken und sich vom „möglichen Verdacht" zu befreien, „daß er sich selbst in den zwei Figuren des Ich-Erzählers und Burdas darstelle". Es sei Saar nicht möglich gewesen, „den thematisierten Konflikt auf eine einzige Person zu konzentrieren" und „etwa in Form eines inneren Monologs wiederzugeben", „weil er dadurch die Grenzen zwischen wirklicher und wirklichkeitsfremder Welt für sein Publikum verwischt" hätte.225 Dem gegenüber interpretiert Karlheinz Rossbacher das Auseinanderklaffen von Traumwelt und Wirklichkeit in Leutnat Burda auf dem Hintergrund der in der Erzählung enthaltenen Wahnthematik: Es erscheine „in die pathologische Überschärfung getrieben, was eines der Merkmale unserer Wirklichkeitsauffassung bilde" - nämlich deren Perspektivität.226 In diesem Zusammenhang komme der Gestalt des Erzählers die Funktion eines „unsicheren Führers zur Erkenntnis von Burdas Wahn" zu.227 Im übrigen bemerkt Rossbacher ein „selbstbetroffenes Interesse" des Erzählers228, in dem etwas von Saars eigener Problematik deutlich werde 221

Vgl. Walzel, S.442. Vgl. Runggaldier, S.201. 223 Ebd. 224 Vgl.Rothbauer,S.106f. 225 Vgl. Runggaldier, S.204. 226 Vgl. Rossbacher, S. 148. 227 Vgl. ebd., S. 149. 228 Vgl. ebd., S.154. 222

155

- eine Aussage, die sich mit neueren Erkenntnissen der Forschung zur Funktion des Ich-Erzählers deckt.

h. Autobiographische Bezüge Die Thesen, die zur sozialen Problematik sowie zur Rolle des Ich-Erzählers vorgestellt wurden, verwiesen teilweise bereits auf die Beziehung, die zwischen dem Schicksal Burdas und eigenen Erlebnissen Saars gesehen wird. Biographische Bezüge erblickt man zum einen darin, daß Saar in der Erzählung Erlebnisse aus seiner Soldatenzeit verarbeitet hat, zum ändern schließt man von Burdas Verlangen nach gesellschaftlichem Aufstieg auf ein ebensolches des Dichters. Im Grad der Identifizierung zwischen dem Autor und seiner Figur gehen die Interpreten dabei allerdings unterschiedlich weit. Georg Schneider (1952) erinnert an Saars Äußerung gegenüber Karl Emil Franzos, seine Biographie „gehe ja zum Teil aus der Novelle selbst hervor" (BrW 12) und schließt daraus, Saar habe sich in Leutnant Burda „selbst gezeichnet"229, eine These, die in ähnlicher Schärfe, wie bereits angedeutet, Rothbauer (1961) vorträgt. Auch Herbert Klauser (1983) betont, u.a. mit Blick auf Leutnant Burda, die „stark autobiographischen Züge" zahlreicher Erzählungen Saars230. Hans-Heinrich Reuter geht sogar so weit, Saars Gesamtwerk im Sinne einer „zyklischen Autobiographie" zu verstehen: In der Geschichte der deutschen Novelle gibt es kein zweites Beispiel für eine zyklische Autobiographie, wie sie das novellistische CEuvre Saars darstellt.231

Die Bedenklichkeit einer solchen These liegt auf der Hand. Zwar ist es sicher legitim, bestimmte Erzählungen des Dichters bestimmten Phasen seiner Biographie zuzuordnen, aber die Annahme einer völligen Identität übersieht die freie „Erfindung", die nach Saars eigener Aussage seine Erzählungen kennzeichnet.232 Zu eng im biographischen Sinne deutet daher auch Rothbauer die Erzählung, wenn er, anknüpfend an die These, das eigentliche Ziel von Burdas Kreisen um das Schloß sei die Prinzessin Liechtenstein, argumentiert: Liechtenstein ist der Geburtsname der Schloßherrin Elisabeth Salm. Darf die Chiffre L... als eine versteckte Huldigung des Dichters aus dem Nebengebäude an die Familie der Schloßherrin aufgefaßt werden?233

229

Vgl. Georg Schneider, S.156. Klauser. 231 Hans-Heinrich Reuter, S.254. 232 Vgl. Brief an Abraham Altmann vom 14. Mai 1897; Briefwechsel Altmann, S. 141f.: „[...] und hat keine Ahnung, welche Kunst und Erfindung in meinen Geschichten steckt." 233 Rothbauer, S.100. 230

156

Hier wird darüber hinaus die Adelskritik übersehen, die, wenn auch versteckt, durchaus in der Erzählung enthalten ist. Ganz eindeutig und ohne jede Vorsicht äußert sich dann Adelheid Runggaldier, die aus Burdas Ringen um Aufstieg unumwunden auf ein ebensolches des Dichters selbst schließt: In „Leutnant Burda" thematisiert Saar sein eigenes Ringen um gesellschaftliche Gleichberechtigung, sei es zuzeiten seines Militärdienstes in der Armee, sei es während seiner Aufenthalte in den einzelnen Schlössern.234

Von den Darlegungen Rothbauers und Runggaldiers hebt sich der Ansatz Vanas dadurch ab, daß er die hier dargestellte soziale Problematik in ihrer biographischen Dimension deutlich auch auf die Situation der Armee selbst bezieht. Er verweist auf den Widerspruch des Leitsatzes der Armee, das „goldene Portepee nivelliere" , zur realen Erfahrung des Soldaten. Es sei diese Problematik, in der sich Saar selbst gezeichnet habe, da er „irgendwie das Bedürfnis fühlte, die Schranken zu sprengen, die sein Leben beengten".235

i. Burda als Don Quixote-Figur Schon in einigen frühen Rezensionen war davon die Rede, daß Saar in Leutnant Burda den Don Quixote-Stoff gestaltet habe, eine Beobachtung, die umso näher liegt, als im achten Kapitel der Erzählung selbst ausdrücklich ein Vergleich zwischen Burda und Don Quixote angestellt wird. Das Interesse der Interpreten gilt nun der Frage, worin dieser Vergleich begründet ist. Dabei tritt naturgemäß die Auseinandersetzung mit dem Wahn Burdas in den Vordergrund. So schreibt Josef Schall (1934): Diese Netze der Verstrickung und Verblendung, in denen das Schicksal seine menschlichen Spielbälle fängt, geben jedem Widerstand etwas vom Kampf gegen die Windmühlen, und so haben nicht wenige der Gestalten Saars ein Element des Don Quichotte an sich, wie er es vom Leutnant Burda ausspricht.236

Bruno Brehm (Vorwort 1939) sieht dagegen zwischen Leutnant Burda und dem Roman des Cervantes eine vorwiegend thematische Übereinstimmung, die er am „Wunsch nach adliger Abstammung" und an der „schwärmerischen Liebe" festmacht.237 Für Martini (1962) gibt die Beziehung zwischen beiden Werken Anlaß zur Kritik, da Saar das Don Quixote-Thema „nur im kleinen Lebensfragment" zu gestalten gewußt habe.238 234

Runggaldier, S.209. Vgl.Vana,S.57f. 236 Schall, S.35. 237 Vgl. Brehm. 238 Martini (1964), S.492. 235

157

Die 1961 erschienene Arbeit Hodges legt in ihrer Besprechung Leutnant Burdas gar das Hauptgewicht auf die Verarbeitung des Don Quixote-Stoffes, wobei sie zu recht befremdlichen Ergebnissen kommt. Auf dem Hintergrund des Vergleichs mit seinem literarischen Vorbild müsse, so meint Hodge, die Gestalt Burdas, der er jede Ritterlichkeit abspricht, zutiefst unsozial erscheinen, eine Beobachtung, die er auch im Hinblick auf die Umwelt Burdas auswertet, da diese seiner Ansicht nach keine echte Don Quixote-Gestalt mehr gestatte.239 Ahnlich wie Hodge, spricht auch Rossbacher in seinem Aufsatz Burda jeglichen Idealismus ab: Da aber das „Idealistische" und seine Inhalte in den Hintergrund treten, tritt etwas anderes in den Vordergrund: Die Art und Weise, wie Wirklichkeit wahrgenommen und verarbeitet wird.240

Nach Ansicht Rossbachers gilt damit das eigentliche Interesse des Dichters der Darstellung des Wahns, für die das Verhältnis von Burda und Erzählerfigur konstitutiv sei, da „der Wahn, solange er dauert", eine „unüberwindliche Wahrheit" besitze, so daß der Außenstehende nicht mehr zu dem Betroffenen"vordringen", der Betroffene „von selbst nicht mehr herausfinden" könne.241 So zutreffend gerade diese letzte Beobachtung auch sein mag: Der von Hodge wie auch von Rossbacher vertretenen These, Burda gehe jeglicher Idealismus ab, ist entschieden entgegenzutreten. Sie wird schon der Wirkung, die die Gestalt Burdas sowohl bei der Erzählerfigur als auch beim Leser hervorruft, dem Mitleid, das er erregt, nicht gerecht. Aber davon wird im Rahmen der Interpretation noch eingehender zu sprechen sein.

239 240

241

Vgl. Hodge, S.148f. Rossbacher, S.148.

Vgl. ebd., S.155.

158

IV. DEUTUNG

Saar scheint in seinen Erzählungen meist von seiner eigenen Lebenswirklichkeit auszugehen. Das hat man ihm vorgeworfen und ihn als „platten Abschilderer der Wirklichkeit" bezeichnet. Als wie verfehlt Saar selbst diese Kritik verstanden hat, geht aus einer Äußerung hervor, die sich in einem Brief an Abraham Altmann vom 6. November 1896 findet. Darin äußert der Dichter, daß er seine Individualität als die des „Erzählers" hervortreten lasse. Viele Leser berührt das unangenehm, weil sieden Eindruck erhalten, als wollte ich meine Person v o r d r ä n g e n . Es ist aber nur ein künstlerischer Notbehelf, mittelst welchem allein ich meine Vorwürfe gestalten kann, indem ich mich gewissermaßen als Zuschauer und Beobachter gegenüberstelle. So erhalten denn meine Novellen das Gepräge des Selbst- oder Miterlebten, das die Lesewelt geringer anzuschlagen pflegt, als sogenannte „frei erfundene" Kunstwerke. Wie viel „freie Erfindung", wie viel „Kunst" in diesen meinen Arbeiten steckt, ahnt man nicht einmal. 1

Die von Saar angesprochene dichterische „Erfindung", die selbstverständlich auch die Gestaltung des Leutnant Burda kennzeichnet, soll nun im folgenden als „erzählte Imagination" bezeichnet werden. Im Vergleich zu anderen Erzählungen Saars fällt nun in dieser Erzählung etwas Besonderes auf, das in der Interpretation ebenfalls eingehendere Berücksichtigung verdient: die so häufigen Nennungen literarischer Werke sowie zahlreiche literarische Anspielungen. Sie bilden geradezu eine eigene Schicht in der Erzählung, so daß speziell nach deren Funktion zu fragen ist. Entsprechend dieser Wahrnehmung gliedert sich nun die Interpretation, ausgehend von der Realität und emporsteigend zur dichterischen „Erfindung", in drei Kapitel: 1. Erzählte Lebenswirklichkeit, 2. Erzählte Literatur, 3. Erzählte Imagination. Daß die Beobachtungen und Überlegungen dazu ineinander übergehen, ist selbstverständlich, so daß mit Verweisen gearbeitet werden muß.

1. Erzählte Lebenswirklichkeit a. Biographische Bezüge Daß seine Erzählung Leutnant Burda Lebenswirklichkeit spiegele, hat Saar verschiedentlich, wie sich schon anläßlich der Entstehungsgeschichte zeigte, insbesondere gegenüber Karl Emil Franzos geäußert. Seine Aussagen reichen dabei von dem Eingeständnis, seine „Biographie gehe ja zum Teil aus der Novelle selbst her-

Brief an Abraham Altmann vom 6. November 1896; Briefwechsel Altmann, S.67f. 161

vor" (BrW 12), über den Hinweis „[...] ist eben ein Zeitbild" (BrWIO) bis hin zu der sehr weitreichenden Erklärung: Daß vanitas nicht eigentlich die persönliche Eitelkeit bedeutet, wußte ich wohl. Aber ich wollte damit auch das durchaus H o h l e und N i c h t i g e im Leben Burda's -ja der ganzen Zeitperiode kennzeichnen. (BrW 10)

Es ist also, will man diesen Aussagen Saars nachgehen, gleich zweierlei zu prüfen: Zum einen ist zu ermitteln, ob und wenn welche biographischen Bezüge in die Erzählung eingegangen sind, zum ändern ist nach Daten und Gegebenheiten vor allem der Zeitgeschichte zu forschen, die - Saars eigener Aussage gemäß - ebenfalls Eingang in die Erzählung gefunden haben müßten. Entsprechend soll sich der erste Teil dieses Kapitels der in der Erzählung enthaltenen biographischen Wirklichkeit, der zweite Aspekten der Zeitgeschichte zuwenden. Wie naheliegt, ist es zunächst Burda, der Titelheld, dessen Gestaltung biographische Momente zugrundeliegen. Ein erster solcher Bezug ergibt sich daraus, daß Leutnant Burda wie ja auch viele andere Erzählungen Saars - in militärischem Milieu spielt. Als junger Leutnant, der später den Dienst quittieren sollte, hatte Saar die Armee zur Genüge kennengelernt. Aus dieser Zeit waren ihm die in der Regel unbefriedigende wirtschaftliche Situation der meisten Soldaten, das gespannte Verhältnis zwischen der Infanterie und der sozial erheblich besser gestellten Kavallerie sowie die Gepflogenheiten der Offiziere gut bekannt. Er machte Beobachtungen, die in die Erzählung Leutnant Burda eingegangen sind. So ist beispielsweise die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei Burda u.a. dort sichtbar, wo sich hinter seinem großmännischen Auftreten in Wahrheit ziemliche Armut verbirgt. Dies wird an einigen Stellen vom Erzähler sehr deutlich hervorgehoben, so, als er beschreibt, wie Burda ihn nach dem Theater noch zum Tee einlädt. Da heißt es: Dann servierte er auf einer blank gescheuerten, wie Silber aussehenden Zinnplatte den Thee, welchem heute, wie zu voraussichtlicher Feier des erfolgreichen Abends, etwas kalte Küche beigegeben war [...]. (17,23-26)

Im vorausgehenden Kapitel hat der Erzähler solche Einladungen bereits wie folgt charakterisiert: Hingegen lud er mich zuweilen in huldvoller Stimmung ein, bei ihm den Thee zu nehmen, was allerdings im eigentlichsten Wortsinne zu verstehen war, da in der Regel Rum und Sahne fehlten und höchstens etwas abgelegenes Weißbrot als Beigabe erschien.(ll,10-14)

Auch als Burda und der Erzähler zusammenziehen, gibt eine „ökonomische Frage" den Ausschlag. Der Umstand, daß sich Burda in Prag das Diner im „Englischen Hof" leisten kann, wird vom Erzähler eigens begründet: Sich derart einrichtend, widerstrebte es ihm auch, seine Mahlzeiten in einer jener unscheinbaren Gastwirtschaften einzunehmen, aufweiche wir anderen mehr oder minder angewiesen waren, und zog es vor, zwischen fünf und sechs Uhr im „Englischen Hof" zu dinieren, was er sich insofern schon erlauben konnte, als er sodann auf ein Abendessen verzichtete. (35,27-31)

Während Infanteristen wie Burda an anderer Stelle sparen müssen, um sich beispielsweise eine Mahlzeit im „Englischen Hof" leisten zu können, ist es für die 162

Kavalleristen eine Selbstverständlichkeit, täglich im „Englischen Hof" sehr opulent zu dinieren. Aufgrund ihrer besseren wirtschaftlichen Situation haben sie darüber hinaus auch bei den Frauen leichteres Spiel. So ist es nicht zufällig ein „blutjunger Dragoneroffizier" (21,17f.) mit dem die Prinzessin, während sie Burda selbst keinerlei Beachtung schenkt, auf dem Hofball tanzt. In solchen Beobachtungen spiegeln sich wohl nicht zuletzt, wie z.B. der Briefwechsel mit der Mutter zeigt, eigene leidvolle Erfahrungen des jungen Leutnants Saar. U.a. geht aus dem Briefwechsel des Dichters mit seiner Mutter aus den Fünfzigerjahren hervor, daß in seiner Liebesbeziehung zu einer gewissen Elise nicht zuletzt wirtschaftliche Faktoren eine sehr negative Rolle spielten, da hier der Grund dafür lag, daß Saar von den Eltern des Mädchens als ernsthafter Bewerber nicht akzeptiert wurde.2 Hinzu kommen Berichte der Mutter über Cousinen Saars, die gerade ein Auge für Offiziere haben, die Saar dem Rang nach überlegen sind, insbesondere auch für Kavalleristen.3 Eine weitere Ähnlichkeit zwischen Saar und der Hauptperson seiner Erzählung besteht in der sehr „bescheidenen Herkunft" Burdas, von der der Erzähler zu berichten weiß: Als Sohn eines kleinen Rechnungsbeamten hatte er eine nur dürftige Erziehung erhalten, anfänglich das Gymnasium besucht, aber sich bald als Eleve in das Amt seines Vaters aufnehmen lassen, um diesem weiterhin nicht mehr zu Last fallen zu müssen. Später, als die Zeitläufte günstige Aussichten bei der Armee eröffneten, war er als Kadett in unser Regiment getreten.(6,39-7,3)

Bei Saar selbst lagen die Verhältnisse zwar nicht genauso, aber doch ähnlich. Sein Vater war früh gestorben, so daß die Mutter bei ihrem Vater, dem Freiherrn von Nespern, Wohnung nahm. Der Dichter konnte nur eine Zeitlang das Schottengymnasium in Wien besuchen und wurde dann durch seinen Vormund aus ähnlichen Gründen wie den in der Erzählung im Hinblick auf Burda genannten bestimmt, in die Armee einzutreten.4 Geben die wirtschaftliche Situation der Soldaten sowie die bescheidene Herkunft Burdas gleichsam die Folie ab, auf deren Hintergrund das Geschehen der Erzählung zu sehen ist, so erweist sich eine weitere Parallele zwischen dem Schicksal Burdas und demjenigen Saars als wesentlicher Faktor der Handlung selbst. Es handelt sich hier um die Problematik des Adelsnachweises, den Burda von Beginn an mit eben solcher Hartnäckigkeit verfolgt wie sein Anliegen, die Prinzessin zu heiraten. Burda leitet seine Herkunft von einem Grafengeschlecht ab, 2

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Vgl. z.B. Caroline von Saar an Ferdinand von Saar, Wiener Stadt- und Landesbibliothek, I.N. 17435. Vgl. Caroline von Saar an Ferdinand von Saar, 17. Oktober 1858, Wiener Stadt- und Landesbibliothek, I.N.17503; Caroline von Saar an Ferdinand von Saar, 13. März 1857, Wiener Stadt- und Landesbibliothek, I.N. 17471. Vgl. Bettelheim in Saar, SW l, S.18f.

163

das seinen Sitz in Böhmen hatte, nach der Schlacht am Weißen Berge jedoch, in welcher es an der Seite des sogenannten Winterkönigs gekämpft, von Ferdinand dem Zweiten seiner Güter entsetzt und gezwungen worden war, das Land zu verlassen. (18,2-5)

Dem Erzähler gegenüber erläutert Burda sehr ausführlich den Stand der diesbezüglichen Nachforschungen: Gewissen Traditionen zufolge waren es zwei Brüder, welche dieses Los getroffen. Der eine von ihnen hat sich, wie man glaubt, nach Sachsen gewendet, wo noch heute ein adeliges Geschlecht meines Namens blüht. Der zweite blieb verschollen. Gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts aber soll ein direkter Nachkomme von ihm - allerdings als bloßer Bürgerlicher wieder in Österreich eingewandert sein, der sich auch wirklich B u r d a geschrieben hat. Schon mein Großvater war auf die mutmaßliche Deszendenz unserer Familie von diesem Manne aufmerksam gemacht und ermuntert worden, Nachforschungen einzuleiten. Dies geschah, und die hier liegenden Schriftstücke sind das Resultat jener Bemühungen. Sie stellen auch den fraglichen Zusammenhang so ziemlich klar - allein über den Hauptpunkt: ob nämlich der erwähnte Einwanderer wirklich ein Nachkomme der verschollenen Grafen Burda gewesen ist, konnte leider nichts Bestimmtes ermittelt werden. (18,6-18)

Im Nachlaß Saars finden sich nun Papiere, aus denen ein ähnlicher Vorgang in seiner eigenen Familie hervorgeht. Das älteste in diesem Zusammenhang zu erwähnende Dokument ist ein Original-Attestat des regierenden Fürsten von 1790, und zwar ein Antwortschreiben an die Brüder Johann Adam, Johann Adalbert, Libor Leopold und Franz Karl v. Saar auf deren Ansinnen, „ihnen mit einem schriftlichen Erweis" aus dem betreffenden „Hausarchiv, weil sie bereits über 130 Jahre die erbliche Poststazion zu Traiskirchen, dermal übersezt nach Neudorf in Österreich im Besitz haben, über ihre Abkunft aus dem alten Ritterstamme der in Böheim [Böhmen] begütert gewesenen v: Saar, oder mit dem Namen des Geburtsorts ihres Großvaters in Böheim zu Hilf" zu kommen, „indem außer der alten mündlichen Tradition ihrer Eltern ihnen kein schriftlicher Beweis in Händen verblieben seye." Die Antwort fällt aber enttäuschend aus, da das Archiv keine der „dokumentirten alten Bittschriften" aufbewahrt hat. Jedoch wird darin die „gutbewußte Tradition" „wohl unterstützt", daß die Familie aus Böhmen stamme, zum erblichen Postdienst schon unter der Regierung Kaiser Leopolds I. gelangt sei und seitdem ununterbrochen dem Erzhaus diene (HsW 3). Am 8. Dezember fordert Johann Adam Saar „Beweise" des alt „angeerbeten Adels" der Familie zurück, die offenbar in dieser Angelegenheit der böhmisch-österreichischen Kanzlei zugestellt worden waren (HsW 4). Neben diesen Papieren enthält der Nachlaß Saars undatierte Nachrichten von einer Dresdener Familie Sahr (HsW 5) sowie eine Abschrift des Adelsdiploms vom 27. April 1840, das Johann Adam und Johann Adalbert Saar aufgrund ihrer treuen Dienste im Mai 1793 ausgestellt wurde (HsW 6). Obwohl sich also die Gebrüder Saar um einen Nachweis ihres alten Geburtsadels bemüht hatten, konnten sie es tatsächlich nur zu einfachem Beamtenadel bringen. Daß die Abschrift des Adelsdiploms aber von 1840 datiert, also aus einer Zeit stammt, als der Dichter etwa sieben Jahre alt war, macht deutlich, daß auch noch die unmittelbaren Verwandten des Dichters mit dieser Problematik befaßt waren. Ein Fragebogen 164

(HsW 7) in Saars Nachlaß schließlich, den er selbst ausgefüllt hat und der neben persönlichen Daten auch eine Beschreibung des Saarschen Familienwappens sowie die Familiengeschichte enthält, verdeutlicht das Interesse, das auch der Dichter selbst der Angelegenheit entgegengebracht hat. Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der in der Familiengeschichte enthaltene Hinweis auf die in der Schlacht am Weißen Berge vertriebenen Vorfahren, auf die sich ja auch Burda beruft. Im Falle der Saarschen Familie sind es erst die Nachkommen eines dieser Flüchtlinge, nämlich Johann Michael Saars, die oben erwähnten Johann Adam und Johann Adalbert Saar, die geadelt werden. Dem ähnelt gewissermaßen die Situation, wie sie sich in dem Schreiben des jungen Historiographen, den Burda in Brunn kennengelernt hat, in Bezug auf dessen Herkunft geschildert findet: Vor allem hätten sich jene Anhaltspunkte, die er bei den „von Burda" in Sachsen zu finden gehofft, durchaus hinfällig erwiesen. Denn diese angebliche „erste Linie" leite ihren Stammbaum nicht allzu weit zurück - und zwar bis zu einem sicheren Daniel Burda, der zu Anfang dieses Jahrhunderts als kurfürstlicher Sattelknecht aufgeführt erscheine. Nun müsse dies allerdings eine Hofcharge gewesen sein; allein wie es sich herausgestellt habe, sei besagter Daniel Burda, der Sohn eines einfachen Posthalters auf dem platten Lande, erst infolge jener Eigenschaft in den Adelsstand erhoben worden. (39,29-36)

Der Adel, auf den Burda hier seine Hoffnungen gesetzt hat, - von dem er allerdings, im Gegensatz zum Dichter selbst, seine Herkunft noch nicht einmal direkt ableiten kann -, ist also ebenfalls Beamtenadel; wie in der Familie Saars scheitert Burdas Versuch, einen altangestammten Adel nachzuweisen. An einem solchen Adel muß Burda aber aus sozialen Gründen außerordentlich gelegen sein, da er von dem Wunsch beseelt ist, die Prinzessin zu heiraten. In einer Verbindung mit ihr wäre seine gesellschaftlich gehobene Stellung gesichert gewesen. Es ist aber nicht allein die Gestalt Burdas, in deren Darstellung der Dichter Anleihen an die Realität macht. Auch hinter der Prinzessin, der eine nicht unbedeutende Stellung innerhalb der Erzählung zukommt, steht eine ganz konkrete Gestalt, worauf Saar selbst, ebenfalls wieder in einem Brief an Karl Emil Franzos, in dem er über den Verbleib des Manuskripts Auskunft geben will, hingewiesen hat: Die Frau Fürstin Salm, der ich vielfach verpflichtet bin, will es [das Manuskript] durchaus besitzen. Sie ist eine geborene Fürstin L... [Liechtenstein] - und eine der drei Schwestern, welche in meiner Novelle geschildert werden, allerdings nicht diejenige, welche unwissentlich mit dem Schicksale des armen Helden verknüpft gewesen [...]. (BrW16)

Nun existierten wirklich drei Prinzessinnen Liechtenstein, deren Altersunterschied ziemlich unerheblich war: Elisabeth, 1832 geboren und spätere Altgräfin zu Salm-Reifferscheidt-Raitz, der Saar, seiner eigenen Aussage nach, das Manuskript der Erzählung überlassen hat, ferner die 1833 geborene Franziska und schließlich Maria, die 1835 zur Welt kam. Sie waren Töchter des Fürsten Karl Franz Anton zu Liechtenstein, der als General der Kavallerie und erbliches Mitglied des Herrenhauses erheblichen politischen Einfluß besaß. In der Mitte der fünfziger Jahre 165

des neunzehnten Jahrhunderts, in denen die Erzählung spielt, waren die Prinzessinnen also alle Anfang zwanzig. Dennoch entspricht die Darstellung bei Saar, wie leicht zu ersehen ist, nicht völlig den historischen Fakten. So hieß nicht die jüngste, sondern die mittlere dieser Schwestern Franziska. Auch lebte die Mutter der in der Erzählung „von mütterlicher Seite verwaisten"(12,17) Mädchen in den fünfziger Jahren noch; sie starb erst 1863. Das Verlöbnis zwischen der Prinzessin Fanny L... und dem Prinzen A ..., von dem am Ende der Erzählung die Rede ist, ließe sich, was das Datum anlangt, auf die Verlobung der Prinzessin Maria Liechtenstein beziehen, die sich am 5. April 1856 mit Ferdinand Bonaventura Fürst Kinsky von Wchinitz und Tettau verheiratete, während sich hinter dem Prinzen A ... , der als Verlobter der Prinzessin Fanny L... genannt wird, Joseph Prinz und Herzog von Arenberg verbergen könnte, mit dem sich die Prinzessin Franziska Liechtenstein im Jahre 1865 vermählte. Die Aussage Saars gegenüber Franzos, daß es nicht Elisabeth zu Salm-Reifferscheidt-Raitz, die älteste der drei Schwestern, sei, „welche unwissentlich mit dem Schicksal des armen Helden verknüpft gewesen", läßt sich so zwar verifizieren, aber darüber, ob er Franziska, deren Namen er der Prinzessin leiht, oder Maria, die tatsächlich die Jüngste der Prinzessinnen war, gemeint wissen will, läßt sich kaum Klarheit gewinnen. Daß er allerdings die Anfangsbuchstaben L... für „Liechtenstein" und A... für „Arenberg" beibehält, ist immerhin erstaunlich, da auf diese Weise der Realitätsbezug deutlich erkennbar ist, der sonst, aufgrund anderer Einzelheiten, die dann doch geradezu im Widerspruch zur historischen Realität stehen, verloren gehen könnte. So werden beispielsweise, abweichend von der Realität, in der, wie gezeigt, die Mutter der Prinzessinnen zu dem Zeitpunkt, da Leutnant Burda spielt, noch lebte, die Töchter des Fürsten als „von mütterlicher Seite verwaist" bezeichnet. Hinter dieser Abweichung könnte die dichterische Intention stehen, so eine Konstellation zu schaffen, wie sie häufig auch in Märchen begegnet, wo es oft ebenfalls drei Geschwister sind, um die die Handlung kreist. Dem Motiv der Verwaisung kommt dort die Funktion zu, dem Helden oder der Heldin Anlaß für vielfältige Prüfungen zu bieten, die einen Reifeprozeß veranlassen, der an seinem Ende mit der Gewährung großen Glücks - häufig in einer Hochzeit - abgeschlossen wird. Daß solche Vorstellungen tatsächlich für die Konzeption der Erzählung eine große Rolle spielen, geht aus einer Bemerkung des Ich-Erzählers hervor, die in unmittelbarem Anschluß an die Mitteilungen steht, die Burda ihm im zweiten Kapitel über seine Absichten gegenüber der Prinzessin macht. Er bezieht sich hier auf ein „größeres Gedicht" (11,16), zu dem er sich „unter dem Eindruck von Ernst Schulzes 'Bezauberter Rose* " (11,17) habe „verleiten" lassen: Als ich wieder allein war, wirbelte es mir im Kopfe. Sollte es möglich sein! rief ich aus. Sollte die Prinzessin wirklich. ... Warum nicht? Es waren ja doch schon ähnliche Fälle vorgekommen! Burdas Zuversicht hatte etwas Ansteckendes; sie schien sich jetzt auch mir mitteilen zu wollen. Aber nein, nein! Es ist ganz und gar undenkbar! sprach endlich die gesunde Vernunft und behielt das letzte Wort. Dabei vergaß ich freilich, daß ich

