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German Pages 328 Year 1993
FERDINAND VON SAAR KRITISCHE TEXTE UND DEUTUNGEN Herausgegeben von Karl Konrad Polheim
Fünfter Band
FERDINAND VON SAAR
KRITISCHE TEXTE UND DEUTUNGEN
Herausgegeben von Karl Konrad Polheim
FÜNFTER BAND Herr Fridolin und sein Glück
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN
1993
FERDINAND VON SAAR
HERR FRIDOLIN UND SEIN GLÜCK
Kritisch herausgegeben und gedeutet von Lydia Beate Kaiser
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1993
In dieser Ausgabe ist vorher bereits erschienen (im Bouvier Verlag, Bonn): Band l Band 2 Band 4 Ergänzungsband l
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ferdinand von Saar, kritische Texte und Deutungen l hrsg. von Karl Konrad Polheim. Tübingen : Niemeyer. Teilw. im Bouvier-Verl., Bonn NE: Polheim, Karl Konrad [Hrsg.] Bd. 5. Kaiser, Lydia Beate: Ferdinand von Saar, Herr Fridolin und sein Glück. - 1993 Kaiser, Lydia Beate: Ferdinand von Saar, Herr Fridolin und sein Glück / kritisch hrsg. und gedeutet von Lydia Beate Kaiser. - Tübingen, Niemeyer, 1993 (Ferdinand von Saar, kritische Texte und Deutungen ; Bd. 5) NE: Saar, Ferdinand von: Herr Fridolin und sein Glück ISBN 3-484-10689-1 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck und Einband: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
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I.
TEXT
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II.
KRITISCHER APPARAT
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1. Editorische Hinweise
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2. SammelVarianten a. Orthographische Varianten a. Vokalismus und Konsonantismus ß. Groß- und Kleinschreibung y. Getrennt- und Zusammenschreibung . Angleichung von Fremdwörtern an die deutsche Schreibung e. Der Apostroph b. Lautvarianten c. Interpunktionsvarianten
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3. Fortlaufendes Variantenverzeichnis
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TEXT-UND WIRKUNGSGESCHICHTE
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1. Vorgeschichte und Umgrund a. 1893: Höhepunkt des dichterischen Ruhms mit den Wiener Elegien - Geburtstagsehrung - Die 'Moderne' b. Wiederentdeckung des Biedermeier - Die Nachlaßverwaltung von Eduard von Bauernfelds Werken c. Möglicher Verlagswechsel: Saars Verhandlungen mit seinem Verleger Weiß
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III.
2. Die Entstehung und die erste Veröffentlichung 1894 (J1) a. Das erste Konzept Frühjahr 1893 b. Die Fertigstellung der Erzählung: 1894 c. Vorbereitung zu einer Veröffentlichung d. Die Veröffentlichung in der Zeit (J1) e. Die Rezeption 1894-95
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3. Die Veröffentlichung des Fridolin im Wiener-Neujahrs-Almanach för das Jahr 1896 (J2)
a. Der Wiener-Almanach b. Die Überarbeitung für den Wiener-Neujahrs-Almanach 4. Der Druck im Novellenband Herbstreigen 1897, recte 1896 (Hr) a. Die Überarbeitung für den Herbstreigen b. Die Veröffentlichung des Herbstreigens c. Die Rezeption des Herbstreigens a. Der Herbstreigen und die Moderne ß. Abraham Altmann: der einfühlsame Kritiker des Herbstreigens . Die Rezeption des Herbstreigens ab 1897
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5. Die Rezeption und weitere Ausgaben des Fridolin nach Saars Tod a. Die 'herbstliche' Dichtung Saars b. Die 'humoristischen' Versuche Saars c. Die 'mährischen Erzählungen' Saars d. Weitere Ausgaben des Fridolin nach 1906
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6. Der Fridolin in der wissenschaftlichen Literatur
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IV. DEUTUNG
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l. Die Voraussetzungen a. Die literarische Tradition a. Der treue Diener Fridolin ß. Das Glück der Idylle b. Die außerliterarische Realität a. Eine mährische Schloßgeschichte ß. Das Nationalitätenproblem . Der geschichtliche Hintergrund im Fridolin
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2. Die Erzählperspektive a. Ironisches und humoristisches Erzählen in Saars Werk b. Der ironische Rahmenerzähler im Fridolin c. Fridolin als Erzähler
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d. Fridolins Redestil
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V.
3. Die Struktur
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4. Die Konfiguration
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5. Die Philosophie a. Voraussetzung: die Biedermeieridylle b. Der Schriftsteller c. Die philosophische Konzeption des Glücks d. Die Metaphysik der Geschlechtsliebe e. Das Mutterrecht
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6. Die Symbolik a. Das Wasser b. Das Feuer c. Wasser und Feuer: das Bier
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7. Das Märchen
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BIBLIOGRAPHIE
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1. Quellen a. Textzeugen b. Sonstige Werke Ferdinand von Saars a. Gedruckte Werke ß. Ungedruckte Werke c. Briefe von und an Saar a. Gedruckte Briefe ß. Orginalbriefe d. Weitere nach Orginalen zitierte Briefe e. Übrige abgekürzt zitierte Primärliteratur
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2. Sekundärliteratur a. Literatur zu Saar und Fridolin b. Übrige abgekürzt zitierte Sekundärliteratur
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VORWORT
Die vorliegende Studie befaßt sich als fünfter Band der von Karl Konrad Polheim herausgegebenen Reihe Ferdinand von Saar: Kritische Texte und Deutungen mit der Erzählung Herr Fridolin und sein Glück. Der Zeitpunkt der Entstehung - die Feiern zum sechzigsten Geburtstag des Schriftstellers und die damit verbundenen engen Kontakte Saars zur Wiener Moderne - sowie die Sonderstellung dieser humoristischen Novelle im Gesamtwerk des Autors eröffneten bisher noch nicht erarbeitete Untersuchungsmöglichkeiten. Dabei bildete auch hier die Dokumentation der Text- und Wirkungsgeschichte die Grundlage für die sich anschließende Deutung, die ihrerseits auf die Aufdeckung der vielschichtigen Erzähl weise Saars abzielte. Für die hilfreiche Unterstützung bei der Erschließung der zahlreichen unveröffentlichten Texte, insbesondere der Frühwerke und Briefe Saars, möchte ich an dieser Stelle der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, dem Bezirksmuseum Wien-Döbling und der Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, die mir Einsicht in den brieflichen Nachlaß von Hermann Bahr gab, danken. Ebenso gilt mein Dank Herrn Dr. Jens Stuben, der mir Briefe aus seinem Privatbesitz sowie die noch nicht veröffentlichten Abschriften der Saar-Briefe aus dem Deutschen Literaturarchiv, Marbach a. N. zur Verfügung stellte. Besonders zu Dank verpflichtet bin ich meinem verehrten Doktorvater, Herrn Professor Dr. Karl Konrad Polheim, der diese Dissertation mit nie ermüdendem Interesse und konstruktiver Kritik betreute. Zuletzt möchte ich meiner Familie für ihren Einsatz und ihre Unterstützung danken, ohne die die Durchführung dieser Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Bonn, 24. Juli 1992 Lydia Kaiser
I. TEXT
HERR FRIDOLIN UND SEIN GLUCK
Von
Ferdinand von Saar
Kritischer Text auf Grund der einzigen Auflage von Saars
Herbstreigen 1897 (Hr)
I.
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Schopenhauer spricht in einer seiner zahlreichen Abhandlungen über die Leiden und die Nichtigkeit des Daseins die Behauptung aus: daß die sogenannten Glücklichen es nur scheinbar, höchstens aber nur vergleichsweise seien, und wenn schon hin und wieder ein wahrhaft Glücklicher vorkäme, so sei dies ein so seltener Fall wie ein erreichtes sehr hohes Alter, wozu - gleichsam als Lockvogel - die Möglichkeit gegeben sein müsse. Nun, als ein solcher ausnahmsweise Glücklicher stellte sich der Zimmerwärter auf dem gräflichen Schlosse zu N..., Herr Friedrich - oder eigentlich, der czechischen Taufliste nach, Herr Bednch Kohout dar. Schon der Lebens- undc Entwickelungsgang dieses merkwürdigen Mannes sprach dafür. Vom barfüßigen, des Lesens und Schreibens unkundigen Lehrjungen in der Schloßtischlerei hatte er es durch besondere Dienstwilligkeit und Verwendbarkeit im Lauf einiger Jahre zum Hausknecht gebracht, in welcher Eigenschaft ihm nebst anderen Verrichtungen auch das Heizen sämmtlicher Oefen, sowie die Betreuung aller im Gebrauch stehenden Lampen oblag. Diesen wichtigen Geschäften unterzog er sich mit einem verständnißvollen Eifer, welcher von der plumpen Fahrlässigkeit seines Vorgängers auf das überraschendste abstach, und da er dabei die eigene Person sehr sauber hielt, das fahle Haar sorgfältig in der Mitte gescheitelt trug und sein rundes Gesicht beständig in unterwürfigem Frohsinn strahlen ließ, so erfreute er sich im Schlosse bald der allgemeinsten Beliebtheit. Man ließ sich herab, ihn anzusprechen, wenn er, die Holztrage auf dem Rücken, in den Gängen oder im Hofe vorüberkam, und ergötzte sich an der harmlosen Dreistigkeit, mit welcher er neckende Fragen höchst schlagfertig zu beantworten wußte. Jemand wandelte einmal scherzweise seinen Rufnamen Friedrich in Fridolin um, was allseitig Anklang fand, und von nun ab nannte ihn Niemand mehr anders. Als sich mit der Zeit einige Lücken in der höheren Dienerschaft ergaben, wurde auch sofort erwogen, ob man diesen gutmüthigen, anstelligen Burschen, der sich nach und nach die deutsche Sprache nicht blos in Wort, sondern auch einigermaßen in Schrift zu eigen gemacht hatte, nicht näher heranziehen solle. Wirklich entschloß man sich, ihn probeweise dem jungen Erbgrafen zur persönlichen Dienstleistung zuzutheilen. Dieser Versuch übertraf alle Erwartungen, und nachdem der Noviz seinen Herrn und dessen Hofmeister auf einer Reise durch Italien begleitet hatte, erklärte Graf Benno halb im Scherz, halb im Ernst: er könne ohne seinen Fridolin gar nicht mehr leben. Dieser wußte sich auch bei einer späteren Reise, die in Begleitung eines älteren Standesgenossen nach Paris und London - und von dort aus nach New-York unternommen wurde, mit überraschendem Orts- und Spürsinn überall zurechtzufinden, ja er bot zum Erstaunen und auch sehr zum Vortheile der beiden hohen Reisegefährten sogar der Seekrankheit Trotz. Und als die glückliche Heimkehr im Schlosse durch ein großes Diner gefeiert wurde, da fand Fridolin Gelegenheit, seinen außerordentlichen Eigenschaften die Krone aufzusetzen. Der schon bejahrte Kammerdiener war nämlich gerade an diesem Tage in Folge einer starken
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Erkältung gezwungen, das Bett zu hüten; welcher Andere aber konnte für ihn einspringen, als der umsichtige Beschützer und treue Diener seines jungen Herrn? Da stand er nun in dem gewölbten Speisesaale, schwarz befrackt, mit weißer Halsbinde, und überwachte, die Stirn in strenge Falten gelegt, die schüsselreichenden Diener, oder bewegte sich zwischendurch selbst unhörbaren Schrittes um die Tafel, die serviettenumhüllte Flasche den Gläsern nähernd und den Gästen mit ehrerbietig gedämpfter Stimme C h a t e a u - M a r g a u x , Rheinwein und Champagner anbietend, welch letzteren er, anmuthiger Abwechslung halber, auch " V e u v e C l i q u e t" oder " G r a n d m o u s s e u x " nannte. Die Höhenlinie seines Daseins aber erreichte er, als er einige Jahre später ein Ehebündniß mit dem Fräulein Katinka Kwapil schloß. Diese bereits etwas überreife Schönheit, deren einziger Fehler in einer allzu sehr nach aufwärts gerichteten Nase bestand (denn sie erfreute sich eines üppigen blonden Haarwuchses, schmachtender blauer Augen und, wie Kenner versicherten, einer prachtvollen Büste), war der Reihe nach Kindermädchen bei den drei Comtessen des Hauses gewesen. Da jedoch nunmehr auch die jüngste solcher Obhut entwachsen war, sollte die brave Katinka für ihre aufopfernden Dienste belohnt und ihr, wie sich die Frau Gräfin-Mutter ausdrückte, ein " s o r t " bereitet werden. Und welch besseres Loos konnte ihr beschieden sein, als das, die Gattin des treuen Fridolin zu werden, welchem bei diesem Anlasse eine neue, höchst ehrenvolle und wichtige Stellung zugedacht wurde. Der bisherige Zimmerwärter war mit zunehmendem Alter immer bequemer und nachlässiger geworden, so zwar daß man sich endlich gezwungen sah, ihn in den Ruhestand zu versetzen. Zu seinem Nachfolger aber wurde - wie schwer ihn auch sein Herr entbehren mochte - Fridolin bestimmt. Denn dieser Perle unter den Dienern, diesem zuverlässigsten aller Menschen, der ja auch mit dem Hobel und Leim umzugehen wußte, konnten sämmtliche Kostbarkeiten des Schlosses, konnten die reichgeschnitzten Möbel und breitumrahmten Bilder, die alten Gobelins und persischen Teppiche, die zahllosen Statuetten, Vasen und Nippgegenstände, sowie der funkelnde Tafelsatz in allen Metall-, Porzellan- und Glassorten mit ruhiger Seele anvertraut werden; wie man auch überzeugt sein konnte, fernerhin die Gastzimmer nicht in mangelhaftem Zustande, die entlegenen und unbenutzten Räumlichkeiten nicht in völliger Verwahrlosung anzutreffen. So fand denn mit seiner Ernennung auch die Hochzeit statt, und das reich beschenkte Paar bezog in einem Nebengebäude eine sehr geräumige, nett ausgestattete Wohnung, um dort die Flamme des häuslichen Herdes auflodern zu lassen. Allerdings war Fridolin mit seinem neuen Amte die Verpflichtung auferlegt worden, die gewohnten Dienstleistungen bei dem Erbgrafen bis auf weiteres nebenher fortzusetzen, und auch Katinka wurde immer noch zu allerlei Handreichungen in's Schloß gezogen, was begreiflicherweise bei Tag und bei Nacht vielfältige Störungen in dem jungen Eheleben mit sich brachte. Indeß führte, wie überall, auch hier die Zeit Veränderungen herbei, welche Fridolin allmälig zum selbstständigen Manne machten. Die beiden ältesten Comtessen
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hatten sich schon vor einigen Jahren vermählt; nun folgte der Bruder ihrem Beispiele, indem er eine fürstliche Erbin erkor, welche ihm ausgedehnte Güter in Böhmen und Ungarn mitbrachte. Diese Besitzungen erforderten die Anwesenheit des neuen Herrn, der fortan abwechselnd dort seinen Aufenthalt nahm. Und als das Haupt der Familie, Erlaucht s e n i o r , eines Tages das Zeitliche gesegnet hatte, da fanden sich die Gräfin Wittwe und ihre jüngste Tochter doch zu verlassen und abgeschieden in dem weitläufigen Schlosse; sie zogen es endlich vor, den Sommer auf den Gütern ihrer Angehörigen, den Winter aber in Wien oder Meran zuzubringen. Auf diese Art wurde Fridolin wirklich zum Alleinherrscher in dem verlassenen Schlosse, welchem er jetzt seine ganze Liebe und Hingebung weihen konnte. Es soll hier gar nicht näher beschrieben werden, mit welchem Eifer, mit welcher Sorgfalt er jeden Frühling und Herbst mit einer Anzahl weiblicher Hilfskräfte die Lüftung und die Reinigung der Gemächer vornahm; wie er, die Wichsbürste unter den rechten Fuß geschnallt, in tollen Wendungen über die Parqueten hinfuhr, bis diese wie Spiegel glänzten; wie er schadhaft gewordene Möbel, eines nach dem anderen, in die kleine Tischlerei, die er in seinem Wohnhause hergestellt hatte, schleppte oder schleppen ließ, um, ohne Rücksicht auf seine weißen fleischigen Hände, unermüdlich daran zu hämmern, zu leimen und zu firnissen - kurz: es war jahraus, jahrein Alles in solchem Stande gehalten, daß die weiten, funkelnden Räumlichkeiten jeden Augenblick wieder bezogen werden konnten. Daran dachte nun freilich Niemand; aber es ereignete sich doch hin und wider, daß sich der in der Ferne weilende Herr mit einigen erlesenen Gästen auf seinem väterlichen Stammsitze zur Jagd ankündigen ließ. Da mußte denn Fridolin Küchen- und Kellerschlüssel bereit halten, das nöthige Tafelzeug hervorholen und das Büffet in Stand setzen, während Frau Katinka ihre culinarischen Kenntnisse mit Zuhilfenahme eines dicken Kochbuches auffrischte. Und als dann die erlauchten Jäger müde und hungrig beim späten Diner saßen: da war e r es wieder, der in schwarzem Frack und weißer Halsbinde die schüsselreichenden Diener überwachte und die edlen Weine in die Gläser
Das ging aber jedesmal rasch wie ein" Traum vorbei, und Herr Fridolin schlüpfte 30 alsbald wieder in den bequemen braunen Lodenrock mit grünen Vorstößen, den er im Stillleben seiner Häuslichkeit zu tragen pflegte. Und eine geordnetere, behaglichere Häuslichkeit, als die seine, konnte es kaum mehr geben. Das Wohnhaus glich einer kleinen Villa. Es sah auf ein schmuckes Vorgärtchen, in welchem hochstämmige Rosen prangten, und rückwärts dehnte sich ein geräumiger Obst- und Gemüsegarten aus. 35 Abgegrenzt wurde dieser durch einen großen Hühnerhof, wo es in allen Tonarten gackerte, schnatterte und gluckste, so wie durch eine Reihe hölzerner Koben, aus welchen von Zeit zu Zeit fröhliches Grunzen drang. Dies Alles betreute Frau Katinka mit eigener Hand; denn es galt nicht blos das Nothwendige für den Hausbedarf zu erzielen, sondern auch einen schwungvollen Handel mit Geflügel und Ferkelchen zu 40 betreiben, welcher es dem Gatten ermöglichte, einen großen Theil seines dienstlichen
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Einkommens für sich und die Seinen bei Seite zu legen. Sie hatte im Laufe der Jahre drei Kinder geboren, zwei Mädchen und einen Knaben, welche sämmtlich runde Gesichter und nach aufwärts gestülpte Stumpfnasen zur Schau trugen, was umso begreiflicher war, als sich auch Herr Fridolin durch kein Adlerprofil auszeichnete. Sie wuchsen in voller Gesundheit und Frische heran, und besuchten schon alle die Schule, wo ihnen, da man dem Lehrer eine deutsche Nachstunde bezahlen konnte, die Wohlthat eines zweisprachigen Unterrichtes zu Theil wurde. Zu Hause redeten sie mit der Mutter und der Magd böhmisch, mit dem Vater, der dies unbedingt forderte, deutsch - und so war in der Familie der Nationalitäten-Ausgleich auf das befriedigenste hergestellt, wenn auch Frau Katinka im Stillen mehr auf die slavische Seite hinneigte. Ihre Schönheit hatte mit der Zeit begreiflicherweise einige Einbuße erlitten. Das dichte Blondhaar zeigte sich ziemlich gelichtet, die schmachtenden Augen hatten mit röthlichen Rändern einen schärferen Ausdruck angenommen, und auch die Büste schien nicht mehr so prachtvoll wie früher zu sein. Aber Herr Fridolin, wenn er es überhaupt bemerkte, ließ sich das nicht anfechten, wie er denn fast in Allem, was nicht den Dienst betraf, den erhabenen Grundsätzen der Stoa huldigte. Auch war ja Katinka noch immer eine ganz hübsche Erscheinung, zumal wenn sie Sonntags in die Kirche ging, wo sie durch ihre elegante und modernste Kleidung nicht blos bei der Frau des Schloßgärtners, sondern auch bei der des Gutsverwalters und den sonstigen Spitzen der weiblichen Ortsbevölkerung neidische Bewunderung erregte. Freilich konnte sie sehr leicht solchen Luxus entfalten. Denn ihre einstigen Pflegebefohlenen verabsäumten nicht, ihr alljährlich zu Weihnachten ausgemusterte, das heißt kaum getragene Kleider, Jacken und Mäntel zu senden, wobei sie, nun selbst Mütter geworden, auch der Kinder nicht vergaßen. Seine Erlaucht, der Herr Graf, entzog sich ebenso wenig dieser Pflicht der Dankbarkeit und erfreute den treuen Fridolin ziemlich regelmäßig mit Ablegern aus seiner eigenen Gaderobe, in Folge dessen der Herr "SchloßVerwalter" - so hörte sich der allein herrschende Zimmerwärter gerne nennen - selbst aussah wie ein Cavalier, wenn er an der Seite seiner Gattin erschien und nach beendetem Gottesdienst Arm in Arm mit ihr den Heimweg antrat. Und wenn er dann nach eingenommenem Mahle, welchem Frau Katinka an Sonn- und Feiertagen stets eine Tasse schwarzen Kaffees folgen ließ, eine Cigarre rauchend in dem von Rosen durchdufteten Vorgärtchen saß, das hohe, schöne Schloß in altfranzösischem Styl vor Augen: da mochte er, der einst barfüßig und in geflicktem Jäckchen durch das Portal des Vorhofes hier eingezogen war, mit dem erhebenden Bewußtsein dessen, was er erreicht und errungen, auch das Vollgefühl haben, ein Glücklicher zu sein.
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II.
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Dennoch - es muß leider gesagt werden - würde der Skepticismus Schopenhauers auch hier ein Haar in der Suppe gefunden und auf den Ausspruch des Horaz hingewiesen haben, der da lautet: n e m o ab o m n i p a r t e b e a t u s . Und wirklich: es gab eine Seite, von welcher aus sich das Dasein des altgräflichen Zimmerwärters weniger beneidenswert!! darstellte. Auch an s e i n e m Glücke war ein wunder Punkt; freilich nur ein ganz kleiner, verschwindend kleiner - aber er machte sich um so empfindlicher geltend, als er allwöchentlich, und zwar jeden Donnerstag berührt wurde. Aus welchem Anlasse und in welcher Art, wird aus Folgendem klar werden. Herr Fridolin hatte nämlich eine entschiedene Vorliebe für Pilsener Bier. Nun soll damit nicht etwa gesagt sein, daß er ein Trinker gewesen. Welcher Freund und Verehrer jenes hellen, durchsichtigen, stark hopfenhältigen Gebräues könnte überhaupt ein Trinker genannt werden ? Nein: Fridolin brachte diesem ersten der Biere jene würdevolle Bedächtigkeit entgegen, die ihn nach allen Richtungen hin auszeichnete. Er zog es eben jedem anderen Getränke vor, ja es war gewissermaßen das einzige, das er zu sich nahm. Im übrigen erwies er sich, wie alle bedeutenden Menschen, nicht abhängig von seinen leiblichen Bedürfnissen, die er auf das allereinfachste zu befriedigen liebte. Möglich, daß er sich seinerzeit in den Leckerbissen übernommen hatte, die auf der Tafel erschienen waren und deren schönste Reste sehr oft der Dienerschaft anheim zu fallen pflegten. Gewiß ist, daß ihm jetzt der Anblick von Austern, Hummern oder Gänseleberpasteten Widerwillen erregte, und daß er auf Fasane und Schnepfen mit Geringschätzung hinabsah. Auch aus anderem Geflügel machte er sich nichts, und Frau Katinka konnte das, welches sie aufzog, ruhig den Händlern überlassen, wenn sie ihm nur oft genug Rauchfleisch mit Knödeln oder jene mit Quark und Rosinen belegten Kolatschen vorsetzte, die sie so ausgezeichnet zu bereiten verstand. Und was sollten ihm all die Weine, welche in bestäubten Flaschen in der Tiefe des Kellers lagerten? Was dieser nach Tinte schmeckende Bordeaux, dieser parfümirte Johannisberger - oder gar dieser süßlich prickelnde Weiberschleck, der Champagner? Höchstens, daß er gelegentlich ein Glas alten Oesterreichers zu sich nahm, wiewohl er auch da nach dem ersten prüfenden Schluck die Mundwinkel, mißvergnügt schmatzend, herabzog. Ja, nur dem "Pilsener" wohnte gediegene, ausgeglichene Kraft inne - und eine herbe Fülle von Wohlgeschmack, dem kein anderer zu vergleichen war. Aber es hatte, wie alle Biere, die Eigenthümlichkeit, daß es nur dann voll mundete, wenn es frisch verzapft war. Pilsener, das auch nur einen Tag - geschweige denn mehrere - lief, verdiente den Namen nicht; auf Flaschen gezogen, konnte es nur als jämmerlicher Nothbehelf gelten. Also frisch vom Fasse weg mußte es getrunken werden! Das jedoch konnte, wie an allen kleinen Orten, wo die Wenigsten im Stande waren, sich diesen Genuß zu gönnen, nur an jedem Donnerstag und Samstag geschehen - und zwar in dem nicht weit vom Schlosse entfernten Gasthause des Herrn Wenzel Sykora. Dort also rann
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es zweimal die Woche vom Nachmittag bis tief in die Nacht hinein vom Zapfen in's Glas. O, wie gemüthlich ging es dabei zu! Besonders an Samstagen, wo man sich, den geschäftelosen Sonntag vor Augen, dem wohligsten Behagen hingeben konnte. An einer langen Tafel in der Mitte der niederen, verräucherten Wirthsstube, sowie an kleineren, von Hängelampen überqualmten Seitentischen, wo sich lebhafte Tarokpartien entwickelten, saßen im Vereine mit den angesehensten Bürgern und Grundbesitzern: der Gutsverwalter, der Rentmeister, der Forstcontrollor, sämmtliche Adjunkten und Schreiber, der Schloßgärtner und - l a s t , not l e a s t - i n seiner ganzen unvergleichlichen, unterwürfig stolzen Würde Herr Fridolin. Da flössen die Stunden nur so mit dem köstlichen Naß dahin, das Herr Sykora, verständnisvoll schmunzelnd, in den blinkenden Gläsern vor Mann zu Mann umhertrug. So wies denn der Zeiger stets weit über Mitternacht, wenn Herr Fridolin, die Mütze aufs Ohr gesetzt, sich auf den Heimweg machte und mit etwas wankenden Beinen in das eheliche Schlafgemach trat, wo ihn Frau Katinka aufs liebevollste erwartete und empfing. Sie lächelte ihm in einem koketten Nachthäubchen vom flaumigen Pfühl aus entgegen, und keine Gardinenpredigt weckte die Kinder, die in der Nebenstube den Schlaf der Unschuld schliefen. Nur zärtliches Geflüster wurde vernehmbar, das noch einige Zeit fortdauerte, wenn das Licht gelöscht war. Aber so nachsichtig und duldsam die liebende Gattin sich an Samstagen erwies: so unerschütterlich, ja grausam streng verhielt sie sich an Donnerstagen. Da durfte Fridolin an ein längeres Verweilen bei Herrn Sykora nicht denken; es war ihm nur gestattet, zur "Jause" sich dorthin zu begeben: Schlag sieben, um welche Zeit das gemeinsame Familien-Nachtmahl eingenommen wurde, mußte er wieder zu Hause sein. Also kaum zwei Stunden, zwei kurze Stunden waren ihm gegönnt. Und was ließ sich in einer solchen Spanne Zeit leisten - in einem Getränke leisten, das nicht rasch und unbedacht hinter die Binde gegossen werden konnte, sondern gewissermaßen mit Andacht ausgekostet werden mußte? Allerdings hätte er sich wohl - Frau Katinka würde es gestattet haben - das fehlende Quantum nach Hause bringen lassen können. Aber Pilsner über die Gasse tragen! In einem Kruge oder einer Flasche! Ging da nicht schon durch das mehrmalige Umgießen die beste Kraft, das feinste Arom verloren! Nein: nur in der richtigen Faßnähe konnte es wirklich genossen werden. Und gerade dann, wenn man so recht eigentlich anfing, auf den Geschmack zu kommen - zu einer Zeit, wo sich die Thür öffnete, die freizügigen Gäste einer nach dem anderen eintraten, um sich mit vertraulichem Gruße hinter die Gläser zu setzen: aufbrechen und der Gesellschaft Valet sagen! Es war, wie gesagt, ein furchtbares, grausames Gebot - aber er mußte sich ihm fügen. Denn wenn er sich auch beikommen lassen wollte, den Schlag der siebenten Stunde zu überhören: er konnte gewiß sein, daß in kürzester Frist ein plumper Finger draußen an eine Fensterscheibe pochte; und wenn er auch dieses Pochen überhörte, dann ging alsbald die Thür auf, und durch die Spalte hinein rief die schrille Stimme seiner Hausmagd: Pane Kohout! Und blieb er auch dann taub, so erschien nach einer Weile eines der stumpfnasigen Kinder, um dem Vater zu melden, daß das Essen auf
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dem Tisch stehe. Raffte er sich, den kleinen Boten abweisend, mit äußerster Kraftanstrengung zu dem Bescheid auf: man solle nur ohne ihn zum Nachtmahl gehen, da konnte es sich ereignen - einmal geschah es und durfte nicht wieder geschehen! - daß plötzlich die Thür weit aufgestoßen wurde und Frau Katinka, Haupt und Brust male5 risch mit einem dunklen Tuche umhüllt, auf der Schwelle erschien, ein zorniges und gebieterisches "Fridolin!" erschallen lassend. Nein: besser, als dann kreidebleich aufspringen und, ohne die Zeche zu bezahlen, unter dem Zischeln und verhaltenen Lachen der Mitgäste wie begossen abeilen - besser war es, noch vor der entsetzlichen Stunde aufzubrechen. Und wenn er das nun mit einem wehmüthigen Scheideblick auf 10 das letzte geleerte Glas jeden Donnerstag that und, von dem halb mitleidigen, halb spöttischen Abschiedsgruße des Herrn Sykora geleitet, den Weg nach dem Schlosse antrat, da waltete ein bitteres Gefühl in seiner Brust, und er würde, wenn er sie gekannt hätte, mit eingestimmt haben in die Worte des römischen Dichters: n e m o a b omni parte beatus. 15
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Das Alles hatte ich so nach und nach in Erfahrung gebracht, da ich oft genug als Gast in dem Schlosse verweilte, wo mir in einem kleinen Seitenflügel selbst dann noch zwei Zimmer zur Verfügung standen, als Herr Fridolin bereits die alleinige SchlüsselOberhoheit führte. Während eines solchen einsamen Aufenthaltes aber sollte mir ein noch tieferer Einblick in das Wesen des merkwürdigen Mannes vergönnt werden. Es war im Winter an einem jener Donnerstage, welche für ihn stets so peinvoll verliefen. Ich hatte wie gewöhnlich bei Herrn Sykora ziemlich spät Mittag gehalten und mich dann beim Kaffee in ein Buch vertieft, das ich, weil es mich sehr interessirte, zu mir gesteckt. Draußen heulte ein wilder Schneesturm, rüttelte an den Fenstern und pfiff durch die Röhre des eisernen Ofens, in welchem ein ausgiebiges Steinkohlenfeuer pustete. Es begann allmälig zu dämmern, und ich mußte das Buch weglegen. Aber ich fühlte mich, allein, wie ich war, so behaglich in der stillen, durchwärmten Gaststube, daß ich im Angesicht des Gestöbers ruhig sitzen blieb und eine zweite Cigarre anzündete, deren Rauch sich bläulich durch das Halbdunkel hinzog. Da vernahm ich, wie draußen im Flur Jemand wiederholt mit den Füßen aufstampfte - und weiße Flocken von Mütze und Mantel schüttelnd, trat Herr Fridolin herein. Bei meinem Anblick stutzte er und betrachtete mich forschend; als er mich erkannt hatte, machte er die gewohnte herablassend ehrerbietige Verbeugung. Dann schickte er sich an, an einem Nebentische Platz zu nehmen. "Guten Abend,Herr Kohout", sagte ich. "Aber warum setzen Sie sich nicht zu mir?" Er zog die Brauen empor und krümmte leicht den Rücken. "Wenn Sie erlauben", erwiderte er und ließ sich sachte, die beiden Handflächen an einander reibend, mir
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gegenüber nieder. "Ein elendes Wetter", fuhr er fort, indem er sich das Haar über der Stirne glatt strich. "Man sollte eigentlich keinen Hund hinausjagen". "Nun, es ist ja nicht so weit bis hierher", sagte ich. "Zum Glück nicht. - Aber wo bleibt denn der Wirth?" Er kehrte sich nach der Thür. "Der wird wohl ein Nachmittagsschläfchen halten." "Ach was, er kümmert sich nicht, weil um diese Zeit gewöhnlich keine Gäste da sind. Ich pflege sonst auch erst später zu kommen. Heute aber muß ich schon um sechs wieder zu Hause sein. Wir haben nämlich ein Schweinchen geschlachtet, das nicht mehr fressen wollte. Da hat man die Hände voll zu thun - und zum Nachtmahl giebt es gleich die ersten Würste. Aber ich muß doch den Sykora herbeiläuten." Und er begann die Schlagschelle, die auf dem Tische stand, kräftig zu bearbeiten. Es dauerte nicht lange, so erschien auch der Ersehnte im Eiltritt und machte beim Anblick Fridolins eine Geberde der Ueberraschung. "Schon so früh hier, Herr Schloßverwalter?!" rief er. "Ausnahmsweise, ausnahmsweise", erwiderte Herr Kohout, sichtlich verlegen, daß man ihn in meiner Gegenwart "SchloßVerwalter" genannt hatte. "Aber es ist doch schon angezapft?" "Gewiß, soeben, Herr Schloßverwalter. Es scheint heute ganz ausgezeichnet zu sein. Wird gleich erscheinen." Damit ging Herr Sykora ab, der inzwischen die Hängelampe in der Mitte des Zimmers lichtspendend gemacht hatte, was einen scharfen Petroleumgeruch nach sich zog. Als wir jetzt allein waren, rückte Fridolin an seinem Stuhl und räusperte sich. "Sie müssen schon entschuldigen, daß man mir einen Titel giebt, der mir eigentlich -" "Nun," unterbrach ich ihn, "was nicht ist, kann noch werden. " "Vielleicht, vielleicht," erwiderte er, halb verschämt, halb stolz abwehrend. "Und die Leute lassen es sich nun einmal nicht nehmen -" Jetzt hatte Herr Sykora auch das funkelnde Glas gebracht, an dessen Rande der Schaum weiß und dicht wie Schlagsahne stand. Fridolin faßte den Henkel und hielt es prüfend gegen das Licht. Dann that er einen kurzen, aber kräftigen Zug. "Wirklich ganz ausgezeichnet!" versicherte er, mit der Zunge schnalzend. "Aber Sie trinken das Bier nicht?" wendete er sich an mich und warf einen Blick auf die Kaffeetasse, die noch vor mir stand. "O ja. Aber es ist mir noch zu früh. " "Zu früh? Dieses Bier kann man zu jeder Zeit genießen - vorausgesetzt, daß es frisch ist. Es ist das gesündeste Getränk. Ich meinerseits betrachte es als eine Art Medizin." "Aber Sie sind ja doch ganz gesund, lieber Herr Kohout," sagte ich, indem ich sein breites, glatt rasirtes Gesicht betrachtete, das ein stattliches Doppelkinn aufwies. "Nun, eigentlich ja. Gott sei Dank! Aber an gewissen Uebelständen fehlt es nicht. Die kommen so mit den Jahren. Das Dienen greift den Menschen an." "Gewiß. Und Sie haben es nicht leicht genommen."
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"Das darf man auch nicht," sagte er, feierlich die Hand erhebend, "wenn man in seinem Berufe etwas leisten will. Und ich habe seit jeher den Beruf in mir gefühlt, Diener zu sein." "Ein seltenes Wort, Herr Kohout. Ein seltenes Wort in einer Zeit, wo, jeder nur Herr sein will." "Das ist es. Man will sich nicht mehr unterordnen, und es wird sich bald kein Mensch finden lassen, der sich zu sogenannten niederen Verrichtungen herbeiläßt, obgleich dazu Eigenschaften erforderlich sind, von denen so irgend ein hochnäsiger Bursche keine Ahnung hat. Nehmen Sie zum Beispiel das Amt eines Hausknechtes. Sie wissen, daß ich als solcher gedient habe. Nun, das Reinigen der Treppen und Gänge ist wohl keine Kunst, und der Nächstbeste kann es treffen. Aber die Lampen! Um die in Stand zu halten, ist nicht blos ein stark entwickelter Reinlichkeitssinn, sondern auch eine gelehrige, schmieg- und biegsame Hand nothwendig." (Er ließ seine fleischigen Finger in der Luft spielen.) "Und dann das Heizen! Da darf man nicht blos das Holz in den Ofen schieben und den Span darunter: man muß sich auch überzeugen, ob es wirklich brennt. Denn jeder Ofen hat seine besonderen Mucken, die studirt werden müssen - gerade so, wie hinsichtlich der Temperatur die Empfindlichkeit der Zimmerbewohner studirt werden muß. Der Herr Graf, Erlaucht selig, zum Beispiel wollte es warm haben - aber nicht zu warm; Erlaucht die Frau Gräfin hingegen kühl - aber nicht zu kühl. Nun können Sie sich vorstellen, wie schwer das zu machen war. Und dann im Kinderzimmer! Da wachte der Doctor wie der Teufel darüber, daß immer auf einen bestimmten Grad geheizt sei - nicht eine Linie darüber, und keine darunter. Da mußte man also das feinste Auge für das Thermometer besitzen. Aber auch die vielen und verschiedenartigen Gäste stellte ich zufrieden; sogar die Hofmeister und Gouvernanten. Unsere alte, lustige Französin behauptete immer, daß ich ein wahrer b i j o u sei, und die schöne Engländerin, die Miß Roberts, nannte mich nie anders, als m y d e a r Fridolin." Diese Fremdwörter, mit welchen Herr Fridolin offenbar seine ausgebreiteten Sprachkenntnisse erhärten wollte, wurden so eigentümlich vorgebracht, daß ich alle Mühe hatte, mein Lachen zu einem Lächeln herabzudrücken. "Ich weiß, ich weiß," sagte ich, "Sie waren ein Liebling der Damen". "Nun ja. Aber ich habe mich auch rechtschaffen geplagt und nebenbei manches Unangenehme erdulden müssen. Und insofern begreif ich es wohl, daß das Dienen nicht Jedermanns Sache ist. Nun gar bei hohen Herrschaften. Die sind nicht gewohnt, Rücksicht zu nehmen. Zu jeder Stunde des Tages und der Nacht muß man zur Verfügung stehen. Empfindlich darf man schon gar nicht sein; denn die Worte werden nicht auf die Waagschale gelegt- und manchmal kommt es auch zu gewissen Handgreiflichkeiten. Auch muß man Spaß verstehen, wenn Einen die jungen Herren unversehns überreiten - oder Einem eine Ladung Vogeldunst nach hinten versetzen. Manchmal beliebt es ihnen sogar, einem, wenn man gerade im besten Schlafe liegt, den Strohsack
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unter dem Leibe anzuzünden und im entscheidenen Augenblicke einen Kübel Wasser über das Ganze auszugießen. Da heißt es, gute Miene zum bösen Spiel machen - und mitlachen; denn merken sie, daß es Einen verdrießt, treiben sie's noch ärger. Nun, jeder Stand hatte seine Schattenseiten, und überall giebt es irgend etwas hinunter zu schlucken. Manchmal noch weit Aergeres - wenn es auch nicht darnach aussieht. Und schließlich wird unsereins für seine Ausdauer belohnt. Ich selbst zum Beispiel verdanke Alles, was ich jetzt bin und habe, eigentlich doch nur einem solchen Spaß - wenn er mir auch bald das Leben gekostet hätte." "Wieso?" "Nun hören Sie. Es war in einem sehr strengen Winter, und der Eissport auf dem großen Teiche im Park wurde eifrig betrieben. Eines Sonntags ging es dort besonders lebhaft zu; denn aus der Nachbarschaft hatte sich von allen Seiten Besuch eingefunden. Ich stand damals schon im Dienste meines Herrn und mußte mich gleichfalls auf dem Eise halten, um Schlittschuhe zu schnallen, Cigaretten und Cognak herumzureichen. In der Mitte des Teiches war der Fische wegen eine viereckige Oeffnung ausgehackt, gerade so groß, daß ein Mensch hindurch konnte. Anfänglich bewegte man sich auf Distanz daran vorbei; dann aber wurden die jungen Cavaliere immer übermüthiger und suchten sich gegenseitig dem Loche zuzudrängen, damit irgend Einer zum Vergnügen der anwesenden Comtessen, die nur darauf zu warten schienen, hineinplumpse; was jedoch nicht so leicht angehen wollte, denn sie waren Alle fix und gewandt wie die Teufel. Ich mußte mich entfernen, um schwere Cigarren zu holen, die verlangt wurden, und süßen Liqueur für die Damen. Wie ich nun, das Kistchen in der einen, die Flasche in der anderen Hand, eiligst zurückkehrte, ruft Einer - der junge Graf von Ostrov war's -: Holla! Der Fridolin! Den sollte man untertauchen!' ,Ja, ja, untertauchen! Den Fridolin untertauchen!' schrieen Alle durcheinander, die Comtessen nicht am wenigsten. Nun stellen Sie sich meine Situation vor. Ich war durch das Hin- und Herrennen ganz in Schweiß gekommen - und nun sollte ich in's Eiswasser hinein! Das Herz stand mir still vor Angst. Aber ich ließ es nicht merken, sondern suchte eine lächelnde Miene anzunehmen, als wäre mir die Sache ganz egal. Damit hatte ich schon manchmal Aehnliches von mir abgewendet. Aber diesmal half s nicht. Man stürzte auf mich los, packte mich bei den Füßen und schob mich kopfüber durch das verdammte Loch. Mir vergingen sofort die Sinne, und halb todt zogen sie mich heraus. Nun wurde ich freilich gleich zu Bett gebracht, frottirt, und als ich wieder zu mir selber kam, mußte ich siedend heißen Grog literweise in mich hineintrinken. Aber es nützte nichts. Schon nach einer halben Stunde brach hitziges Fieber - und im Laufe der Nacht eine Lungen- und Rippenfellentzündung aus. Da hätten Sie aber meinen jungen Herrn sehen sollen! Er hatte mehr Angst, daß ich stürbe, als ich selbst. Der Hausarzt genügte ihm nicht; es mußte um einen Professor nach Wien telegraphirt werden, und stundenlang saß er an meinem Bette, mir in einem fort Trost zusprechend, wie die Mutter dem kranken Kinde. Und sehen Sie," - er schlug auf seinen breiten Brustkasten - "ich bin wieder 20
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gesund geworden. Erlaucht aber behütete mich seit jener Zeit wie seinen Augapfel. Kein unliebsames Wort hat er mir mehr gegeben, weder im Scherz, noch im Ernst und ist mir bis heute ein gnädiger, fürsorgender Herr geblieben. Und nun kann ich es Ihnen ja anvertrauen, daß ich die Hoffnung, ja die Gewißheit habe, bei der Geburt seines nächsten Sprößlings, der bereits auf dem Wege ist und voraussichtlich der erwartete Sohn und Stammhalter sein wird, zum Schloßverwalter ernannt zu werden." "Ich gratulire! Dann haben Sie ja auch den Gipfel Ihrer Wünsche erreicht. Sie sind in der That ein glücklicher Mann!" "Ja," sagte er, den Kopf zurückwerfend, "ich habe alle Ursache, Gott zu danken, und möchte, offen gestanden, mit Niemandem auf Erden tauschen - nicht einmal mit einem Hofrath. Aber werden Sie es glauben," fuhr er nach einer Pause, mehr zu sich selbst sprechend, fort, " werden Sie es glauben, daß ich einmal auf dem Punkte stand, meine ganze Zukunft in den Wind zu schlagen - daß ich nahe daran war, einen der tollsten, wahnsinnigsten Streiche zu begehen, die jemals - " Er unterbrach sich, wie von einem innerlichen Grauen überwältigt. "Was? Sie? - und einen tollen, wahnsinnigen Streich? Ein so bedächtiger, vernünftiger Mann -" "Und doch war es so." "Und was könnte Sie bewogen haben?" "Die Liebe!" sagte er emphatisch, mit erhobener Hand gegen die Stubendecke blickend. "Die Liebe? Ja, sollte denn Ihre Frau -?" "Wer spricht von meiner Frau!" rief er abwehrend."Die habe ich ja gar nicht geliebt - das heißt, damals nicht, obgleich ich sie bereits kannte. Ich habe sie erst später lieben gelernt. Und dann - es war auch nicht, was man so für gewöhnlich Liebe nennt: es war eine Leidenschaft." "Eine Leidenschaft? Wahrlich, Herr Kohout, wenn ich Sie so betrachte und mir Ihr ganzes Wesen vergegenwärtige, scheint es mir fast unmöglich, daß Sie jemals -" "Es ist mir eigentlich selbst ein Räthsel. Und doch - wenn Sie die Person gekannt hätten, die mich so weit gebracht -" Er schwieg, in Erinnerungen versinkend. "Aber das ist ja höchst interessant!" rief ich aus. Möchten Sie mir denn nicht Näheres mittheilen?" Er hob den Kopf und überlegte. "Nun, wenn es Sie wirklich interessirt, in Gottes Namen. Obgleich ich mich vor Ihnen blosstelle. Aber Sie sind Schriftsteller und können einen Roman daraus machen. Der Teufel weiß, wie mir die ganze Geschichte gerade jetzt wieder in den Sinn gekommen ist." Er schlug wuchtig auf die Tischglocke, denn sein Glas war längst geleert. "Ein Stündchen haben wir noch Zeit", sagte er dann, nach der Wanduhr blickend, die eben fünf wies. Herr Sykora hatte wieder das Glas gefüllt. Fridolin that, wie um sich zu stärken, einen langen Zug. Hierauf setzte er die Cigarre in Brand, die ich ihm angeboten, und
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begann zu erzählen, was ich da niederschreibe. Freilich nicht ganz so, wie er es vorgebracht, nicht mit seinen höchsteigenen Worten - wie wäre dies auch möglich? Aber doch in seinem Sinne - und wie es mir eben im Gedächtnisse haften geblieben ist.
IV.
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"Zur Zeit, da ich noch als Hausknecht diente, befand sich unter den vielen Frauenzimmern, die in der herrschaftlichen Waschküche beschäftigt waren, auch ein Mädchen, das Milada hieß. Ein noch blutjunges Ding, nicht viel über fünfzehn, mager und aufgeschossen wie eine Bohnenstange. Aus dem schmalen blassen Gesicht, das noch dazu von einem verblichenen Kopftuche halb verhüllt war, blickten zwei große Augen, schwarz und glänzend wie Steinkohle. Sie war die jüngste Tochter eines Maschinenschlossers, der bei den Eisenwerken in Arbeit stand. Frühzeitig Wittwer geworden, besaß er vier heranwachsende Kinder, davon jedes, sobald es nur anging, in seiner Art Geld verdienen mußte. Der mürrische, hartherzige Vater sprach mit ihnen die ganze Woche hindurch kaum ein Wort; nur an den Sonnabenden, wo sie ihm das Erworbene ablieferten, brummte und schalt er, wenn er sah, daß das eine oder das andere ein paar Kreuzer für sich selbst verwendet hatte. Was nun Milada betrifft, so wurde sie im Schlosse fast gar nicht beachtet, denn sie nahm sich, wie gesagt, sehr unscheinbar und unfertig aus. Selbst die Stallburschen, die in der Nähe der Waschküche hausten und gern allerlei Unfug trieben, fühlten sich nicht versucht, mit ihr zu schäkern; höchstens, daß sie ihr, wenn sie gerade vorüberkam, einige höhnische Worte nachriefen. Mir aber gefiel sie, weil sie immer still vor sich hinblickte und unverdrossen ihrer Hantierung nachging, die ihrem schmächtigen Körper große Anstrengungen auferlegte. Mir that das Herz weh, wenn ich sah, wie sie keuchend schwere Körbe mit Wäsche, oder gefüllte Eimer trug, die ihr fast die Arme aus den Schultern renkten. Und wenn ich gerade Zeit hatte, war ich ihr in der einen oder ändern Weise behilflich, so weit dies, ohne daß es auffiel, geschehen konnte. Denn ich wollte mir vor den Anderen nichts vergeben; auch befolgte ich den Grundsatz, daß ich mich von Weibsleuten so fern wie möglich halten müsse. Denn Liebschaften - und nun gar solche mit Nebenbediensteten, machen zerstreut, lenken von der Arbeit ab und können, da ja Gelegenheit geboten ist, leicht zu den ärgsten Unzukömmlichkeiten führen." "Das war sehr wohl überlegt, Herr Kohout," unterbrach ich ihn. "Daran erkenne ich Sie". Ja, ich habe sehr früh begonnen, zu überlegen und alle Verhältnisse in Betracht zu ziehen. So blieb es auch dabei, daß ich mich der Milada nicht weiter näherte, obgleich sie, wie es mir schien, nichts dagegen gehabt hätte. Nur einmal, als gerade Jahrmarkt war, kaufte ich ein hübsches blaues Tuch mit weißen Tupfen, und steckte es ihr heimlich zu. Ich sah, wie sie vor Freude ganz roth wurde. Dann sagte sie mit ihrer
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hellen, aber sanften Stimme, die sie selten genug vernehmen ließ: "Ich danke Dir, Bedrich - " ich hörte es gern, daß sie mich nicht wie die Anderen Fridolin nannte - "ich danke Dir. Das Tuch gefallt mir sehr." Ich gestehe, daß es mich nun anwandelte, sie zu umarmen und zu küssen, denn wir befanden uns ganz allein in dem schmalen Hinterhofe, wo sie eben einige Stücke feiner Putzwäsche an die Trockenleine hängte. Aber ich beherrschte mich und eilte fort - und von dem Tag an wich ich ihr absichtlich aus, denn ich fühlte, daß jetzt die größte Gefahr drohe. Zudem verlor ich sie ohnehin bald gänzlich aus den Augen. Ihre ältere Schwester, die dem Vater die Wirthschaft führte, war erkrankt - und da mußte sie nun selbst einspringen. Dann kam ein Winter, den die Herrschaft in Wien zubrachte. Im nächsten Sommer jedoch war Milada wieder bei der Arbeit in der Waschküche, und da konnte man wahrnehmen, daß sie sich inzwischen schon sehr entwickelt hatte; auch ihr Gesicht war um vieles schöner und lieblicher geworden. Aber so sehr es mich zu ihr hinzog, hielt ich mich doch zurück; denn ich war damals in die Dienste meines jungen Herrn getreten, und da war, wie Sie begreifen, doppelte Vorsicht geboten." "Ich bewundere Ihre Selbstbeherrschung." Ja, damals beherrschte ich mich. - Nun traf es sich, daß die Herrschaft einen Maler zu Gast hatte. Einen Professor an der Kunstakademie - vielleicht kennen Sie ihn -, der die Ferien hier zubringen wollte. Er war schon ein älterer Mann - an die fünfzig, aber noch sehr frisch und lebenslustig - und dabei von so ungezwungenem Benehmen, daß es schon einigermaßen an's Unanständige grenzte. Kein Mädchen im Schlosse war vor ihm sicher - meine Frau, die damals bei den Comtessen war, hat mir noch später davon erzählt. Aber auch sonst trieb er sich überall herum, wo er bunte Röcke vermuthete: im Wirthschaftshofe, bei der Dreschscheune - ja selbst im Kuhstall. Und dabei hatte er nicht einmal die Ausrede, daß er nach Modellen suche, denn er malte blos Landschaften, in welchen kein lebendes Geschöpf zu sehen war. So trat er denn auch eines Tages seinem vollen Umfange nach - er war nämlich sehr dick - ganz plötzlich in die Waschküche, zum Entsetzen der Weiber, die sämmtlich, der Augusthitze wegen, so wenig wie möglich am Leibe hatten. Alle schrien und kreischten durcheinander und suchten ihre Blößen so gut es anging zu verbergen. Das aber machte ihm den größten Spaß, und lachend schritt er von der einen zur anderen, unbekümmert um das Seifenwasser, das man ihm von allen Seiten zur Abwehr entgegen spritzte. So war er durch das Getümmel und den Qualm, der in der Küche herrschte, bis in die Plättkammer vorgedrungen, wo einige Mädchen bei ihrer Arbeit am Laden standen, darunter auch Milada. Als der Professor die erblickte, machte er halt und betrachtete sie mit offenem Munde. Wenigstens fünf Minuten lang hat er sie so angestarrt, den Kopf hinund herwiegend, ohne ein Wort zu sprechen. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging. Bei Tafel aber erzählte er den Herrschaften, die an seiner Weise Gefallen fanden, er sei in der Waschküche gewesen, und habe dort ein Mädchen angetroffen, das er als
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Schönheit ersten Ranges bezeichnen müsse. Namentlich was ihren Wuchs betreffe; denn in dieser Hinsicht könne sie jedem Bildhauer Modell stehen zu einer Hebba oder Hebbe - eine solche weibliche Gottheit nannte er. Anfangs lachte man ungläubig, besonders die französische Gouvernante; die Frau Gräfin-Mutter jedoch, welche, wie Sie ja wissen, eine sehr kunstsinnige Dame ist und an derlei großes Interesse nimmt, gab nach Tisch ihrer Kammerfrau den Auftrag, die Beschließerin zu rufen. Diese wurde angewiesen, das Mädchen unter einem passenden Verwände in's Schloß zu bringen. So trat denn Milada, die sich nur rasch das Haar zurecht gestrichen hatte, bald darauf mit einem Korbe voll eben geplätteter Tafelwäsche, die vorgezeigt werden sollte, in den Salon, in welchem sich außer dem Professor nur die Damen befanden; die Herren hatten sich in das Rauchzimmer zurückziehen müssen. Milada wurde nun von allen Seiten betrachtet, man richtete einige Fragen an sie, und nachdem sie wieder gegangen war, erhob sich ein großer Meinungsstreit. Die Comtessen, sowie die meisten der anwesenden Damen wollten das Urtheil des Professors nur mit bedeutenden Einschränkungen gelten lassen; die alte Mamsell soll sogar heftig abwehrend gestikulirt und etwas wie m a u v a i s g o ü t haben verlauten lassen. Aber Ihre Erlaucht legte sich in's Mittel und sagte: "Nein, nein, der Herr Professor hat sich als sehr feiner Kenner erwiesen. Das Mädchen ist wirklich von ganz besonderer Schönheit. Aber in ihrem Blick ist Etwas, das mir nicht gefallen will. Ich halte diese Milada für eine gefährliche Person." Begreiflicherweise - denn Wände haben Ohren - verbreitete sich das Alles gleich einem Lauffeuer und erweckte die Eifersucht der übrigen weiblichen Bediensteten im höchsten Grade. Man ließ nicht ab, Milada zu begaffen, zu belauern, zu kritisiren, und zerbrach sich den Kopf darüber, wie der Ausspruch Ihrer Erlaucht, daß sie das Mädchen für eine gefährliche Person halte, eigentlich zu verstehen sei. Einige meinten, die Herrin habe Anlagen zum Diebstahl oder zu sonstigen Verbrechen bei ihr wahrgenommen. Die Kammerfrau aber, welche auf ihre eigene, freilich schon etwas schadhafte Schönheit sehr stolz war, lächelte überlegen und sagte, es wäre wohl möglich, daß auch solche Anlagen vorhanden seien, Ihre Erlaucht jedoch habe den Ausspruch lediglich mit Beziehung auf das männliche Geschlecht gethan, und da könne sie (die Kammerfrau) nicht einsehen, weshalb gerade diese Wäscherin gefährlicher sein sollte, als Andere. Mir aber war bei dem Gerede und Gezischel recht übel zu Muthe. Denn obgleich ich, wie Sie wissen, jede Annäherung an Milada vermied, so hatte ich sie doch sozusagen in's Herz geschlossen - und wer weiß, was im Laufe der Zeit geschehen wäre, wenn die Frau Gräfin jene Bemerkung nicht gemacht hätte, die mich nun vollends abschreckte. "Sehr begreiflich!" stimmte ich bei. "Und hat sich in der Folge irgendwie herausgestellt -" "Nur zu bald. Denn schon in nächster Zeit traf hier zu Besuch ein polnischer Fürst
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ein, der allerlei Dienerschaft mitbrachte, darunter auch einen sogenannten v a l e t d e c h a m b r e, der sich auf den Franzosen hinausspielte, in Wirklichkeit aber nichts anderes war, als ein Coiffeur oder Barbiergeselle aus irgend einer polnischen Stadt. Er hatte auch nichts weiter zu thun, als seinen Herrn drei- oder viermal des Tages zu frisiren und ihm den feinen röthlichen Bart zu kräuseln. Alles Uebrige besorgte ein Leibjäger in verschnürtem Kaftan, und so konnte der Schwengel die Zeit mit Flaniren hinbringen, gewöhnlich von Kopf bis zu Fuß weiß angezogen, eine bunte Cravatte vorgesteckt, die Hände in den Hosentaschen und eine kaum sichtbare Cigarette zwischen den Lippen. Dabei behandelte er uns herrschaftliche Diener so von oben herab; selbst die Frauenzimmer übersah er - bis er endlich eine ausgeschnüffelt hatte, die nach seinem Geschmack war. Als ich eines Morgens an dem Hinterhofe vorbeiging und, ohne an etwas zu denken, durch das offene Thor blickte, sah ich, wie er bei Milada an der Trockenleine stand und zärtlich in sie hinein redete. Ich gestehe, daß mich eine wahnsinnige Eifersucht befiel. Es trieb mich, auf den windigen Kerl loszustürzen und ihn an der Kehle zu packen. Aber ich beherrschte mich und unbemerkt ging ich wieder, obgleich es mir fast das Herz abdrückte. Bald darauf war Milada nicht mehr im Schlosse zu sehen, denn ihre Schwester hatte geheirathet und mußte im Hause des Vaters ersetzt werden; auch der Fürst blieb nicht mehr lange und reiste mit seinen Leuten ab. Ich aber konnte die Geschichte nicht aus dem Sinn bringen, sie ließ mir bei Tag und Nacht keine Ruhe; ich war steinunglücklich. Erst im Verlauf des Winters, nachdem ich mit meinem jungen Herrn nach Italien gegangen war, wurde mir leichter. Vergessen konnte ich freilich nicht; denn noch in Neapel habe ich des Nachts einen bösen Traum gehabt, der mich an Alles wieder erinnerte. Als es aber gegen Ende Mai an die Heimkehr ging, da nahmen meine Gedanken eine andere Wendung und beschäftigten sich ganz angenehm mit Milada. Wie es ihr während der ganzen Zeit ergangen sein möchte? Wie sie zu mir reden würde, wenn ich sie aufsuchte? Und dergleichen mehr. Freilich drängte sich auch immer das Bild des verdammten polnischen Haarkräuslers dazwischen. Aber der war fort - und das Ganze brauchte ja nicht mehr gewesen zu sein, als so eine kleine Liebelei, an die sie vielleicht gar nicht mehr dachte. Kurz, ich empfand eine große Sehnsucht nach ihr, und konnte es kaum erwarten, wieder an den Ort zu gelangen, wo ich in ihrer Nähe war. So geschah es auch, daß mein erster Gang im Schlosse der Waschküche galt. Ich wußte wohl, daß ich sie dort nicht finden würde; aber ich konnte etwas über sie erfahren von den anderen Weibern. Die standen, als ich eintrat, von ihren Trögen entfernt, in einem Haufen beisammen und bemerkten mich gar nicht. Denn sie sprachen, mit den Armen in der Luft herumfuchtelnd, über Etwas, das sie offenbar in große Aufregung versetzte. Da sie aber Alle durcheinander schrieen, konnte ich nicht verstehen, um was es sich eigentlich handelte; nur den Namen Milada glaubte ich wiederholt zu vernehmen. Endlich gewahrte mich Eine. "Je, der Kohout!" rief sie. Und die Anderen darauf,
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sich mir zuwendend: "Der Kohout! Der Bednch! Der Fridolin! Der wird sich auch wundem!" Was giebt es nur? schrie ich sie an. Was habt ihr denn? "DieMilada! DieMilada!" Was ist's mit der Milada? Und nun Alle wie mit einer Stimme: "Ihr Kind hat sie umgebracht! Das Kind, das sie von dem französischen Kammerdiener gehabt hat! Vor einer halben Stunde hat sie der Gensdarm vom Hause weggeholt!" Mir war's, als hätte ich einen Schlag vor den Kopf und einen Messerstich in's Herz bekommen. Was ich darauf erwiderte und wie ich aus der Waschküche herauskam, weiß ich heute nicht mehr... Er sank erschöpft in sich zusammen und trank langsam die Neige seines Bieres aus. Drei Jahre hat man ihr gegeben, schloß er jetzt mit dumpfer Stimme. Eine Pause trat ein. "Lieber Herr Kohout," sagte ich endlich, "das ist allerdings eine Geschichte, die Ihnen sehr nahe gegangen. Aber von einer so besonderen Leidenschaft Ihrerseits habe ich, offen gestanden, bis jetzt nicht viel bemerken können." "Warten Sie nur!" erwiderte er, die Hand erhebend. "Ich muß mir erst ein frisches Glas bestellen. Sie sehen ja, daß ich noch jetzt ganz angegriffen bin." Nachdem das Glas erschienen war, und Herr Fridolin sich gelabt hatte, fuhr er folgendermaßen fort:
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"So schwer mich, wie gesagt, dieses Ereignis traf, so war es doch ein solches, das gewissermaßen ein Heilmittel in sich selbst trug: es war eben zu arg. Wie konnte, wie durfte ein Mensch, wie ich, fernerhin an eine Zuchthäuslerin - an eine Kindesmörderin auch nur denken! Abscheu und Verachtung mußten da jedes andere Gefühl ersticken. 30 Auch trat ich nicht lange darauf mit meinem Herrn die große Reise nach Paris, London und über's Meer an. Da lernte ich die Welt kennen, von der ich bis jetzt nur ein winziges Stückchen gesehen hatte; läßt sich doch Italien, so sehr kunstverständige Leute dafür schwärmen, mit Frankreich und England nicht vergleichen - geschweige mit Amerika, das die Großartigkeit selbst ist. Ich konnte bei unserer Rückkehr sagen, daß 35 ich mich in jeder Hinsicht ausgebildet hatte, und so durfte ich mich der Hoffnung hingeben, mit der Zeit Kammerdiener im gräflichen Hause zu werden. Dies war damals das höchste Ziel, welches mir vor Augen schwebte; denn daß ich einmal eine Stellung, wie meine jetzige, erreichen würde, ließ ich mir ja nicht träumen. So vergingen zwei Jahre. Da traf es sich, daß mein Herr wieder einmal für ein paar 40 Tage zur Hühnerjagd nach Ostrov ging. Das dortige Schloß hat keinen Ueberfluß an
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Räumlichkeiten, daher auch die Jagdgäste ihre Diener nicht mitzunehmen pflegten. Somit hatte ich Ferien, die ich vergnüglich ausnützen wollte. Vor allem dachte ich daran, den Förster Brodsky im Thiergarten-Revier zu besuchen. Der alte Mann, der inzwischen gestorben ist, sah es gerne und war sehr stolz darauf, wenn Jemand aus dem Schlosse, der der Herrschaft näher stand, in seine Waldeinsamkeit kam; auch hatte er gutes Bier eingelagert; freilich nur Landbier; aber damals war ich durch das Pilsener noch nicht verwöhnt. Sie wissen, um zu dem Forsthause zu gelangen, muß man an dem sogenannten Feenteich vorüber. Dorthin begab sich früher, als die erlauchten Kinder erst heranwuchsen, die Herrschaft an schönen Nachmittagen sehr oft. Man nahm allerlei Fjfrischungen mit, lagerte sich unter den hohen Fichten am Ufer, fischte, oder trieb sich in kleinen Booten auf dem spiegelhellen Wasser umher. Aber schon zu jener Zeit war es dort sehr öde. Die Kähne lagen umgekippt auf der Böschung und vermorschten zusammt der Badehütte, die kaum mehr ein Mensch benützte. Als ich mich so gegen Abend dem Teich zubewegte, sah ich jenseits auf dem brüchigen Stieglein der Hütte eine Frauensperson sitzen, die sich sonderbar ausnahm. Ihr Haar war gelöst, so daß es in langen schwarzen Strähnen Schultern und Rücken bedeckte; das Kleid hatte sie theilweise aufgeschürzt, und einer ihrer Füße hing nackt und blos in's Wasser hinein. Das Gesicht konnte ich nicht sehen; denn sie saß mit gesenktem Kopfe von mir abgewandt. Als ich näher kam, blickte sie mit einer halben Wendung auf - und nun erkannte ich Milada. Ja, sie war es, die jetzt mit einem Schrei empor fuhr, das Stieglein hinan und längs der Uferwendung mit fliegenden Haaren herbei eilte. "Bedrich!" rief sie, die Arme ausbreitend, "Bednch!" Mir war, als hätte mich der Blitz getroffen. Ich fühlte es wie Blei in den Beinen; aber ich trachtete, so rasch wie möglich fortzukommen, ohne mehr einen Blick auf sie zu werfen. "Aber Bednch, so warte doch!" rief sie. Ich blieb jetzt stehen, denn sie war schon dicht hinter mir her, und geradezu davonlaufen wollt' ich nicht; das hielt ich unter meiner Würde. "Na, was giebt's?" rief ich, so barsch ich nur konnte. Nun stand sie vor mir und warf mit beiden Händen das Haar zurück. "Kennst Du mich nicht mehr?" fragte sie, schwer athmend. Ich hatte mich inzwischen gefaßt. "O ja, ich kenne Dich schon," erwiderte ich, "aber gerade deswegen -" "Verachtest Du mich," sagte sie mit einem bösen Blick. "Verachtest mich, weil ich in's Unglück gekommen bin. Aber wer war schuld daran? Du!" "Ich!?" "Ja, Du !" wiederholte sie und sah mich mit den schwarzen Augen fest und eindringlich an. "Kannst Du's leugnen, daß Du mich gern gehabt hast?" "Wer sagt das?" "Du h a s t mich gern gehabt - sehr gern. Hast mich's auch anfangs merken lassen.