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vorhin selbst daran gegangen war, in dem zweiten Gesänge meiner Dichtung mit glühenden Farben ein geheimes Stelldichein zu schildern, welches zwischen einer Königstochter und einem Knappen (der sich allerdings am Schlüsse als Königssohn würde entpuppt haben) stattfinden sollte. (13,40-14,8)

Auch diese Textstelle ist in der Literatur häufig5 auf ein biographisches Faktum im Leben des Dichters bezogen worden, indem man auf Saars Jugendepos Elsbeth (HsW 8), ein Werk, das unter ähnlichen Umständen wie jenen, unter denen sich in der Erzählung der Ich-Erzähler seinem Epos widmet, entstanden ist, hingewiesen hat: Wie Saar ist auch der Ich-Erzähler beim Schreiben empfindlich gegen jede Ablenkung, und es ist diese Ruhebedürftigkeit*, die ihn schließlich in die räumliche Nähe Burdas führt: Denn ich hatte schon damals literarischen Neigungen nachgegeben und wünschte im Laufe des Tages einige ruhige, völlig ungestörte Stunden zu haben, aber wie wäre dies in einer kameradschaftlichen Wirtschaft, wo es in der Regel ziemlich wüst herging, zu erreichen gewesen! Burda jedoch, der die Rücksicht in Person war und überdies stets seine eigenen Wege ging, bot mir in dieser Hinsicht alle Sicherheit. (10,23-28)

Trotz dieser frappierenden Gemeinsamkeiten fällt allerdings gerade in einem entscheidenden Punkt auch hier im Vergleich von Biographie und Erzählung ein wesentlicher Unterschied auf: Die Ähnlichkeiten zwischen Saars Jugendepos Eisheth und dem vom Ich-Erzähler angesprochenen Werk können allenfalls formaler, kaum aber inhaltlicher Art sein. Zwar findet sich in Saars kulturhistorischem Epos eine Liebeshandlung; aber das vom Dichter durch die Anspielung auf Ernst Schulzes Bezauberte Rose so hervorgehobene Motiv des „geheimen Stelldichein" findet sich dort nicht. Es zeigt sich also, daß der biographische Bezug zugunsten der fiktionalen Absicht modifiziert wird; der Erzähler gibt selbst zu, daß er das angesprochene Motiv in enger Beziehung zu den Absichten Burdas sieht. Bezeichnenderweise bricht der Erzähler später die Arbeit an dem Gedicht ab, dessen Fragwürdigkeit ihm durch das reale Erleben deutlich geworden ist, während Eisbetb vollendet, wenn auch nicht veröffentlicht wurde. Mithin gilt hinsichtlich der Betrachtung der Figuren der Erzählung, daß in ihre Darstellung zwar biographische Fakten eingegangen sind, daß diese aber keineswegs um ihrer selbst willen dastehen. Sie sind jeweils der Erzählabsicht untergeordnet und werden modifiziert, wo es im Hinblick auf die Intentionen des Dichters notwendig erscheint.

Vgl. dazu v.a. Hammer, S.20. Vgl. z.B. Brief an die Fürstin Hohenlohe, 19. Juni 1885, S.121: „Wenn ich während des Vormittags nicht ganz ungestört bin, vermag ich nicht zu arbeiten - und wie soll man sich in einem ziemlich belebten Hause eine solche vormittägliche Einsamkeit schaffen?" 167

b. Zeitgeschichtliche Bezüge Saars Aussage, seine Biographie gehe zum Teil aus der Erzählung selbst hervor, erweist sich, wie die vorausgehenden Ausführungen zeigten, als berechtigt. Es ist nun in einem weiteren Schritt noch der Frage nachzugehen, ob auch seine Aussage über die Erzählung [...] es ist eben ein Zeitbild (BrWIO),

Gültigkeit beanspruchen kann. In einem Brief an die Fürstin Hohenlohe hat Saar diese Aussage im Hinblick auf die Städte Prag und Wien konkretisiert und u.a. geschrieben: Meine Novelle soll ein getreues Bild des Wiener Lebens in den Fünfzigerjahren geben, wo noch die Basteien standen und von einer Ringstraße keine Idee war. Auch das Burgtheater und Opernhaus - mit Anschütz, Loewe, Fichtner, Ander etc. etc. will ich glorifizieren.7 Im Hinblick auf Prag schreibt der Dichter an Karl Emil Franzos: [...] es fallen somit auf diese Stadt ebenfalls einige Streiflichter. (BrW 4)

Nun hat es aber bei oberflächlicher Lektüre durchaus nicht den Anschein, als gelangten Wien und Prag in der Erzählung zu besonderer Darstellung. Sie scheinen nurmehr die Schauplätze abzugeben für die sich ereignende Handlung, die sich tatsächlich im ersten Teil (zweites bis fünftes Kaptel) fast ausschließlich in Wien, im letzten Teil (ab dem siebten Kapitel) ausschließlich in Prag abspielt. Dabei werden bestimmte Orte, z.B. der Hradschin, wo das Duell stattfindet, ausdrücklich genannt. Wenn Saar in seinem Brief an die Fürstin behauptet, er habe das alte Wien „glorifizieren" wollen, fällt eine Textpasssage im zweiten Kapitel besonders ins Auge, die in der Tat allem Anschein nach eine entsprechende Tendenz aufweist. Sie lautet: Wien selbst trug damals noch ganz seinen früheren Charakter zur Schau. Die alten Tore mit den unbeweglichen Brücken über dem Stadtgraben bestanden noch; die Kastanien- und Lindenalleen auf dem Glacis führten nach den Vorstädten, und wenn heutzutage die innere Stadt von der Ringstraße wie von einem blendenden Juwelengürtel umspannt erscheint, so glich sie damals, von den Ringmauern der Bastei eingeschlossen, einem Schatzkästlein, in welchem die meisten Kostbarkeiten zusammengedrängt lagen. Auch der öffentliche Verkehr war einfacher, gleichsam intimer, als jetzt. Die verschiedenen amtlichen Berufszweige gingen räumlich nicht allzuweit auseinander, ebenso die mannigfaltigen Objekte des Vergnügens und des Genusses und so hatte sich denn auch jeder von uns bald mit den Verhältnissen vertraut gemacht und in seiner Weise eingelebt. (9,17-27)

In dieser Darstellung wird deutlich der in der Gründerzeit sich vollziehende Wandel im Stadtbild ins Spiel gebracht. Es handelt sich dabei insofern um eine „Glorifizierung" des „alten Wien", als Saar den Zustand vor dem Bau der Ringstraße, der in den Jahren 1858 bis 1865 erfolgte, beschreibt. Obgleich die Darstel7

Brief vom 25.März 1886; Briefwechsel Hohenlohe, S.153f.

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lung des Erzählers nicht direkt wertet, liegt sie doch wohl auf der Linie der gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Kritik der österreichischen Intellektuellen an der Ringstraßenarchitektur, die als symbolischer Brennpunkt der liberalen Kultur aufgefaßt wurde und deren Architekten als selbstgewisse Emporkömmlinge verworfen wurden.8 In der Darstellung der Erzählung, die nun im Zuge der „Glorifizierung" des alten Wien vor allem solche Orte und Gebäude erwähnt, die durch den Bau der Ringstraße zerstört oder umgestaltet wurden, wie zum Beispiel das Glacis, das Burgtheater, den Michaelerplatz oder den Stephansplatz, zeigt sich ein für Saar typisches Verfahren, das bei ihm auch andernorts wiederholt begegnet: Reale Elemente werden mit symbolischem Sinn gefüllt.9 Hier gelangt auf diese Weise ein bestimmter historischer Prozeß zur Darstellung; denn da die Ringstraße das alte Glacis verdrängte und das Gelände einer zivilen Nutzung zuführte, kann sie innerhalb der Erzählung auch symbolisch für die geschrumpfte Bedeutung der in den Kriegen von 1859 und 1866 geschlagenen Armee verstanden werden, die ihren entscheidenden Einfluß im Staat zugunsten der Liberalen verloren hatte. lo Sie würde dann, wie aus der weiteren Interpretation hervorgehen müßte, andere Aussagen der Erzählung unter diesem Gesichtspunkt stützen. Im Hinblick auf den Aussagewert, den die Anspielung auf den Bau der Ringstraße enthält, ist zunächst mit Sicherheit zu sehen, was der zeitgenössische Leser der Erzählung ohne weiteres wissen mochte, was der heutige Leser sich aber deutlich vor Augen führen sollte: Das Bild der Ringstraße wurde wesentlich durch die konkurrierenden gesellschaftlichen Gruppen geprägt, die sich für ihre Gestaltung verantwortlich zeigten. Zum einen versuchte das Besitz- und Bildungsbürgertum, in einem Prozeß der Selbsterhöhung mit dem Adel in Konkurrenz zu treten. Dies drückte sich besonders in einer prunkvoll nach außen wirkenden Fassadenarchitektur aus, die auf dieser Ebene eine Parallele darstellt zu dem Streben Burdas nach Aufstieg in den Adel. Solches Konkurrenzstreben bestimmte aber nicht nur den Bürger. Auch das Kaisertum versuchte, sich den Historismus dienstbar zu machen, indem es, ebenfalls insbesondere in der Architektur der Ringstraße, eine Anlehnung an die römische Kaiserzeit suchte und damit gleichsam in Konkurrenz trat mit historischen Vorbildern. So ist zum Beispiel bekannt, daß Semper mit der Planung eines „Kaiserforums" beauftragt war.11 Gegenüber der Darstellung Wiens nun fällt die Darstellung Prags erheblich spärlicher aus. Daß sich die Tötung Burdas im Hradschin, in der Prager Burg, ereignet, hat gewiß symbolische Bedeutung: Burdas Fall vollzieht sich im Einfluß8

9 10 11

Vgl. dazu u.a.: Schorske, S.23. Besonders Hermann Bahr übte Kritik an der Ringstraßenarchitektur. So ja auch im Hinblick auf die autobiographischen Daten, die Figur der Prinzessin usw. Auf diesen Zusammenhang hatte bereits Walter Feiner (1936) hingewiesen. Vgl. dazu: Lemper, S.62.

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bereich jener Welt, in die er vergeblich versuchte aufzusteigen. Im übrigen aber gibt es in der Erzählung auch im Hinblick auf Prag einige Sätze, die den früheren Zustand dem Jetztzustand gegenüberstellen. Am Anfang des siebten Kapitels heißt es da: Prag war zu jener Zeit ein sehr angenehmer Aufenthaltsort. Die nationalen Sonderbestrebungen waren noch nicht zu ausgesprochenen Konflikten gediehen; sie gärten und zuckten, dem unbefangenen Blicke verborgen, noch unter der Oberfläche, und wenn auch die Stadt, infolge des slawischen Grundelementes ihrer Bevölkerung, keine deutsche genannt werden konnte, so war sie doch im besten Sinne des Wortes international. Zwischen Wien und Dresden die Mitte haltend, wurde sie, zumal im Sommer, wo ein großer Zug nach den böhmischen Bädern stattfand, ob ihrer prachtvollen Lage und ihrer Baudenkmale von vielen Fremden besucht, wozu gute Hotels, ein sehr annehmbares Theater und sonstige Ressourcen wesentlich beitrugen. Kurz, man konnte in Prag wie in einer Großstadt leben, und doch waren alle Bedingungen einfacher und weniger kostspielig als anderswo. (35,4-15)

Was hier aus dem Rückblick in den Augen des Erzählers die frühere Idylle zerstört hat, ist nicht, wie im Falle Wiens, ein architektonischer Eingriff, sondern es sind politische Ereignisse: die „nationalen Sonderbestrebungen". Es handelt sich damit um revolutionäre Tendenzen, die auf der Linie der nationalen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts liegen. Sie korrespondieren mit einem historischen Ereignis, das Burda mit seiner eigenen Biographie in Verbindung bringt und das in einem engen Zusammenhang mit seinen Spekulationen über seine adlige Abkunft steht: der Schlacht am Weißen Bege, im Hinblick auf die Burda glaubt, daß seine reformatorisch gesinnten Vorfahren damals von dem sogenannten Winterkönig gezwungen worden seien, Böhmen zu verlassen. Beide Ereignisse - das zeitgeschichtliche wie das historische - weisen dabei bestimmte Gemeinsamkeiten auf: Sie zeugen in gewissem Sinne von revolutionären Tendenzen, und sie sind im selben Raum angesiedelt. Daß die Gemeinsamkeit wohl nicht zufällig ist, läßt auch die Bedeutung des Namens „Burda" erahnen, der, aus dem Polnischen übersetzt, nichts anderes als „Krawall" bedeutet.12 Der Erwähnung der Schlacht am Weißen Berge mag dann die Funktion einer Vorausdeutung zukommen: Was für die Vorfahren Burdas vor Jahrhunderten kein gutes Ende nahm, läßt auch in der Gegenwart nichts Gutes ahnen. Wir stoßen hier auf ein dichterisches Verfahren, das, wie sich immer wieder zeigt, für die ganze Erzählung eine gewisse Bedeutung besitzt: zeitgeschichtliche oder politische Ereignisse stehen in engem Bezug zum Einzelschicksal Burdas, so daß sich Saars Aussage aus dem Briefwechsel mit Karl Emil Franzos: Aber ich wollte damit auch das durchaus H o h l e und N i c h t i g e im Leben Burda's -ja der ganzen Zeitperiode kennzeichnen. (Br W10)

von hieraus bestätigt: Durch das Einzelschicksal hindurch soll Allgemeineres transparent werden. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich auch eine weitere 12

Vgl. dazu Ippoldt.

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Textpassage begreifen, in der zeitgeschichtliche Ereignisse ganz im Mittelpunkt stehen, wobei allerdings die Auswahl des Genannten fast befremdlich wirkt: Die Bäume auf dem Glacis hatten Knospen und Blätter getrieben, der Rasen schimmerte in zartem Grün, und die Feierlichkeiten, welche zu jener Zeit anläßlich der kaiserlichen Vermählung stattfanden, waren von herrlichstem Wetter begünstigt. Aber nebenher war auch die orientalische Frage wieder einmal eine brennende geworden, und schon hatten sich die diplomatischen Fäden jener europäischen Verwickelungen angesponnen, welche später mit dem Krimfeldzuge und durch die Einnahme von Sebastopol einen vorläufigen Abschluß finden sollten. Auch Österreich mußte inmitten der allgemeinen Rüstungen Stellung nehmen und schob Observationstruppen an die nördlichen und südöstlichen Grenzen des Reiches vor. Infolgedessen wurden einige Regimenter auf den Kriegsstand gesetzt, so auch unseres, indem es gleichzeitig Marschbereitschaft erhielt, um, wie der Befehl lautete, vorläufig in Böhmen Standquartiere zu nehmen. (27,24-36)

Hier fällt auf, daß die „kaiserliche Vermählung" in einem Atemzug genannt wird mit historischen Entwicklungen, deren katastrophaler Ausgang zu einer erheblichen Schwächung der Donaumonarchie führte. Wenn im Text an anderer Stelle von der „ratlosen Haltung, welche die Regierung den fortschreitenden Ereignissen gegenüber noch immer bekundete" (34,18-20), die Rede ist, so erscheint damit in der Tat sehr treffend die Haltung der damaligen Regierung charakterisiert, deren schwankende Position gegenüber England und Rußland schließlich zu jener langen Feindschaft zwischen Österreich und Rußland führte, die letztlich Bismarck für seine Politik der kleindeutschen Lösung den Rücken stärkte. Durch die gleichzeitige Erwähnung dieses „Krimfeldzuges" mit der „kaiserlichen Vermählung" werden folglich das Liebes- und Heiratsthema mit dem Assoziationsfeld von Tod und Katastrophe verbunden. Damit geschieht aber etwas, was offensichtlich ebenfalls wieder in enger Beziehung zum Schicksal Burdas steht. Für ihn selbst ist es die Liebe, die ihm zum Verhängnis wird, die ihn, zumindest indirekt, in den Tod führt. Durch die motivische Nähe, in die in der zitierten Textpassage Liebe und Katastrophe auch in der Darstellung zeitgeschichtlicher Ereignisse gerückt werden, bietet sich ein weiteres Indiz für die Ausweitung der dichterischen Aussage im Sinne einer Generalisierung, wie sie in dem Saar-Zitat angedeutet wird. Anders als in den bisher genannten Textstellen, die - wie im Falle Wiens und Prags - der Beschreibung eines bestimmten Raumes galten und bei denen der zeitgeschichtliche Aspekt deutlich erkennbar war, begegnet eine weitere Darstellung einer Landschaft, die zwar als in Böhmen gelegen ausgewiesen wird, deren genauere Zuordnung aber nicht möglich ist, wenngleich man zumindest hinsichtlich des geschilderten Schlosses sagen kann, daß etwa Hluboka (Frauenberg) bei Budweis recht genau den von Saar geschilderten Kriterien entspricht. Auch hier steht wieder die Darstellung in einem deutlichen zeitgeschichtlichen - ja zeitkritischen Bezug. Da heißt es im Text: Die Kompagnie, bei welcher Burda [...] und ich standen, hatte einen Marktflecken in der Nähe einer Bahnstation zugewiesen erhalten. Die Gegend war nicht ohne Anmut. Wohlbebaute 171

Felder, saftige Wiesen wechselten mit sanften, schön bewaldeten Höhen ab. [...] Am äußersten Ende des Fleckens führte, nach der Seite abzweigend, eine stattliche Lindenallee zu einem kleinen Schlosse empor, das ganz wie ein mittelalterliches Kastell aussah. Die Ringmauer und der runde, aus mächtigen Quadern aufgeführte Turm, der in einer weiten Plattform endigte, stammten gewiß aus jener Zeit und waren mit sichtlicher Sorgfalt wohl erhalten worden; auch alles später Hinzugebaute zeigte sich den Resten der Vergangenheit möglichst angepaßt. (31,18-30)

Die Beschreibung des Schlosses ermöglicht dessen Zuordnung zu einer bestimmten Richtung des Historismus, die durch den Adel gerade in Böhmen stark vertreten war, nämlich der ursprünglich in England beheimateten Richtung der Neogotik. Es handelte sich dabei um einen Stil, der sich politisch mit dem Programm des freiheitlichen Konservativismus verband, wie er durch die auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Sozialreform führenden Adelskreise vertreten wurde.13 In der Darstellung des Schlosses nun verbindet sich die Schilderung dieses Stils, der alte Ruinen in den Bau einbezieht, mit einer bestimmten Wertung. Um sie wahrzunehmen, reicht es allerdings in diesem Falle nicht aus, etwa wie im Falle der Wiener Ringstraßenarchitektur nach der zeitgenössischen Einschätzung des Baustiles zu fragen. Vielmehr setzt das bessere Verständnis dieser Textstelle die Kenntnis der Schopenhauerschen Schriften voraus, die ja, wie in der Saar-Literatur zur Genüge nachgewiesen, für das Verständnis seiner Dichtung grundsätzlich eine entscheidende Bedeutung besitzen. Liest man nun diesen Abschnitt auf dem Hintergrund einer Schopenhauer-Stelle, die sich im Kapitel Von Dem, was Einer vorstellt befindet, so fallen zunächst Übereinstimmungen auf, die bis in den Wortlaut hineingehen, ohne daß der inhaltliche Zusammenhang unmittelbar ersichtlich wäre. Da heißt es: Der Grundsatz, daß es wesentlicher sei, gefürchtet zu werden, als Zutrauen zu genießen, würde auch, weil auf die Gerechtigkeit der Menschen wenig zu bauen ist, so gar falsch nicht seyn, wenn wir im Naturzustande lebten, wo jeder sich selbst zu schützen und seine Rechte unmittelbar zu vertheidigen hat. Aber im Stande der Civilisation, wo der Staat den Schutz unserer Person und unseres Eigenthums übernommen hat, findet er keine Anwendung mehr, und steht da, wie die Burgen und Warten aus den Zeiten des Faustrechts, unnütz und verlassen, zwischen wohlbebauten Feldern und belebten Landstraßen, oder gar Eisenbahnen.14

Wie in dem Schopenhauer-Zitat „die Burgen und Warten aus den Zeiten des Faustrechts", steht auch das böhmische Schloß inmitten „wohlbebauter Felder", wobei zudem die, ebenfalls mit dem Zitat übereinstimmende, Nähe der Bahnstation auffällt. Im Bezug zu einem Naturzustand, der hier hergestellt wird und in dem jeder „seine Rechte unmittelbar zu vertheidigen hat", will der Dichter offenbar an die Zeiten des Faustrechtes erinnern. So setzt er hier einen Akzent, den wir schon hinter dem Hinweis auf die Ringstraßenarchitektur erkennen konnten und 13

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Zu den soziologischen und kulturhistorischen Voraussetzungen dieses Baustils vgl. Krause und Eggert. Schopenhauer: SW5, S.403.

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der für seine Interpretation des Phänomens des Historismus ebenso bedeutsam wird wie als Gleichnis für bestimmte Tendenzen im Adel: Es wird auf den Hang angespielt, sich zu isolieren, und ebenso auf ein ausgeprägtes Standesbewußtsein, das zum Kampf aller gegen alle führt. Dem Historismus wie dem Faustrecht, so besagt dann eine immanente Kritik, haftet etwas nicht Zeitgemäßes an: Sie stehen im Widerspruch zu den Errungenschaften der modernen Zeit, wirken in einer Epoche der Zivilisation unzeitgemäß, antiquiert.15 Diese Interpretation erfährt eine Bestätigung auch aufgrund des Umstandes, daß die Erzählung in einer Katastrophe endet, die durch ein Duell - und damit durch eine Kampfart, in der das Faustrecht vorherrschend erscheint -, bewirkt wird. Auch darin spiegelt sich eine zeitgeschichtliche Wirklichkeit, die für Saar, wohl nicht zuletzt in seiner Eigenschaft als ehemaliger Offizier, zeitlebens ein Problem darstellte, da das Duell besonders im Militär - aber auch im Adel - eine besondere Rolle spielte, mit der er sich nicht nur in seiner Dichtung, sondern auch als Privatmann intensiv auseinandersetzte. So war er, wie übrigens auch Hugo von Hofmannsthal, Mitglied der Wiener akademischen Anti-Duell-Liga, zu deren Gründung er sich in der zweiten Nummer ihrer Mitteilungen wie folgt äußerte: Gegen das Verwerfliche und Widersinnige des Duells haben sich schon so viele hervorragende Männer ausgesprochen, daß ich mich nur in geziemender Bescheidenheit ihrer Meinung auschließen [sie!] kann. Nur blind fanatische Anhänger des sogenannten „Ehrenpunktes" können für die Aufrechterhaltung jener barbarischen Sitte eintreten. Daß sich aber bei der akademischen Jugend eine „Anti-Duell-Liga" gebildet hat, muß mit hoher Freude begrüßt werden. Denn es ist ein überzeugender Beweis von dem siegreichen Vordringen der menschlichen Vernunft. l6

Verbirgt sich nun bereits hinter den Hinweisen auf den zeitgenössischen Baustil sowie hinter Anspielungen auf zeitgeschichtliche und historische Ereignisse eine tiefere soziale Problematik, so erst recht hinter der Darstellung des Hofballs im vierten Kapitel, bei der, wie wir bereits sahen, die Fürstin Hohenlohe Pate gestanden hat. Saar hatte sich ja in dem Willen, „nichts ganz und gar Unmögliches zu schreiben", im Hinblick auf die Gestaltung der Hofballszene an die Fürstin gewandt, die ihm auch so bereitwillig Auskunft erteilte, daß der Dichter ihr überschwenglich dankte: Innigsten, tiefsten Dank für die so rasche Erfüllung meiner Bitte! Sie haben da gleich selbst ein reizendes Novellenkapitel geschrieben [...]17 15

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Damit kommt nicht zuletzt hier auch ein Geschichtsbild ins Spiel, das dem des Kapitels „Seinesgleichen geschieht" aus Musils Mann ohne Eigenschaften entspricht, das die Geschichte nicht im Sinne eines Entwicklungsprozesses deutet, sondern als stetige Wiederholung des bereits Dagewesenen versteht - ein Beleg mehr für Saars Funktion als „Wegbereiter der Moderne". Mitteilungen der Wiener Anti-Duell-Liga, Nr. 2. Brief vom 13. März 1886; Briefwechsel Hohenlohe, S.lSlf. 173

In der Tat hatte die Fürstin Hohenlohe dem Dichter sehr ausführlich geantwortet und in ihrem Brief einige Details genannt, die dann wirklich Eingang in die Hofballszene fanden. So schreibt sie: Es geht nichts über die Freimaurerei der sogenannten Gesellschaft. Das bescheidenste und vernachlässigteste Komteßchen wird lieber sitzen bleiben, als sich mit einem Tänzer zu zeigen, der nicht von i h r e r W e l t ist, wenn sie ihn nicht persönlich kennt. D e r A d e l ist dabei nicht maßgebend - sondern ein gewisser Nimbus von Elegance. Gewisse Bürgerliche, nicht ganz tadellose Sportsherren, von Gatten und Brüdern adoptiert - werden aufgenommen und mit den eigenen Angehörigen gleich freundlich behandelt. Ein etwas ungelenker, schüchterner Aristokrat aus der Provinz wird ignoriert. Auf den Hofbällen hat von jeher keine strengere Etikette geherrscht wie auf anderen Bällen. Nur die Erzherzoginnen bestellen sich ihre Tänzer. Wenn ein Erzherzog eine Dame engagiert, wird ein früheres Engagement dadurch annulliert. Der Vortänzer, gewöhnlich ein junger Offizier vom Hofstaat, leitet den Kotillon und stellt die Paare auf zu den Quadrillen. Während der Rundtänze steht der sich immer lösende und neu bildende Knäuel der Tanzpaare in einer Ecke des Rittersaales. Längs der Wände, von blütenreichen Gewächsen beschattet, ziehen sich Bänke hin, welche von Damen dicht besetzt sind. Das funkelnde Geschmeide, blendende Schultern, wallende Haare tauchen prächtig aus den Blumen hervor. Nicht tanzende Herren werden meistens aus dem Saal hinausgedrängt können höchstens an den Türen zuschauen oder schlängeln sich peinlich vereinzelt den Damenbänken entlang. Die Estrade für den Hof ist am oberen Ende des Saales angebracht. Die Kaiserin sitzt von Erzherzoginnen und Botschafterinnen umgeben, unter welche sie auch die vornehmsten Damen der Gesellschaft mischt - und abwechselnd zu sich beruft. Der Kaiser und Erzherzoge setzen sich nie. Der Kaiser zirkuliert von Gruppe zu Gruppe; mit scharfem Auge aus weiter Ferne die Personen herauserkennend, die er anzusprechen wünscht. Wer sich ihm geflissentlich in den Weg stellt, wird oft unbarmherzig übergangen - während aus der bescheidensten Ecke einer hervorgesucht wird, dem seine Majestät eine gnädige Anrede zugedacht. So spielt sich die Sache seit Jahrzehnten ab - immer in derselben Pracht und genau denselben Formen.18

Es fällt auf, daß sich die Darstellung der Fürstin hier durchaus nicht auf das Zeremoniell beschränkt, sondern zugleich eine Wertung vornimmt. Schon eingangs spricht sie von der „Freimaurerei der sogenannten Gesellschaft", die ihre eigenen, nicht ganz durchschaubaren Gesetze hat. Auf die Frage des Dichters eingehend, was ein Leutnant zu tun habe, um mit einer Komtesse tanzen zu können, erläutert sie, wie eine Frau von Adel aller Wahrscheinlichkeit nach auf ein solches Ansinnen reagieren würde. Der Fürstin zufolge hängt nun deren Reaktion weniger vom Stand des potentiellen Tänzers ab als vom „Nimbus von Elegance", der ihn umgebe. Damit wird deutlich, daß die soziale Wirklichkeit, die die Fürstin hier schildert, von ähnlichen Tendenzen sozialer Auflösung geprägt erscheint, wie sie innerhalb der Dichtung bereits als verantwortlich für bestimmte Kennzeichen des Baustils festgemacht werden konnten. Dem Streben nach sozialem Aufstieg, das wir im Hinblick auf die Gestaltung der Ringstraße innerhalb der Bürgerschicht beobachten konnten, stand offensichtlich seitens des Adels selbst eine geradezu gegenläufige Bewegung gegenüber: eine Annäherung an die Welt des Bürgers, die 18

Brief vom 10. März 1886; Briefwechsel Hohenlohe, S.149f.