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Aber Du wolltest es vor den Ändern nicht zeigen - aus Furcht, es könnte Dich in Verruf bringen und Dir schaden. Und als Du beim jungen Herrn Bedienter geworden bist, hast Du Dich ganz von mir abgekehrt. Das hat mir weh gethan; denn ich hab' Dich lieb gehabt. Und deßhalb hat's auch der Franzos' durchgesetzt." Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich ärgerte mich, daß sie den Lumpen so nannte. "Das war kein Franzos'," rief ich, "das war ein Polack!" "Mein'twegen! Mir war ja der Mensch mit seinen angefaulten Zahnen gleich im Anfang zuwider. Aber er ist immer um mich herumgestrichen wie ein spinnender Kater. Auch zu Haus hatt' ich keine Ruh' vor ihm. Brief auf Brief hat er mir geschrieben und mir goldene Berge versprochen, wenn ich ihn heirathen wollte. Er werde sich selbstständig machen und irgendwo in einer großen Stadt ein Geschäft einrichten. Da gab ich zuletzt nach. Und als ich am Kirchtag mit ihm zum Tanz ging - da war's auch geschehen. Am nächsten Morgen ist er mit seinem Herrn abgereist - auf Nimmerwiedersehen. Er hat's gewußt - ich nicht." "Deßhalb durftest Du doch Dein Kind nicht umbringen." "Mein Gott, ich war verzweifelt! Und eigentlich wollt' ich's ja auch nicht umbringen. In meiner Angst vor dem Vater hab' ich's zwischen Tannenreisern versteckt. Die lagen auf einem Haufen in der Ecke des Hofes, wo ich es spät Nachts in dem offenen Scheunchen zur Welt gebracht. Als ich beim ersten Dämmern hinging, um nachzusehen, war es schon todt. Und da hab' ich den Kopf verloren und hab's im Nachbargarten verscharrt, wo man's gefunden hat. Aber was weißt Du," fuhr sie aufschluchzend fort, "was weißt Du, was in einem unerfahrenen Mädel vorgeht, das die längste Zeit gar nicht begreift, wie Etwas, das ihm nur Ekel gemacht, solche Folge haben kann! Auch die Geschworenen wußten's nicht, die mich schuldig gesprochen. Doch nun ist's abgebüßt. Ein Jahr hat man mir sogar geschenkt, weil ich mich brav gehalten da drinnen. Und jetzt darfst Du mich nicht verlassen." "Was soll das heißen?" "Heirathen mußt Du mich, Bednch!" Und dabei trat sie ganz an mich heran und wollte mir die Arme um den Hals schlingen. Das war mir zu viel; ich stieß sie unsanft zurück. "Du bist närrisch!" sagte ich kurz und wendete mich zum Gehen. Sie hielt mich am Arm fest. "Nein, ich bin nicht närrisch!" rief sie, "Ich will Dir sagen, weßhalb ich vorhin dort am Teich gesessen bin. Hinein wollt' ich. Was blieb mir auch anderes übrig? Beim Vater halt' ich's nicht aus; der wollte mir ohnehin gleich die Thür vor der Nase zuschlagen. Ein Dienst ist auch jetzt nicht so bald zu bekommen und eine ganz Schlechte, wie ich sie da drinnen kennen gelernt, mocht' ich nicht werden. Aber ich hab' noch zum letzten Mal nachgedacht, ob es nicht doch einen Weg gäbe, der mich aus dem Elend hinausführt, ohne daß ich's nothwendig hätte, mich umzubringen. Da erblickte ich Dich! Das war mir wie ein Fingerzeig!" Mir war bei dem allen ganz wirblig im Kopfe geworden. Ich konnte mich, obgleich
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ich es wollte, nicht losmachen und blieb halb abgewendet stehen. "Du hast mich ja noch immer gern! Nicht wahr, Bedfich? Schau mich nur an!" drängte sie. Ich that wirklich, was ich vermeiden wollte, und blickte nach ihr hin. Sie stand da, leicht vorgebeugt, die Augen lauernd auf mich gerichtet, lieber ihr loses Kleid fielen die Haare bis zur Kniebeuge hinab, und trotz des geheimen Grauens, das ich vor ihr empfand, sah ich, wie schön sie war - eigentlich noch viel schöner als früher, trotz der zwei Jahre, die sie im Zuchthaus gesessen. "Und ich hab' Dich auch noch gern", fuhr sie fort. "Darum wirst Du mich nicht verlassen!" Sie brachte ihr Gesicht dem meinen so nahe, daß ich ihren Athem spürte. Ich fühlte, wie meine Kraft schwand und sagte fast kläglich: "Aber was soll ich denn thun? Du mußt doch einsehen, daß es unmöglich ist - ganz unmöglich -" "Warum sollt' es unmöglich sein?" unterbrach sie mich rasch. "Wenn Du nur w i l l s t ! Das Andere wird sich schon finden. - Aber wohin gehst Du denn jetzt eigentlich?" Diese Frage gab mir die Besinnung wieder. "Ich muß zum Förster", antwortete ich kurzweg. "Und das gleich." "Nun, geh' nur, geh'," sagte sie, "ich halte Dich nicht länger. Aber morgen kommst Du wieder hierher." "O nein, das werd' ich nicht thun!" "Du wirst schon," erwiderte sie, indem sie mir schmeichelnd das Kinn berührte. "Du hast doch Zeit?" Ihre Zuversicht brachte mich auf. "O ja, Zeit hätt' ich schon," rief ich hochmüthig, "denn mein Herr ist auf der Jagd in Ostrov. Aber ich werde nicht kommen." Sie beachtete meine Weigerung gar nicht und sagte nachdenklich. "Das trifft sich ja gut. Da kann ich Dich gleich in der Früh' erwarten. So um acht oder neun. Nicht wahr, Du kommst?" fügte sie jetzt, mich zärtlich anblickend, hinzu. Und eh' ich mich dessen versah, hatte sie mich mit beiden Armen umfaßt und mir einen Kuß auf den Mund gedrückt. Ich riß mich mit Gewalt los und eilte fort.
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Ich war aber kaum fünfzig Schritte weit in den Wald hineingegangen, als ich den Kuß gewissermaßen nachzuschmecken begann; es war mir, als spürte ich die weichen, warmen Lippen Miladas noch immer auf den meinen. Auch kam mir Alles, was sie da gesprochen und vorgebracht hatte, in den Sinn, und je länger ich darüber nachdachte, je mehr wollte es mir scheinen, daß sie eigentlich Recht habe. Ja, wenn ich damals mit beiden Händen zugegriffen hätte, es wäre für sie Alles anders gekommen! Ich war froh, daß ich endlich das Forsthaus erreicht hatte und so auf andere Gedanken gebracht wurde. Der freudige Empfang, der mir zu Theil wurde, die neugierigen Fragen, die der Alte und seine Frau an mich richteten, verscheuchten meine Grillen, so daß ich nach dem Nachtmahl noch ein paar ganz heitere Stunden zubrachte, indem ich mit dem Förster wacker drauf los trank. Aber während des Heimweges durch den stillen, lautlosen Wald überfiel es mich von neuem. Es war eine helle Mondnacht, und als ich jetzt wieder an dem Feenteich vorüberkam, da drehte sich mir das Herz förmlich im Leibe herum. Daß ich zu Hause nicht einschlafen konnte, begreifen Sie wohl; und als es endlich geschah, hatte ich die verworrensten und schreckhaftesten Träume. Ich sah das todte Kind versteckt zwischen den Reisern liegen; Milada stand dabei und weinte bitterlich. Plötzlich aber befand ich mich selbst neben ihr - und da lachte sie laut auf und klatschte in die Hände. "Ach, Bedrich, da bist Du! Nun ist Alles gut! Du bist ja der Vater!" Und nun kamen zwei Gensdarmen, um uns zur Trauung in die Kirche zu führen. So tolles Zeug träumte mir. Als ich am Morgen wie zerschlagen erwachte, überfiel mich sofort der Gedanke, daß sie mich heute am Teich erwarte. Hingehen darfst Du nicht, sagte ich zu mir selbst, um keinen Preis - sonst bist Du ein verlorener Mann! Aber da kam mir der marternde Zweifel, ob denn die Sache, wenn ich n i c h t hinginge, auch wirklich abgethan wäre? Nein: Milada wird nicht nachgeben, wird Alles anwenden, Deiner habhaft zu werden. Sie wird jede mögliche Gelegenheit benützen, um Dich zu umgarnen. Sie wird Dir auflauern - wird sich am Ende vielleicht gar in's Schloß einschleichen! Nein, das wäre entsetzlich! Und so überredete ich mich schließlich, daß es am gerathensten sei, hinzugehen und mit entschiedenem Ernst das letzte Wort zu sprechen. Nur so war es möglich, sie zur Ueberzeugung zu bringen, daß zwischen ihr und mir keine Gemeinschaft bestehen könne. In Folge dessen machte ich mich auch um die achte Stunde auf den Weg. Je näher ich dem Orte kam, desto heftiger pochte mir das Herz. Ich fühlte, daß ich einem schweren Kampfe entgegen ging, bei welchem mich der Anblick Milada's wehrlos machen würde. Wiederholt dachte ich daran, umzukehren - aber es zog mich immer wieder vorwärts. Als ich eintraf, saß sie schon in einiger Entfernung vom Ufer auf einer Schichte abgeholzter Baumstämme. Ich hatte vorausgesetzt, daß sie mir entgegen eilen würde,
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und mich schon zur Abwehr einer Umarmung bereit gehalten. Ich war also fast enttäuscht, als sie sitzen blieb und mich immer näher an sie herankommen ließ. Endlich erhob sie sich und ging langsam auf mich zu. "Grüß Dich Gott, Bednch", sagte sie ganz ruhig. Ich schwieg und suchte eine strenge Miene anzunehmen, was mir aber nicht gelang, denn ich mußte sie, ob ich nun wollte oder nicht, mit Wohlgefallen betrachten. Sie trug heute ein knappes, lichtes Kattunkleid, das ihr nicht ganz bis zu den Knöcheln reichte und saubere Halbschuhe sehen ließ. In dem sorgfältig aufgesteckten Haar hatte sie ein paar von den gelben Blumen befestigt, die gerade an versumpfenden Uferstellen des Teiches wucherten. Und um Hals und Nacken schimmerte, lose geknüpft, ein blaues Seidentuch, dessen vordere Zipfel sie jetzt mit den Fingern auseinander zog. "Kennst Du das Tuch, Bednch?" sagte sie und sah mich zärtlich an. "Es ist dasselbe, das Du mir vor fünf Jahren geschenkt. Freut es Dich nicht, daß Du es noch an mir sieh'st?" Mir wurde ganz wehleidig zu Muthe bei der Erinnerung und unwillkürlich erwiderte ich: "Es würde mich schon freuen -" "Wenn es anders wäre," ergänzte sie seufzend. "Auch mir war's lieber. Aber da es nicht ist, so müssen wir trachten, daß es anders wird. Hast Du schon darüber nachgedacht?" Jetzt war der entscheidende Moment da; jetzt galt es, sich unerschütterlich zu zeigen. Ich raffte also meine ganze Kraft zusammen und sagte: "O ja, ich habe nachgedacht. Und deßhalb bin ich auch gekommen, um Dir zu sagen -" "Sag's nicht, Bednch," unterbrach sie mich rasch, indem sie mir die Hand vor den Mund hielt. "Sag's nicht! Es kommt Dir doch nicht vom Herzen. Aber ich hab' a u c h nachgedacht und herausgefunden, daß Alles ganz gut zu machen ist, wenn Du nur willst." "Ich will aber nicht!" stieß ich mit Anstrengung hervor. "O, Du willst schon!" erwiderte sie, sich an mich schmiegend, "Du willst schon! Du getraust Dich nur nicht, es Dir einzugestehen - gerade so wie damals. Aber wie's auch sei: anhören mußt Du mich." Das hätt' ich nun rundweg abschlagen sollen. Aber ich brachte es nur zu einem kleinlauten: "Was nützt's, wenn ich Dich anhöre?" "Hör' nur, und Du wirst sehen, daß ich Recht habe. Aber da unten beim Wasser wollen wir nicht bleiben; es könnte doch irgend wer vorüberkommen. Gehen wir höher in den Wald hinauf." Und sie bewegte sich auch gleich, ohne meine Einwilligung abzuwarten, dem nächsten Pfade zu, der sich steil durch die Fichten emporwand. Ich hätte umkehren sollen. Aber ich that's nicht, sondern folgte der schlanken Gestalt, die den Saum ihres Kleides aufgenommen hatte und leicht vor mir herschritt. So gelangten wir höher und höher und kamen endlich zu einer kleinen Felsengruppe, die auf einer freien Stelle zwischen jungen Schößlingen emporragte.
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Milada hielt still und blickte um sich. "Da wollen wir sitzen," sagte sie und ließ sich, ihr Kleid zusammen nehmend, an einem der Felsenblöcke in trockenes Moos nieder. Mir hatte das Herz schon während des Aufstieges heftig zu schlagen begonnen, und jetzt, da ich mich in dieser völligen Abgeschiedenheit mit ihr allein sah, faßte mich eine Art Taumel, so daß ich gegen meinen Willen neben ihr hinsank. "So, nun wollen wir reden," fuhr sie fort, indem sie meine Hand ergriff. "Glaub* mir, Bednch, ich weiß recht gut, wie Dir zu Muth ist, und begreif s auch, daß Du Dich nicht gleich in Alles finden kannst. Aber es wird schon gehen; man muß Dir nur den Weg zeigen und Dich darauf hinführen." Ich wollte meine Hand zurückziehen; sie aber hielt sie zwischen ihren beiden fest. "Schau, Bednch, Dein Herr hält große Stücke auf Dich und ist Dir sehr gewogen. Wenn Du ihn schön bittest, so giebt er Dir gewiß irgend einen Posten. Etwa als Aufseher oder Wagenmeister in einer der Fabriken - oder auch bei den Kohlenwerken in Schlesien. Dann kannst Du mich heirathen." Das war so recht nach Weiberart gedacht und brachte mich wieder zu mir selbst. "Da sieht man," versetzte ich ärgerlich, "wie leicht Du Alles nimmst! Wahr ist schon, mein Graf hält große Stücke auf mich. Aber gerade deßwegen wird er mich auch nicht von sich lassen wollen. Jedenfalls aber würde er mich fragen, weßhalb ich mir eine solche Veränderung wünsche. Und wenn er dann erführe, daß ich D i c h heirathen will - nun, ich will Dir nicht weh' thun. Aber das Weitere kannst Du Dir denken." Sie blickte finster vor sich hin. "Ja, ich kann es mir denken. Aber Du kannst ihm auch sagen, daß Du an meinem Unglück schuld bist - und daß Du's wieder gut machen willst." "Dann würd' er mich für verrückt halten!" fuhr ich auf. "Und mich vielleicht davon jagen - aber mir gewiß keinen anderen Posten geben." "Das war' auch noch nicht das Aergste!" rief sie heftig, und ihre Augen blitzten. "Dann gehst Du mit mir in eine Gegend, wo uns Niemand kennt. Du hast Dir gewiß Etwas erspart, und ein Handwerk verstehst Du auch. Wir werden uns schon fortbringen. Daher ist es vielleicht das Beste, wenn Du gleich ohne weiteres den Dienst kündigst." "Was? Ich selbst sollte den Dienst kündigen?" "Warum denn nicht? Bist Du etwa bei der Herrschaft angebunden?" "Ja, ich bin angebunden! Seit fünfzehn Jahren werd' ich dort gehalten wie das Kind im Haus. Der Herrschaft verdank' ich Alles. Das sind meine Wohlthäter!" "Dafür aber hast Du ihnen auch das Deine geleistet! Mehr als jeder Andere!" "Das war meine Pflicht. - Aber das verstehst Du gar nicht." Sie merkte wohl, daß sie mich an einer Seite gefaßt hatte, wo mir nicht beizukommen war. Denn sie lenkte plötzlich ein und sagte ganz weichmüthig: "O ja, ich versteh' es schon, ich versteh' es schon. Ich weiß, daß Du ein treues Herz hast, und begreif s, daß Du an der Herrschaft hängst; ich war ja selbst gern dort. Aber schau, Bedrich, ein wenig mußt Du jetzt auch
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an mich denken. Und dann: so gut ein Dienst ist - eine eigene Wirthschaft ist besser. Und wenn Du ein Weib hast, das Dich gem hat -" Sie hatte sich bei diesen Worten mit halbem Leibe über mich gebeugt und blickte mir, den Arm um meine Schulter legend, eigenthümlich in die Augen. 5 "Ja, ein Weib, das im Zuchthaus gesessen!" wollt'ich ausrufen und sie von mir stoßen. Aber ich vermocht'es nicht. Ihr Blick hatte etwas Lähmendes; ich war wie betäubt. "Schau", fuhr sie fort, "ich will Dich ja nicht zwingen. Folg' nur Dir selber. Ich werde einstweilen für vierzehn Tage nach Lettowitz gehen. Dort lebt ein Geschwister10 kind meiner seligen Mutter, die alte Hudetz. Die behält mich gewiß einige Zeit bei sich; denn ein paar Gulden hab' ich mir - Du weißt schon, wo - erarbeitet - und in Taglohn kann ich vielleicht auch gehen; der Ort ist groß, und Niemand kennt mich. Dort also erwart' ich Dich. Du wirst schon kommen, wie Du heute gekommen bist. Du würdest sonst keine ruhige Stunde mehr haben, das weiß ich. Du kannst nicht mehr sein 15 ohne mich!" Sie zog mich plötzlich mit aller Kraft an sich, preßte ihre halb geöffneten Lippen auf die meinen und küßte mich, als wollte sie mir die Seele aussaugen. Die Sinne vergingen mir; ich wußte nicht mehr, was ich that - und umfing sie jetzt gleichfalls."
20 VII.
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Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, fuhr Herr Fridolin nach einer Pause tief aufathmend fort, daß diesem Rausch ein entsetzlicher Katzenjammer folgte. Als ich mich nach ungefähr einer Stunde von Milada getrennt hatte, war es mir, als sollt' ich jetzt gleich in den Feenteich hineingehen, dort, wo er am tiefsten ist. Was ich geahnt, gefürchtet, es hatte sich vollzogen, im Handumdrehen vollzogen: ich war ihr verfallen mit Leib und Seele. Was sollte nun geschehen!? Rathlos irrte ich unten am Waldrand längs der Felder hin und her; wohin ich die Gedanken wendete, überall eine Mauer, an welcher ich mir, wenn ich wollte, den Schädel blutig stoßen konnte. Ein wahres Glück, daß mein Herr erst morgen zurückkam; denn heute war' ich außerstande gewesen, meinen Obliegenheiten nachzukommen. Aber es war auch am nächsten Tage nicht viel anders, und mich wundert's heute noch, daß der Graf nichts gemerkt, oder mich doch wenigstens meiner vielen Verstöße und Ungeschicklichkeiten nicht einen Esel über den anderen genannt hatte. Auch im Laufe der Woche blieb es so. Ich rang nach Entschlüssen und wußte nicht, was ich thun sollte. Etwas m u ß t e geschehen - aber w a s ? Den Dienst aufgeben? Ihnen kann ich's ja sagen: so gut die Herrschaft war und ist, sie würde die Kündigung nicht angenommen haben. "Was fällt Dir ein, Fridolin?" hätt's geheißen. "Nein, mein Lieber, wir brauchen Dich, Du bleibst!" Und wenn ich's auch in irgend einer Weise durchsetzen würde - was dann? Heirathen, die Milada
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heirathen, auf die man, wenn wir auch an einen anderen Ort gingen, früher oder später mit den Fingern weisen konnte? Nein, nie und nimmer! Denn dieser Gedanke war der entsetzlichste und machte mich fast wahnsinnig. Und dabei hatte ich doch das Gefühl, daß ich wirklich nicht mehr ohne sie leben könne. Sehen Sie (Herr Fridolin schlug jetzt verschämt die Augen nieder), ich war bis zu dieser Zeit das gewesen und geblieben, was man so beim weiblichen Geschlecht eine Jungfrau nennt. Ich hatte mich, obgleich mir auf unseren Reisen manche Gelegenheit geboten war, niemals mit irgend einem Frauenzimmer eingelassen - und ich befand mich ganz wohl dabei. Nun aber hatte mit einemmal ein so höllisches Feuer in mir zu brennen angefangen, daß mir beständig zu Muth war, wie einem Hirsch im September, und daß ich an mich halten mußte, um nicht sofort nach Lettowitz zu laufen. Es war zum Verzweifeln! Als ich mich so in einer schlaflosen Nacht mit allem Möglichen und Unmöglichen abquälte, durchzuckte es mich plötzlich: "wie, wenn Du mit Milada nach Amerika gingest?!" Und kaum war dieser Gedanke in mir aufgeblitzt, als er mir schon zur überzeugenden Vorstellung, zum weitausgreifenden Vorsatz wurde. Ja, auf diesem Wege war Rettung möglich, ließ sich Alles durchsetzen, wovor ich bis jetzt zurückgeschaudert war. Was ich in dem merkwürdigen Lande gesehen und vernommen hatte, bestärkte mich in dem Glauben. Dort, wo sich kein Mensch um die Vergangenheit des anderen kümmert, war es mir ganz ohne Scheu möglich, Milada zu heirathen. Und welche Erwerbsquellen standen mir in Newyork offen, wo die reichsten Leute nicht um schweres Geld die nothwendige Dienerschaft auftreiben können - wo gewisse Handleistungen mit Gold aufgewogen werden müssen! Ein Stiefelputzer zum Beispiel kann dort seine zehn Dollars im Tag Einnahme haben. Mir schwindelte der Kopf! Ganz so leicht, wie sie gedacht wurde, ließ sich die Sache freilich nicht ausführen. Das Haupthindernis blieb noch immer bestehen; nämlich der Umstand, daß von der Herrschaft nicht loszukommen war. Es mußte also eine Art Flucht in's Werk gesetzt werden. Und im Nu hatte ich mir auch in dieser Hinsicht mit einer ganz niederträchtigen Findigkeit, von der ich heute gar nicht begreife, wie ich sie haben konnte, Alles zurechtgelegt. Ich besitze eine Schwester, die einen Schuster in der Hanna geheirathet hatte, und mit ihrem Manne und mehreren Kindern noch heute dort lebt. Wir hatten uns, offen gestanden, die ganze Zeit über den Teufel um einander gekümmert, wie das so bei Geschwistern geht, die schon als Kinder getrennt werden. Jetzt aber wollt' ich vorgeben, daß ich sie nach so vielen Jahren wiedersehen möchte, um bei dieser Gelegenheit mit ihr über eine kleine Erbschaft zu verhandeln, die uns von Seiten eines entfernten Verwandten zufallen dürfte. Ich würde also um einen achttägigen Urlaub bitten, den man mir nicht gut versagen konnte. Diese acht Tage genügten doppelt, um Hamburg zu erreichen. Ich hatte dort zufällig einen Auswanderungsagenten, einen gewissen Swinemann, dem ich mich, da wir uns ja nicht vor dem Arm der Gerechtigkeit flüchteten, vollkommen anvertrauen konnte. Geld besaß ich in Hülle und Fülle; denn
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Sie können sich denken, daß ich mir im Laufe der Zeit Etwas zurückgelegt hatte. Also würde auch Swinemann mit allem einverstanden sein und uns an Bord bringen, von wo aus ich meinem Herrn ein reumüthiges Geständniß ablegen und ihn um Verzeihung bitten wollte. Dieser, wie gesagt, ganz niederträchtige Plan beruhigte mich dermaßen, 5 daß ich nun sofort einschlief. Am nächsten Tage galt es, einen günstigen Augenblick zu erhäschen, um dem Herrn meine Bitte vorzutragen. Ich fand ihn schon am Morgen, als ich ihm beim Ankleiden • behilflich war, in guter Laune, was sonst nicht immer der Fall zu sein pflegte; faßte mir also gleich ein Herz. Er schenkte mir, seine erste Cigarette anzündend, wohlwollendes 10 Gehör, und nachdem ich geendet hatte, sagte er: "Nun, Fridolin, Du hast Dich fünfzehn Jahre lang nicht von uns weggerührt - die acht Tage Freiheit kann man Dir schon gönnen. Es trifft sich auch insofern gut, als ich mich selbst für einige Zeit zu meiner Schwester in Steiermark begeben will, wohin ich Dich ja nicht mitzunehmen brauche. Wenn Du Lust hast, kannst Du sogar länger ausbleiben - vierzehn Tage. Wann willst 15 Du denn schon fort?" Ich erlaubte mir zu sagen, je eher, je lieber. "Nun, so bring* mir Alles in Ordnung, und dann kannst Du morgen mit dem Nachtzuge abgehen." Ich war miserabel genug, ihm mit Zeichen tiefer Rührung und Dankbarkeit die Hand zu küssen.
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Jetzt aber mußte Milada in Kenntniß gesetzt werden, die mich gewiß schon erwartete; denn es waren an die zehn Tage vergangen, seit ich sie in Lettowitz wußte. Dieser Ort ist von hier drei Bahnstationen entfernt, die sich allerdings einander ganz nahe befinden; man muß aber doch eine gute Stunde fahren. Eine Stunde Aufenthalt, eine andere zur Rückfahrt; also im Ganzen drei Stunden. Das stimmte zu den beiden Postzügen, die, sich kreuzend, auf der Strecke verkehren. Aber woher die Zeit nehmen? Der Satan half mir auch da. Denn der Graf kündigte mir an, daß er sich in Geschäften mit dem Eilzuge nach Brunn begeben und bis zum Diner ausbleiben werde. Der Eilzug ging um elf; ich konnte also um Mittag an die Bahn zum Postzug zurecht kommen. Milada hatte mir das Haus, wo sie ihren Aufenthalt genommen, sehr kenntlich bezeichnet. Eine kleine Kalupe an der waldigen Hügellehne oberhalb der großen Mühle, die gleich am Eingang des Ortes steht. Ich sah die Hütte schon vom Bahnhof aus und ging ohne weiteres darauf los. Als ich mich der Thür näherte, kam hinten herum ein altes Weib mit einem Reisigbündel zum Vorschein und sah mich mit kleinen Triefaugen verschmitzt an. "Was ich da wolle?" Zur Milada will ich. "Die ist jetzt nicht da." Wo ist sie denn? "In der Mühl' unten." Was thut sie denn dort? "Sie hilft mit im Schüttkasten." Aber ich muß mit ihr reden. Die Alte zögerte. "Seid Ihr vielleicht der Herr Kammerdiener?" Ja. "Na, ich werd' sie holen. Geht einstweilen hinein." Sie warf das Bündel weg und humpelte, während ich in's Haus trat, den Abhang hinunter. In der niederen Stube, der einzigen, die es neben der kleinen Küche gab, zeigte sich alles sauber und ordentlich gehalten; nur die Luft war dumpf und modrig, obgleich das Fenster offen stand. An der einen Wand erblickte ich ein kurzes, schmales Bett mit
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hoch geschichteten Federpfühlen; ein bunter Frauenrock war neben einem Strumpfpaar darüber ausgelegt; unter dem Bett sahen zwei kleine Schuhe hervor. Das also war Milada's Lager;die Alte mochte sich auf der Bank in der Nähe des Ofens behelfen. Auf die setzte ich mich jetzt und wartete, während an der Decke die Fliegen surrten. Eine Viertelstunde verstrich, und Niemand kam. Ich sah auf die Uhr. Schon fünfundzwanzig Minuten über Eins - und um Zwei mußte ich zur Rückfahrt wieder an der Bahn sein! Endlich wurde die Thür aufgestoßen, und Milada, mit erhitztem Antlitz und flatterndem Kopftuche stürzte herein und auf mich zu. "D u bist da, Bedrich!" rief sie wie überrascht. "Ja, ich bin da. Hast Du mich denn nicht erwartet?" "Freilich hab' ich Dich erwartet! Längst schon erwartet! Und was bringst Du mir?" fuhr sie fort, indem sie mir forschend in die Augen blickte. "Großes und Wichtiges habe ich für Dich," erwiderte ich. "Setz* Dich zu mir und hör' mich an." Wir ließen uns auf die Bank nieder, und nun begann ich, ihr Alles auseinander zu setzen. Ihre Züge wurden dabei immer ernster, und ihr Blick senkte sich zu Boden. Als ich geschlossen hatte, trat eine Pause ein. Endlich sagte sie: "So weit, Bedrich, so weit - gar über's Meer." Ich hatte Jubel erwartet und war daher sehr enttäuscht. "Es ist der einzige Weg!" rief ich zornig. "Es giebt keinen anderen - und wenn Du ihn nicht mit mir gehen willst, so ist auch Alles aus. Denn hier im Lande gibt es nun einmal keine Gemeinschaft zwischen uns!" Sie war ganz blaß geworden. "Nun, nun, sei nur nicht gleich so bös," entgegnete sie finster. "Ich habe nur darüber nachgedacht." Es reute mich, daß ich sie so hart angelassen. "Verzeih* mir, Milada." sagte ich. "Aber siehst Du, ich hatte geglaubt, es würde Dich freuen -" "Es freut mich ja auch," erwiderte sie einlenkend. "Und ich gehe mit Dir, wohin Du willst - bis ans Ende der Welt. Aber wie werden wir's denn anfangen?" "Ganz einfach. I c h für meine Person reise morgen Nachts ab." "Schon morgen?" "Es muß sein. Und D u übermorgen. In Wischau treffen wir zusammen." "Wischau? Wo ist das?" "Nicht weit von Brunn. Aber ich habe Dir hier Alles Nöthige aufgeschrieben; Du kannst nicht fehl gehen." Damit reichte ich ihr ein Blatt aus meiner Brieftasche, das ich während der Fahrt hierher vorbereitet hatte. Sie sah auf den Zettel nieder, dann hob sie die Augen. "Bednch," sagte sie, "das hätte ich Dir nicht zugetraut." "Ich mir selbst nicht. Aber jetzt sollst Du mich kennen lernen. Jetzt sollst Du sehen, wie ich bin, wenn ich Etwas durchsetzen will." Und während ich dies ausrief, umschlang ich sie; denn ihre Nähe hatte auf mich gewirkt wie der Funke auf den
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Zunder. Es war, als wollte sie mich abwehren, aber schon im nächsten Augenblick erwiderte sie meine Umarmung mit leidenschaftlichen Küssen. Dabei glitt ihr das lose Kopftuch in den Nacken, und mein Blick fiel auf eine frische, halb aufgeblühte Rose, die sie im Haar trug. "Woher hast Du die Rose?" fragte ich, während mich ein eigenthümliches Gefühl überkam. "Die Rose?" entgegnete sie unbefangen, aber doch erröthend, und langte mit der Hand darnach. "Die ist aus dem Mühlgarten." "Aus dem Mühlgarten? Wie kommst Du denn da hinein? Und kann man dort gleich Alles abreißen?" "Ach was," sagte sie kurz, "der Müller hat sie mir gegeben." "Der Müller?" Und nun fiel mir ein, daß ich von dem schon reden gehört. "Ich glaube gar, Du bist eifersüchtig," lachte sie. "Das ist ja ein alter Mann." "Das thut nichts," erwiderte ich. "Es ist in der Gegend bekannt, daß er noch immer den Frauenzimmern nachstellt - ärger als ein Junger." Sie zog die Brauen zusammen. "Was kümmert das mich. Er hat mir die Rose über den Zaun geworfen - und ich hab' sie nicht liegen lassen. Aber nimm' Du sie jetzt." Sie zog die Rose aus dem Haar und steckte sie mir in's Knopfloch. "Da, Du Kindskopf! Aber weißt Du, es freut mich doch, daß Du eifersüchtig bist, denn das zeigt mir, daß Du mich gern hast." Und dabei zog sie mich wieder an sich und küßte mich, daß ich vor Seligkeit fast verging. Aber plötzlich durchzuckte es mich und ich riß mich los. "Ich muß fort!" sagte ich. "Jetzt schon?" "Ja, sonst versäum' ich den Zug, und ich darf Nachmittags im Schloß nicht fehlen. Also gieb auf den Zettel wohl Acht. Es ist Alles genau aufgeschrieben. Nimm so wenig mit, wie möglich. Ich kauf Dir schon, was Du brauchst. Hast Du Geld zur Fahrt?" Ich griff in die Tasche. "Laß nur. Wenn's nicht weit ist - ein paar Gulden hab' ich schon, das weißt Du ja." "Nun also. Heut' ist Samstag; morgen, Sonntag, reise i c h - Montag, oder längstens Dienstag D u. Laß' mich nicht unnötigerweise in Wischau warten." "Gewiß nicht! Ach, Bednch, wenn Du wüßtest, wie mir ist." Sie barg ihr Haupt an meiner Brust. "Froh sollst Du sein!" sagte ich mit einem letzten Kusse. "Aber da hör' ich den Zug pfeifen!" Damit riß ich mich los und lief den Abhang hinunter. In der Nähe des Bahnhofes, wo bereits das Glockenzeichen ertönte, sah ich zurück. Sie stand vor dem Hause und winkte mit dem Tuche. Ich hatte gerade noch Zeit, auf den Tritt des letzten Waggons zu springen."
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VIII. Herr Fridolin hatte hier seine Erzählung abgebrochen und einen ängstlichen Blick 5 nach der Uhr gethan. Die Zeit drängt, sagte er, und so will ich ohne weitere Auseinandersetzungen gleich daran anknüpfen, daß ich an einem regnerischen Morgen in Wischau eingetroffen war. Ich hatte diesen Ort, in dessen Umgebung meine Schwester lebte, als erste Station gewählt, obgleich damit ein Umweg eingeschlagen wurde. Denn ich mußte zum Schein den vorgeblichen Zweck meiner Reise verfolgen, der im Schlosse 10 allgemein bekannt geworden war. Wischau ist einn kleines Städtchen mit einem geräumigen Hauptplatze, wo ich, als ich dort im Gasthof zur Krone abstieg, rings im Kreise hölzerne Buden aufgeschlagen fand; ein Zeichen, daß heute Jahrmarkt abgehalten würde. Das war mir ganz recht. Denn Sie begreifen, daß mir jetzt, da der erste Schritt gethan war, mein Vorhaben in seiner ganzen Tragweite aufs Herz fiel, und daß mich 15 schwere Gewissensbisse, sowie bängliche Gedanken hinsichtlich der Zukunft zu quälen begannen; einige Zerstreuung konnte mir also nur willkommen sein. Nachdem ich ordentlich gefrühstückt hatte, legte ich mich in meinem Zimmer zu Bett und schlief nach einer durchwachten Nacht bis in den Mittag hinein. Als ich an's Fenster trat, sah es unten auf dem Platze ziemlich leer aus; aber eine Stunde später wimmelte es bereits 20 von Menschen, die sich trotz des schlechten Wetters unter ausgespannten Regenschirmen an den Buden vorbei drängten. Ich mischte mich nun auch in das Gewimmel, nahm Alles in Augenschein und erstand nebst anderen Gegenständen für Milada einen carrierten Plaid mit Tragriemen, eine geräumige Ledertasche, einen halbseidenen Schirm - und schließlich einen kleinen Hut von feinem Filz, wie ihn die Damen auf der Reise zu 25 tragen pflegen. Nachdem ich das Alles in mein Zimmer geschafft hatte, flanirte ich so herum; denn es gab allerlei zu sehen, sogar ein Theater in dem Saale eines anderen Gasthofes, wo obendrein die Nacht durch getanzt wurde. Am anderen Morgen trat ich vor das Hausthor. Denn es war festgesetzt, daß sich Milada gleich von der Bahn weg in den Gasthof begeben sollte. Doch wer nicht kam, 30 war sie. Es ärgerte mich, denn ich hatte trotz allem schon große Sehnsucht nach ihr empfunden und konnte es kaum mehr erwarten, sie bei mir zu haben. Aber ich dachte mir: nun, vielleicht wollte sie nicht bei Nacht fort, und macht sich erst jetzt auf den Weg. Der Tag schlich so dahin; der Abend kam, Milada nicht. Nun wachte ich dem nächsten Morgen wie im Fieber entgegen - aber Milada blieb aus. Wie war das zu 35 deuten? Sollte sie gar nicht die Absicht gehabt haben, zu kommen, und mich hier ohne weiteres sitzen lassen? Das wäre niederträchtig! Und doch empfand ich bei diesem Gedanken fast eine wohlthuende Erleichterung. Oder sollte sie etwa mit dem alten Kerl, dem Müller? - Mein Herz zog sich zusammen. Aber nein! Nein! Sie kann ja krank geworden sein - kann, ungenau und unbeholfen, wie Weibsleute in solchen Dingen sind, 40 die rechte Strecke verfehlt haben und Gott weiß wohin gefahren sein! Unter solchen
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rathlosen Vermuthungen, davon eine die andere kreuzte, brachte ich den Tag hin - auch den nächsten. Endlich, am vierten, erhielt ich einen Brief, den ich heute noch auswendig weiß, da er nur aus ein paar Zeilen bestand: "Lieber Bedrich! Ich kann mit Dir nicht nach Amerika gehen, denn ich heirathe den Müller. Sei mir nicht bös. Es wäre Dir doch ein Opfer gewesen, das Du früher oder später bereut hättest. Deine Milada." Das Papier glitt mir aus der Hand, und einen Augenblick hatte ich das Gefühl, als wäre mit ihm ein Stein von meiner Brust gefallen. Doch gleich daraufpackte mich die Eifersucht und ein grimmiger Haß gegen den Müller, den ich niemals im Leben gesehen hatte. Wie toll rannte ich im Zimmer umher und entwarf die schrecklichsten Rachepläne, die alle auf eine Mordgeschichte hinausliefen, wie man sie fast täglich in den Zeitungen zu lesen bekommt. Aber nach und nach wurde mir immer deutlicher, daß es ja für mich das größte Glück wäre, wenn die Ehe mit dem Müller zu Stande käme. Aber wird dies auch wirklich geschehen? Konnte das Ganze nicht blos ein Vorwand sein, auf daß ich wieder zurückkehrte und Alles so bliebe, wie es war? Das ließ sich eben nicht herausbringen, und so erübrigte mir nichts, als abzuwarten, wie sich die Dinge gestalten würden. Indessen galt es doch, zu überlegen, was vorderhand zu thun sei. Sofort zur Herrschaft zurückkehren wollte ich nicht; denn es hätte den anderen Dienstleuten seltsam erscheinen müssen, wenn ich nicht einmal die verlangten acht Tage fortgeblieben wäre. Ich beschloß also, aus der Noth eine Tugend zu machen und nun wirklich meine Schwester in dem Dorfe Nemojan aufzusuchen, das anderthalb Stunden von Wischau entfernt liegt. Da das Wetter gut war, machte ich mich gleich auf den Weg, fand aber nicht den freundlichsten Empfang. Meine Schwester wollte mich die längste Zeit gar nicht wieder erkennen und that sehr zurückhaltend; mein Schwager Schuster desgleichen. Schließlich bedauerte man, daß gar nichts im Hause sei, um mir einen Imbiß vorsetzen zu können, wofür ich auch bestens dankte. Erst am nächsten Tage, als ich mit einem leichten Fuhrwerk kam, meiner Schwester die Sachen mitbrachte, die ich für Milada gekauft hatte, und jedem der fünf Kinder einen Silbergulden in die ungewaschene Patschhand drückte, thauten die Leute auf und flössen zuletzt so von Zärtlichkeit über, daß sie mich noch ein paar Tage in Nemojan festhielten, wo sich im Wirthshause ein nicht ganz unbewohnbares Zimmerchen für mich vorfand. Dort zechte ich auch tüchtig mit meinem Schwager, dem jetzt die Zeit ein einziger blauer Montag war; aber ich konnte doch meine innere Unruhe nicht übertäuben, die mich endlich zur Heimkehr trieb. Jetzt sollte sich mein Schicksal entscheiden! Als ich an einem schönen Herbstnachmittag mit meinem Handkoffer durch das Schloßportal trat, war die erste Person, die ich erblickte, Katinka, meine jetzige Frau. Sie saß im Vorhof unter der breiten Esche, die schon ganz gelb gefärbt war, und strickte an einem langen weißen Strumpfe. Als sie mich sah, öffnete sie den Mund vor Ueberraschung und wurde blutroth im Gesicht. "Je, Du bist schon da, Fridolin!" rief
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sie. "Wie Du siehst." "Nun, das freut mich." "Auch so viel." "Ich hatte gedacht, Du würdest länger ausbleiben. Wie ist's Dir denn ergangen? Deine Schwester wird sich wohl auch recht gefreut haben, Dich wiederzusehen?" "Na, so so. Giebt's was Neues im Schlosse?" "Gar nichts. Dein Herr ist noch in Steiermark. Ueber Etwas aber wirst Du Dich doch wundern." "Ueber was denn?" "Erinnerst Du Dich an die Milada?" Mir gab es einen Riß durch den ganzen Leib. Aber ich erwiderte so unbefangen wie möglich: "Warum sollt' ich mich nicht an die erinnern. Sie war ja lang genug im Schloß." "Und daß sie ihr Kind umgebracht hat, weißt Du auch. Vor ein paar Wochen ist sie aus dem Zuchthaus gekommen - und jetzt heirathet sie der Müller Mussil in Lettowitz." "Den kenn' ich nicht", sagte ich, mich zusammen nehmend. "Ein alter Mann, schon an die siebzig, der aber noch immer den Teufel im Leib hat. Nächsten Sonntag werden sie aufgeboten, ein für alle Mal." "Nächsten Sonntag schon!" schrie ich mich vergessend. "Sie haben Eile noth," fuhr Katinka trotzdem ahnungslos fort, "der Kinder des Müllers wegen, die freilich längst selbst verheirathet sind und schon vor Jahren ihr Erbtheil voll ausgezahlt erhalten haben. Aber sie könnten doch noch allerlei dagegen thun. Er hat dem ältesten Sohn, der in Brunn einen großen Mehlhandel betreibt, auch noch die Mühle abtreten müssen, um ihn ganz herum zu kriegen. Er selbst behält sich nur einen Wirthschaftshof in der Nähe von Trübau, der freilich groß genug und an die Zehntausend werth sein soll. Dort will er mit der Milada leben, der er, wie es heißt, den Hof für den Fall seines Todes verschrieben hat." In diesem Augenblick kam vom Schloß aus ein Wagen herangerollt; die Frau Gräfin machte ihre gewohnte Spazierfahrt. Wir nahmen Stellung und verneigten uns ehrerbietig"Siehst Du," sagte Katinka, als der Wagen draußen war, "siehst Du, wie recht Ihre Erlaucht damals gehabt hat. Wer weiß, was noch Alles geschieht. Gar zu gut wird sie's bei dem Müller nicht haben. Der hat schon drei Weiber in's Grab gebracht. Nun, sie wird wohl glauben, daß er bald stirbt; aber das ist Einer von denen, die hundert Jahre alt werden." Ich hatte genug und ließ Katinka allein, die an ihrem Strumpfe weiter strickte. Als mir jetzt das Schloß in seiner ganzen Ausdehnung vor Augen kam, als ich alles Bekannte und Gewohnte wieder fand - da übermannte es mich, und in meinem Zimmer, das ich für immer hatte verlassen wollen, brach ich in Thränen aus. Aber sie flössen
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auch um Milada. Das Gespräch mit Katinka hatte alle Erinnerungen in mir aufgewühlt, und ich empfand, wie sehr ich diese falsche Schlange noch liebte. Nach einer gewissen Zeit hörte ich den Wagen zurückkommen, und gleich darauf erschien der Bediente, der auf dem Bock gesessen, an meiner Thür. "Fridolin, Du sollst sofort zur Frau Gräfin kommen!" rief er herein und entfernte sich wieder schleunigst. Ich erschrak. Sollte man etwas erfahren haben? Und will man mich jetzt zur Rede stellen? Aber was war zu thun? Ich wusch und kämmte mich rasch, dann ging ich mit klopfendem Herzen hinauf. Ihre Erlaucht befand sich in einem Balkonzimmer, wo sie sich des Abends gewöhnlieh vorlesen ließ. Aber sie war noch allein, empfing mich freundlich und stellte, während ich aufathmete, einige wohlwollende Fragen, die den Aufenthalt bei meiner Schwester betrafen. Nachdem ich dieselben unterthänigst beantwortet hatte, schwieg sie eine Zeitlang, dann fragte sie plötzlich. "Wie gefällt Dir denn die Katinka?" Ich war ganz betroffen und wußte nicht, was ich erwidern sollte. "Nun," sagte ich endlich, "die Katinka - die Katinka ist ein recht angenehmes Mädchen." "Nicht wahr? Und auch ein braves Mädchen ist sie. Möchtest Du sie heirathen, Fridolin?" Jetzt war ich vollständig paff und wußte schon gar nicht, was ich sagen sollte. "Heirathen - ja - heirathen - daran hab' ich bis jetzt nicht gedacht, Erlaucht." "Dann kannst Du jetzt daran denken. Offen gesagt: es war' uns erwünscht, wenn Ihr Beide ein Paar würdet. Unter dieser Bedingung steht Dir für Deine langjährigen treuen Dienste eine Belohnung in Aussicht. Wir wollen nämlich den Zimmerwärter pensioniren und Dir den Posten geben." Um mich her drehte sich Alles und mühsam stammelte ich einige mir selbst unverständliche Worte. "Nun, nun," sagte die Frau Gräfin, "ich begreife, daß Du Dich nicht so ohne weiteres entschließen kannst. Denk' darüber nach. Beschlaf die Sache - und morgen meldest Du mir, was Du zu thun gesonnen bist." Damit reichte sie mir die Hand zum Kusse und entließ mich sehr gnädig.
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Hier hielt Herr Fridolin inne und blickte wieder nach der Uhr, deren Zeiger fünf Minuten vor Sechs wies. "Bis hierher und nicht weiter", sagte er jetzt. "Alles übrige wissen Sie ohnehin." Damit stand er auf und näherte sich dem Kleiderrechen an der Wand. "Nein", rief ich, "ich weiß nicht Alles! Wie war es mit Milada? Hat sie den Müller 40 wirklich geheirathet?"
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Er hatte inzwischen seinen Mantel umgeworfen und kehrte, die Mütze in der Hand an den Tisch zurück. "Ja, sie hat ihn geheirathet und ist nach zwei Jahren Wittwe geworden. Eine Zeit lang hieß es, sie habe den Alten mit Gift in's Jenseits befördert. Aber das wird wohl bloßes Gerede gewesen sein; es wären ja sonst die Gerichte 5 eingeschritten. Nicht lange darauf hat sie ihren Schaffer zum Mann genommen, dem sie auch ein Kind geboren. Sie selbst aber ist im Wochenbett gestorben." Die Uhr hob schnarrend an, Sechs zu schlagen. Fridolin zuckte zusammen. "Gute Nacht!" Und damit stürzte er aus dem Zimmer, mich der ungestörten Nachwirkung seiner Erzählung überlassend. Diese bewies zwar nicht ganz die Stärke seiner Leiden10 schaft - aber sie sprach für sein Glück.