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freilich ihre eigenen Gesetze hat. Es kann also nicht verwundern, wenn Saar im vierten Kapitel auch in dieser Hinsicht die Ausführungen der Fürstin, die sich mit seinen eigenen Erzählabsichten so gut verbinden lassen, aufgreift. Sie verhelfen ihm hier nicht nur zu einer möglichst genauen Wiedergabe des Zeitkolorits, sie tragen auch zu dessen Deutung durch den Dichter bei. So lehnt sich schon der Beginn seiner Hofball-Darstellung sehr weitgehend an die Darstellung der Fürstin an: Der Eintrittssaal war noch ziemlich leer; nur diensttuende Hofchargen, einige höhere Militärs - darunter auch der Adjutant des Fürsten L... , ein noch sehr junger, etwas stutzerhaft aussehender Major - und mehrere Staatsbeamte, welche Ordensritter waren, standen in kleine Gruppen verteilt. Nach und nach aber bewegte es sich immer zahlreicher durch die hohen, weit geöffneten Flügeltüren herein. Es glänzte und flimmerte von gold- und silbergestickten Uniformen, von Ordensbändern und Sternen; die Großwürdenträger des Reiches erschienen, darunter ungarische und polnische Magnaten in reicher, malerischer Nationaltracht. Endlich die Damen: ein blendendes Gewoge von Spitzen, Sammt und Seide, von Blumen und Federn, von Diamanten und Perlen. Entblößte Nacken und Arme schimmerten; stolze, ausdrucksvolle Frauenköpfe tauchten auf, helle und dunkle Augen leuchteten, rosige Lippen lächelten Grüße zu. All das bewegte und drängte sich mehr oder minder rasch dem großen Saal entgegen, der erwartungsvoll die Zuströmenden aufnahm. (20,16-29)

Besonders die letzten Sätze, in denen die „Damen" geschildert werden, weisen bis in den Wortlaut hinein Parallelen zur Darstellung der Fürstin auf, vor allem zu ihrem Satz: Das funkelnde Geschmeide, blendende Schultern, wallende Haare tauchen prächtig aus den Blumen hervor. 19

Saars Darstellung haftet an dieser Stelle allerdings deutlich eine Tendenz der Literatur des Fin de siecle an, die durch eine Vorliebe für das Funkelnde, Gleißende, Schimmernde charakterisiert ist, aus der sich auch die Darstellung von vorzugsweise Blumen, Diamanten und Edelsteinen ergibt - ein Stilmittel, das den trügerischen Charakter allen Glanzes besonders sinnfällig machen will und sich von daher auf den Aussagewert der Szene, in der hinter dem äußeren Glanz der Abgrund klafft, bezieht, so daß der Stil hier im Dienste einer Verstärkung der dichterischen Aussage steht. Was nun die weitere Darstellung des Hofballs angeht, so ist darin besonders hinter der Zeichnung vom Auftritt des Kaisers der Einfluß der Fürstin spürbar: Gleich darauf zeigte sich der jugendliche Monarch, der damals seine hohe Braut noch nicht heimgeführt hatte, eine Erzherzogin am Arm. Hinter ihnen die männlichen und weiblichen Familienmitglieder - dann der gesamte Hofstaat, mit dem Fürsten L... an der Spitze. Der Kaiser geleitete seine Dame nach der Balustrade, woselbst sie im Kreise der übrigen Platz nahm. (21,3-8)

Saar hat sich hier genau an die von der Fürstin genannten Einzelheiten gehalten so nimmt z.B., im Gegensatz zum Kaiser, die Dame auf der Balustrade Platz; daß 19

Ebd. 175

es sich um eine Erzherzogin handelt, geht dabei wohl vor allem auf die Aussage der Fürstin zurück, daß sich die Erzherzoginnen in unmittelbarer Nähe der Kaiserin aufhielten - von der selbst hier ja noch nicht die Rede sein kann, weil Franz Joseph, wie der Erzähler auch ausdrücklich betont, zu diesem Zeitpunkt noch nicht verheiratet war. In dem Zeitraum, von dem hier die Rede ist - nämlich vor der „kaiserlichen Vermählung" im Jahre 1854 - war die Erzherzogin Sophie, die Mutter des Kaisers, die mehr oder minder heimliche Kaiserin - ein Aspekt, auf den hier vielleicht in versteckter Weise angespielt werden soll. Weiterhin scheint es, als ob in Saars Darstellung vom Auftritt des Kaisers die geradezu ironisch anmutende Formulierung der Fürstin durchschimmere, in der sie bemerkt, daß aus der bescheidensten Ecke einer hervorgesucht wird, dem seine Majestät eine gnädige Anrede zugedacht.20 Von entsprechender gottähnlicher Würde erscheint der Monarch bei Saar, als er den Saal betritt. Sein bloßes Nahen löst in dem allgemeinen Lärmen auf der Stelle absolute Stille aus. Dabei fällt auch der sakral anmutende Charakter der an dieser Stelle des Textes verwendeten Sprache auf, die an Gen 1,4-8 erinnert: Als nun auch wir ihn betraten, standen wir vor einer dichten Menge, die keinen Überblick gestattete, während der Schall der verworrenen Stimmen wie fernes Meeresbrausen an unser Ohr schlug. Plötzlich trat tiefe Stille ein, und die Massen teilten sich. Eine Tür hatte sich geöffnet, auf deren Schwelle der Zeremonienmeister erschien, das Nahen des Hofes ankündigend. (20,39-21,3)

Der Kaiser in seinem Verhältnis zum Volk wird hier gottähnlich gezeichnet - ein Hinweis auf ein adliges Standesbewußtsein, das in einem gewissen Widerspruch zu den oben beschriebenen Auflösungserscheinungen steht, andererseits aber doch auch wieder den in der Gesellschaft zu beobachtenden Isolationstendenzen der einzelnen sozialen Schichten entspricht, für die der Kampf aller gegen alle als charakteristisch erkannt wurde. Die zentrale Bedeutung der Hofballszene aber liegt sicher weniger in der Zeichnung des Hofballzeremoniells selbst, sondern sie beruht auf der Rolle, die Burda in ihr zukommt. Auch in dieser Hinsicht hatte Saar sich wohl von der Fürstin inspirieren lassen, die über die „nicht tanzenden Herren" geschrieben hatte: Nicht tanzende Herren werden meistens aus dem Saal hinausgedrängt - können höchstens an den Türen zuschauen oder schlängeln sich peinlich vereinzelt den Damenbänken entlang.21

Entsprechend heißt es von Burda: Ich spähte nach Burda und fand ihn an einem Pfeiler stehen, den er auch hier, hart an einem Spiegel, zu behaupten gewußt hatte. Wie ich ihn so betrachtete, der, ein Bild starrer Erwartung, vor sich hinblickte, kam mir seine Erscheinung weit weniger vornehm und anziehend 20 21

Ebd Ebd.

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vor, als sonst; er wurde offenbar von der ganzen Umgebung in den Schatten gestellt. Auch fiel mir jetzt zum erstenmal auf, daß seine Gesichtszüge eigentlich unbedeutend waren und daß er eine sehr kleine, gedrückte Stirn hatte. (21,18-25)

In der Tat wirkt Burda in dieser Darstellung „peinlich vereinzelt", sein Leiden erscheint hier geradezu sinnenfällig: Es ist das Leiden eines Menschen, der sich aus der Gesellschaft, in die er integriert werden möchte, ausgeschlossen sieht. Dabei zeigt sich zugleich der innere Grund dieser Nicht-Annahme, insofern diese nicht nur in Burdas Persönlichkeit, seinem Wahn, begründet ist, sondern auch das Verhalten des Adels selbst betrifft: Burda wird abgelehnt, da ihn offensichtlich nicht jener „Nimbus von Elegance" umgibt, der Voraussetzung für seine Beachtung wäre. So wird denn auch seine Erscheinung an dieser Stelle zum erstenmal als „eigentlich unbedeutend" bezeichnet. Es zeigt sich so in der Darstellung des Hofballes, die wohl stärker als jede andere Szene - betrachtet man ihre Entstehungsbedingungen -, der Realität nachempfunden wurde, daß auch sie in den Dienst der Vergegenwärtigung einer sozialen Wirklichkeit gestellt ist, die einerseits von Isolierungstendenzen, andererseits von sozialen Auflösungserscheinungen gekennzeichnet ist: Es gibt - neben einem ausgeprägten Standesbewußtsein - Tendenzen aller sozialen Schichten, sich miteinander zu vermischen. Für diese Tendenzen ist aber weniger eine allgemeine Harmonisierung als der ständig gegenwärtige Kampf um Rang und Ansehen charakteristisch. Die Fuktion zeitgeschichtlicher Bezüge in Leutnant Burda ist damit wohl in ihrer wesentlichen Bedeutung deutlich geworden. Allerdings ist zuletzt auch zu beachten, daß sich hinter der Aussage des Dichters von der „Glorifizierung" jener vergangenen Zustände zudem eine Bedeutung verbirgt, die nicht nur die fünfziger Jahre betrifft, sondern auch die Zeit, in der die Erzählung entstand, nämlich die achtziger Jahre. Auf ihrem Hintergrund erweist sich die Projektion in die fünfziger Jahre, in denen Wien noch das alte Wien, Prag noch der internationale Kurort war, als von einer besonderen Funktion bestimmt, nämlich der, in einer für das Fin de Siecle charakteristischen Weise das Verlorene zu besingen, nämlich so, daß darin die Keime einer künftigen Entwicklung bereits durchscheinen.22 Die Zeit, die zwischen den fünfziger Jahren und der Niederschrift der Erzählung vergangen ist, ist also durchaus präsent, ebenso wie kaum abzuleugnen ist, daß die durch die Erzählung immanent erfolgende Deutung von Geschichte auch auf künftige Entwicklungen vorgreifen möchte. Es soll nun zum Abschluß dieses Kapitels von einigen wichtigen, mit der Erzählung korrespondierenden Faktoren dieser Entwicklung gesprochen werden.

22

In dieser Technik schlägt sich das in der Geigerin formulierte, in gewisser Weise als programmatisch zu wertende Bekenntnis des dortigen Erzählers nieder „Ich bin ein Freund der Vergangenheit", das allerdings nicht mißverstanden werden darf in dem Sinne, als liege dem Dichter in irgendeiner Weise an der Wiederherstellung vergangener Zustände.

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Es zeigte sich bereits, daß sich in der Darstellung des Historismus, wie sie in der Erzählung begegnet, eine Haltung spiegelt, in der sich einerseits archaische Verhaltensmuster, andererseits zugleich aber auch moderne Bestrebungen miteinander verbinden; denn der Historismus setzt ja, der immanenten Kritik des Erzählers zufolge, ein soziales Klima voraus, dessen brutaler Charakter in Leutnant Burda durch die Anspielung auf das als archaisch verstandene Faustrecht in den Blick rückt, für dessen schreckliche Konsequenzen das Duell ein deutlicher Ausdruck ist. Für das Aufkommen der Massenbewegungen nun, die auf Dauer der liberalen Ära ein Ende setzen sollten, sind nun ganz ähnliche Tendenzen charakteristisch. Dies sei nun kurz am Beispiel zweier dieser Bewegungen, der deutschnationalen und der zionistischen, denen die in der Erzählung durch die „nationalen Sonderbestrebungen" (35,4f.) in Prag angesprochene nationale Komponente gemeinsam ist, erläutert. Georg von Schönerer (1842-1921), der Führer der Deutschnationalen, weckt insofern Assoziationen im Hinblick auf Leutnant Burda, als er wie dieser - das wird an späterer Stelle unter anderer Fragestellung noch deutlich werden - ein besonderes Verhältnis zum Rittertum besaß. So hielt er sich selbst für den ritterlichkämpferischen Erlöser des deutschen „Volkes" und liebte Beiwörter, die dem Bereich des Rittertums entstammten, wie „Ritter Georg" oder „Ritter von Rosenau". Das offizielle Lied seiner Partei, Ritter Georg - hoch!, wurde nach der Melodie gesungen, mit der die Österreicher ihre militärischen Helden zu ehren pflegten, Prinz Eugen der edle Ritter. Ähnlich wie die Vorfahren Saars, deren Schicksal in Leutnant Burda, anklingt, hatte der Vater Schönerers sein Adelspatent aus der Hand eine dankbaren Kaisers empfangen. Aufschlußreich ist somit das Verhältnis dieses Politikers zur Aristokratie - ein für die Zeit typisches Phänomen, das auch für das Verhalten Burdas konstituierend ist und in dem sich, bei aller Hinwendung zu modernen politischen Ideen, ein gewisser Hang zum Archaischen ausdrückt.23 Für Theodor Herzl, den Begründer des Zionismus, gilt Ähnliches. Obgleich er Saar kaum vor Augen stehen konnte, da er zur Entstehungszeit der Erzählung den Zenit seiner Karriere noch nicht ereicht hatte, schwebt Saar offenbar, und dies bezeugt schon eine geradezu prophetische Einfühlungsgabe des Dichters, eine Erscheinung wie die dieses Mannes vor Augen, wenn er in seiner Erzählung auf Meyerbeers Oper Der Prophet anspielt und damit eine bestimmte literarische Technik einsetzt, von deren Bedeutung für die Erzählung im nächsten Kapitel ausführlich die Rede sein wird. In Meyerbeers Oper wird der Führer einer reformatorischen Bewegung zum König und Gottessohn erhöht. Dies erinnert insofern an ein Phänomen wie Herzl, als für diesen vor allem seine charismatische Aus25

Vgl.dazuSchorske,S.115ff.

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Strahlung charakteristisch war, die ihn zu einer quasi-messianischen Führerpersönlichkeit werden ließ. Damit verband sich für ihn auch die Befürwortung eines bestimmten politischen Stils, der ihn - ganz im Gegensatz zu Saar, der, wie bereits gezeigt, auch öffentlich gegen Duelle Stellung bezog - für die Duellpraxis eintreten ließ. So meinte Herzl, das beste Mittel, allen Anzeichen des Antisemitismus zu begegnen, sei der Rückgriff auf „Gewalt" in der Form persönlicher Duelle mit den Beleidigern der Juden. Herzl stellte die „Ehre" der Juden in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Ein halbes Dutzend Duelle, schrieb er, könne die gesellschaftliche Stellung der Juden sehr heben.24 In der von Herzl begründeten zionistischen Bewegung, die gewissermaßen national und konfessionell zugleich war, läßt sich das im Propheten geschilderte Phänomen der Selbsterhöhung des Menschen sehr konkret fassen. So wurde Herzl, dem im Interesse seiner Sache sehr an der Inszenierung seiner Persönlichkeit gelegen war, direkt als Moses gepriesen. Er selbst berichtet von einem Aufenthalt in Sofia, wo er, der nicht einmal Hebräisch konnte, in einer Synagoge auftrat: Ich stand auf der Altarerhöhung. Als ich nicht gleich wußte, wie ich zu den Leuten mich wenden sollte, ohne dem Allerheiligsten den Rücken zu kehren, rief einer 'Sie können sich auch mit dem Rücken zum Altar stellen, Sie sind heiliger als die Thora'.25

Wir begegnen also im Falle Schönerers wie im Falle Herzls - zwei völlig konträren Gestalten, was ihre weltanschauliche Richtung angeht - politischen Führern von Massenbewegungen, in denen sich restauratives Erbe mit modernen, bzw. nationalen, Zielsetzungen verbindet. Dabei verweisen solche Vorlieben wie die für das Aristokratische im Falle Schönerers und jene für das Duell im Falle Herzls auf solche archaischen Verhaltensstrukturen, die sich durchaus mit dem Phänomen des Cäsarismus in Beziehung setzen lassen, auf das auch, worauf noch einzugehen sein wird, innerhalb der Erzählung selbst durch den Verweis auf Antinous und auf Herkules angespielt ist; denn kennzeichnend für den Cäsarismus ist ja u.a., daß darin die Macht zwar nominell beim Volke liegt, also in modernem Sinne demokratisch verwaltet erscheint, durch Plebiszit aber einem meist diktatorisch auftretenden Herrscher übertragen wurde. Sieht man von den in den achtziger Jahren aufkommenden Massenbewegungen ab, so konnte Saar darüber hinaus in seiner Zeit nicht nur den Versuch einer Identifikation mit der Epoche des Cäsarismus, wie er u.a. durch die Ringstraßenarchitektur belegt ist, bemerken, es fehlte durchaus auch nicht an einem konkreten historischen Beispiel höchsten Ranges für eine solche Identifikation: Der „princepresident" Louis Napoleon, der nach dem Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 umfassende Regierungsvollmachten erhielt, wurde nach einem Plebiszit am 24 25

Zur Gestalt Herzls vgi. ebd., S.138ff. und Gierlak, S.85-89. Herzl: Tagebücher, Bd.l, S.463.

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2. Dezember 1852 zum erblichen Kaiser der Franzosen ausgerufen. Auch hier begegnet wieder das eigenartige Verhältnis zum Aristokratischen, das jetzt nicht mehr im alten Sinne des Geburtsadels definiert ist, sondern sich mit Besitz und Macht ererben läßt, damit aber zugleich seine ursprüngliche Bedeutung mehr und mehr verliert. Die Spiegelung der Wahn-Thematik in Leutnant Burda, die sich bereits in dem ursprünglichen Titel der Erzählung, Vanitas, ausspricht, zeigt sich also zunächst auf dem Hintergrund der Ergebnisse dieses Kapitels als ein Reflex auf die als wahnhaft empfundene historische Wirklichkeit. Das individuelle Schicksal Burdas - das wird sich im weiteren Verlauf der Deutung immer stärker herauskristallisieren - erscheint damit als Paradigma des Schicksals einer Epoche, die sich als dem Untergang geweiht offenbart. Die Ursachen für diesen Untergang werden an bestimmten gesellschaftlichen und historischen Phänomenen festgemacht, die gewissermaßen im „Wahn" ihren Ursprung haben, - und da vor allem im Größenwahn, auf dessen Hintergrund, wie sich nicht zuletzt aus der Deutung der literarischen Anspielungen ergeben wird, auch das Problem der Revolution gesehen wird. Die Verquickung moderner Ziele und archaischer Verhaltensstrukturen, wie sie später auch die faschistische Bewegung kennzeichnen soll, wird dabei in ihrer Bedrohlichkeit faßbar; sie muß, zumal, wenn sie sich im Wahn mit der Haltung der Hoffnung verbindet, in Tod und Katastrophe führen,- ganz, wie Saar es in dem Satz ausdrückt, mit dem er das Fazit seiner Erzählung zieht: Aber ich wollte damit auch das durchaus H o h l e und N i c h t i g e im Leben Burdas - ja der ganzen Zeitperiode kennzeichnen. (BrW 10)

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2. ErzählteLiteratur a. Erzählte Literatur als Spiegelung bestimmter Themenkreise Im vorausgehenden Kapitel, das der Darstellung der erzählten Lebenswirklichkeit galt, erwies sich bereits speziell im Hinblick auf das Schicksal Burdas ein Motiv als bedeutsam, das auch der Ich-Erzähler unter Anspielung auf einen eigenen literarischen Versuch, den er unter dem Einfluß von Ernst Schulzes Bezauberter Rose unternommen habe, herausstellt: das Motiv des „Knappen (der sich allerdings am Schlüsse als Königssohn würde entpuppt haben)", der sich mit einer Königstochter ein „geheimes Stelldichein"(14,6) gibt. In diesem Motiv stellen sich bereits zwei für die Handlung wesentliche Problemkreise dar: die Abstammungsproblematik und die Thematik der Liebe zu einer Adligen. Daß nun diese Problemkreise, die, wie wir sahen, auch zur eigenen Biographie des Dichters einen gewissen Bezug haben, durch die Anspielung auf ein bestimmtes literarisches Werk gleichsam eingeführt werden, ist für das dichterische Verfahren in Leutnant Burda charakteristisch: Wie zu Beginn der Deutung bereits angemerkt, begegnen in der Erzählung literarische Anspielungen, die in engem Bezug zur Erzählhandlung stehen. Mitunter muß dabei der Leser diesen Bezug selbst herstellen, meist wird er aber auch deutlich darauf hingewiesen. Wenn Burda z.B. Theater- oder Opernaufführungen besucht, so beschränkt sich sein Interesse nicht darauf, bei solcher Gelegenheit der Prinzessin zu begegnen an einem Ort, der Adel und Bürger in gemeinsamem Bildungsinteresse zusammenführte. Daß er den Inhalt der Stücke Minna von Barnhelm und Martha ausdrücklich auf sein eigenes Schicksal bezieht, lenkt auch die Aufmerksamkeit des Lesers auf diesen Inhalt; und wenn weiterhin der Erzähler seinerseits Stücke erwähnt, die zwar er selbst, nicht aber Burda zur Kenntnis nimmt, so erscheint auch das auf diesem Hintergrund von Bedeutung. Daneben begegnet dann auch noch die Erwähnung literarischer Werke in einer Weise, die dem Erzähler zur Illustration eigener Gedanken dient: so der Hinweis auf Romeo und Julia im ersten Kapitel und auf Don Quixote im achten. Aber fast immer ist solchen Anspielungen gemein, daß sie das durch die Bezauberte Rose ins Spiel gebrachte Motiv in irgendeiner Weise umkreisen. Dabei finden freilich Akzentverschiebungen statt.

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. Illusion und Realität: Die bezauberte Rose und Don Quixote Die Anspielungen auf die Bezauherte Rose und auf Don Quixote sind durch ihre Position im Text aufeinander bezogen; sie stehen, wenn auch in umgekehrter Richtung, vom mittleren fünften Kapitel etwa gleich weit entfernt, indem der Hinweis auf die Bezauberte Rose im zweiten, der Hinweis auf Don Quixote im achten Kapitel begegnet. Und wenn die Erwähnung der Bezauberten Rose schon deshalb als besonders bedeutsam erscheinen muß, weil darin, obgleich auch versteckt, geradezu das Thema der Erzählung angegeben wird, so verbindet sie mit Don Quixote darüber hinaus eine Thematik, die sich auch schon bei oberflächlicherer Betrachtung als ebenso zentral für die Erzählung Leutnant Burda selbst zu erkennen gibt: das Verhältnis von Illusion und Realität. Dem soll nun im einzelnen nachgegangen werden. Dazu sei zunächst der Inhalt der Bezauberten Rose kurz vorgestellt. Die Fee Janthe verstößt gegen den Beschluß des Schicksals, indem sie sich mit Leontes einen Menschen zum Gatten erwählt. Sie wird dafür durch die Königin der Feen mit der Trennung von ihrem Sohn Alpino und ihrem Gemahl bestraft, hat aber Gelegenheit, gute Werke an Kindern zu vollbringen, die ihrem Sohn gleichen. Am liebsten ist ihr die Tochter des Königs Astolf, Klothilde, die sie Leontes zuführt, als ein Krieg das Leben des Mädchens bedroht. Bei Leontes verliebt sich Klothilde in Alpino, der ein zurückgezogenes Leben als Sänger führt. Als sie nach Beendigung des Krieges heimkehren muß, bleibt Alpino von der Geliebten nur das Pfand einer Rose, die in seinen Händen ein heimliches Leben beginnt. Zuhause sieht sich Klothilde heftigem Werben ausgesetzt. Als gar ein Krieg um sie anhebt, greift Janthe ein, indem sie das Mädchen zu einer Rose verzaubert. Ihre Freier setzen sich nun eine Frist, in der sie die nötigen Gaben, um den Zauber zu lösen, beschaffen wollen. Alpino hingegen, der währenddessen im Land umherirrt, trifft am Tag, da diese Frist ablaufen soll, im Reich des Astolf ein und erfährt von einem Hirten die Ereignisse um Klothide. Daraufhin schließt er sich den Freiern, die um Klothilde werben, an und vermag durch seinen Gesang den Zauber zu lösen. Da plötzlich erscheint die Königin der Feen mit Janthe und Leontes. Sie sieht durch Alpino die Schuld der Eltern gesühnt und gibt ihnen ihr Kind zurück. Schon aus diesem kurzen Handlungsabriß dürfte der märchenhafte Charakter von Ernst Schulzes Stanzenepos hervorgehen. Seiner Erwähnung kommt aber wohl nicht nur die Funktion zu, auf eine bestimmte Motivik anzuspielen, in der sich die Erlebniswelt Burdas spiegelt; dies geht aus den Anmerkungen des Erzählers selbst hervor, der am Ende des dritten Kapitels fast beiläufig berichtet: Als ich endlich einschlief, hatte ich verworrene Träume, in welchen die Gestalten Burdas und der Prinzessin aufs seltsamste mit jenen meines romantischen Gedichtes zusammenflössen, das ich übrigens seither nicht wieder aufgenommen hatte. (19,31-34)

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Der Erzähler bekennt sich hier dazu, selbst die Realisierung der im Epos vergegenwärtigten Traumwelt zumindest im Rahmen seines künstlerischen Schaffens in Erwägung gezogen zu haben. Dies entspricht der Sicht der Bezauberten Rose, an deren Schluß Traum und Leben in eins gesetzt erscheinen, wenn es da heißt: Gestalt und Form strebt alles zu gewinnen, Und blühend tritt in's Leben das Gedicht. Denn was das Herz einst tief und wahr empfunden, Das lebt und bleibt dem großen All verbunden.26

Daß der Erzähler sich dann im folgenden von seiner Dichtung abwendet, ist ebenfalls eine Art Stellungnahme: Sein Dichten ist dem Erleben gewichen, in dem nun die mögliche Harmonie zwischen Poesie und Leben zunehmend in Frage gestellt wird. In welchem Maße dies geschieht, zeigt die Erwähnung des Don Quixote im achten Kapitel der Erzählung. Vordergründig dient sie der Beschreibung Burdas, seines Mutes, „der es für sich allein mit ganzen Heeren aufnahm"(43,20f.). Bei genauerer Betrachtung ergeben sich allerdings hier noch weitere Bezugspunkte, die eine Verbindung zwischen dem Märchenepos und dem Roman des Cervantes herstellen und damit zugleich auch die nun veränderte Sicht des Erzählers deutlich werden lassen: Beide Werke enthalten ritterliche Elemente und als solche natürlich auch eine je spezifische Beziehung zur Welt des Adels. Aber während im Epos das Verhältnis zwischen Poesie und Wirklichkeit harmonisch gesehen wird, wird im Don Quixote gerade der Versuch, die Ritterromane in das Leben zu übersetzen, also die gelebte Literatur, zum Problem, das im Sinne der Desillusionierung thematisiert wird. In den Hinweisen auf beide Werke ist damit die Grundproblematik der Erzählung, die Spannung zwischen Illusion und Realität, in einer Weise reflektiert, in der sie sich zugleich als Spannung von Literatur und Leben zu erkennen gibt - was mit der Handlung der Erzählung insofern korrespondiert, als Burda, Gelegenheitsdichter - wie sein an die Prinzessin gerichtetes Gedicht ja zeigt - und seiner Anlage nach sicherlich wirklicher Dichter, unfähig ist, seine Imagination in der Darstellung zu bändigen und dadurch unter Kontrolle zu bringen, was schließlich die tiefste Ursache für sein Scheitern darstellt.

ß. Täuschung, Verwirrung und Glück: Minna von Barnbelm und Martha Wie die Bezauberte Rose und Don Quixote, so befinden sich auch die Anspielung auf Minna von Bamhelm im dritten und die auf Martha im siebten Kapitel in, von der Mitte aus betrachtet, symmetrischen Positionen. Im Fall des Schauspiels wie der Oper wird jeweils von Aufführungen berichtet, die Burda aufsucht und deren Inhalt er auf sein eigenes Schicksal bezieht; und in beiden Fällen handelt es sich 26

Schulze: Bezauberte Rose, S.KS.