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Π. KRITISCHER APPARAT
1. EDITORISCHE HINWEISE Für die Textzeugen von Fridolin werden Siglen verwendet: J = Erstausgabe in der Zeit: 71 2 J = Veröffentlichung im Wiener-Neujahrs-Almanach: J2 Hr = Veröffentlichung in der Novellensammlung Herbstreigen: Hr KTD = Ferdinand von Saar: Kritische Texte und Deutungen, hg. v. Karl Konrad Polheim. Zitiert als KTD 1-4 Bd. 1: Marianne. Kritisch hg. u. gedeutet v. Regine Kopp. M. e. Einf. v. K. K. Polheim. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1980. S. 3-26. Bd. 2: Die Geigerin. Kritisch hg. u. gedeutet v. Heinz Gierlich. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1981. S. 7-36. Bd. 3: Innocens. Kritisch hg. u. gedeutet v. Jens Stuben. Bonn: Bouvier Verlag Herben Grundmann 1986. S. 11-36. Bd. 4: Seligmann Hirsch. Kritisch hg. u. gedeutet v. Detlef Haberland. Tübingen: Niemeyer Verlag 1987. S. 11-36. SW = Die übrigen gedruckt vorliegenden Werke Soars werden zitiert nach: Ferdinand von Soars sämtliche Werke in zwölf Bänden. Im Auftrage des Wiener Zweigvereins der Deutschen Schillerstißung m. e. Biographie des Dichters von Anton Bettelheim, hg. v. Jakob Minor. [Bd. 1-12 in 4Bdn.J Leipzig: Max Hesse Verlag [1908]. Zitiert als: SW 1-12. 1
Zitate und Verweise: Die Seiten- und Zeilenangaben zu den Zitaten aus dem Fridolin werden im Text direkt in runden Klammern vermerkt. Mögliche Textvarianten werden durch ein V vor der Seiten- und Zeilenangabe gekennzeichnet. Zitate und Hinweise auf ungedruckte Briefe werden durch Siglen in runden Klammern im fortlaufenden Text ausgewiesen. Weider Sekundärliteratur werden in den Anmerkungen in gekürzter Form zitiert. Die Bibliographieführt ihre genauen Angaben an. Für die Entstehungsgeschichte des Fridolin fehlt es an handschriftlichen Textzeugen. Auch das für die Erstveröffentlichung an Hermann Bahr zugestellte Manuskript des Fridolin sowie die korrigierten Druckbögen des erschienenen Textes sind nicht überliefert. Somit mangelt es zwar an handschriftlichem Material für eine textkritische Untersuchung, aber es existieren von der Erzählung verschiedene Textausgaben, die die Möglichkeit eines Vergleiches bieten. Dabei kann der zeitlich am spätesten liegende Text aus dem Herbstreigen als die letzte Überarbeitung Saars gelten, da zwar eine 45
weitere Auflage des Herbstreigens nach 1897 geplant, aber nicht durchgeführt wurde, und Textzeugenfehlen. Die Fassung ß entfernt sich in einigen Punkten auffallend von A Die entsprechenden Änderungen wurden in Hr übernommen und nur noch geringfügig erweitert. Da die vorliegende Ausgabe primär dem Text des Herbstreigens folgt nicht um des Prinzips der Ausgabe letzter Hand willen, sondern aus ästhetischen und interpretatorischen Gründen1 -, werden im Apparat gemäß der Folge ihres Erscheinens die Varianten aus Jl und P aufgeführt. Um den kritischen Apparat nicht zu sehr anschwellen zu lassen, wurden, soweit möglich, Sammelvarianten erstellt.
2. SAMMELVARIANTEN a. Orthographische Textvarianten a. Vokalismus und Konsonantismus Doppelvokale: Einfachvokal wird in Hr zu Doppelvokal: Wagschale (19,40). Für Doppelvokal in J1 und Hr steht in J2 Einfachvokal: Loos (12,18). Zur Schreibung der 3. Pers. Sg. Prät. des Verbes gehen: in J1 und J2 gieng wird zu ging (13,29) in Hr. Schwankungen in der Schreibung der 3. Pers. PL Prät.: schrieen J1 und Hr, in J2 schrien (20,28). Schreibung der Umlaute ä und ü in Hr als ae bzw. ue: Aergeres (20,8), Aehnliches (20,33). Schreibung, der Doppelkonsonanz ss in der Konjunktion dass zu daß (11,4) in Hr; ebenso in den konjugierten Formen der Verben wissen, müssen, entschließen, gießen: musste (15,37), goss (13,38) zu mußte, goß in Hr. Ebenso bei Substantiven: J1 und J2 schreiben Doppelkonsonanz in Schloss (12,36) anstelle vonß. ß-Schreibung am Ende eines Wortes wird in Hr durch einfaches -s ersetzt: blos (11,28) (jedoch indeß in HrJ. In J2 und Hr wird die Schreibung von - ck in -k rückgängig gemacht: Tarok (16,6). Wechsel von -t zu -dt in Hr: halb todt (20,34). Wechsel von -ch zu -g in Hr: allmälig (12,40).
Vgi die Ausführungen K. K. Polheims zur textkritischen Herausgabe von Ebner-Eschenbachs und Soars Novellen in: Textkritik, S. VII. Textkritik und Interpretation bedingen einander, so daß auch die erstellte Interpretation Rückschlüsse auf die Textkritik zuläßt.
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. Groß- und Kleinschreibung
Großschreibung von Indefinita in J2 und Hr: Alles (13,18), Niemand (l3,20); Anderen (22,31) in Hr groß, klein in J1 und J2. Das lateinische nemo ist in P großgeschrieben. Das 2. Personalpronomen in der Anrede wird in Hr groß geschrieben. Groß geschrieben werden in J2 und Hr folgende Adverbien und als Adverbien gebrauchte Substantive: aus Folgendem (15,10), zu Hause (18,10). Mit Substantiven zusammengesetzte Verben werden wahllos groß und klein geschrieben: Halt machen J2 (23,37), Trotz bieten (11,37) J1 und Hr, zu Theil werden (30,10) in Hr. y. Getrennt- und Zusammenschreibung Weder bei den Zusammensetzungen mit Nomen noch bei den zusammengesetzten Verben gibt es eine einheitliche Handhabung bei der Getrennt- und Zusammenschreibung: in Folge (11,40) glatt strich J1 und Hr (18,4), zu bewegte / (27,17). Verwendung des Verbindungsstrichs bei Ortsnamen und nein uneinheitlich: New-York neben Newyork (34,18) in Hr, Frau Gräfin Mutter neben Frau Gräfin-Mutter (12,17) Hr. . Angleichung von Fremdwörtern an die deutsche Schreibung Die Endung -iren bei Verben romanischen Ursprungs: interessirte (17,28) Hr, parfiimirte (15,29) Hr.
Die Schreibung des französischen -u- als Umlaut: Büffet (13,23) Hr. Wechsel von -c vor a, o, u und Mitlaut zu -k: Adjunkten (16,8) Hr. Wechsel von -qu vor Vokal zu -k: Parketten (13,14) J2. Wechsel von c- vor i zu -z-: Medizin (18,37) J1 und Hr. Schwankung beim Gebrauch des -v oder -w bei tschechischen Namen: Ostrov (20,25) J1 und Hr. e. Der Apostroph Die Verwendung des Apostrophs ist uneinheitlich in den drei Ausgaben, die stilistische Überarbeitung hat dazu gefuhrt, daß in Hr vermehrt Apostrophe gesetzt wurden. Apostroph für ein ausgefallenes da- beim Artikel in Verbindung mit Präpositionen findet sich in J1 und Hr: in 's, aufs, an's. Apostroph für ein im Wortinneren ausgefallenes -e-: Mein'twegen (28,9) in Hr und 47
J1 und für ein ausgefallenes -a- bei der Präposition da: d'rauf (30,11) J1 und J2.
b. Lautvarianten a. Ausfall des auslautenden -e in Umstands- und Eigenschaftswörtern: fern (22,32) Hr, insofern (19,35) Hr, im Lauf (11,13) Hr. ß. Dativ -e fällt aus in Hr: Tag (23,8), Kuhstall (23,26). y. Das unbetonte e- in dem Pronomen anderen (13,15) fehlt in J2.
. Das in Österreich gebräuchliche hieher wird in Hr durch das binnendeutsche hierher (36,35) ersetzt.
c. Interpunktionsvarianten a. Wenn durch die Konjunktion und zwei Hauptsätze verbunden werden, setzt Saar ein Komma, in J2 fehlt es an solchen Stellen: angenommen und (14,13). ß. In J2 und Hr zeigt sich die Tendenz., das Komma aus J1 durch ein Semikolon zu ersetzen, um so die Trennung der Sinneinheiten zu verstärken: glänzten; wie (13,14). schäkern;... (22,24). betreffe;... (24,3).
3. FORTLAUFENDES VARIANTENVERZEICHNIS Um das Verzeichnis übersichtlich zu gestalten, wird im folgenden die Kapiteleinteilung aus der Novelle übernommen. Die im letzten Kapitel vorgenommene Einteilung mit Sternchen wird dabei nicht berücksichtigt.
I. 11,6 11.8 11.9 11,15 11,17 11.18
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Fall] Fall, J1 J2. ein solcher ] solch ein J1. Friedrich ] Friedrich, J1. aller im Gebrauch stehenden ] sämtlicher J1. auf das überraschendste ] überraschend J1. sorgfältig ] über der platten Stirn J1.
11,21 11,28 11,31 11,34 11,36 12,2 12,7 12,12 12,12-13 12.20
12.21 12.27 13,11 13,19 13.25 13.26 13.28 13,31 13,31 13,36 14,2 14,19 14.21 14.22 14,24 14,24 14,26
Gängen ] Gängen, J1. Schrift ] Schrift, J1. durch ] nach J1. London-] London, J2. zurechtzufinden, ] zurechtzufinden; J1. jungen Herrn ] Herrn J1. Chäteau-Margaux ] Chäteau-Margeaux J1 Chäteau-Margeaux J2. allzu sehr ] allzusehr J1 J2. bestand ] bestand, J1. Zimmerwärter war ] Zimmerwärter, ein sehr geschickter Kunsttischler, war J1. zwar ] zwar, J1 J2. zahllosen ] zahlreichen J1. mit welcher Sorgfalt ] fehlt J1. wider ] wieder, J1 J2. dicken ] alten dicken J1. saßen: ] saßen, J1 J2. goß Absatz] kein Absatz J2. Stillleben ] Stilleben J1 J2. Häuslichkeit, ] Häuslichkeit J2. so wie ] sowie J2. geboren, ] geboren; J2. weiblichen ] fehlt J1. entfalten. ] entfalten; J1. das heißt ] d.h. J2. Erlaucht, ] Erlaucht J2. Graf, ] Graf J2. allein herrschende ] alleinherrschende J1.
II. 15.5 15.6 15.7 15,7 15,22 15.35 15.36
wirklich: ] wirklich J1. altgräflichen ] gräflichen J1. an ] in J1. s e i n e m ] seinem J2. Fasane ] Fasanen J2. voll] fehlt J1. gezogen, ] gezogen J2.
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16,3 16,8 16.11 16.13 16,22-23 16,25 16,27 16,27 16,30 16,30 16,34 16,38 17.12 17.14
dem, ] ohne Sorge dem J2. last, ] last J2. vor] von J2. Ohr ] linke Ohr J1. begeben: ] begeben. J1. leisten - ] leisten, J2. wohl]fehlt J2. gestattet ] gewiß gestattet J Arom ] Aroma J2. Nein: ] Nein, J1. setzen: ] setzen, J2. überhören: ] überhören, J2. Brust, ] Brust J2. omni ] omne J1.
III. 17,39 18,1 18,10 18,28 19,8-9
19,12 19,18 19.18 19,32 19,38 20.4 20,4-5 20.5 20.6 20.7 20.19 20,23 20,23 20,23
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Rücken. ] Absatz J1. nieder. ] Absatz J1. herbeiläuten." ] Absatz J1. Schlagsahne ] Rahm J1. dazu bis Ahnung hat. ] selbe höchst wichtig sind, und man sich auch in dieser Richtung hin durch besondere Geschicklichkeit sehr auszuzeichnen vermag. J1. halten, ] halten J2. Graf, ] Graf J1. selig, ] selig J1. ja. ]ja,J'. Einen ] einem J2. hatte ] hat J2. überall giebt es etwas hinunter zu schlucken ] fehlt J1. Manchmal bis aussieht ] fehlt J1. unsereins ] man J1. Spaß -] Spaß, J1. hineinplumpse; ] hineinplumpste, J1 hineinplumpse, J2. Einer - ] einer, J1. Ostrov ] Ostrov, J1. war's: ] war's, J1.
20.28 20,32 20.34 20.35 20,40 21.2 21,4 21.4 21.5 21.10 21.11 21,16 21.29 21,31 21,34 22,1-2 22.3
Angst. ] Angst, J1. sofort ] fehlt J1. in mich hinein trinken ] hinuntertrinken J1. Fieber-] Fieber J1. schlug ] pochte J1. Ernst - ] Ernst, J1. j a ] fehlt i1. anvertrauen ] vertrauen J1. bereits auf dem Wege ist ] fehlt J1. tauschen-] tauschen, J1. Pause, ] Pause J1. Sie?] Sie- J2. doch - ] doch, J1. Möchten ] "Möchten J1. Namen. ] Namen, J1. vorgebracht ] vorbrachte J1. Sinne - ] Sinne J1.
IV.
22,11 22,19 22,22 22,26 22,29 22,31 22,36 23,1 23,1 23.3 23.4 23,9 23.13 23.14 23.17 23.18 23.19 23.19 23.20
aufgeschossen ] aufgeschossen, J1. hatte.] Absatz i1. schäkern; ] schäkern, J1. Wäsche, ] Wäsche J2. vergeben; ] vergeben, J1. Nebenbediensteten, ] Nebenbediensteten - J2. Betracht ] Erwägung J1. hellen, aber sanften ] weichen etwas tiefen J1. vernehmen ] hören J1. Dir. Das ] Dir. das J2 Hr Dir, das J1 küssen, ] küssen; J2. erkrankt - ] erkrankt, J1. zu ] auch zu J1. die Dienste ] den Dienst J1. Nun ] In einiger Zeit J1. ihn - ,] ihn - J2. Mann - ] Mann, J2. an ] so an J2. lebenslustig - ] lebenslustig, J1. 51
23,23 23,32 23,37 24,1 24.4 24.8 24,10 24,19 24,21 24.29 24.30 24,34 24.34 24.35 24,35-37
24,38-39 24,40-25,1
25,3 25.5 25.6 25.9
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wo er bunte Röcke vermuthete ] fehlt J1. zur Abwehr ] fehlt J1. sprechen. ] sprechen, J1. betreffe; ] betreffe, J1. Gouvernante; ] Gouvernante. J1. nur ] nun J1. befanden; ] befanden, J1. ihrem Blick ist ] ihren Augen liegt J1 ihrem Gesicht ist J2. Ohren -] Ohren, wie man zu sagen pflegt, J1. seien, ] seien; J2. könne ] könnte J2. jede ] schon lange Zeit jede J1. sozusagen ] fehlt J1. in's ] in mein J1. und wer bis abschreckte ] ich hielt sie sozusagen in Gedanken für die Zukunft fest. Nun aber hatte ich ein Gefühl, als wäre mir das Mädchen für immer entrissen worden. Das Vorgefallene konnte ihr ja selbst keinGeheimnis bleiben - und da lag es auf der Hand, dass sie eitel undhoffärtig werden musste. Wirklich schien es mir, als hebe sie den Kopfhöher als sonst und trage eine gewisse weg werfende Art zur Schau, wenn ich ihr zufällig in den Wurf kam. Auch sah ich voraus, dass man bald anfangen werde, ihr nachzustellen. Das alles schmerzte mich sehr; aber ich that mir Gewalt an und suchte mich zu trösten, indem ich mir sagte: nun, aus ist aus! Wer weiß, wozu es gut ist! Denn dieBemerkung der Frau Altgräfin gab auch mir zu denken'. J1. in der bis herausgestellt ] Und hat sich diese Bemerkung irgendwie? J1. Nur zu bis auch ] Wird sich zeigen. - Kurze Zeit darauf traf es sich, dass ein hoher polnischer Cavalier zu Besuch erwartet wurde. Ein junger, sehr schöner, unermesslich reicher Herr; denn er besaß nicht bloß zahlreiche Güter in Österreich, sondern auch in Russland. Es hätte, wie ich glaube, zwischen ihm und der ältesten Comtesse, die eben heiratsfähig geworden war, eine Verlobung eingeleitet werden sollen. Dieser Magnat brachte Wagen und Pferde mit, daher auch Kutscher und Reitknecht überdies für seine Pferde einen alten Leibjäger in verschnürtem Kaftan und J1. ein ] so ein J1. röthlichen ] blonden J1. in verschnürtem Kaftan 1 fehlt J1. behandelte ] betrachtete J1.
25,10 25.10 25.11 25.12 25,12 25.12 25.13 25,15 25,15
25,21 25,21 25,21-23
25,23 25,23 25,24-57 25,26 25,28 25,28 25.30 25.31 25.35 25.36 26,6 26,8 26,10 26,13 26,13
eine] fehlt J1. die ] was J1. Morgens ] Tages J1. durch ] flüchtig durch J1. offene ] fehlt J1. blickte ] hineinblickte J1. zärtlich ] mit leiser Stimme zärtlich J1. Aber ich ] Aber was konnte dabei herauskommen? Eine Balgerei und in Folge davon Scandal und Verdruss. Ich J1. mich und ] mich also und zog mich sofort zurück, ohne dass mich die Beiden bemerkt hätten. In meinem Inneren aber fraß es fort und ich habe mich selbst dann noch höchst unglücklich gefühlt, als der Fürstbereits abgereist war und Milada schon früher das Schloss für immer verlassen hatte, weil ihre Schwester einen Mann genommen und im Hause des Vaters ersetzt werden musste. J1. jungen ] f e h l t ] 1 . gegangen ] gereist J1. wurde mir bis erinnerte.] vergaß ich die Geschichte mehr und mehr, doch nicht so, dass ich sie selbst in dem fremden Lande ganz los geworden wäre. Wie oft hat mir in Rom und Neapel davon geträumt! J1. Als ] Und als J1. Mai ] des Mai J1. nahmen bis Milada.] überkamen mich allerlei Gedanken, die sämtlich auf Milada hinausliefen. J1. Wie bis reden ] Wie sie mich empfangen J1. fort] längst fort J1. j a ] fehlt J1. nach ihr, ] .Milada wiederzusehen nach ihr J2. gelangen ] kommen J1. von ihren Trögen entfernt ] fehlt J1. nicht. ] nicht, J1. "Ihr ] "ihr Hr. Gensdarm ] Gendarm J2. herauskam ] hinauskam J1. Drei ] "Drei J2. gegeben. ] gegeben." J2.
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v.
28,5 28,7-9 28,9 28,13 28,20-21 28.22 28.23 28,25 28,25 28,25 28,36
winziges ] einziges J2. werden.] werden, J1. Jahre. ] Jahre, J1. Landbier; ] Landbier, J2. kleinen ] zwei kleinen J1. spiegelhellen ] spiegelglatten J2. war bis öde. ] lag es völlig verlassen da. J1. lagen bis Badehütte ] waren an die Böschung gezogen worden und vermorschten dort, umgekippt, mit der hözernen Badehütte. J1. zusammt ] mit samt J2. Uferwendung ] Uferwandung , J2. wollt' ] wollte J2. fragte ] sagte J1. sie, ] sie J1. mich ] du mich J1. Du ] O du J1. h a s t ] hast J1. Hast] Und hast Jl. anfangs ] am Anfang J1. zeigen - ] zeigen. J1. aus Furcht ] In deiner Bedenklichkeit hast du befürchtet J1. schaden. ] schaden und hast deinen Gefühlen nicht nachgegeben. J1. Und als bis abgekehrt. ] Endlich hast du dich ganz von mir abgekehrt, weil du des jungen Herrn Bedienter geworden bist. J1. nannte. ] Absatz J1. im Anfang ] vom Anfang an J1. vor ] von J1. abgereist ] abgefahren J'. Und da bis gefunden hat. ] fehlt J1. Mädel ] Mädchen J1. ihm ] ihr J1. hat ] hatten J1. man ] Sie J1. sogar ] obendrein J1. mocht' ] möcht' J1.
28.38 28.39 28,39
hätte ] hätt' J1. Dich] d i c h J1. wie] fehlt J1.
26,32 26,36 26.39 27,6 27,12 27.12 27.13 27,13-14 27.14 27,22 27,28 27,31 27,31 27,34 27.40 27,40 27,40 27,40 28,1 28.1 28.2 28,2-3
54
28,40 28,40 29,2 29,4 29.4 29.5 29,5 29,7 29,7-8 29,9-10 29,11 29,13 29,17 29,24 29,24 29,31
ganz ] doch ganz J1. im Kopfe] fehltJ 1 . "Du hast bis gern ] "Auch fühl' ich's ja, fuhr sie fort, "dass du mich noch immer gern hast. J1. h i n l / / J1. da, ] da J1. lauernd ] mit lauernder Zuversicht J1. ihr ] das J1. eigentlich ] fehlt J1. trotz bis gesessen.] fehlt J1. Und bis verlassen! ] Nicht wahr, du wirst mich nicht verlassen, ich hab'dich ja auch noch gern. J1. Sie ] Und sie J1. unmöglich - ] unmöglich. J1. Frage gab ] Frage lenkte mich von ihr ab und gab J1. Zuversicht ] Ruhe und Sicherheit J1. brachte ] brachten J1. Ich bis los ] gewaltsam riss ich mich los J1.
VI.
30.15 30.16 30,24 30.28 30.29 30.31 30.32 31,2 31,4 31.4 31.5 31.6
dem] den J1. wohl; ] wohl, J1. selbst, ] selbst J1. Gelegenheit ] und unmögliche Gelegenheit J2. einschleichen! ] einschleichen. J2. das letzte ] ein letztes J1. ihr und mir ] mir und ihr J2. immer näher ] ganz nahe J1. ganz] fehlt]1. ruhig. ] ruhig, ich wusst' es ja, dass du kommen würdest J1. nicht gelang ] sehr schwer wurde J1. ich bis betrachten ] sie hatte sich heute auffallend herausgeputzt und sah ganz rosig aus J1.
31.7
heute ] fehlt J*.
31,7
knappes, ] knappes J1.
31,7
bis] fehlt J1.
31,10 31,13
geknüpft, ] geknüpft J1. Freut ] Ich hab's immer wie einen Schatz gehütet. Freut J'.
55
31,17 31,17 31,24 31,24 31.30 31,33 31.33 31.34 32,3 32,12 32,19 32,19 32,24 32.31 32.33 32.34 32,38 32,38 32,40 33,1 33.1 33.2 33.5 33.6 33.11 33.12 33,14
ergänzte ] sagte J1. Auch bis lieber. ] fehlt J 1 . doch] noch J1. a u c h ] auch J2. sei: ] sei, J1. Hör'] Hör J2. unten ] herunten J2. bleiben; ] bleiben, J1 bleiben; J2. das Herz schon ] schon das Herz f. schön ] fehlt J1. D i c h ] dich J2. nun, ] nun J2. würd' ] würde J1. kündigen? ] kündigen!? J2. wie ] und wie J1. Haus. ] Haus, J1. ganz] fehlt]1. ich ] wie könnt's auch anders sein. Ich J1. ich bis dort] fehlt J1. ist ] selbst die kleinste, ist J1. besser ] immer besser J1. hat-" ] AbsatzJ1. wollt' ] wollte J1. ich ] der Hauch ihres Mundes durchrieselte mich; ich J1. schon, ] schon J1. groß ] jagroß J2. sein ] leben J1.
VII.
33,23 33,26 33,37 33,39 34,9 34.9 34.10 34,14 34,22 56
Herr] fehlt J1. dort, ] dort J2. j a ] fehlt?. geheißen. ] geheißen, J1. einemmal ] einmal J1. beständig] fehltJ 1 . an ] beständig an J1. mir schon ] auch schon J2. müssen! ] müssen; J1.
34,23 34,26 34.28 35,11 35,13 35,13 35,16 35,21 35,21 35,23 35.29 35,33 35,36 36,3 36,3 36,8 36,8 36,10 36,16 36,32 36,36 36,40 36,40 37.30 37,32
seine ] leicht J2. mußte ] müsste J2. heute ] heut' J1. weggerührt - ] weggerührt, J2. Schwester ] Schwager J2. i n ] nach J1. bring'] bringe J1. einander ] fehlt V. befinden ] aneinander befinden J1. Rückfahrt; ] Rückfahrt, J2. Kalupe ] Kalupe, J1. ich. ] ich, J1. einstweilen ] nur einstweilen J1. Lager; ] Lager, J1. Bank ] Bank, J1. zu. ] Absatz?. sie ] sie, J1. erwartet?" ] erwartet?" fragte ich unter ihrer stürmischen Umarmung. J1. Ihre Züge wurden ] Ihr Gesicht wurde J1. das? ] denn das? J1. hob ] erhob J2. denn ] heftig; denn J2. gewirkt ] gewirkt, J1. morgen, ] morgen J2. Ach, ] Ach J2.
VIII. 38,5 38.11 38.12 38.13 38.15 38.16 38,24 38,26 38,28-29
Die ] "Die , J2. Krone] Glocke J2. fand; ] fand, J1. würde] wurde J2. schwere ] schon schwere J1. begannen; ] begannen, J1. feinem ] weichem J1. herum; ] herum, J1. sich bis sollte ] ich Milada nicht an der Bahn, sondern im Gasthofe erwarten sollte. J1. 57
38,30 38,30-31 38,30 38.34 39.3 39,8 39,18 39.18 39,25 39,33 39.38 40.4 40,8 40,13 40.20 40.21 40,21 40.35 40.39 41.19 41.20 41,39 42.1 42.2 42.3 42,6
58
Es ärgerte mich ] ich empfand das sehr unangenehm J1. denn bis zu haben. ] fehlt J1. trotz allem ] fehlt f. entgegen - ] entgegen, J1. weiß ] kann J2. Doch ] Aber J2. zurückkehren ] zurückkehren, J2. nicht; ] nicht, J1. desgleichen. ] Absatz J1. war; ] war, J2. Esche ] Eiche J1. so viel ] soviel J1. Etwas ] Eines J2. erinnern. ] erinnern, J1. ich] ich, J2. Eile ] besondere Eile J1. trotzdem ] fehlt]1. Jahre] Jahr' J2. Zimmer ] kleinen Zimmer J1. Erlaucht.' ] Erlaucht-' J1. war' ] wäre J2. den ] der J1. Hand] Hand, J2. Ja, ] Ja J1. habe ] haben J1. geboren ] gebar J1.
ΠΙ. TEXT- UND WIRKUNGSGESCHICHTE
1. VORGESCHICHTE UND UMGRUND a. 1893: Höhepunkt des dichterischen Ruhms mit den Wiener Elegien Geburtstagsehrung - Die 'Moderne' Das Jahr 1893 gestaltet sich für Ferdinand von Saar zu einem der bedeutendsten in seinem Werdegang als Schriftsteller. So feiert er einen durchschlagenden Erfolg mit seinen Wiener Elegien. Sie machen ihn in seiner Vaterstadt, die ihn bisher kaum gewürdigt hat, über die Grenzen seines Gönnerkreises hinaus berühmt2, allerdings in einem solchen Maße, daß Saar gerade wegen dieser liebevollen Würdigung des alten Wiens in späteren Jahren von manch einem Kritiker nur an dieser Leistung gemessen wird3. In einer öffentlichen Vorlesung am 14. Januar 1893 hatte der Jubilar seine Elegien in der Grillparzer-Gesellschaft dem Wiener Publikum vorgestellt, so daß der Bruder seiner Gönnerin Josefine von Wertheimstein, Theodor von Gomperz, darüber berichten konnte: [...] ein reicher, voller Erfolg und ein wohlverdienter. Die Wiener Elegien, die er las, gehören zum Allerbesten, was er gedichtet hat4. Nach Angaben von Jakob Minor hatte Saar schon im Jahre 1887 mit der Konzeption dieses lyrischen Werkes begonnen5, das gegen Ende 1892 wohl beim Verleger Weiß zum Druck vorlag (BrW54). Im Januar des folgenden Jahres muß dieser seinem Autor mitteilen, daß der Druck noch nicht beendet ist, auch wenn Saar die Elegien der Wiener Öffentlichkeit schon vorgestellt hat: Mit Ihrem Briefe vom 16. d. und der Nachricht, daß die Elegien dort [Wien] schon vom Stapel gelaufen sind, haben Sie mich sehr überrascht. Herzlichen Glückwunsch zu dem guten Erfolg. Schade nur, zweimal schade, daß wir mit der Ausgabe noch nicht so weit sind [...](BrW66).
2
Vgl. Thaler, S. 268. Vgl. Chiavacci: "Und wie er seine Wiener schilderte, so lebte und webte noch seine eigene Seele [...]. In seinem Wechsel von melancholischer Stimmung und froher Lebenslust war er ganz der alte Wiener." Vgl. auch die späteren Kritiken zum Herbstreigen. 4 Vgl. Theodor Gomperz an seine Frau, Wien, 15. Januar 1893, Briefe Gomperz, S. 235. 3 Vgl. Minor in SW 4, S. 10. 3
61
Diese liegt im Februar6 vor, und schon bald zollt man Saar allseits Anerkennung, die ihn mit freudigem Stolz erfüllt. Bescheiden äußert er gegenüber seinem Freund Ludwig August Frank!, daß er mit den Elegien einen "glücklichen Griff getan habe (BrW21), womit er den alten Wienern zu Herzen gehe7. Allerdings erregt dieses einseitige Interesse an dem "Wiener Elegiker", wie Saar nun bald seine Briefe unterschreiben wird, auch das Mißbehagen des Dichters, denn : Ich habe doch viel Bedeutenderes geschrieben [...], man hat es gerade in Wien kaum beachtet. Jetzt bin ich plötzlich ein berühmter Dichter; man hat mich erst entdeckt*. Im September nimmt Saar die Ehrungen anläßlich seines sechzigsten Geburtstags im Hause seiner Gönnerin Josefine von Wertheimstein entgegen. Hier spricht der berühmte Altphilologe und Bruder Josefmes, Theodor Gomperz, einen Toast auf den gefeierten Dichter aus9. Unter den Gästen befindet sich auch Anton Bettelheim, der in den Beiträgen zur Münchner Zeitung den Dichter geehrt und ihn in eine Reihe mit Grillparzer gestellt hatte10. Allerdings dürfte sich der Jubilar in der Charakterisierung seines Werkes nicht allzu verstanden gefühlt haben, wenn er bei Bettelheim lesen konnte: Die unerschütterliche Staatsgesinnung des Alt-Österreichers [Grillparzer] [...] verkehrt sich [...] in beschauliche Weltflucht, wie in den späteren Dichtungen Saars [...]". Wie rege Saars Interesse an den politischen Ereignissen seiner Zeit war, wird noch zu zeigen sein. Andere Kritiker charakterisieren die Erzählweise Saars und heben seine überzeugende Darstellungskraft und Illustration der Zeitgeschichte in ihrer Laudatio hervor12. Herbststimmung und das Verbundensein mit der Heimat loben die einen13, während u. a. der Feuilletonist des Magazins für Litteratur in Berlin die mangelnde Popularität
6
Vgl. Minor in SW 12, S. 177. Die Auflage zählte im Februar 1.200 Exemplare, im August folgte die zweite Auflage mit den restlichen 600 der ersten. 7 Frankl war der Redakteur der Sonntagsblätter, in denen Bauernfeld seine Satiren veröffentlicht hatte. 8 Vgl. Thaler, S. 268. 9 Vgl. Kann, S. 256. 10 Vgl. Bettelheim: Geburtstag, S. 23. 11 Ebenda, S. 32. 12 Vgl. Glücksmann: Geburtstag, S. 9-11. 13 Vgl. Zweybrück, S. 13. 62
Saars auf das Fehlen jeglicher religiöser oder politischer Tendenzen zurückführt14. Im großen und ganzen sind die Kritiken jedoch wohlmeinend und feiern de'n "Wiener Elegiker"15. Der Obmann der Grillparzer-Gesellschaft, Robert Zimmermann, hält ihm zu Ehren eine Rede, in der er Saar als würdigen Nachfolger Grillparzers feiert16. Schon im Frühjahr hatte man im Städtischen Museum ein Bild Saars aufgehängt, was ihn zu den euphorischen Worten hinriß: Nun hängt der Himmel voller Geigen (BrW39). Der Journalisten-Schriftsteller-Verein Concordia ernennt ihn zu seinem Ehrenmitglied (BrWT). Die großen Zeitungen Wiens schicken ihm Glückwunschtelegramme und hoffen auf weitere Zusammenarbeit mit dem gefeierten Dichter (BrW50/26). Nicht unwichtig für Saar als 'politischen' Autor sind die Anfragen aus dem böhmischen Teil des Reiches. Denn man bittet den Dichter um einen Beitrag für die Festigung des deutschen Elements in Prag, und er erhält eine Einladung für einen Vortrag vor dem "Verein deutscher Schriftsteller und Künstler in Böhmen" in Prag (BrW7). Bei all diesen Geburtstagsehrungen durfte aber auch die Stimme des 'Jungen Wien' nicht fehlen. Bettelheim hatte in seiner Laudatio auf die Aufwartung, die dieser Künstlerkreis Saar machte, hingewiesen. Seine Autoren bezeichneten den Schriftsteller als ihren Wegbereiter17. So findet auch die Festschrift der 'Moderne', Osterrachi, kritischen Beifall und guten Absatz18. So verwundert es nicht, daß spätere Kritiker wie etwa Moritz Necker Saars Werk, d. h. auch den Fridolin, auf seine 'Modernität' hin untersuchen werden. Die Beziehungen der jungen Autoren aus dem Kreis der Wiener Moderne zu Saar reichen jedoch schon auf den Anfang der neunziger Jahre zurück. Sowohl Hermann Bahr als auch Hugo von Hofmannsthal sehen sich in ihrer kritischen und künstlerischen Arbeit von Saar beeinflußt. Über die Vermittlung Hugo von Hofmannsthals nimmt Hermann Bahr 1893 im Auftrag der Deutschen Zeitung Kontakt mit Saar auf. Bahr will Saar für einen Beitrag in der Deutschen Zeitung gewinnen und sucht ihn gemeinsam mit Hofmannnsthal auf. Dieser schreibt an Marie Gomperz, bei der Saar in Oslavan weilte :
14 15 16 17 18
Vgl. Rüttenauer, S. 769-772. Vgl. v. Jaden, S. 199. Vgl. Zimmermann, S. 364-65. Vgl. Bahr: Studien, S. 106. Vgl. Anonymus, S. 147f.
63
Das Bahr-Saar-Interview ist sehr herzlich und lebendig ausgefallen, wenigstens hatte Bahr, mit dem ich fortging, den schönsten Eindruck. Er war beinahe bewegt19. Wie auch Hugo von Hofmannsthal lernte Saar Hermann Bahr in der Villa Wertheimstein kennen, und auch die weiteren Verhandlungen liefen z. T. über die Familien Wertheimstein und Gomperz20. So läßt Hofmannsthal über Nelly Gomperz dem Dichter ausrichten, daß er für einen Beitrag in der Deutschen Zeitung durchaus ein ordentliches Honorar fordern könne21. Allerdings scheint-in den Kreisen Saars, d. h. bei den Gomperz oder den Wertheimstein, Kritik an der Person Bahrs lautgeworden zu sein, was aufgrund seines Rufes als Kritiker nicht überrascht22. Hofmannsthal sieht sich daher veranlaßt, seinen Kollegen zu verteidigen23. Zwar steht nun der Zusammenarbeit mit Bahr nichts im Wege, trotzdem kann Saar noch nicht mit einem Werk dienen. Tatsächlich existiert bis zu diesem Zeitpunkt erst eine Skizze des Fridolin, da Saar durch andere Arbeiten an der Abfassung verhindert war. Aber der Fridolin sollte doch unter der Leitung von Hermann Bahr erscheinen, wenn auch nicht in der Deutschen Zeitung, so doch in der neugegründeten Zeit. Bahrs Interesse an der neuen Erzählung Saars erklärt sich aus seinem schon Anfang der neunziger Jahre entwickelten Verständnis der österreichischen Literatur. Hermann Bahr, der als Wortführer der 'Moderne' in literarkritischen Veröffentlichungen immer wieder auf die Tradition hinweist, in der die Jung-Österreicher stehen,
19
Vgl. Hugo von Hofmannsthal an Marie Gomperz, Februar 1893, Briefe Hofmannsthal, S. 284. Hirsch hat diesen und die folgenden Briefe mit Blick auf die Beziehung Saars zu Hofmannsthal in der Saar-Festschrift erstmals zusammengestellt. 20 Zu den Kontakten Hofmannsthals zu Saar vgl. auch l.b). 21 Vgl. Hugo von Hofmannsthal an Nelly Gomperz, Wien 12. Februar 1893, Briefe Hofmannsthal, S. 285. 22 So etwa Bahrs Polemik gegen die Epigonen s. u. Schon bald kommt Bahr in den Ruf eines Provokateurs, der ihm schon durch sein Verhalten in der Öffentlichkeit seit frühster Zeit vorherbestimmt war und ihm auch noch bei der ersten Begegnung mit Saar anhaftete, vgl. Löwy, S. 23. Schon als Student hatte er Aufsehen erregt, als er bei einer Totenfeier für Richard Wagner in Wien eine mit revolutionär politischen Anspielungen gespickte Rede hielt, so daß wegen des erregten Aufruhrs der Saal geräumt werden mußte. 23 Im Kreise der Familie Gomperz mußte der Verdacht geäußert worden sein, Bahr habe eine negative Kritik über Saar verfaßt, anders ist Hofmannsthals Richtigstellung nicht zu verstehen: 1) Herr Bahr hat in seinem Leben keinen Feuilleton über Saar geschrieben, den Namen Saar nie anders als beiläufig in allgemeinen literaturhistorischen Zusammenstellungen und da immer mit selbstverständlicher Sympathie und Achtung genannt. 2) Im Hauptblatt der Deutschen Zeitung, über das allein Herr Bahr einen gewissen Einfluß hat, ist seit meiner Studie über Schloß Kostenitz überhaupt kein Feuilleton über Herrn von Saar enthalten gewesen. Vgl. Hugo von Hofmannsthal an Nelly Gomperz, Februar 1893, Briefe Hofmannsthal, S. 285. 64
und ihre neuen Wege in Form und Inhalt propagiert24, hatte schon früh die Gelegenheit wahrgenommen, den Einfluß Saars auf die Moderne herauszustreichen. So beschreibt er in seinem 1890 erschienenen Artikel "Die Moderne" den Zwiespalt der Neuen, die, noch in der Vergangenheit verhaftet, schon die Zukunft in sich fühlten und nun der Vergangenheit, die "groß und lieblich" war, eine "feierliche Grabrede halten wollten"25. Bahrs Angriffe gegen die 'Alten' richten sich jedoch ausschließlich gegen die Epigonen und die Vertreter des Idealismus, während er den 'Großen Alten' der Literatur auch weiterhin seinen Respekt entgegenbringt26. Bahr rückt nun aber die nationale Eigenheit zunehmend in den Vordergrund seiner Beurteilungen, die in der Deutschen Zeitung erscheinen. Er trennt deutsche von österreichischer Literatur und sucht die "lokalen Gegebenheiten" in ihrer jeweiligen Eigenart genauer zu fassen27. Was das 'Junge Österreich' betrifft, so verwahrt sich Bahr gegen die landläufige Meinung, es sei ein "Anhängsel des Jungen Deutschland" und entstanden aus dem Ekel vor der Tradition: [...] nicht gegen die alte Kunst sind sie - im Gegenteil - wenn man einem Jung Wiener von Saar oder Ebner-Eschenbach erzählt, so findet man herzlichste Verehrung, innigste Liebe und zärtlichste Treue28. Ebenso stellt er fest, daß man das "Vaterländische, die wienerischen Stoffe und Formen, die etwas lässige und bequeme Weise, wie man ungebunden denkt", in Österreich liebe : Sie verehren die Tradition, sie wollen auf ihr stehen - sie möchten das alte Werk ihrer Vorfahren für ihre neue Zeit richten, sie wollen österreichisch sein29. 24
Vgl. Bahr: Henrik Ibsen, in: Überwindung, S. 12:v"In naturalistischer Form den allgemeinen Gedankenbesitz einer Zeit künstlerisch zu gestalten, das ist das charakteristische Unternehmen dieser neuen Literatur". Hier tritt Bahr noch für die deutschen Naturalisten ein. Seine Verehrung gilt dabei dem Münchner "Meister" Conrad, vgl. Von deutscher Literatur, in: ebenda, S. 22. Für seine Einstellung als Kritiker werden die Theorien der Naturwissenschaft von Bedeutung, die bisher die Literatur des Naturalismus bestimmten. Sie werden zum Maßstab einer literarischen Kritik, "die sich der unaufhaltsamen Flucht aller Dinge und der Einsicht in den Zusammenhang aller Dinge" bewußt ist und nicht mehr mit festen Maßstäben messen kann, vgl. Bahr: Zur Kritik der Kritik, in: Überwindung, S. 26. 25 Vgl. Bahr: Die Moderne, in: Überwindung, S. 36. 26 Vgl. Bahr: Die Alten und die Jungen, in: Überwindung, S. 39. 27 Vgl. Bahr: Das jüngste Deutschland, in: Studien, S. 62. Dabei erfährt das "Jüngste Deutschland", gemeint sind die Berliner Naturalisten um Amo Holz und Gerhard Hauptmann, eine eher abwertende Kritik, die auf den Vorwurf hinausläuft, daß sich die Autoren letztlich nur an den ausländischen, insbesondere französischen Kunstprodukten orientierten. 28 Vgl. Bahr: Das junge Österreich, in: Studien, S. 75. 29
Ebenda, S. 77-78.
65
In diesem Kontext kommt Bahr nun auch auf die Bedeutung Saars und der Ebner zu sprechen: Die Werke der Ebner und des Saar wirken wunderlich auf sie. Was in diesen Werken ist, ist alles auch in ihren Gefühlen - aber nicht alles, was in ihren Gefühlen ist, ist in diesen Werken [...]. Das möchten sie in die Dichtung bringen: diese liebe wienerische Weise von einst, aber mit den Strophen von heute30. Diese Einschätzung Saars ist u. a. auf dem Hintergrund seines Erfolges mit den Elegien zu sehen. Als kleine Kulturgeschichte der Stadt Wien vom Vormärz bis zum Bau der Ringstraße illustrieren sie dieses von Bahr beschworene 'Wienerische', allerdings in eine klassische Form gekleidet. Mit Blick auf seine jungen Dichterkollegen bleibt bei Bahr trotz allen Lobes für sie am Ende doch die Forderung nach mehr "Leben" bestehen, worin seine Orientierung an eher klassischen Kriterien deutlich wird31. Anläßlich von Saars sechzigstem Geburtstag verfaßt Hermann Bahr eine Würdigung des Dichters, in der er seine bisher entwickelten Ideen zur österreichischen Literatur noch einmal aufnimmt. So stehen für ihn Saars Werke an der "Scheide der Schönheiten", so daß "sie schon den Neueren genügen und die Alten noch nicht verletzen". Für ihn ist Saar kein Moderner der Form, er weist ab*r in diese Richtung, da er "die schöne Wirkung unter die Wahrheit stelle". Der einzelne Fall werde zum Symbol einer ganzen Gruppe und sein Werk die Chronik Österreichs32. Hinsichtlich der Stoffe seiner Novellen, so betont Bahr in einem späteren Aufsatz, treffe Saar "die Stimmung im Lande und der Zeit". Seine Novellen sind für ihn "in jedem Satze Documente der Heimat"33. Man sieht das Bestreben Bahrs, Saar einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und ihn vor allem als Lehrmeister der jüngeren Generation zu würdigen. Bahr machte sich vor allem einen Namen als "Überwinder des Naturalismus"34, 30
Ebenda, S. 79. Ebenda, S. 91:"[...J man verstehe das nicht falsch, wenn ich vom Künstler Leben verlange. Nur Erlebtes darf er geben. Nur Erlebtes wirkt. Aber das soll nicht heißen, dass jedes Leid wirklich geschehen muss! Es muss nur in seinen Gefühlen geschehen". 32 Vgl. Bahr: Österreichisch, in : Kritik, S. 107. Auf die Frage hin, was ist österreichisch? antwortet Bahr: "Man trenne Saar auf, bis man auch jenes Element [...] hat". Hier stellt Bahr die Reihe der großen österreichischen Schriftsteller auf: Grillparzer, Saar, Altenberg, Andrian, ebenda, S. 115. 33 Vgl. Bahr: Saar, in: Kritik, S. 106-107. 34 Vgl. Bahr: Naturalismus und Naturalismus, in: Überwindung, S. 44. Hierin proklamiert Bahr schon 1890 das Ende des Naturalismus in Roman und Novelle, nur noch der Naturalismus auf dem Theater konnte seines Erachtens Interesse finden. Erst kurze Zeit hatte Bahr nach seiner Rückkehr nach
66
indem er eine neue Darstellungsweise forderte, getragen von einem neuen Verständis der Psychologie35. Neben dem Aspekt der Psychologie spielte jedoch die Wiederentdeckung der eigenen Kultur, der eigenen Nation unter dem Einfluß der Barreschen Thesen36 für den Literaturkritiker eine entscheidende Rolle. Den Ansatz des Sich-Besinnens-auf-die-Herkunft verbindet Bahr in seinen kritischen Schriften mit der Milieutheorie des Naturalismus37. Seine Aufsätze zeigen - wie im Falle Saars - das Bemühen, die Künstler des eigenen Landes in ihren Absichten zu erforschen und die deutsche und österreichische Literatur aus ihrer räumlichen und zeitlichen Gebundenheit heraus zu verstehen38. Diese Ent-
österreich bei der Redaktion der Modernen Rundschau gearbeitet, als er sie 1892 schon wieder verließ, da er ihr naturalistisches Programm nicht weiter vertrat. Der Mitbegründer der Rundschau, Eduard Michael Kafka, mußte in seinem Redakteur den "Grabredner" seiner eigenen Zeitschrift erkennen, vgl. Kafka, S. 220-222. Die Bedeutung dieser Rundschauschrift lag darin begründet, daß sie die moderne Literatur zu den übrigen Leistungen des modernen Geistes in Naturwissenschaft, Psychologie und Soziologie in Beziehung setzte, vgl. Schlawe, Bd. I, S. 28-29. Ihr Hauptanliegen galt dem Vorstellen bedeutender Autoren mit beigefügter Kurzbiographie. So hatte in der Märznummer 1890 auch Hugo Astl-Leonhard in der Rundschau ein Portrait von Saar gegeben und ihm innerhalb der gegenwärtigen "anarchistischen Literatur" den Platz des "Ideal-Realismus" zusammen mit Sacher-Masoch, Keller und Hamerling zugewiesen. Zugleich stellte er ihn auch in eine Reihe mit Zola, dem er das Prädikat der "realistischen" Literatur neben der Gruppe der burschikosen realistischen Wein- und Liebeslyrik gab, vgl. Astl-Leonhard, S. 168-173. Nicht mehr das Ergebnis, d. h. die Feststellung eines Gefühls, soll dargestellt werden, sondern die neue Psychologie soll die "Anfänge in den Finsternissen der Seele suchen". Es reicht Bahr nicht mehr die bisherige Objektivierung dieser Seelenzustände z. B. durch die Form der Beichte, ebenda, S. 60, sondern es soll das genannt werden, was sich der Selbsterkenntnis entzieht. Auf den ersten Blick diese Art der 'Selbstbekenntnis' nichts mit der 'Lebensbeichte' des Herrn Fridolin zu tun. Allerdings hat die Erzählkunst Saars nichts mit der Bourgets gemein, auf der Bahrs Psychologiebegriff basiert, vgl. Bahr: Krisis des Naturalismus, in: Überwindung, S. 50. Mit Schloß Kostenitz kommt Saar dem Stil Bourgets wohl am nächsten. Hier scheint er der Forderung Maurice Barres', im Examen zum Band l des Culte du Moi, nach einer "description minutieuse, emouvante et contagieuse des eiats d' äme", vgl. Barres, Sous l'oeil des Barbares, Bd. l, S. 174, entgegenzukommen. Barres Programm zieht sich bald durch die Literatur der Moderne und ein Jahr nach Bahr veröffentlicht Hugo von Hofmannsthal sein Essay über Maurice Barres, dessen Verdienst er darin erkennt, eine philosophische Lebensauffassung vorzustellen, "eine Übereinstimmung zwischen äußeren und inneren Leben", vgl. Hofmannsthal: Reden und Aufsätze I, S. 118. Über das Moderne in Barres Werk schreibt Hofmannsthal: "Jeder Stunde eine Sensation, jedem Nerv ein Schauder, das ist das Ziel des wissenden, systematischen Lebens", ebenda, S. 120. Diese überspitzte "Nervenkunst" der Jungen war Saar bekannt, er wollte aber diese extreme Form der Analyse für sich nicht beanspruchen, s. u. Die Stimme der Vorfahren, des Vaterlandes wird für den Barreschen Helden zu einem größeren Ich, das ihm hilft, sich selbst zu finden, vgl. Dictionnaire Bordas, S. 65. So versteht auch Hugo von Hofmannsthal das Werk Barres: "Wertvollere Aufschlüsse gibt dem Ichsuchenden der verwandte Boden, die Geschichte, die Kunst der Heimat", vgl. Hofmannsthal: Reden und Aufsätze L, Bd. 8, S. 120. 37 Vgl. Bahr: Kritik der Kritik, S. 26. 38 Vgl. Bahr: Das junge Österreich, S. 74 und Das jüngste Deutschland, S. 61f in: Kritik.
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Wicklung Bahrs entspricht einem Zeitphänomen. Zur gleichen Zeit wie die Herausgabe seiner ersten Schriften Zur Überwindung des Naturalismus erscheint von Julius Langbehn Rembrand als Erzieher, ein Buch, das sich als Kulturkritik gegen die herrschende, d. h. naturalistische Strömung wendet. Langbehn will demgegenüber "eine deutsche, spezifische Kultur" herausbilden, bei der Rembrand zum Modell für bestimmte deutsche Eigenschaften gewählt wird39. Er betont den Individualismus als Wurzel aller Kunst und allen Deutschtums40. Die Provinz wird wiederentdeckt, nicht wie bei Barres als mythischer Raum, sondern als schöpferische Quelle für Kunstvielfalt41. Ob Bahr dieses Werk kannte, ist zwar nicht nachzuweisen, sein Interesse an den österreichischen Dichtern ließe sich jedoch aus diesem Verständis von 'heimatlicher' Kunst durchaus verstehen. Bei seiner Einschätzung des Fridolins wird Bahr von diesen Thesen mitbeeinflußt sein. Saar seinerseits beurteilt Langbehns Ansatz für ein neues Kulturleben kritisch, so sehr er auch seiner eigenen Kunst entgegenkommen mag: [...] ein merkwürdiges Buch, wenn ich dasselbe auch gewissermaßen für einen Anachronismus halte. Die Zeit läßt sich eben nicht zurückschrauben, einen so großen Vorteil dies auch in vieler Hinsicht der Menschheit brächte42. Für sein eigenes Schaffen bedeutet diese Äußerung vor allem sein Festhalten an den 'Errungenschaften' des Naturalismus und des wissenschaftlichen Zeitalters, was seine nach 1890 verfaßten Novellen beweisen, und er auch im Zusammenhang mit dem Fridolin immer wieder betont. In einem Artikel der Freien Bühne für den Entwicklungskampf der Zeit vom Januar 1892 berichtet Bahr über seine erste Begegnung mit dem Kunstkritiker Loris43. Dieser hatte eine Rezension von Bahrs Drama Die Mutter im April 1891 in der Modernen Rundschau veröffentlicht44 und damit den Autor des Werkes durch die Neuartigkeit der Kritik in Erstaunen versetzt45. Bei seiner Suche nach dem Besitzer dieses
39
Vgl. Langbehn S. 3. Ebenda, S. 3. 41 Ebenda, S. 15. Langbehn spricht vom Lokalismus in der Kunst: "Der rechte Künstler kann nicht lokal genug sein: Eine gesunde und wirklich gedeihliche Entwicklung des deutschen Kunstlebens ist mithin nur dann zu erwarten, wenn sie sich in möglichst viele und in ihrer Einzelart möglichst scharf ausgeprägte, geographische, landschaftliche, lokale Kunstschulen scheidet und gliedert", S. 15-16. 42 Vgl. Saar an Betty Paoli 13. Juli 1890, vgl. Schall, S. 21. 43 Vgl. Bahr: Loris, in: Überwindung, S. 160f. 44 Vgl. Hofmannsthal: Reden und Aufsätze I, S. 100-105. Tatsächlich bescheinigt Hugo von Hofmannsthal Bahr die Fähigkeit, alles Neue um sich herum aufzunehmen, ohne dabei eine Ansicht oder ein Vorurteil zu verfolgen. Er habe den Naturalismus verlassen und sein neues Werk "führt an dem Diletantismus an der Kunst vorbei in die Romantik", ebenda, S. 102. Das Drama ist nach Hofmannsthal fast zum Symbol der momnentanen Kunstaufgabe 40
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Pseudonyms hatte sich bei Bahr eine bestimmte Vorstellung von dem Kritiker entwickelt: Aber ich kam jetzt schon langsam darauf. Es stimmte schon allmählig. Wir haben diesen Schlag in Österreich, wenn er sich freilich meist geflissentlich versteckt und von seiner spröden Schönheit nichts verrathen will, den Schlag des heimlichen Künstlers. Ich dachte an Villers, [...], an Ferdinand von Saar und die Ebner-Eschenbach. Das war offenbar seine Race und seine Generation46. In diesem Jahr 1892 feierte Hofmannsthal gerade seinen ersten Erfolg mit dem kleinen Werk Gestern. Studie in einem Akt, in Reimen, das er Ferdinand von Saar widmete47. Interessanterweise stimmen Bahr und Saar in der Beurteilung dieses Dramas überein. Bahr charakterisiert Hofmannsthal als den typischen Vertreter der 'Moderne', da er "den ganzen Zusammenhang ihrer Triebe, von den Anfängen des Zolaismus bis auf Barres und Maeterlinck und ihren unaufhaltsamen Verlauf über sich selber hinaus" enthalte, jedoch : [...] seine große Kunst hat kein Gefühl - es gibt in seiner Seele keine sentimentale Partie, statt dessen stößt man auf secheresse, ironischen Hochmuth48. In diesem Sinne schreibt auch Saar in seinem Dankbrief für die Widmung an Hofmannsthal: Denn trotz des geistvollen Dialogs [...] habe ich keinen tieferen Eindruck empfangen - und auch nicht herausgefunden, w a s Sie eigentlich in diesem, wie durch starken Nervenreiz hervorgerufenen Stimmungsbilde haben darstellen und aussprechen wollen49.
geworden, denn der dargestellte Vorgang, "eine Synthese von brutaler Realität und lyrischen Raffinement" entspricht dem Bestreben Bahrs, Zolaismus und Romantik, die neue mystische Einheit zu schaffen, ebenda, S. 104. 46 Vgl. Bahr: Loris, in : Überwindung, S. 160. 47 Vgl. Hofmannsthal: Gedichte. Dramen I, Bd. l, S. 136: Widmung (für Ferdinand von Saar). Dieses Gedicht feiert Saar als den Dichter der Harmonie und Schönheit, des stillen Leidens und der Entsagung. Damit nimmt es die Kriterien auf, mit denen Hofmannsthal am 13. Dezember 1892 in der Deutschen Zeitung, Wien das Schloß Kostenitz von Saar rezensiert. "Einfachheit, Resignation, stilles, leisegleitendes Leben, eine sehr österreichische Stimmung", so charakterisiert Hofmannsthal die Novelle. 48 Vgl. Bahr: Loris, in: Überwindung, S. 163. Gewissermaßen ist dies die Replik Bahrs auf Hofmannsthals Kritik an seinem Drama Mutter: "etwas Wirkliches, Lebendiges" könne man an diesem Drama Hermann Bahrs nicht ausmachen, vgl. Hofmannsthal: Aufsätze I, Bd. 8, S. 105. 49 Vgl. Saar an Hugo v. Hofmannsthal, 5. Februar 1892, Briefe Hofmannsthal, S. 273.
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Saar steht der 'Formkünstelei' und der übertriebenen Psychologisierung des modernen Künstlers kritisch gegenüber, wenn er auch Hofmannsthals erstem schriftstellerischen Versuch Interesse entgegenbringt50. Für den Hintergrund der Entstehungsgeschichte des Fridolin bleibt es aufschlußreich, daß Saar Anfang der 1890ger Jahre offensichtlich intensiv die neuen Strömungen in der Literatur, insbesondere die französischen Einflüsse neben denen Henrik Ibsens, studiert. Gerade im Kreise der Familie Gomperz auf Schloß Oslavan machte man sich aufgrund von Anregungen durch den jungen Hofmannsthal mit den Werken der französischen Symbolisten vertraut. Saar selber verfaßte eine deutsche Bearbeitung von Maurice Maeterlincks Princesse Maleine (HsW2), die im Schloß Oslavan zur Aufführung kam. Diese gekürzte Fassung unterstreicht das Grotesk-Komische der französischen Vorlage und zeigt, wie genau und einfühlsam Saar die Absichten des belgischen Dichters erfaßt hat51. Zum anderen wird noch darzulegen sein, daß gerade zwischen Saar und Hofmannsthal während der ersten Konzipierung des Fridolin ein intensiver Gedankenaustausch stattfand.
b. Wiederentdeckung des Biedermeier - Die Nachlaß Verwaltung von Eduard von Bauernfelds Werken Saar verfaßt den Fridolin zu einer Zeit, in der sich in der Monarchie gerade eine Biedermeierrenaissance vorbereitet. Mit seinen Elegien hatte er das Wien des Josephinismus und Vormärz gefeiert, bevor der Bau der Ringstraße der Stadt ein modernes, fortschrittliches Gepräge gab. Die zuvor verfaßte Erzählung Schloß Kostenitz regt den jungen Hofmannsthal zu einer Rezension an, in der er Rückschau hält auf die Malerei der 'Großväterzeit', der man mit einer Exposition im Prater 1892 neue Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Hofmannsthal beschreibt die elegische Stimmung dieser Ausstellung als die : Luft der beschränkten Güte und verträumten Friedens, die ein unsagbares Heimweh über einen bringt, ein sinnloses Verlangen nach alldem, was so
50
Vgl. Saar an Hugo von Hofmannsthal, 5. Februar 1892, Briefe Hofmannsthal, S. 273. Er räumt ein, daß er "sehr vielen Schöpfungen der "neuesten Litteratur, wenn auch ganz sine ira so doch sine concilio- dass heisst rathlos gegenüberstehe". 51 In einem Brief an Hofmannsthal schreibt Marie Gomperz, daß man die Aufführung der Princesse plane, die sich sehr gut zu einem Ulk eigne, in welchem Sinne Saar es auch ausgearbeitet habe, "ohne daß er jedoch einen "Zorn" gegen Maeterlinck habe, in dessen Werk er einen großen Zug erkenne", Marie Gomperz an Hugo von Hofmannsthal 17./18. Juli 1892, Briefe Hofmannsthal, S. 279.
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verwandt ist und dabei so unbegreiflich weit und ganz unwiederbringlich52. Eduard von Bauernfeld, dessen Werk von Saar herausgegeben werden sollte, hatte seine Erinnerungen an diese Zeit in den Skizzen Aus Neu- und Airwien festgehalten. Unter ihnen befindet sich auch eine Studie über die Entstehung des Wiener Volkstheaters von Hafner über Perinet, Wenzel Müller, Sartory, Schikaneder und Raimund bis zu Nestroy. Über letzteren nun fällt Bauernfeld das Urteil, er habe einen scharfen, zersetzenden Verstand besessen, sei mehr Kritiker als dichterischer Menschenbeobachter gewesen. Skepsis, Weltverachtung und krasser Egoismus vereinten sich bei ihm mit großer Sinnlichkeit53. Saar mag diesen Artikel als Anregung für eine neue Lektüre Nestroys verstanden haben, auf jeden Fall äußert er sich im Jahre 1892 gegenüber Moritz Necker und dessen gerade erschienenen Nestroy-Studie über den Dichter. Wenn Nestroy auch kein "edler Geist" sei, so trete einem jedoch der vernichtende, aber tief bedeutungsvolle Witz Nestroys gewissermaßen als Einheit wahrhaft gigantisch entgegen - und einzelne Satiren, z. B. Die Freiheit in Krähwinkel sind, wie Sie selbst hervorgehoben haben, großartig; aber um diese ganz würdigen zu können, muß man die Wiener Revolution mitgemacht haben, welche er in nuce parodiert - oder besser kopiert54. Dieser Hinweis auf das Nestroysche Werk ist insofern von Bedeutung, als gerade die Dienerfigur in ihm in den verschiedensten Schattierungen zur Geltung kommt und Saars Fridolin, wie noch zu zeigen ist, dieser in nichts nachsteht. Im Erscheinungsjahr des Fridolin feiert man mit einer Austeilung das achtzigjährige Jubiläum des Wiener Kongresses. Schubert und Schwind, beide zum Bauernfeld-Zirkel gehörend, werden als Vorläufer des modernen Empfindens wiederentdeckt55. Die geplante Aufführung von Saars Volksstück Eine Wohltat fügt sich ebenso in diese Renaissance ein, denn 1891 hatte man das 100jährige Bestehen des Leopold-Theaters begangen, und 1889 wird das Deutsche Volkstheater eröffnet56. Seit Anfang der neunziger Jahre bereitet die Grillparzer-Gesellschaft die 100-Jahr-Feier des Künstlers mit zahlreichen Veröffentlichungen vor, so daß man auf allen Gebieten der Kunst ein vermehrtes Interesse an der Epoche des Vormärz verzeichnen kann. Im Jahre 1890 erhält der Maler August Pettenkofen, ein Vetter Saars, eine Ausstellung in Wien, über die sich Saar begeistert gegenüber Fürstin Salm äußert (BrW53). Im Zusammenhang mit dieser Biedermeierrenaissance dürfte Saar in seinen drei
52
Vgl. Hofmannsthal, Reden und Aufsätze I, Bd. 8, S. 139. Vgl. Bauemfeld: Alt- und Neu Wien in: Werke. 54 Vgl. Saar an Necker, 9. Mai 1892, Mülher: Saar, S. 32. 55 Vgl. Mülher: Dichter, S. 291. Saar steht dem Komitee der Schubert-Ausstellung für das Jahr 1897 ebenfalls mit Rat und Tat zur Seite. So informiert er Karl Glossy über seinen Vetter Pettenkofen (BrW23). 56 Ebenda, S. 295. 53
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Novellen des Herbstreigens der Künstler dieser vergangenen Zeit gedacht haben. Nicht nur in der Ninon schafft er ein lebendiges Bild des Malers August Pettenkofen. Auch der Maler-Professor im Fridolin soll an Pettenkofen erinnern57, der 1880 den Titel eines K. und K. Professors erhalten hatte und von dem sich tatsächlich ein Bild im Besitz des Fürsten Salm auf Schloß Raitz befand58. Bekannt für die ländlichen, bäuerlichen Motive, seine Puszta- und Zigeunerlagerdarstellungen, hat Pettenkofen eindrucksvolle Bilder mit Marktplätzen und Bauernhöfen gegeben, wobei der "sinnliche Reiz, mit dem der Künstler die Frauengestalten versieht, und die leichte Neigung zu pikanten Schilderungen nicht zu übersehen ist"59. Auch darin kommt Saar ihm im Fridolin nahe. Am auffallendsten dürfte aber die poetische Anspielung auf seine beiden Ölbilder "Ungarischer Markt mit Schirmen" (1874) und "Ungarischer Markt bei Regen" (1880) im letzten Kapitel bei der Schilderung des Wischauer Marktes sein. Auf ganz andere Weise trägt Saar jedoch durch seine Herausgabe des Nachlasses Eduard von Bauernfelds, des Satirikers der Vormärz-Tage, zu dieser Rückbesinnung auf den Vormärz bei. Schon ein Jahr nach dem Tode Eduard von Bauernfelds wird Saar mit der Aufgabe betraut, die Werke des Dichters herauszugeben. Bauernfeld hatte in seinem Testament Eduard Weißel zum Nachlaßverwalter eingesetzt und zugleich Saar um dessen Unterstützung gebeten: Den Schriftsteller Ferdinand von Saar ersuche ich, dem Dr. Weißel bei der Sichtung der Papiere u. s. w. beizustehen60. Nach einer ersten Durchsicht des Materials im Juli des Jahres 1891 setzte Saar aufgrund der Fülle an Dokumenten schon eine längere Zeitspanne für die Aufarbeitung des Archivs an: Denn alle diese u n z ä h l i g e n Blätter zu lesen und auf ihre Bedeutung hin zu prüfen, ist eine Arbeit, die nur ganz schrittweise vorgenommen werden kann. Sie kennen ja die Schrift Bauernfelds. Fürs Erste wird mit der Herausgabe seiner letzten, das heißt l e t z t a u f g e f ü h r t e n , aber noch nicht als Buch erschienenen Lustspiele begonnen werden61.
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Vgl. Saar an Hohenlohe, Habrovan, 9. Nov. 1896, Hohenlohe, S. 234. Vgl. Weixlgärtner, Bd. l, S. 206. Das Bild, das Franz von Salm-Reifferscheidt erworben hatte, stellte eine ländliche Szene dar und wurde von ihm als "Gemüseputzende Bäuerin" bezeichnet. Wie später noch auszuführen dürfte dieses Schloß Raitz die "realistische Staffage" für den Fridolin gegeben haben. 59 Ebenda, S. 32. 60 Vgl. Bauernfeld an Weißel, Ischl 12. Juli 1889, Saar: Bauernfeld-Nachlaß, S. VIII. 61 Vgl. Saar an J. v. Wertheimstein, 30. Juli 1891, Wien, Briefe Kann, S. 420. 58
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Diese mühselige Arbeit ist auch noch nicht abgeschlossen, als schon zwei neue Novellen - Schloß Kostenitz und Ninon - vom Autor fertiggestellt sind und e'r mit seiner neuen - dem Fridolin·- begonnen hat. Bis in den Anfang des Sommers 1893 hinein klagt er immer wieder, daß er bis über den Kopf in Arbeit stecke (BrW38/50) und daß ihn sowohl der Bauernfeldsche Nachlaß als auch seine Überarbeitung des Volksdramas Eine Wohltat daran hindere, Neues in Angriff zu nehmen. Das berichtet er noch im März Moritz Necker, kündigt ihm aber schon von Raitz aus einen neuen Entwurf an: Nicht viel - aber auch nicht leicht [gemeint sind die Änderungen an der Wohltat}. Dann mach' ich mich sofort an den Fridolin, den ich im Mai nach Wien mitbringen will (BrW38). Die streckenweise gleichzeitige Beschäftigung mit Bauernfelds Werk und Epoche und den eigenen künstlerischen Projekten, mag Saar mit dazu angeregt haben, dieser Erzählung ihr 'biedermeierliches' Gepräge zu geben. Die Interpretation wird noch auf diesen Aspekt näher eingehen müssen. Daß Affinitäten zwischen den beiden Schriftstellern über ihre Freundschaft hinaus bestanden, kann man an Saars schriftstellerischen Anfangen erkennen. Sein unveröffentlichtes Lustspiel Schöne Geister (HsWl), 1863 entstanden, läßt sich in die Tradition des Konversationsstückes, wie es Bauernfeld mit satirischem Ton geschaffen hatte, einreihen. Neben dieser Herausgebertätigkeit nimmt Saar den Versuch, ein komisches Epos zu verfassen, im März in Angriff. Minister Unger legt er seine weiteren Pläne näher dar: [...] dennoch bin ich in diesen 4 Wochen sehr fleißig gewesen, habe den dramatischen Nachlaß Bauernfelds druckfertig gemacht, eine eingehende Vorrede dazu geschrieben - und überdies mein Volksdrama Eine Wohltat, welches im Raimundtheater, und zwar schon in der Eröffnungswoche zur Darstellung gelangen soll, für die Bühne eingerichtet. Und nun will ich mich auch gleich an eine neue Arbeit machen. Wie ich im Vertrauen mitteile, an ein kleines humoristisches Epos, in welchem ich mich von einer neuen Seite zeigen will; es dürften ungefähr neun Gesänge werden. Ob ich's zuwege bringe, ist freilich noch die Frage; vor Ablauf eines Jahres kann ich überhaupt die Beendigung nicht erhoffen. Da ich aber nun von Lebenssorgen befreit bin, tut auch Eil' nicht not (BrW62). Mit dem "kleinen humoristischen Epos" meint er die Pincelliade, die er jedoch tatsächlich erst einige Jahre später verfassen wird. Aber auch der Hinweis, daß er nun eine neue Seite seines Schaffens erproben werde, ist bedeutend, da er mit dem Fridolin einen ganz anderen Aspekt seiner Kunst offenlegt.
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Noch im Juni 1893 hat Saar diese "geschäftlichen Dinge" - den Nachlaß, die Proben zur Aufführung der Wohltat im Raimund Theater unter Max Burckhard und die Korrekturen für die zweite Auflage seiner Novellen aus Österreich - nicht abgeschlossen, so daß er sich gegenüber der Ebner in bezug auf neue Pläne nun zurückhaltender äußert (BrW13).
c. Möglicher VerlagsWechsel: Saars Verhandlungen mit seinem Verleger Weiß Aufgrund der zahlreichen Geburtstagsehrungen und Rückfragen der Zeitungen kann Saar mit berechtigtem Stolz - trotz aller Widrigkeiten in seinem Leben und Wirken eine positive Bilanz seines bisherigen Schaffens ziehen. Daher faßt er gerade auch in Hinblick auf eine größere Breitenwirkung eine Veränderung in bezug auf seine Verlagsrechte ins Auge. Saars zunehmende Popularität bringt ihm zahlreiche Angebote von Verlegern und Redakteuren ein, die in der Folge auch die Herausgabe des Fridolin beeinflussen werden. Über die Vermittlung von Anton Bettelheim nimmt Saar Anfang 1893 Kontakt mit dem Cotta-Verlag-Nachfolger in Stuttgart auf(BrM3), allerdings zunächst nur, um den Druck des von ihm herausgegebenen Bauernfeld-Nachlasses zu klären. Dem Interesse des Cotta-Verlages an einer Gesamtausgabe seiner eigenen Schriften steht er vorerst kritisch gegenüber: So viel kann und will ich heute schon sagen: daß bei dem erhöhten Umsatz, den meine Schriften in den letzten zwei Jahren gefunden haben - und noch finden, eine Gesamtausgabe v e r f r ü h t erscheint und weder in meinem, noch im Interesse der V e r l a g s h a n d l u n g als wünschenswert!! sich herausstellen dürfte (BrM3). Aus diesem Brief ist zu schließen, daß das Interesse zunächst vom Verlag-Cotta— Nachfolger ausging. Das Angebot mußte Saar jedoch, trotz seiner anfänglichen Bedenken, verlockend erscheinen, da dieses große Unternehmen für ihn als Schriftsteller nur von Vorteil sein konnte. So tritt er dann auch mit seinem Verleger Georg Weiß in Heidelberg in Kontakt, um mit ihm einen eventuellen Verkauf der Verlagsrechte zu besprechen. Die persönliche Bindung des Autors an seinen Verleger und umgekehrt erschwert den Bruch mit dem vertrauten Verlag. So gibt Weiß auch seiner Enttäuschung darüber 74
Ausdruck, daß nun ein großer Verlag die Früchte seiner Arbeit ernten soll: Aber es ist bitter, einen Autor verlieren zu sollen, dessen Werke man seit mehr denn 25 Jahren mit größter Liebe und größter Arbeit vertrieben hat, und zwar verlieren zu sollen in dem Augenblick, wo nun endlich bessere Zeiten für ihn zu kommen scheinen (BrW67). Weiß versteht Saars Entschluß, aber er kann seinen Groll über einen möglichen Verlust der Veröffentlichungsrechte nicht verbergen: Jetzt sind wir endlich soweit, daß sich diese Hoffnung zu erfüllen scheint, und jetzt muß ich verzichten (BrW68). Um den Autor nicht zu verlieren, erklärt er sich bereit, eine Gesamtausgabe der Novellen und Gedichte einzurichten. Saar aber äußert Bedenken und vermutet, daß Weiß erst Bestellungen abwarten will, bevor er die Werke in Druck gibt. Daher zieht er nun den größeren Verlag vor. Seinem Konkurrenten gegenüber stellt sich Weiß daraufhin auf einen rein geschäftlichen Standpunkt: Da ist es nun unbestritten und unbestreitbar, dass ich für die jetzt vorhandenen Auflagen Ihrer Werke das Verlagsrecht habe, und dass dafür, bevor nicht das letzte Exemplar eines Werkes verkauft ist, ohne meine Zustimmung keine neue Auflage veranstaltet werden darf. Tritt jetzt ein Dritter zwischen uns, so bestehe ich auf diesem Rechte und dieser Dritte, Cotta, würde also den Gesamtvorrath ankaufen müssen (BrW68). Auch wenn die Ablösungssumme beträchtlich ist, muß Weiß das Abwandern seines Autors doch auch als Schädigung seines Ansehens betrachten. Als Entschädigung dafür ist er bereit, das Angebot Saars anzunehmen, einen Teil seiner Werke weiterhin zu veröffentlichen. So verbleiben bei dem Verlag Georg Weiß sämtliche Dramen, die vierte Auflage des Innocens - mit Erlaß des Autorenhonorars - sowie die fünfte und die folgenden Auflagen des Innocens mit einem von Saar bestimmten Honorar62. Angesichts des Erfolgs der Elegien sichert sich Weiß auch hier die Verlagsrechte. Gleichzeitig gestattet er Saar bei der Veranstaltung einer Gesamtausgabe die Aufnahme des Innocens, der Elegien und der Dramen ohne Entschädigung (BrW68). In diesem Sinne richtet Saar nun ein Schreiben an den Cotta-Verlag. Bei Berücksichtigung einer weiteren Verbreitung seiner Schriften will er vorerst von einer Gesamtausgabe seiner Werke absehen:
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Vgl. Stuben, S. 142.
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Auch halte ich dafür, daß meine Gedichte und Novellen noch weitere Kreise ziehen sollen und können, ehe sie gewissermaßen in den Ruhehafen einer Gesamtausgabe einlaufen (BrM6). Statt dessen schlägt Saar Cotta eine vermehrte Auflage der Gedichte und eine Ausgabe der bisher erschienenen Novellen in zwei starken Bänden vor. Finanziell gesehen ist das Angebot von Weiß für Saar nicht realisierbar, da die von ihm an den Verleger zu zahlende Abfindungssumme von 3.200-3.400 Mark höher ist als das von Cotta zugestandene Honorar : Denn wenn ich an Herrn Georg Weiß den oben genannten Betrag zu zahlen hätte, so würde nicht blos das mir von Ihnen zugestandene Honorar (1.200 Mark pro Band) ganz und gar illusorisch werden, sondern ich würde sogar noch jene Beträge einbüßen, welche mir der Absatz meiner Bücher alljährlich einbringt (Hälfte des Reingewinns) (BrM6). Angesichts dieser für Saar finanziell ungünstigen Vertragsbedingungen bei einem Verlagswechsel, nimmt er von dem Vorhaben einer Gesamtausgabe bei Cotta wieder Abstand (BrWll), zumal eine Gesamtausgabe der Verbreitung einzelner Novellen entgegenstehen könnte. Nachdem nun vorerst dieses Unternehmen gescheitert ist, ergreift Weiß die Gelegenheit und bietet Saar in Anbetracht der wachsenden Popularität des Autors seinerseits eine Ausgabe ausgewählter Werke an(BrW69). So sieht Weiß eine Ausgabe der Novellen vor: [...] es scheint mir thöricht, den Band Ihrer beliebtesten Novellen dann fehlen zu lassen, wenn Ihr Name in Aller Munde ist (BrW69). Im Gegensatz zu seinem Autor will Weiß die bisherige Ausgabe der Novellen aus Österreich um die seit 1877 erschienenen Novellen erweitern (BrW69). Schließlich geht er auf Saars Wunsch ein, eine zweite Auflage der Novellen aus Österreich von 1877 mit dem Innocens, der Marianne, den Steinklopfern, dem Haus Reichegg und der Geigerin, in 700 Exemplaren wieder aufzulegen. Die Korrekturbögen der Schicksale, Frauenbilder und von Schloß Kostenitz läßt er sich jedoch schon im Juni 1893 zusenden (BrW70). Rechtzeitig zur Geburtstagsfeier seines Autors kann Weiß im Oktober diese zweite Auflage, datiert auf 1894, auf den Markt werfen. Da Ende des Jahres die Ausgabe der Elegien schon zusammenschmilzt (BrW71), plant Weiß eine zweite für Weihnachten und sieht der weiteren Zusammmenarbeit mit
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dem gefeierten Dichter hoffnungsvoll entgegen63. Wie dargelegt, nimmt Saar die Verhandlungen mit Cotta zunächst nur über die Veröffentlichung des dramatischen Nachlasses von Eduard von Bauernfeld auf: Ich erlaube mir, die einstweilig noch v e r t r a u l i c h e Anfrage an Sie zu stellen, ob Sie geneigt wären, den Dramatischen Nachlaß Eduard von Bauemfeld's, der nunmehr druckfertig vor mir liegt, in Verlag zu nehmen (BrW8). Da er mit einem "anständigen" Absatz des Buches allein schon aufgrund der großen Zahl an persönlichen Freunden und Bekannten des Dichters rechnet, plant Saar einen zweiten und dritten Band mit den Erinnerungen, Xenien und humoristischen Aufsätzen Bauernfelds (BrW8). Nach Fertigstellung der Druckvorlage ergeben sich nun Komplikationen, die er in der Folgezeit zu lösen sucht und die er eigentlich meint, wenn er von seiner Arbeit am Bauernfeld-Nachlaß spricht64. Am 15. Juni sendet Saar dem Cotta-Verlag den dramatischen Nachlaß in drei Manuskripten und vier Textdrucken zu (BrM7). Im September erscheint dann der Dramatische Nachlaß von Eduard von Bauernfeld, hrsg. von Ferdinand von Saar. In seinem Vorwort kündigt Saar, wie erwähnt, zwar noch einen zweiten und dritten Band mit den Erinnerungen, Xenien und den humoristischen Blättern an, allein er wird diese Arbeit nicht durchführen65. Welche Gründe für diese Entscheidung ausschlaggebend waren,
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Vgl. die Vermerke zum Absatz der Wiener Elegien im Nachlaß: 1897 vermerkt Saar 263 Exemplare, allerdings nimmt dann die Zahl rapide ab und pendelt sich bei 41 Exemplaren pro Jahr ein (so z. B. 1900) (HsW4). Allerdings wartet Weiß mit der 3. Auflage der Elegien noch bis Neujahr (BrW72). Weiß teilt Saar den Artikel von seinem Bewunderer Rüttenauer im Magazin für Litter at ur (Blätterför Litterarische Unterhaltung) mit. In diesem Aufsatz weist Rüttenauer den Vorwurf zurück, Saar habe an den "Wohlgedeckten Tischen der Litteratur" sitzen wollen und daher keine wahrhafte Dichtung geschrieben. Auch über die Passage in Schönbachs Buch Über Lesen und Bildung setzt Weiß Saar in Kenntnis. Hier würdigt der Verfasser vor allem die Wiener Elegien als "Summe der jüngsten Entwicklung in der Kaiserstadt". Die Behauptung Schönbachs, Saar schöpfe nur aus eigenen Erlebnissen, dürfte allerdings dem Dichter weniger zugesagt haben. So ist z. B. eines der vorgesehenen Lustspiele, Die Verlassenen, schon einmal publiziert worden (BrM4), und so muß der Testamentvollstrecker Dr. Weiße! die Verlagsrechte klären. Die Verlassenen wurden schon einmal bei der von Wallishauser erschienen Sammlung Wiener Theater herausgegeben. Am 25. März teilt Saar Cotta mit, daß der Verlag keine Einwände gegen einen Wiederabdruck hat (BrMS). Obwohl Saar am 2o. März sich gegenüber Dr. Weißel zuversichtlich dahingehend zeigt, daß der Cotta-Verlag ein Honorar von tausend Gulden zahlen und den Druck beginnen werde, verschiebt sich der Termin erneut aufgrund von Abspracheschwierigkeiten zwischen dem Nachlaßverwalter und dem Wiener Zweigverein der deutschen Schillerstiftung (BrM6). 65 Vgl. Saar: Bauernfeld-Nachlaß, S. XV. In dem Band waren aufgenommen: Im Alter. Häusliche Szene in einem Akt nach Octave Feuillet. - Der Alte vom Berge. Schauspiel in einem Akt. - Die Verlassenen. Lustspiel in einem Akt. - Die Mädchenrache oder die Studenten von Salamanca. Komödie in
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läßt sich nur vermuten. Der Testamentsvollstrecker Weißel hatte aus beruflichen Gründen die Verwaltung des Nachlasses an die Wiener Stadtbibliothek abgeben müssen66. So konnte Saar von seiner Seite nicht mehr mit einer Unterstützung rechnen. Er selber hatte mit der Herausgabe seiner eigenen Werke in den folgenden Monaten genug zu tun und so gewann er Abstand zu seinem Bauernfeld-Projekt. Dieses wurde in gewisser Weise fortgesetzt durch Carl Glossy67, der von Weißel das Angebot erhalten hatte, die nun im Besitz der Wiener Stadtbibliothek befindlichen Tagebücher Bauernfelds in Hinblick auf ihren literar- und kulturgeschichtlichen Inhalt herauszugeben. Im Dezember desselben Jahres veröffentlicht Hugo von Hofmannsthal in der Frankßtrter Zeitung eine Rezension zu dem von Saar herausgegebenen Bauernfeld-Nachlaß. Seine private Beziehung zu Saar und zu dem Zirkel um Josefine von Wertheimstein, in deren 'Goldenem Haus' Bauernfeld häufig geweilt hatte, mag Hofmannsthal veranlaßt haben, den Dichter mit seinem Artikel posthum über die österreichischen Grenzen hinaus bekannt zu machen und die ihm zukommende Stellung in der Literaturgeschichte zu sichern. Daneben drückt dieser Essay aber auch das Bemühen des modernen, jungen Wiener Künstlers Hofmannsthal um Anerkennung und Verständnis für eine längst vergangene und doch bedeutungsvolle Epoche aus. Denn in seinem Artikel ist Bauernfelds Werk nur der Anknüpfungspunkt für eine nostalgische Betrachtung der Zeit, in der der Verstorbene wirkte. So steht am Anfang dieser literarhistorischen Betrachtung die Beschreibung eines Salons im Vormärz mit seinen liebenswerten Damen, die ihre Konversation über Mme de Stael führen und umgeben sind von Männern, die ihre Vorbilder in Metternich oder Humboldt suchen. Diese Atmosphäre sticht für Hofmannsthal ab von den Salons seiner eigenen Zeit, deren weibliches Publikum charakterisiert ist durch die zeittypische nervöse, grazile und durchgeistigte Schönheit. Er hingegen möchte von vergangenen Zeiten träumen: [...] von dieser lieben ganzen Welt, die jetzt tot ist, fort und hin, weggetragen, vorbei!68. Dieser Zeit sei Bauernfeld in all seinen Werken verhaftet geblieben und so seien "die
zwei Akten. - Die Hitzköpfe. Lustspiel in einem Akt. - Le Paradis. Französische Bearbeitung einer kleinen Festkomödie. 66 Ebenda, S. XV. 67 Vgl. Aus Bauemfelds Tagebüchern, Bd. I 1819-1848, Bd. II 1849-1879, hrsg. v. Carl Glossy, Wien 1895. Glossy vermerkt in seinem Vorwort die Bedeutung Bauernfelds, der mit seinen Tagebüchern vor allem ein Dokument des 'Alt-Wien' hinterläßt, S. X. 68 Vgl. Hofmannsthal: Reden und Aufsätze I, Bd. 8, S. 186. 78
kleinen Komödien herausgeschnitten"69 aus dieser Welt der vierziger und fünfziger Jahre. Besondere Beachtung schenkt der Rezensent dem letzten Stück des Dichters Die Hitzköpfe, die im 'Goldenen Haus' der Josefine Wertheimstein entstanden: Eine von diesen Komödien, mit etwas hilflosen Versen, mit einer Charakteristik in zittrigen Strichen, ist ein ehrwürdig Ding: sie ist im letzten Jahr des Bauernfeld entstanden, während Lindenblüten aus den bewegten Zweigen auf die hilflosen Hände des alten Mannes niederfielen und hinter ihm der Tod stand70. Diese Formulierung verweist auf Saars eigene Worte in seinem Vorwort, in dem er beschreibt, wie Bauernfeld "unter den Wipfeln blühender Linden"71 seinen Freunden das Drama vorlas. Es ist daher zu vermuten, daß Hofmannsthal sich von Saar Näheres über den Verstorbenen mitteilen ließ72. Immerhin fällt auf, daß Hofmannsthal hier auf die Dienergestalt eingeht, der gerade in dieser Zeit das Interesse Saars galt. So schreibt er zu der Darstellungsweise und Atmosphäre in den Bauernfeldstücken: Dies alles [die liebe Natur, den Duft von Flieder, eine geschmacklose aber gutmütige Nymphe aus Sandstein] sieht man durch den weißen Fensterrahmen; es ist nicht dämonisch, gibt nicht den großen Schauer des urgewaltigen Geisterwebens, aber immer bleibt's Natur. Die kommt auch noch auf einem anderen Weg in den Salon hinein: als Kammerdiener, Stubenmädchen, Gärtnerstochter. Der Diener ist heutzutage uniform wie ein Lampenzylinder, unpersönlich wie ein Suppenlöffel. Er heißt irgendwie, verbeugt sich, macht Türen auf und schweigt. Damals war das anders. Damals hieß er nicht irgendwie, sondern er war "unser Johann", "unser Alois". Er war häufig im Haus geboren; jedenfalls war er jahrelang im gleichen Haus; er hatte die jungen Herren, manchmal auch die jungen Damen, sozusagen aufgezogen. Er hatte etwas von dem Sklaven der antiken Komödie, von dem Gracioso des spanischen Lustspiels. Er hatte eine Lebensanschauung; er machte und empfing Konfidenzen; er ignorierte gewisse Gäste des Hauses, die er nicht gern "bei uns" sieht, und beehrte andere mit seinem Wohlwollen. Er ist das Gewissen und die Karikatur der Herrschaft; er ist eines von den klammernden Organen, mit denen die soziale Komödie sich
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Ebenda, S. 186. Ebenda, S. 186. 71 Vgl. Saar: Bauemfeld-Nachla/3, S. XIV. 72 Saar informierte Hofmannsthal über seine Arbeit am Bauernfeld-Nachlaß, 25. März 1893, Hirsch, S. 275. Da Saar im Sommer wieder in Wien weilte, konnte er dort mit dem jungen Hofmannsthal zusammentreffen, der ihn zusammen mit H. Bahr um einen Beitrag für d\& Deutsche Zeitung ersucht hatte, vgl. Kapitel H. Bahr. 70
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am Muttergrund des Natürlichen festwachsen will73. In seinem Wesen ist auch Fridolin dieser Vormärz-Gestalt des Dieners verwandt, wodurch die Novelle ihr 'historisches' Gepräge erhält. Hofmannsthals Rezension des Bauernfeld-Nachlasses ist nicht nur ein Werk der Gefälligkeit gegenüber Saar, sondern auch Ausdruck seiner ästhetischen Konzeption der Moderne: die Durchdringung von Neuem und Alten, wie er es in seinem, Saar gewidmeten Versepos Gestern programmatisch thematisiert.
2. DIE ENTSTEHUNG UND DIE ERSTE VERÖFFENTLICHUNG 1894 (J1) a. Das erste Konzept Frühjahr 1893 Ein Brief vom Anfang des Jahres 1893 läßt darauf schließen, daß Saar die erwähnte Herausgabe des Bauernfeld-Nachlasses in seinem Dichterheim Raitz zugunsten seiner eigenen Arbeiten, vermutlich der Elegien und eines ersten Konzeptes zum Fridolin, zurückstellt: [...] Bauemfeld's Nachlasse machen natürlich hier nichts; am meisten zufrieden bin ich noch mit dem Fortgang meiner eigenen Arbeiten(BrÖl).
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Vgl. Hofmannsthal: Reden und Aufsätze I, Bd. 8, S. 187-188. Damit gibt Hofmannsthal schon hier eine Kurzcharakteristik seines Dieners Theodor im Unbestechlichen. Interessant ist, daß er schon zu diesem Zeitpunkt den Begriff der "sozialen Komödie" verwendet. Wie K. K. Polheim nachweist, gilt Hofmannsthals Definition des Lustspiels als das "erreichte Soziale" sowohl für den Schwierigen als auch für den Unbestechlichen. Im letzteren gelingt es dem Diener Theodor, als "Gottesgeschenk" und Werkzeug Gottes, die soziale Ordnung in der Form der "heiligen Institution der Ehe" wiederherzustellen, vgl. Polheim: Unbestechliche, S. 2S2f. Auch in unserer Novelle Fridolin wird sich die Ehe als stabilisierende Kraft erweisen.
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Nach einem kurzen Aufenthalt in Wien, bei dem Saar seine Elegien vorgestellt hat, kehrt er nach Raitz zurück, wo er die notwendige Ruhe findet, um am Fridolin weiterzuarbeiten (BrW38). Hier nimmt er zahlreiche Anregungen für die 'realistische' Ausstattung seiner neuen Erzählung auf. Daß er z. T. auf reale Gegebenheiten für die Konzipierung seiner Novelle zurückgreift, zeigt ein Antwortschreiben der Gräfin Salm, an die sich der Dichter häufig zur Klärung von Einzelfragen wandte. Im April 1893 schreibt sie ihm: Ich danke Ihnen herzlich für Ihre lieben Zeilen, die kleine Theresa ist eine originelle Persönlichkeit, und da sie andererseits hübsch und interessant aussieht, so kann ich mir denken, daß sich ihre Gestalt ganz gut künstlerisch [gestalten] liess[e]. Mich erinnert sie an Turgeniews Asi (BrW56). Saar hatte hier wohl die Konzeption der Figur Miladas vor Augen und wollte dazu die Meinung der Gräfin erfahren. Die Schilderung des Schlosses und der Funktionen der Dienerschaft im Fridolin scheinen ebenfalls von eigenen Erfahrungen beeinflußt. So äußert sich die Gräfin Salm zum Zustand ihres Schlosses Raitz: Danke sehr lieber Saar über die Mittheilungen, die Sie mir über Raitz machen, ich weiß jetzt gar nicht, wer das Schloß jetzt putzt [...]. Dieser unglückliche zweite Stock [machte] immer dem Dr. Magej und meinen Manne viel Sorge (BrW56). In Abwesenheit der Gräfin Salm kümmert sich also Saar, ähnlich seinem Fridolin, um die Verwaltung des Schlosses Raitz und informiert die Besitzerin über eventuelle Veränderungen. Aber noch in anderer Hinsicht ist dieser Brief von Interesse. Die Gräfin pflegte einen regen Gedankenaustausch mit dem Schriftsteller, wozu auch gehörte, daß sie ihm ihre jeweils vorliegende Lektüre mitteilte und von ihm Ratschläge für neue, interessante Werke erbat oder ihn um seine Meinung hinsichtlich der neuesten Werke Zolas, Maupassants oder Mendes befragte (BrW54). So informiert sie diesmal den Dichter über eine bei Brockhaus in Leipzig 1893 herausgegebene Sammlung Schopenhauer-Briefe, die zwar einiges Interessantes biete, jedoch nicht an die berühmte, 1878 in Leipzig wiedererschienene Biographie von Wilhelm Gwinner Schopenhauers Leben heranreichen könne (BrW56). Dies mag u. a. eine Anregung mehr für Saar gewesen sein, sich wieder intensiver mit Schopenhauer zu beschäftigen. Emil Soffo, ein Freund Saars in Raitz, berichtet später in seinen Erinnerungen von der Entstehungsgeschichte der Novelle:
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[...] er änderte oft an einer Novelle so weitgehend, daß sie dann im Drucke ein ganz anderes Aussehen, einen ganz anderen Aufbau hatte, als bei der ursprünglichen Fassung. Das ist vielleicht bei Herr Fridolin und sein Glück am meisten der Fall74. Zu dem realen Ereignis, das den Hintergrund für die Novelle abgab, vermerkt Soffo: Das Kammerzöfchen einer benachbarten Gutsherrschaft hatte dem schon etwas alternden Kastellan einen Korb gegeben und sich mit einem jüngeren Müller verheiratet. Der Kastellan fand dann bei einer anderen mehr Glück, wurde aber von der Frau stark unter dem Pantoffel gehalten75. Saar habe diese Geschichte auf ihren dichterischen Gehalt hin beurteilt: Das ist ein alltägliches Schicksal [...], ein Motiv für eine Posse; aber die alltäglichen Schicksale, [...], haben freilich manchmal einen Punkt, der ins Tragische umschlagen könnte, wenn sich zu ihnen etwas gesellt, was auch nur von fern wie eine Versuchung aussieht, und diese Versuchung sieht da freilich gewöhnlich wie ein Weib aus76. Saar befragte daraufhin den Diener des Schlosses, wie er zu dem Angebot stünde, mit einer Geliebten das Land zu verlassen und nach Amerika zu gehen. Das Resultat war jedoch so ernüchternd, daß Saar zunächst den Gedanken fallenließ, die Geschichte des Kastellans und der Zofe auszubauen, ihm fehlte "der belebende Hauch", "die Leidenschaft"77. Daß gerade dieser Aspekt dann von Saar das Movens der Erzählung wird, kann die spätere Interpretation darlegen. Aus einem Brief an Necker läßt sich schließen, daß Saar das Konzept zu seiner Erstfassung im April des Jahres 1893 schon stehen hatte: Der Mai ist im Anzüge - und mir steht der Auszug von hier bevor. Offen gestanden erfüllt er mich nicht mit besonderer Freude. Denn der Fridolin ist zwar im Brouillon fertig - um ihn aber ganz rein herauszuarbeiten müßte ich noch 4 bis 5 Wochen vor mir haben. Also wieder eine Unterbrechung - wer
74 75
82
Vgl. Soffd, S. 259. Ebenda, S. 261.
76
Ebenda, S. 261.
77
Ebenda, S. 261.
weiß, auf wie lange!78. Diese Erstfassung der Novelle sah vor, daß Fridolin mit Milada tatsächlich nach Amerika auswandert, sie bei der Überfahrt ums Leben kommt und Fridolin durch Vermittlung eines Freundes von seinem Herrn wohlwollend wieder aufgenommen wird. Psychologische Unwahrscheinlichkeit hinsichtlich der Figur des treuen Dieners brachte Saar wohl von diesem Plan wieder ab79. Ab Mai 1893 unterbricht Saar nun die weitere Arbeit am Fridolin - andere Geschäfte im unruhigen Wien halten ihn davon ab. Seine zweite Auflage der Novellen aus Österreich und seine Tätigkeit als Herausgeber sowie der Plan, seine Wohltat zur Aufführung zu bringen*0, geben ihm keine Muße für sein dichterisches Schaffen. So schreibt er an die Fürstin Hohenlohe, die sich für die Aufführung des Volksstücks einsetzte, im Juli: Wie gerne säße ich in Raitz und schriebe an meinem Fridolin und an den Leidenschaften81. Mit den Leidenschaften könnten die nach dem Fridolin verfaßten Novellen Requiem der Liebe und Dr. Trojan gemeint sein. Ninon, in der die Leidenschaften wie im ganzen Herbstreigen eine wichtige Rolle spielen, war zum Zeitpunkt dieses Briefes schon fertiggestellt. Offensichtlich aber sollte dieses Thema für Saar in den neunziger Jahren zu einem zentralen werden, wenn er es auch schon zuvor, etwa in seiner Novellensammlung Schicksale in durchaus naturalistischem Stile, behandelt hatte. Verbindungen zu der Erzählung Die Troglodytin hinsichtlich dieser Themengestaltung werden in der Deutung noch aufzuzeigen sein. Zugleich verbindet sich dieses Thema
78
Vgl. Saar an Necker, 29. April 1893, R., Briefe Necker.
79
Vgl. Söffe", S. 262. Der von Saar befragte Diener Wenzel meinte auf die Frage, ob er bereit wäre mit einer Geliebten im Notfall nach Amerika zu fliehen, er möchte doch gar nicht weggehen. Daraufhin schloß Saar: "Wenzel hat entschieden, er will nicht nach Amerika gehen, er hat auch recht. Der Sache fehlt der belebende Hauch, Leidenschaft muß da sein! Bei der Zofe und dem Kastellan läuft alles schön ehrsam, spießbürgerlich ab [...]". 80
Fürstin Hohenlohe setzte sich für die Aufführung der Saarschen Dramen bei Max Burkhard ein. Die Wohltat kam allerdings nicht zur Aufführung. Saar hatte die Inszenierung unter Müller-Guttenbrunn an der Burg zurückgenommen. Erst zu seinem 70. Geburtstag kam das Stück mit mäßigem Erfolg an der Burg zur Aufführung. Auch wenn man Saar in die Tradition der Hebbelschen Maria Magdalena und der Stücke Anzengrubers einordnete, so sah die Kritik in dem Volksstück doch einen qualitativen Abfall zu seinem eigentlichen, novellistischen Werk, vgl. Graf. Immerhin war in dem Jahr seines 60. Geburtstages die Nachfrage stärker. Die Redaktion des Berliner Theater-Dieners, dem Verlag für dramatische und musikalische Werke, fragte bei Saar um die Rechte für den Bühnenvertrieb an (BrW20). 81
Vgl. Saar an von Hohenlohe, vor dem 11. Juli 1893, Briefe Hohenlohe, S. 217-218. 83
mit dem von Saar entscheidend gestalteten Mythos des Sündenfalls, wie ihn Regine Kopp für die Marianne und damit auch maßgebend für zahlreiche weitere Novellen herausgearbeitet hat. So ist es nicht verwunderlich, daß auch im Fridolin das zentrale Ereignis der 'Sündenfair des Helden sein wird. Für die Themenwahl und die Darstellungsweise in seiner neuen Novelle dürfte Saar durch seine persönliche Situation im Jahre 1893, dem Jahr seines sechzigsten Geburtstags, mitangeregt worden sein. Rückschau auf das Erlebte und Erworbene, auf sein Schaffen als Dichter, vor allem gefördert durch die Familie Wertheimstein und insbesondere durch die Gräfin Elisabeth von Salm-Reifferscheidt, mögen ihm die nötige Ruhe und Gelassenheit gegeben haben, die sich in der teilweise humoristischen aber auch ironischen Erzählung widerspiegeln. Erst nach diesen turbulenten Feierlichkeiten kann Saar sich wieder seinem dichterischen Auftrag zuwenden: Ich bin in diesen Zeiten ziemlich fleißig gewesen und habe eine etwas längere Novelle [Ninon] und einen lyrischen Cyclus [Oden] vollendet, auch anderes ist begonnen und dem Abschluß mehr oder minder nahe gebracht worden (BrW61).
b. Die Fertigstellung der Erzählung: 1894 Das Jahr 1894 bringt Saar die ersehnte Ruhe und Muße in seinem 'DichterasyF Raitz, wo er nach dem allgemeinen Trubel um seine Person in Wien nun wieder an die Arbeit gehen kann: Wenn ich gesund bleibe, sollen Sie sehen, wie ich meine Muße ausnutzen werde. Die Stoffe drängen sich nur so. Für's erste wird der Herr Fridolin abgethan, bis Ende Februar hoff ich ihn fertig zu haben (BrW40). Gegenüber Müller-Guttenbrunn spricht Saar sogar von einer achtmonatigen Schaffenspause, was insofern zutreffen dürfte, als er seit der Fertigstellung des Broullions im April 1893 nicht mehr durchgehend am Fridolin hatte arbeiten können (BrW25). Noch Anfang Januar erreichen Josefine von Wertheimstein die zuversichtlichen Zeilen Saars: Für heute sage ich Ihnen nur [...], daß ich schon am Fridolin gearbeitet habe. Schon am 3. Tage meines Hierseins. Alle meine Kräfte sind angegriffen und
84
hinfällig, nur die poetischen nicht - Gott sei's gedankt82. Äußert Saar seiner Gönnerin gegenüber noch am 25. des Monats, er habe "alle Hoffnung, ihn [Fridoliri] im Laufe des Februar unter Dach und Fach gebracht zu haben"83, so scheint er Ende Januar in der Arbeit festzustecken: Ich habe mich heute mit 4 Seiten Fridolin aufs äußerste geplagt (BrW41). Ähnlich klagt Saar gegenüber der Ebner: Auch mein Fridolin macht mir sehr große Mühe - mehr als ich gedacht habe(BrW14). Nicht ohne Wirkung auf die Konzeption der Erzählung als 'Schloßgeschichte' dürfte aber auch Saars damalige Lektüre gewesen sein. In seinem Brief an die Ebner teilt er ihr mit, daß er soeben Er laßt die Hand küssen, ebenfalls eine Dienergeschichte, gelesen habe (BrW14). Die Ebner ihrerseits hat eine neue Novelle fertiggestellt und beabsichtigt nun diese mit Saars Fridolin herauszugeben, worauf Saar ihr antwortet: [...] der Rittmeister und mein Fridolin dürften vielleicht beisammen stehen**(Wiener-Literarischer Verein: Novellenband)(BrW14). Die Fertigstellung der Novelle verzögert sich jedoch weiterhin - an Necker schreibt Saar, daß er sich mit dem Fridolin in den "ärgsten Geburtsqualen" befinde (BrW42) -, ein Beweis mehr dafür, daß die von der Realität vorgegebenen Motive erst künstlerisch umgestaltet werden müssen und Saar nicht Selbsterlebtes oder Gehörtes platt abschildert84. So zeigt er sich in einem Brief an Ludwig Ganghofer verstört über die Hindernisse, die sich ihm entgegenstellen: Nachdem ich hier eine Novelle begonnen und frisch und flott weit über die Hälfte hinaus geführt hatte, bin ich plötzlich auf Schwierigkeiten gestoßen, an deren Behebung ich fast verzweifeln muß. Es ist dies, Sie werden es begreifen, ein höchst schmerzlicher, ja fast vernichtender Zwischenfall; denn gerade von 82
Vgl. Saar an Josefme von Wertheimstein, 6. Januar 1894, Briefe Wertheimstein, S. 451.
83
Vgl. Saar an Josefme von Wertheimstein, 25. Januar 1894, Briefe Wertheimstein, S. 451.
84
Diese Einstellung wird man immer wieder bei den Rezensenten und, wie im Falle der Gräfin Zierotin, auch in seinem Freundeskreis antreffen. 85
dieser Arbeit hatte ich mir sehr viel erwartet (BrPrl). Was diese Schwierigkeiten betrifft, so kann es sich hierbei eigentlich nur um die Konzeption des Schlusses handeln. Denn Soff6 hatte von einem ursprünglich anders geplanten Ausgang der Erzählung berichtet: die Flucht nach Amerika, die im Handlungsschema nach dem Höhepunkt, dem Zentrum der Novelle, vorbereitet wird. Neben diesen konkreten künstlerischen Zweifeln beeinträchtigt ein anhaltendes Rheumaleiden Saars Schaffenskraft. Er muß sich zu einem täglichen schriftlichen Pensum zwingen, um nicht ganz den Mut zu verlieren. Dazu macht es der Tod seines Freundes Ludwig August Frankls ihm schwer, den humoristischen Ton seiner Novelle aufrechtzuhalten (BrW24). Seine fürstliche Gönnerin, der Saar seine Bedenken angesichts der Novelle unterbreitete, kann diese jedoch nicht teilen: Ich allerdings von ferne hier hege ganz arrogant in mir die Überzeugung, daß gewiß die aus einem Guße geschriebene Novelle wunderbar ist. Knauer hat mit großer Begeisterung über diese Novelle geschrieben, die Sie in Blansko vorlasen, er meint, daß sich in derselben eine neue Art Ihres Talentes offenbart (BrW58). So bestätigt sie den Schriftsteller in seinem Versuch, neue Wege zu beschreiten und gibt damit ein Zeichen des Vertrauens in seine Fähigkeiten. Spätere Rezensionen werden allerdings zeigen, wie wenig die Literaturkritik dieses "neue Talent" zu würdigen wußte. Ende Februar ist der Fridolin bis auf das letzte Viertel, also besagten Schlußteil, fertiggestellt, und Saar rechnet für Ende März mit dem Abschluß der Erzählung (BrWIS), was dann jedoch schon Mitte März der Fall ist. Dies geschieht zu seinem Glück noch rechtzeitig, denn kurze Zeit später erreicht ihn die Nachricht vom Tode der Altgräfin Elisabeth von Salm-Reifferscheidt, seiner langjährigen Gönnerin und Beraterin in dichterischen Fragen (BrW63)85. Saar legt vorerst sein neuestes Werk beiseite, um auf den Tod der Gräfin eine Würdigung ihrer Person zu verfassen. So beschreibt er ihre Rolle: Ihres Geistes Schwung und Adel/ ihres Herzens Kraft und Güte/ sie fühlen sich
Angesichts der Todesfälle in seinem Freundeskreis ist Saar um den Ton seiner Novelle besorgt, der hoffentlich kein "trauriger Humor" geworden ist (BrWel). Trotz dieser düsteren Vorzeichen hofft Minister Unger für ihn, daß die Novelle den Titel Herr Ferdinand und sein Glück tragen kann (BrW65). Die Ähnlichkeit der Vornamen von Held und Autor mag manch einen Leser veranlassen, Parallelen zwischen dem Leben des "glücklichen" Dieners und seinem Autor zu ziehen. Immerhin wäre beiden das zufriedene Dasein auf dem Schloß gemein, was allerdings Unger noch nicht wissen konnte, da ihm die Novelle noch nicht vorlag. 86
verlassen und verwaist/ (alle, die ihre Stimme vernommen) (SW 2, S. 193). Saar war ihr zu großem Danke verpflichtet, da sie ihm sein 'Dichterasyl' auf ihrem Schloß Raitz eingerichtet und ihm so die notwendige Freiheit für sein dichterisches Schaffen ermöglicht hatte. Die Bedeutung dieses Verlustes drückt ein Brief an die Schriftstellerin Betty Paoli aus: Ein sehr bedeutungsvolles Stück meines eigenen Lebens knüpfte sich an diese so seltene Frau, und der dichterische "Nachlaß", den ich Ihnen hiermit übersende [sein Gedicht auf die Verstorbene], konnte nur ganz allgemein zum Ausdruck bringen, wie ich bei der Nachricht von ihrem Hinscheiden empfand. Kurz vor ihrem Tode habe ich meine Novelle Herr Fridolin und sein Glück beendet. Wie Sie wohl schon aus dem Titel merken, eine humoristische Novelle: meine erste. Möchte es kein trauriger Humor geworden sein (BrW49). Auch rechnet Saar nach dem Tod seiner Gönnerin mit persönlichen Folgen für seinen weiteren Aufenthalt auf den Salmschen Gütern. An Milow schreibt er daher: Darum kann ich auch nur hier arbeiten. Ich bewohne einen Pavillon, der den rechten Schloßflügel abschließt, und da seit zwei Jahren das Schloß selbst ganz unbewohnt ist [...] so bin ich auch unumschränkter Herr und Gebieter. Wie lange noch, stehe dahin. Denn wie du in der Zeitung gelesen haben wirst, ist die Fürstin Mutter vor 14 Tagen gestorben, und da können immerzu Neuerungen eintreten, die möglicherweise auch für mich nicht ohne Folgen bleiben (BrW30).
Diese Befürchtung sollte sich allerdings als grundlos erweisen, denn der Dichter erhielt noch zehn Jahre nach dem Tode der Gräfin Salm die Zusicherung, seine Wohnung auf Schloß Blansko halten zu dürfen86. Zugleich läßt dieser Brief Parallelen zum "Alleinherrscher" Fridolin erkennen, der ebenfalls in den Genuß gräflicher Fürsorge gekommen ist.
86
Vgl. Bettelheim in SW l, S. 157.
87
c. Vorbereitung zu einer Veröffentlichung Die Angebote, die von verschiedenen Redaktionen an Saar herangetragen werden87, zeigen, daß er im Jahr seines sechzigsten Geburtstages ein von vielen Seiten gefragter Autor ist. So wendet sich Dr. Otto Braun, seit 1869 Herausgeber und Chefredakteur der nationalliberalen Münchner Allgemeinen Zeitung und insbesondere hier für das literarische Ressort zuständig88, an Saar. Aufgrund der in der Beilage seiner Zeitung veröffentlichten Artikel über Saar - etwa von Moritz Necker89 - kannte er den Schriftsteller. Er möchte ihn für einen Beitrag im Cotta 'sehen Musen-Almanach für das Jahr 1894 gewinnen. Dieser Almanach erschien von 1891 bis 1900 beim Verlag J. G. Cotta-Nachfolger in Stuttgart, herausgeben von Otto Braun. Der Almanach gliederte sich in die Rubriken 'Prosadichtung', 'Poetische Erzählungen und Balladen', 'Lyrische und vermischte Gedichte', 'Spruchdichtung' und 'Kunstbeilagen'. Für die Prosa hatte Braun Paul Heyse gewonnen, von dem die Erzählungen Vroni und Donna Lionarda in den Jahrgängen 1892 und 1894 erschienen waren. Daneben bot der Almanach anfangs Beiträge von Conrad Ferdinand Meyer90, Stephan Milow91, August Ludwig Frankl92, Marie von Ebner-Eschenbach93 und Peter Rosegger, dessen Erzählung Lieb' läßt sich nicht lumpen die erste Ausgabe des Almanacks eröffnete. Saar hatte seinerseits schon für diesen ersten Band die Gedichte Kontraste und Belvedere in Wien beigesteuert. An Novellistischem kann Saar im Jahr 1893 nichts zur Verfügung stellen, da der Fridolin im Frühjahr 1893 erst konzipiert wird, und so bietet er stattdessen das dramatische Fragment Benvenuto Cellini an (BrMl). Die Bedeutung Brauns als angesehener
87
Selbst von privater Seite bittet man Saar um Beiträge für eine Anthologie, die für den Schulgebrauch ins Englische übersetzt werden soll (BrWS). 88
Vgl. Heyck, S. 163. In ihrer nationalliberalen Tendenz kam dieses Blatt wohl auch der politischen Gesinnung Saars und seines Bekanntenkreises entgegen. Schon seine Bekanntschaft mit Moritz Necker, der im Feuilleton der Münchner Allgemeinen Zeitung publizierte, zeigt seine Vertrautheit mit dieser ursprünglich für den süddeutschen Raum sehr bedeutenden Zeitung. 89
Vgl. Necker: Allgemeine Zeitung. Bettelheim veröffentlicht seinen Beitrag zu Saars 60. Geburtstag ebenfalls in der Münchner Allgemeinen Zeitung. 90
U. a. Konradins Knappe im 1. Jg., Das Ende des Festes im 2. Jg.
91
U. a. Die Magd im 2. Jg., An das Leben im 1. Jg.
92
Eine schöne Frau im 2. Jg.
93
Ihr Gedicht Liebeserklärung erschien im 1. Jg., später, im 6. Jg., veröffentlichte sie noch Parabeln und Aphorismen.