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um Dichtungen mit glücklichem Ausgang. Sie bestärken Burda von daher in seiner Hoffnung auf das eigene Glück. Es fragt sich deshalb zunächst, in welchen Momenten Burda innerhalb der Handlung der Erzählung solche Parallelen erblikken kann. Im Falle der Minna von Barnhelm scheinen die Bezüge zur Handlung recht eindeutig. Lessings Lustspiel, das im Untertitel ja Das Soldatenglück heißt, erzählt bekanntlich die Geschichte des ehrenhaften Majors Teilheim, der, selbst adlig, am Schluß eine Adlige zur Frau gewinnt. Das Stück spielt also im militärischen Milieu, in dem sich auch Burda bewegt; außerdem kommt hier wie dort der Problematik der Ehre, die auch in Burdas Leben Bedeutung hat, eine wichtige Rolle zu. Für Burdas Vorstellungswelt ist insbesondere die Handlungsführung des Dramas wichtig, da ja der glückliche Ausgang der Liebesbeziehung zunächst aufgrund von Tellheims Ehrverständnis in Frage gestellt erscheint. Auch im Hinblick auf die Handlung von Flotows komischer Oper Martha lassen sich Parallelen zu den Wunschvorstellungen Burdas herstellen, die sich hier nicht nur auf das Liebesmotiv beschränken, sondern darüberhinaus auch auf die Abstammungsproblematik bezogen sind. Dies läßt sich anhand der Opernhandlung leicht aufzeigen: Aus Langeweile begeben sich Lady Harriet, Hofdame der Königin Anna von England, und Nancy, ihre Gesellschafterin, zum Marktplatz, um sich dort unter das Volk zu mischen. Hier lassen sie sich von Plumkett und dessen geheimnisumwittertem Pflegebruder als Mägde anwerben - eine Handlung, die Folgen hat, da sich zwischen Plumkett und Nancy auf der einen, Lyonel und der Lady auf der anderen Seite, zarte Bande entwickeln. Dennoch verleugnet die Lady Lyonel in aller Öffentlichkeit und zeiht ihn des Wahnsinns. Als sich am Ende der Oper aber durch einen Ring, den die Lady Lyonel im Auftrag der Königin überbringt, dieser als Sohn des zu Unrecht verbannten Grafen Derby entpuppt, nimmt die Handlung eine Wende. Nun weist Lyonel stolz die Standeserhöhung sowie das Herz der Lady zurück. Diese vermag ihn erst umzustimmen, als sie die Szene auf dem Markt nachstellen läßt und sich bereit erklärt, um seinetwillen allem Glanz zu entsagen. Es ist offensichtlich, daß Minna und Martha - bei aller Verschiedenheit, was den ästhetischen Wert beider Werke angehen mag - in Konstellation und Handlungsführung Parallelen aufweisen, die im Hinblick auf die Handlung Leutnant Burdas zum Teil eine spiegelnde Funktion erfüllen. So ist beispielsweise das Verhältnis Minnas zu ihrer Bediensteten Franziska durchaus mit jenem der Lady zu Nancy in Martha vergleichbar, wobei die Äußerung Burdas im vierten Kapitel: Es gibt doch vertraute Zofen, die man mit derlei beauftragen kann (25,26f.),

auf eine ähnliche Konstellation im Hinblick auf die Umgebung der Prinzessin in Burdas Phantasie hindeutet. 184

In Minna wie in Martha stehen am Ende jeweils zwei Paare, wobei sich die Parallelen sogar bis in den Wortlaut der Dialoge hinein erstrecken. Während nämlich Lessings Lustspiel mit den Worten Werners, die Franziska gelten, endet: Topp! - Über zehn Jahr' ist Sie Frau Generalin oder Witwe!27

besiegelt Plumkett sein Bündnis mit Nancy, der Vertrauten der Lady, mit den Worten: Topp! Mädel, 's gilt der Kauf! 28

In beiden Stücken ist die Liebeshandlung von einem dramatischen Hin und Her bestimmt, das sich aus der Spannung von Stolz und sehnsuchtsvollem Verlangen nährt; in beiden Stücken spielt schließlich auch ein Ring als Erkennungszeichen eine gewisse Rolle. Neben diesem handlungsmäßigen Bezug auf die Erzählung ist im Falle Marthas wohl auch ein gattungsgeschichtlicher Aspekt, durch den die Oper auf Leutnant Burda bezogen ist, interessant. Sie hebt sich durch eine bestimmte Wertung des Bürgerlichen von der früheren Tradition ab. In der Zusammenarbeit von W. Friedrich, einem der fruchtbarsten Bühnenautoren um die Mitte des 19. Jahrhunderts, und Saint-Georges entstand hier ein Text, der die Oper als Dokument einer Entwicklung innerhalb ihrer Gattung erscheinen läßt, in der der Bürger literaturfähig wird und bürgerliche Tätigkeiten, z.B. das Spinnen, auf die Bühne gelangen können.29 Freilich geschieht dies alles noch ausschließlich scherzhaft: So ist es Langeweile, die die Lady und Nancy dazu treibt, sich zuerst in närrischem Handel auf dem Markt als Dienstmädchen anwerben zu lassen, um sich dann solch bürgerlichen Tätigkeiten wie dem Spinnen hinzugeben; und auch das an sich anstößige Motiv der Heirat zwischen dem vermeintlichen Bürger Lyonel und der Lady wird dadurch relativiert, daß sich im nachhinein die adlige Abkunft Lyonels herausstellt. Dennoch spiegelt sich in der Oper auch eine soziale Entwicklung, in der sich allmählich die Klassenunterschiede aufzulösen beginnen. In der Oper findet sich so ein Zug repräsentiert, der ebenso die Trivialliteratur jener Zeit, z.B. die „französischen Romane"30, die nach Angabe des Erzählers Burdas Lektüre darstellen und wohl auch seine Wünsche nach sozialem Aufstieg inspirieren, kennzeichnete. Durch die Erwähnung Marthas erscheint also der emanzipatorische Anspruch, der letztlich auch hinter Burdas Streben, dem es ja im Grunde um den sozialen 27 28 29

30

Lessing: Minna, S.102. Flotow: Martha, S.64. Martha ist in einem literarischen Traditionszusammenhang zu sehen, in dem der Bürger zum Opernhelden avanciert. Vgl. dazu Schmidt-Garre, S.120-122. Bei den „französischen Romanen", die Burda liest (10,40), wäre z.B. zu denken an die Romane der Bibliotheque Bleue des 19. Jahrhunderts, in denen vergleichbare Motive begegnen. Vgl. dazu z.B.: Schenda, S.137-153.

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Aufstieg geht, in ironisch-distanzierter Weise spielerisch aufgenommen und gespiegelt. Dieser Anspruch erstreckt sich in der Oper auch noch auf weitere Bereiche; er bezieht sich hier allgemein auf die Welt des Adels wie auch im besonderen auf jene der Frau. So verbindet sich in den Ausrufen Nancys: Verwegener Mann! Jägerinnen zielt! Legt an! Er ist wild, die Jagd ist frei!11

ein amazonenhaftes Erscheinungsbild der Frau mit dem Phänomen des Rollentausches der Geschlechter, indem die Frau nun regelrecht zur Jägerin des Mannes wird - ein Motiv, das insbesondere seit der Zeit der Renaissance ein gängiges Mittel der Adelskritik darstellt. Auch für die Darstellung der Adelswelt in Leutnant Burda kommt diesem Motiv eine gewisse Bedeutung zu. Es erscheint hier im sechsten Kapitel in dem Hinweis auf die „amazonenhaft geschürzte" (32,6) Gräfin, deren gemeinsame Pirschgänge mit dem frisch angetrauten Gatten der Ich-Erzähler mit einem gewissen Befremden bemerkt, und wenn er später den Lakaien des jungen Paares im Wirtshaus kritisch bemerken läßt: [...] So geht's, wenn man keine männliche Dienerschaft mitnimmt! (34,1 Of.),

so läßt sich auch darin ein ausdrücklicher Hinweis auf eine dominante Stellung der Frau innerhalb dieser Adelswelt erkennen. Darüber hinaus ist wohl auch die Tatsache, daß der Erzähler ausdrücklich auf das „glattrasierte Doppelkinn" (33,31) des Lakaien, dessen Erscheinungsbild damit eines wesentlichen männlichen Attributes, nämlich der Bartes, entbehrt, hinweist, in diesen Zusammenhang einzuordnen, und zwar so, daß, während die Frau sich betont eigentlich männlichen Domänen zuwendet, der Mann - zumindest im Hinblick auf sein Aussehen - auf seine spezifischen Charakteristika zugunsten eines eher weiblichen Ausdrucks verzichtet. In der Renaissance verband sich mit dem Motiv des Rollentausches der Geschlechter der Vorwurf der Blasphemie32 und damit einer Form des Größenwahns, ein Vorwurf, der im Kontext der Erzählung - denkt man zum Beispiel an die Wertung der Ringstraßenarchitektur sowie allgemein des Historismus durchaus denkbar erscheint, da er im Hinblick auf eine weitere Ebene die bereits beobachteten dichterischen Aussageintentionen stützen würde.

31 32

Flotow: Martha, S.47. Vgl. dazu z.B. Aurnhammer, S.113.

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. Ruhmsucht, Ehre und Verblendung: Der Prophet und Emani Neben den Aufführungen, die Burda bewußt wahrnimmt und auf sein eigenes Schicksal bezieht, findet sich in der Erzählung auch die Erwähnung zweier Opern, die ebenfalls auf dem Spielplan stehen und aufgeführt, von Burda aber nicht wahrgenommen werden: im dritten Kapitel Meyerbeers Oper Der Prophet, die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Tat, wie vom Erzähler angesprochen, eine große Zugkraft auf das Publikum ausübte, weiterhin im fünften Kapitel Verdis Oper Ernani. Es stellt sich nun die Frage, ob auch diese Erwähnungen, deren Verknüpfung mit der Vorstellungswelt Burdas im Text in keiner Weise angesprochen wird, in irgendeinem Bezug zur Handlung der Erzählung stehen. Ein solcher Bezug nun ist im Falle des Propheten nicht ohne weiteres ersichtlich, spielt darin doch die Liebeshandlung nur eine untergeordnete Rolle, und das Motiv der Abstammung begegnet scheinbar überhaupt nicht. Erst bei genauerem Hinsehen offenbart sich der Bezug zu Burdas Schicksal: Im Mittelpunkt der Oper, in der sich die religiöse Thematik mit einer Sozialrevolutionären verbindet, - das Schloß wird hier gleich zweimal in Brand gesetzt,steht der Wiedertäufer Johann von Leyden, dessen ungewöhnliche Ruhmsucht sich in seinem Krönungstraum, in seiner Tätigkeit als Prophet und schließlich in seiner Selbsterhöhung zum König und Gottessohn offenbart. Insofern zeigt sich hier in gewisser Weise eine Parallele zu Minna, da dieses Lustspiel um das Motiv der Ehre kreist und damit ein Charakteristikum auch Burdas, nämlich seine „Empfindlichkeit auf den sogenannten Ehrenpunkt", spiegelt. Das in Minna zwar in Frage gestellte, die Persönlichkeit Tellheims jedoch nicht diskreditierende Ehrverständnis erscheint im Propheten ins Negative gesteigert und verkehrt. Entsprechend kann die Oper auch keinen glücklichen Ausgang finden: Der Held nimmt sich am Ende gemeinsam mit seiner Mutter Fides das Leben, wobei für seine Tat das Motiv der Sühne ebenso mitverantwortlich ist wie das persönlicher Rache. Im Hinblick auf die Beziehung, die zwischen dem Propheten und Leutnant Burda besteht, ist nun auch die Position der literarischen Anspielung von Bedeutung. Durch ihre Position in demselben Kapitel, in dem sich auch Minna erwähnt findet, wird eine thematische Berührung zwischen diesen beiden Werken unterstrichen; es ist darüber hinaus aber auch ein bestimmter Aspekt der Burda-Geschichte, der durch die Erwähnung des Propheten gerade im dritten Kapitel gespiegelt wird: Hier nämlich erscheint das Abstammungsmotiv, in dem wir bereits ein zentrales Thema der Erzählung erkannten, unter einem ganz bestimmten Aspekt, da Burda in diesem Kapitel das Schicksal seiner vermeintlichen aus Böhmen vertriebenen Vorfahren näher beschreibt. Diese hätten, so berichtet er, „an der Seite des sogenannten Winterkönigs gekämpft"(18,3f.), seien aber nach der Schlacht am Weißen Berge von Ferdinand dem Zweiten ihrer „Güter entsetzt und gezwungen worden", das Land zu verlassen (18,5). Indem hier, wie im Propheten, eine refor187

malerische Bewegung ins Feld geführt wird, erscheint auch die Gestalt Burdas im besonderen Licht. Sein Name, der, wie bereits erwähnt, aus dem Polnischen übersetzt, „Krawall" bedeutet, ist also mit Bedacht gewählt und auf eine auch bei ihm selbst zu beobachtende Tendenz zum Aufständischen bezogen. Es läßt sich auf diesem Hintergrund feststellen, daß das bereits durch die Erwähnung der Martha aufleuchtende emanzipatorische Moment auch von hier aus eine Bestätigung findet. Diese Beobachtung läßt sich durch die Analyse der Bedeutung, die der Erwähnung des Emani zukommt, noch untermauern. Die Oper, die um den Begriff der ritterlichen Ehre, wie sie im Spanien des sechzehnten Jahrhunderts verstanden wurde, kreist und auf einer Dichtung Victor Hugos fußt, entstand unter dem Eindruck der französischen Julirevolution und zeigt sich zudem von Schillers Räubern beeinflußt. Dies wird vor allem in der Anlage der Handlung deutlich: Emani, Bandit und Rebell, sieht sich mit der Situation konfrontiert, daß seine Geliebte, Elvira, sowohl vom König - es handelt sich um Karl V. - als auch von Don Silva, ihrem Onkel, zur Frau begehrt wird. Die Handlung kreist nun in weiten Zügen um Ernanis Versuche, seine Braut, die ihn dabei, soweit es in ihren Kräften steht, unterstützt, aus den Händen der beiden Männer zu befreien. Dabei folgt er, wie auch seine beiden Rivalen, den Gesetzen der ritterlichen Ehre, in denen der Zweikampf ebenso wie das Gastrecht und die Treue zum einmal geleisteten Schwur von herausragender Bedeutung sind. Jene Treue wird Ernani zum Verhängnis: Für die Zeit des Kampfes gegen den König, dem die Verletzung der Volksvertretung vorgeworfen wird, solidarisiert er sich mit Silva, muß diesem allerdings versprechen, ihm danach sein Leben auszuliefern - eine Zusage, die Ernani durch Eid bekräftigt. Am Ende der Oper, nachdem Emanis adlige Herkunft offenbar geworden ist und der König, inzwischen zum Kaiser ausgerufen, in seiner neu gewonnenen Würde ihn und Elvira huldvoll begnadigt, so daß die beiden ihre Hochzeit feiern können, taucht der maskierte Silva wieder auf, der Ernani an seinen Schwur erinnert und das Leben von ihm fordert. Ernani will nicht wortbrüchig werden und liefert sich ihm aus. Elvira folgt Ernani aus Liebe in den Tod. Daß das Ehrverständnis, das letztlich für Ernanis Tod verantwortlich ist, innerhalb der Oper selbst problematisiert wird, geht aus einer Reflexion des Königs hervor, in der in einem Zug die Nichtigkeit der Ehre wie die Nichtigkeit alles Vergänglichen genannt werden: Am Grab, wo Ruhm zu nicht geworden, will jener Mörder Stahl den König morden! Scepter, Diademe und Taten, die Schönheit, Jugendzier, ihr seid nur Schatten! Schwächliche Kähne auf dem Meere leicht untersinkend, wie das Phantom der Ehre! Mancher hofft, dass den Nachruhm er erhasche; er liegt im Grabe; ... und was bleibt über? Asche! Ihr holden Jünglingsträume! Larven seid ihr und Lügen! hab' euch erstickt im Keime; ihr könnet nicht dem Mann genügen [...]" 33

Emani, Beginn des dritten Aktes.

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Die Erwähnungen Ernanis sowie des Propheten stehen also offensichtlich vor allem dadurch in einem Bezug zur Burda-Handlung, daß hinter ihnen eine Problematisierung des Ehrverständnisses erkennbar wird. Diese ist in einen Kontext gestellt, der auf dem Hintergrund der Bedeutung des Namens Burdas sowie der Geschichte seiner Vorfahren durchaus nicht zufällig erscheinen kann: Aufstand und Revolution.

. Zufall, Irrtum und Tod: Ernani und Romeo und Julia Mit der Thematik der Ehre ist die Bedeutung, die der Erwähnung Emanis auf dem Hintergrund der Handlung der Erzählung zukommt, nur zum Teil genannt; denn anders als im Propheten begegnen wir auch hier wiederum einem Motiv, das in ähnlicher Weise bereits in der Bezauberten Rose und in Martha enthalten ist: Ernani entpuppt sich im Verlauf der Handlung als Adliger. Das Motiv steht hier freilich unter negativem Vorzeichen, da die Handlung ja keinen glücklichen Ausgang findet. Es hat so den Anschein, daß in dieser Oper sämtliche Motive, von denen in den anderen genannten Literaturdokumenten nur Facetten aufleuchten, gebündelt enthalten seien. Dies gilt nun auch im Hinblick auf ein weiteres Motiv, das ebenfalls in einem in der Erzählung, wenn auch nur beiläufig erwähnten, Schauspiel enthalten ist: in Shakespeares Romeo und Julia. Am Anfang Leutnant Burdas, im ersten Kapitel, findet sich folgender Satz: Dort, unter südlichem Himmel, in der Vaterstadt Romeos und Julias, hatte auch unverzüglich eine dunkellockige Marchesa ihr Auge auf den schmucken Krieger geworfen und mit ihm einem eifersüchtigen, der österreichischen Fremdherrschaft äußerst abholden Krieger zum Trotz - ein höchst leidenschaftliches Verhältnis begonnen, bei welchem es an nächtlichen Zusammenkünften mittels Strickleiter, blutigen Überfällen von Seiten des Marchese usw. nicht gefehlt haben sollte. (7,10-15)

Durch die Erwähnung der Shakespeareschen Tragödie werden hier zum einen Assoziationen an eine romantische Atmosphäre geweckt, zum ändern erscheint die Anspielung aber auch als eine Vorausdeutung, die auf Burdas Ende bezogen ist. Wie auch Emani, endet ja die Tragödie mit dem Liebestod der beiden Titelhelden. Gewisse Momente der Handlung, die auch einen Bezug zu Leutnant Burda haben, erscheinen dabei vergleichbar. So begegnet in beiden Werken eine Festbzw. Ballszene, die in schärfstem Kontrast steht zur eigentlichen Handlung34, in der, da keine Harmonie zwischen den jeweiligen gegnerischen Parteien hergestellt werden kann, die Liebenden mit dem Tod bezahlen müssen. Hinter dem Schein äußeren Glanzes, der die Harmonisierung der Gegensätze verspricht, lauert bereits die Katastrophe. 34

Zur Funktion der Ballszenen speziell in Verdis Opern vgl. Kunze, S.269-278.

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Nun ist aber Burdas Tod nicht im eigentlichen Sinne ein Liebestod. Zum einen ist seine Liebe einseitig, sie wird nicht erwidert; zum ändern stirbt er ja allein; und gerade die Szene am Ende der Handlung, in der der Ich-Erzähler seinen sterbenden Freund schildert, beschreibt die Einsamkeit seines Sterbens sehr eindringlich. Dennoch hat es eine gewisse Berechtigung, auch den Tod Burdas als Liebestod zu deuten; denn dieses seit Gottfrieds Tristan bekannte Motiv und Thema vor allem der Romantik, in der es auf das Verlangen nach Entgrenzung ins Unendliche weist, erhält in der Literatur des Fin de Siecle, in die ja, zumindest ihrer Entstehungszeit nach, auch die Erzählung Leutnant Burda einzuordnen ist, eine neue Wertigkeit: Es aktualisiert die Schönheit des Verfalls35 und erfährt von daher auch entsprechende Modifikationen. So steht z.B. in Thomas Manns Erzählung Tristan der Tod des Helden nur noch in einer wahnhaften, fiktiven Beziehung zur Liebe was sich auch von Burda behaupten läßt, der seinen Tod selbst ausdrücklich mit seiner Liebe zur Prinzessin, auf die er durch das Duell Eindruck machen will, in Verbindung bringt. Es läßt sich von daher feststellen, daß das Motiv des Liebestodes, wenn wir die literarischen Anspielungen auf die Handlung der Erzählung beziehen, an drei exponierten Stellen begegnet und insofern offensichtlich als sehr zentral zu werten ist: im ersten Kapitel (Anspielung auf Romeo und Julia), im fünften und mittleren Kapitel (Anspielung auf Emani) und im neunten und letzten Kapitel (Tod Burdas). Seine besondere Wertigkeit, die innerhalb des angesprochenen literaturhistorischen Zusammenhangs auf eine Verfallsthematik bezogen sein müßte, läßt sich auf dem Hintergrund der an Emani bereits angestellten Beobachtungen insofern bestätigen, als hier ja das Problem der Vanitas, der Nichtigkeit und Vergänglichkeit menschlichen Strebens, - von Saar selbst in seinem Brief an Karl Emil Franzos als zentrales Motiv seiner Erzählung benannt,- im Zusammenhang mit der Ehrproblematik thematisiert wird. Darüberhinaus scheint aber die Anspielung auf Romeo und Julia eine weitere Funktion wahrzunehmen, die ein Blick über die Grenzen der Erzählung hinaus, und zwar wieder auf das Werk Schopenhauers, aufdeckt: Dieser äußert sich in seinem Werk Die Welt als Wille und Vorstellung allgemein über die Tragödie und erwähnt in diesem Zusammenhang auch Romeo und Julia. Er schreibt: Darstellung eines großen Unglücks ist dem Trauerspiel allein wesentlich. Die vielen verschiedenen Wege aber, auf welchen es vom Dichter herbeigeführt wird, lassen sich unter drei Artbegriffe bringen. [...] Es kann ferner geschehen durch blindes Schicksal, d.i. Zufall und Irrthum: von dieser Art ist ein wahres Muster der König Oedipus des Sophokles, auch die Trachinerinnen, und überhaupt gehören die meisten Tragödien der Alten hierher: unter den Neuern sind Beispiele: 'Romeo und Juliet", 'Tankred' von Voltaire, 'Die Braut von Messina' [...]* 35 36

Vgl. dazu z.B. Koppen, S.165-256. Schopenhauer: SW2, S.300.

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Hier fällt nun auf, daß gerade die Prinzipien, die Schopenhauer als für die Tragödie unabdingbar ansieht, nämlich Zufall und Irrtum, und die nach seiner Aussage auch in Romeo und Julia zu finden sind, ebenso in Saars Erzählung Leutnant Burda begegnen. So ereignet sich in den Kapiteln drei bis sieben jeweils ein Zufall, dessen irrtümliche Deutung Burda sukzessive ins Verderben führt: Im dritten Kapitel trägt die Prinzessin zufällig ein gelbes Kleid, was Burda auf die Farbe seiner Aufschläge bezieht; im vierten Kapitel bringt er die Zeitungsannonce mit der Anrede „Tellheim" mit seiner Person in Verbindung; im fünften Kapitel wird er durch die Veilchenepisode vollends von der Richtigkeit seiner Einbildung überzeugt; im sechsten Kapitel trifft die Prinzessin in Böhmen ein, und Burda glaubt, sie sei ihm nachgereist; im siebten Kapitel schließlich sieht er in der Ankunft des Generaladjutanten des Kaisers in Prag eine Bestätigung seiner Hoffnungen. Daß dieses Schicksal, zumindest dem Verständnis der Schopenhauerschen Philosophie zufolge, nur als Dokumentation einer Vanitas-Problematik zu verstehen ist, wird auf dem Hintergrund der folgenden Text-Passage deutlich, in der Schopenhauer das Leben mit einem Trauerspiel vergleicht: Das Leben jedes Einzelnen ist, wenn man es im Ganzen und Allgemeinen übersieht und nur die bedeutsamsten Züge heraushebt, eigentlich immer ein Trauerspiel; aber im Einzelnen durchgegangen, hat es den Charakter des Lustspiels. Denn das Treiben und die Plage des Tages, die rastlose Neckerei des Augenblicks, das Wünschen und Fürchten der Woche, mittelst des stets auf Schabernack bedachten Zufalls, sind lauter Komödienscenen. Aber die nie erfüllten Wünsche, das vereitelte Streben, die vom Schicksal unbarmherzig zertretenen Hoffnungen, die unsäligen Irrthümer des ganzen Lebens, mit dem steigenden Leiden und Tode am Schlüsse, geben immer ein Trauerspiel.37

Burdas Tod erscheint somit nicht nur als Liebestod, sondern auch als eine notwendige Folge seines von Zufall und Irrtum bestimmten Lebens, worauf die Anspielung auf Romeo und Julia am Anfang der Erzählung bereits indirekt hinweist.

b. Erzählte Literatur als Gestaltungselement der Erzählung Es ist damit deutlich geworden, daß die in der Erzählung enthaltenen literarischen Anspielungen untereinander ein differenziertes Beziehungsgeflecht bilden, in dem sich wesentliche Motive der Erzählung spiegeln. Durch ihre Position im Text tragen sie darüber hinaus zur Strukturierung der Erzählung bei, zumal sie stets auf die Handlungsführung bezogen erscheinen, so daß sich im Hinblick auf die neun Kapitel folgendes Bild ergibt: Die in symmetrischer Stellung zueinander befindlichen Kapitel zwei und acht entsprechen einander hinsichtlich der literarischen Anspielungen (Bezauberte Rose, 37

Schopenhauer: SW1.S.380.

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Don Quixote) aufgrund des hier gegebenen gemeinsamen Bezuges zur gelebten Literatur, wobei in der Anspielung auf die Bezauberte Rose deren Möglichkeit bejaht, in der Anspielung auf Don Quixote dagegen verneint wird. Durch die Handlungsführung wird in diesen Kapiteln in der Problematik des Adelsnachweises, im Hinblick auf den Burda im zweiten Kapitel seine Hoffnungen äußert, die dann im achten Kapitel endgültig zerstört werden, das in den literarischen Anspielungen aktualisierte Prinzip von Illusion und Desillusionierung aufgegriffen. Im dritten und siebten Kapitel, die wieder in symmetrischer Position zueinander stehen, werden durch die Erwähnung der Minna und Martha Dichtungen genannt, die insofern vergleichbar sind, als ihnen das Problem der Liebe zu einer Adligen gemeinsam ist. Dabei greift Martha auch das Abstammungsmotiv auf, das ebenso in der Bezauberten Rose bereits begegnet, während Minna die gleichfalls wichtige Ehrthematik anspricht, die, ins Negative verzerrt und gesteigert, auch Gegenstand des im dritten Kapitel erwähnten Propheten ist. Innerhalb der Handlung wird im dritten Kapitel durch den Hinweis auf die Schlacht am Weißen Berge das auch im Propheten aufgenommene Reformationsmotiv, in dem das persönliche Problem der Ehre im Hinblick auf seine soziale Dimension ausgeweitet erscheint, aufgegriffen. Im fünften, dem mittleren Kapitel schließlich, in dem in der Erwähnung Ernanis das Motiv der Liebe zu einer Adligen, das Motiv der Abstammung sowie das Problem der ritterlichen Ehre aktualisiert werden, findet dann gleichsam eine Zentrierung der gesamten Motivik statt, die die Mittelposition des Kapitels im Sinne einer motivischen Verdichtung nutzt. Diese wird dann auch durch die Handlungsführung bestätigt, indem hier durch die Präsenz des Liebestodes in der Anspielung auf Emani nicht nur der Rückbezug auf das erste Kapitel und die dortige Erwähnung von Romeo und Julia gesucht wird, sondern auch der vorausdeutende Hinweis auf den Tod Burdas im neunten Kapitel, wobei sich wiederum Kapitel eins und neun von der Mitte aus in symmetrischer Position und natürlich durch ihre Randstellung in exponierter und also besonders akzentuierter Stellung befinden. So erscheint die Todesproblematik als die besonders herausgehobene Thematik, um die die anderen Motive kreisen. Auch dieser Befund wird, wie die zuvor genannten, durch die Handlung selbst gestützt: Der Tod Burdas kann ja als direkte Folge der im fünften Kapitel dargestellten Ereignisse verstanden werden, insofern Burdas Glaube, die Veilchen, die er in seiner Tasche findet, stammten von der Prinzessin, den für seinen Tod verantwortlichen Wahn endgültig besiegelt. Auf symbolischer Ebene bestätigt sich diese Deutung durch die in diesem Kapitel begegnende Zeichnung der Prinzessin, die, da ihr sogar noch in einem weiteren Sinne eine Funktion zukommt, hier noch kurz untersucht werden soll. Da heißt es im Text: 192

Es wurden drei kleine Stücke gegeben. Während des ersten blieb die Loge leer; bei Beginn des zweiten aber - ich traute kaum meinen Augen - erschien wirklich die Prinzessin. Und zwar ganz schwarz gekleidet - und allein. [...] Sie sah ganz bleich und angegriffen aus. In der Hand hielt sie einen kleinen Veilchenstrauß, welchen sie von Zeit zu Zeit, den Duft einatmend, nahe vor das Antlitz brachte. (28,14-23)

In der Zeichnung der Prinzessin lassen sich zwei Aspekte unterscheiden: Zum einen erscheint sie hier als fragiles Wesen. Aufgrund der gerade erst überstandenen Masernerkrankung wirkt sie angegriffen und leidend, worauf der Erzähler ausdrücklich hinweist. Damit wird ein Aspekt ihres Erscheinungsbildes hervorgehoben, der bereits im dritten Kapitel, das ja auch aufgrund seiner literarischen Anspielungen mit dem fünften Kapitel verbunden ist, in der Erwähnung ihres blaßgelben Kleides anklang, da hier die ursprünglich das Königtum symbolisierende Farbe stark gedämpft, in ihrer vitalen Strahlkraft eingeschränkt, erscheint. Durch die Trauerkleidung, die die Prinzessin im fünften Kapitel trägt, wird nun die Assoziation an den Tod auch auf der Ebene der Handlung unmittelbar geweckt, so daß hier etwas ganz Eigentümliches geschieht: die Funktion, die die Prinzessin in dieser Szene im Hinblick auf die weitere Handlung übernimmt, ohne diese im eigentlichen Sinne, d.h. aktiv, zu beeinflussen - denn im Grunde ist ja nicht sie, sondern der Zufall tätig, - wird hier durch ihr Erscheinungsbild unterstrichen. Wenn man nun die Rolle der Prinzessin auf dem Hintergrund der um die Jahrhundertwende verbreiteten Motivik deutet, so erscheint sie hier als Femme fatale und Femme fragile zugleich: als angegriffene und leidende Frau einerseits, andererseits als Todesengel bzw. Schicksalsgöttin im Hinblick auf das weitere Schicksal Burdas, dem sie tatsächlich zum „Schicksal" wird. Diese Symbolik nun, die sich vordergründig nur auf das Schicksal Burdas bezieht, erhält bei näherem Hinsehen wohl auch eine politische Dimension: Gelb und Schwarz, die Farben, in denen die Prinzessin im dritten und im fünften Kapitel auftritt, waren die Kaiserfarben. Daß die Prinzessin im dritten Kapitel einen im Gegensatz zu ihrem „blaßgelben" Kleid - goldgelben Fächer in der Hand trägt, scheint diese Symbolik zu stützen; denn gerade Goldgelb ist ja eine königliche Farbe. Verfolgen wir diesen Gedanken weiter, so erscheinen hier in der Symbolik das private Schicksal Burdas und das politische Schicksal der Monarchie in eins gesetzt: Beide werden auf dem Höhepunkt der Handlung, im fünften Kapitel, in dem sich verschiedene Handlungs- und Motivstränge vereinen, im Sinne einer Untergangssymbolik zusammengefügt. Die Tendenz zur Generalisierung, die Saar in seinem Brief an Franzos mit der Behauptung, er habe nicht nur das „Hohle und N i c h t i g e im Leben Burdas", sondern auch im Leben der „ganzen Zeitperiode"(BrW10) darstellen wollen, für seine Erzählung in Anspruch nimmt, erfährt also von hieraus eine weitere Bestätigung. Sie ist vor allem in Motivik und Symbolik immer wieder gegenwärtig.

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3. Erzählte Imagination a. Burda Im vorausgegangenen Kapitel über die „erzählte Literatur" konnte gezeigt werden, daß bestimmte Problemkreise, die in näherem Zusammenhang mit der VanitasThematik stehen, durch die literarischen Anspielungen innerhalb der Novelle in verschiedenen Facetten aufleuchten: das Problem von Ehre und Verblendung, das Problem der Abstammung sowie das Problem der Liebe. Es ist nun in einem weiteren Schritt zu fragen, in welcher Weise sich in diesen Problemkreisen tatsächlich das Schicksal Burdas spiegelt. Wenden wir uns also der Darstellung Burdas innerhalb der Erzählung zu, so fällt zunächst auf, daß der Dichter sich für seine Charakterisierung offensichtlich an den poetologischen Forderungen Schopenhauers orientiert, der im dritten Buch seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung im Hinblick auf die „Aesthetik der Dichtkunst" folgendes schreibt: Der dem Drama mit dem Epos gemeinschaftliche Zweck, an bedeutenden Charakteren in bedeutenden Situationen, die durch beide herbeigeführten außerordentlichen Handlungen darzustellen, wird vom Dichter am vollkommensten erreicht werden, wenn er uns zuerst die Charaktere im Zustande der Ruhe vorführt, in welchem bloß die allgemeine Färbung derselben sichtbar wird, dann aber ein Motiv eintreten läßt, welches eine Handlung herbeiführt, aus der ein neues und stärkeres Motiv entsteht, welches wieder eine bedeutendere Handlung hervorruft, die wiederum neue und immer stärkere Motive gebiert, wodurch dann, in der der Form angemessenen Frist, an die Stelle der ursprünglichen Ruhe die leidenschaftliche Aufregung tritt, in der nun die bedeutsamen Handlungen geschehen, an welchen die in den Charakteren vorhin schlummernden Eigenschaften, nebst dem Laufe der Welt, in hellem Lichte hervortreten.38

Entsprechend diesen Forderungen findet sich Burda am Beginn der Erzählung gleichsam im Ruhezustand gezeichnet, bis mit der Unterschriften-Episode ein „auslösendes Moment" gesetzt ist, an dem sich die Handlung entzündet, die dann immer mehr im Sinne einer dramatischen Entwicklung gesteigert wird. Die erste Aussage, durch die Burda charakterisiert wird, findet sich bereits im ersten Abschnitt des ersten Kapitels. Da heißt es, Burda erscheine „in Anbetracht seiner Charge nicht mehr allzu jung, er mochte sich bereits den Dreißigern nähern"(5,3f.). Weiterhin findet er sich als „tüchtiger, verwendbarer Offizier" (5,8) beschrieben, der sich, wie es heißt, „durch allerlei Lektüre eine Art höherer Bildung erworben" (5,9) habe, „die er sehr vorteilhaft mit feinen, weltmännischen Manieren zu verbinden" (5,9f.) wisse. 38

Schopenhauer: SW2, S.494.

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Der zweite Abschnitt des ersten Kapitels berichtet dann über Burdas zur Schau getragene „sichere Haltung" (5,12), über seine Hilfsbereitschaft und sein ausgeprägtes Ehrgefühl, das sich in seiner Haltung gegenüber dem sogenannten Korpsgeist, seiner „peinlichsten Empfindsamkeit" (5,16) „in allem, was den Ehrenpunkt betraf" (5,16f.), ausdrückt und ihn, wie der Ich-Erzähler berichtet, schon häufiger in Duelle verwickelt hat. Der Abschnitt schließt mit dem Satz: Infolge dessen wurde er ein wenig gefürchtet, aber auch um so mehr geachtet, ohne daß er dadurch anmaßend und hochfahrend geworden wäre, wenn es gleichwohl dazu beitrug, die etwas melancholische Würde seines Wesens zu erhöhen. (5,19-22)

Diese an sich beiläufig erscheinende Aussage muß auf dem Hintergrund schon angestellter Beobachtungen doch als von einigem Gewicht erscheinen. So sahen wir bereits, daß sich anläßlich der Darstellung des gräflichen Paares im sechsten Kapitel hinter der Beschreibung des von dem Paar bewohnten Schlosses ein versteckter Hinweis auf das mittelalterliche Faustrecht und dessen Deutung durch Schopenhauer verbarg. In diesem Zusammenhang erschien der „Grundsatz, daß es wesentlicher sei, gefürchtet zu werden, als Zutrauen zu genießen"39 bedeutsam. Auch Burda in seiner Empfindsamkeit im Hinblick auf den sogenannten Ehrenpunkt zeigt sich also offenbar von diesem Grundsatz bestimmt, was sicher schon an dieser Stelle ein fragwürdiges Licht auf seine sonst glänzend erscheinende Gestalt zu werfen vermag. Hinzu kommt hier aber auch der Hinweis auf seine „melancholische Würde" (5,21), der deshalb bedeutsam ist, weil er Burda in Bezug zu zwei Gestalten setzt, mit denen er an späterer Stelle ausdrücklich verglichen wird und deren Charakter sicher ebenfalls hilfreich sein kann, will man die Gestalt des Titelhelden besser verstehen: Antinous und Don Quixote. Auf den Vergleich mit Don Quixote wurde bereits im Rahmen des vorausgehenden Kapitels hingewiesen: Burda erinnert den Ich-Erzähler während eines Gespräches, das er mit ihm vor dem Duell führt, gerade an diese literarische Gestalt. Im Text heißt es: Was er da sprach, war keineswegs Prahlerei. Es entsprang, das fühlte ich, wirklichem Mute, wenn auch vielleicht dem Mute des Don Quixote, der es für sich allein mit ganzen Heeren aufnahm. (43,18-21)

Unmittelbar vor dem Beginn des Duells vergleicht der Ich-Erzähler Burda, der mit seiner zarten weißen Haut, seinen geschmeidigen, etwas weichlichen Formen an die Büste des Antinous mahnte (45,32f.),

mit einer Gestalt der griechischen Mythologie, Antinous. Wie stark bereits im ersten Kapitel diese Vergleiche, wenn auch indirekt, intendiert sind, geht auch noch aus weiteren Hinweisen auf körperliche Merkmale Burdas hervor, die ihn deutlich in Beziehung zu den beiden genannten Gestalten setzen. Hier sind seine „auffallend schönen großen Augen, die von langen Wimpern eigentümlich be39

Schopenhauer: SW5, S. 403.

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schattet waren"(5,29f.), zu nennen, da die langen Wimpern in der darstellenden Kunst fast durchweg ein Merkmal des Antinous sind.40 Ähnliches gilt im Hinblick auf Burdas „hohe und schlanke Gestalt" (5,27) und seine „leicht schimmernde Blässe" (5,28) sowie den Schnurrbart - im Roman des Cervantes ebenfalls Charakteristika des Don Quixote. Die Nähe zum Melancholischen, auf die zumindest einige dieser Körpermerkmale zu deuten scheinen, läßt sich denn auch am Schicksal beider Figuren leicht festmachen: Don Quixote, der in dem Willen, die Welt der von ihm so bewunderten Ritterromane in die Realität zu holen, durch die Lande zieht, gibt bei diesem Versuch ein so seltsames Bild ab, daß man ihn den „Ritter von der traurigen Gestalt" nennt. Auch die Gestalt des Antinous umgibt die Atmosphäre des Geheimnisvollen und Melancholischen. Der Jüngling galt als ein besonderer Günstling des Kaisers Hadrian. Anläßlich einer Reise opferte sich Antinous stellvertretend für den Kaiser durch einen Sprung in den Nil, denn er meinte dem damaligen Glauben Tribut zollen zu müssen, der Fluß fordere Menschenopfer. Aus Dankbarkeit erhob ihn der Kaiser posthum zum Gott.41 Wird nun auch von Burda ausdrücklich behauptet, seinem Wesen eigne eine „melancholische" Würde, so mag dafür, auf dem Hintergrund des Wissens Saars um die Schopenhauersche Philosophie, eine vordergründigere Erklärung in der Liebesthematik, die die Erzählung ja sehr bestimmt, zu suchen sein. Die Handlungen Burdas, insbesondere die „verborgene Sorgfalt"(6,ll), die er auf sein Äußeres legt, werden vom Erzähler in diesem Zusammenhang gesehen und mit dem Bestreben erklärt, „bei dem anderen Geschlechte den günstigsten Eindruck hervorzubringen"(6,12f.). Für Schopenhauer ist Melancholie ein Merkmal des Jugendalters, da die Jugend im Gegensatz zum heitereren Alter „noch unter dem Frondienst des Geschlechttriebs"42 stehe. Aber des weiteren erweist sich Burdas Melancholie denn auch als eine bestimmende geistige Grundhaltung, aufgrund derer sein Wesen wahnhafte Züge annimmt. Zunächst erscheint in diesem Zusammenhang wiederum, und zwar auch mit Blick auf Schopenhauer, der Vergleich mit Don Quixote als erhellend. Wie Don Quixote liest Burda Romane. Schopenhauer nun schätzt Romane nicht sonderlich, er tut sie als „wertlose Gaukeleien der Phantasie" ab, zählt aber den Don Quixote neben Tristram Shandy, der neuen Heloise und Wilhelm Meister zur „Krone der Gattung".43 Diese Wertung nun ergibt sich aus Schopenhauers Urteil über das Lesen: Die verfrühte Konfrontation mit Romanen, die der „Einprägung

40 41 42 43

Vgl. Pauly-Wissowa, Art.: Antinoos [Wernicke], Sp. 2440. Zum Verhältnis des Antinous zu Kaiser Hadrian vgl. z.B. Perowne. Schopenhauer: SW2, S.494. Schopenhauer. SW6, S.473f.

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von Vorurteilen"44 Vorschub leiste, lahme die Urteilskraft - ein Irrweg, den Schopenhauer im Don Quixote selbst thematisiert sieht. Ist hier also schon ein indirekter Hinweis auf den Wahn gegeben, so gilt dies erst recht im Hinblick auf das für Burda so bezeichnende Ehrgefühl. Und auch in diesem Zusammenhang scheint ein Rekurs auf Schopenhauer ausgesprochen nützlich. In dem Kapitel Von dem, was einer vorstellt widmet sich Schopenhauer, wie wir bereits sahen, vornehmlich dem Problem der ritterlichen Ehre. Er nimmt hier zunächst eine Bestimmung der „Vanitas", der Eitelkeit, vor, die er als das Streben nach der „günstigen Meinung anderer", nach Ehre, definiert, die aber im Grunde für unser Glück unwesentlich sei. Die Bedeutung der Ehre gerade im militärischen Bereich erklärt er damit, daß die „Weisung, das Ehrgefühl rege zu erhalten", jeder Art von „Menschendressirungskunst" zustatten komme.45 Im folgenden bezeichnet er dieses Streben dann sogar als „Wahn", eine Aussage, die er mit der in ihm enthaltenen Verkehrung der eigentlich maßgeblichen Wertordnung begründet: [...] Dieser Wahn bietet allerdings Dem, der die Menschen zu beherrschen, oder sonst zu lenken hat, eine bequeme Handhabe dar; weshalb in jeder An von Menschendressirungskunst die Weisung, das Ehrgefühl rege zu erhalten und zu schärfen, eine Hauptstelle einnimmt: aber in Hinsicht auf das eigene Glück des Menschen, welches hier unsere Absicht ist, verhält die Sache sich ganz anders, und ist vielmehr davon abzumahnen, daß man nicht zu viel Werth auf die Meinung Anderer lege. Wenn es, wie die tägliche Erfahrung lehrt, dennoch geschieht, wenn die meisten Menschen gerade auf die Meinung Anderer von ihnen den höchsten Werth legen und es ihnen darum mehr zu thun ist, als um Das, was, weil es in i h r e m e i g e n e n B e w u ß t s e i n vorgeht, unmittelbar für sie vorhanden ist; wenn demnach, mittelst Umkehrung der natürlichen Ordnung, ihnen Jenes der reale, Dieses der bloß ideale Theil ihres Daseyns zu seyn scheint, wenn sie also das Abgeleitete und Sekundäre zur Hauptsache machen und ihnen mehr das Bild ihres Wesens im Kopfe Anderer, als dieses Wesen selbst am Herzen liegt; so ist diese unmittelbare Werthschätzung Dessen, was für uns unmittelbar gar nicht vorhanden ist, diejenige Thorheit, welche man E i t e l k e i t , vanitas, genannt hat, um dadurch das Leere und Gehaltlose dieses Strebens zu bezeichnen.46

Gerade der letzte Satz, durch den die Eitelkeit als leeres und gehaltloses Streben definiert ist, erscheint in unserem Zusammenhang als ausgesprochen aufschlußreich, ergibt sich hier doch ein fast wörtlicher Bezug zu der bereits mehrfach zitierten Aussage aus dem Brief an Franzos, der zufolge Saar in seiner Novelle das „Hohle und N i c h t i g e im Leben Burdas, ja der ganzen Zeitperiode" habe kennzeichnen wollen (BrWIO). Daß es sich im Falle Burdas tatsächlich um ein derart gehaltloses und nichtiges Streben handelt, in dem in der von Schopenhauer beschriebenen Weise eine im ritterlichen Ehrenkodex begründete Umkehrung der natürlichen Wertordnung vorliegt, in der „das Abgeleitete und Sekundäre" zur Hauptsache wird, geht deut44 45

46

Schopenhauer: SW6, S.669. Vgl. Schopenhauer: SW5, S.373f.

Ebd.,S.376. 197

lieh aus einem Dialog zwischen der Figur des Ich-Erzählers und Burda im dritten Kapitel hervor, wo jener dem Liebesideal Burdas entgegenhält: Aber ich gestehe dir auch offen, daß ich dich, trotz deines idealen Sinnes, den ich stets bewunden, doch für einen Mann gehalten habe, dem ein solch traumhaftes Glück auf die Dauer nicht zu genügen vermag. (17,11-13)

Der Ich-Erzähler fühlt sich hier offenbar einig mit der Auffassung Schopenhauers, daß, wenn wir bei Zeiten die simple Einsicht erlangen, daß Jeder zunächst und wirklich in seiner eigenen Haut lebt, nicht aber in der Meinung Anderer, und daß demnach unser realer und persönlicher Zustand, wie er durch Gesundheit, Temperament, Fähigkeiten, Einkommen, Weib, Kind, Freunde, Wohnort u.s.w. bestimmt wird, für unser Glück hundert Mal wichtiger ist, als was es Ändern beliebt aus uns zu machen.47

Wenn Burda sich auf solchem Hintergrund also als Mann zu erkennen gibt, bei dem eine verfehlte Einschätzung der Wirklichkeit vorliegt, so sind bei ihm auch einige geradezu krankhafte physiologische Merkmale erkennbar, die diesen Befund bestätigen. Da ist es zunächst ein Mangel in Burdas doch sonst so tadellosem Erscheinungsbild, der schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich ziehen muß, der aber vom Ich-Erzähler wie beiläufig erwähnt wird: Es fehlte zwar nicht an Krittlern, welche behaupteten, daß er eigentlich schief gewachsen sei, und wirklich pflegte er beim Gehen die rechte Schulter etwas emporzuziehen. (5,30-32)

Und wieder ist es Schopenhauer, der uns zu einem besseren Verständnis dieses Hinweises verhelfen kann; denn für ihn ist ein solche physiologische Schwäche ein deutliches Zeichen für einen Mangel an intellektuellen Fähigkeiten, eine Ansicht, die er in naturwissenschaftlichen Erkenntnissen begründet sieht. So erklärt Schopenhauer das Phänomen, daß, wie er meint, die „intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen" viel stärker als dessen „moralischer Charakter" nach außen schlügen, damit, daß je größer und entwickelter das Gehirn und je dünner, im Verhältniß zu ihm, das Rükkenmark und die Nerven sind, desto größer nicht nur die Intelligenz, sondern zugleich auch die Mobilität und Folgsamkeit aller Glieder ist; weil diese dann unmittelbarer und entschiedener vom Gehirn beherrscht werden, folglich Alles mehr an einem Faden gezogen wird, wodurch in jeder Bewegung sich ihre Absicht genau ausprägt.48

Diese Theorie muß sich nun im Verständnis Schopenhauers besonders auf den „Gang" und die „Armbewegung" auswirken und führt ihn von daher zu folgendem Resümee: [...] dumme Menschen bewegen sich wie Gliedermänner; an geistreichen spricht jedes Gelenk.49

47 48 49

Ebd.,S.375. Schopenhauer: SW6, S.676. Ebd.

198

Daß Burda gerade „beim Gehen die rechte Schulter etwas emporzieht" (7,32), erscheint auf diesem Hintergrund von eindeutigem Aussagewert. Eine weitere physische Schwäche Burdas, von der berichtet wird, ist seine „gedrückte Stirn"(21,25), und in der Tat kommt für Schopenhauer neben dem Gang auch dem Gesicht eine wichtige Funktion im Hinblick auf die Beurteilung der intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen zu: Viel besser jedoch, als aus den Gesten und Bewegungen, sind die geistigen Eigenschaften aus dem Gesichte zu erkennen, aus der Gestalt und Größe der Stirn, der Anspannung und Beweglichkeit der Gesichtszüge und vor Allem aus dem Auge [...] .M

Daß hinter Saars Darstellung auch hier wohl in der Tat nicht nur eigene Intuition, sondern eine sehr minutiöse Kenntnis der Schriften Schopenhauers steht, geht dabei vor allem aus der Situation hervor, in der sich der Hinweis auf Burdas gedrückte Stirn findet. Der Ich-Erzähler beobachtet hier Burda, der, sich selbst überlassen, regungslos dasteht: Ich spähte nach Burda und fand ihn an einem Pfeiler stehen, den er auch hier, hart an einem Spiegel, zu behaupten gewußt hatte. Wie ich ihn so betrachtete, der, ein Bild starrer Erwartung, vor sich hinblickte, kam mir seine Erscheinung weit weniger vornehm und anziehend vor, als sonst; er wurde offenbar von der ganzen Umgebung in den Schatten gestellt. Auch fiel mir zum erstenmal auf, daß seine Gesichtszüge eigentlich unbedeutend waren und daß er eine sehr kleine, gedrückte Stirn hatte. (21,18-25)

Für Schopenhauer ist eine Situation wie die hier beschriebene ideal, um einen Menschen in seinem tiefsten Wesen wirklich erfassen zu können. So heißt es in den Parerga und Paralipomena im Kapitel „Zur Physiognomik": Denn um die wahre Physiognomie eines Menschen rein und tief zu erfassen, muß man ihn beobachten, wenn er allein und sich selbst überlassen dasitzt. Schon jede Gesellschaft und sein Gespräch mit einem Ändern wirft einen fremden Reflex auf ihn, meistens zu seinem Vortheil, indem er durch die Aktion und Reaktion in Thätigkeit gesetzt und dadurch gehoben wird. Hingegen allein und sich selber überlassen, in der Brühe seiner eigenen Gedanken und Empfindungen schwimmend - nur da ist er ganz und gar er s e l b s t . Da kann ein tief eindringender physiognomischer Blick sein ganzes Wesen, im Allgemeinen, auf ein Mal erfassen. Denn auf seinem Gesichte, an und für sich, ist der Grundton aller seiner Gedanken und Bestrebungen ausgeprägt, der arret irrevocable Dessen, was er zu seyn hat und als was er sich nur dann ganz empfindet, wann er allein ist.51

Dem Hinweis auf Burdas „gedrückte Stirn" ist daher besonderes Gewicht beizumessen; denn er erfolgt in einem situativen Kontext, der für die Aussage des IchErzählers einen hohen Grad an Zuverlässigkeit verbürgt; wie der Hinweis auf Burdas eigentümlichen Gang bestätigt er einen im Ansatz krankhaften Charakter seiner Erscheinung, in dem sich offensichtlich ebenso krankhafte Züge seiner Psyche spiegeln. Diese werden dann mit zunehmendem Fortschreiten der Handlung tatsächlich auch in Burdas Verhalten erkennbar, das dann, auch im eigentlichen medizinischen Sinne, „pathologisch" genannt werden kann. 50 51

Ebd. Ebd.,S.674f. 199

So scheint die Bedeutung, mit der Burda jede auch noch so unauffällige Handlung der Prinzessin belegt, nur auf dem Hintergrund einer krankhaft gesteigerten Aufmerksamkeit verständlich; und auch der Argwohn gegenüber seiner Umwelt, mit dem er seine Enttäuschungen kompensiert - zum Beispiel, wenn er den Historiographen in Brunn für bestochen hält -, kann nur in einer deutlichen Nähe zu einem schon krankhaften Verfolgungswahn gesehen werden. Saar überträgt also seine medizinischen und philosophischen Einsichten auf die Figur Burda, setzt sie gleichsam erzählerisch um. In diesem Zusammenhang wird nun interessant, daß sich Saar in der Entstehungszeit der Novelle mit einem Vortrag auseinandergesetzt hat, den Theodor Meynert, ein Lehrer Freuds und einer der entschiedensten Vertreter der sog. Lokalisationstheorie, unter dem Titel Wahn?2 verfaßt hatte. Auch dieser Vertrag ist auf dem Hintergrund der Lokalisationstheorie zu sehen, die die anatomische Gebundenheit des menschlichen Verhaltens, Handelns und Fühlens, des emotioneilen und geistigen Lebens an das Gehirn vertrat.53 Ein Brief des Dichters an den Wissenschaftler bezeugt, wie sehr Saar sich durch Meynerts Vortrag beeindruckt fühlte: Für die mich so ehrende Übersendung Ihres geistvollen, klaren und daher auch für meine Wenigkeit verständlichen Vortrages „Wahn" (Vortrag, gehalten im Wissenschaftlichen Klub in Wien am 26. Jänner 1885), erlaube ich mir hiermit meinen innigsten Dank auszusprechen. Die kleine Abhandlung war mir auch persönlich interessant, da ich leider in den letzten Lebenstagen meiner armen Frau die Ihrer Begründung entsprechenden Wahngebilde hatte beobachten können. In der Tat wird ja die ganze Menschheit von Größen- und Verfolgungswahn beherrscht und gelenkt.54

Bemerkenswert erscheint hier vor allem der Bezug, den Saar zum eigenen Erleben - Beobachtungen an seiner Frau kurz vor deren Tode - herstellt, sowie die generalisierende Tendenz am Schluß der zitierten Briefstelle, die „ganze Menschheit" werde „von Größen- und Verfolgungswahn beherrscht und gelenkt"; denn in diesen Bemerkungen zeigen sich Verbindungen zu Aussagen, die der Dichter bereits im Hinblick auf seine Erzählung getroffen hat: zu deren Verwurzelung in der eigenen Biographie, zur Vanitas- bzw. Wahnthematik sowie zu dem Anspruch, nicht nur das Leben Burdas, sondern das der ganzen Epoche charakterisieren zu wollen. Zugleich entspricht Saars Ausspruch natürlich auch dem Zeitgeist, der der Wahnproblematik ungewöhnliche Aufmerksamkeit widmete; so findet sich beispielsweise im Wahnmonolog aus Richard Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg der Ausruf: „Wahn! Wahn! Überall Wahn!". Das Werk Lombrosos Genie und Wahn, das den Begriff „Wahn" in seinem Titel führt, erfreute sich außerordentlicher Popularität. Um aber, wie naheliegt, einen eventuellen Einfluß 52 53 54

Meynert: Wahn. Vgl. Wyss, S.47. Zitiert in: Stockert-Meynert, S.252f.

200

Meynerts auf Saars Erzählung nachprüfen zu können, ist es notwendig, dessen Wahntheorie einmal näher zu betrachten, die bereits von modernen psychologischen Einsichten geprägt wird. In seinem Vortrag Wahn - jenem Vortrag, für dessen Übersendung der Dichter ihm in dem zitierten Brief dankt - führt Theodor Meynert den Wahn auf ein Versagen logischer Gehirnoperationen zurück und deutet ihn im Sinne eines Überhandnehmens von Nebenassoziationen: In krankhaften Abschwächungen des Gehirnes reihen sich ungehemmt durch logische Verbindungen, die Nebenassociationen aneinander. Es sind dies Zustände des Wahnes.55

Saar mochte sich diese Aussage auf dem Hintergrund seiner intensiven Auseinandersetzung mit Schopenhauer umso leichter erschließen, als die hier gegebene Definition des Wahns sich insofern mit den Vorstellungen Schopenhauers weitgehend deckt, als auch dieser die Ursache für den Wahn im Intellekt festmacht, also dort, wo die „logischen Verbindungen" entstehen, wobei er allerdings rein psychologisch argumentiert und Wahn im Sinne einer durch den Willen bewirkten Verdrängung deutet. So schreibt er im dritten Buch der Welt als Wille und Vorstellung „Ueber den Wahnsinn": Die im Texte gegebene Darstellung der Entstehung des Wahnsinns wird faßlicher werden, wenn man sich erinnert, wie ungern wir an Dinge denken, welche unser Interesse, unsern Stolz, oder unsere Wünsche stark verletzen, wie schwer wir uns entschließen, Dergleichen dem eigenen Intellekt zu genauer und ernster Untersuchung vorzulegen, wie leicht wir dagegen unbewußt davon wieder abspringen, oder abschleichen, wie hingegen angenehme Angelegenheiten ganz von selbst uns in den Sinn kommen und, wenn verscheucht, uns stets wieder beschleichen, daher wir ihnen stundenlang nachhängen. In jenem Widerstreben des Willens, das ihm Widrige in die Beleuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an welcher der Wahnsinn auf den Geist einbrechen kann. [...] Denn der Intellekt hat seine Natur aufgegeben, dem Willen zu gefallen: der Mensch bildet sich jetzt ein was nicht ist. Jedoch wird der so entstandene Wahnsinn jetzt der Lethe unerträglicher Leiden: er war das letzte Hülfsmittel der geängstigten Natur, d.i. des Willens.56

Schon aufgrund dieser Einsichten ist nachzuweisen, daß hier eine Beziehung zum Schicksal Burdas auf der Hand liegt: Sie besteht in der durch den Willen gesteuerten Wahrnehmung, die selektiv Angenehmes beobachtet, Unangenehmes verdrängt, damit aber immer mehr den Bezug zur Realität verliert. In dem Gedicht, das Burda der Prinzessin zukommen läßt und das man geradezu als Leitsatz der Erzählung verstehen kann, erscheint dieses Phänomen in euphemistischer Formulierung: Soll mir der Stern der Hoffnung nicht erbleichen, so gib, erhab'ner Engel, mir ein Zeichen! (ll,36f.)