88
Herausgeber und der Ruf des Cotta-Verlages mußten Saar das Angebot reizvoll erscheinen lassen, ein Werk in diesem Almanack für das gebildete Publikum im Deutschen Reich zu veröffentlichen. Jedoch erst für den Musen-Almanach des Jahres 1895 schickt er statt des erwünschten epischen Beitrages die drei Oden Anflug, Der Dichter und Italien94 zu. In den späteren Ausgaben fehlen Veröffentlichungen Saars. Auch die angeführten, berühmten Autoren ziehen sich von diesem Projekt zurück; in der Folge wählt Braun vornehmlich unter zweitrangigen Autoren seine Beiträge aus95. Zur gleichen Zeit wie Braun unterbreitet Hugo von Hofmannsthal das Angebot für eine Veröffentlichung in der Deutschen Zeitung, Wien. Hofmannsthal hatte hierin in der Dezemberausgabe von 1892 Saars Novelle Schloß Kostenitz rezensiert, sodaß den Lesern dieses Blattes der Autor kein Unbekannter mehr war. Die Richtung der Deutschen Zeitung klar zu bestimmen, ist nur schwer möglich, da sie seit ihrer Gründung 1871 immer wieder Eigentümer und politischen Standort wechselte. Ursprünglich ein nationalliberales Blatt, vertrat sie kurzfristig die demokratische Linke und schlug dann seit 1888 eine nationalliberale und antisemitische Richtung ein96. Dies dürfte auch für Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal ein Grund für ihre nur kurzfristige Mitarbeit an diesem Blatt gewesen sein. Saar mußte eine solche Einstellung ebenfalls von einer zu engen Mitarbeit abhalten. Allerdings aus praktischen Gründen macht der Autor der Zeitung eine Absage: Hinsichtlich der "fraglichen" Novelle lasse ich der Deutschen bestens danken. Fürs erste müsste die Novelle geschrieben sein - und ich habe sie nicht einmal noch angefangen. Auch erheben ein paar "Ausländische" Ansprüche darauf97. Der "ausländische" Cotta'sche Musen-Almanach und wohl auch die von Karl Emil Franzos herausgegebene Deutsche Dichtung in Berlin dürften mit dieser Äußerung gemeint sein. Im August tritt letzterer an Saar heran. Seit 1886 gibt Karl Emil Franzos die Halbmonatsschrift Deutsche Dichtung heraus, die bestimmt ist, "der vornehmen, künst-
94
Anflug (SW 3,S. 62), im Cotta'schen Musen-Almanach, S. 199f. -Der Dichter (SW 2, S. 180), im Cotta'schen Musen-Almanach, S. 200f. -Italien (SW 2, S. 183f.), im Cotta'schen Musen-Almanach, S. 201 f. nc
So veröffentlicht er das Ostseemärchen Das häßliche Nixlein von Hans Hoffmann, 7. Jg. oder Lyrische Gedichte von Max Kalbeck, Carl Busse, Martin Greif. Aus dem Rahmen fällt nur Ricard« Huchs Diaboleia im 6. Jg. 96
Vgl. Paupio, Bd. I, S. 158.
97
Vgl. Saar an Hugo von Hofmannsthal 25. März 1893, Briefe Hofmannsthal, S. 275. 89
lerischwertvollen Produktion in Prosa und Vers eine Heimstätte zu schaffen"98. Saar veröffentlichte hierin seine Erzählung Leutnant Burda. Zu den Hauptmitarbeitern zählen Anzengruber, Bauernfeld, Bleibtreu, Bodenstedt, Ebner-Eschenbach, Fontäne, C. F. Meyer, Morgenstern und Storm. Paul Heyse wird als das Ideal für die Prosa gefeiert99. Dichterautographe, Dichterporträts, Illustrationen zu Dichtungen und Notenbeilagen zu vertonten Gedichten bilden das breite Angebot dieser Zeitschrift für ein gebildetes Bürgertum100. Da aber auch Franzos mit seiner Halbmonatsschrift sein anfangliches Niveau nicht halten konnte und zunehmend zweitrangige Literatur veröffentlichte101, ist es nicht verwunderlich daß auch Saar sich zurückhaltend seinen Nachfragen gegenüber zeigt: Novellistisches habe ich bis jetzt nicht geschrieben; habe 3-5 neue Stoffe; wann werde ich sie ausgeführt haben? (BrW22) Mit Beendigung des Fridolin 1894 beginnt für Saar jedoch die Suche nach einer geeigneten Veröffentlichungsform. Zunächst plant er die Veröffentlichung in der Neuen Freien Presse, allerdings bestürmt ihn der Herausgeber des Wiener literarischen Vereins, Prof. Lützow, zusammen mit der Ebner, bei ihm zu publizieren. Der Ebner gegenüber kann Saar seinen Stolz darüber nicht verhehlen, daß kein österreichisches Novellenbuch ohne sie beide mehr herausgeben werden kann (BrWIS). In Absprache mit der Ebner ist Saar zunächst daran interessiert mit ihr zusammen den Fridolin herauszugeben. Allerdings gehen beide von unterschiedlichen Positionen aus: Die Angelegenheit scheint für uns beide nicht ganz gleich zu stehen. Wie ich nämlich vermuthe, sollte Ihr Rittmeister als selbständiger Band in den Verlag der 'Gesellschaft' übergehen, während mein Fridolin um 80 Seiten umfaßt, daher auch nur für einen Collektionsband paßt. Er wurde tatsächlich für einen solchen verlangt. Trotzdem würde allem Anschein nach die 'Gesellschaft' Eigenthumsrechte benöthigen. Darauf aber kann und werde ich nicht eingehen, da ich mir die Aufnahme des Fridolins in ein neues Novellenbuch oder in eine Gesamtausgabe meiner Novellen (in drei Bänden) unbedingt vorbehalten muß. Also kann ich nur einen Abdruck gegen angemessenes Honorar und gegen Verzicht
90
98
Vgl. Kirchner, S. 350.
99
Vgl. Schlawe, Bd. I, S. 43.
100
Vgl. Kirchner, S. 350.
101
Vgl. Schlawe, Bd. I, S. 45.
meinerseits, die Novelle in einer Zeitschrift zu veröffentlichen, gestatten (BrW16).
Die von Saar betitelte 'Gesellschaft' ist der in einem früheren Brief an die Ebner erwähnte Wiener literarische Verein. Neben diesem kommt auch die Neue Freie Presse auf ihr Angebot zurück, eine Novelle von Saar abzudrucken. Über Moritz Necker läßt Bacher, der Feuilleton-Redakteur der Neuen Freien Presse, daher Anfang April bei dem Autor anfragen, ob er einer Veröffentlichung in dieser Zeitung zustimmt (BrW43). Was den "Collektionsband" betrifft, so mag Saar an das Angebot des Cotta-Verlages gedacht haben, der schon im Vorjahr um einen Beitrag bat. Ende April 1894 wendet sich Otto Braun von der Redaktion des Musen-Almanach mit der Anfrage an Saar, ob er eine kleine, nicht mehr als zwei bis drei Bögen umfassende Novelle für den fünften Jahrgang des Almanacks liefern könne gegen ein Honorar von 300 Mark (BrW6). Saar muß jedoch auch dieses Angebot ausschlagen. Seine Begründung macht zugleich deutlich, wie sehr er darauf bedacht war, das "richtige" Publikum für sein neuestes Werk zu gewinnen: Um meine Qualen abzukürzen, muß ich denn gleich heraussagen, daß ich mit einer Novelle nicht dienen kann; ich habe zwar eine (etwa 7o Seiten Ihres Almanachs umfassende) geschrieben; sie ist jedoch ihrem Inhalte nach vorweg von der Aufnahme ausgeschlossen (BrM2). Statt einer Novelle werden dem Musen-Almanach die drei erwähnten Oden zugesandt (BrMIO). Am 28. April sieht Saar noch einmal seinen Fridolin durch und erteilt ihm das "imprimatur". Wie vereinbart informiert er die 'Gesellschaft' über die endgültige Fertigstellung, ohne ihr jedoch damit die Druckerlaubnis zu erteilen (BrWIT). Die Gesellschaft hatte mittlerweile einen Novellenband herausgebracht, jedoch weder mit einem Beitrag von Saar noch von der Ebner. Bisher hatte Saar gegenüber seinem Verleger Weiß geschwiegen, was sein dichterisches Schaffen seit den Elegien betraf. In seinem Brief vom 11. Juni 1894 gibt Weiß seiner Freude darüber Ausdruck, daß Saar nun zwei Novellen fertig vor sich liegen habe (wohl Ninon und Fridolin). Denn das Geschäft geht wider Erwarten schlechter als im Vorjahr. Weiß klagt, daß es mit dem Absatz seit Neujahr ziemlich still sei, und auch die Ostermesse habe ihm manche Enttäuschung gebracht. So fragt er zu Recht, ob es nicht an der Zeit sei, nach zwei Jahren Pause wieder Novellen zu veröffentlichen (BrW73). Bevor Saar jedoch im Verlag seine neuen Novellen herausgibt, will er den Fridolin zumindest durch die Presse den Lesern vorstellen. Neben der Neuen Freien Presse
91
meldet sich im August auch der Redakteur der Wiener Moden bei Saar. Die Wiener Mode erschien seit 1888 und hatte als Zielpublikum vornehmlich den weiblichen Mittelstand, den man durch vielseitige, in großen Auflagen hergestellte Modeblätter erreichen wollte. Daneben war der Halbmonatsschrift auch eine belletristische Beilage Im Boudoir beigefügt, mit der man für eine vielseitige Unterhaltung der Leserinnen sorgte102. Saar wollte wohl aufgrund der heiklen Darstellung der Heldin in seiner neuen Erzählung ein ausgesprochenes Frauenpublikum für die Erstveröffentlichung meiden. Abgesehen von Schwierigkeiten bei den Verlagsrechten nimmt die Wiener Mode— Redaktion aus eben dieser Überlegung heraus Abstand von einem Abdruck der Novelle. Saar hatte sie dem Redakteur kurz vorgestellt: Schließlich gab ich einige Andeutungen über den Inhalt der Novelle, wozu Herr Steiner ein etwas befremdetes bestürztes Gesicht machte. Er wollte etwas für "Damen" - und für diese ist der Fridolin nicht. Die Zeit, da Ferdinand den Innocens, die Marianne [spann], sind vorüber - leider - und auch gottlob (BrW44). Mit seiner neuen Novelle zielt Saar diesmal also auf ein anderes Publikum ab. Er will nicht nur der Autor seiner ersten, eher zarten und verhaltenen Novellen sein. Gerade die z. T. parallel laufende Arbeit an dem komischen Epos Die Pincelliade deutet den Wandel in seinem Schaffen an. Nicht die Thematik oder der Inhalt ist das eigentlich Neue, sondern der Ton. Bezeichnet er den Fridolin als humorvoll, so schwankt er in der Beurteilung der Pincelliade zu Recht zwischen komisch und satirisch. Angesichts dieser Lage mußte Saar das Angebot von Hermann Bahr, den Fridolin in der neugegründeten Zeitschrift Die Zeit zu veröffentlichen, gerade recht kommen. Nach längeren Verhandlungen und Angeboten von verschiedenen Seiten entschließt sich Saar, dem Wunsche Hermann Bahrs nachzugeben und seinen Fridolin in der neugegründeten Wochenzeitschrift zu veröffentlichen. Diese Entscheidung sollte sowohl für den Autor als auch für die Kulturredaktion der Zeit von Nutzen sein. Vor allem dürfte sich Hermann Bahr davon einigen Vorteil für seine kulturpolitischen Bestrebungen versprochen haben.
102
92
Vgl. Kirchner, S. 363.
d. Die Veröffentlichung in der Zeit (J1) Nachdem Bahr schon in zwei Zeitschriften seine journalistische Tätigkeit erprobt und sowohl die Moderne Dichtung als auch die Wiener Freie Bühne aus ihren naturalistischen Bahnen in seine neue moderne Richtung gewiesen hatte103, unternimmt er nach einer einjährigen Mitarbeit bei der Redaktion der Deutschen Zeitung die Mitgründung einer neuen Zeitung, der Zeit. Heinrich Kanner, ehemals Redakteur der demokratischen Frankfurter Zeitung und Isidor Singer, Universitätsdozent in Wien, bekannt für seine sozialfortschrittlichen Anschauungen, traten an den ihnen bisher persönlich nicht bekannten Bahr heran104. Er wurde mit dem Kulturteil der Zeitung betraut, wozu ihm seine internationalen Beziehungen von Nutzen waren. Unter seiner Leitung sollten Artikel von bzw. über Maurice Barres, Oscar Wilde, Anatole France, Emile Zola, Henrik Ibsen, Ferdinand von Saar, Leopold von Sacher-Masoch, Bertha von Suttner, Jakob Julius David, Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler erscheinen105. Oscar Walzel, Eduard Castle und Jakob Minor lieferten wissenschaftliche Beiträge106. Auf diese Weise versuchte Bahr, dem von ihm in der Erstausgabe angekündigten Programm nachzukommen: Ein Blatt der neuen Gattung, die nicht aus den Abonnenten schallen, sondern in die Abonnenten rufen will, wird hier versucht. Einige Leute, die anders denken als die Menge von heute und sich schmeicheln, daß morgen alle Welt so denken
103
Vgl. Farkas, S. 34.
104
Vgl. Rebhann, S. 15. Die Person I. Singers ist insbesondere von Interesse, da er in Verbindung mit dem Hause Hohenlohe stand, das ein Förderer der Zeit war zunächst durch Conrad Hohenlohe und später durch Prinz Franz Hohenlohe (S. 158). Gerade die Fürstin Hohenlohe sollte sich negativ über die Tatsache äußern, daß Saar in dieser Zeitung seinen Fridolin veröffentlichte. Für die politische Aussage des Blattes ist noch die Beziehung Singers zu Adolf Fischdorf von Bedeutung. Dieser war nach der Revolution von 1848 mit der Forderung in die Öffentlichkeit getreten, die Monarchie auf föderativer Grundlage umzugestalten. Ahnliche Standpunkte sollten schon in den ersten Ausgaben der Zeit vertreten werden, ebenda, S. 15. 105
Ebenda, S. 22. So erscheinen von Hugo von Hofmannsthal Artikel über den italienischen Schriftsteller Gabriele d'Annunzio, der wegweisend für die Moderne wurde, vgl. Hofmannsthal: d'Annunzio, S. 139-140. Oscar Wildes decay of lying wird mit einem Essay von Bahr über die decadence eingeleitet. Hier bezieht Bahr Stellung gegen diese neue Richtung ebenso wie gegen den Naturalismus. Vielmehr folgt er dem goethischen Verständnis von Kunst und Wirklichkeit: der Künstler, indem er die Natur gibt, soll zugleich mehr als die Natur zu geben verstehen, vgl. Bahr: Decadence, S. 87-89. 106
Vgl. Rebhann, S. 24.
93
wird, wollen hier ihre Meinung sagen, unbekümmert, ob sie gefallen107. Diese sozialliberale Zeitung griff auch das Nationalitätenproblem auf und trat dabei, unter Berücksichtigung beider Seiten, für eine politische Gleichstellung Böhmens mit Österreich-Ungarn ein. Zu diesem Thema erschien eine Artikelserie über das "böhmische Staatsrecht"108. Da Saar die Zeit, soweit es ihm in Raitz möglich war, bezog, kannte er diese politische Position, die auch für seine Aussage über die tschechische Frage nicht ohne Folge gewesen sein dürfte. Für die ersten Ausgaben der Zeit plant Bahr zunächst die Veröffentlichung von einzelnen lyrischen Werken der jungen Modernen Hofmannsthal und Andrian, eröffnen will er die Erstausgabe aber mit Gedichten von Saar109. Tatsächlich greift Bahr noch auf Arbeiten von Maurice Barres und Gabriele d'Annunzio zurück110. Sein Konzept, Saar als Wegbereiter der Moderne vorzustellen, behält er bei. Zunächst jedoch ist die Publikation der Novelle noch nicht gesichert. Bahr bittet Saar im August 1894 um den ursprünglich der Deutschen Zeitung versprochenen Beitrag: Verehrter Meister! Ich gebe vom Oktober ab eine Wochenschrift heraus und wäre sehr stolz, Sie unter meine Mitarbeiter nehmen zu dürfen. Die Novelle, die Sie mir zuerst für die inzwischen antisemitisch und antiliberal gewordene Deutsche Zeitung versprachen, müßte jetzt bald fertig werden, und Sie könnten mir keine größere Auszeichnung erweisen, keine herzlichere Freude bereiten, als wenn Sie sie meinem Blatte gäben, das den Ehrgeiz hat, alle wirklichen Künstler um sich zu schaaren (BrWl). Sicherlich spielt bei der positiven Entscheidung Saars auch das günstige Angebot der Zeit eine Rolle, denn Saar will sich die Rechte für einen weiteren Abdruck der Novelle beim Verlag Cotta sichern, was ihm ohne weiteres zugestanden wird111. Neben einem
107
Vgl. Löwy, S. 108.
1
Schon in der ersten Novemberausgabe erschien ein Artikel "Zur Frage eines deutsch-tschechischen Ausgleiches in Böhmen" von Heinrich Henker. Weitere sollten folgen über die tschechische Fortschrittspartei und die Omladina-Bewegung. 109
Vgl. Hugo von Hofmannsthal an H. Bahr, Strobl 8. August 1894, Briefe Hofmannsthal, S. 273: "Ich denke mir sehr hübsch, daß die Zeit im ersten Halbjahr keine anderen Verse bringen wird als die neuen Oden von Saar, und Reime von Poldy(=Andrian)und mir". 110
Vgl. Andrian an Hugo von Hofmannsthal, 25. September 1894, Briefe Andrian, S. 35, worin Andrian anfragt, ob er sein "Fest der Jugend" nach d'Annunzio, Barres und Saar in der Zeit veröffentlichen kann. 111
Vgl. H. Bahr an Saar, 13. August 1894, Briefe Bahr, S. 289: "Selbstverständlich stimme ich der Aufnahme in die Cottasche Ausgabe zu".
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Honorar von 300 Gulden kann Bahr auch mit einer breiten Reklame werben, da das Blatt in den ersten zwei Monaten in 5000 Exemplaren verschickt wird112. Das Hauptanliegen Bahrs 'ist es, die Zeit programmatisch mit einer Novelle Saars zu eröffnen: Ich bin sehr glücklich, daß ich mit dem Fridolin anfangen kann. Das sagt den Leuten gleich, was wir wollen und welche Wege wir gehen. Und mir selber wird es wie ein guter Geleitspruch sein, und ich werde alles strenge prüfen, ob es auch würdig ist und verdient, dem Fridolin zu folgen113. Wie weit Bahr bis zu diesem Zeitpunkt über den Inhalt der Novelle informiert ist, läßt sich nicht sagen, das Manuskript erhält er jedenfalls erst im September114, und er teilt dem Dichter sogleich seinen ersten Leseeindruck mit: Lieber und verehrter Meister! Ich kann heute nicht schlafen gehen, ohne Ihnen noch rasch zu sagen, wie unendlich mich Ihr Fridolin erfreut, gerührt und mit dem innigsten Behagen reiner Kunst erfüllt hat. Wie unvergleichlich drastisch und lebendig steht dieser Fridolin da, ein Stück Österreichertum, wie es österreichischer, handgreiflicher noch nie gestaltet worden! Und mit welch wahrhaft goethischer Ruhe, Milde und Gewalt ist die Natur im Innersten genommen und zur reinsten Wahrheit gebracht115. Gemäß seinen entwickelten Kriterien beurteilt Bahr hier den typisch österreichischen Dichter, so wie er ihn in seinem Artikel über Jung-Österreich beschrieb, zugleich aber wird offensichtlich, daß er auf die klassische Ästhetik zurückgreift, wobei er in seiner Goetheverehrung seinem Meister Maurice Barres folgt. Da Bahr aber in Saar zudem auch einen Neuerer sieht, zieht er auch einen Vergleich zu dem Autor der Moderne, Gabriele d'Annunzio. In einem Gespräch muß er wohl den Ich-Erzähler Fridolin mit der Figur des Giovanni Episcopo im gleichnamigen Werk d'Annunzios verglichen haben. Denn Saar nimmt am folgenden Tag dazu Stellung:
112
Vgl. H. Bahr an Saar, 13. August 1894, Briefe Bahr, S. 289. Saar berichtet Cotta, daß er eine Novelle, Hen Fridolin und sein Glück, einer neugegründeten Wochenschrift zukommen lassen will: "Man will mit meiner Novelle eröffnen - ganz abgesehen von dem hohen Honorar, das mir geboten wird, muß ich erkennen, daß mir diese Pub(likation) bei der großen Verbreitung der ersten Nummer litterarisch ungemein förderlich sein dürfte. "(BrM8) 113
Vgl. H. Bahr an Saar, 16. August 1894, Briefe Bahr, S. 289.
114
Vgl. H. Bahr an Saar, 9. September 1894, Briefe Bahr, S. 290.
115
Vgl. H. Bahr an Saar, 10. September 1894, Briefe Bahr, S. 290.
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Daß Ihnen die Novelle gefallen, freut mich ungemein, muß mir doch gerade Ihr Urtheil von größtem Werthe sein. Vielleicht ist die Ruhe der Darstellung allzu "goethisch" - und sie mit dem tief bewegten Vortrag des Episcopo vergleichen, ist eher ein Mangel und kein Vorzug. Vielleicht ist etwas im Fridolin, was im Episcopo fehlt - aber an Kraft ist mir d'Annunzio weit über (BrTl). Saar muß zufrieden sein mit dem überschwenglichen Lob Bahrs, doch sieht er sich z. T. mißverstanden, was dieser Brief, wenn auch sehr höflich und eher versteckt, zum Ausdruck bringt. Der Vergleich von Saars Fridolin und d'Annunzios Episcopo lag für Bahr insofern nahe, als letzteres Werk nach Saars Novelle in deutscher Übersetzung in der Zeit erscheinen sollte116. Die Gemeinsamkeit der beiden Novellen liegt in der Erzählform, beidemal ist die Form der 'Lebensbeichte' gewählt. Allerdings fehlt der italienischen Novelle die kunstvolle Einkleidung in eine Rahmenerzählung. Vor allem jedoch sticht der Unterschied in der einerseits humoristischen und andererseits tragischen Erzählhaltung der Helden ins Auge117. Der Entwicklung in der modernen Literatur hin zu einer verstärkten analytischen Darstellung - wie sie bei d'Annunzio anzutreffen ist - steht Saar mit Mißtrauen gegenüber: Meine Dichtungen führen bis an die Grenze derselben [der 'Moderne'] - und so mag die "junge Generation" den Tummelplatz für sich allein haben118. Das Risiko der neuen 'zerlegenden' Kunst liegt für ihn darin, daß
Zum ersten Dezember folgt auf Saars Fridolin die Übersetzung des Episcopo in der Zeit. Giovanni Episcopo ist ein gebrochener Mann, der vom baldigen Tode gezeichnet auf dem Krankenlager seinem Pfleger sein von Unglück und von Leiden gezeichnetes Leben erzählt. Diese Novelle ist zugleich auch eine psychologische Studie des Nervenzustandes dieses Giovanni. Seine Willenlosigkeit und Bereitschaft, sich vor anderen wie ein Tier zu erniedrigen, charakterisieren ihn als 'schwache* Natur und sollen das Mitleid des Zuhörers erregen. Die Selbstdarstellung im Fridolin hingegen dient zum größten Teil der humoristischen Einkleidung der Erzählung. Während Fridolin ohne Kenntnis dessen, was eigentlich genau mit ihm vorging, als er Milada kennenlernte, seine Erlebnisse schildert, legt Giovanni seinen Seelen- und Nervenzustand offen als den eines kranken Menschen dar. D'Annunzio kann dies insofern rechtfertigen, als er Giovanni immer Bezug nehmen läßt auf Äußerungen seiner Ärzte. Naturalistische Schilderung und psychologische Analyse verbinden sich hier ganz so wie es Bahr für die Moderne als zukunftsweisend darstellte. Wie Fridolin ist Giovanni in seiner Haltung als Dienender charakterisiert, allerdings nicht von Berufs wegen, sondern weil ein ihm überlegener Mann - eine Art des Nietzschen Übermenschen - ihn psychisch in der Gewalt hat. Erst als dieser seinem Kind, dem einzigen Menschen, der Giovanni nicht mißbraucht, Gewalt antun will, wird dieser zum Mörder. Die dramatisch packende Erzählung kann als Beispiel für die "Schönheit des Redens", wie Hugo von Hofmannsthal es in einem Artikel der Zeit nennt, gelten, vgl. Hofmannsthal: d'Annunzio. 118
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Vgl. Saar an Fürstin Hohenlohe, 20. Dezember 1894, Briefe Hohenlohe, S. 219-220.
der schriftstellerische Geist [...] immer tiefer unter die Oberfläche gehen [muß], und so gelangt er notwendigerweise, indem er Dunkelheiten durchdringen will, ins Chaotische - und schließlich ins Leere"9. Der Eindruck der Ruhe, den Bahr bei der Lektüre des Fridolin hatte, dürfte sich nur partiell bestätigen lassen. Eine nähere Untersuchung des Redestils wird dies noch ausführlicher behandeln. Nach dieser ersten Kritik mußte Saar nun die Reaktion in der Öffentlichkeit und der Presse abwarten. Die Erzählung wird in fünf Folgen vom 6. 10. 1894 bis zum 3. 11. 1894 veröffentlicht. Im Dezember schreibt Saar an Bahr, wohl auch weil man in der Öffentlichkeit der neuen Wochenschrift mißtraute: Die Wochenschrift hat eine stramme Haltung angenommen - und behauptet. Die Politik steht oben an, wie recht und billig. Belletristisches giebt's ohnehin schon zum Schweinefüttern. Und was Hermann Bahr, Halfrick, Schwanghopf - u. a. "Nichtspolitisches" bringen, ist gerade recht... Ob mein Fridolin gewirkt, ist mir ganz unbekannt. Es hat sich mir gegenüber noch Niemand darüber vernehmen lassen (BrT2). Bahr bemüht sich in seinem folgenden Brief, Saars Bedenken aus dem Weg zu räumen: Ihr Fridolin hat allgemein sehr, sehr gefallen. Bei dem Publikum wie bei den Kennern war die Freude allgemein120. Tatsächlich setzt die Reaktion auf den Fridolin spät ein, wie aus den Briefen Saars hervorgeht. Erst die Veröffentlichung im Herbstreigen sollte dem Fridolin einige Beachtung in der Presse bringen.
Auch nach der Veröffentlichung des Fridolin bleibt der Kontakt Saars zu Bahr erhalten, da sich der Autor von der neuen modernen Wochenschrift auch Auswirkungen für seinen Publikumserfolg erhofft und er aufmerksam ihren Absatz verfolgt:
119
Ebenda, S. 220.
120
Vgl. H. Bahr an Saar, 29. Dezember 1894, Briefe Bahr, S. 290. 97
Die Zeit hat inzwischen einen außerordentlichen Aufschwung genommen: das junge Unternehmen hat "eingeschlagen" und wird sich dauernd behaupten(BrT3). So bittet Bahr den Dichter um weitere Beiträge121. In den beiden folgenden Jahren entspinnt sich ein reger Briefwechsel, der sich vor allem auf die Publikation von Saars komischem Epos Pincelliade bezieht (BrT3/BrW2). Einige Zeit lang resigniert Saar vor dessen Ausführung und bietet Bahr stattdessen Novellen an, wahrscheinlich das Requiem oder Ninon, allerdings erscheint keines dieser Werke in der Zeit. Im Sommer 1895 schlägt Bahr Saar vor, ähnlich den autobiographischen Veröffentlichungen Fontanes, seine Memoiren zu verfassen - ein Projekt, an dem die Redaktion der Zeit sehr interessiert sei (BrW3). Im Juli veröffentlicht die Zeit einen Artikel über Saar. Paul Wertheimer untersucht darin die Lyrik des Dichters, die er wegen ihrer "herbstlichen Stimmung" lobt. Trotz der Veröffentlichung des Fridolin bleibt Saar für die Kritiker weiterhin der resignierende, mild lächelnde Dichter122. Im Jahr 1896 distanziert sich Saar etwas von Bahr, der sich inzwischen in Wien nicht nur als Literaturkritiker etabliert hat, sondern auch aufgrund seiner weitreichenden Beziehungen in die Kulturwelt eingreift123 und dabei auch gegen gute Bekannte Saars intrigiert. Erst wieder im Jahre 1897 wiederholt Bahr sein Angebot, die Pincelliade zu veröffentlichen. Saar jedoch ist nun an einem anderen Unternehmen mehr interessiert. Im Herbst 1896 war der Herbstreigen erschienen, und er erhofft sich nun von der Zeit eine Reklame für den neuen Novellenband124. Als aber die Zeit auch dazu schweigt, gibt Saar in einem Brief an Bahr über dieses merkwürdige Verhalten seiner Verwunderung Ausdruck (BrT7). Erst wieder zu seinem siebzigsten Geburtstag sollte die Zeit einen Essay über Saars Schaffen von seinem Redakteur Richard Specht bringen125. Zu diesem Zeitpunkt
121
Vgl. H. Bahr an Saar, 29. Dezember 1894, Briefe Bahr, S. 290.
122
Vgl. Wertheimer. Bahr hatte von Necker dessen Artikel über Saar erbeten (BrWSS). Seine eigene Darstellung findet das Lob des Schriftstellers, der sich bei ihm bedankt: "Er hat mich ungemein erfreut - schon als Beweis, daß Sie des alten österreichischen Poeten mit aufrichtiger Teilnahme gedachten" (BrT4). 123
So intrigierte er gegen den Direktor des Raimund-Theaters Müller-Guttenbrunn und erreichte dessen Ablösung durch Alfred Freiherr von Berger. Da Saar Müller-Guttenbrunn persönlich als Mitglied der Grillparzer-Gesellschaft kannte, verwahrt er sich gegen Bahrs Anschuldigungen (BrTS). Er schickt Bahr ein Exemplar zu und hofft auf die Reaktion des gebildeten Publikums der Zeit, das sich nach seiner Meinung aus den'geistig hervorragendsten Kreisen" zusammensetzt (BrT6). Specht, in der literarkritischen Tradition Bahrs, feiert darin Saar als einen der ersten, die, ohne daß der Begriff der Heimatkunst schon existierte, mit seinen Novellen ein bleibendes Bild Österreichs geschaffen habe, vgl. Specht. Vgl. auch den bezeichnenden Artikel Bahrs Die Entdeckung der Provinz in : Bildung, S. 190. Mit Blick auf die Gestalten vermerkt Specht, daß Saar "enttäuschte Menschen, singuläre Individuen, die Tragödie einer fixen Idee oder einer Schrulle, und die Komödie einer
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arbeitete Bahr schon nicht mehr für die Zeit, die er 1899 verlassen hatte, um durch seine Arbeit beim Neuen Wiener Tagblait ein größeres Publikum für seine kulturpolitischen Ideen zu gewinnen126. Bis zum Tode Saars bleibt er jedoch dem Dichter treu und feiert ihn weiterhin in seinen Aufsätzen als den Lehrmeister der Moderne127. Die Zeit wird 1902 Saars Erzählung Die Heirat des Herrn Stäudl publizieren.
e. Die Rezeption 1894-95 Wie aus den Ausführungen über Saars Beziehungen zu Bahr ersichtlich wurde, stellte sich für den Dichter die Erstveröffentlichung des Fridolin in der Zeit als beste Lösung dar. Während Saar schon in Verhandlungen mit Bahr steht, versucht er erneut die Verkaufsrechte seiner Werke mit Cotta zu regeln (BrWIO). Mit diesem Verlag stand er noch in geschäftlicher Beziehung, well er einen zweiten Band des Bauernfeld-Nachlasses plante (BrWIO). Saar bietet dem Verlag alle bisher erschienenen Schriften zum Kauf an, inklusive des Fridolin und der Ninon, allerdings nicht wie von Cotta gewünscht, für einen Abdruck in der "Romanzeitung", d. h. dem Musen-Almanack, sondern nur für die Gesamtausgabe seiner Werke (BrÖ2). Hinsichtlich des Fridolins setzt Saar den Verlag darüber in Kenntnis, daß die Novelle bei der neuen Wochenschrift Die Zeit veröffentlicht wird. Die große Verbreitung der Wochenschrift auch ins Ausland muß Saar als unbedingten Vorteil gegenüber der Cottaschen Zeitung ansehen (BrM8). Auch diesmal kommt es jedoch nicht zur Einigung. Der Verlag Cotta ist nicht bereit, das Verlagsrecht für alle Schriften Saars für eine feste Summe zu erwerben (BrW12). Aufgrund einer für das Jahr 1893 ziemlich gut ausgefallenen Verlagsabrechnung sieht Saar seinerseits keine ideale Ausgangslage für eine Verhandlung mit seinem Verleger (BrM9), und so verbleibt er vorläufig beim Verlag Georg Weiß. Was nun das auslaufende Jahr 1894 betrifft, so muß Saar erneut einen Rückschlag hinsichtlich seines Volksstückes Eine Wohltat hinnehmen128. Nach einer Leseprobe zieht Saar das Stück zurück, da er der Meinung ist, daß die Schauspieler ihm keine
Lebenslüge", hier dürfte der Fridolin gemeint sein, dargestellt habe. 126
Vgl. Farkas, S. 67 und (BrW4).
So schlägt er in seinem Aufsatz Conference Saar und die Ebner als Autoren vor, um das Publikum zu bilden, vgl. Bahr: Bildung, S. 130. Schon seit dem Vorjahr war die Aufführung seines Volksstücks geplant, im Herbst sollte das Stück nun auf den Brettern des Raimundtheaters seine Premiere haben. MQller-Guttenbninn, der Saar sicherlich wohlgesonnen war, hatte die Inszenierung des Stücks übernommen (BrW25) und wollte es am Geburtstag Saars im Raimundtheater geben.
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ausreichend liebevolle Behandlung zukommen ließen129. Um so mehr bedeutet Saar seine Publikation in der Zeit, wenn auch diese Art der Veröffentlichung das geschlossene Kunstwerk eher zerreißt und auch eine ungestörte Lektüre verhindert. Zum Teil klagen Saars Bekannte darüber, daß sie nicht alle Teile haben lesen können, und so wächst die Ungeduld, die Novelle als Ganzes, in Buchform lesen zu können130. Selbst sein Verleger Weiß kennt die Novelle noch nicht, denn die Zeit ist in Heidelberg nicht zu haben: Also eine lustige Geschichte? Das ist ja etwas ganz Neues, da wird der neue Novellenband einen besonderen Reiz bekommen und ich freue mich schon der Zeit, da es mir vergönnt sein wird, ihn ausgeben zu dürfen. Zu Ostern doch wohl? Vergebens habe ich hier auf die Zeit gefahndet [...] und so muß ich mich wohl gedulden bis später, um den Herrn Fridolin kennen zu lernen (BrW74). So fehlen eingehende Kritiken, nur die engsten Kreise um Saar sind über das Erscheinen der Novelle informiert und man gratuliert dem Autor zu seinem Werk. Auf eine Anfrage von Franziska von Wertheimstein antwortet Saar zu seiner Hauptfigur: Froh bin ich, dass Ihnen der Fridolin gefallen, - trotz zerstückelten Lesens. Ja, diese echte Dienerseele ist nach dem Leben gezeichnet (BrAl). Wie weit dieses "nach dem Leben gezeichnet" zu fassen ist, zeigte die Entstehungsgeschichte. Das Lob galt also der realistischen Darstellung. Selbst die Ebner hatte die Lektüre des Fridolin in der Zeit aufgegeben, da ihr der Druck in der Wochenschrift gar zu "miserabel" (BrW19) erschien. Immerhin hatte der Anfang sie entzückt, und so kann auch sie es kaum erwarten, die Novelle in Buchform vorliegen zu haben (BrW19). Die Rückantwort des Dichters an seine
129
Vgl. Saar an E. Reichel, 3. Oktober 1894, Briefe Reichel, S. 34. Eugen Reichel war Journalist und Schriftsteller. Als solcher veröffentlichte er im Heimgarten einen Artikel gegen die "Ausländerei in der deutschsprachigen Literatur". Er hatte Saar in den achtziger Jahren, als er noch in Wien tätig war, Sonnette übersandt, jedoch keine Reaktion erhalten. Zu seinem 60. Geburtstag sendet er Saar ein Glückwunschschreiben, und ein Briefwechsel von etwa einem Jahr beginnt. Saar bricht den Kontakt ab, nachdem Reichel eine Kritik in den Hamburger Nachrichten über seine Gedichte veröffentlicht hatte, die dem Dichter wohl mißfallen hatte. 130
Saar übersendet so z. B. dem Minister Unger die Ausschnitte aus der Zeit (BrW64) und bedauert, daß von seinen neuesten Schriften noch keine Exemplare vorliegen (BrDl). An Milow schreibt er : "Meine Novelle Fridolin kann ich Dir für den Augenblick nicht schicken, da ich nur ein Exemplar besitze und dieses für die "Herrschaft", die dieser Tage auf Blansko [...] kommt, reservieren muß. Die Geschichte als Buch abzuwarten, würde zu lange dauern, da ich sie allein nicht erscheinen lassen kann und andere Stücke, um einen halbwegs anständigen Band hervorzubringen, werden noch fehlen. "(BrW31). Karl Pröll klagt Saar gegenüber, den Fridolin nur in der Novemberausgabe gelesen zu haben (BrWSl).
100
Kollegin klingt allerdings verzagt, fast mutlos, was mit der geringen Reaktion der Öffentlichkeit auf sein neuestes Werk zusammenhängen mag: Am Fridolin ist nicht viel. Ein buntes Ergänzungsbild zu den Novellen aus Oesterreich (BrWIS). Erste Kritik am Inhalt und an der Darstellungsweise wird von aristokratischer Seite laut. Fürstin Hohenlohe vermutet hinter dem Fridolin eine Auftragsarbeit für die Zeit, die schon kurz nach ihrem ersten Erscheinen in der Öffentlichkeit, und wohl gerade in Adelskreisen, als sehr liberal, ja sozialistisch in ihrer politischen Richtung eingestuft wurde: Ich habe Ihre Novelle in der Zeit gelesen. Ist sie nicht eine Konzession an die Realistik der Zeit! Die Staffage habe ich natürlich erkannt, aber sie hätte verdient, breiter behandelt zu werden. Mancher schroffer Zug der Bedientenexistenz berührt unerquicklich! Entschuldigen Sie die unumwundene Aufrichtigkeit Ihrer treuen Kritikerin131. Mit dieser Reaktion scheint Saar gerechnet zu haben, wenn man sich seiner Äußerung gegenüber Hofmannsthal erinnert, daß er so lange nicht habe offen aussprechen können, was er meine132. Auch seine Bedenken gegenüber einer Veröffentlichung der Novelle im Musen-Almanach ließen sich darauf zurückführen, daß Saar die konservative Einstellung des Lesepublikums befürchten mußte. Gegenüber der Fürstin Hohenlohe rechtfertigt er jedoch seine Publikation, um nicht dem Vorwurf, etwa zum subversiven Autor geworden zu sein, auf sich ruhen zu lassen: Daß Ihnen der Fridolin nicht recht behagen will, bedauere ich sehr. Es war gar keine Absicht dabei - ich wollte mich einmal humoristisch versuchen - bin aber, so scheint es, satirisch geworden. Die teuere Fürstin Salm [ihr Schloß Raitz war die Staffage] kannte noch den Anfang - das Weitere konnte sie leider nicht mehr vernehmen. Die Novelle war längst vor dem Inslebentreten der Zeit fertig. Sie wollte mit einer belletristischen Arbeit von mir eröffnen und so gab ich sie hin. Ich kannte damals das Programm gar nicht. Ich selbst halte übrigens nicht viel von Fridolin; er muß eben mit den anderen und zwischen ihnen seinen Weg gehen133. Offensichtlich legt es Saar nicht darauf an, seine neueste Novelle zu verteidigen, zumal es gerade die Fürstin Hohenlohe war, die seinen Weg fort von Innocens und Marianne künstlerisch am wenigsten akzeptierte, so schon bei ihrer Kritik der
131
Vgl. Fürstin Hohenlohe an Saar, 13. März 1895, Briefe Hohenlohe, S. 226.
132
Vgl. Saar an Hofmannsthal, 25. März 1893, Briefe Hofmannsthal, S. 275.
133
Vgl. Saar an Fürstin Hohenlohe, Karsamstag 1895, Briefe Hohenlohe, S. 227-228.
101
Schicksale134. Schon damals rechtfertigte Saar seine Darstellungsweise mit dem Verweis auf die eigene Zeit. Da sie eine "realistische" sei, müsse der Künstler auch den realistischen Gegebenheiten Rechnung tragen. Aber das heißt für Saar nicht, daß er zum platten Naturalismus herabsinken will, das Stichwort seiner Darstellungsweise bleibt der "künstlerische Realismus"135.
3. DIE VERÖFFENTLICHUNG DES FRIDOLINm WIENER-NEUJAHRS-ALMANACHFÜR DAS JAHR 1896 (J2) a. Der Wiener Almanack Für Saar beginnt das neue Jahr 1895 wenig zuversichtlich. Er klagt über ein "Gewitter von Widerwärtigkeiten", das über ihn hereinbricht (BrWe2) -, daher wohl auch seine eher düstere Stimmung angesichts seines eigenen Schaffens. Auch seine neueste Novelle Requiem der Liebe bezeichnet er gegenüber Adolf Pichler als ein "lahmes Prosawerkchen" (BrWe2). Solche 'raunzigen' Äußerungen, wie sie für Saar nicht untypisch waren, dürfen daher nicht als gültige Werturteile des Dichters gelten. Trotz solcher Bedenken drängt Weiß ihn, wieder ein neues Werk in Druck zu geben. Die letzten Absatzzahlen für das Jahr 1894 waren nicht so günstig wie erhofft ausgefallen (BrW76). Eine neue Publikation hingegen, so schätzt Weiß das Publikum ein, würde wieder einen Auftrieb bedeuten: Das thut mir aber leid, daß es mit dem Epos nichts ist, ich hatte mich so darauf gefreut. Und auch der neue Novellenband scheint mir in einige Ferne gerückt. Schade (BrW75). So bleibt im Jahr 1895 eine neue Veröffentlichung von Saar aus. Die Herausgabe des Novellenbandes mit drei neuen Erzählungen, Fridolin, Ninon und Requiem, wird dagegen für den Herbst des folgenden Jahres 1896 vorbereitet (BrWe3). 134
Vgl. Fürstin Hohenlohe an Saar, 14. September 1887, Briefe Hoheniohe, S. 182: 'Dort glimmt überall [d. h. in den Novellen aus Österreich} in den traurigsten, beinahe verkommenen Gestalten der rettende ideale Funke, in diesen Novellen ist er ganz erloschen, die Dissonanz des Schmerzes findet keine Auflösung, die bangende Seele keine Erlösung vor dem brutalen Naturgesetz". 135
102
Vgl. Saar an Fürstin Hohenlohe, 24. September 1887, Briefe Hohenlohe, S. 184.
Neben diesem Projekt scheint sich Saar aber auch zum erstenmal mit der Absicht getragen zu haben, seine Erinnerungen zu verfassen. Sie sollten sich, ähnlich denen von Eduard von Bauernfeld, mit bekannten Persönlichkeiten beschäftigen - man denke an seine Würdigungen an Moritz Schwind13* - und mehr eine Schilderung der durchlebten Epoche sein. Saar hatte also die Anregung Bahr s, seine Erinnerungen niederzuschreiben, durchaus ernst genommen, wandte sich zunächst mit dem Plan nur an Anton Bettelheim, aber zu einer Niederschrift kam es nie (BrÖ3). Neben der Fertigstellung des Requiems überarbeitet Saar nun seinen Fridolin für eine zweite Veröffentlichung. Da weitere Erzählungen für eine Buchausgabe fehlen, nimmt er das Angebot des Wiener-Neujahrs-Almanach für das Jahr 1896 an. Mit dieser Publikation in einem Kollektivband mit rein literarischen Werken erreicht der Fridolin ein anderes, auf Wien zielendes Publikum. Diesmal ist eine durchgehende Lektüre gewährleistet, was für die Wirkung des Erzählflusses von großer Bedeutung ist.
Der Wiener Almanack erscheint seit 1892 alljährlich im Auftrag der Wiener Commune, zunächst beim Verlag Wallishauser, mit dem Saar u. a. durch die Nachlaßverwaltung von Bauemfelds Werken in Kontakt steht, ab 1893 dann bei Ludwig Rosner in Wien137. Die Anregung für eine Veröffentlichung des Fridolin im Almanack dürfte seinem Redakteur Heinrich Glücksmann zu verdanken sein, den Saar als Mitglied der Grillparzer-Gesellschaft kannte. Der Almanack, der sich als "Jahrbuch für Literatur, Kunst und öffentliches Leben" bezeichnet, verfügt über zwei Rubriken und eine Kunstbeilage. Im ersten Teil bietet er Gedichte und kurze Prosastücke, im zweiten Beiträge zu Theater, Reisen und Sport. Im Gegensatz zum Cotta'schen Musen-Almanach zählen die Autoren durchweg zu den renommiertesten. So veröffentlichten Eduard von Bauernfeld, Carola Bruch-Sinn, Marie von Ebner-Eschenbach, Ludwig Ganghofer, Alfred Klaar, Peter Rosegger und Bertha von Suttner im Wiener Almanack13*. Der Wiener Neujahrs-Almanack1*9 für das Jahr 1896 gilt einem karitativen Zwecke. Der Erlös des Verkaufs soll den Armen der Stadt Wien zugute kommen. Man kann daher vermuten, daß diese Sonderausgabe einen höheren Absatz bei den finanziell besser Gestellten der Stadt findet. Diesmal jedoch veröffentlichen außer Saar wenig
Vgl. Bauernfeld: Aufsätze, Zum Gedenken von Moritz Schwind. 137
Vgl. Dietzel, Bd. 4, S. 1298-99.
138
Vgl. Beiträge von der Ebner: Fräulein Susannes Weihnachtsabend, Herbst im Wienerwald von Freiherr Alfred von Berger, Ada Christen mit dem Gedicht Herbst im Wiener-Alamanach für das Jahr 1895. 139
Diese Sonderausgabe erschien beim Verlag des Magistrat-Präsidiums.
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bekannte Autoren, allein Jakob Julius David fallt mit zwei Gedichten positiv auf140. Die meisten Beiträge zeichnen sich durch einen stark rührseligen Ton aus, der mit der gemeinnützigen Zielsetzung dieses Projekts in Einklang steht, aber zugleich das literarische Niveau drückt. Obwohl die Dorfgeschichte von Hans Fraungruber und die Vorstadtgeschichte von Gustav Andreas Ressel mit Motiven arbeiten, die im Fridolin ebenfalls auszumachen sind - Tod des unehelichen Kindes aus Unachtsamkeit, Motiv des Sitzengelassenwerdens, Ehe unter Dienstboten -, kommen ihre Autoren über die z. T. krassen und trivialen Schilderungen nicht hinaus. Es mag an dieser ungleichen Zusammenstellung der Beiträge gelegen haben, daß auch diese Veröffentlichung des Fridolin auf kein allzu großes Echo in der Öffentlichkeit stieß. Zumindest fehlt es an Reaktionen in der Presse und im Gegensatz zur Veröffentlichung in der Zeit auch an Kommentare aus Saars engerem Bekanntenkreis.
b. Die Überarbeitung für den Wiener-Neujahrs-Almanach Ein Vergleich zwischen der Erstausgabe von 1894 (J1) und der zweiten Fassung (J2) von 1895 ergibt auf den ersten Blick Änderungen von grammatischer, stilistischer und inhaltlicher Art. In grammatischer Hinsicht fallen folgende Veränderungen auf: die spätere Fassung - und die dritte fogt ihr - ersetzt häufig das Komma durch andere Satzzeichen, zumeist in der direkten Rede oder in der Erzählung Fridolin s, um so den Redefluß besser zu strukturieren141. Groß- und Kleinschreibung142 und Doppelt- und Einfachkonsonanz werden von J1 zu J2 verändert. Die Orthographie der Fremdwörter stellt vor besondere Schwierigkeiten. Fehler in der Schreibweise können vom Autor beabsichtigt sein, um die Sprechweise seines Helden zu charakterisieren. So bleibt in Fassung J2 das falsche "Chateau Margeaux" (V 12,27) stehen und wird erst in der Fassung Hr verbessert. In diesem Zusammenhang bezeichnet Fridolin dann auch den Champagner als "Grand mousseux", Das Inhaltsverzeichnis fuhrt folgende Beiträge auf: Ferdinand von Saar: Einem Zeitgenossen (1884) - Herr Fridolin und sein Glück; J. J. David: Zwei Schwestern - Wächterlied (Gedichte); Hermann Hange: Nun ist's so still - Grauer, o stiller Tag - Sommergram-Sommertrost (Gedichte); Ludwig Hevesi: Eine Stunde Allwissenheit (Kurzerzählung); Friedrich Beck: Roman - Stoa (Gedichte); Hans Fraungruber: Schuldig!-? Eine Dorfgeschichte; Gust. Andr. Ressel: Stiller Nord. Eine Vorstadtgeschichte; Wolfgang Madjera: Die Geburtstagsnacht (Kurzerzählung); Friedrich von Radler: Bacchus, der Löwenbändiger (Gedicht). 141
"Das Herz stand mir still vor Angst, aber ich ließ es nicht merken." J1 (V 20,29) in "Das Herz stand mir still vor Angst. Aber ich ließ es nicht merken[...]" J2. 142
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Vgl. niemand J'(V 11,25) zu Niemand (J2).
was zwar einerseits seine Fremdsprachenkenntnisse zeigt, andererseits von ihm nicht als die Bezeichnung für die Art der Kelterung dieses Getränkes erkannt wird. Denn ein grand mousseux ist ein Schaumwein, also das Ordinäre' Gegenstück zum Champagner. Weiter entpuppt sich somit das Getränk der Adligen als das entsprechend wertvollere Gegenstück zum 'schaumigen' Naß des gemeinen Volkes, dem Bier. Die Veränderungen auf stilistischer Ebene sind eklatant und dürften mit Saars klassischem Stilempfinden zu erklären sein. Zeigte die Erstfassung deutlich die Absicht des Autors, seine Figuren durch ihre Sprache als Vertreter des vierten Standes zu charakterisieren und ihnen dadurch nicht nur eine "naturalistische", sondern auch eine volkstümliche Note zu geben, so nimmt Saar in der Fassung J2 z. T. diese Nuancen wieder zurück143. Nun wirkt der Stil in J2 streckenweise überfrachtet144, so setzt Saar z. B. an die Stelle des einfachen "sämtliche" (V 11,15) das geschraubte "aller in Gebrauch stehenden Lampen". Aber auch dieser Stil soll nur der Hauptfigur gerecht werden, die eben in solch behäbiger Weise von ihrem Beruf spricht, so daß der Erzähler sich dieser Sprechweise ebenfalls bedient145. Insbesondere den Reden seiner beiden Hauptfiguren hat Saar große Sorgfalt gewidmet. Er gestaltet sie in J2 flüssiger, einfacher, der jeweiligen seelischen Verfassung angemessener. Lange hypotaktische Sätze werden in kurze Parataxen verwandelt146. Diese stilistischen Eingriffe lassen Milada in der zweiten Fassung resoluter auftreten, sie drückt klarer aus, was sie will, wodurch auch Fridolins Position noch besser herausgestrichen ist147. Stilistische und zugleich inhaltliche Veränderung bietet die Vorstellung des Helden: Fridolin wird in Superlativen präsentiert, eine zusätzlich ironi-
143
Vgl. Apokope wird von J 1 zu J2 aufgehoben: "Mein'twegen" J 1 (V 28,9) zu "Meinetwegen" J2, und in Hr rückgängig gemacht. Im Kapitel über die Sprache des Helden wird noch näher auf diesen Stil eingegangen. 145
Vgl. die Umwandlung der Anrede Gräfin Mutter J 1 (V 12,17) in das noch förmlichere Frau Gräfin-Mutter. Dann wiederum wird das eher dialektale "Rahm "J1 (V 18,30) gegen "Schlagsahne" eingetauscht. 146
Vgl.:"[...] und hast mich's am Anfang auch merken lassen" J 1 (V 28,1) in "Hast mich's auch anfangs merken lassen". "In deiner Bedenklichkeit hast du gefürchtet, es könnte dich in Verruf bringen" J 1 (V28.3-4), hier streicht Saar ersatzlos die "Bedenklichkeit", obwohl oder vielleicht gerade weil sie so exakt das Verhalten Fridolins charakterisiert. Der Begriff scheint aber auch für das Dienstmädchen zu hoch gegriffen. Ahnlich liegt der Fall bei folgender Korrektur: "Endlich hast du dich ganz von mir abgekehrt, weil du des jungen Herrn Bedienter geworden bist" J 1 (V 28,4), tatsächlich ist diese Genitivkonstruktion für Miladas Rede zu schwerfällig, und so ersetzt sie Saar durch den Nebensatz: "Und als du beim jungen Herrn Bedienter geworden bist, hast du dich ganz von mir abgekehrt". 147
"Nicht wahr, du wirst mich nicht verlassen, ich hab' dich ja auch noch gern" in "Und ich hab' dich ja auch noch gern" fuhr sie fort. "Darum wirst du mich nicht verlassen" J 1 (V 29,12). Bei der zweiten Fassung wird Fridolin suggeriert, weil sie ihn liebt, muß er bleiben. Die erste geht davon aus, daß er sie nicht verlassen will, und daß es daher noch um so besser ist, daß Milada ihn auch noch liebt.
105
sehe Note des Erzählers14*. Die Rede Fridolins wird von Saar nun so zurechtgefeilt, daß kein Zweifel mehr hinsichtlich sowohl seiner Arroganz als auch der vollkommenen Ergebenheit in seinem Beruf aufkommen kann149. Daneben unterstreicht Saar in der zweiten Fassung die 'humoristische' Note, wie er es nannte, wiederum durch den Sprechstil Fridolins150. Erstaunlich angesichts der Kritik der Fürstin Hohenlohe ist nun die inhaltliche Änderung, die Saar bei dem Bericht Miladas vom Tode ihres Kindes gibt. So heißt es in der Erstfassung: Als ich beim ersten Dämmern hingieng, um nachzusehen, war es schon todt. Aber was weißt du! (V30.4). Die Fassung im Almanack lautet hingegen: Und da hab' ich den Kopf verloren und hab's im Nachbargarten verscharrt, wo man's gefunden hat. Aber was weißt du (V30.2-4). Die 'naturalistische* Beschreibung ist ganz offensichtlich verstärkt worden. Saar mildert also nicht die 'unerquicklichen Seiten'. An anderer Stelle wird die Passage über den Besuch des reichen und mächtigen polnischen Fürsten auf das Wesentliche gekürzt. Was bleibt, ist die Konfiguration der Personen und ihre Heiratspläne: so wie sich die Heirat zwischen dem Magnaten und der Comtesse zerschlägt, so löst auch der polnische Valet sein Heiratsversprechen Milada gegenüber nicht ein. Aufgrund der dargelegten Varianten kann man die Version des Wiener-Neujahrs— Almanack als die sprachlich und stilistisch ausgefeiltere betrachten.
148
Vgl.: "[...] mit einem verständnisvollen Eifer, welcher von der plumpen Fahrlässigkeit seines Vorgängers überraschend abstach" J1 (V 11,17) in J2 "auf das überraschendste". "So erfreute er sich im Schlosse bald der allgemeinen Beliebtheit" J'(V 11,20) zu "der allgemeinsten Beliebtheit" J^V 11,26). So wird der Zug des Perfektionismus beim Diener noch herausgestrichen. 149
Vgl.: "[...] obgleich selbe höchst wichtig sind, und man sich auch in dieser Richtung hin durch besondere Geschicklichkeit sehr auszuzeichnen vermag" J'(V 19,10) wird klarer in J2 "obgleich dazu Eigenschaften erforderlich sind, von denen so irgend ein hochnäsiger Bursche keine Ahnung hat", hat Fridolin in der ersten Fassung nur seine Qualitäten unterstreichen wollen ,so zeigt die zweiten Fassung, daß er sich gegen Angriffe verwahren will. 150
Vgl.: "[...] der voraussichtlich der erwartete Sohn und Stammhalter sein wird" J'(V 21,8) in die plastischere Ausdrucksweise "der bereits auf dem Wege ist und voraussichtlich der erwartete Stammhalter sein wird". Näheres zu Fridolins Sprache vgl. Kapitel Redestil.
106
4. DER DRUCK IM NOVELLENBAND HERBSTREIGEN 1897, REGTE 1896(HR).
a. Die Überarbeitung für den Herbstreigen Da auch die zweite Veröffentlichung des Fridolin im Wiener-Neujahrs-Älmanach vorerst ohne Resonanz für ihren Autor in der Presse bleibt, folgt Saar dem Drängen seines Verlegers, einen weiteren Novellenband zu veröffentlichen. Das Requiem hatte Saar schon Ende 1895 fertiggestellt, und so kann er erneut drei Novellen für eine Ausgabe zusammenstellen: die schon 1892 verfaßte Ninon, den Fridolin und das Requiem der Liebe. So beginnt Saar Ende 1895 mit der Korrektur der Novellen, um sie frühzeitig seinem Verleger abzuliefern. Dieser hatte nämlich den Plan einer erweiterten Wiederauflage der Novellen aus Österreich ins Auge gefaßt, so daß Saar auch seine übrigen bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten Novellen überarbeiten muß. Da sein Epos Die Pincelliade noch nicht abgeschlossen ist, er zudem schon die nächste Novelle in Angriff nimmt, beginnt für ihn das Jahr 1896 arbeitsreich (BrW78). Um nicht ins Gedränge zu kommen, vereinbart Saar mit Weiß die Herausgabe des neuen Novellenbands in der zweiten Hälfte des Jahres 1896 (BrW79). Bei der Ausgabe für den Herbstreigen folgt Saar im großen und ganzen seiner Korrektur des Fridolin für den Wiener-Neujahrs-Almanack, nur an wenigen Stellen greift er in die Orthographie ein oder nimmt nochmals stilistische Verbesserungen vor151. Inhaltliche Umänderungen lassen sich nur an zwei, dafür aber interpretatorisch aufschlußreichen Stellen, ausmachen. Aus dem spiegelglatten Teich mit zwei Booten J2 (V 27,14) wird ein spiegelheller mit kleinen Booten und das Gasthaus zur "Glocke" J1, J2 (V 38,10) wird umbenannt in das Gasthaus zur "Krone"152. Die Charakterisierung der Hauptfiguren ist im ganzen pointierter gestaltet, der Erzählfluß durch Streichungen gerafft und die Psychologie der Figuren stärker herausgearbeitet worden.
151
So gestaltet er Fridolins sehnsuchtsvolles Warten im Gasthof in jeder Ausgabe neu um: Empfindet es Fridolin beim erstenmal als unangenehm, so ärgert er sich in f und Hr "denn ich hatte schon große Sehnsucht nach ihr empfunden" J2 · "denn ich hatte trotz allem schon große Sehnsucht und konnte es kaum noch erwarten sie bei mir zu haben* Hr(38,30). 152
Vgl. S. 329 und S. 206.
107
b. Die Veröffentlichung des Herbstreigens Auf den ersten Blick mag der Titel der neuen Novellensammlung, in der der Fridolin veröffentlicht wird, nichts mit dieser 'Dienergeschichte' gemein haben. Saar wird später gegenüber Altmann die Wahl des Titels damit erklären, daß er das Bild Herbstreigen von G. Max vor Augen hatte. Ähnlich diesem erschienen seine Personen in den drei Novellen im wechselnden Licht des Herbstes153. Ende des Frühjahrs liegt Weiß das Manuskript des Herbstreigens vor, wodurch er zum erstenmal auch die anderen beiden Novellen kennenlernt: Die neuen Novellen gefallen mir sehr gut. Ganz vorzüglich finde ich das Requiem der Liebe, ein Meisterstück seelischer Schilderung, aber abscheulich gegenüber den Frauen, die auch in den anderen beiden Novellen schlecht wegkommen. Ich bin sehr begierig, wie der Band aufgenommen werden wird. Gut ist es jedenfalls, daß einmal wieder etwas Tüchtiges von Ihnen erscheint, ich denke, das wird auch mit den ändern Bänden aufräumen (BrWSO). Dies zeigt, daß der Verleger gleich erkannt hat, daß Saar mit diesen Novellen sich zunehmend von seinen Erstlingswerken distanzieren wollte und damit aber auch sein bisheriges Publikum vor den Kopf stoßen könnte. Diese Novellen schienen also für die Damenwelt auch nach Ansicht Weiß nicht mehr so recht geschaffen, da die Frauengestalten des Herbstreigens mit Marianne oder der Geigerin Ludovica nichts mehr gemein haben. Mit großem Interesse, vor allem aber aus finanziellen Überlegungen heraus, sieht Weiß der Publikation des Herbstreigens erwartungsvoll entgegen. Da die Elegien und auch der Innocens, die Weiß als seine "Zugpferde" ansieht, im Vorjahr keine Einnahmen für den Verlag erbracht haben, erhofft er sich nun mit dem Herbstreigen einen neuen Auftrieb. Ende August teilt er Saar mit, daß er in den nächsten Tagen den neuen Novellenband dem Buchhandel ankündigen werde und er eine Liste von Saar für die Freiexemplare und für die Kritiker erwarte (BrWSl). So erscheint zum Herbst 1896 der Herbstreigen. Drei Novellen (Der Novellenfänfie Sammlung) mit der Jahreszahl 1897. Dies sollte bis zum Tode Saars die letzte Ausgabe des Herbstreigens, d. h. der in ihm sich befindenden Novellen, bleiben. Da dieser Band einen so guten Absatz fand, wurde er zunächst für sich allein verlegt und nicht in die Ausgabe der Novellen aus Österreich in zwei Bänden von 1897 mitaufgenommen, ebenfalls auch nicht in die drei- und viertausendste Auflage von 1904. Erst für die Gesamtausgabe seiner Novellen ist auch der Herbstreigen wieder vorgesehen154. Im ersten Jahr seines Erscheinens findet der Herbstreigen einen sehr guten Absatz,
108
153
Vgl. Saar an Altmann, 6. November 1896, Briefe Altmann, S. 67.
154
Vgl. Minor in SW 12, S. 7 und HsW4.
der allerdings ein Jahr später, d. h. 1897, um die Hälfte zurückgeht und dann ständig sinkt. Die zweite Auflage der Novellen aus Österreich hingegen weist zur gleichen Zeit zwar niedrigere, aber stabilere Absatzzahlen auf155. Im Dezember 1896 kann Weiß daher zuversichtlich an Saar schreiben: Mit dem Absatz des Herbstreigens bin ich nach wie vor zufrieden. Er geht lebhafter als einer der früher erschienen Bände und auch, wenn auch in bescheidenem Maße, mehr nach Außer-Österreich als seither(BrW82).
155
Saars private Auflistung verzeichnet 1896 für den Herbstreigen 435 Exemplare für 1897 177, dann 52 Exemplare; für die Novellen aus Österreich 1897 279(1. Bd) Exemplare und 289(2. Bd) Exemplare, 1899 jeweils 130/107 Exemplare. Was den Versand ins Ausland betrifft, so informiert Weiß Saar näher darüber. Gerade der Herbstreigen fände nun auch in Deutschland unerwarteten Absatz, so sei aus Köm eine Partiebestellung eingegangen. Besonders wichtig sei jedoch Berlin. In der K. und K. Monarchie hingegen seien es Brunn, Prag, Graz und Salzburg, die seine Werke anforderten vgl. (HsW4).
109
c. Die Rezeption des Herbstreigens a. Der Herbstreigen und die 'Moderne' Noch bevor der Herbstreigen in Druck kommt, setzt sich Saar mit dem ihm vertrauten Kritiker der Münchner Allgemeinen Zeitung Moritz Necker in Verbindung. Saar informiert ihn über seine neuesten Novellen, und es entspinnt sich ein Gespräch über den Schaffensprozeß des Künstlers. Hinsichtlich seiner letzten Werke äußert sich Saar: [...] wie ich denn nie ohne Modelle arbeite [in bezug auf das Requiem], sondern (das Zeugnis müssen Sie mir geben) bis in die Fingerspitzen hineinfahre und darstelle156. Zwischen dem Dichter und dem Kritiker kommt es zu einer Diskussion über die Moderne, die Saar gegenüber Necker verteidigt. Nach einer ersten Lektüre des Herbstreigens urteilt nämlich Necker: Ich weiß jetzt nun, warum Sie vermuteten, daß meine ablehnende Haltung gegen die Moderne mir geschadet hätte. Sie sind nämlich selbst "modern" geworden. Soweit Ihr neues Buch Herbstreigen. Aber merkwürdig, Ihr Buch hat mir sehr gefallen; das Requiem schon nach der ersten Lektüre, die zwei anderen lernte ich erst jetzt kennen, aber sie gefielen mir auch, wenn sie auch nicht so vollkommen wie das Requiem sind. Das "Moderne" in Ihnen habe ich ja schon vor mehreren Jahren erkannt und betont [...]. Ihr Herbstreigen ist wohl Ihr schönstes Buch, wenn Sie jetzt nicht, wo Sie in so einziger Weise alt und modern verschmolzen haben, nicht auch beim Publikum zünden sollten, wie bei den Kennern, so müßt's mich sehr Wunder nehmen (BrW48)157. Necker hatte sich zuvor an den Verleger Weiß gewandt und von diesem die Druckbögen zum Herbstreigen erhalten. Nun plante er eine Besprechung rechtzeitig zur Neuerscheinung der Neuen Freien Presse anzubieten. Dort wollte er eine Reihe über österreichische Erzähler veröffentlichen, darunter auch Saar (BrW48)158. Hinsichtlich des 156
Vgl. Saar an Necker, 30. April 1896, Briefe Necker. Necker nimmt hier auf seinen Artikel in der Münchner Allgemeinen Zeitung vom Jahr 1892 Bezug, worin er als typisch für Saars Modernität die Behandlung realistischer und politischer Themen lobte. Er kannte das Requiem wohl schon im April des Jahres 1896. Angesichts dieses überschwenglichen Lobes seines Herbstreigens sieht sich nun wiederum Saar genötigt, Neckers Enthusiasmus zu zügeln, damit auch weiterhin noch seine anderen Novellen gelesen werden (BrW45). 157
110
Begriffes der 'Moderne' fühlt sich Saar von Necker nicht verstanden. Leider will er diese Frage nur mündlich klären, so daß uns hier Saars Meinung nicht überliefert ist (BrW45). Am 18. November erscheint der angekündigte Artikel von Necker in der Neuen Freien Presse. Tatsächlich grenzt Necker hierin die Richtung der 'Moderne* gegen den Realismus ab. Den Unterschied meint er in der Stellung des Dichters zu seinem Thema zu entdecken. Nicht mehr um realistisches Abschildern nach dem Grundsatz, man solle das Volk bei der Arbeit aufsuchen, handelt es sich, sondern im Zeitalter des "übersättigten Realismus" zeige der Dichter das Bedürfnis, sich über das Dichten zu äußern: Von Dichtern, von Literatur und Kunst erzählen auch die neuen Novellen von Saars Herbstreigen'59. Im folgenden wird nun deutlich, was Necker unter "modern" versteht und warum Saar dem nicht zu folgen gewillt war. Die neuen Novellen sind für Necker ein Zeichen dafür, daß Saar sich mit der 'Moderne* beschäftigt habe und er bestrebt sei, mit der Zeit zu gehen. So habe er sich z. B. in der Form manchen Fortschritt der 'Moderne' angeeignet, so die Art des Schlusses, aber nicht überall sei ihm das gelungen, am wenigsten im Fridolin: [...] man möchte vermuten, daß Saar den Versuch machen wollte, einmal im Geiste Ibsens zu schreiben: als Entrüsteter, im Tone grimmiger Verachtung. Aber dafür ist der Wiener Elegiker doch zu weich160. Mehr Zustimmung erhält dagegen die Ninon, die Necker als Lebenserinnerung und schneidige Charakteristik Leopold von Sacher-Masochs lobt. Dem Requiem gilt seine ganze Bewunderung, das mit seinem "Blick in die Verderbtheit" der 'Moderne' am nächsten steht. Trifft Necker mit seinem Urteil über Ninon und Requiem als Künstlernovellen noch eine der Absichten Saars, so verkennt er im Fridolin ganz die Intention des Dichters. Mißverstanden fühlen mußte sich Saar insbesondere hinsichtlich der Behauptung, er suche der 'Moderne' in der Form nachzueifern, denn er hatte schon wesentlich früher mit modernen Verfahrensweisen operiert161. Saar ist so unzufrieden mit dieser Kritik, daß er Necker gegenüber seinen Groll nicht zurückhält und es zwischen den beiden zu Spannungen kommt (BrW46). Weiß, dem Saar seine Entrüstung mitgeteilt hatte, versucht den Schriftsteller zu beruhigen und 159
Vgl. Necker: Herbstreigen. Ebenda. 1 ] Vgl. u. a. die Deutung des Seligmann Hirsch, Marianne und Die Geigerin. Die Wirkung der 'Moderne' zeichnet Saar im Salonleben der Wiener KÜnstlerkreise in der Geschichte eines Wienerkindes nach, insbesondere den Einfluß Wagners. 160
111
verweist auf einen zweiten Artikel Neckers, den dieser in den Blättern für Literatische Unterhaltung veröffentlicht hat (BrW82). Diese Kritik geht tatsächlich genauer auf die neuen Novellen ein, und die einleitenden Worte schließen an die bekannten Kriterien der Literaturkritik an: Saar schildere den Menschen zwischen Leidenschaft und Entsagung, der resignierende Mensch, der Anhänger Schopenhauers interessiere ihn, und seine Novellen seien getragen vom elegischen Tone. Allerdings handele es sich bei diesen Novellen um die "pikantesten", die Saar bisher geboten habe, aber auch in der Form habe Saar sein bisher Höchstes geleistet. In seinen alten Tagen habe Saar eine Wandlung durchgemacht, er sei Humorist geworden. Nach Ansicht Neckers habe Saar im Fridolin ein Motiv, das er sonst tragisch darstelle, komisch gestaltet: [...] niemand kann bessere Caricaturen von großen schönen Bildern machen als ihr eigener Schöpfer162. Necker bezeichnet daher dieses Verfahren als "Künstlerhumor", diesmal errege der Entsagende nicht unsere Achtung, sondern der Leser belächele ihn: Wo die Entsagung ein gutes Geschäft ist, da erscheint sie verächtlich, abgeschmackt, lächerlich. Solch ein Entsagender ist der Herrschaftsdiener Fridolin, ein zum Bedienten geradezu geborener Mensch. Aus purem Pflichtgefühl läßt sich Herr Fridolin Fußtritte ertheilen; aus gehorsamster Ergebenheit heirathet er die Magd, die ihm seine Herrschaft als Frau zugewiesen hat. Seine Geschichte hätte sich freilich noch lustiger und schärfer gestalten können. Aber Saar ist doch noch zu weich geblieben, um dem Tropf Fridolin seinerseits noch einige wünschenswerthe Fußtritte mehr zu erteilen. Immerhin ist die Novelle so munter geschrieben (obwohl sie etwas breiter gerathen ist, als Saar'sehe Novellen zu sein pflegen) daß man sie mit heiterem Vergnügen zu Ende liest163. Was der Fürstin von Hohenlohe zuviel Schärfe war, vermißt hier Necker an satirischer Pointierung. Fridolin verkörpert für ihn den Entsagenden aus Eigennutz, den Philister. Da Necker die Erzählung nur auf ihren realistischen Gehalt hin untersucht hat, stört ihn die Breite der Schilderung, die er nur dadurch zu rechtfertigen vermag, daß Saar in seinen Schilderungen voller realistischer Treue ist und er die Stimmung einzufangen vermag. Der zweite Teil der Rezension schließt an den Artikel in der Neuen Freien Presse an, worin Necker die Affinität Saars zur Moderne schon betont hatte.
162 163
112
Vgl. Necker: Blätter. Ebenda.
Daß Saar andererseits mit Kritik an seinem "neuen" Stil gerechnet hat, beweisen seine Äußerungen gegenüber seinem Freund Stefan Milow hinsichtlich der Veröffentlichung des Herbstreigens und der Pincelliade: Das kleine Epos ist nämlich sehr starker und obendrein etwas ordinärer Tabak, so daß mir hinsichtlich der Wirkung einigermaßen bange wird [...]. Daß der Herbstreigen im Oktober, die Pincelliade im Januar erscheint, habe ich selbst angeordnet. Denn ich halte es nicht für gut, daß zwei neue Bücher auf einmal erscheinen - und nun gar solche von so disparatem Inhalt, wie die meinen (BrW32). Was nun die Kritik betrifft, so beklagt sich Saar gegenüber Milow, daß man sich in den Zeitungen bis in den November hinein zurückhaltend gezeigt habe: Mit meinem Herbstreigen wird's wohl piano gehen. Die Zeitungen beeilen sich keineswegs mit der Besprechung, auch dürften sich die meisten Leser eher abgestoßen, als angezogen fühlen. Die Geschichten sind zu herb. Also hoff ich nicht viel. Dafür hat ein anderer (Wildenbruch) den doppelten Schillerpreis erhalten (BrW33). Saar wird zwar mit seinem Novellenband nicht auf die Auszeichnung dieses Preises gehofft haben, aber immerhin hätte sich sein Fridolin auch als eine Würdigung an den großen Klassiker lesen lassen können. Vor allem wird jedoch deutlich, wie schwer es die 'moderne' Richtung der Literatur in gewissen Kreisen noch hatte.
ß. Abraham Altmann: der einfühlsame Kritiker des Herbstreigens Von einer ganz anderen Seite als der seines adligen Publikums wird Saar Ende des Jahres 1896 Aufmerksamkeit und Bewunderung entgegengebracht. Wenn sich auch der Schriftsteller gegenüber seinem Freund Stefan Milow enttäuscht über die tatsächliche Wirkung seiner großen Geburtstagsfeier geäußert hatte, so war doch eine ihrer Folgen, daß junge Talente bei dem "Meister" nun Rat und gedanklichen Austausch suchten; zu ihnen zählen Eugen Reiche! und vor allem Abraham Altmann164. Dieser sendet Saar im Herbst 1896 eine Kritik seiner Lyrik zu, und von nun an beginnt ein reger Briefwechsel, bei dem Altmann immer wieder sein großes Einfühlungsvermögen und sicheres Gespür für die Kunst Saars beweist165. Ihm kündigt Saar 164 165
Vgl. Charue: Altmann, S. 340-343. Altmann versucht sich selbst in modemer Poesie und schickt Saar zu Beginn das Gedicht
113
das Erscheinen des Herbstreigens für die Woche vom 18. Oktober 1896 an, und er läßt ihm ein Exemplar nach Czernowitz zusenden166. Schon Anfang November nimmt Altmann in einem ausführlichen Brief Stellung zu dem neuen Novellenband. Gleich anderen Rezensenten deutet auch er den Titel Herbstreigen in bezug auf die Stimmung der Erzählungen, in denen man mit Behaglichkeit an Vergangenes zurückdenke167. Altmann untersucht die Novellentechnik Saars und kommt zu dem Schluß: Ihre Novellentechnik möchte ich die subjektive nennen [...]. Denn seine [des Dänen Jakobsen] ist zwar subjektiv, aber lyrisch-subjektiv, während die Ihrige subjektiv-lyrisch ist. Lyrisch insofern, als die Handlung von feiner Stimmung durchduftet ist und ich in ihr auch ein paar versteckte Blumen, ich möchte sagen: Rudimente von Gedichten entdeckt habe168. Was die Anklänge an die lyrische Dichtung betrifft, so arbeitet Altmann in seiner Analyse insbesondere die lyrisch-herbstliche Farbenstimmung einzelner Passagen im Fridolin heraus169. Anstatt naturwissenschaftlich ausufernder Schilderungen bevorzuge Saar eine Technik der "plastischen" Darstellung, d. h. eine eingeschobene Beschreibung läßt Rückschlüsse auf die Psyche der Figur zu170. Dieser Charakterisierung kommt Saars eigener Vergleich seiner Dichtkunst mit der Malerei entgegen: Als Letzterer [Novellist] bin ich Kleinmaler (wie Pettenkofen, der mir allerdings zum Theil in Ninon vorgeschwebt) und österreichischer Porträtist - nicht bloß nach Oben, sondern nach allen Seiten hin. Daher sind auch alle meine Novellen-
Phantasie, das in seiner Symbolik den Modernen in nichts nachsteht , vgl. Charue: Briefwechsel, S. 55-56. Hier entsteht das Bild der Meeresfee vor den Augen des Lesers, die Nixe, Ausdruck der Sehnsucht, der Leidenschaft und Gefahr und zugleich ein lyrisches Pendant zu den drei weiblichen Hauptfiguren im Herbstreigen. 166 Vgl. Saar an Altmann, 11. Oktober 1896, Briefe Altmann, S. 32. 167 Vgl. Altmann an Saar, 4. November 1896, Briefe Altmann, S. 61. "Die süße, behagliche Müdigkeit" verbinde sich mit einer getreuen Schilderung des Milieus, worin sich Saar als "vollkommener Realist" zeige. 168 Ebenda, S. 62. Jens Peter Jacobsen gehörte zu den viel gelesenen Autoren des ausgehenden Jahrhunderts. Sein Roman Niels Lyhne und seine Erzählungen zeichnen sich durch einen stark lyrischen Stil aus. Die Perspektive ist meist auf die Innensicht der Figuren gerichtet, ohne daß durch eine Erzählerfigur eine "Objektivierung" mittels Kommentare erreicht würde. Der Erzähler räsonniert vielmehr über allgemeine Fragestellungen, wodurch der reflektierende Charakter der Erzählungen und des Romans noch verstärkt wird. Wenn Altmann von "lyrisch-subjektiv" spricht, so dürfte er auf die lyrischen Porträts etwa in Hier sollten Rosen blühen und an die Innenperspektive gedacht haben. 169 Vgl. Altmann an Saar, 4. November 1896, Briefe Altmann, S. 64: das blaue Tuch und die gelben Sumpfblumen, mit denen sich Milada schmückt; der weiße Strumpf, an dem Katinka unter der herbstgelben Esche strickt. 170 Ebenda, S. 62. 114
gestalten Orginal = das heißt wirklich geschaute Figuren, wenn auch die Handlung fast ganz meine Erfindung ist171. Hier sei erinnert an das, was Sofia zur Entstehungsgeschichte des Fridolin berichtet hat: Saar übernimmt Züge des ihm bekannten Dieners Wenzel auf Schloß Raitz, um so psychologisch überzeugend eine erfundene Geschichte zu erzählen. Zu seinem Verfahren als Erzähler äußert sich Saar ähnlich wie in einem Brief desselben Jahres an Necker, er habe im Requiem versucht sich zu maskieren, weil dort eigene Erlebnisse verarbeitet seien: [...] während ich sonst meistens meine Individualität als die des "Erzählers" hervortreten lasse [...]. Es ist aber nur ein künstlerischer Notbehelf, mittels welchem allein ich meine Vorwürfe gestalten kann, indem ich mich gewissermaßen als Zuschauer und Beobachter gegenüberstelle. So erhalten meine Novellen das Gepräge des Selbst=oder Miterlebten, das die Lesewelt geringer anzuschlagen pflegt, als sogenannte "frei erfundene" Kunstwerke172. Besser könnte das in der Novelle Fridolin angewandte narrative Verfahren nicht erläutert werden. Die 'Subjektivität' des Erzählers darf nicht gleichgesetzt werden mit der des Autors, sondern sie besitzt eine kontrastierende Funktion, die ja gerade hinsichtlich der Ironie im Fridolin erforderlich ist. Altmanns Interesse gilt auch gerade dieser erzählerischen Gestaltung der Novelle: Nach meiner Ansicht ist im Fridolin die Novellenform am reinsten geprägt. Der Knoten ist geschürzt und wird nun vor unseren Augen Faden für Faden gelöst.
171
Vgl. Saar an Altmann, 6. November 1896, Briefe Altmann, S. 67. In diesem Sinne lehnt Saar auch die Besprechung von Jakob Minor ab, der die zweibändige Ausgabe der Novellen aus Österreich von 97 kommentierte mit der Ansicht, Saar habe alles, was er da schildere, selbst erlebt, dazu Saar: "[...] mit Ausnahme der Marianne - und im Herbstreigen, wo Portraits angebracht sind, hat keine einzige meiner Novellengestalten wirklich existiert. Sie sind mit ihren Schicksalen aus zahllosen Eindrücken und Bildern geworden". Hieran schließt das häufig zitierte Wort von der Kunst und Erfindung, die in seinem Werk stecke, an, vgl. Saar an Altmann, 14. Mai 1897, Briefe Altmann, S. 141. 172 Vgl. Saar an Altmann, 6. November 1896, Briefe Altmann, S. 67-68, vgl. die Ausführungen Saars gegenüber Necker, nachdem er zugestanden hatte, für das Requiem selbst Modell gestanden zu haben: "Freilich drängt sich dabei das'Memoirenhafte" mit einer Art Notwendigkeit vor; denn nur auf diese Weise kann ich mir die Leute (und auch die Dinge) so nahe bringen, daß mir nichts entgeht. Damit scheint denn auch oft die Freiheit der Erfindung aufgehoben und das Kunstwerk zu einem bloßen "Bekenntnis" oder zu einer "Erinnerung" herabgedrückt - und der Leser empfindet manchmal recht unangenehm das subjektive Hervortreten des Autors, wodurch dieser oft in den Verdacht selbstgefälliger Eitelkeit gerät; eine Eigenschaft, welche ihm, wie Sie wissen, nicht anhaftet. Die meisten meiner Novellen werden leider erst nach meinem Tode rein genossen werden können." Vgl. Saar an Necker, 30. April 1896, Briefe Necker.
115
Demzufolge ist die Novelle auch von selten knapper Einheitlichkeit der Form wie des Stiles. Insbesondere der alte Stil in seiner eigentümlich ironischen Naivität macht sich prächtig [...]. Doch trotz der naiven Schilderung ist das Dämonische an Milada lebendig-packend gezeichnet, wirkungsvoll gehoben durch den Contrast zur Hundedienerseele des Herrn Fridolin173. Altmann erkennt den Bezug zu Schillers "Dienerseele im Gang zum Eisenhamer" ebenso als Motiv wie auch das "sonst selten aufgegriffene Motiv, die Jungfrauschaft beim Manne", welche für ihn das Verhalten Fridolins, seine "grenzenlose Verblendung", plausibel macht. Die abschließende Bemerkung Altmanns, Saar sei ein "gefahrlicher Gast auf den Schlössern", aufgrund der objektiv-scharfen Kritik, die Fridolin durch seine Schilderungen der tollen Streiche der Adligen gebe174, erscheint Saar wiederum so gewagt, daß er Altmann bittet, diese Bemerkung bei einer Veröffentlichung seiner Rezension zu streichen. Allerdings betont Saar zugleich: Wie wenig ich mich durch alle diese Beziehungen [seine Aufnahme auf Schloß Raitz] in meinem künstlerischen Schaffen beeinflussen lasse, haben Sie aus meinem Fridolin ersehen175.
. Die Rezeption des Herbstreigens ab 1897 Da Saar Ende 1896 außer der von ihm scharf kritisierten Rezension Neckers in der Neuen Freien Presse jeglichen Hinweis auf seine neue Novelle in der Presse, auch in der Zeit, vermißt176, unterstützt er das Vorhaben Altmanns, dessen Besprechung des Herbstreigens Bahr für die Zeit anzubieten177. Im Verlaufe des endenden Jahres aber zeigt sich, daß von seilen der Zeit jedes Interesse an einer Rezension des Herbstreigens und auch der Pincelliade fehlt. Saar gibt seiner Enttäuschung darüber Ausdruck, daß gerade Bahr, der im Jahr seines sechzigsten Geburtstages so bemüht um ihn war, angesichts der neuen Dichtungen sich so verhalten zeige178 und hinsichtlich der Pin173
Ebenda, S. 63-64. Ebenda, S. 64. 175 Vgl. Saar an Altmann, 14. Dezember 1896, Briefe Altmann, S. 86. 176 Vgl. Saar an Altmann, 8. Dezember 1896, Briefe Altmann, S. 82. Saar spricht in Bezug auf diese Kritik von der eselhaften - und dabei heimtückischen Dummheit Neckers. Zuvor hatte Altmann dessen Rezension als "Massenbeurteilung" abgetan, vgl. Altmann an Saar, 5. Dezember 1896, Briefe Altmann, S. 80. Vgl. ebd., S. 82 : "Befremdlich ist es auch mir, daß die Zeit bis jetzt den Herbstreigen nicht einmal erwähnt hat, obgleich der Fridolin dort erschienen war". 177 Vgl. Altmann an Saar, 12. November 1896, Briefe Altmann, S. 71. 178 Vgl. Saar an Altmann, 3. Januar 1897, Briefe Altmann, S. 95, und 29. Januar 1897, Briefe 174
116
celliade nur eine kurze Anzeige wage. Er vermutet, daß der Vorwurf der "Unsittlichkeit" ihn abgeschreckt habe179. Den von Saar angesprochenen Zusammenhang zwischen dem Herbstreigen und der Pincelliade führt Altmann in seiner Untersuchung aus: Das Weib steht wieder im Mittelpunkt, ist wieder die Gezauste, obwohl auch die anderen Beteiligten nicht gut dabei wegkommen. Ich weiss nicht: Es mutet mich fast an wie eine Fortsetzung des Herbstreigens, eine Art Erlösung von seiner gut verborgenen Bitterkeit. Ein Flämmchen züngelte schon im Fridolin, hier aber ist daraus ein hellodemder Scheiterhaufen geworden180. Die Direktheit in der Darstellung und der satirische Ton des Epos scheinen die Literaturkritiker verunsichert zu haben, die von Saar einen elegischen ausgleichenden Stil gewohnt waren. Die Konsternation über diesen "Wandel" des Dichters sollte daher für die Aufnahme des Herbstreigens in der Kritik noch einige Monate andauern, während die Pincelliade von ihr geradezu übergangen wurde. Wenn auch die Rezensionen im Herbst und Winter 1896 ausbleiben, so verkauft sich der neue Novellenband doch gut und auch die alten Sammlungen nähern sich dem Ende ihrer Auflage (BrW34/BrW36). Um so mehr ist Saar darüber verärgert, daß sich Weiß immer noch nicht zu einer Gesamtausgabe, ohne den Herbstreigen, bereit erklärt (BrW35). Dafür erscheinen die Novellen aus Österreich in zwei Bänden, der erste zu Ostern, der zweite im Sommer. Dies hat nun zur Folge, daß sich die Aufmerksamkeit der Kritiker auf diese Ausgabe konzentriert und der Herbstreigen zum Teil aus ihrem Blickfeld gerät. Erfreut äußert sich Saar gegenüber Altmann181 über die Kritik Felix Poppenbergs in der Berliner Nation, die einzige, die noch im ersten Halbjahr 1897 zum Herbstreigen veröffentlicht wird. Poppenberg geht in seinem Artikel auf die Erzählerfigur bei Saar ein und grenzt ihn gegen den der Rahmennovellen der Ebner oder Conrad Ferdinand Meyers ab. Zum Selbstverständnis des Autors vermerkt er: Saar will vor allem Erzähler sein. Er möchte die Kunst der alten Novellen wieder beleben, die scheinbar kunstlos berichtend einen Vorgang, ein Schicksal fast anekdotisch wiedergeben182.
Altmann, S. 104. 179 Vgl. Saar an Altmann, 7. Februar 1897, Briefe Altmann, S. 108. 180 Vgl. Altmann an Saar, 27. Dezember 1896, Briefe Altmann, S. 91. 181 Vgl. Saar an Altmann, 10. März 1897, Briefe Altmann, S. 121. 182 Vgl. Poppenberg, S. 350f. 117
Auch rühmt er Saars Kunst der Psychologisierung. Die Erzählungen des Herbstreigens werden jedoch nicht im einzelnen untersucht. Poppenberg erfaßt stattdessen die Gemeinsamkeit der drei Novellen und stellt sie unter das Salomonische Motto "das Weib ist bitter". So verkörpere Milada die "ungebändigte Sinnlichkeit elementarer Naturgeschöpfe". Wie Necker reiht Poppenberg Saar ein in die Richtung der Moderne, allerdings nicht aufgrund der Form, sondern mehr wegen der Gestaltung seiner Figuren. Denn hierin schlage Saar den Bogen vom Biedermeier bis zum ausgehenden Jahrhundert: Die Mischung aus Lebensdrang und Ruhesehnsucht, aus Grillparzerschem Quietismus und walzerfrohem Phäakentum läßt müde halbwelke Blumen von bestrickend melancholischem Reiz, von der späten Schönheit des Herbstes sprießen. In dem stillen Garten, wo sie blühen, findet sich der Sechzigjährige zusammen mit einer Jugend, die nie jung war183. Hatte Poppenberg mit seiner Besprechung wesentliche Aspekte der Saarschen Kunst angesprochen, so sah man außerhalb der literarkritischen Kreise im Frfdolin nur zu leicht ein "Sittengemälde", das ganz der Realität nachgezeichnet sei. So schreibt Gräfin Ernestine von Zierotin einen begeisterten Brief an Saar, in dem sie ihm diese Wirklichkeitstreue bescheinigt: Gestatten Sie, daß ich Ihnen gleich nachdem ich Fridolin und sein Glück zu Ende gelesen habe, sage, welch einen Genuß uns die Lectur dieser [...] Novelle bewirkt hat. Wie sehr beneidete ich oft Fürstin Elisa Salm, daß sie mit dem Dichter gleich ihre Gedanken austauschen durfte über jede seiner Geschichten [...]. Wer das Leben in Schlössern so genau kennt, wie wir selbst, Diener kennt, die vom Hausknechte bis zum Zimmerwärter avancierten (bei uns nicht), der glaubt Bedrich zu kennen und die Schloßherrin, welche Kathinka und ihm ein Sort schafft, wenn sie sich heirathen. Der Diener, welcher sich allerlei Schikanen von dem jungen Herrn gefallen lassen muß, könnte im Schloß Wessely gewesen sein. Milada ist köstlich gezeichnet; die Mädchen aus dem Volke heirathen faktisch bloß, um sich zu versorgen, haben aber oft Jemanden ein Liebesgefühl entgegengebracht, den sie nicht heirathen können. Ihre Schreibweise ist zu bezaubernd, lieber Saar, so knapp und klar, kein Wort zu viel; man fühlt heraus, Sie schildern Erlebtes -(BrW84). Dieses Verständnis von der Novelle zeigt, wie stark Saars Lesepublikum sein Augenmerk nur auf die Realia richtete. Allerdings hat eine solche Aussage insofern für die
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Ebenda, S. 351.
zeitgeschichtlichen Hintergründe einen Wert, als sie zeigt, daß die vielleicht einen Leser unserer Zeit unwahrscheinlich anmutende Dieneridylle nicht das reine Produkt der Dichterphantasie ist. Von der literaturkritischen Seite her erfaßt der Vortrag, den Heinrich Glücksmann im Deutschen Schulverein zur Saar-Feier hielt, die neue Novelle des Dichters (BrW35). Das Neue Wiener Tageblatt veröffentlichte am 9. Januar 1897 diese Rede, so daß ein breiteres Lesepublikum über Saars letzte Werke unterrichtet wurde. Im Mittelpunkt steht der allgemein Verwunderung hervorrufende "scheinbare" Wandel Saars zum Humoristen, der in seinem Epos "tolle Luftsprünge" vollführe, nachdem sein Herbstreigen dem Titel nach "anscheinbare Lebensmattigkeit" thematisiere184. Diejenigen, die Saar für einen eingeschworenen Schopenhauerianer hielten, würden hier eines Besseren belehrt. Für den Herbstreigen findet Glücksmann nur rühmliche Worte, wobei wiederum die Gemeinsamkeit der Novellen im gleichen Zug der Heldinnen gesucht wird: ihrer praktischen Auffassung von der Liebe. Herr Fridolin und sein Glück ist nach Glücksmann: [...] die Historic von der "übertauchten" Leidenschaft eines behäbig vermählten Schloßzimmerwärters in Mähren spielend185. In Ninon und Fridolin finden sich, so Glücksmann, "glückliche Ansätze zur humoristischen Beleuchtung der Menschen und Dinge" - bei Ninon sogar der Sprung in den Dialekt. Ein Blick in die Textgeschichte zeigt, daß Saar auch beim Fridolin zunächst einen stärkeren dialektalen Einschlag vorgesehen hatte. Im Herbst des Jahres 1897 erscheint die letzte, sich ausschließlich mit dem Herbstreigen beschäftigende Rezension. Wieder handelt es sich um einen Saar näher bekannten Journalisten, Anton August Naaff, der für die Lyra, eine literarische Wochenschrift, arbeitet186. Die Lyra veröffentlichte auch Werke von Saar. So war in der Nr. l der Oktoberausgabe Saars Gedicht Enkelkinder erschienen. Die zweite Nummer bringt nun eine "Skizze zum Herbstreigen" von Naaff. Er hebt insbesondere Ninon und das Requiem als novellistische Herbstblätter hervor und geht ebenfalls auf die Technik des Novellisten ein. Saars Ninon rückt er in die Nähe des Naturalismus, zum Fridolin vermerkt er: Mit behaglicher Selbstbefriedigung erzählt uns Saar die "carriere" und Liebesgeschichte eines herrschaftlichen Schloßbedienten in Mähren. Diese Figur
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Vgl. Glücksmann: Saar-Feier, S. 3. Ebenda, S. 3. 186 Naaff hatte Saar wohl in Döbling aufgesucht; trotz der geplanten Rezension kam aber das Gespräch nicht auf den Herbstreigen, vgl. (BrW37). 185
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schreitet aus dem vollen Leben heraus auf uns zu, und ehe wir es wollen und merken, versteht es Saar, uns durch meisterhafte lebenstreue Charakteristik auch für diesen seinen "Helden aus der Bedientenstube" zu interessieren. Wir folgen ihm gerne in die Entwicklung der ins Romantische hinüberspringenden aber völlig natürlich begründeten Liebesgeschichte des Herrn Fridolin und erquicken uns an dem wohlwollenden Humor, mit welchem Saar seinen Helden über die tragischen oder ihm unbequemen Punkte hinüber hilft187. Die Dreizahl der Novellen veranlaßt Naaff, jede einzelne einer literarischen Richtung zuzuordnen, was nicht ganz unproblematisch ist: im Fridolin zeige sich der Realist, in der Ninon der Naturalist und im Requiem der Idealist. Dabei zeichne sich Saars naturalistisch-realistische Darstellungsweise durch Takt und Feinfühligkeit aus, mit der er auch die heikelsten Lagen in der Schilderung bewältige, wo die Jung-Naturalisten sich selbst anschmutzen würden. Naaffs These vom Naturalisten Saar bedarf insofern noch einer kurzen Erklärung, als dieser Begriff Ende des 19. Jahrhunderts nicht so strikt festgelegt war wie in der heutigen Literaturwissenschaft. Natürlich gilt auch für Naaff und seine Zeitgenossen Zola als der Naturalist. Daneben laufen aber in Rezensionen die Begriffe Realist und Naturalist oft nebeneinander her188. Erhellender erscheint die Bezeichnung "Materialist", die ebenfalls für Saars Technik gewählt wird, aber im negativen Sinne189. Die Wahl der Stoffe - Saar gehört zu den ersten, die auch den vierten Stand schildern veranlaßt einige Kritiker, Saars Kunst auf die platte Abschilderung der Natur zu reduzieren. Dabei steht Saar sicherlich mit der sozialkritischen Tendenz einiger Novellen oder auch Gedichten dem Stoffkreis des Naturalismus nahe - so sieht es Naaff -, aber Emile Zolas Forderungen - in seinem Roman Exporimental - nach wissenschaftlich-objektiver Darstellung des Menschen als Produkt von Milieu und Vererbung, ist nicht Ziel Saarscher Dichtung190. Diese grenzt sich vor allem gegen den deutschsprachigen Naturalismus ab, wie ihn etwa die Berliner Zirkel in einer krassen Milieuschilderung und der Aufnahme des Dialektes und der Umgangssprache pflegten. Saar bringt in seine Novellen durchaus die Erkenntnisse der Wissenschaften ein, sei es; daß er die Darwinsche Dependenztheorie im Seligmann Hirsch oder die antimaterialistische Lehre 187
Vgl. Naaff, S. 28. Vgl. die Kritik von Astl-Leonhard, der 1890 in seinem Aufsatz in der Modernen Dichtung, der Zeitung des Naturalismus und Jung Österreich, die gegenwärtige Literatur in drei Strömungen einteilt: den Ideal-Realismus eines Saar, Keller etc., die von Zola begründete realistische(!) Literatur und die burschikos realistische Wein- und Liebeslyrik, S. 170. 189 So bescheinigt Marie Heyret in ihrer Rezension der Novellen aus Österreich von 1898 Saar, daß er durch und durch Materialist sei, und so vermisse man in seinen Schilderungen den "höheren geistigen Aufschwung" , vgl. Heyret, S. 154. 190 Der Roman Experimental ist wie der Zyklus der Rougon Macquart in der österreichischen Presse zeitlich etwas verspätet übersetzt und oft polemisch angegriffen worden, vgl. Zieger, S. 76f. 188
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Josef Hyrtls im Brauer von Habrovan als Deutungsmuster anbietet191. Aber er zeigt zugleich die Grenzen dieser wissenschaftlichen Theorien auf192. Im Gegensatz zum Naturalismus, spielt aber in seiner Figurenzeichnung die Psychologie eine wesentliche Rolle. Das Unbewußte ist neben dem Milieu oder der Veranlagung für das Handeln seiner Personen nicht minder bedeutend. So stellt er im Sinne Bahrs tatsächlich den Übergang von einem platten Naturalismus zu der modern psychologisierenden Dichtung dar. Es sollte dabei jedoch nicht außer acht gelassen werden, daß Saar, der die Werke Zolas über die Fürstin Salm kennenlernte (BrW53), bei dem Franzosen thematisch Anregungen finden konnte193. Auch besitzen Zolas Romane einen viel weitreichenderen symbolischen Gehalt, den ein Schriftsteller wie Saar sicherlich erkannt haben dürfte194.
Die Veröffentlichung der Novellen aus Österreich in zwei Bänden im Jahre 1898 rückt zwar einerseits den Dichter weiterhin in das Blickfeld der Öffentlichkeit, aber in den Rezensionen tritt zugleich der Herbstreigen in den Hintergrund. Man kann sogar feststellen, daß manche Kritiker, unbesehen der Tatsache, daß Saar neue Stoffe und Techniken erprobt hatte, den Autor nur nach seinen Erstlingswerken beurteilen und ihm die doch durch den Herbstreigen zugesprochene Modernität eher wieder aberkennen. So rückt bei Freiherr Alfred von Berger in der Besprechung der Novellen aus Österreich der Aspekt der Sprache und des Stils in den Vordergrund. Zugleich distanziert er sich in seiner Rezension von den Novellen, die schon Ende der achtziger Jahre Saars Modernität bewiesen: 191
Vgl. Polheim: Erzählkunst, S. 24f, Haberland, S. 202f. Vgl. dazu die Interpretation des Brauers von K. K. Polheim: gerade die Fragestellung quid est veritas deckt in Hinblick auf die wissenschaftlichen Lehren die Vielschichtigkeit dieser Erzählung auf, die sich eben nicht auf die eine Theorie der Vererbungslehre hin deuten läßt, ebenda S. 25f. n·] Man denke etwa an die Gestalt der Nana und manche Züge der skrupellosen Krawall-Ninerl in der Ninon. Das soll nicht heißen, daß Saar in der Krawall-Ninerl eine österreichische Nana geschaffen habe, aber das französische Salonleben, der Aufstieg aus dem Nichts zu einer gesellschaftlichen Größe und zur Machtposition sind beiden Werken gemein. Dabei muß die Novelle in ihrer Kürze sich einer anderen Technik bedienen, und auch im Stil sind die beiden Dichter nicht zu vergleichen. Wurde Zola von den einen Rezensenten als Materialist verteufelt und seine zergliedernde Darstellungsweise abgelehnt, so erkannte der Zola-Spezialist der Neuen Freien Presse, Theophil Zolling, doch auch die Nähe Zolas zur französischen Romantik und sprach insbesondere in Hinblick auf Therese Raquin und /'Assommoir von einer "naturalistischen Symbolik", vgl. Zieger, S. 75-76. So zeigt sich etwa in l'Assommoir dieses Verfahren in der mythologischen Gestaltung des Paares Gervaise-Goujet als Venus und Vulkanus. 109
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[...] wenn er, von menschlicher und sittlicher Empörung erhitzt, zuweilen ganz aus seiner lyrischen Haut fährt, um uns durch ein krasses Bild der nackten Wirklichkeit zu erschrecken, dann läuft er Gefahr, sein Bestes, das eigentlich Saar'sche, einzubüßen195. Oskar Walzel korrigiert diesen Ansatz Bergers noch im gleichen Jahr, indem er auf die spezifische Erzähltechnik der Saarschen Novelle hinweist: [...] nicht die Tatsache allein, dass hinter diesem Herrn Hirsch, hinter jener Frau Elsa sich ein Wien wohlbekanntes Gesicht verbirgt, begründet in dem Leser den Eindruck nacherzählender Wirklichkeit. Vielmehr zielt die Technik von Anfang an auf diesen Eindruck hin196. Fünf Jahre nach der Veröffentlichung des Herbstreigens, sieben Jahre nach der Erstveröffentlichung des Fridolin, wird dieser mit einer begeisterten Kritik in der Wiener Zeitung rezensiert. Hans Sittenberger sieht gerade in der Stoffwahl des Dichters seine Modernität: Da gelingen ihm denn Gestalten wie der famose Fridolin, der den Beruf in sich fühlt, Diener zu sein, oder wie der alte Seligmann Hirsch [...]. Diese Vorliebe, dem Reichtum nachzuspüren, der unter dem Staub mißachtet auf der Straße liegt, verbindet Saar mit der Moderne; aber glücklicher als viele von ihnen, die so oft wirklich am Gewöhnlichen hängenbleiben, weiß er fast stets das Merkwürdige herauszuschälen, das sich darunter verbirgt197. Für Sittenberger steht das vergebliche Ringen nach Glück im Mittelpunkt der Novellen Saars. Interessant ist seine Deutung des Fridolin, den er als einen am wahren Glück Gescheiterten versteht: Typisch dafür ist [...] in anderer Weise jener wackere Fridolin, der ganz Diener, ganz Gehorsam, nur seine eingebildete Pflicht kennt und an dem frischesten, lockendsten Glück vorübergeht, weil er fürchtet, seiner Carriere zu schaden. Da es zu spät ist, packt ihn freilich der Taumel: aber das Glück ist nun einmal
t or
Vgl. Berger, S. 1. Auch eher im klassischen Sinne versteht Paul Seliger Saars Novellen, die rein menschliche Konflikte darstellten. Saar sei eben kein politischer oder sozialer Tendenzschriftsteller. Hier sei u. a. nur auf die historische Gestalt verwiesen, die Saar für seinen Innocens als Modell nahm - von unpolitischer Haltung kann in dieser Novelle keine Rede sein. Ein Tendenzschriftsteller im Sinne der Naturalisten war Saar natürlich nicht, vgl. Seliger, S. 22-24. 196 Vgl. Walzel, S. 1310. 197 Vgl. Sittenberger, Sp. 856f.
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entwischt. Allein sein Bedientenverstand ist ja zähe genug, er wird mit dem rebellischen Herzen schon fertig. Der brave Fridolin kehrt zur Krippe zurück und nimmt die Frau, die ihm seine Herrschaft zugedacht hat. Er bringts in seiner Art weit und freut sich, daß er dem dummen Glück so durch die Finger gelaufen ist. Es ist das eine der allerbesten Novellen Saars, eine köstliche Geschichte voll verdeckten Humors und heimlicher Wehmuth 198. Mit dem Titel des Herbstreigens geht in der Rezeptionsgeschichte des späten Saar die Vorstellung von dem Herbstdichter zusammen. So etwa bei Rudolf Sturm in seiner Literarischen Studie über Saar: [...] daß er sich zu der Lebensanschauung durchgerungen hat, zu der auch Goethe gelangt ist, nach voller Hingabe an die Affekte, in der Persönlichkeit und deren Erkenntnis sein Glück zu finden. Ruhige Abgeklärtheit, wie sie Innocens besitzt und ein frischer Born der Lebensweisheit, die uns aus der idyllisch schönen Einleitung zu Herrn Fridolin und sein Glück sowie aus seinem Hauptwerk so hell entgegenleuchtet, entspringen daraus199. Der Humor der Novelle macht den meisten Rezensenten zu schaffen: von ruhiger Abgeklärtheit, über soziale Satire bis hin zu einem "vergeistigten Humor" ist die Rede - jeder Kritiker legt diesen Erzählton anders aus200. Allerdings zeigt sich bei späteren Besprechungen immer wieder, daß die Rezensenten, wenn sie überhaupt auf den Fridolin eingehen, das Thema Humor umgehen und dabei die Novelle als Ausnahme im pessimistischen Gesamtwerk betrachten. Den Schwerpunkt legt man mehr auf den "herbstlichen" Charakter der Personen oder der Atmosphäre. So habe Fridolin schon seine "große Leidenschaft" hinter sich und Milada schon die "Blüte der Unschuld verloren", als sie ihn umstrickt. Der Herbstreigen variiere das Motiv des törichten Mannes, der sich von spekulativen Heuchlerinnen, eitlen Koketten und raffinierten 19«
Ebenda, Sp. 857. Vgl. Sturm. Vgl. Klob, Fach, S. If. Sie sprechen vom vergeistigten Humor, manchmal beschaulich, manchmal an die Satire streichend. "In seinen letzten Novellen, welche im Herbstreigen enthalten sind -Herr Fridolin und sein Glück, Ninon und Requiem der Liebe - geht der Dichter aus dem gewohnten würdevollen Schritte zu leichterer Gangart über und reitet in dem komischen Heldengedicht Pincelliade hohe Schule des Ubermuthes". In der Weltrundschau zu Reclams Universum erscheint im Jahre 1901 eine Kunstbeilage über Ferdinand von Saar, worin dieser auch in Hinblick auf die "nur seltenen humoristischen Lichtchen" in seinem Werk vorgestellt wird. Der Rezensent stellt ihn dabei in Gegensatz zu seinem Landsmann Anzengruber, dessen Werke u. a. durch den Dialekt charakterisiert seien. Interessant sind jedoch seine allgemeinen Ausführungen über die Humoristen. Der Humorist gehe am weitesten in der Verwertung des Rohstoffes der ihn umgebenden Welt. Wer imstande sei, dieses Milieu von den Werken der großen Humoristen abzuziehen, der finde zuletzt allgemein menschliche, einander sehr ähnliche Züge. 199
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Hetären täuschen ließe, wie Ella Hruschka in ihrer eingehenden Studie über Saars Novellen urteilt201. Daß er von Seiten des weiblichen Publikums Kritik ernten werde, das ahnte Saar schon, als er sich eine geeignete Zeitschrift für die Veröffentlichung des Fridolin suchte. Daher konnte ihn auch die Rezension von Wilhelm Artur Hammer nicht zu sehr überraschen. Dieser erkennt in Fridolin den "Weiberfeind" Schopenhauerianischer Prägung202. Hammer wirft Saar vor, sich mit seinen letzten Schöpfungen literarisch vergriffen zu haben, nachdem er mit den Wiener Elegien den Weg des nationalen Dichters eingeschlagen habe. In seinen neuesten Novellen des Herbstreigens zeige er sich nunmehr als Satiriker 203. Da der Herbstreigen zu Saars Lebzeiten keine Neuauflage erfuhr, trat er hinsichtlich seiner Bekanntheit und Wirkung hinter die Novellen aus Österreich zurück. Sein anfänglich guter Absatz ging ebenfalls zurück, eine Entwicklung, die Saar bei all seinen Werken erlebte und die ihn daher an seiner tatsächlichen Popularität in seiner Heimat zweifeln ließ.
5. DIE REZEPTION UND WEITERE AUSGABEN DES FRIDOLIN NACH SAARS TOD a. Die "herbstliche" Dichtung Saars Mit dem Tode Saars und der sich kurz darauf entfachenden Diskussion um die Errichtung eines Denkmals für ihn kommen auch seine Werke für einen Moment in die Schlagzeilen der österreichischen Presse. Meist werden seine Novellen aus Österreich in Pauschalurteilen abgehandelt, eine eingehende Würdigung des Einzelwerks fehlt völlig. So findet auch der Fridolin nur wenig Beachtung, und wenn, dann nur in oberflächlichen und marginalen Rezensionen. Drei Aspekte sind es, die im Verlauf der Rezeption immer wieder ins Auge fallen.
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Vgl. Hruschka, S. 119. Ähnlich auch die Kritik von Karl Martin Brischar. Er stellt ebenfalls die Frauengestalten der Saarschen Novelle in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. 202 Vgl. Hammer, S. 43. 203 Ebenda, S. 56: "Wer Saars litterarische Grosse in seinen älteren Schöpfungen zu würdigen verstand, erkennt gewiss auch die beträchtliche Decadenz dieses Dichters zwischen dem Kaiser-Drama und den beiden jüngsten Büchern Herbstreigen und die Pincelliade [...]. Obscure Gestalten wie in den letzten Büchern sind eines Dichters wie Saar nicht würdig".
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Eine Vielzahl der Rezensenten begnügt sich damit, den Fridolin als eine der Novellen des Herbstreigens mildem Attribut "herbstlich" zu qualifizieren, "herbstlich" seien die männlichen, willenlosen Männer, "herbstlich" auch die Stimmung der Entsagung und der Schwermut204 und so könne man das Gesamtwerk Saars mit dem Titel Herbstreigen versehen205. Schwierigkeiten bereitet so manchem Kritiker nicht nur die moderne Thematik und Darstellungsweise im Herbstreigen, insbesondere mit Blick auf die kühlen Frauenfiguren206. Auch Saars Neigung, in den späteren Novellen deutlicher als in seinen Erstlingswerken die menschliche Psychologie anhand pathologischer Fälle künstlerisch zu gestalten, wird als verfehlt empfunden207. Die in der Saar-Rezeption festeingefahrene Behauptung, der Dichter habe nach Modellen geschaffen, verschärft zudem noch den Vorwurf des Gekünstelten. So habe der Fridolin der Novelle tatsächlich existiert und Saar seine Geschichte erzählt208, ohne daß es diesem jedoch gelungen sei, aus der "realen" Vorlage eine vollebige Natur zu schaffen. Die Gestalt des Vollblutdiener209 erscheint wegen seines Pflichtbewußtseins manch einem Rezensenten als suspekt.
b. Die "humoristischen" Versuche Saars Wie schon zu Lebzeiten Saars tun sich seine Kritiker auch nach seinem Tode mit seinen beiden "humoristischen" Außenseitern schwer. So geht die Skala der Beurteilung von "völliger Humorlosigkeit"210 über "milde Ironie in der ernsten Darstellung"211 204
Vgl. w.r. Gerne verweist man darauf, daß Saar sich selbst als "alten Herbstgenossen" bezeichnet habe, vgl. Hügel mann, S. 168. 205 Vgl. Meyer, S. 480. "J(¥i Vgl. Spiero, S. 684. Saar stehe mit den in seinen letzten dreizehn Lebensjahren verfaßten Novellen nicht mehr auf dem Höhepunkt seiner Kunst, noch seien sie echt österreichisch. Bezeichnend sei der Beginn des Herbstreigens mit einem Schopenhauerzitat. "Hier begegnet es schon dann und wann, daß ein Schicksal, wie das des Dieners Fridolin in Herr Fridolin und sein Glück, uns kalt läßt, ja, daß, wie in Ninon, wo immerhin eine literarische Bohemewelt fein angedeutet ist, oder in Conte Casparo, uns manches abstößt, weil es nicht stark genug dichterisch durchempfunden ist." 207 Vgl. Stössl, S. 1366. Immerhin gesteht er dem Fridolin doch einen gewissen Reiz zu, hier sei mit lächelnder Sicherheit, in einer klaren, zuweilen nüchternen Prosa das Leben des Lakaien Fridolin dargestellt. 208 Vgl. Nowak, S. 812. 209 Vgl. Semerau. 210 Vgl. Siretan, S. 1003-1005. Er beklagt, daß man nur bittere Resignation, nie Freude oder Humor in seinen Novellen finde. 211 Vgl. Hock, S. 224f.: Ninon und Fridolin gesteht er eine müde Ironie zu. Vgl. Geiger, S. 336: Er sieht wirklichen Humor nur in den Dissonanzen, der Vollhumor, die rechte Satire komme nicht zur
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hin zu "Spuren der Satire"212, die sich in der Pincelliade wiederfänden. Da sich in der Literaturgeschichte zunehmend das Bild vom düsteren Schopenhauerianer festsetzt, ja man Saars Weltanschauung auf seine depressive Natur zurückzuführen sucht213, geraten Saars humoristische Versuche zunehmend aus dem Blickfeld der Kritik.
c. Die "mährischen Erzählungen" Saars In einem ganz anderen Zusammenhang erfährt der Fridolin Beachtung seitens der Kritiker. Neben den Novellen Das Haus Reichegg, Tambi, Leutnant Burda, Die Troglodytin, Ginevra, Schloß Kostenitz, Die Brüder, Der Brauer von Habrovan und Familie Worel bildet auch für den Fridolin die mährische Landschaft den Hintergrund der Erzählung. Die Tatsache, daß Saar lange Zeit auf den mährischen und böhmischen Besitztümern seiner Gönner lebte und dichtete, machte ihn schon zu seinen Lebzeiten in der Ortspresse zum "Heimatdichter" Mährens und Böhmens214. Allerdings blieb man auch hier bei einer oberflächlichen Beurteilung der realen Zustände stehen, so etwa, wenn man in Saars Epos Hermann und Dorothea die patriotische Darstellung des mährischen Nationalitätenkampfes erkannte215, man gleichzeitig aber bedauerte, daß er die mährischen Berühmtheiten und heroischen Landschaften nicht eingehender in seinem Werk verarbeitet habe216. Der Gegensatz von Slawen und Deutschen in Saars Ausprägung, wenn auch manches Humoristisch-Satirisches in seinen Geschichten liege, ebenda, S. 435. 212 Vgl. Bacher, S. 23: Zwar wirke Saar etwas altväterlich in seinem Epos, doch bei verständnisvoller Behandlung könne man die richtige Wirkung hervorbringen. 213 Vgl. Hutter, S. 36. Er verfaßt eine psychologisch-literaturgeschichtliche Studie über Saar und kommt zu dem Resultat, der Schriftsteller sei durch die Lehre Schopenhauers in seinem Pessimismus nur noch verstärkt worden (S. 37). Gegen diese These wandte sich Anton von Mailly, der mit der Veröffentlichng von Saar-Briefen auch die andere, heitere Seite des Dichters bekanntmachen wollte (S. 116). In seinem engeren Umkreis war Saar durchaus als witzige Natur bekannt. Seine für Salm und Gomperz verfaßten Lustspiele und die Bearbeitung der Princesse Maleine können als Zeugnis dafür gelten. 214 Vgl. die Resonanz in der böhmisch-mährischen Presse auf Saars siebzigsten Geburtstag im Stadtarchiv Wien. Zu diesem Festtage hatte man ihn zum Ehrenmitglied des Deutschen Journalisten und Schriftsteller-Vereins für Mähren und Schlesien gewählt. Max Marold bezeichnete in seiner Würdigung Saar als Heimatdichter und betonte zugleich die Modernität im Gehalt seiner Werke, die den Blick auch in die Niederungen der Menschheit wagten und zugleich auch eine österreichische Kulturgeschichte böten (vgl. Marold: Lyriker, S. 14). 215 Vgl. anonymus, Neue Züricher Zeitung 1906: "[...] so wenig robust, so poetisch zart ist der Dichter selbst in der Behandlung eines aktuellen, politischen Themas". Und so könne den Deutschen in Österreich dieses Epos quasi zum Tröste dienen. 216 Vgl. Skutil, S. 24-25. Zu Hermann und Dorothea vermerkt er, daß Saar hierin die nationale Verständigung der beiden Stämme idealisiert habe.