Der Begriff „Zeichen" verweist dabei auf Burdas Irrtümer, seine Interpretation der Zufälle; der Begriff „Hoffnung" dagegen steht für seinen Wahn.

55

Meynert, S.91. 5* Schopenhauer: SW2, S.457f. 201

In Ergänzung zu diesem Befund nun lassen sich bei Theodor Meynert Aussagen finden, die das konkrete Verhalten Burdas auch in seinen einzelnen Zügen verständlich erscheinen lassen. So definiert Meynert den Wahn als „gesteigertes Persönlichkeitsempfinden", das sich als „Beachtungswahn" niederschlage, der sich - je nach Stimmung - als Größen- oder als Verfolgungswahn äußere. Er führt dies aus wie folgt: Den Wahnsinnigen haftet die Tendenz an, die zufälligen Vorgänge, die keineswegs um ihretwillen ablaufen, auf sich zu beziehen. Die Mienen der Leute, ihre beziehungslosen Reden auf der Strasse werden durch den Beachtungswahn in Relation zu dem Kranken gesetzt. Das hängt mit hypochondrischer Ueberempfindlichkeit zusammen. Durch die hypochondrischen Gefühle wird die eigene Persönlichkeit gleichsam stärker empfunden, sie erhält mehr noch als im gesunden Zustand die Intensität, durch welche sie sich immer als Zielvorstellung behauptet, welche sich nun alle sonst nebensächlichen Verbindungen von Begebnissen als Angriffsvorstellungen associirt. Dadurch verknüpft sich mit dem Beachtungswahn der krankhafte Verfolgungswahn oder der Grössenwahn, je nach dem Affect, welcher mit dem krankhaften Ernährungsmodus des Gehirnes zusammenhängt. Ich finde es nun nicht am Platze und würde meinen Gegenstand noch weniger, als mir möglich, erschöpfen, wenn ich den Wahn nur in seinen krankhaften Formen aufwiese oder begründete. Die Krankheit schafft überhaupt keine neuen Productionen. Der Krankheit entspricht ein Ausfall an Leistung, und was hier als neues Vorstellungsspiel wahnhaft hervorzutreten scheint, hat seine Grundlagen schon im gesunden Hi rnmechanismus.57

Es ist offensichtlich, daß das Verhalten Burdas weitgehend den von Meynert beschriebenen Phänomenen entspricht. Daß Meynert seine Darlegungen nicht ausschließlich auf Wahnsinnige bezieht, sondern durchaus auch von Übergangsstadien weiß, erscheint in diesem Zusammenhang insofern bedeutsam, als ja auch Burda nicht direkt als wahnsinnig bezeichnet werden kann; die Phase, in der er wirklich so erscheinen müßte, erlebt er nicht mehr. Dennoch läßt sich bei ihm das von Meynert angesprochene gesteigerte Persönlichkeitsempfinden, das sich im Beachtungswahn ausdrückt und „zufällige Vorgänge, die keineswegs um seinetwillen ablaufen, auf sich bezieht", sehr anschaulich beobachten. Es ist Beachtungswahn, wenn Burda glaubt, die Prinzessein trage ein gelbes Kleid, weil Gelb die Farbe seiner Aufschläge ist, wenn er weiterhin annimmt, die im Fremdenblatt ausgedruckte Anzeige, die die Anrede „Tellheim" enthält, gelte ihm, wenn er die Trauerkleidung, die die Prinzessin trägt, im Hinblick auf seine bevorstehende Abreise deutet, oder wenn er annimmt, Theaterstücke bzw. Opern seien mit Rücksicht auf seine Person auf den Spielplan gesetzt. Dagegen zeugt seine Deutung jener Ereignisse, die gegen die Erfüllung seiner Hoffnungen sprechen, von Verfolgungswahn. Dies wird zum ersten Mal anläßlich der Hofballszene deutlich. Als der Erzähler hier den Versuch unternimmt, den ihm vom Adjutanten erteilten Auftrag auszuführen, Burda auf den Boden der Realität zurückzuholen, begegnet ihm dieser äußerst abweisend und weiß schließlich die Situation doch noch in 57

Meynert, S.93f.

202

seinem Sinne zu deuten, indem er sie als Affront seitens der Familie der Prinzessin interpretiert: Nein! Nein! Kein Wort mehr, ich weiß genug. Es kann sein, daß ich mich in letzter Zeit etwas unvorsichtig benommen; vielleicht hat sich die Prinzessin selbst unklugerweise irgendwie verraten - und nun, da man merkt, wie es steht, will man mich ins Bockshorn jagen. O, ich kenne das! (24,20-23)

In ähnlicher Weise deutet Burda den Umstand, daß sein Ersuch um Versetzung in das Adjutantenkorps ebenso wie seine Bemühung um den Adelsnachweis scheitert, als" Intrige". Auf den Umstand, daß er nicht in das Adjutantenkorps berufen wird, wendet er ausdrücklich diesen Begriff an: Dahinter steckt eine Intrigue! (38,27), ruft er aus, während er über den Historiographen, den er mit dem Adelsnachweis beauftragt hat, urteilt: Dieser Mensch ist offenbar bestochen! (40,4).

Diese Ansicht treibt ihn ins Duell und beschwört somit unmittelbar seinen Tod herauf. Schließlich beweist auch Burdas Bekenntnis vor dem Duell: Aber ich vertraue meinem Stern. (45,4) ein, um mit Meynert zu sprechen, „Überhandnehmen von Nebenassoziationen", das dieser in seinem Vortrag als charakteristisch auch für die Astrologie definiert hatte: Der Astrologe lehrt den Wahn, der Mensch habe seinen eigenen Stern.58

Somit ist für die Gestalt Burdas bereits erwiesen, daß sie, wie Saar in der zitierten Briefstelle im Hinblick auf „die ganze Menschheit" sagt, von Wahn „beherrscht und gelenkt" ist: von einem Beachtungswahn, der sich mehr und mehr zu einem ausgesprochenen „Verfolgungswahn" steigert. Zu fragen bleibt noch, ob und inwiefern sich in Burdas Verhalten auch Größenwahn beobachten läßt. Auf symbolischer Ebene ist diese Annahme eindeutig nahegelegt: Der Vergleich Burdas mit der Gestalt des Antinous setzt ihn ja mit einer Figur in Beziehung, deren Erhebung zu den Göttern im Sinne des Größenwahns zu werten ist, und auch auf der Ebene der literarischen Anspielungen wird durch die Erwähnung der Oper Der Prophet ein solcher Zusammenhang hergestellt, da ja der dort im Mittelpunkt stehende Held, Johann von Leyden, sich selbst zum König und Gottessohn erhöht. Die in beiden Fällen begegnende Form des Größenwahns - die Erhöhung des Menschen zu den Göttern - wird auch von Meynert ausdrücklich als Phänomen des Größenwahns formuliert, insofern er in seinem Vortrag, unter Bezugnahme auf den spätantiken Cäsarenwahn, schreibt: Der Cäsar wird Gott, er theomorphosiert sich neben die anthropologisierten Göttergestalten.59 58 59

Meynert, S.97. Ebd. 203

Es ist also aufgrund der Symbolebene davon auszugehen, daß auch Burda in irgendeiner Weise vom Größenwahn betroffen ist. In der Tat kann sein Abstammungswahn, in dem er sich bemüht, einen Geburtsadel nachzuweisen, in diesem Sinne gedeutet werden. Die Schlüsselszene, in der sich dieser Abstammungswahn enthüllt, ist die Unterschriftenepisode. Burda verbindet hier - seinem späteren Bekenntnis dem Erzähler gegenüber ist das zu entnehmen,- mit dem Kürzel „Gf" einen Doppelsinn. Zwar erklärt er seinem Vorgesetzten, er habe mit dem Kürzel seinen zweiten, bei der Taufe nach seinem Vater erhaltenen Vornamen „Gottfried" bezeichnen wollen, insgeheim hofft er aber, seine Abkunft von einem Grafengeschlecht werde sich noch herausstellen. Die übrigen Offiziere registrieren das Verhalten Burdas mit Befremden, worauf der Ich-Erzähler deutlich hinweist: es war, als hätte etwas Fremdes, Unerwartetes seine leuchtende Erscheinung getrübt.(8,33f.) Auch, wenn hier Burdas Verhalten noch nicht eindeutig im Sinne eines Wahns definiert ist, so wird es doch als von normalem Verhalten abweichend und also störend betrachtet. Die weitere Handlung bestätigt dann, daß Burda tatsächlich den Bezug zur Realität verliert und sich dadurch in Gefahr begibt.Welch starke psychologische Einfühlung Saar in seiner Darstellung beweist, läßt ein Blick auch auf die neuere Literatur in diesem Zusammenhang erahnen. Gerade das Faktum, daß Burda - ganz im Sinne jenes oben beschriebenen Größenwahns - nach dem Nachweis seines Geburtsadels, der ja in weitestem Sinne auch mit der Vorstellung besonderer Begnadung verbunden ist, strebt, ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich. So bestätigt Wolfdietrich Sigmund in seinem Aufsatz Ein Weg durch Märchen, Mythos, Wahngebilde, daß gerade die Vorstellung des Geburtsadels für manche Wahnkranke eine besondere Faszination besitzt: Gewisse Wahnkranke (Hebephrene) sagen gelegentlich mit unerschütterlicher Gewißheit, daß sie zwar Pflegekinder ihrer Eltern, in Wahrheit jedoch von sehr hoher oder geheimnisvoller Abkunft seien: „durch Geschlechtsumwandlung Kaiser von Gottes Gnaden", aus einem Baum geboren, aus einem Fürstenhaus als Säugling ausgesetzt. Der kranke Mensch überspielt mit einem derartigen Abstammungswahn sein Krankheitselend, sein armseliges Versagen.60

Stellt sich also Burdas Abstammungswahn an sich als ein Phänomen seines Größenwahns dar, so gilt dies erst recht für das Duell am Ende der Erzählung, in dem die Handlung kulminiert. In ihrer Verbindung zum Kodex der ritterlichen Ehre ist die Duell-Thematik eng mit der Thematik des Größenwahns verbunden, wie sich zeigen wird. Zudem vollzieht sich hier eine Generalisierung der Wahnthematik, insofern diese nun auch für die Erklärung des Verhaltens von Burdas Gegner, von Schorff, heranzuziehen ist. In dem Kapitel Von dem, was einer -vorstellt veranschaulicht Schopenhauer die Bedeutung des ritterlichen Ehrenkodexes, den er ja als Ausfluß der Vanitas ver60

Siegmund, S.175.

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steht, auf dem Hintergrund der Duell-Praxis. Er äußert hier, daß dem Duell der „unmäßigste Hochmuth und die empörendste Hoffahrt zum Grunde" liege, „welche, ganz vergessend was der Mensch eigentlich ist, eine unbedingte Verletzlichkeit, wie auch Tadellosigkeit" für sich „in Anspruch nehme".61 Auf solchen Hochmut deutet in der Erzählung bereits der Anlaß, aufgrund dessen es zum Duell kommt. Burda, der Schorff als einen „frechen, aufgeblasenen Plebejer"(44,2) bezeichnet, der sich vorgedrängt habe, provoziert dabei das Duell selbst geradezu auf eine sich vordrängende Weise, indem er nämlich Schorff gegenüber den Vorgesetzten herauskehrt und damit erst eigentlich dessen Stolz und Hochmut auf den Plan ruft, so daß sich in der Tat nachweisen läßt, daß Burda, indem er an Schorff scheitert, letztlich an seinen eigenen Eigenschaften zugrundegeht, die er durch einen anderen „sich gegenüber zur Wirkung bringt".62 Auf den Hochmut beider Figuren deutet denn auch ihre Darstellung unmittelbar vor dem Kampf: In den Minen und Gebärden Schorffs lag Impertinenz, in jenen Burdas ritterliche Herablassung. (45,35f.)

So ist es denn auch aufschlußreich, daß der Vergleich Burdas mit Antinous unmittelbar vor dem Duell steht. Im selben Zusammenhang begegnet aber ein weiterer Vergleich, der in diesem Falle Schorff gilt: Als er [Schorff] sein buntgestreiftes Wollhemd ablegte, staunte ich über die Kraft und Fülle seiner Muskeln, die in auffallender Entwickelung hervortraten. Mit seinem breiten Nacken und dem gedrungenen Halse, auf welchem ein verhältnismäßig kleiner Kopf saß, hatte er etwas vom farnesischen Herkules [...]. (45,28-31)

Diesem Vergleich Schorffs mit Herkules kommt zunächst eine ähnliche Funktion zu wie dem Vergleich Burdas mit Antinous. Wieder wird auf die Spätantike verwiesen: Der Herkules-Kult, der damals einen besonderen Aufschwung erfuhr, war - beziehungsvoller Weise - vor allem im Heer sehr verbreitet. Unter Diocletian und Maximilian wurde der dem Commodus vom Größenwahn eingegebene Gedanke, sich als Herkules verehren zu lassen, sogar zu einer offiziellen Einrichtung gemacht, indem Diocletian den Beinamen lovius, Maximilian den Beinamen Herculis annahmen. Dabei lag der Grund für die Wahl dieser Beinamen vor allem im Vergleich des Kaisers und des Mitregenten mit dem Obersten der Götter und seinem Sohne.63 Es handelt sich hier also, wie auch im Fall des Vergleichs Burdas mit Antinous, um eine Anspielung auf den spätantiken Götterkult: In beiden Fällen stellt sich der Mensch auf die Stufe der Götter. Der Erzähler verwendet damit den Mythos als Folie, um das, was er intuitiv als charakteristisch für beide Personen erkannt hat, zum Ausdruck zu bringen. Es ist, um noch einmal mit Meynert 61 62 63

Vgl. Schopenhauer: SW5, S.403. Vgl. ungedruckte Staatsarbeit von Rainer Fabeck, Bonn 1975, S.40. Vgl. Pauly-Wissowa, Art.: Hercules [Haug], Sp. 582. In diesem Zusammenhang ist auch zu sehen, daß sich Schorff im Viererzug zum Duell begibt; er ähnelt darin ganz einem antiken Cäsaren.

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zu sprechen, das Phänomen der „Theomorphosierung" des Menschen, auf dessen Hintergrund sich ihm die Gestalt Burdas ebenso wie diejenige Schorffs zu erschließen scheinen. Beide werden damit in einen Kontext gestellt, der sie, doch eigentlich Todfeinde, im Grunde für sehr vergleichbar erklärt: Ihr Bewußtsein ist hier wie dort vom Größenwahn bestimmt. Es gibt allerdings auch einen wesentlichen Unterschied zwischen Burda und Schorff, der ihre Gegnerschaft als sehr gut motiviert erklären kann. In dieser Hinsicht ist zunächst die direkte Charakterisierung Schorffs durch den Ich-Erzähler, die sich vor der Szene im Englichen Hof findet, sehr aufschlußreich. Schorff wird dort sorgfältig eingeführt und geradezu als Prototyp des Neureichen geschildert: Unter den letzteren [den Kavalleristen] befand sich auch ein reckenhafter Kürassierleutnant namens Schorff, welcher dem Generalstabe des Kommandierenden zugeteilt war, eigentlich jedoch nur bei gewissen Gelegenheiten als Galopin verwendet wurde, eine militärische Sinekure, die er sich, weiß Gott wie, mochte zu erobern gewußt haben. Man hieß ihn allgemein den „Amerikaner", obgleich er in Deutschland geboren war; sein Vater aber sollte sich seinerzeit in den Minen Kaliforniens ein fabelhaftes Vermögen erworben haben. Andere behaupteten, dieser sei Spielpächter in Homburg gewesen. Gleichviel, der junge Baron Schorff - auch so wurde er, ohne es zu sein, genannt erhielt von Hause wahre Unsummen Geldes, die er in auffallendster Weise verausgabte. Er hatte die schönsten und stärksten Reitpferde, einen prachtvollen Viererzug, hielt eine Loge im Theater, mehrere Mätressen und so weiter. Dabei war er ein Spieler und Raufbold ärgster Sorte, dem jedermann gern aus dem Wege ging; selbst die Frauen, die doch sonst von derlei Erscheinungen angezogen werden, wichen ihm mit einer Art von Entsetzen aus. (41,21-35)

Schorff ist hier als ein Mann gezeichnet, dessen Emporkommen unter dem Stern einer neuen Zeit steht, in der Vermögen und Reichtum zugleich auch gesellschaftliches Ansehen, verbunden mit Macht, ermöglichen. Dies zeigt sich deutlich in der Bezeichnung Schorffs als „Baron": Ihm wird da ein Adelstitel beigelegt, der ihm zwar nicht eigentlich zusteht, der aber wohl die aus dem Vermögen erwachsene gesellschaftliche Stellung recht gut charakterisiert. In dieser Hinsicht erscheint Schorff Burda geradezu diametral entgegengesetzt: Während dieser, von Hause aus unvermögend, danach strebt, seinen Geburtsadel nachzuweisen, um sich in der Gesellschaft einen Platz an der Sonne zu erobern, und sich dadurch den Spottnamen des „verwunschenen Prinzen" einhandelt, in dem ja bereits die Erfolglosigkeit seines Strebens manifest wird, ist es bei Schorff eigentlich umgekehrt. Ihm wird der Adelstitel, der ihm ebenfalls nicht zusteht, um den er sich offensichtlich aber auch nicht bemüht, ohne sichtbaren Spott angedichtet, da er aufgrund seines Vermögens tatsächlich etwas gilt. Er stellt also in gewissem Sinne einen Repräsentanten des „Geldadels" dar und vertritt damit eine Gegenposition zu Burda, der ihn folgerichtig denn auch als den „Plebejer" verachtet. Mit dieser Bezeichnung, die Burda seinem Gegner zulegt, ist freilich - von diesem vielleicht gar nicht so bewußt, aber im Kontext der Erzählung doch sehr deutlich - mehr angedeutet als nur Schorffs Verhältnis zu Besitz und Geld. Burda drückt darin auch seine Verachtung aus gegenüber einem Menschen, der das „Vergeistigte seiner Auffassung" (17,7f.), z.B. auch gegenüber Frauen, nicht teilt. 206

Auch im hier beschriebenen Zusammenhang ist übrigens der Vergleich mit Herkules motiviert, insofern Herkules als Gott des Handels galt, der mit einer glückhaften Vermehrung des Vermögens64 in Verbindung gebracht wurde, so daß also die mythologische Ebene auch diesen Aspekt von Schorffs Charakter hervorhebt. Sie leistet sodann eine Vorausdeutung: Als Gott der Gladiatoren haftet Herkules nämlich der Nimbus des Unbesiegbaren, aber auch des Brutalen an. So finden sich immer wieder Darstellungen der Herkules-Figur, vor deren brutaler Gewalt die Frauen fliehen. 65 Ähnliches wird auch von Schorff berichtet, dem die Frauen „mit einer Art von Entsetzen"(41,34) ausweichen, was im Gegensatz zu der eigentlich vom Erzähler akzeptierten Theorie steht, nach der Frauen sonst „von derlei Erscheinungen angezogen werden"(41,33f.). In solchen Hinweisen wird schon vor dem Duell dessen Ausgang deutlich vorweggenommen, wobei die Gestalt Schorffs so unsympathisch gezeichnet wird, daß der Leser fast zwangsläufig Mitleid mit dem armen Burda, seinem Opfer, empfinden muß. Zugleich aber stellt sich auf diesem Hintergrund das Duell als notwendige Folge des sozialen Selbstverständnisses der beiden in ihrer Haltung so gegensätzlichen Männer dar. Schorff ist keineswegs, wie in der Literatur so häufig unterstellt, der Diabolus ex machina, der den armen Burda zu Fall bringt, er ist vielmehr, Kind einer neuen, die Werte Burdas in Frage stellenden Zeit, ein Gegner, der diesen zum Äußersten reizen muß. Schopenhauer, der im Kapitel Von dem, was einer vorstellt auch über die Regeln des Duells spricht, konstatiert eine im allgemeinen obwaltende Gegensätzlichkeit im Charakter von Duellgegnern und untermauert seine Beobachtung mit einigen Versen aus Goethes West-östlichem Divan: Was klagst du über Feinde? Sollten Solche je werden Freunde, Denen das Wesen, wie du bist, Im Stillen ein ewiger Vorwurf ist?66

Wirft der antike Doppelvergleich einiges Licht auf die Gegnerschaft zwischen Burda und Schorff sowie deren Begründung, so erscheint das Duell selbst, in seinem Vorfeld wie in seinem Verlauf, vor allem bestimmt und charakterisiert durch den Kodex der ritterlichen Ehre, im Hinblick auf dessen Verständnis auch in diesem Zusammenhang wieder einige Aussagen Schopenhauers aus dem bereits häufig zitierten Kaptel Von dem, was einer vorstellt Gewicht gewinnen. Es ist zunächst ein - absichtliches oder unabsichtliches - Nicht-Beachten vom Gruß Burdas, also die Verletzung einer bestimmten Höflichkeitsform, die die weiteren Ereignisse in Gang setzt. Burda kränkt Schorff in seinem Selbstgefühl, indem er ihm gegenüber den „Vorgesetzten" (42,13) herauskehrt, und forciert die Gespanntheit der Situation noch dadurch, daß er sich an den Grafen Z... - den er ja eigentlich treffen 64 65 66

Vgl. Pauly-Wissowa, Art.: Hercules [Haug], Sp. 569. Pauly-Wissowa, Art.: HerkJe [Herbig], Sp. 688f. Schopenhauer: SW 5, S.393.

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möchte,- wendet. Die Reaktion Schorffs auf diesen Vorstoß stellt nun ihrerseits wiederum eine Beleidigung Burdas dar. Dabei liegt das Kränkende seiner Worte nicht nur in der bereits vom Erzähler selbst als „anzüglich" charakterisierten Bezeichnung Burdas als „verwunschener Prinz", vielmehr ist vor allem die Tatandrohung unerhört: [...] aber sagen Sie lieber dem verwunschenen Prinzen, daß er sich in acht nehmen möge, ich könnte ihm sonst an die Hüfte greifen.(42,22-24)

Nun ist diese Tatandrohung wohl in verschiedener Hinsicht bedeutsam. Die Heiterkeit, die sie bei Schorffs Kameraden auslöst, liegt sicher zunächst in dem in ihr enthaltenen Spott begründet. Worauf dieser allerdings genau beruhen mag -, darüber läßt sich wohl streiten. Schorffs Drohung, Burda „an die Hüfte zu greifen", klingt nach einer Redewendung, läßt sich aber als solche in keinem Sprichwörterlexikon ausmachen. Immerhin besteht ja die Möglichkeit, daß eine solche Wendung im Militär gebräuchlich war, trug man doch an der Hüfte den Säbel. Schorffs Androhung wäre dann gleichbedeutend mit einer Androhung der Entwaffnung. Man könnte sie aber auch als sexuelle Anspielung verstehen, wenn man die Hüfte, wie sonst die Lende, als Sitz der Zeugungskraft deutet. Auch in diesem Falle stellte Schorff, und zwar in besonders anzüglicher Weise, Burdas männliche Ehre in Frage. Daß aber der Streit zwischen Schorff und Burda überhaupt im Duell enden muß, ergibt sich schon aus dem dem Kodex ritterlicher Ehre zugrundeliegenden Wertbewußtsein, in dem, im Sinne jener von Schopenhauer so bezeichneten „idealen" Wertordnung, das Primäre, dem Empfinden unmittelbar Zugängliche, und das Sekundäre, nur Abgeleitete, ihre Bedeutung getauscht haben. So zwingt bereits allein die Äußerung einer negativen Meinung über einen anderen diesen zu einer Reaktion, die geeignet ist, die verloren geglaubte Ehre zu „ertrotzen".67 So muß sich Burda, der ja aufgrund seines Ehrverständnisses „gefürchtet" ist, durch die Beleidigung Schorffs zum Handeln gezwungen sehen; und sogar das Maß seiner empörten Reaktion ist durch den ritterlichen Ehrenkodex geradezu vorgegeben, da sich mit der Kränkung auch die Tatandrohung verband. Einer solchen Ungeheuerlichkeit ist nach den Begriffen der ritterlichen Ehre nämlich nur durch den Einsatz des Lebens beizukommen, worauf Schopenhauer betont den Finger legt: Nun aber giebt es sogar noch etwas Aergeres, als Schimpfen, etwas so Erschreckliches, daß ich wegen dessen bloßer Erwähnung in diesem Kodex der ritterlichen Ehre, die „Leute von Ehre" um Verzeihung zu bitten habe, da ich weiß, daß beim bloßen Gedanken daran ihnen die Haut schaudert und ihr Haar sich emporsträubt, indem es das summum malum, der Uebel größtes auf der Welt, und ärger als der Tod und Verdammniß ist. Es kann nämlich, horribile dictu, Einer dem Ändern einen Klaps, oder Schlag versetzen. Dies ist eine entsetzliche Begebenheit und 67

Vgl. Schopenhauer: SW5, S.392.