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Novellen wird in der Kritik zum Auslöser nationaler Parteinahme. So erscheint in der Prager Presse eine Rezension zu der tschechischen Studie von Sahanek über Saar. Der Kritiker teilt zwar lobend die Beobachtung Sahaneks, daß Saar das Leben seiner Helden mit der geschichtlichen Situation verbinde, aber hinsichtlich des tschechischen Volkscharakters und seiner Leidenschaftlichkeit fehle es ihm an Verständnis217. Dies sei unter anderem dadurch zu erklären, daß Saar eine "ehrfürchtige" Scheu vor neuen sozialen Strömungen und eine unauflösliche Verbindung mit der Welt des Adels offenbare218. Andere Stimmen glauben wiederum in den dargestellten Figuren den Typus des Slawen wiederzuerkennen, was gerade bei der Schilderung der Frauen zum Ausdruck komme, eine Meinung, zu der Saar gegenüber Altmann Stellung nahm219. Die neuen geschichtlichen Gegebenheiten nach Saars Tod in den Ostgebieten der ehemaligen k. und k. Monarchie werfen ein neues Licht auf die mährischen Novellen Saars. So urteilt Günther Sawatzki 1942: Die Trauer der durch Habsburgs Innenpolitik damals zurückgegedrängten Deutschen wird fühlbar als eine in guter Haltung erkaltende Resignation, die sich ohne Recht zu Widerstand und echter Herrschertat inmitten des heranflutenden fremden Volksgewimmels auf verlorenem Posten befindet220. So stelle Saars Werk die Entwicklung der kulturellen und politischen Verhältnisse in Österreich dar; vom Innocens gehe der Weg über die Technisierung der Welt bis zur Aufgabe des alten Glauben hin zu einer tiefen Untergangsstimmung221. Die deutschen Kritiker heben dabei gerne hervor, daß Saar anfangs für die großdeutsche Lösung 1866 eintrat und den Kontakt mit den Reichsdeutschen suchte222. Nur zu leicht versuchte man, den Schriftsteller im Nachhinein für den "völkischen Kampf" zu gewinnen. Er habe im Fridolin gezeigt, daß er sich nicht durch die versöhnliche Oberfläche der 217
Vgl. Fischer, der sich auf Leutnant Burda und die Darstellung der Protagonistin in der Troglody-
tin.
Ebenda. Gemeint ist hier vor allem Familie Worel. Vgl. Schaukai, S. 3. Die erotischen Novellen bewegten sich oft auf dem Grenzrain zwischen Deutschtum und Slawentum. Der Gegensatz slawisch-weichen, ordnungsfeindlich-sinnlichen Frauen und deutschen klaren gegen ihre Leidenschaft ankämpfenden Männern - häufig auch als sozialer Gegensatz spürbar - ist ein immer wiederkehrendes Thema. So liebt er Mähren, das fruchtbare schwerschollige Land der gelassenen Herden, der schieiernden Herbstnebel, der sehnsüchtigen Mädchenlieder, der dunklen Kastanienwege und stillen Schloßgärten, Mähren und seine Menschen, die träumerischen Slawen mit den tiefen, schweigenden blauen Augen". Hier schildert Schaukai, nicht Saar Mähren, vgl. Saar an Altmann, 9. September 1897, Briefe Altmann, S. 177: 'Die mährischen Weiber sind eben nicht derb; sie sind [...] still, ruhig, traurig, innerlich und äußerlich weich". 220 Vgl. Sawatzki. 221 Vgl. Schöndorfer, 122f. 222 Vgl. Schall, S. 41. Er zitiert Briefe an Saar, in denen er 1898 aufgefordert wird, weiterhin das Präsidium des Schriftstellerverbandes zu führen. 219
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tschechischen Volkseele täuschen lasse. Die Sprachenregelung innerhalb der Familie Kohout wird als Beweis für den erbitterten Kampf der Nationaliäten in Mähren angeführt223.
d. Weitere Ausgaben des Fridolin nach 1906 Mehr als zwei Dezennien nach der Erstveröffentlichung des Herbstreigens erscheint 1928 eine von Karl Quenzel zusammengestellte Ausgabe von Saars Novellenwerk. Hierin ist auch der Fridolin wiederveröffentlicht. In der Kritik erfährt diese Ausgabe eine positive Aufnahme. Der Fridolin wird neben Leutnant Burda und den Steinklopfern als das Beste aus Saars novellistischem Können gelobt224. Es scheint kein Zufall zu sein, daß gerade in der geschichtlich so bedeutenden und kritischen Situation des zweiten Weltkrieges, die Novelle Herr Fridolin und sein Glück im Universal Verlag Reclam erscheint. Sicherlich konnte diese Novelle keinen besseren Verlag für ihre Verbreitung erhalten. Es verwundert allerdings, daß gerade diese unter den zahlreichen, z. T. doch berühmteren Novellen Saars ausgewählt wurde. Aufschluß über diese Entscheidung aber gibt das Nachwort, das von einem guten Vertrauten Saars verfaßt wurde. Max von Millenkovich-Marold, der Sohn seines treuen Freundes noch aus Soldaten tagen, Stephan Milow, führt das Lesepublikum auf einfühlsame Weise, versehen mit einer tiefen Kenntnis um das Schicksal des Autors, in dessen Lebensgeschichte ein. Dabei ist er bemüht, alte Vorurteile über den Liebling der fürstlichen Gönner und der Wiener Plutokratie richtigzustellen225 und Saars langen Kampf um Anerkennung in einer breiten Öffentlichkeit eindringlich zu schildern. Den Schwerpunkt jedoch legt Millenkovich darauf, Saar als den Chronisten der österreichischen Geschichte, die dieser getreu in seinem Werk vom Vormärz bis zum Konkordat, dem Aufkommen des Antisemitismus und den nationalen Kämpfe abschilde-
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Vgl. Zimperich, S. 265. Vgl. Reinhard, S. 336f. und vgl. Specht, S. 39. Er hebt die feine Pathologie der Erscheinungen in Saars Novellen, die Vielfalt der erotischen Probleme, besonders in seinen weniger bekannten Novellen (u. a. dem Fridolin), hervor. 225 Vgl. Millenkovich-Marold, M. (Hrsg.): F. v. Saar. Herr Fridolin und sein Glück. Leipzig 1944. S. 72-73: Saar sei weder einer der "Herren" noch ein Angestellter gewesen. Dieses Zwitterdasein habe es ihm schwer gemacht in seiner Arbeit anerkannt zu werden. Für seine Gönner sei er ein "Schmuck", ein "Tafelaufsatz" ihrer reichen Tische gewesen. 224
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re226, herauszustellen. Millenkovich liest aus der Novelle eine klare Kritik am Adel heraus, der zwar noch die Herren, aber nicht mehr die Herrscher im Land stelle227. Kürzer als diese Studie fällt der Kommentar von I. Günther aus, der 1947 eine Auswahl von Saars Novellen herausgibt, darunter auch den Fridolin. Diesen stellt er der später verfaßten Novelle Familie Worel gegenüber, und glaubt, in beiden eine Parteinahme Saars für das patriarchalische System zu erkennen. Wie weit dies den geschichtlichen Gegebenheiten noch entsprechen konnte, untersucht er allerdings nicht weiter, sondern begnügt sich damit, Saar eine gewisse Traditionsverbundenheit zu bescheinigen228. Dreimal noch wird der Fridolin in Veröffentlichungen von Saars Novellen aufgenommen, 1983 in die von Karl Konrad Polheim erstellte Ausgabe Sündenfall. Drei Jahre später von Roman Rocek in Ferdinand von Saar. Novellen aus Österreich. Wien 1986. Rocek fügt seinem Buch einen 1983 verfaßten Aufsatz bei229, in dem er sich den neuesten Erkenntnissen der Saar-Forschung anschließt, die den Autor als einen Vorbereiter der 'Moderne' erforscht. Abgesehen von Angaben zu der Entstehungsgeschichte geht Rocek nicht auf die einzelnen Novellen ein. Sein Aufsatz umreißt mehr die weltanschauliche Position Saars als eines Josephiners, der angesichts des Darwinismus und Liberalismus Position ergreife für die Schwächen der Gesellschaft und im Geiste einer Humanität dichtet230. So bilde die sich verselbständigende Selbstsucht des Menschen, die sein ganzes Geschlecht dem Untergang zutreibe, das eigentliche Thema der Novellen231. Für den Fridolin mag auch seine Beobachtung gelten, daß Saar noch vor Breuer und Freud die verdrängten und nicht eingestandenen Begierden im Denken und Handeln selbst derer beschreibt, "die sich auf die Stringenz ihrer Vernunft etwas zu Gute halten"232. Damit aber wird Saar auch zum wirklichen Vorgänger Schnitzlers und der 'Moderne'. Rocek weist jedoch die Quellen seiner Darstellung nicht aus - wie etwa im Falle der Interpretation des Brauers, die eine Inhaltsangabe vom Aufsatz K. K. Polheims ist. 1989 erschien der Fridolin unter den Mährischen Novellen Saars, herausgegeben von Burkhard Bittrich. Der Titel des Bandes schließt an die erwähnte Tradition in der Rezeptionsgeschichte an, Saars Erzählung auf dem Hintergrund des dargestellten Raumes zu betrachten. Allerdings will Bittrich damit nicht einer platten realistischen Darstellungsweise das Wort reden, vielmehr gibt er in seinem Nachwort Einblick in die
Ebenda, S. 69. In diesem Bild habe nun auch eine Dienergeschichte gefehlt, und so sei der Fridolin entstanden. 227 Ebenda, S. 76. 228 Vgl. Günther, S. 11. 229 Er sieht in Saar den Schilderer der decadence, vgl. Rocek, S. 324. 230 Ebenda, S. 319. 231 Ebenda, S. 324. 232 Ebenda, S. 324.
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Verweisungstechnik Saarscher Kunst in bezug auf Mythos, Philosophie und Wissenschaft233.
6. DER FRIDOLIN IN DER WISSENSCHAFTLICHEN LITERATUR Wie die Rezeption der Novelle in der Presse schon zeigte, findet der Fridolin, verglichen mit Saars 'klassischen' Erzählungen, nur wenig Resonanz. Dies gilt auch für die Beschäftigung der wissenschaftlichen Literatur mit dieser Novelle. So interessiert der Fridolin nur insofern, als er sich in das Bild des Schopenhauerianers Saar einordnen läßt234. Die geringe Beachtung, die man in der Forschung dem Fridolin zollt, ist nicht weiter verwunderlich, wenn man sich vor Augen hält, daß in den meisten Studien Saar als pessimistischer Autor eingestuft wird. Alois Maria Nagler, der als einer der ersten einen umfassenden Einblick in das Werk Saars und seine Entstehungszeit geben hat, löst das Problem dahingehend, daß er auch im Fridolin ein typisches Alterswerk Saars im Sinne seiner pessimistischen Weltanschauuung sieht. Zudem wäre Schopenhauer am Beginn der Novelle namentlich beschworen worden235. Ansonsten begnügt er sich mit der Bemerkung, der Dichter habe seinen Novellen aus Österreich eben noch eine Dienergeschichte hinzufügen wollen236. Im weiteren schlüsselt Nagler die Novellen nach ihren Motiven und Haupttypen auf237 und gibt damit einen für die folgenden Jahrzehnte richtungsgebenden Interpretation sansatz vor. Im Fridolin sieht er das Motiv der "amour par d£pit": Miladas enttäuschte Liebe zu Fridolin sucht ihren Ersatz in dem Verhältnis zum polnischen Diener. Fridolin selber rechnet Nagler der Gruppe der Euphoriker zu, also der wahren Lebenskünstler, die den Verstand über das Herz stellen238.
233
Vgl. Bittrich: Mährische Novellen, S. 163-167. Vgl. A199. 235 Vgl. Nagler, H.5/6, S. 145. 236 Ebenda, H.8/9, S. 207. Ein Verfahren, das Charue in unserer Zeit wieder aufgegriffen hat, vgl. Charue, ecrivain. Dieser Linie folgt Kroeber, S. 34, wobei er an Milada die "Oberflächlichkeit" ihres Charakters festzustellen glaubt. Feiner, S. 63, stellt sie hingegen als "skrupellosen Genußmenschen]" hin. Ihre Triebhaftigkeit stehe der vernunftsmäßigen Kühle Fridolins gegenüber. 238 Vgl. Nagler, S. 242. Kroeber bezeichnet Fridolin als den "bedenklichen, entschlußlosen" Ehemann Katinkas, den" einfachen, etwas phlegmatisch biedren herrschaftlichen Diener", vgl. Kroeber, S. 46. Feiner schließt sich dieser Charakterisierung nach "rassischen" Merkmalen an, vgl. Feiner, S. 63. Wenig brauchbar für das Verständnis der Novelle ist die Studie Müllers zu den Charakteren in den Novellen aus Österreich. Die einzelnen Figuren werden im Sinne einer psychologischen Analyse be234
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Zwei Aspekte zeichnen sich bei den allgemeinen Darstellungen über Saars Werk ab: der Versuch, Saar gegen die 'Moderne' und den Biedermeier abzugrenzen und andererseits die politischen und kulturellen Strömungen des 19. Jahrhunderts an seinen Novellen festzumachen. Dieser letztere Ansatz jedoch gehört in die jüngste Saar-Forschung. Schwierigkeiten macht die literaturhistorische Einordnung: der Autor wird sowohl der realistischen als auch der naturalistischen Literaturströmung zugeordnet; der Fndolin scheint sich als Novelle in diese Gruppen nicht einfügen zu lassen239. Einig ist man sich bei der weltanschaulichen Interpretation des Fndolin hinsichtlich der positiven Aussage der Erzählung: diese verkörpere Saars Sympathie für Ordnung240 und gestalte das biedermeierliche Glück in Frieden und Sicherheit241. Diesem Aspekt des Biedermeiers in Saars Dichtung widmete Bernard Lambertus Visscher eine eingehende Studie, die trotz manch guter Ansätze gerade durch ihre Fixierung auf die eine Epoche dem Verständis von Saars Novellen zuwiderläuft. Visscher will Saars Novellen bestimmten Gruppen zuordnen, gesteht jedoch ein, daß dies nicht für alle möglich ist und daß er dabei auch nicht chronologisch vorgehen könne. Aufgrund dessen rechnet er den Fndolin der ersten Gruppe der biedermeierlichen Novellen zu, und stellt ihn auf gleiche Stufe mit Innocens und Marianne, ohne dabei jedoch die zeitliche Differenz der Entstehung (1867-1893) zu beachten242. Natur sei in diesen Novellen Stimmungslandschaft, die Umwelt werde in lyrisch-idyllischen Farben geschildert. Wie dies nun wieder zu Visschers Behauptung paßt, Saar gebe eine realistische Darstellung der stimmten Gruppen zugeordnete!. So zählt Müller Fndolin ebenso wie Herrn Stäudl zu den "Haltlosen". Er sei hin und hergerissen zwischen seinem Selbstwertgefühl einerseits und der erwachten Begierde andererseits. Die Flucht nach Amerika erscheint als Kompromiß-Lösung, die Fridolins Geltungsbewußtsein nicht schadet und zugleich seiner Sinnlichkeit freie Hand läßt, vgl. Müller, S. 57. Milada zeichnet sich durch ihre Gewissenlosigkeit aus, sie ist ein Opfer ihrer Erotik, ebenda, S. 130. Müller geht so weit, in diesen Charaktertypen Saars eigene stark erotische Veranlagung wiederzuerkennen, ebenda, S. 143. Daß Saars Dichtung auch diesen Aspekt der zum Teil krankhaften sexuellen Veranlagungen nicht gemieden hat, steht außer Frage, allerdings liest sich die Arbeit Müllers dann doch eher als ein psychologisches Handbuch, als daß sie etwas von der dichterischen Kunst Saars zu vermitteln weiß. 239 Vgl. Kroeber, S. 27. Für die letzten 15 Jahre spricht er von einem Realismus bei Saar, der sich mitunter naturalistisch gebe und bei dem gelegentlich Ironie und Sarkasmus hervorträten. Mit Hinblick auf den tragischen Dichter vermerkt Kroeber, daß Saar nicht fähig gewesen sei, "wahrhaft glückliche Naturen" zu gestalten. Erst wenn das Schicksal ins Tragische umschlage, erscheine die Erzählung erträglich. Kroeber bezieht sich hierbei auf Ginevra, ebenda, S. 50-51. Die Entstehungsgeschichte zeigt, daß Saar mit diesem Problem zu kämpfen hatte: Fndolin sollte den Weg nach Amerika tatsächlich unternehmen und Milada bei der Überfahrt ums Leben kommen. Diese Variante hätte aber den "humoristischen Ton" der Novelle durchaus gestört. 240 Vgl. Schall, S. 18. 241 Vgl. Feiner, S. 170. 242 Vgl. Visscher, S. 85. Als typische Kennzeichen für diese Gruppe erachtet Visscher, daß diese Erzählungen aus dem Herzen des Autors kämen, sie seine Ideale verkörperten, er noch auf Glück hoffe und die Zukunft in rosigen Farben sehe. Die Ruhe dieser Novellen, ihr wehmütiger Ton, die Hinwendung zu vergangenen Zeiten, dies alles seien Merkmale für das Biedermeierliche dieser Novellen, ebenda, S. 86f.
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Natur, bleibt fraglich243. Abgesehen von einigen realistischen Bruchstücken überwiegt für Visscher das Idealistische auch im Fridolin, so daß er unbedingt dieser Gruppe zuzuordnen sei. Saar halte sich an das Greifbare, Dingliche in diesen Novellen, hingegen das Dämonisch-Dunkle konstatiere er nur, ohne es zu deuten244. Visschers These wird einige Jahre später von Hugo Steinmann relativiert. Dieser spricht vom "biedermeierlichen Lebensgefühl" als einem Aspekt der Saarschen Dichtung, der es ermögliche, die Resignation als eine für ihn typische Haltung zu erklären245. Herr Fridolin und sein Glück erscheint Steinmann als die dem Biedermeier am nächsten stehende Novelle, da in ihr Leben und Wirken am ehesten zu einem Ausgleich gebracht würden. In seiner Saar-Ausgabe verweist Reuter schon in den fünfziger Jahren darauf, daß Saar sich "verzweifelt" modern gefühlt habe246, wenn auch seine Novellen eine Reaktion auf die politischen Ereignisse des Vormärz seien. Die extreme Position von Maresch, der in den fünfziger Jahren in einer Reihe von Artikeln Saars Unverständnis gegenüber der Moderne konstatieren wollte, kann heute als überzogen gelten247. Vielmehr erkannte die Schnitzler-Forschung in Saar einen Vorläufer der Moderne gerade in der Thematik des Traumhaften und Unwirklichen in der menschlichen Existenz248. Bei der Behandlung dieses Themenkreises stützt sich die wissenschaftliche Literatur immer nur auf einige wenige Novellen Saars, vornehmlich auf Schloß Kostenitz oder Haus Reichegg. Fridolin erfährt hierbei keine Beachtung. Vereinzelt finden sich in der Forschung Ansätze, den Fridolin auf seinen historischen Gehalt hin zu untersuchen. Saars Stellung zum Adel hat manchem Interpreten Schwierigkeiten bereitet. Magris versteht Saars dichterisches Werk als die Umsetzung des habsburgischen Mythos, insbesondere des Mythos von der Einsamkeit ohne Schwäche, ohne Glück, personifiziert in der Gestalt Kaiser Franz Josefs249. Dieser Ansatz, der insofern stimmt, als Magris in Saars Novellen den bevorstehenden Verfall der Monarchie thematisiert sieht, geht jedoch über das Ziel hinaus. Für Magris ist Saar ein Monarchist, der seine Kritik nicht gegen das System des Feudaladels richte, sondern nur gegen einzelne "Spaße", womit er wohl die im Fridolin genannten Kaprizen der jungen Adligen meint250.
243
Ebenda, S. 93. Ebenda, S. 103. 245 Vgl. Steinmann, S. 2324. 246 Vgl. Reuter, S. X. 247 Vgl. Maresch, S. 17. 248 Vgl. Klauser, S. 230. 249 Vgl. Magris, S. 194. 250 Ebenda, S. 198. Magris geht soweit zu behaupten, daß Saar in der Modernität und dem Liberalismus eine Bedrohung friedvoller, gesammelter Gefühle gesehen und sie daher abgelehnt habe. 244
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Einen Schritt weiter in der Beurteilung von Saars politischen Anschauungen geht Spielmann. Saar predige für die Sieger, von denen er sich Förderung erhoffe. Daher schreibe er nur das, was sein "adliges Damenpublikum" auch hören könne251. Drehscheibe für Saars Geschichtsverständnis sei die Macht des Zufalls, der den jeweiligen Herrscher zwar begünstigen könne, der aber auch jede Aktivität untergrabe. Um seinem Publikum dies schonend beizubringen und dem Adel seine dem Untergang bestimmte Situation bewußt zu machen, habe Saar den geschichtlichen Zufall als "Totengräber" in die Handlung seiner Novellen, insbesondere in Schloß Kostenitz, eingebaut252. Bei den Arbeiten, die den historischen Hintergrund der Novellen aus Österreich in ihre Interpretationen miteinbeziehen, wird Saars Liebe zur Ordnung nicht nur als biedermeierliches Relikt verstanden, sondern zugleich seine positive Stellung zum Adel, sein Eintreten für das patriarchalische System gerade im Fridolin betont253 und die Novelle als realistische Wiedergabe von gesellschaftlichen Gegebenheiten gelesen254. Die rein poetologische Betrachtung der Saarschen Novellen tritt hinter solchen ideologischen und geistesgeschichtlichen Untersuchungen zunehmend zurück. Wenn Gertrud Fussenegger zum 150. Geburtstag des Dichters einen Blick auf seine Novellentechnik wirft, so geschieht dies unter Berücksichtigung des soziologischen Umfelds seines Lesepublikums. Die typische Rahmenerzählung, wie sie auch im Fridolin vorliegt, ist für Fussenegger ein Indiz für Saars Konzession an sein weibliches Salonpublikum, das sich nicht mit direkten Geständnissen habe konfrontiert wissen wollen, weshalb der Autor zur Form der Lebensbeichte als "Puffer" zwischen Erzähler und Erzähltem gegriffen habe255.
Aus Saars Aufenthalt auf den mährischen Schlössern schließt er seine gesinnungstreue Haltung zum Adel, ohne dabei weiter darauf einzugehen, daß Saar zugleich Gönner in der Wiener Plutokratie hatte. 251 Vgl. Spielmann, S. 243. 252 Ebenda, S. 243. 3 Vgl. Wollerer, S. 94. Hier wird der Fridolin in Opposition zur Familie Word gesehen, die die patriarachalischen Verhältnisse verläßt und damit ins Unglück gerät. 254 Gaßner liest Saars Werk als reale Zeitbeschreibung, so auch die Darstellung des Adels, seine Überlegenheit über die Angehörigen der niederen Schichten und sein Bemühen, seine Langeweile durch Vergnügungen zu überspielen, vgl. Gaßner, S. 66. Ähnlich auch Schadauer, ebenda, S. 74-75. Noch in dem jüngst erschienenen Buch von Friedrich Prinz zur Geschichte Böhmens wird Saar neben Marie von Ebner-Eschenbach, Richard Schaukai und Rainer Maria Rilke als "böhmischer Dichter" angeführt: "Auch F. v. Saar (1833-1906) hat sich weitgehend in seinem Erzählwerk vom Boden der böhmischen Länder gelöst, doch ist es bei ihm weniger eine aufs Wesentliche gerichtete Weitung zum europäischen Horizont wie bei Rilke, sondern mehr das saloppe Parlando(!) der Wiener Salons am Ende der franzisko-josephinischen Epoche, das auch Inhalt und Form bestimmt. Als Bild dieser Zeit behalten Saars Romane(!) und Erzählungen dennoch ihren Wert, und die nostalgische Gegenwart beginnt ihn wieder zu entdecken", vgl. Prinz, S. 322. 255 Vgl. Fussenegger, S. 127-128.
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Der gesellschaftliche Standort des Erzählers bildet auch den Ausgangspunkt für die Studien von Rothbauer und Runggaldier zur Erzählerfigur in Saars Novellen. Da hierbei Saars gesellschaftliche Stellung in der Welt des Adels gleichgesetzt wird mit der Erzählerfigur in seinen Erzählungen, Verfasser und episches Ich nicht geschieden werden, muß es in der Interpretation zu platten Verallgemeinerungen und Fehleinschätzungen kommen. So drucke denn auch im Fridolin die Position des Erzählers Rothbauer erklärt nicht näher, welchen er denn meint, die Figur des "Schriftstellers" oder Fridolin - die Konformität mit dem Schloß aus, und es sei geradezu ein wagemutiger Schritt des Verfassers, wenn er Fridolin mit der Absicht spielen läßt, seinen Herrn zu verlassen. Die Novelle ende dann jedoch aufgrund der Verheiratung Fridolins mit einer Huldigung an Saars adlige Gastgeber256. Solch eine grobe Vereinfachung der Erzählhaltung und Erzählperspektive muß der Intention des Autors zuwiderlaufen. Häufig wurde dem Autor geradezu Humorlosigkeit und Gekünsteltheit im Ausdruck vorgeworfen257. Dies hängt primär damit zusammen, daß man nie eine intensivere Betrachtung der Erzählhaltung vornahm oder, um es mit Hodge zu formulieren, : [...] that his noted lack of humor is rather a result of imperceptiveness on the part of his readers and critics than a fault of his art258. Als einziger Interpret hat Hodge versucht, die ironisch-humoristischen Novellen Saars näher zu untersuchen und insbesondere den Humor im Fridolin in Sprache und Erzählhaltung herauszuarbeiten. Zu Recht sieht er dabei den Fridolin am Ende einer
256
Vgl. Rothbauer, S. 135-138. Auch Runggaldier nimmt diesen Ansatz Rothbauers auf, der die Wohnung der Erzählerfigur in einem Nebengebäude des Schlosses als symptomatisch für die gesellschaftliche und politische Stellung Saars nimmt. Diese Position gelte auch für Saars berufliche Karriere als Soldat: auch in der Armee habe er vergeblich versucht aufzusteigen. Dabei geht schon aus Bettelheims Biographie hervor, daß Saar gegen seinen Willen die Soldatenlaufbahn hatte einschlagen müssen und in keinster Weise daran interessiert war, dort weiter zu kommen. Auch im Falle von Saars Veröffentlichung in der Zeit ist Runggaldier ihrer einseitig rezeptionsästhetischen Interpretation erlegen. So behauptet sie, daß Saar in Rücksicht auf sein Publikum nur gewisse Rundschauen für seine Publikationen aussuchte. Daß er in der Zeit veröffentliche, hinge nur damit zusammen, daß in dieser Zeitschrift auch weniger bekannte Autoren Aufnahme fanden, vgl. Runggaldier, S. 137. Die Entstehungsgeschichte der Novelle läßt die Situation jedoch in einem völlig anderen Licht erscheinen. 257 Vgl. Soukoup, S. 82. Sie nimmt eine Stilanalyse vor und kommt für den Fridolin zum Schluß, daß Saar hier ein falsches "hohles Pathos" angewandt habe. Auch Saars angeblicher Versuch, im Fridolin "satirisch" werden zu wollen - eine Aussage Saars wird nicht nachgewiesen, sondern vermutlich fälschlicherweise auf den Vorwurf der Hohenlohe zurückgegriffen -, sei völlig verfehlt. Aufgrund seiner Weltanschauung sei Saar geradezu unfähig, Humor zu besitzen, womöglich darzustellen, ebenda, S. 97. Satire setze (so Soukoup) voraus, daß man eine Torheit, einen Fehler anprangern wolle, dafür habe Saar jedoch nur den Glauben an die Existenz des Glücks gewählt. Aufgrund seiner eigenen negativen Erfahrungen glaube er jedoch nicht daran, und so bezeichne er seine eigene Bitterkeit als satirisch, ebenda, S. 103. 258 Vgl. Hodge, S. 209. 134
literarischen Entwicklung in Saars Schaffen, da u. a. Novellen wie Leutnant Burda und Seligmann Hirsch - man müßte auch die Troglodytin hinzunehmen - diesen ironischen Erzählton bereits erproben. Hodge erklärt sich diese "instances of humor"259 mit Saars Bestreben, den romantischen österreichischen Idealismus, den er von Grillparzer geerbt habe, mit dem wachsenden Pessimismus angesichts des Verfalls der k. und k. Monarchie zu einer beide Seiten befriedigenden Lösung zu bringen260. Wenn auch der rhetorischen Untersuchung Hodges im großen und ganzen zuzustimmen ist, so liest er die Novelle jedoch zu sehr auf dem Hintergrund der Quijote-Tradition und bezieht die "derben" Szenen und die teilweise naturalistische Darstellungsweise nicht in seine Betrachtung mit ein. Ihm bleibt aber das Verdienst, diese andere Seite Saars in die Forschungsdiskussion miteingebracht zu haben.
259 260
Ebenda, S. 85. Ebenda, S. 85.
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IV. DEUTUNG
1. DIE VORAUSSETZUNGEN a. Die literarische Tradition a. Der treue Diener Fridolin Gleich im ersten Kapitel gibt der Erzähler seinem Leser zu verstehen, daß der Held, "Herr Friedrich - oder eigentlich, der tschechischen Taufliste nach, Herr Bedrich Kohout" (11,9-10), seinen Beruf als Diener in perfekter Weise zu erfüllen vermag. So ersteigt er ohne Schwierigkeiten die Leiter der Diener-Karriere, angefangen vom Tischlerlehrjungen (11,12) über den Hausknecht (11,13) bis zum persönlichen Diener des jungen Erbgrafen (11,29). "Besondere Dienstwilligkeit und Verwendbarkeit" (11,13), "verständnißvoller Eifer" (11,16), eine saubere äußere Erscheinung (11,18) und, nicht zu vergessen, sein von "unterwürfigem Frohsinn" strahlendes Gesicht (11,19), bringen ihm die Sympathie, die "allgemeinste Beliebtheit" (l 1,20) im Schlosse ein. Damit fällt er aus der Masse der Diener heraus und wird "scherzweise" (l 1,24) mit einem neuen Rufnamen versehen. Wenn auch aus einem Einfall geboren, so hat doch diese Umbenennung in mehrfacher Hinsicht ihren tieferen Sinn. Auf der Ebene der Erzählung ist diese Umbenennung des Dieners gleich auf zweifache Weise motiviert. Zunächst tritt als Zugeständnis an die deutsche Herrschaft an die Stelle des tschechischen Bedrich der deutsche Rufname Friedrich. So unterstreicht dieser Name die enge Bindung an die deutsche Herrschaft, deren Sprache sich Fridolin nicht nur in Wort, sondern auch in Schrift beigebracht hat (11,28). Die Wahl des Namens Fridolin, den er von einem "jemand" (11,23) erhält, gilt dem unermüdlichen, treuen Diener und assoziiert beim Leser so wie bei dem nicht näher genannten Namensgeber die literarische Gestalt des "Fridolin". Gemeint ist hier die Figur aus Schillers Ballade Der Gang nach dem Eisenhammer. Kindliche Offenheit, unumschränkte Loyalität, gern geübter Gehorsam und Diensteifer zeichnen den Schillerschen Fridolin aus. So heißt es gleich zu Beginn der Ballade: Ein frommer Knecht war Fridolin/ Und in der Furcht des Herrn/ Ergeben der Gebieterin/ Der Gräfin von Savern (1.1-4)26'. In seinem Dienst versteht er es, dem biblischen Gebot zu folgen, sich als Sklave in aller Ehrfurcht auch den launischen Herren unterzuordnen (IPetr 2,18). So berichtet die Ballade von seiner unumstößlichen Dienstwilligkeit:
261
Vgl. Schiller, Bd. I, S. 392.
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Doch auch der Launen Übermut/ Hätt'er geeitert zu erfüllen/ Mit Freudigkeit, um Gottes willen (1,6-8). Vielleicht erhält Bedrich-Fridolin gerade auch mit Blick auf diese Eigenschaft seinen neuen Namen; stellt er doch hinsichtlich des Ertragens von Launen und Scherzen eine erstaunliche Ausdauer unter Beweis. Im Verlaufe seines Gespräches mit dem Erzähler berichtet er von den Capricen seines jungen Herrn und dessen Freunden (20,12f.), die ihn zuletzt in eiskaltes Wasser stürzen, um sich daran zu ergötzen. Doch auch dies erträgt Fridolin, da ihm der Lohn sicher ist. Denn seit diesem Ereignis hat die gräfliche Familie die Verantwortung für ihn übernommen, so daß er gegenüber Milada zu Recht behaupten kann, er werde im Hause gehalten wie das Kind (32,33). Insbesondere von seinem Herrn erzählt er stolz, daß er ihm nach dem lebensgefährlichen Sturz Trost zugesprochen habe "wie die Mutter dem kranken Kinde" (21,1-2). Mit diesem Vergleich fühlt man sich an die kindliche Liebe erinnert, die der Fridolin der Schillerschen Ballade seiner Herrin entgegenbringt, und die sie zu schätzen weiß: Sie hielt ihn nicht als ihren Knecht,/ Es gab sein Herz ihm Kindesrecht (111,5-6). Zum Ausgewähltsein unseres Fridolin gehört eben auch dieses besondere Verhältnis zwischen Herr und Diener, das über die gewöhnlichen Verpflichtungen hinausgeht. Er verknüpft sein Schicksal mit dem seines Herrn so eng, wie es in einer Familie üblich ist. Mit der Anerkennung seiner Fähigkeiten werden Fridolin aber auch immer mehr Aufgaben auferlegt. Das Vertrauen, das man ihm schenkt, zeigt sich besonders am Ende seiner Laufbahn, als man ihm die alleinige Herrschaft über das Schloß überträgt. Diese Berufung ist wiederum abhängig vom Schicksal der Herrschaft: in dem Moment, in dem der erwartete Stammhalter zur Welt kommt, wird Fridolin in dieses letzte verantwortungsvolle Amt eintreten (21,8). In gewisser Weise mag Fridolins Geschicklichkeit im Umgang mit dem Feuer an die Rolle des Feuerelements in der Schillerschen Ballade erinnern. Schiller äußerte sich gegenüber Goethe, daß er, nachdem er zuvor "Wasser und Luft bereist" habe, nun in einer Ballade das Feuer behandeln wolle262. Seine brausende und zerstörerische Gewalt nimmt denn auch in der Schilderung der Schmelzöfen breiten Raum ein. Aber ebensowenig wie das wilde Element dem frommen Fridolin etwas anzuhaben vermag, zeigt es sich auch für unseren Fridolin nicht von seiner gefährlichen Seite. Vielmehr verfügt dieser über die Kunst, mit den schwierigsten Heizproblemen des Schlosses fertigzuwerden (19,16f.). Er ist somit in diesem Element zu Hause, was ihn gegen die
262
Vgl. Schiller-Goethe-Briefwechsel, S. 471. Der Briefwechsel, erstmals 1828-29 in Stuttgart in sechs Teilen erschienen, wurde mehrfach mit Neuautlagen versehen und war so auch Saar zugängig.
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anderen Elemente, insbesondere das Wasser, feit263. Für die Untersuchung der Saarschen Erzählung ist es nicht unwichtig, die Rezeptionsgeschichte des Gangs nach dem Eisenhammer zu beleuchten, der seinerseits schon auf einen novellistischen Stoff, La fille garson in der Erzählsammlung des Re"tif de la Bretonne Les Contemporaries ou avantures des jolies femmes de Vage prfsent, zurückgeht. Der Stoff als solcher gehört in den großen Kreis der volkstümlichen-märchenhaften Erzählungen264. Wie auch die übrigen Balladen der Klassiker wurde der Gang nach dem Eisenhammer in vielfältiger Weise vom Publikum des 19. Jahrhunderts rezipiert. Der moralisch-didaktische Charakter des epischen Gedichts verhilft seinem Helden zu einer erstaunlichen Popularität. Schillers Ballade wird nicht nur Gegenstand von Parodien und dramatischen Bearbeitungen, auch für die breite Volksschicht wird Fridolin zum Protagonisten neuer Sagen265 und Erzählungen, die zugleich an eine mittelalterliche Erzähltradition anknüpfen können266. Die am weitesten verbreitete Erzählung dieser Art dürfte die 1830 erschienene lehrreiche Erzählung Der Gute Fridolin und der Böse Dietrich des Eustachius, eines Augsburger Canonicus, sein. Wie schon der Titel ankündigt, wird dem guten, frommen und treuen Fridolin in bewußter Schwarzweißtechnik ein schlechter, verwahrloster, diebischer Kontrahent gegenübergestellt. Das mittelalterliche Inventar der Schillerschen Ballade ist verschwunden, aber auch dieser Fridolin kommt in den Dienst einer gräflichen Herrschaft. Hier zeigt die Erzählung Motive, die Saar im Sinne der volkstümlichen Tradition übernommen haben könnte: der gute Fridolin des Eustachius erweist sich ebenfalls als anstellig und strebsam, wird zum Forstgehilfen ausgebildet auch unser Fridolin hat ein enges Verhältnis zum Försterehepaar - und geht als Leibjäger mit dem jungen Sohn des Grafen auf Reisen. Beide kehren "gesittet und gebildet" von der Reise zurück, auf der sich der Diener sogar als Lebensretter verdient gemacht hat267. Der Erfolg dieser Geschichte veranlaßt ein Jahr später einen anonymen Autor in Wien zu einer Bearbeitung des Stoffes Die Gute Frldoline und die Böse Dorothea, diesmal mit weiblichen Protagonisten als "Volkserzählung für Jung und Alt"26*. Im Sinne der erbaulichen Erzählung überwinden der gute Fridolin und die gute Fridoline alle Hindernisse und werden für ihre Tugend und Frömmigkeit mit einer vorteilhaften Heirat belohnt. Diese geradlinige Fabel treffen wir auch bei Saar an, 263
Vgl. dazu das spätere Kapitel über die Symbolik der Elemente. Vgl. Brednich, Bd. 5, S. 662-671. 26 So erscheint 1810 die Sage Fridolin oder das Khul der Vorsehung anonym in Koblenz, 1818 die Sage Fridolin von Eisenfels oder die Eulenburg. 'j/wi So u. a. die Scala cell Johannis Junioris, vgl. Verdam, S. 10. 267 Vgl. Eustachius, S. 183. 268 Vgl. anon.: Die Gute Fridoline und die Böse Dorothea. Wien 1831. 264
141
allerdings eher in ironischer als in "erbaulicher" Absicht. Während der Gang verhältnismäßig wenig Parodisten fand269, eroberte er bald die Bühne270. Die dramatischen Elemente der Ballade riefen mehrere Theaterdichter auf den Plan, allen voran als erfolgreichsten Bearbeiter Franz von Holbein. Er baut nun wieder die mittelalterliche Staffage der Ballade aus. Fridolin, der Edelknecht, entpuppt sich als Sohn des besten Freundes seines Herrn. Die dramatische Spannung wird durch das Eifersuchtsmotiv gesteigert: der Verschwörer beneidet Fridolin nicht nur um seine Stellung am Hof, sondern auch um die Liebe der schönen Luitgarde. Aber auch hier wird der treue Diener zur rechten Zeit durch die Vorsehung gerettet. Ähnlich der erbaulichen Erzählung erlebte dieses Drama Holbeins einen erstaunlichen Erfolg auf der Wiener Bühne, der noch durch eine Fortsetzung, Der Brautschmuck, verlängert werden sollte271. Diese weite Verbreitung des Balladenstoffes und die volkstümliche Erzähltradition im erbaulichen Schrifttum erklären die Popularität der Figur auch noch am Ende des 19. Jahrhunderts. Mit Blick auf unseren Helden erscheint dabei besonders die volkstümliche Tradition als wichtig, da Saar seinen Helden ein Schicksal erleben läßt, wie es eigentlich nur noch das Märchen kennt, so daß sich auch bei diesem Fridolin die Frage nach der Macht der Vorsehung oder einer anderen Gewalt stellen muß. Saar konnte allerdings innerhalb der österreichischen Literatur auf eine weitere Tradition des Dienertypus zurückgreifen, der von großer Popularität war: Die Dienstboten der Wiener Volksstücke verbanden italienische, französische und deutsche Züge miteinander, wodurch die Dienerfigur ihr typisch wienerisches Gepräge erhielt272: der einfältige Bediente, der seinen Drang, witzig zu sein, bis zum Äußersten treibt, erinnert noch an den Hanswurst, während der gewandte und flinke Diener den italienischen Harlekin imitiert. Bei Hafner erscheint dann der Hausknecht auf der Bühne,dem der junge Fridolin in einzelnen Zügen ähneln mag: er ist der ehrliche, treue Bursche, gutherzig, häufig von
269
Vgl. Almanack der Parodien und Travestien. Hrsg. v. C. F. Solbrig. Leipzig 1816 oder Das Buch deutscher Parodien und Travestien. Hrsg. v. Z. Funck, Erlangen 1840, hier in plattdeutsch gesetzt und ins Pastorenmilieu verlegt. Noch 1898 erscheint das parodistische Drama Fridolin der Hausknecht oder Der Spaziergang nach dem Eisenhammer. Ein klassisches Drama in fünf aufeinander folgenden Akten, etwas frei nach Schiller. So bringt in Wien Friedrich Reil Der Gang nach dem Eisenhammer. Eine große romantische Oper in 3 Aufzügen von Schillers gleichnamiger Ballade mit Musik von Conradin Kreuzer 1838 zur Aufführung. 271 Vgl. Seeba, S. 276. Der Fridolin erlebte seit seiner Premiere bis 1831 allein 54 Aufführungen. Allerdings mußte das Stück 1821 auf Anweisung der Zensur in veränderter, entschärfter Fassung gegeben werden. Auch der junge Keller versuchte sich in einer Dramatisierung der Ballade im Stile Holbeins, vgl. Jeziokowski, S. 9. 272 Vgl. Habrada, S. 10-11. 142
einer unglaublichen Beschränktheit - hier weicht Fridolin ab - und so der Prügelknabe der anderen273. Auch diesen Gestalten des Volksstücks sind die Eigenschaften Treue und Opportunismus gemein274. Zu diesem Traditionsstrang gesellt sich u. a. die schon im Zusammenhang mit Hofmannsthals Bauernfeld-Aufsatz erwähnte Dienerfigur des Salonstücks. Hier wird dem Diener die Gelegenheit gewährt, Stellung gegen seinen Herrn zu beziehen und, wie etwa im Falle des Dieners Unruh in Bauernfelds Bürgerlich und Romantisch, durch seine Intrigen die Fäden der Handlung selbst in die Hand zu nehmen und zu entscheiden, was für seine Herren das Richtige ist275. Im Fridolin wird allerdings diesem Herr-Diener-Verhältnis in seinen satirischen Momenten weniger Beachtung geschenkt. Die Figur des Grafen gewinnt für eine tragende Rolle zu wenig Raum. Trotzdem nimmt die Bindung des Dieners an seine Herrschaft immer wieder Einfluß auf das Geschehen. Das damit verbundene zentrale Thema der Dienertreue hatte vor Saar ein großer Dichter Österreichs behandelt und sich damit dem Zugriff der Zensur ausgesetzt, nämlich Franz Grillparzer mit Der (reue Diener seines Herrn. Eine nähere Betrachtung der Entstehungsgeschichte des Fridolin zeigt, daß Saar den Titel des Dramas als Zitat ursprünglich ganz deutlich einsetzte und erst in der Fassung Hr kaschierte: aus "der treue Diener seines Herrn" (V 12,2) machte er "der treue Diener seines jungen Herrn". In diesem Drama steht jedoch nicht ein Bediensteter wie Fridolin im Zentrum der Handlung, vielmehr stellt der Palatin Bancbanus seine Treue unter Beweis. Der "Heroismus der Pflichttreue", den Grillparzer darzustellen beabsichtigte276, birgt hier eine tragisch-komische Note. Beiden, dem Staatsmann wie dem Schloßbedienten, ist das Ideal der Treue und eine
273
Ebenda, S. 29. Vgl. in Hafners Naturmensch und Lebemann meint der alte Diener Jakob Mutz: "Mir geht das wichtigste ab: ein Herr. Durch 24 Jahre war ich gewohnt mir immer befehlen zu lassen, manchmal ein zufriedenes Lächeln meiner Herrschaft zu sehen, manchmal ein Esel geheißen zu werden." zit. nach Habrada, S. 145. Auch Fridolin hat sich an diesen Umgang gewöhnt und muß sich geradezu wundern, wenn er wegen seiner Ungeschicklichkeiten nicht ein Esel geschimpft wird (33,34). Zu der Bedeutung von Treue und Opportunismus vgl. Skrine, S. 245. Hier verweist der Verfasser auf eine Äußerung La Braveres : L'esclave n'a qu'un maitre; l'ambitieux en a autant qu'il y a de gens utiles ä sä fortune" in den Caracteres. Daraus schließt er, daß das Herr-Diener Verhältnis für die Zeit des 17. Jahrhunderts als "ein gesellschaftlicher Vertrag, fundiert auf christlich-biblischer Lehre", modifiziert durch die Tradition aus der römischen Antike und dem lokalen Gewohnheitsrecht zu definieren ist. Diese Struktur hält sich im Barock und in der feudalen K. und K. Monarchie noch bis ins 19. Jahrhundert, bis die Aufhebung der Leibeigenschaft nach 1848 eine gewisse Loslösung von diesem Herr-Diener-Verhältnis ermöglicht. 275 Vgl. Bauemfeld: Bürgerlich und Romantisch in: Werke, S. 299. Mit seiner Lebensphilosophie, in seinem Amt die Charaktere und Nationalitäten genauestens zu studieren und für die unterschiedlichsten Gäste des Hotels die Intrigen zu spinnen, erweist sich Unruh als ein besonders schlauer Vertreter seines Fachs, worin er sich von der Plumpheit eines Hanswurstes unterscheidet, den satirisch gestalteten Figuren Nestroys hingegen eher verwandt ist. 276 Vgl. Grillparzer, Bd. 19, S. 141. 274
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unumstößliche Ruhe und Gelassenheit angesichts der auf sie einstürmenden Willkür ihrer Herren eigen. Zugleich macht Grillparzer deutlich, daß Herr und Diener hinsichtlich des Geschicks aneinandergekettet sind. Die Treue des Dieners beruht so auf einer "personalisierten Verbundenheit"277, er dient nicht einem anonymen Staatswesen. Bancbanus erfüllt seine Pflicht im Sinne einer staatsbürgerlichen Tugend und bestätigt das Königtum als Ordnungsmacht. In der Gestaltung dieser vergangenen Epoche schimmert jedoch schon der Beamtenstaat des 19. Jahrhunderts durch278. Dem Fridolin scheint der historische Bezugspunkt, der für Grillparzers Drama so wichtig ist, auf den ersten Blick zu fehlen. Aber auch hier muß die Frage nach der historischen Bedeutung der Dienertreue als stabilisierendes Moment im Nationalitätenstaat der k. und k. Monarchie gestellt werden.
277 278
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Vgl. Martini: treue Diener, S. 170. Ebenda, S. 174.
. Das Glück der Idylle Saar verbindet die Erzählung von der erfolgreichen Karriere des Dieners Fridolin mit der Feststellung, daß es das Glück nur sehr selten gebe. Schon im Titel wird der Leser auf diesen Aspekt aufmerksam gemacht. Die einleitenden Worte des Erzählers scheinen geradezu entgegen der Philosophie Schopenhauers den Fall Fridolins als ein Beispiel für die Realisierung des Glücks anzuführen. Diese herausfordernde Geste des Erzählers mußte viele Rezensenten dieser Erzählung unsicher machen, war man doch gemeinhin, was Saars weltanschauliche Einstellung betraf, eher an Resignation und Schopenhauerischen Pessimismus gewöhnt. Eine Novelle mit positiver Aussage, die zudem von ihrem Verfasser mehrfach als 'humoristisch', und nicht etwa als satirisch beschrieben wurde279, paßte nicht in das einmal entworfene Bild vom 'Wiener Elegiker'. Ganz außer acht gelassen wurde dabei, daß es vielleicht gerade die Absicht Saars gewesen sein könnte, mit Titel und Thema zu provozieren und den Leser aufzufordern, diese Erzählung bewußt auf dem Hintergrund seiner Novellen aus Österreich zu lesen. Insofern erscheint es als sinnvoll, der Frage nachzugehen,.was Saar an Motiven zum Thema Glück in der literarischen Tradition vorfinden konnte. Überblickt man die Werke maßgeblicher Autoren des 19. Jahrhunderts, wird man nur wenige finden, die ausdrücklich das Glück ihres Helden thematisieren. Dies mag damit zusammenhängen, daß die Erörterung dieser Frage eher dem philosophischen Diskurs als der Erzählung zufällt. So entwickelte Voltaire im 18. Jahrhundert mit der 'philosophischen Erzählung', der 'conte philosophique', ein Mittel aufklärerischer Rhetorik. Sein Candide ou l'optimisme böte sich am ehesten als Beispiel für die literarische Erörterung philosophischer Probleme an. Aber der Unterschied fällt gleich ins Auge: während Voltaire mit der 'conte philosophique', ähnlich wie die ihr verwandte 'moralische Erzählung', eine allgemeine These durch ein erzähltes Beispiel zu belegen sucht280, gibt Saar schon im Titel Auskunft darüber, daß es sich in seiner Novelle um die Darstellung des merkwürdigen und einmaligen Falles des Herrn Fridolin und seines Glückes handelt. Trotzdem läßt sich festhalten, daß Saar, wenn auch in humoristischer Absicht, zunächst seinen Fridolin in die Nähe der moralisch-philosophischen Erzählung rückt und zwar hinsichtlich des Titels und zumindest hinsichtlich der Struktur der ersten beiden Kapitel 281 . Allerdings hat es nicht in Saars Absicht gelegen,
Vgl. Entstehungsgeschichte: Saar zeigte sich darüber besorgt, daß die Erzählung in ihrem humoristischen Ton durch die Trauerfälle in seinem Freundeskreis im Negativen beeinflußt werden könnte. Vgl. Jacobs, S. 65. Man denke hierbei etwa an die Moralischen Erzählungen der Sophie La Röche, die in pädagogischer Tendenz das Thema Glück mit dem Stadt-Land Gegensatz verbindet, nur in der ländlichen Zurückgezogenheit ist das Glück zu realisieren. Voraussetzung sind die entsprechenden Tugenden, Rechtschat fenheit, Folgsamkeit etc. 281 Vgl. dazu das Kapitel Struktur.
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durch Fridolins Beispiel pädagogisch oder erbaulich zu wirken. Die Didaxe war jedoch durchaus im Sinne der Autoren des 19. Jahrhunderts, so etwa in den Erzählungen Gotthelfs, in denen es häufig um das 'glückliche, zufriedene Leben' geht wie im Besenbinder von Richeswyl, oder in Kellers Geschichte Der Schmied seines Glücks aus den Leuten von Seldwyla. Liegt der Glücksvorstellung bei Gotthelf ein sittlich-religiöser Ordnungsbegriff zugrunde, der den Helden ihr bescheidenes Glück durch Fleiß, Frömmigkeit und Beständigkeit des Charakters sichert282, so geht Keller diese Frage auf humoristische Weise an. In seiner Erzählung Der Schmied seines Glücks trifft die Kritik den Einfaltspinsel, der glaubt, durch reine Äußerlichkeiten und auffallende Utensilien das Glück anlocken und seinem Schicksal nachhelfen zu können. Je intensiver er jedoch sein Glück in die Hand zu nehmen glaubt, desto mehr zerrinnt es ihm, bis John Kabys am Ende sich in sein einfaches, aber gesichertes Dasein bescheidet283. Auch bei einem anderen bedeutenden Autor rückt die Vorstellung des Glückeschmiedes in den Vordergrund. Adalbert Stifter läßt gleich Die drei Schmiede ihres Schicksals die Erfahrung machen, daß man auch den Zufall gelten lassen muß, und sein Schicksal nicht allein in der Hand hat284. Alle drei genannten Erzählungen haben in ihrem Aufbau mit Saars Fridolin die Vorgabe des Themas Glück gleich. Die eigentliche Geschichte soll den jeweiligen Lehrsatz unter Beweis stellen bzw. in Zweifel ziehen. Gotthelf formuliert am deutlichsten den Beispielcharakter: "Am Besenbinder von Rychiswil greifen wir aus den hundert Exempeln, an denen wir die obrige Weisheit angeschaut, eines heraus, welches ein Herz zeigen soll, dem Geld Glück brachte"285. Keine großartigen philosophischen Überlegungen, vielmehr pädagogisch bzw. didaktisch einsichtige Beispiele legen die Möglichkeiten des Glücks offen. Mit der Thematik des Glücks verbindet sich aber auch die Vorstellung von einer bestimmten Lebensweise, die sich mit dem Topos des beatus ille vir umschreiben läßt. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Saar, wenn auch Schopenhauer folgend, sein zweites Kapitel unter ein Horazisches Motto stellt: "nemo ab omni parte beatus" (14,6), allerdings in Abänderung zum Orginaltext: "nihil est ab omni parte beatum"286. So ist es Horaz, der mit seiner zweiten Epode, in der er den Wucherer Alfius vom sündenlosen Leben auf dem Lande träumen läßt, den Grundstein für das Bild vom
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So im Besenbiruier von Richiswyl. Auch in Uli, der Knecht schafft es der Protagonist auf diesem Weg zu Wohlstand und wird sein eigener Herr. Belehrt werden sollen all die, die glauben Geld bedeute zugleich Glück: auf das Herz kommt es an, so wird ihnen bedeutet, vgl. Gotthelf, Bd. 21, S. 160. 283 Vgl. Keller: SW, Bd. 8, S. 73. 284 Daß auch hier die beiden Helden sich der Lehre der Stoa verpflichten, allerdings aus genauer Kenntnis, bringt sie Fridolin näher. Denn im entscheidenden Erlebnis, der Liehe, versagt auch hier der stoische Gleichmut. 285 Vgl. Gotthelf: Werke, Bd. 21, S. 160. 286 Vgl. Horaz: Oden II, 16.