208

führt einen so kompletten Ehrentod herbei, daß, wenn alle ändern Verletzungen der Ehre schon durch Blutlassen zu heilen sind, diese zu ihrer gründlichen Heilung einen kompletten Todschlag erfordert.68

Mit der Androhung Schorffs, Burda an die Hüfte zu greifen, die ja mit der Androhung eines Klapses durchaus gleichzusetzen ist, muß Schorff also bei dem empfindlichen Burda dieselbe Wirkung erzielen, wie sie an sich erst der Schlag nach sich zieht. Burdas Ausruf: Das ist infam! (42,28), deutet in diesem Zusammenhang darauf hin, daß sich dieser - in einem noch verschärften Ehrverständnis, wie es seinem übersteigerten Persönlichkeitsempfinden entspricht -, durch Schorffs Bemerkung gezwungen sehen muß, bis zum letzten zu gehen, eine Überzeugung, der er dann auch im Gespräch mit dem Erzähler Ausdruck verleiht: Was mich selbst betrifft, so werde ich die Sache jedenfalls bis zum Äußersten treiben. (45,2f.) Schorff bemerkt daher im Anschluß an das Duell mit einem gewissen Recht: II l'avoulu. (46,14)

Wenn die Berechtigung dieses Ausspruchs schon ein sehr zweifelhaftes Licht auf Burdas Mut wirft, so bestätigt sich dieser Eindruck noch unter einem anderen Aspekt, der ebenfalls mit dem Duell im Zusammenhang gesehen werden muß: dem der Liebesthematik, die der Erzähler mit der Bemerkung Er erwog, welchen Eindruck diese cause celehre auf die Prinzessin machen würde - und da war er denn wieder glücklich auf dem alten Wege. (43,25-27)

selbst ins Feld führt. Bezeichnenderweise stellt für Schopenhauer solcher Mut eine „Unteroffizierstugend" dar, die allein durch den Einfluß der „Weiber" zu Ansehen habe gelangen können: Freilich führten daselbst [in Athen, Korinth und Rom] auch nicht, wie bei uns, die Weiber den Vorsitz in der Gesellschaft, welches, wie es zunächst der Unterhaltung einen frivolen und läppischen Charakter ertheilt und jedes gehaltvolle Gespräch verbannt, gewiß auch sehr dazu beiträgt, daß in unsrer guten Gesellschaft der persönliche Muth den Rang vor jeder ändern Eigenschaft behauptet; während es doch eigentlich eine sehr untergeordnete, eine bloße Unteroffizierstugend ist, ja, eine, in welcher sogar Thiere uns übertreffen f...]69

Für den Verlauf des Duells nun, aus dem Schorff als Sieger hervorgeht, werden dessen ureigene Gesetzmäßigkeiten entscheidend: Nicht das moralische Recht, sondern das Recht des Stärkeren ist ausschlaggebend. Es zeigt sich dabei, daß Schorff Burda nicht nur deutlich an Muskelkraft überlegen ist. Für seinen Sieg ist letztlich nämlich eine Finte verantwortlich, d.h. er gewinnt das Duell aufgrund des „Kopfrechtes", wie sich Schopenhauer ausdrücken würde:

68 69

Ebd.,S.394f. Ebd.,S.405. 209

Jetzt markierte Schorff eine Prim, führte aber in der Tat eine Terz, welche so mächtig traf, daß sofort auf der Brust Burdas ein langer, bluttriefender Spalt zum Vorschein kam. (46,3-6)

Damit aber kann Schorffs Handeln letztlich als Mord erkannt werden, denn es stellt sich als hinterlistige, heimtückische Tötung dar und entspricht damit ganz der Qualität, die Schopenhauer dem Duell grundsätzlich nachsagt: In Wahrheit aber giebt der Umstand, daß der Andere sich schlecht zu wehren versteht, mir zwar die Möglichkeit, jedoch keinesfalls das Recht, ihn umzubringen; sondern dieses letztere, also meine m o r a l i s c h e Rechtfertigung, kann allein auf den M o t i v e n , die ich, ihm das Leben zu nehmen, habe, beruhen. Nehmen wir nun an, diese wären wirklich vorhanden und zureichend; so ist durchaus kein Grund da, es jetzt noch d a v o n abhängig zu machen, ob er, oder ich, besser schießen oder fechten könne, sondern dann ist es gleichviel, auf welche Art ich ihm das Leben nehme, ob von hinten oder von vorne. Denn moralisch hat das Recht des Stärkeren nicht mehr Gewicht, als das Recht des Klügeren, welches beim hinterlistigen Morde angewandt wird: hier wiegt also dem Faustrecht das Kopfrecht gleich; wozu noch bemerkt sei, daß auch im Duell das eine wie das andere geltend gemacht wird, indem schon jede Finte, beim Fechten, Hinterlist ist.70

In der Tat wird denn auch der Vorgang vom Erzähler als Mord bewertet: „Das ist Mord!" rief ich aus.(46,ll) Burdas Tod selbst entspricht in hohem Maße dem Wesen seines Leidens: Daß sein Kopf getroffen wird, läßt sich als Hinweis darauf verstehen, daß sein Grundübel, der Wahn, der dort seinen Sitz hat, letztlich Ursache seines Todes ist. Mit dem Tod Burdas ist zugleich die Gestalt des Schorff diskreditiert. Sein „Mord" löst eine Welle des Unmuts gegen ihn aus - ein Phänomen, das mit dem Mitleid, das man am Schluß der Erzählung Burda entgegenbringt, korrespondiert. Setzt man dieses Phänomen in Beziehung zu der Ebene des Mythos, der sich an die Gestalt Schorffs bindet, so erfährt es eine gewisse Erhellung auf dem Hintergrund einer Episode aus dem Leben des Herkules: Als dieser den Hirten und Räuber Cacus tötete, wurde dies von der Bevölkerung keineswegs als Befreiung, sondern als Mord empfunden, der die Gemüter erregte.71 So stellt auch die Tötung Burdas keine eigentliche Befreiung im Hinblick auf den an seine Figur gebundenen Wahn dar, vielmehr spiegelt sich in Schorffs Handeln dieselbe Problematik, sie wird darüber hinaus aber sogar ins Brutale hinein verzerrt und gesteigert. Mit dem Duell hat Saar ein Thema angeschlagen, das eine Generation später bei Schnitzler immer wieder anzutreffen ist, etwa in dessen Erzählung Leutnant Gustl, und zwar in einer Weise, die mit Saars Erzählung Übereinstimmungen bis hin zur motivischen Identität erkennen läßt.72 Die Darstellung des Duells in Leutnant Burda kann daher nicht nur im Sinne einer notwendigen Konsequenz eines bestimmten Handlungsverlaufes und seiner Motivation gedeutet werden, sie erklärt 70 71 72

Ebd.,S.412. Vgl. Pauly-Wissowa, Art.: Cacus [Wissowa], Sp.l 167. Beispiele für solche motivische Identität: das An-den-Griff-des-Säbels-Fassen, das DummenBuben-Schimpfen.

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sich darüber hinaus auch aus der zeithistorischen Situation heraus, in der die Erzählung entstand. Sie liefert von daher eine Deutung der „Zeitperiode", für die das Duell insofern charakteristisch ist, als es in seiner Rückbindung an das reine Faust- bzw. Kopfrecht den Zustand einer Gesellschaft spiegelt, in der, wie wir sahen, sich soziale Auflösungserscheinungen, hinter denen sich das Ringen um eine neue, die ständische Ordnung überwindende soziale Wirklichkeit verbarg, im Kampf aller gegen alle manifestierten. Wenn so das Schicksal Burdas repräsentativ für das seiner Epoche steht, ist es naheliegend, solche Repräsentativität auch hinter der anderen Gestalt, die sich als so konstitutiv für die Erzählung erweist, zu vermuten, kurz: Es fragt sich, ob auch der Ich-Erzähler in jene Vanitas-Thematik miteinbezogen erscheint, die nach Saars eigener Aussage seine ganze Erzählung prägt.

b. Ich-Erzähler Gegenüber der subjektiven Sicht, aus der heraus Burda die um ihn sich ereignenden Vorgänge deutet, scheint dem Ich-Erzähler bei oberflächlicher Betrachtung zunächst die Funktion zuzukommen, diese Sicht als subjektiv zu entlarven und einen objektiven Blick auf das Geschehen der Erzählung zu ermöglichen. Wie Sancho Pansa, der Begleiter des Don Quixote, eilt er neben Burda her, in dessen Erlebnisse er verstrickt wird, da seine Versuche, Burda zur Vernunft zu bringen, scheitern. Dabei entwickelt der Erzähler ein so starkes persönliches Profil, daß er einem Kritiker wie Ludwig Geiger73 geradezu als Prototyp des Schwächlings erscheint und ihn zu einer Empörung hinreißt, wie sie kaum ein objektiver oder auch nur neutraler Berichterstatter auslösen dürfte. Nun ist die Perspektive des Erzählers bereits durch seine Position als Ich-Erzähler, der selbst in das Geschehen verwickelt ist, eingeschränkt und insofern ebenfalls subjektiv. Darauf hat bereits Rossbacher in seiner Analyse des Erzählers aufmerksam gemacht, indem er ihn als „unsicheren Führer zur Erkenntnis von Burdas Wahn"74 bezeichnet, ein „selbstbetroffenes Interesse des Erzählers"75 am Schicksal Burdas wahrnimmt und schließlich gar die Grundbedingung menschlicher Wahrnehmung, ihre „Perspektivität", in der Erzählung in die „pathologische Übertreibung getrieben" sieht.76 Es ist dabei von vornherein ganz offensichtlich, daß dieser Erzähler, wenn er auch aus der Rückschau berichtet, doch immer die Perspektive des erlebenden Ich beibehält, das dem Gang des Geschehens sukzessiv 73 74 75 76

Geiger, S.429. Vgl. Rossbacher, S.149. Vgl. ebd., S.154. Vgl. ebd., S.148. 211

folgt. Selbst wenn einige ironische Andeutungen erkennen lassen, wie der Erzähler aus der Rückschau die Vorgänge um Burda bewerten muß, so wird diese Perspektive doch niemals wirklich gebrochen, d.h. sie bleibt in der Tat immer auf ein bestimmtes Wahrnehmungsspektrum beschränkt. Allerdings verändert sich die Sicht des Erzählers auf die Handlung im Verlauf der Erzählung. Der Erzähler, der nur langsam persönlichen Kontakt zu Burda gewinnt, steht diesem zunächst mit derselben bewundernden Hochachtung gegenüber wie seine Regimentskameraden. Im Grunde dokumentiert sich im ganzen ersten Kapitel diese Haltung, die sich aber besonders in der der Unterschriftenepisode vorangestellten Darstellung zeigt. Hier findet sich folgende sehr aufschlußreiche Passage: Kein Wunder also, daß Burda, einmal Offizier geworden, nicht tiefer mehr herabsteigen konnte und seine Netze bloß in den oberen Regionen aufrichtete. So glaubte man auch jetzt trotz seiner Zurückhaltung zu wissen, daß er in der ansehnlichen Provinzstadt, wo diese Geschichte zu handeln beginnt, die besondere Gunst einer Stiftsdame erworben habe, die, obgleich nicht mehr ganz jung, als vollendete Schönheit galt. Nebenher wurde freilich auch behauptet, das Ganze bestehe darin, daß Burda sehr häufig unter den Fenstern des Stiftsgebäudes vorüberwandle und in der daranstoßenden Kirche jeden Sonntag die Messe hörte; ein unschuldiges Vergnügen, das eigentlich jedermann geboten wäre. (7,15-24)

Im Hinblick auf diese Darstellung, die die beiden unterschiedlichen Theorien darüber, worin die vermeintliche Liaison bestehe, referiert, fällt auf, daß der Erzähler selbst eine eindeutige Stellungnahme vermeidet, vielmehr alles in der Schwebe beläßt, wie auch sein unmittelbar folgender Kommentar deutlich zeigt: Wie dem aber mochte gewesen sein: die meisten von uns, von einem ähnlichen romantischen Hange beseelt, hielten an der Überzeugung fest, daß Burda infolge seiner Vorzüge ein Auserwählter sei, und fuhren fort, mit einer Art sehnsüchtiger Bewunderung nach ihm emporzublicken. (7,24-27)

Indem der Erzähler nun mit Burda in näheren Kontakt tritt, erhält er Gelegenheit, Ereignisse, die denen, die zu Burdas sagenhaftem Ruf als bevorzugter Liebhaber führten, vergleichbar sind, aus nächster Nähe zu betrachten. An die Stelle des Hörensagens tritt nun das unmittelbare, eigene Erleben, das allerdings in gewisser Weise noch von der früheren Sicht gefärbt erscheint. Es ist das Gefühl, seinen eigenen Bedürfnissen, seinen literarischen Neigungen, am besten in der Nähe Burdas nachkommen zu können, das den Erzähler mit ihm in engere Verbindung treten läßt: Er schätzt Burda als rücksichtsvollen Menschen und ist bemüht, das Zusammenleben so zu gestalten, daß die in gegenseitiger Rücksichtnahme begründete Distanz nicht gefährdet wird, wie er im Hinblick auf seinen Entschluß, mit Burda zusammenzuziehen, auch betont: Auch Burda, der eine Wohnung in der Kaserne hatte, mußte daran denken, einen Mieter zu suchen - oder, wie dies in seiner Art lag, sich einen solchen zu erwählen. Daß die Wahl auf mich fiel, mochte in erster Linie wohl damit zusammenhängen, daß ich zu der Kompagnie versetzt worden war, bei welcher er selbst stand; aber ich hatte immerhin Grund, seine Aufforderung als Auszeichnung zu betrachten und sie umso lieber anzunehmen, als sich ein besonderer, mir sehr erwünschter Vorteil daran knüpfte. Denn ich hatte schon damals literari-

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sehen Neigungen nachgegeben und wünschte im Laufe des Tages einige ruhige, völlig ungestörte Stunden zu haben, aber wie wäre dies in einer kameradschaftlichen Wirtschaft, wo es in der Regel ziemlich wüst herging, zu erreichen gewesen! Burda jedoch, der die Rücksicht in Person war und überdies stets seine eigenen Wege ging, bot mir in dieser Hinsicht alle Sicherheit. (10,17-28)

In dieser Charakterisierung der Beziehung, die Burda und den Erzähler trotz ihres ursprünglichen Abstandes einander annähert, wird allerdings auch deutlich, daß sich der Erzähler Burda gegenüber als der Passivere darstellt: Nicht von ihm geht die Initiative für das Zusammenziehen aus, sondern von Burda, dem der Erzähler mit einem gewissen Respekt begegnet. Wenn er dennoch bereits in dieser Phase der Erzählung eine Charakterisierung Burdas vornimmt, in der er sagt, Burda habe sich seinen Nachbarn „erwählt", „wie es in seiner Art lag"(10,18f.), so wird hier eine Ironie spürbar, die das Gegenüber durchschaut hat. Die mit Bewunderung gemischte Distanz ist es jetzt, die das persönliche Verhältnis der beiden Gestalten bestimmt. Als Burda im zweiten Kapitel dem Erzähler das Gedicht, das er für die Prinzessin verfaßt hat, vorstellt, ist dessen Verhalten ihm gegenüber so respektvoll und zurückhaltend, wie es sich im Grunde nur gegenüber einem Vorgesetzten vorstellen läßt: Jeden anderen würde ich möglicherweise jetzt gefragt haben, an wen eigentlich die Verse gerichtet seien; allein Burda gegenüber war das nicht zu wagen. Auch interessierte es mich nicht gerade übermäßig. Diesmal aber war mir, als wollte er gefragt sein. Denn er blieb mit gekreuzten Beinen sitzen und blickte, die rechte Fußspitze hin und her bewegend, wie erwartungsvoll vor sich hin. Ich unterbrach endlich das Schweigen, indem ich, wenngleich noch immer etwas zaghaft, begann: „Und darf man vielleicht wissen —?" (l 1,40-12,5)

Der Erzähler geht hier auf die Wünsche und Bedürfnisse Burdas ein. So bringt er auch die Bedenken, die er in diesem Gespräch im Hinblick auf Burdas Hoffnungen geltend macht, nur sehr vorsichtig vor. Auf dessen Frage, ob er in seinen Absichten „etwas so ganz Unmögliches" (12,27) sehe, ist er bemüht, ihn „nicht zu verletzen" (12,28). Dies Bemühen hindert ihn auch, vollkommen offen zu antworten. Vielmehr sieht er sich zu einer Erklärung seines Verhaltens und zu einer Gegenfrage veranlaßt: Nun galt es wieder, ihn nicht zu verletzen. „O nein - durchaus nicht — ich habe nur nachgedacht. Auf welche Art willst du denn der Prinzessin das Gedicht zukommen lassen?" (12,28-30)

In dieser Phase der Handlung bleibt der Erzähler also von den Vorstellungen und Darlegungen Burdas nicht unbeeindruckt, er läßt sich durchaus davon beeinflussen, wenn er auch in einer gewissen Skepsis, die er freilich Burda gegenüber verbirgt, verharrt. Nachdem z.B. Burda seine geplante Vorgehensweise dargestellt hat, schildert der Erzähler seine eigene Reaktion wie folgt: Diese ruhige Auseinandersetzung wirkte. Mir selbst kam jetzt das Ganze weniger befremdlich vor. Ich hätte freilich noch einwenden können, daß in dem Schritte, den er unternahm, etwas Verletzendes für die junge Dame selbst liege; aber ich unterdrückte diese Bemerkung und sagte 213

bloß: „Ich sehe, du hast alle Umstände aufs genaueste in Betracht gezogen, und so kann ich dich nur bitten, mir zu verzeihen, daß ich mir gestattet habe - -" (13,23-28)

Auch die Reflexion des Erzählers am Ende des zweiten Kapitels, in der er eine Verbindung herstellt zwischen seinen eigenen poetischen Absichten und der Vorstellungswelt Burdas, zeigt seine Zwiespältigkeit sehr deutlich: Einerseits fühlt er sich von den Vorstellungen Burdas „angesteckt", andrerseits ist er aber zugleich von deren Unmöglichkeit überzeugt: [...] Warum nicht? Es waren ja doch schon ähnliche Fälle vorgekommen! Burdas Zuversicht hatte etwas Ansteckendes; sie schien sich jetzt auch mir mitteilen zu wollen. Aber nein, nein! Es ist ganz und gar undenkbar! sprach endlich die gesunde Vernunft und behielt das letzte Wort. Dabei vergaß ich freilich, daß ich vorhin selbst daran gegangen war, in dem zweiten Gesang meiner Dichtung mit glühenden Farben ein geheimes Stelldichein zu schildern, welches zwischen einer Königstochter und einem Knappen (der sich allerdings am Schlüsse als Königssohn würde entpuppt haben) stattfinden sollte. (13,41-14,8)

Trotz der subjektiv befangenen Sicht des Ich-Erzählers werden hier zwei Theorien einander gegenübergestellt, die zur Beurteilung der Situation Burdas herangezogen werden können: Die „gesunde Vernunft" des Erzählers wird mit seiner poetischverklärten Sicht kontrastiert; seine Aussage, die „gesunde Vernunft" behalte das letzte Wort, wird durch die gleich daran anschließende Bemerkung ("Dabei vergaß ich freilich [...]"), die dazu im Gegensatz steht, indirekt wieder in Frage gestellt. So ist diese Textstelle eigentlich weniger ein Beweis für die nüchterne Urteilskraft des Erzählers als vielmehr eine Vorausdeutung, die den Leser schon auf die kommende Entwicklung vorbereitet. Eine aus ironischer Skepsis und Neugierde gemischte Haltung zeigt der Erzähler, der allerdings inzwischen viel von seinem ursprünglichen Respekt gegenüber Burda abgelegt hat, im dritten Kapitel. Unter Anspielung auf die Gedichtzeilen, die Burda der Prinzessin zugeschickt hat, heißt es ziemlich am Beginn des Kapitels: Der Tag, oder besser gesagt der Abend, an welchem Burda von dem „erhabenen Engel" ein Zeichen erwartete, war da. (14,10f.)

Trotz der hier deutlich wahrnehmbaren Ironie ist der Erzähler der Vorstellungswelt Burdas gegenüber immer noch aufgeschlossen. Als er Schilden, wie Burda in der Aufführung der Minna einen ihm geltenden Wink wittert, fährt er fort: Ich fand diese Voraussetzung ziemlich gewagt, was er auch zugab; indes blieb er dabei, es sei jedenfalls ein merkwürdiges Zusammentreffen der Umstände. (14,22-24)

Der Erzähler empfindet es sogar selbst als „auffallend", daß die Prinzessin ein gelbes Kleid trägt, allerdings nur, weil Burda ihn darauf aufmerksam macht: Ich blickte nach der Loge - und in der Tat, es war so, wie Burda gesagt hatte. Das tief in den Schultern ausgeschnittene Kleid war von mattem Gelb; im dunklen Haar wiesen sich gelbe Rosen - und vor allem leuchtete mir ein großer Fächer von hellem Goldgelb in die Augen, den die Prinzessin nachlässig auf und nieder bewegte. Ich begriff nicht, wie ich dies alles hatte übersehen können, da es doch um so auffallender war, als die beiden älte-

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ren Schwestern heute anders, und zwar in zartes Blau gekleidet waren. Es sah wirklich wie Absicht aus. (15,35-41)

Als Burda dem Erzähler später den Stand seiner Nachforschungen über seinen Adelsnachweis mitteilt, ist dieser ebenfalls geneigt, Burdas Hoffnungen eine gewisse Berechtigung zuzuerkennen: Einerseits lag die Sache nicht geradezu außerhalb all und jeder Möglichkeit; allein die Durchführung schien mir mit Hinblick auf die damit verbundenen Schwierigkeiten ganz und gar illusorisch. (18,40-19,1)

Burda seinerseits ist zu diesem Zeitpunkt noch bereit, möglichen Hindernissen ins Auge zu sehen: Ich verkenne nicht [...] welche fast unübersteiglichen Hindernisse sich in den Weg stellen. Denn ganz abgesehen davon, daß sich der erwähnte Hauptpunkt wohl niemals ganz ins klare wird setzen lassen, so ist es auch gewiß, daß man von seiten jener Familien, in deren Reihen die Grafen Burda neuerdings aufzutauchen hätten, alles anwenden wird, um solche, wenn auch berechtigte Eindringlinge fern zu halten. Und sie werden um so leichteres Spiel haben, als sich der betreffende Stammbaum leider nicht rein erhalten hat. (19,4-10)

Die hier gegebene Situation, in der zwischen Burda und dem Erzähler bei aller Distanz noch eine echte Kommunikation stattfindet, ändert sich mit der Hofballszene des vierten Kapitels von Grund auf: Auf der einen Seite steigert sich Burda immer mehr in seinen Wahn hinein, auf der anderen Seite ist der Erzähler inzwischen durch den Adjutanten des Fürsten ins Vertrauen gezogen worden und hat endgültige Gewißheit über die wirklichen Vorgänge um Burda erlangt. Von daher empfindet sich der Erzähler nun in besonderer Weise Burda gegenüber verantwortlich. Innerhalb der Erzählung drückt sich dies dadurch aus, daß er sein eigenes Verhalten im Hinblick auf Burda immer wieder kritisch reflektiert. So bemerkt er im vierten Kapitel hinsichtlich des Gesprächs, in dem er Burda hatte aufklären wollen: Ich war äußerst unzufrieden mit mir und verwünschte es, daß ich so rücksichtsvoll vorgegangen. Ich hätte alles geradezu heraussagen sollen; denn nun hatte ich ihn gewissermaßen selbst zu dieser irrigen Auffassung verleitet. (24,24-26)

Dieser Selbstanklage folgt freilich sogleich die Einsicht, daß jedes Bemühen seinerseits an Burdas Verfassung scheitern muß: Je länger ich über das Vorgefallene nachdachte, desto mehr kam ich zu der Einsicht, daß ich ein solches Vorgehen hätte erwarten können. Er [Burda] hatte sich in seine fixen Ideen dermaßen verrannt, daß nur der allerunsanfteste Zusammenstoß mit der Wirklichkeit ihn zur Besinnung bringen konnte. (24,38-25,1)

Die hier deutlich werdende Kapitulation dokumentiert sich auch im Dialog, in dem der Erzähler nun immer mehr zugunsten Burdas zurücktritt. In den Kapiteln vier, fünf und sechs stellt sich der Dialog geradezu in einer Weise dar, die bereits an den inneren Monolog Schnitzlers erinnert.77 Er dient nur noch der Selbstent77

Zur Funktion des inneren Monologs bei Schnitzler vgl. z.B. Hajek, S.77-79. 215

larvung einer einzigen Figur, läßt sich also nicht mehr als Gespräch im eigentlichen Sinne auffassen. Formal noch als Dialog gestaltet, erfüllt er nicht mehr dessen Funktion. So verzichtet Burda beispielsweise im Anschluß an die Veilchenepisode, als er sich an den Erzähler wendet, auf jedes Signal, das den ändern zu irgendeiner Reaktion einladen könnte, ja blockt diese sogar ab: „Lieber Freund, ich rede jetzt nichts mehr. Du hast, dessen bin ich sicher, diese Veilchen in der Hand der Prinzessin gesehen - und nun finde ich sie in meiner Brusttasche. Leb1 wohl! Ich darf dich nicht länger deinen Angehörigen, von welchen du wohl noch Abschied wirst nehmen wollen, entziehen und danke dir für deine Begleitung. (29,6-10)

Obgleich aber das Verhältnis zwischen Burda und dem Erzähler in dieser Weise gestört ist - der Erzähler spricht selbst im vierten Kapitel von der „Entfremdung" (26,20), die zwischen ihnen eingetreten sei -, empfindet er weiterhin Verantwortung für Burda, die sich nun, da ihn eine Ahnung von Burdas Tragik erfaßt, immer mehr mit Mitleid mischt. Gleichzeitig stellt sich Burda als „weich und hingebend"(28,ll) dar und hat seine „frühere Empfindlichkeit und Reizbarkeit verloren" (28,10f.), wodurch er natürlich dem Erzähler noch weniger Angriffsfläche und also auch weniger Möglichkeit zur Einflußnahme bietet, zugleich aber auch verhindert, daß sich dieser, einfühlsam, wie er ist, wirklich von ihm abwenden könnte. Der Distanz, die zunehmend charakteristisch für den wechselseitigen Umgang geworden ist, steht nun paradoxer Weise eine weitgehende gefühlsmäßige Identifikation gegenüber - eine Situation, die sich zu dem ursprünglichen Verhältnis beider Gestalten, das ja eher von innerer Distanz bei äußerlichem Entgegenkommen geprägt schien, fast konträr verhält. Dies zeigt sich sehr deutlich in dem auf die Veilchenepisode folgenden Kommentar: Und dennoch konnte ich diesmal nicht über ihn lächeln. Vielmehr überkam mich eine tief ernste, fast traurige Stimmung. Mußte ich mir doch sagen, daß, von seinem Standpunkt aus betrachtet, in allen diesen Zufällen ein Schein der Absichtlichkeit lag; ich selbst war ja einen Augenblick wieder an meinen Überzeugungen irre geworden. Es sah fast aus, als hätte sich das Schicksal vorgenommen, mit ihm ein grausames Spiel zu treiben. — (30,38-31,2)

Der Begriff „Absichtlichkeit", mit dem der Erzähler hier das Wirken des Zufalls beschreibt, liegt in diesem Bekenntnis so vor, daß er sich wohl bewußt an Schopenhauer anlehnt, der in den Parerga und Paralipomena ein Kapitel mit dem Titel Ueher die anscheinende Ahsichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen überschreibt. Darin leitet er den Zufall als „Kind unserer Bedürftigkeit" 78 zunächst vom Willen ab. Darüber hinaus führt er an dieser Stelle ein Zitat aus dem Knebel-Nachlaß an, das den Zufall auf einen Plan zurückführt, der dem Leben zugrundeliege und in der Natur des Menschen begründet sei: Man wird, bei genauer Beobachtung, finden, daß in dem Leben der meisten Menschen sich ein gewisser Plan findet, der, durch die eigene Natur, oder durch die Umstände, die sie führen,

78

Schopenhauer: SW5, S.216.

216

ihnen gleichsam vorgezeichnet ist. Die Zustände ihres Lebens mögen noch so abwechselnd und veränderlich seyn, es zeigt sich doch am Ende ein Ganzes, das unter sich eine gewisse Uebereinstimmung bemerken läßt.79

Auf diesem Hintergrund spricht die Aussage des Erzählers, den Zufällen eigne der „Schein der Absichtlichkeit", Burdas Erlebnissen gewissermaßen eine objektive Berechtigung zu, in der Persönlichkeit und Erleben notwendig in eins gesetzt erscheinen. Der Erzähler kann nunmehr ein Bild der Realität allein gewinnen, wenn er Nachforschungen auch außerhalb des Bannkreises von Burda anstellt. In den Kapiteln fünf und sechs sind denn auch seine Bemühungen vor allem darauf gerichtet, die Burda als „Zufall" erscheinenden Ereignisse - die Veilchenepisode sowie das Erscheinen der Prinzessin in Böhmen - aufzuklären. In beiden Fällen steht diese Aufklärung aber nicht zugleich auch im Dienst der Aufklärung Burdas; vielmehr begnügt sich der Erzähler zunehmend damit, dem Leser sein mitfühlendes Verständnis gegenüber Burda zu erläutern: Ich konnte mir lebhaft vorstellen, welche Genugtuung Burda beim Anblick der Prinzessin mußte empfunden haben, welche Hoffnungen und Erwartungen er nunmehr an ihren hiesigen Aufenthalt knüpfte [...]. (34,13-16)

Es ist nun dieses mitfühlende Verstehen, das der Erzähler mit dem Bewußtsein der Verantwortung verbindet, das sein Verhalten bestimmt. Nach wie vor sieht er sich dabei zur Rücksichtnahme verpflichtet, wie aus dem Kommentar, mit dem er Burdas Reaktion auf die Aufführung der Martha würdigt, hervorgeht: Nun ließe sich, wenn man auf die Hirngespinste Burdas einging, allerdings eine gewisse Ähnlichkeit seiner Lage mit der Lionels herausfinden - daß er aber in der Vorführung der Oper geheimnisvolle Absichtlichkeit vermutete, machte mir den beklemmndsten Eindruck: ich begann ernstlich für seinen Verstand zu fürchten. Dabei befand ich mich in der ratlosen Lage eines Menschen, der einen zweiten auf dem besten Wege sieht, irrsinnig zu werden, und doch niemanden davon in Kenntnis setzen darf. Denn wie hätte ich den Seelenzustand Burdas samt allen Einzelheiten, die ihn hervorgerufen, ohne die zwingendste Notwendigkeit preisgeben können? (36,33-41)

In dieser Situation ist der Erzähler bestrebt, auf Burda, dessen Ideenwelt er ohnehin nicht mehr beeinflussen kann, mäßigend einzuwirken, um das Schlimmste zu verhüten. Er versucht dabei, die Kontrolle über die Ereignisse zu bewahren. Aus seinen früheren Einwänden werden nun „Beschwörungen". Im siebten Kapitel begegnet er Burdas Überzeugung, man wolle ihn nach Wien berufen und habe geradezu aus diesem Grund ein eigenes Korps ins Leben gerufen, äußerst heftig: Ich konnte nicht länger an mich halten und beschwor ihn, sich keinen so weitgehenden Täuschungen hinzugeben, wobei ich mich freilich, um das Kind nicht mit dem Bade zu verschütten, bloß an den vorliegenden Fall hielt. (37,36-38)

Da Burda unerreichbar bleibt, wird der Erzähler nun zum Begleiter seiner Katastrophe, in der er mit seinen Handlungen rein gar nichts bewirkt. Im achten Kapi79

Ebd.,S.220.

217

tel begegnet er dem Vorsatz Burdas, dem Generaladjutanten zu schreiben, um vermeintliche Verleumdungen seiner Person richtigzustellen, mit einem Ablenkungsmanöver, indem er Burda animiert, sich wegen des Adelsnachweises an den jungen Historiographen in Brunn zu wenden. Als Burda auf diese Idee eingeht, ist er „froh, einen Weg der Ablenkung gefunden zu haben" (39,10). In ähnlicher Weise begründet der Ich-Erzähler auch seinen Beschluß, Burda in den „Englischen Hof" zu folgen, mit dem Bemühen, Schlimmeres verhüten zu wollen: Diese Einladung war mir natürlich sehr unerwünscht; da er aber darauf bestand, und ich überdies befürchten mußte, daß er sich in der Stimmung, in der er war, ohne meine Begleitung zu einem Aufsehen erregenden Schritt könnte hinreißen lassen, sagte ich schließlich zu. (41,11-14)

Mit dieser Zusage ist nun der Punkt erreicht, an dem der Erzähler selbst im engeren Sinne zum Teilnehmer an Burdas Schicksal wird, der nicht mehr nur distanziert das Geschehen beobachtet und abzuwenden sucht, sondern der selbst in dieses Geschehen hinein verwickelt ist. Damit ändert sich auch seine innere Einstellung zu Burda, mit dem er sich mehr und mehr auch gefühlsmäßig identifiziert. So verhindert er im „Englischen Hof" nicht nur weitere Handgreiflichkeiten, er legt sogar seine Karte auf den Tisch. Im anschließenden Gespräch mit Burda, das dem nun bevorstehenden Duell gilt, bringt er ihm, wie am Anfang ihrer Bekanntschaft, wieder eine gewisse Bewunderung entgegen, die, auch wenn sich in sie das Wissen um Burdas Wahn mischt, an die Situation am Beginn der Erzählung erinnert. Ich konnte nicht umhin, ihn mit einiger Bewunderung anzublicken. Was er da sprach, war keineswegs Prahlerei. Es entsprang, das fühlte ich, wirklichem Mute, wenn auch vielleicht dem Mute des Don Quixote, der es für sich allein mit ganzen Heeren aufnahm. (43,18-21)

Die gefühlsmäßige Bindung an Burda erscheint nun bis hin zur nahezu vollständigen Identifikation gesteigert, die ihren Höhepunkt erreicht, als der Erzähler dem Kartellträger Schorffs an Burdas Stelle antwortet; in diesem Zusammenhang verweist er selbst ausdrücklich auf seine eigene emotionale Betroffenheit: Es kam also, wie ich es vorausgesehen, und obgleich sich bei ruhiger Betrachtung dieses Vorgehen auch wirklich als das vernünftigste erwies, so lag darin für Burda doch eine Art Geringschätzung, die ich wider Willen mitempfand. (44,19-21)

Diesem „Empfinden" entspricht die allgemeine Reaktion im Regiment, insofern nun wieder die Ablehnung, mit der man Burdas offensichtlichen Hochmut wahrnahm, in Anerkennung umschlägt: Sein [Burdas] mannhaftes Auftreten gegen die Kavalleristen, das eine Art gemeinsamen Stolzes wachrief, imponierte den meisten, und es fehlte nicht an Zeichen der Anerkennung, die Burda mit ernster Zurückhaltung entgegennahm. (45,9-12)

Es ist von daher also am Ende der Erzählung auch in dieser Hinsicht die Anfangssituation wiederhergestellt: Die Empfindungen des Erzählers, der sich durch sei218

nen engen Kontakt mit Burda von den übrigen abgesondert hatte, widersprechen nicht länger denjenigen seiner Regimentskameraden. Sie stimmen, wie am Beginn der Erzählung, mit diesen überein. Damit schließt sich der Kreis. Nun ist aus der Wirkung, die das Verhalten Burdas auf die anderen ausübt, dessen exemplarischer Charakter im Hinblick auf die geheimen Wünsche, Hoffnungen und Ansprüche seines Standes abzulesen. Dabei kommen allerdings der Figur des Erzählers noch zusätzliche Funktionen zu, insofern sie als Burdas Vertrauter ebenso wie als Medium der Erzählung, als erlebendes wie als erzählendes Ich, besonderes Profil gewinnt - ein Profil, das sich, wie gezeigt, einerseits aus dem Streben nach rationaler Beurteilung des Geschehens, andererseits aber auch aus der affektiven Haltung gegenüber der dargestellten Person ergibt. Der Vergleich mit Cervantes Don Quixote, vom Erzähler ja nur im Hinblick auf die Gestalt Burdas selbst ausgesprochen, läßt sich hier auch auf die Anlage der ganzen Erzählung beziehen, insofern für diese das Verhältnis von Burda und Erzähler bestimmend ist, das sich so in die Wahnproblematik unmittelbar einfügt. Deutlich wird dies vor allem in der Sterbeszene, die in der Erzählung durchaus in Analogie zu jener am Ende von Cervantes Roman gezeichnet ist: In beiden Fällen wird durch die Nähe des Todes der Wahn durchbrochen - bei Don Quixote endgültig, bei Burda nur andeutungsweise und für einen Augenblick, indem dieser in Erwägung zieht, alles könne nur „Traum", „Einbildung" (48,16) gewesen sein. Im Roman wie in der Erzählung fallen nun die mitleidigen Reaktionen des jeweiligen Partners sehr ähnlich aus: Sancho Pansa versucht, seinen Freund von den Vorkehrungen im Hinblick auf seinen bevorstehenden Tod abzubringen, indem er ihm dessen frühere verrückte Pläne, ein gemeinsames Leben in Schäfertracht zu führen, wieder ins Bewußtsein ruft80; der Erzähler im Leutnant Burda bringt es im entscheidenden Augenblick nicht übers Herz, den Freund mit der Realität zu konfrontieren, ein Verhalten, das er mit dem Satz kommentiert: Wer wäre so grausam gewesen, es [daß die Veilchen von der Prinzessin stammen] zu bestreiten?(48,24)

Die Besonderheit des Erzählerverhaltens in Leutnant Burda liegt nun weiterhin darin, daß es nicht nur einfach im Sinne des Mitleids - der nach Schopenhauer einzig gültigen, weil nicht selbstsüchtigen Form der Liebe81 - zu verstehen ist, sondern daß der im Mitleid begründete Identifikationsprozeß mit Burda selbst wahnhafte Züge annimmt. Diese deuten sich in der erlebten Rede an, in der die Gedanken der Erzählerfigur beim Anblick ihres schon vom Tode gezeichneten Freundes Ausdruck erhalten. Da heißt es:

80 81

Vgl. Cervantes: Don Quijote, S.1100. Vgl. dazu z.B. Schopenhauer: SW4, S.213.

219

Tiefer Schmerz überkam mich, und dazu gesellte sich etwas wie ein Gefühl von Schuld. Hätte ich nicht verhindern können, daß es so weit gekommen? Hätte ich nicht schon längst alles anwenden sollen, um ihn, koste es, was es wolle, von seinen Täuschungen zurückzubringen? Aber hätt1 ich es, nach allem, was ich an ihm erfahren - mit ihm erlebt, auch wirklich vermocht? Wäre es überhaupt möglich gewesen, ihn von seinem Wahne zu heilen? Nein, es war nicht möglich! (47,16-22)

In dieser Passage erlebter Rede drückt sich etwas aus wie das Gefühl der Schuld an Burdas Leiden, eine Einsicht, die auf dem Hintergrund des Meynertschen Vortrags Ueher den Wahn den wahnhaften Charakter auch im Verhalten des IchErzählers entlarvt. Bei Meynert finden sich nämlich u.a. die Sätze: In den Nebenvorstellungen des Mitleids begründet sich der Gedanke der Schuld an fremden Leiden. Hier tritt noch eine Form der Stimmung hinzu, der Kleinheitswahn, wie er in den Melancholikern sich ausspricht, deren Wahninhalt das Selbstanklagedelirium ist.82

Die Erzählergestalt des Leutnant Burda zeigt sich so als Melancholiker gezeichnet, die Anflügen von Kleinheitswahn - und damit nach Meynert ebenfalls einer Form des Wahns, der einem gesteigerten Persönlichkeitsempfinden entspricht - ausgesetzt ist. Die Mitleidsproblematik der Erzählung stellt damit einen Bezug zur Wahnthematik her: Als einfühlsame, von Selbstzweifeln belastete Figur, die uns Einblick in ihr Innenleben gestattet, steht die Gestalt des Erzählers in Leutnant Burda, in einer Reihe mit Erzählerfiguren, wie sie im Werk auch anderer Literaten des Fin de Siecle begegnen83, schließlich sogar noch einen so bedeutenden Roman des zwanzigsten Jahrhunderts, wie ihn Thomas Manns Doktor Faustus zweifellos darstellt, bestimmen.84 Durch die Individualisierung des Ich-Erzählers, dessen Urteilsfähigkeit durch die eigene Betroffenheit ebenso wie durch die eigene Unsicherheit in Frage gestellt wird, gewinnt die Erzählung in einem hohen Grade an Objektivität; sie erscheint gleichsam als Geschehen, das sich selbst mitteilt und über das letztlich nur der Leser in eigener Verantwortung urteilen kann. Die Wahnthematik wird so bestimmend auch für die Erzählung in einem Sinn, der die eingangs zitierte Selbstäußerung Saars in ihrer generalisierenden Tendenz bestätigt: Wird doch die ganze Menschheit von Größen- und Verfolgungswahn beherrscht und gelenkt.85

Eine Kritik wie die Ludwig Geigers an dem Erzähler, der ihm als schwächlicher Versager erscheint, erweist sich damit insofern als verfehlt, als hier die Einbeziehung des Erzählers in die Wahnthematik nicht wahrgenommen und von daher

82 83

84

85

Meynert, S.96. Vgl. dazu z.B. die Ausführungen Ulrike Weinholds über den „personalisierten Erzähler"; in: Weinhold, S.175ff. Runggaldiers Behauptung, „daß der Ich-Erzähler jeden Sachverhalt richtig zu erkennen und zu beurteilen imstande" sei (vgl. Runggaldier, S.202), ist also entschieden entgegenzutreten. Brief Saars an Theodor Meynert, 26. September 1885; vgl. Meynert, S.93f.

220

auch seine erzähltechnische Funktion übersehen wird. Dagegen erfährt Rossbachers These von der „in die pathologische Überschätzung getriebenen"86 Form der Wahrnehmung, ihrer Perspektivität, auf dem Hintergrund der dargestellten Zusammenhänge eine Bestätigung; sie wird durch sie erst eigentlich faßbar.

Mit dem Befund, daß nicht nur die Gestalt Burdas und ihr Umfeld, sondern sogar die auf den ersten Blick so vernünftig, zuverlässig und sachlich wirkende Gestalt des Ich-Erzählers von jener Vanitas-Problematik betroffen ist, die der Erzählung ursprünglich ihren Namen geben sollte, bestätigt die vorausgehende Deutung nun auch im Hinblick auf Leutnant Burda, was Detlef Haberland in dieser Reihe bereits für die ebenfalls in der Sammlung Schicksale erschienene Erzählung Seligmann Hirsch nachweisen konnte: Saar geht es in seiner Erzählung im weitesten Sinne um das Problem eines allgemeinen Verfalls, von dem er die Donaumonarchie betroffen sieht. Was er, wie Detlef Haberland gezeigt hat, in Seligmann Hirsch an der Situation des Juden - nicht zufällig dem Repräsentanten einer der zumindest in der Ära des Liberalismus tragenden gesellschaftlichen Schichten - illustriert, den „Untergang der Monarchie"87, bezieht er hier auf die Bereiche von Adel und Militär, die im Ancien Regime ebenfalls eine tragende Rolle spielten. Dabei gewinnt der Kodex der ritterlichen Ehre, das „Kind des Hochmuts und der Narrheit"88, nicht von ungefähr eine so zentrale Bedeutung, da er nach Schopenhauer in eben jenen Schichten angesiedelt ist. Die Haltung, aus der er erwächst, läßt dabei zugleich die Ursache des Verfalls erkennen: Es ist letztlich jener Größenwahn, der in der Erzählung so feinsinnig mit den Motiven von Revolution und Reformation, nicht zuletzt auch mit dem Cäsarismus des spätrömischen Kaiserreiches in Verbindung gebracht wird. Wie solcher Größenwahn geeigenet ist, das Individuum in die Katastrophe zu führen, so kann er, wenn er gesellschaftliche Schichten erfaßt, zum Aufstand treibt und so bisher gegebene Lebensgemeinschaften zerstört, auch die Existenz ganzer Staatsgebilde gefährden. In diesem Sinne weisen Aussage und Bedeutung Leutnant Burdas weit über das in der vordergründigen Handlung der Erzählung Faßbare hinaus und deuten so auf eine

86 87 88

Vgl. Rossbacher, S.l48. Vgl. Haberland. Schopenhauer: SW5, S.404.

221

Dimension der Saarschen Erzählkunst, die deren oft begegnendes so oberflächliches Verständnis weit übersteigt.89

89

Während der Drucklegung des vorliegenden Bandes erschien der Aufsatz von Jean Charue Sein und Schein in Leutnant Burda. In: Ferdinand von Saar. Zehn Studien. Herausgegeben von Kurt Bergel. (- Studies of Austrian literature, culture, and thought) Riverside 1995. Der Aufsatz berührt Aussagen meiner Arbeit vor allem insofern, als er sich vorrangig mit den literarischen Anspielungen in der Erzählung auseinandersetzt, wobei er sich allerdings oft darauf beschränkt, diese aufzuzeigen, ohne sie zum Ausgangspunkt weiterreichender Überlegungen zu machen. In diesem Zusammenhang sind zwei Hinweise erwähnenswert, die mit Ergebnissen meiner Arbeit in Beziehung stehen und diese ergänzen. So verweist Charue (S.53) auf die Bezeichnung Burdas durch Schorff als einen „verwunschenen Prinzen" und erkennt darin den Titel einer „localen Zauberposse und gleichzeitig einer Parodie auf Gretrys Zauberoper Zemire und Azor". In dem Stück werde ein in ein Ungeheuer verwandelter Prinz schließlich entzaubert und heirate eine der drei Töchter des Sandelholz, der ein Fächerfabrikant sei. An späterer Stelle beschreibt Charue (S.57) die Funktion dieser Anspielung, indem er darauf hinweist, daß die „allzu idyllische Bezauberte Rose dem ins Tragische verzerrten Verwunschenen Prinzen" weiche. Diese Einsicht, der sicher zuzustimmen ist, liefert im Hinblick auf meine Überlegungen zur Struktur einen weiteren Aspekt: Die Erwähnung des Verwunschenen Prinzen findet sich im achten Kapitel und korrespondiert somit auf der Folie der von mir erkannten Struktur mit dem zweiten Kapitel, in dem außerdem Don Quixote erwähnt wird; beide literarische Anspielungen dienen dann u.a. der Klärung des „Verhältnisses von Illusion und Realität" (vgl. auch die diesbezüglichen Ausführungen meiner Arbeit). - Ein weiterer Hinweis Charues beruht auf der Deutung der Namen .Joseph" und „Fanny", die ihm als Anspielung auf Fieldings Roman Joseph Andrews gelten. Da dieser 1742 unter dem Originaltitel The History of the Adventures of Joseph Andrews and of his friend Mr. Abraham Adams. Written in Imitation of the manner of Cervantes, Author of „Don Quixote" eschienene Roman bereits 1745 in einer deutschen Übersetzung vorlag (Begebenheiten des Joseph Andrews und seines Freundes Abraham Adams. Ins Deutsche durch ein Mitglied der deutschen Gesellschaft übersetzt. Danzig 1745), der schon bald weitere Übersetzungen folgten (so 1761, 1765, 1775, 1784, 1786, 1811, 1840, 1848, 1850), - was immerhin auf eine gewisse Verbreitung und Popularität des Romans schließen läßt,- ist es durchaus wahrscheinlich, daß auch Saar Kenntnis von diesem Buch besaß. Charue zeigt nun auf, daß in dessen Handlungsführung deutliche Parallelen zu Leutnant Burda bestehen. So ende der Roman nach manchen Abenteuern und Hindernissen mit der Heirat von Joseph und Fanny, und der Held entpuppe sich als der Sohn eines reichen Herrn. Sollte Charues Hinweis, wofür ja einiges spricht, berechtigt sein, so hätte Saar auch durch die Wahl der Namen eine verschlüsselte literarische Anspielung untergebracht, die kapitelübergreifend auf die gesamte Handlungsführung bezogen ist und darüber hinaus durch den durch den Titel des Romans hergestellten Bezug zu Don Quixote ebenfalls auf eines der Grundthemen der Erzählung, das Verhältnis von Illusion und Realität, hinweist. Dies gälte dann auch in einem sehr konkreten Sinne, da ja der Name der Prinzessin,- wie im Kapitel über die „Erzählte Lebenswirklichkeit" dargelegt -, in jedem Falle auch einen Bezug zur tatsächlichen zeitgeschichtlichen Wirklichkeit darstellt.

222

V. BIBLIOGRAPHIE

1. Quellen a. Textzeugen des Leutnant Burda J1 Sk

S

N3

J2 N4 N4

Deutsche Dichtung. Hrsg. von Karl Emil Franzos. Bd.2. April bis September 1887, S.312-321 und S.338-354. Vollständiger Fahnenabzug der ersten Auflage der Schicksale in Privateinband, ohne Titel und Impressum sowie mit handschriftlichen Eintragungen Saars. Im Besitz von Herrn Dr. Alfred Frankenstein, Israel. S. 1-126. Schicksale. Drei Novellen von Ferdinand von Saar. (Der Novellen dritte Sammlung). Lieutenant Burda. Seligmann Hirsch. Die Troglodytin. Baronin Sophie Todesco herzlich zugeeignet. Heidelberg: Georg Weiß 1889. 271 S.; S.l-126. Novellen aus Oesterreich von Ferdinand von Saar. Erste Ausgabe in zwei Bänden. 3. Aufl. der Sammlung. Heidelberg: Georg Weiß 1897; Bd. 2, S.l-81. Wiener Mode 1898, S.294-296, 337-338, 376-378, 415-417, 456457, 497-498. Bürstenabzug der Novellen aus Oesterreich. Drittes und viertes Tausend in der Wiener Stadtbibliothek, I.N. 3469.] Novellen aus Oesterreich von Ferdinand von Saar. In zwei Bänden. Drittes und viertes Tausend. 4. Aufl. der Sammlung. Kassel: Georg Weiß 1904; Bd. 2, S.l-81.

b. Sonstige Werke Ferdinand von Saars a. Gedruckte Werke Saars Werke, außer Leutnant Burda, werden zitiert nach: Ferdinand von Saan Kritische Texte und Deutungen. Hrsg. v. Karl Konrad Polheim. Bd.l: Marianne. Kritisch hrsg. und gedeutet von Regine Kopp. Mit einer Einführung von Karl Konrad Polheim. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1980. Zitiert als: Kopp/Polheim in Kopp. Bd.2: Die Geigerin. Kritisch hrsg. und gedeutet von Heinz Gierlich. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1981. Gierlich 225

Bd.3: Innocens. Kritisch hrsg. und gedeutet von Jens Stuben. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1986. Stuben Bd.4: Seligmann Hirsch. Kritisch hrsg. und gedeutet von Detlef Haberland. Tübingen: Niemeyer Verlag 1987. Haberland Bd.5: Herr Fridolin und sein Glück. Kritisch hrsg. und gedeutet von Lydia Beate Kaiser. Tübingen: Niemeyer Verlag 1993. Kaiser Die übrigen gedruckt vorliegenden Werke Saars werden zitiert nach: Ferdinand von Saar. Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Im Auftrage des Wiener Zweigvereins der Deutschen Schillerstiftung mit einer Biographie des Dichters von Anton Bettelheim. Hrsg. von Jakob Minor. Bd. 1-12 in 4 Bänden. Leipzig: Max Hesse Verlag 1908. Saar: SW 1-12 Bemerkungen des Herausgebers Minor werden zitiert als Minor in Saar SW (mit der entsprechenden Band- und Seitenzahl).

ß. Ungedrucktes aus dem Nachlaß Saars Die folgenden bisher unveröffentlichten Dokumente werden nach den in der Wiener Stadt- und Handschriftenbibliothek archivierten Schriften zitiert. HsW HsW l HsW 2 HsW 3 HsW 4 HsW 5 HsW 6 HsW 7 HsW 8

226

-

Handschrift in der Wiener Stadt-und Landesbibliothek Titelblatt des Manuskriptes zu Leutnant Burda (I.N. 38254) Schreiben der Redaktion der Deutschen Dichtung (I.N. 17580) Original-Attestat des regierenden Fürsten von 1790 (I.N. 17374) Schreiben des Johann Adam Saar, 8. Dezember 1790 (I.N. 17375) Undatierte Nachrichten eine Dresdener Familie Sahr (I.N. 17382) Abschrift des Adelsdiploms vom 27. April 1840 (I.N. 17377) Fragebogen, der persönliche Daten und die Beschreibung des Familienwappens sowie die Familiengeschichte enthält (I.N. 17379) - Elsbeth, eigh. Ms (I.N. 69160)

c. Briefe von und an Ferdinand von Saar a. Gedruckte Briefe Fürstin Marie zu Hohenlohe und Ferdinand von Saar. Ein Briefwechsel. Hrsg. v. Anton Bettelheim. Wien 1910. Briefwechsel Hohenlohe Saar, Ferdinand von: Briefwechsel mit Abraham Altmann. Kritisch hrsg. und kommentiert von Jean Charue. Bonn 1984 (- Ferdinand von Saar Kritische Texte und Deutungen. Hrsg. von Karl Konrad Polheim, Ergänzungsband l). Briefwechsel Altmann Briefwechsel zwischen Ferdinand von Saar und Marie von Ebner-Eschenbach: Hrsg. von Heinz Kindermann. Wien 1957. Briefwechsel Ebner-Eschenbach

ß. Originalbriefe BrÖNB l - Ferdinand von Saar an Anton Bettelheim, Blansko, 26. Februar 1886 (I.N. 921/57-4). BrW l - Ferdinand von Saar an Marie von Ebner-Eschenbach, Oslavan, 18. Oktober 1887 (I.N. 49927) BrW 2 = Ferdinand von Saar an Karl Emil Franzos, Oslavan, 21. Juni 1886 (I.N. 38234) BrW 3 = Ferdinand von Saar an Karl Emil Franzos, Habrovan, 2. November 1886 (I.N. 38249) BrW 4 - Ferdinand von Saar an Karl Emil Franzos, Blansko, 14. Juni 1887 (I.N. 38250) BrW 5 - Ferdinand von Saar an Karl Emil Franzos, Blansko, 20. Juni 1887 (I.N. 38233) BrW 6 - Ferdinand von Saar an Karl Emil Franzos, Blansko, 24. Juni 1887 (I.N. 64489) BrW 7 - Ferdinand von Saar an Karl Emil Franzos, Blansko, 30. Juli 1887 (I.N. 88963) BrW 8 - Karl Emil Franzos an Ferdinand von Saar, Gmunden, 1. August 1887 (I.N. 17984) BrW 9 - Karl Emil Franzos an Ferdinand von Saar, Gmunden, 5. August 1887 (I.N. 50770) BrW 10 - Ferdinand von Saar an Karl Emil Franzos, Gmunden, 7. August 1887 (I.N. 38245) 227

BrW 11 BrW 12 BrW 13 BrW 14 BrW 15 BrW 16 BrW 17 BrW 18 BrW 19 BrW 20 BrW 21 BrW 22 BrW 23 BrW 24 BrW 25 BrW 26 BrW 27 BrW 28 BrW 29 BrW 30

228

- Karl Emil Franzos an Ferdinand von Saar, Wien , 17. August 1887 (I.N. 17985) - Ferdinand von Saar an Karl Emil Franzos, Blansko, 18. August 1887 (I.N. 38244) - Karl Emil Franzos an Ferdinand von Saar, Gmunden, 23. August 1887 (I.N. 50773) - Ferdinand von Saar an Karl Emil Franzos, Blansko, 25. August 1887 (I.N. 38242) - Ferdinand von Saar an Karl Emil Franzos, Blansko, 10. Dezember 1887 (I.N. 38240) - Ferdinand von Saar an Karl Emil Franzos, Blansko, 22. Oktober 1888 (I.N. 38238) - Karl Emil Franzos an Ferdinand von Saar, Berlin, 13. Dezember 1888 (I.N. 17987) - Adam Müller-Guttenbrunn an Ferdinand von Saar, Wien, 9. Januar 1887 (I.N. 50937) - Ferdinand von Saar an Adam Müller-Guttenbrunn, Blansko, 30. November 1888 (I.N. 34234) - Betty Paoli an Ferdinand von Saar, Wien, 6. Februar 1889 (I.N. 18163) - Anton E. Schönbach an Ferdinand von Saar, Graz, 26.10.1888 (I.N. 50821) - Ferdinand von Saar an Karl von Thaler, Blansko, 10. Januar 1886 (I.N. 30220) - Ferdinand von Saar an Karl von Thaler, Blansko, 4. April 1887 (I.N. 30224) - Ferdinand von Saar an Karl von Thaler, Oslavan, 27. September 1887 (LN. 30225) - Josef Unger an Ferdinand von Saar, Wien, 22. Dezember 1888 (I.N. 50856) - Ferdinand von Saar an Josef von Weilen, Blanko, 14. November 1880 (LN. 43207). - Georg Weiß an Ferdinand von Saar, Heidelberg, 20. Juni 1887 (I.N. 17763) - Georg Weiß an Ferdinand von Saar, Heidelberg, 9. Juli 1887 (I.N. 17765) - Georg Weiß an Ferdinand von Saar, Heidelberg, 7. August 1889 (I.N. 17775) - Georg Weiß an Ferdinand von Saar, Heidelberg, 12. August 1890 (LN. 17777)

BrW 31 BrW 32 BrW 33 BrW 34 BrW 35

- Georg Weiß an Ferdinand von Saar, Heidelberg, 5. Mai 1892 (I.N. 17787) - Georg Weiß an Ferdinand von Saar, Heidelberg, 24. Mai 1892 (I.N. 17790) «= Georg Weiß an Ferdinand von Saar, Heidelberg, 17. Januar 1896 (I.N. 17819) - Ferdinand von Saar an Franziska von Wertheimstein, Blansko, 22. November 1885 (I.N. 122219) - Franziska von Wertheimstein an Ferdinand von Saar, Wien, 27. Februar 1890 (I.N. 122.209)

d. Übrige abgekürzt zitierte Primärliteratur Die nachstehend aufgeführte Primärliteratur wird in abgekürzter Form zitiert (Name des Autors, Kurztitel, Bandzahl). Liegen von einem Autor mehrere Werke vor, so werden in der Liste die Kürzel aufgeführt, nach denen sie im Text bezeichnet werden. Cervantes Saavedra, Miguel de: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha. München 21981. Cervantes: Don Quijote Ernani. Lyrisches Drama in vier Akten. Nach dem Italienischen des Fr. Maria Piave von Josef Ritter von Seyfried. Von Paul Hiller revidierte Neuausgabe. Musik von Guiseppe Verdi. Klavier-Auszug mit deutschem und italienischem Texte. Mailand-Rom-Neapel-Palerma-London-Leipzig-Buenos Aires, o. J. Ernani Flotow, Fridrich von: Martha oder der Markt zu Richmond. Romantisch-komische Oper in vier Aufzügen, (teilweise nach einem Plan von Saint-Georges) von W. Friedrich. Vollständiges Buch herausgegeben und eingeleitet von Wilhelm Zentner. Stuttgart 1982 (- Universalbibliothek Nr. 5153). Flotow: Martha Herzl, Theodon Tagebücher, Bd. 1. Berlin 1923.

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Der Prophet. Große Oper in fünf Aufzügen von Giacomo Meyerbeer. Dichtung von Eugene Scribe. Übersetzt von L. Rellstab. Vollständiges Buch hrsg. von Carl Friedr. Wittmann. Leipzig o. J. (- Reclam Universalbibliothek, frühere Nr. 3715). Der Prophet Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. 2. Aufl. 4 Bde. Leipzig: Brockhaus 1877. Schopenhauer: SW 1-4 Schulze, Ernst: Die Bezauberte Rose. In: Bibliothek der Deutschen Klassiker, Bd. 17. Mit literaturgeschichtlichen Einleitungen, Biographien und Porträts. Periode der Romantiker. Vierter Theil. Hildburghausen 1861. Schulze: Bezauberte Rose Ueber den Wahn. Vortrag, gehalten am 26. Januar 1885 im Wissenschaftlichen Club in Wien. Veröffentlicht in: Meynert, Theodor: Sammlung von populärwissenschaftlichen Vorträgen über den Bau und die Leistungen des Gehirns. Wien-Leipzig 1892. Meynert: Wahn

230

2. Sekundärliteratur Die Titel werden in den Anmerkungen in abgekürzter Form zitiert; diese Kurztitel sind im folgenden den vollständigen Angaben beigefügt.

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