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"glücklichen Landmann" 287 legt. In der christlicher Auslegung dieser Epode erhält das kleine Landgut zunehmend die Umrisse des Paradieses288. In dieser idyllischen Vorstellung kehrt der "Paradiesgarten" in wenigen Fällen auch in Saars Dichtung wieder. Zu diesem ländlichen Raum fügen sich bestimmte Motive, die sich über den Humanismus und die Emblematik des Barock bis in die Literatur des 19. Jahrhunderts, etwa in Stifters Nachsommer, für die Figur des beatus ille vir erhalten haben: im Verlangen nach Frieden und Ruhe in einer Zeit des Umbruchs zieht sich der weise, bescheidene glückliche Mann auf sein - meist ererbtes - Landgut zurück289. Somit ist es häufig ein Mann von Stand, der dieses Leben führt. In diesen Bearbeitungen des Topos ist es jedoch von Bedeutung, daß der beatus ille vir sein eigener Herr ist. Wie erwähnt, gehört zum Topos des beatus ille vir der Garten, wobei an die Stelle des pflügenden Bauern der Antike der seinen Rosengarten kultivierende vornehme Herr tritt. Hier sei nochmals auf Stifters Nachsommer und seinen Freiherrn von Risach verwiesen. In diesem Roman ist das Rosenhaus mit seinem Garten das zentrale Symbol, in dem sich der ästhetische Effekt mit der "Häuslichkeit und Nützlichkeit"290 verbindet. In dieser Stifterschen Utopie bilden Natur und Kunst ein harmonisches Gefüge. Einzelne Elemente dieser Utopie lassen sich im Fridolin wiederfinden - der rosendurchduftete Rosengarten, der zugleich auch ein Nutzgarten ist, oder auch die pflegende Erhaltung des musealen Schlosses291. Da jedoch der Aspekt der Kunst für Fridolin ausgespart bleibt, muß hier eine eher ironisch-satirische Absicht des Autors gelten. So läßt sich die Frage stellen, ob Saar mit seiner Novelle ebenfalls eine rückwärtsgewandte Utopie - allerdings humoristisch - hatte darstellen wollen. Abschließend soll noch Saars Werk selbst befragt sein, inwieweit hier das Glück bzw. die Idylle als Ort des Glücks thematisiert werden. Tatsächlich fällt es schwer, neben dem Fridolin eine Figur zu finden, die ihr Glück macht. Nur zu oft geraten die Helden in Konflikt mit ihren Leidenschaften, die sie aus der Bahn werfen und ein geregeltes Leben, wie es Fridolin kennt, nicht mehr führen lassen. Als 'schwache Naturen' gilt ihnen zugleich die Sympathie des Erzählers292, der, wie im Falle der Geigerin
287
Vgl. Rostvig, S. 494. Ebenda, S. 495. 289 Ebenda, S. 497. 290 Vgl. Stifter, Bd. 6, S. 58. Es sei hier auf das Kapitel zur Biedermeieridylle verwiesen. Autfallend ist die Übereinstimmung zwischen der "kleinen Villa" Fridolins und seiner Tätigkeit als Tischler in der Schloßtischlerei einerseits und der Darstellung der Kunsttischlerei im Nachsommer. In der Fassung J 1 hat Saar Fridolins Vorgänger als "Kunsttischler" bezeichnet, wodurch die Bedeutung dieser Tätigkeit, die ja nicht unbedingt mit der eines Dieners zusammenhängt, noch hervorgehoben wurde. Allerdings dürften für Fridolin mehr die Ideale des alten Drendorf gelten, da ihm die wissenschaftlich-künstlerische Ausbildung Heinrichs fehlt. 292 Vgl. Bittrich: Biedermeier, S. 374. Bittrich vermutet in dem versöhnenden Schluß der Steinklopfer eine Annäherung an die Gattung der Dorfgeschichte. Baasner macht in seiner Interpretation ebenfalls deutlich, daß dieses "happy end" nicht als "plumpes Glück" zu verstehen ist, sondern daß hinter 288
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Ludovica oder des Conte Gaspares über ihr trauriges Ende durch Selbstmord berichten muß. Leben die einen ihre Leidenschaft aus und müssen dafür mit Selbstaufgabe, Erniedrigung und sogar dem Tod bezahlen, wie etwa auch Elsa in der Geschichte eines Wienerkindes, so gelingt es nur wenigen "entsagend zu genießen" (KTD l, 15,32), wie der Dichter in Marianne oder Innocens, der seiner Liebe zu Ludmilla entsagt und damit sein eigentliches Glück im Frieden und in der Ruhe seiner Zurückgezogenheit auf dem Wyscherad erwirbt. Auch Ginevra in der gleichnamigen Novelle wächst über die bitteren Erfahrungen der enttäuschten Liebe hinaus und vermag als 'starke Natur' ihr Leben tätig in die Hand zu nehmen und neu anzufangen. Und dem Paar Tertschka und Georg in den Steinklopfern ist nach gemeinsam erfahrenem Leid am Ende eines dramatischen Kampfes um das Recht ihrer Liebe ein glückliches Zusammenleben vergönnt. Wie im Innocens faßt Saar diese trauliche Zweisamkeit in das Bild des idyllischen Heims: fernab vom Treiben in der Welt führt Ludmilla auf dem Wyscherad eine glückliche Ehe, und das Steinklopferpaar kann in einem "kleinen Anwesen, das [...] gar still und friedlich anmutet," mit einem "umfriedeten Garten" (SW 7, S. 151-152) seine Kinder großziehen. Für all diese 'glücklichen Figuren' gelten die Vefse aus Saars Gedicht Vorgefühl: [...] das Glück kommt spät/ Aber es kommt noch/ Gezwungen, zu entsagen/ Hab' ich gedarbt entbehrt/ Und hab' in kräft'gen Tagen/ Vom eigen Mark gezehrt (SW 2, S. 29). Das idyllische Glück ist also nie ohne Verdienst erworben, sondern es geht ihm je nach Charakter der Figuren ein mehr innerer oder auch äußerer Kampf voraus. Im Bild des Gartens, das sich häufig in den Novellen Saars wiederfindet, wird der Grad des Glücks des beatus ille vir bzw. der beata illa femina angedeutet. Dieses Glück birgt jedoch zugleich immer die Gefährdung in sich. Im Schloß Kostenitz dürfte dies am deutlichsten werden. Der "idyllische Zustand" (SW 9, S. 294), in dem sich Klothilde und ihr Mann in Schloß und Park befinden, der "Burgfrieden" (SW 9, S. 301), wird jäh gestört, und die von Klothilde geschaffene Insel der Einsamkeit im Tiroler Haus293 kann ihr keinen Schutz bieten. Innocens hat das friedliche Glück in einer Art Paradiesgarten ohne Sündenfall gegen die Ungewißheit der Leidenschaft eingetauscht und ist zur Erkenntnis gelangt, "daß nur jenes Glück, welches wir ganz in uns finden, Dauer verspricht und jedes andere, so schön es auch sei, von einem Hauche in nichts
diesem Idyll eine dem Schopenhauerischen Pessimismus entgegengesetzte "poetische Auffassung" steht, vgl. Baasner, S. 52. Zugleich erscheint die Idylle am Ende wieder in die alltägliche Welt zurückgeführt, denn sie bleibt der "alternden Erde" und damit der Zeitlichkeit ausgesetzt, ebd., S. 73. 293 Ihre Suche nach Sicherheit und Ordnung, die sich auf ihr Inneres übertragen sollen, zeigt sich auch hier in der Lektüre der Stißerschen Studien (SW 9, S. 289).
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zerstieben kann" (KTD 3, 40,14-15). Georg und Tertschka haben durch die Eisenbahnlinie an ihrem Haus ständig ihr einstiges grauenvolles Dasein als Steinklopfer vor Augen und sind zugleich auch wieder dem Einfluß der Zeit und Vergänglichkeit ausgesetzt294. Ein echtes Idyll sollte Saar dann mit seinem Versepos Hermann und Dorothea schaffen, das mit seiner politischen Aussage später in einem anderen Zusammenhang beleuchtet wird. Für das erzählerische Werk Saars läßt sich zunächst festhalten, daß man eher von 'starken Naturen' als von 'Glücklichen' sprechen kann. Die letzteren bilden unter den Helden Saars die Ausnahme. Inwieweit Fridolin ihnen ähnelt bzw. seine Idylle sich von denen der genannten starken Naturen abhebt, wird im Kapitel zum philosophischen Gehalt der Erzählung noch näher zu erörtern sein.
b. Die außerliterarische Realität a. Eine mährische Schloßgeschichte Kurz nach der Erstveröffentlichung seines Fridolin in der Zeit äußert sich Saar gegenüber Marie von Ebner-Eschenbach eher zurückhaltend über die Bedeutung dieser neuen Novelle und bezeichnet sie als ein "buntes Ergänzungsbild zu den Novellen aus Österreich" (BrWIS). Bei einer rein am realistischen Material gemessenen Lektüre ließe sich diese Dienergeschichte tatsächlich als eine Erweiterung in Saars Darstellung der österreichischen Gesellschaft verstehen. Dieser 'realistischen' Seite der Novelle soll jetzt Rechnung getragen werden. Der Interpretation bleibt die Aufgabe vorbehalten, den poetischen Aspekt dieses Realismus aufzudecken. Ebenfalls gegenüber Marie von Ebner-Eschenbach gibt Saar zu erkennen, daß er bedingt durch den zentralen Raum seiner neuesten Erzählung - dem Schloß N -, den Fridolin als 'Schloßgeschichte' verstanden wissen will. So liest er während der Entstehungszeit Ebners Schloßgeschichte Er laßt die Hand küssen (BrW14). Diese Erzählung war 1886 in den Neuen Dorf- und Schloßgeschichten erschienen. Die Formel devoter Höflichkeit, die im Titel genannt wird, baut Saar in humoristischer Absicht immer an den Stellen seiner Erzählung ein, an denen Fridolin gerade seine Herrschaft entweder hintergehen will oder sie bereits hintergangen hat (35,18; 41,28). Als Kenner der mährischen Landschaft und als "Gast auf den Schlössern der
Vgl. A. 292. Man kann die "dampfende und teuerspeiende Maschine" als Hinweis auf den "Drachen" verstehen, d. h. den Stiefvater Tertschkas, der das gemeinsame Glück bedrohte und letztlich durch die Hand Georgs, des Drachentöters, fiel, vgl. Baasner, S. 57.
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Adligen"295, ist es nicht verwunderlich, daß Saar, wie es die Fürstin Hohenlohe mit Blick auf den Fridolin formuliert, die 'Staffage' der Schlösser wählt, die er selbst bewohnen durfte. So bringt er im Fridolin in die Schilderung des Schlosses zu N (l 1,9) und seiner Umgebung einzelne charakteristische Merkmale der von ihm am häufigsten aufgesuchten Schlösser Blansko und Raitz in Mähren ein. In beiden Schlössern hatte Saar freundliche Aufnahme bei seiner Gönnerin, der Altgräfin Elisabeth von Salm-Reifferscheidt, gefunden, und schon in seinem ersten Brief aus Blansko schildert er seinem Freund Milow die für diese Gegend typischen Bergund Hüttenwerke (BrW28), die im Fridolin als möglicher neuer Arbeitsplatz für den Helden erwähnt werden (32,13). Seit 1766 gehörte Blansko mit seinen Eisenhütten und Schmelzöfen zum Besitz der Familie Salm-Reifferscheidt. Der Stammvater dieses Geschlechtes, Altgraf Anton Karl Josef zu Salm-Reifferscheidt, hatte schon 1760 Schloß Raitz und das Gut Jedowitz erworben296. Aber erst die weitausgebauten Hüttenwerke von Blansko, Ruditz, Olomucan und das Nebenwerk von Lettowitz brachten dem Geschlecht Reifferscheidt und der Gegend Wohlstand297. Diese schildert der Verfasser einer Studie über Mähren und Schlesien in dem vom Kronprinzen Rudolf herausgegebenem Kompendium über die Österreichisch-Ungarische Monarchie wie folgt: Von Brunn aus wird das Tal der Zwittawa immer enger und wird zu vielen Krümmungen gezwungen, die jedoch die Eisenbahn nicht mitmacht. Bei Blansko mündet der Punkava-Bach in die Zwittawa, eine natürliche Voraussetzung für die Ansiedlung von Eisenindustrie [...] in diesem Tal hört man das Pochen der Hämmer, das Kreischen der Maschinen, das Pusten und Pfeifen des Dampfes tritt aus den verschiedenen Sal m'sehen Eisenwerken298. Hier mag man sich wieder an Schillers Ballade erinnert fühlen, die ja gerade durch die Darstellung der Hüttenwerke und ihres Schmelzofens eine dämonisch-grausame Atmosphäre gewinnt. Unserem Fridolin bleibt allerdings 'zum Glück' der Weg vom Schloß zu den Eisenwerken erspart. Daneben weiß aber der Verfasser des Kompendiiimartikels auch von den romantischen Seiten der Gegend zu berichten. Die natürliche Beschaffenheit des Grauwackebodens, diese von unterirdischen Bachläufen, kleinen Teichen und zerklüfteten steilen Bergwänden geprägte Landschaft, sei für die zahlreichen Geschichten um Nixen,
295
Vgl. Saar an Altmann, 14. Dezember 1896, Briefe Altmann, S. 86. Vgl. Schaukai, S. 3. Vgl. Kronprinz Rudolf: Monarchie, Bd. 17, S. 449-450. In den beiden späteren Novellen Dissonanzen und Familie Word wird Saar diesen historischen Hintergrund miteinhringen, wenn er die Arbeiterbewegung in Mähren darstellt. 298 Ebenda, S. 12. 296
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Wasserjungfrauen und Pelzweibchen verantwortlich 299 . So mag Saar Anregungen aus dieser sagenumwobenen Gegend für die Schilderung des heimlichen Zusammentreffens von Fridolin und Milada am "Feenteich" und auf dem steilen, Fichten bestandenen Felsen erhalten haben. Zu den Eisenhüttenwerken in Blansko im Punkavatal gehörte eine kleine Arbeitersiedlung mit einem Gasthof, von dem der ehemalige Hüttendirektor, Otto Kanders, zu berichten weiß: Ferdinand von Saar kam häufig ins Werksgasthaus nach [Klepatschow], allwo stets gute Gesellschaft und ein edler Pilsner Urquell zu finden war (BrW86). Daneben traf er Saar auch "beim Frühschoppen beim Sikora in Blansko", einem "braven Wirt", bei dem sich der "Sikora-Kreis" zusammenfand und dessen Name, nur in anderer Schreibweise, im Fridolin als Gastwirt Herr Sykora wieder auftaucht. Zum realen Sikora-Kreis zählte neben dem "feinfühligen Musiker Dr. Trodsaka" und dem "Krämer Wassertrilling" auch der "Burgwart Fridolin". Hier setzen sich Figuren aus dem Fridolin und dem Tambi an einen Tisch: der Krämer dürfte das Vorbild für den Besitzer des Branntweinausschankes im Tambi abgegeben haben, während der verständnisvolle Musiker, nach Angaben Sofies, ursprünglich in die Handlung des Fridolin einbezogen werden sollte300. Ob der Schreiber dieses Briefes Realität und Fiktion vermischt oder ob der erwähnte Burgwart tatsächlich Fridolin gerufen wurde, ist nicht nachzuweisen. Immerhin zeigt dieser Brief, daß Saar mit seinem Fridolin dem "Sikora-Kreis" ein bleibendes Denkmal setzte. Was nun das Blanskoer Schloß betrifft, so hat Saar bei der Schilderung der "gemütlichen Häuslichkeit" der Kohouts seine dortige Wohnung während seiner kurzen Ehe mit Melanie Lederer vor Augen gehabt. Das Dienerehepaaar bezieht in dem "Nebengebäude eine sehr geräumige, nett ausgestattete Wohnung" (12,33), von der aus sie jeder Zeit ihrer Herrschaft zur Verfügung stehen können. Ähnlich gestalteten sich die Wohnverhältnisse in Blansko, als Saar heiratete: Ein reizendes Haus, an das Schloß grenzend, ist uns zur Verfügung gestellt; aus Wien treffen Möbel ein, alles mögliche Eß-, Trink- und Kochgeschirr wird angeschaftt; kurz: ich brauche nur einen Sprung zu thun, um in eine ganz bequeme Häuslichkeit und in die Arme einer liebevollen und unermüdlich sorgenden Gattin zu fallen301.
299
Ebenda, S. 167. Nämlich als Vermittler zwischen der Herrschaft und dem allein aus Amerika zurückkehrenden Fridolin, vgl. Soff*5, S. 261. 301 Vgl. Saar an Josefine v. Wertheimstein, Blansko, 13. November 1880, Kann, S. 357.
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Ähnlich wie Katinka, die immer wieder zur Herrschaft ins Schloß gerufen wird, mußte auch Saars Gattin als Gesellschaftsdame der Gräfin Salm zur Verfügung stehen, was zeitweilig Unruhe in ihr Familienleben brachte. So charakterisiert Saar gegenüber Leopold v. Wertheimstein seine Ehe: Es wird eine Ehe der Arbeit und der Dienstbarkeit sein. Der Arbeit von meiner Seite, der Dienstbarkeit von Seiten meiner Frau, die ihre Stellung im Hause Salm beibehält302. Das Schloß N. verbindet sich aber in der Darstellung mit dem im Vergleich zum Blanskoer Besitz weit prächtigeren Schlosse Raitz. Auf Raitz, seinem 'stillen Dichterheim', entsteht ja auch der Fridoün, fernab von der Betriebsamkeit der Stadt Wien. Saar kann sich von den Innenräumen und Anlagen des Schlosses inspirieren lassen, wie er es schon in seinem Gedicht Das erwachende Schloß tat. Hier schildert er das Leben der Schloßbewohner und seines Personals vom frühen Morgen bis in den späten Abend: [...] Noch eine Stunde. Dann ein erster Ruck-/ Und nach und nach belebt sich dieses Schweigen./ Emporgerüttelt aus dem kurzen Schlaf/ Der Arbeit hat die Pflicht den Dienertroß./ Mit unvergnügter Hast geht er ans Tagwerk,/ Indes verschlafne Bonnen, leisen Fußes,/ Vorsorglich seidnen Kinderbetten nah'n,/ Und gähnend ihre Brust die träge Amme/ Dem Säugling reicht, der schon nach ihr gewimmert. Und später dann, von einsam öden Lagern,/ Aus öden Träumen, heben seufzend sich/ Empor die Lehrer und die Gouvernanten,/ Die mit ergraun'den Häuptern immer noch/ Als lebende Vokabelntrichter wandeln./[...] [...] - und nun rollt der Tag/ Durch jedes Leben dieser Welt im kleinen,/ Der Tag mit seinem Schicksal - bis sich wieder/ Zum Schlummer sanft das letzte Äug' geschlossen. (SW 2, S. 132-133.) In dem Gedicht Nünie von 1889 (SW 2, S. 58) erinnert der Abschied von Schloß und Park, die verödet und traumgleich daliegen, an das einsame Schloß und den "Feenteich" im Fridolin. Aber auch hinsichtlich der Innenausstattung zeigen sich erstaunliche Parallelen zum Schloß Raitz. Dieses wurde zur Zeit des Hochbarocks erbaut, als Adlige aus Italien, Spanien und dem Deutschen Reich nach Mähren zogen und sich reich mit Stuck
302
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Vgl. Saar an Leopold v. Wertheimmstein, B., 24. Januar 1 8 8 1 , Kann, S. 356.
verzierte Stadtresidenzen und Schlösser errichten ließen3"3. 1763 wurde das Schloß Raitz unter Leitung des Architekten Beduzzi im Rokokostil umgebaut, wodurch einem Verfall des Besitzes vorgebeugt werden sollte304. Anfang des 19. Jahrhunderts befand sich Mähren in einer Schaffenspause. Da die Adligen häufig, wie auch im Falle Salm, über mehrere, zumeist aus früheren Jahrhunderten stammende, Schlösser verfügten, fehlte es an Mitteln, alle instandzuhalten. Die Folgen bekam Saar auf Schloß Raitz zu spüren, das seit den 1890ger Jahren fast nur noch von ihm allein bewohnt wurde. Die Gräfin Salm, die leidend war, zog den Aufenthalt in Wien oder Meran vor und wunderte sich ihrerseits darüber, daß Saar sich im 'stillen Raitz' wohlfühlte. Um das Schloß nicht gänzlich verfallen zu lassen, wurden in ihrem Auftrag 1892 noch Veränderungen vorgenommen. So werden nutzlos gewordene Räume, wie etwa die Waschküche, beseitigt (BrW55). Die im Fridolin geschilderten Heizprobleme entsprachen ebenfalls den realen Gegebenheiten: Im übrigen ist Raitz, obwohl schön und imposant, kein besonders günstiger Winteraufenthalt, denn die Räume sind ausgedehnt und daher schwer zu erwärmen, so daß sich die fürstliche Familie schon in die kleineren Zimmer des ersten Stockwerkes zurückziehen mußte305. Zur Entstehungszeit des Fridoüns hat die Gräfin Salm die Betreuung des Schlosses völlig abgegeben. Saar hat es übernommen, sie über die nötigsten Veränderungen zu unterteilten (BrW56). So kann zu dieser Zeit schon nicht mehr der zweite Stock genutzt werden, weil das Heizen unmöglich geworden ist. Die Gräfin kommt daher zum Schluß: Ich finde Raitz in seiner ganzen Anlage wunderschön, es ist aber eine theure Geschichte, es zu erhalten und zu bewohnen (BrW56). Gerade das kostbare Inventar des Schlosses verlangte aber eine sorgfältige Betreuung: Ahnenportraits, antike Kästen, barocke Seidenmöbel, kunstvolle Schnitzereien, unzählige Nippesgegenstände, eine berühmte Kupferstichsammlung, Gegenstände aus Bergkristall und papierdünn geschliffne Pokale mit mythologischen Szenen gehörten zu den Reichtümern, die dieses Schloß hütete. Hierbei erinnert man sich der Kostbarkeiten, die Fridolin unter seiner Obhut hat: "[...] die reichgeschnitzten Möbel und breitumrahmten Bilder, die alten Gobelins und persischen Teppiche, die zahllosen Statuetten, Vasen und Nippgegenstände, sowie der funkelnde Tafelschatz in allen Metall-,
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Vgl. Kronprinz Rudolf: Monarchie, S. 346-48. Vgl. Schaukai, S. 4. Vgl. Saar an Hohenlohe, 26. Dezember 1888, Briete Hohenlohe, S. 192. 153
Porzellan- und Glassorten" (12,26f.). In einem der Räume des Schlosses Raitz zierte ein prachtvolles Holzmosaik den Boden. Ein solcher wird auch im Fridolin erwähnt (13,14). Die Beziehung zu seinen beiden 'Zufluchtsstätten' geht jedoch über Darstellung der 'Staffage' hinaus. So nimmt Saar ein Detail aus der Familiengeschichte des Geschlechts seiner Gönner mit in den Fridolin auf: Der Diener wird den Höhepunkt seiner Laufbahn erreicht haben, wenn der zu erwartende Stammhalter zur Welt gekommen ist und er das Amt des Schloßverwalters antreten wird (21,8). Tatsächlich wird am 14. Oktober 1893 dem Altgrafen Hugo Leopold von Salm auf Schloß Blansko ein Sohn geboren306. Die Erwähnung dieses Familienereignisses mag von Saar als versteckte Geste der Dankbarkeit an seine jahrelangen Gönner gedacht sein, die ihm ein ruhiges Schaffen in ihren herrschaftlichen Schlössern ermöglichten. Wie sein eigenes Schicksal auf gewisse Weise mit dem dieser Adligen verknüpft war, so gestaltet er in seiner Erzählung das Glück des Dieners in Abhängigkeit vom Werdegang seiner Herrschaft. All diese realistischen Details dürfen jedoch nicht von der eigentlichen Kunst der Darstellung ablenken, die auf eine tiefere symbolische Ebene zielt und den poetischen Gehalt dieser Erzählung wie auch des Gesamtwerkes von Saar ausmacht.
ß. Das Nationalitätenproblem Im Zusammenhang mit der Rezeptionsgeschichte des Fridolin wurde bereits auf den kulturpolitischen Aspekt der Novelle hingewiesen und im Kapitel über die 'Schloßgeschichte' die realistische Staffage der mährischen Güter vorgestellt. Die Nennung einzelner Ortschaften und Städte läßt die Novelle topographisch genau dem Raum um Brunn zuordnen. Mähren bedeutet jedoch nicht nur einen 'landschaftlichen' Raum, dem Saar im Fridolin auch nur im beschränkten Maße gerecht würde*1", sondern mit ihm verbinden sich bestimmte ethnische, nationale und politische Komponenten innerhalb der K. und K. Monarchie am Ende des 19. Jahrhunderts10*. So zählte Mähren zwar
306
Vgl. Genealogisches Handbuch, S. 289. Im Gegensatz dazu widmet er z. B. im Dr.Trajan der Mährischen Schweiz, der Beschreibung des Horic und des Höhlengebietes bei Brunn wesentlich mehr Aufmerksamkeit. Aber auch hier handelt es sich nicht um bloße 'realistische' Landschaftsbeschreibung, vielmehr wird die wissenschaftliche Einstellung gegenüber dem Objekt Natur und die Forschertätigkeit als solche damit charakterisiert. Der Raum erhält zudem symbolische Bedeutung, was am Beispiel etwa des Berges Horic zu sehen ist. Hier hält Dr. Trojan, gleichsam wie Christus, seine "Bergpredigt", in der er seine beruflichen Grundsätze verkündet. Damit steht er jedoch abseits von den aufstrebenden Entwicklungen der Gemeinde, in der er tätig wird. Während sein tschechischer Gegenspieler Dr. Srp am fortschrittlichen tschechisierten Ort praktiziert, wird Dr. Trojan immer mehr in die Randbezirke verdrängt und isoliert. Der für die soziale und politische Entwicklung in Böhmen wichtige Gegensatz von Stadt und Land kommt hier zum Tragen. 308 In seiner Arbeit über die Geschichte Böhmens legt Friedrich Prinz diese besondere Rolle 307
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zu den Ländern der Böhmischen Krone - ebenso wie Böhmen und Österreich i sch-Schlesien -, aber gerade hinsichtlich der Bestrebungen Prags, nach der Revolution von 1848 diese drei Länder zu einem umfassenden Gesamtstaat zusammenzufügen, zeigte sich Mähren wie auch Österreichisch-Schlesien ablehnend3119. Die Konflikte Böhmens sollten nach Mähren mit zeitlicher Verschiebung übergreifen. Im Revolutionsjahr, als eine tschechische Nationalpropaganda auch hier um Stimmen warb, behauptete sich noch ein "übernationales, mährisches Gemeinschaftsgefühl"310. Schon der deutliche Hinweis in der Erzählung, den Kindern Fridolins werde die "Wohlthat" eines zweisprachigen Unterrichtes zuteil (14,6-7), wodurch der Nationalitätenausgleich aufs Beste praktiziert werde (14,9), muß jedoch als versteckter Hinweis auf die Problematik der deutsch-tschechischen Beziehungen auch in diesem Teil der Monarchie bewertet werden. Um die historischen Hintergründe dieser Erzählung zu erhellen, wird es nötig sein, einen Blick auf die nationalen Auseinandersetzungen zu werfen. Dabei ist vor allem von Interesse, wie Saar in seinen übrigen Werken auf die Konflikte von Tschechen und Deutschen eingegangen ist. Wenn im folgenden vorrangig die Frage nach dem 'Sprachenstreit' behandelt wird, so muß dabei mitberücksichtigt werden, daß dieses Problem an die Bestrebung nach nationaler Gleichstellung gekoppelt war. Das Erstarken des Nationalgedankens und die damit verbundenen Forderungen in Böhmen, Ungarn und Österreich-Italien mußten die Habsburger Monarchie in ihrer Existenz gefährden3". Dessen war sich auch Saar bewußt. Wenn er so im Fridohn oder etwa im Dr. Trojan die Frage nach der Tschechisierung der Städte aufwirft, und dies etwa an dem Übergewicht slawischer Orts- und Namensschilder darstellt, so verweist er mit diesem Detail auf eine weittra-
Böhmens dar: "Böhmen ist seit dem 19. Jahrhundert sowohl ein Brennpunkt des Nationalismus und des Nationalitätenkampfes als auch gleichzeitig, und dies bis in die Gegenwart hinein, ein Brennspiegel der Nationalismus-Forschung", vgl. Prinz, S. 27. 309 Ebenda, S. 61. 1 Ebenda, S. 62. In Mähren hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt noch keine starke slawisch-bürgerliche Schicht herausgebildet, die - wie im Falle Böhmens - die nationale Bewegung getragen hätte, vgl. ebd., S. 63. Noch 1893 verteidigt der mährische Landtagsabgeordnete Alfred von Skene die These des "friedlichen Zusammenlebens beider nationaler Elemente, die wirkliche Gleichberechtigung, das fröhliche Gedeihen beider [...] keine Scheidung von unserem treuen alten Bundesgenossen Österreich (...) keine Absonderung von dem grossen ganzen österreichischen Kaiserstaate", vgl. Skene: Bewegung, S. 1. Skene setzt sich für einen Patriotismus für den Gesamtstaat Österreich ein und bekämpft den "gefährlichen Provinzialpatriotismus", ebenda, S. XXI. Wie Saar es fünf Jahre zuvor als politischen Entwurf in Hermann und Dorothea vorgeschlagen hatte, so gab auch Skene seinen deutschen Landsleuten den Rat, die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Tschechen zu akzeptieren und ein gutes Miteinanderauskommen zu praktizieren, vgl. Skene: Ausgleich, S. 2. Dazu gehöre auch die Erlernung des Tschechischen, also die Anerkennung der Gleichberechtigung und die Verhinderung einer sprachlichen Isolierung. 311 Ebenda, S.38. 155
gende Entwicklung. Gleichberechtigung der Sprachen und der Nationalitäten ist eine Forderung, die während der Zeit der nationalen Kämpfe im 19. Jahrhundert bis zum Ende der Monarchie immer wieder erhoben und z. T. mit Vehemenz verfochten wird. Bis 1848 war Deutsch die unumstrittene Staats- bzw. Universalsprache der österreichischen Monarchie gewesen312. Mit den revolutionären Bewegungen von 1848 werden die Forderungen nach einer Gleichberechtigung aller Sprachen in der Monarchie laut, die dann in der Pillersdorffschen Verfassungsurkunde vom 26. April 1848 für alle österreichischen Provinzen festgehalten wird313. Ziel dieser Maßnahme war es, die Volkssprachen zu absoluten Amtssprachen mit nationalem Beamtenkörper zu machen, wobei zunächst eine nationale Gliederung des österreichischen Staatsgebietes erfolgen mußte314. Aber nachdem die Unruhen geglättet und die neue Regierung ins Amt gesetzt war, wurden die Forderungen abgelehnt. Denn diese beschrieben ein föderalistisches Konzept, das dem Ziel der Regierung, die Monarchie zu einem absolutistisch regierten Einheitsstaat zusammenzuschmelzen, entgegenstand315. Der nun einsetzende "zentralistische Neoabsolutismus" unter der Leitung des Innenministers Bach förderte durch seine "germanisierenden Tendenzen" die Rückbesinnung auf ein böhmisches Sonderbewußtsein316 und mußte die Spannungen
312
Unter Kaiserin Maria Theresia und Kaiser Joseph wurde vermehrt auf die Verbreitung des Deutschen als Amtssprache Wert gelegt. Insbesondere Maria Theresia setzte sich für "die Ausbreitung der deutschen Sprache in Ihrer Majestät böhmischen Erbländern mit mehr Ernst, als bisher furgedacht" ein, vgl. Hofdecret vom 9. November 1770, Fischel, S. 28. In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts setzte sich das Böhmische als Sprache der gesetzlichen Kundmachungen aber schon neben dem Deutschen durch, vgl. Böhmische Gubernialverordnung 1847, ebenda, S.70. Der Vorwurf, der tschechischerseits vorgebracht wurde, dadurch sei eine "Entnationalisierung" vorbereitet worden, ist für diese Zeit nicht haltbar. Kaiser Josef II. hatte aus rationalen Erwägungen heraus seine "Sprachpolitik" betrieben, vgl. Prinz, S. 41. 313 Vgl. Fischel, S. LVII: "Allen Volksstämmen ist die Unverletzlichkeit ihrer Nationalität und Sprache gewährleistet". Die tschechische Petition hatte allerdings noch weiterhin den Zusammenschluß von Böhmen, Mähren und Schlesien unter einen gemeinsamen Landtag und die Gleichstellung der tschechischen Sprache mit der deutschen nicht nur im Amt, sondern auch in der Schule gefordert. Ebenda, S. LXIV. Nach der Revolution war es Ziel der nationalen Bestrebungen, den nationalen Gedanken in eine "staatspolitisch mögliche und lebensfähige Form" umzusetzen. Dies bedeutete aber die Gleichstellung der Krone Böhmens mit Österreich und Ungarn, vgl. Prinz, S. 38. Die sich daraus entwickelnde "Staatsrechtstheorie" wurde von tschechischer Seite immer wieder vorgetragen. Nicht mehr eine Gliederung der Monarchie nach Sprachgrenzen wurde nun gefordert, sondern unter politisch-historischen Gesichtspunkten. Gemäß dieser Überlegung forderte auch Palacky dann die Bildung der Böhmischen Krone und ihre Gleichstellung mit Östereich und Ungarn, ebenda, S. 88. 315 Vgl. Fischel, S. LXIV. Mit demn Silversterpatent vom 31. Dezember 1851 wurde die Reichsverfassung umgestaltet. Der Grundsatz der nationalen Gleichberechtigung und die Grundrechte mit Ausnahme der Gleichheit aller Staatsangehöriger vor dem Gesetze - wurde außer Kraft gesetzt und die Verwaltung neuorganisiert. Dabei wurde das deutsche als Amtssprache wieder in seiner Position gesichert, ebenda, S. LXV. 316 Vgl. Prinz, S. 88.
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zwischen den Volksstämmen vertiefen. Allerdings konnte nur so der Bestand der Monarchie noch gerettet werden. Mit den nun in der Folgezeit rasch wechselnden Regierungen brechen die Bemühungen um eine Sprachregelung nicht mehr ab. 1861 erläßt Minister Schmerling das sogenannte Februarpatent mit dem Ziel, einen "konstitutionellen Zentralismus" aufzubauen und damit die Gleichberechtigung aller Volksstämme und der landesüblichen Sprachen zu unterstützen317. Nach einem "föderalistisch-konservativen Intermezzo" unter Ministerpräsident Belcredi, der sich für die Gleichstellung der Sprachen eingesetzt hatte318, ermöglichte die am 21. Dezember 1867 erlassene Dezemberverfassung, trotz ihrer zentralistischen Grundstruktur, kulturelle und sprachliche Autonomie in den Ländern der Monarchie319. Von dieser Verfassung ausgehend entfachte sich in der Folgezeit immer wieder der Verfassungs- bzw. der Nationalitätenkampf, der sich auf Seiten der Tschechen gegen die Einheit der westlichen Reichshälfte - nach dem Ausgleich mit Ungarn 1867 - und die Vorrangstellung des Deutschtums richtete320. Von 1871-78 folgte auf das konservative Kabinett Hohenwart-Schäffle321, das eine föderalistische und damit dem Nationalitätenprinzip nahestehende Politik vertreten hatte, wieder eine deutsche Verfassungspartei. Diese fand ihre Anhängerschaft unter den Vertretern des Großgrundbeitzes. In dieser neuen Regierung hatte der Saar bekannte Zivilrechtler Josef Unger das Amt des 'Sprechministers' inne. Seine Haltung zur Sprachreglung bzw. die seiner deutsch-liberalen Partei dürfte im großen und ganzen der Saars entsprochen haben. Während ihrer Regierungszeit sahen sich die Deutschliberalen vor allem mit dem Problem der Wahrung des national-zentralistischen Systems konfrontiert. Obwohl sie an den völkerverbindenden Ideen des vormärzlichen
317
Vgl. Fischel, S. LXXV. Mit dem Februarpatent reagierte der Minister auf das Oktoberdiplom von I860, das einer wirklichen Föderalisierung den Weg hatte bereiten sollen. Dies entsprach den Vorstellungen der tschechischen Vertreter, vgl. Prinz, S. 95. Allerdings war hier noch nicht Palackys Ziel eines historischen Föderalismus auf der Grundlage eines böhmischen Staatsrechtes erreicht, ebenda, S. 113. Ebenda, S. 124. Nach der Niederlage Österreichs bei Königgrätz war Belcredi jedoch nicht mehr mit einer zu starken Föderalisierung einverstanden, ebenda, S. 125. Ebenda, S. 129: "Verbesserungen im liberalen und nationalen Sinne waren Immunität der Abgeordneten und die ausdrücklichen Garantien der nationalen Gleichberechtigung aller Völker der Monarchie durch den Artikel 19. Der Staat anerkannte damit die grundsätzliche Gleichstellung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben". 320 Ebenda, S. 130. Dieses Kabinett legte einen Entwurf zu einem Nationalitätengesetz für Böhmen vor, den sog. Fundamentalartikel. Er sah eine Sprachenregelung für Beamte vor, die die Zweisprachigkeit forderte. Entscheidend für die Ablehnung dieses Artikels durch die Deutschhöh inen war allerdings die Absicht, Böhmen nach dem Vorbild Ungarns zu einem Gliederstaat zu erklären. Dies hätte einen österreichisch-böhmisch-ungarischen Trialismus zur Folge gehabt und die Einheit der Monarchie, aber auch die Stellung der Deutschen in dem böhmischen Gliederstaat gefährdet, ebenda, S. 145. •J|Q
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Liberalismus festhielten, war für sie die Führung des Staatswesens durch eine deutsche Kultur eine Selbstverständlichkeit, so daß bei ihnen die Furcht vor dem Aufbegehren der tschechischen Partei ständig wuchs322. Zugleich förderte der Liberalismus durch sein geistiges Klima und die unter ihm hervorgebrachten bildungspolitischen Leistungen die nicht deutschen Nationalitäten323. Die 1879 an die Macht kommende Regierung Taaffe-Stremayr setzt sich nun wieder verstärkt für die Sache der verschiedenen Nationalitäten, insbesondere der tschechischen, ein324. So sorgt die Taaffe-Stremayrische Sprachenverordnung' vom 19. April 1880 für neuen Zündstoff, da sie für Böhmen und Mähren die "Doppelsprachigkeit im Verkehr der Gerichte und Ämter mit den Parteien und der Öffentlichkeit"325 zuläßt, und zwar dort, wo es landesüblich sei. Dies galt aber auch für die geschlossenen deutschen Sprachgebiete, so daß bald auch hier die Deutschen aus den Ämtern verdrängt werden sollten326. Als man in der Prazakschen Sprachenverordnung vom 23. September 1886 auf die Forderung der Tschechen nach der Einführung einer "inneren tschechischen Amtssprache"327 einging, wurde die Erbitterung zwischen Deutschen und Tschechen erneut gesteigert328. Von deutscher Seite mußte hierin ein Vorstoß der tschechischen Nationalbestrebungen und damit der föderalistischen Ideen - der Staatsrechtstheorie - erblickt werden. Auch Saar befürchtete eine solche Entwicklung, wie aus einem Brief an Josefine von Wertheimstein zu ersehen ist. Hierin verteidigt er Schmerling, der als Unterrichtsminister 1861 die Stellung der deutschen Sprache in den höheren Schulen noch gesichert hatte,: Der Antrag und die Rede Schmerlings ist ein wahrer Lichtpunkt in dem allgemeinen Düster. Aber freilich hat diese politische That [die Prazaksche
322
Vgl. Wandruszka: Österreich-Ungarn, S. 364. Ebenda, S. 364. Die wachsende Bevölkerungszahl der Tschechen und ihre Einwanderung in bisher nur oder vorwiegend von Deutschen besiedelten Gegenden und Städte veränderte die dortige gesellschaftliche Struktur. Diese den Reichsgedanken gefährdende Politik ruft bei Kronprinz Rudolf Kritik hervor. Auf eine Verständigung der deutschen und tschechischen Liberalen hoffend, anlieft er sich in einer politischen Denkschrift 1881 zu Taaffes Vorgehen: "Ferners führt das gegenwärtige Regime mit seinen Conceßionen eine allmählige Herstellung und unwiderrufliche Befestigung der Slavenherrschaft in Österreich her", Kronprinz Rudolf: Majestät, S. 72. Ein solches "Slawenreich" mit deutschen Provinzen betrachtet der Kronprinz allerdings als politische Utopie. 325 Vgl. Prinz, S. 158. 326 Vgl. Fischel, S. LXXXIII. 327 D. h. die Sprache im inneren Dienst und des Amtsverkehrs. 328 Vgl. Fischel, S. LXXXIV.
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Verordnung] wieder die ganze Scheußlichkeit der Gegenbestrebungen so recht sichtbar gemacht329. Als der Sprachenstreit zu eskalieren droht, veranlaßt Taaffe 1890 Verhandlungen zwischen deutschen und tschechischen Abgeordneten, die zum deutsch-böhmischen Ausgleich führen sollen330. Auf diesem Hintergrund des Sprachenstreites entsteht der Fridolin. 1893 tritt die Regierung Taaffe zurück, aber schon 1897 bringt die Sprachenverordnung für Böhmen und Mähren des Ministeriums Badeni einen neuen Eklat331. Diese Entwicklung greift Saar in Hermann und Dorothea auf, und schon die überarbeitete Fassung des Fridolin von 1896 scheint den Appell an den böhmisch-deutschen Ausgleich verstärken zu wollen. Der Zeitgenosse wird hinsichtlich dieser Problematik viel hellhöriger gewesen sein, als es ein heutiger Leser sein kann. Denn Ende des 19. Jahrhunderts brachen überall in der Donaumonarchie die Konflikte zwischen den Nationalitäten auf. So hat die damalige Rezeption, wie zu sehen war, den Fridolin an den realen Zuständen gemessen und den Autor nach seiner Einstellung zu dieser politischen Situation befragt. Um diese Dimension der Erzählung erfassen zu können, ist ein Blick auf Saars politische Gesinnung, soweit sie sich aus seiner Dichtung erschließen läßt, notwendig. Die Aufenthalte des Schriftstellers 'auf dem Lande' gaben ihm die Möglichkeit, früher als die Bewohner in der Hauptstadt der Monarchie Einblick in die strukturellen und politischen Veränderungen und Entwicklungen in Mähren zu erhalten332.
329
Vgl. Saar an Josefine v. Wertheimstein, 28. April 1887, Kann, S. 383. Die Rede Schmerlings bezog sich auf die Prazak'sche Sprachenverordnung. Vgl. Fischel, S. LXXXIV. Die aus dem Ausgleich entstandene Schönbom'sche Verordnung führte den Zustand vor dem Taaffe-Stremayrschen Erlaß wieder ein, d. h. Gleichstellung beider Sprachen und die Teilung der Oberlandesgerichte in zwei sprachlich gesonderte Sektoren. 331 Vgl. Prinz, S. 175. Seine Sprachenverordnung stellte in den Kronländern Böhmen und Mähren beide Landessprachen im äußeren und inneren Dienstverkehr der Behörden gleich. Damit war der deutsche Anspruch auf ethnisch-administrative Landesteilungen aufgegeben und die Staatsrechtsideologie der tschechischen Partei umgesetzt worden, vgl. Prinz, S. 174. 332 Die zunehmende Urbanisierung und der damit verbundene gesellschaftliche Aufstieg der tschechischen Bevölkerung thematisiert Saar in der Tniglodytin, aber insbesondere die nach dem Herbstreigen begonnene Erzählung Dr. Trojan widmet sich diesem Prohlemkreis. Wie genau Saar sich dabei an realen Gegebenheiten orientiert, zeigt seine exakte Schilderung der Veränderungen in der Ärzteschaft. Mit dem Erlaß des Ministeriums des Innern vom 19. August 1894 wurde die Errichtung der Artzekammer für das Königreich Böhmen angeordnet, die eine Aufteilung in zwei Sektionen, einer deutschen und einer böhmischen, vorsah, vgl. Fischel, S. 244. Damit gewann die tschechische Ärtzeschaft bedeutenden Einfluß, und die Nationalitätenfrage beeinflußte nun auch die Medizin. So muß im Dr. Trojan der Titelheld, da ihm die offizielle Berechtigung, den Arzttitel zu führen, fehlt gegen den strebsamen, gewissenhaften Tschechen Dr.Srp, der die Behörden auf seiner Seite hat, kämpfen.
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So sucht Saar etwa den Kontakt zur Ortsbevölkerung und findet sich im Falle der Blanskoer Bürger auch bereit, anläßlich der Feier des dortigen deutschen Schulvereins 1888 ein Festgedicht zu verfassen. Ein solcher Beitrag erscheint dann nicht mehr verwunderlich, wenn man bedenkt, daß gerade die deutschen und tschechischen Schulvereine ihre Bevölkerung durch gezielte Bildungspolitik zu fördern suchten333. Schule und Nationalismus waren auf diese Weise eine aktivierende, zugleich aber auch brisante Verbindung eingegangen334. Kulturarbeit als national-politische Aufgabe war das Ziel der Schulvereine. Es galt u. a. die deutsche Sprache und Kultur zu fördern, ein Programm, das Saar unterstützte: Es schlägt das Herz mit Liebe/ Für unser deutsches Wort,/ Auf daß es immer bliebe/ Des Vaterlandes Hort! (SW 2, S. 138.)33S. Aus diesem Grund stellt er zu einem Zeitpunkt, als die Kämpfe der Nationalitäten in der Monarchie immer erbitterter werden, die Feier des deutschen Schulvereins in das Zentrum seiner Idylle Hermann und Dorothea™. Schon 1897 konzipiert und 1899 fertiggestellt, veröffentlicht Saar dieses Versepos erst mit dem neuen Jahrhundert337. Bildeten in Goethes Epos die Wirren der Französischen Revolution den Hintergrund für die Idylle, so sind es hier die in die Heimat hineinragenden, quasi sich vor der Haustür abspielnden nationalen Unruhen, die die Idylle in Frage stellen und bedrohen338. Of-
333
Vgl. Prinz, S. 274-275. Daraus entstand ein harter Wettbewerb der deutschen und tschechischen Gruppen, die sich jeweils durch den Ausbau von Kindergärten, Volks- und Mittelschulen zu überflügeln suchten. Ebenda, S. 275. So galt die Parole, wer die Schuljugend gewinnt, der hat die Zukunft in der Hand. Die dritte Strophe fügt der kulturellen Bindung an das Deutsche Reich die politische bei, auch wenn Saar zu diesem Zeitpunkt aufgrund der allgemeinen politischen Lage und insbesondere seiner Einschätzung des Deutschen Reiches und der Person Bismarks auf eine groKdeutsche Lösung nicht mehr hoffte (so u. a. in Hermann und Dorothea, wo Bismarks Politik als der deutschen Sache in Mähren zuwiderlaufend dargestellt wird, 2. Gesang, S. 40). Die Erstarkung des Deutschen Reiches und seine bedrohliche, waffenrasselnde Haltung hatte er in seiner Ode Germania schon mit Bedauern 1880 festgestellt, vgl. SW 3, S. 181, v. 21, auch wenn er weiterhin die Treue, Sitte und den Einsatz für die Einigung des Volkes als deutsche Werte schätzte. 336 Vgl. SW 4, S. 43, v. l Of.: "Aber nun kam auch die Zeit für das Fest, das die Deutschen des Städtchens/ Und der Umgebung alljährlich beginnen zu Gunsten der Schulen,/ Welche man sorglich betreut in Böhmen und Mähren von Wien aus,/ Daß sich erhalte der Laut der Muttersprache den Kindern". Daß gerade Dorothea Lehrerin ist, unterstreicht nocheinmal die Bedeutung von Erziehung und Bildung für den schrumpfenden Teil der deutschen Bevölkerung in Mähren. 337 Ebenda, S. 27. Saar verstand das Epos aufgrund seines "ausgleichenden" Charakters - das Verständnis zwischen den Nationaltäten fördernd - als Idylle. Dies zeigt ein Brief an Franz Himmelhauer, Döbling, 15. März 1902: "Schopenhauer sagt irgendwo: "die Quelle allen Wohlgefallens ist die Homogenität". Daher hat Ihnen auch mein Idyll Wohlgefallen und auf Sie am wärmsten gewirkt." (BrD2).
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fensichtlich wird die präkere Lage der Deutschen am Stand ihrer Sprache: [...] es waren andere Zeiten,/ Und man förderte gern die Deutschen und hielt sie in Ehren./ Das hat längst sich geändert, du weißt es. Zur Herrschaft gelangt ist/ Jetzt das slawische Wort, verformt ist das deutsche, und wer sich/ Seiner noch immer bedient, der wird als Fremdling betrachtet(SW 4, S. 33). Aber noch stellt sich die Situation in Mähren anders, weniger brisant, dar: Wir leben in Mähren/ Und, dem Himmel sei Dank! nicht oben im böhmischen Lande,/ Wo sich Tschechen und Deutsche bereits bis aufs Messer bekämpfen/ Und auch Blut schon geflossen. Bei uns ist's immer noch friedlich,/ Da die Stämme nicht scharf wie dort voneinander geschieden;/ Sind doch die Deutschen zur Not zweisprachig fast alle geworden(SW 4, S. 33). Der Unterschied zur Darstellung im Fridoün wird noch drastischer, wenn die "Alten" des Ortes die politische Entwicklung der vergangenen Jahre überblicken. Tschechen haben mittlerweile die Deutschen aus Behörden und Ämtern verdrängt (S. 40, v. 5-6), und auch die gräfliche Herrschaft hat die Leitung der nahen Hüttenwerke einem tschechischen Direktor übergeben (v. 7), wie auch im Zuge des Liberalismus Adlige ihre Güter an bürgerliche Industrielle verkauft haben (v. 7-8). Die deutsche Minderheit, als eine unter vielen, versteht es jedoch nicht, ihre Interessen durchzusetzen (v. 20-23). Die junge Generation, vertreten durch das Paar Hermann und Dorothea, hat eine schwierige Zukunft vor sich, in der sie versuchen wird, im friedlichen Zusammenleben mit den Tschechen ihr Auskommen zu finden. Hier ist das politische Ziel des Nationalitätenausgleichs noch nicht aufgegeben. Saars Beschäftigung mit dem Nachlaß Eduard von Bauernfelds mußte ihn auch mit dem politischen Standpunkt des Satiriker der Skizzen Aus Alt- und Neu Wien Zeugnis vertraut machen339. Im Gegensatz zu Saar bezog er schon früh Stellung zu den politischen Verhältnissen und verfolgte diese kritisch bis zu seinem Lebensende. Als er 1873 seine Skizzen herausgibt, überblickt er eine lange Periode in der Geschichte der Monarchie und sieht die Ursachen für die Auflösung- und Sonderbestrebungen als schon früh im System verankert. Seiner Meinung nach habe man es rechtzeitig verpaßt, das Bildungsniveau in der Monarchie zu heben und die einzelnen Kronländer miteinander zu verbinden340. Unter Kaiser Franz seien die polyglotten Provinzen wahllos
339
Vgl. Bauemfeld: Werke, Bd. 4. Bauernfeld betrachtete das "österreichische System" kritisch und war der Meinung, daß es trotz aller "konstitutioneller Schönfärberei unvertilghar" sei, ebenda, S. 3. 340 Ebenda, S. 140. 161
zusammengewürfelt worden: Was fragt der Ungar um den Tschechen, dieser um den Italiener alle miteinander um den Deutschen, der ihnen als ihr gemeinsamer Feind gilt, obwohl sie sich auch alle untereinander hassen341. Bauernfeld erklärt sich die Existenz dieser 'politischen Fiktion' dadurch, daß das Erbkaisertum auf "stillschweigenden Kompromissen nach innen und außen, auf patriarchalischen Gefühlen der Untertanen, nicht der Völkerschaften" fuße342. Nach der Zeit der Restauration habe man diese Völker auseinander und "in Schach" gehalten und somit u. a. eine Annäherung im Sinne der Großdeutschen Lösung verhindert. Nach Bauernfeld habe dieses politische System, über die März- und Oktobertage der Revolution von 1848, den ungarischen Krieg, die russische Hilfe, das Konkordat, den Verlust der Lombardei und Venedigs, zum "beinahe gänzlichen Zusammenfall des Staatskörpers" geführt343. Daß aber dieses System trotzdem funktioniere, dafür sei nach Ansicht Bauernfelds das Beamtentum verantwortlich, das nach der Maxime Kaiser Franz' "Ich brauche keine Gelehrten, nur gute Beamte"344 eingerichtet wurde. Solche Staatsdiener habe er vor allem in den getreuen Böhmen gefunden: Servilismus und Kriecherei nach oben, Brutalität nach unten war das Schlagwort dieser kleinen Sartrapen [...] während ein leichtsinniger und untätiger Adel gedankenlos seine Vorrechte genoß345. Im Jahre 1881 äußert sich Saar gegenüber Josefine von Wertheimstein konkret zu der politischen Lage der Monarchie: Ich habe mich, wie Sie wissen, niemals viel um Politik gekümmert; nun aber tritt mir der öde Schmerz entgegen, eigentlich kein Vaterland zu haben recht nahe. Und der Dichter braucht ein Vaterland - selbst wenn er es hassen und fliehen müßte. Das sogenannte Weltbürgerthum, das einst starkgeistig und modern war,
341
Ebenda, S. 141. In einem Brief an Franziska v. Wertheimstein äußerte Bauemfeld am 11. August 1870 die Sorge: "Der Deutsch-Österreicher wird sich zuletzt dem gemeinsamen Vaterland zuneigen und an dem eigenen Gesamtstaat wird man verzweifeln, den die Magyaren zerrissen haben und von welchem sich die Czechen jetzt mehr als je lossagen", vgl. Briete Wertheimstein, S. 267. Daß man im Hause Wertheimstein diesen Problemen offen gegenüberstand, zeigt die Begegnung Josefines von Wertheimstein mit Franz von Miklosich, der einer der Begründer der Slavistik war, ebenda, S. 348. 342 Ebenda, S. 141. 343 Ebenda, S. 142. 344 Ebenda, S. 142. 345 Ebenda, S. 142.
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ist doch nur hohles Zeug - und wehe der Menschheit, wenn sie dereinst durch den Socialismus wirklich dahin geführt wird! Mein Herz hing warm an Österreich, ja ich war stolz darauf, ein Österreicher zu sein - nun aber löst sich das Reich in seine Faktoren auf, und wir eigentlichen Österreicher haben keinen Boden mehr, in dem wir wurzeln können346. Die "Vielheit ein Ganzes" (SW 2, S. 182), wie Saar die Besonderheit des österreichischen Staatengebildes in der Ode Austria nannte, ist in Auflösung begriffen, und das offensichtlich schon zu Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Saar fühlt sich als Dichter aufgefordert, zu diesem Problem Stellung zu nehmen. Sein Novellenband Schicksale347 gibt davon erstes Zeugnis. Im Jahr 1882 veröffentlicht er eine Gedichtsammlung, in der u. a. der Sonettzyklus Laienpolilik aus dem Jahre 1861 abgedruckt ist. Bereits in diesem Jahr sieht er die Macht der österreichischen Monarchie schwinden, während sich im Norden der "russische Bär" bereit macht, seine Stellung in Europa zu behaupten348. Im Jahr 1893, als der Fridolin entsteht, zeigt sich Saar in den Wiener Elegien, der Widmung an die alte Kaiserstadt vor der Zeit der Ringstraße, besorgt um die Zukunft des Vaterlandes:
346
Vgl. Saar an Josefine v. Wertheimstein, 8. März 1 8 8 1 , Briete Wertheimstein, S. 361. In der Ode Austria - in der Zeit zwischen 1880-90 entstanden - sieht er das Gefüge der Monarchie sich mehr und mehr lockern und klagt darüber, daß allein der Deutsche sich als Österreicher fühle, während die übrige Völkerschar nie ein Volk gebildet habe, vgl. SW 2, S. 181-182, v. 9. In der Pincelliade , dem komischen Epos, in dem er Erinnerungen aus seiner Soldatenzeit miteinbrachte, glaubt der Rapsode schon in den fünfziger Jahren eine bedenkliche Minderheit der Deutschen unter den Soldaten wahrgenommen zu haben, vgl. SW 4, S. 20. 347 Man denKe an die Darstellung der strukturellen Veränderungen auf dem Lande in der Troglodytin oder die enge Verknüpfung des Schicksals von Leutnant Burda mit dem der Monarchie, sinnfällig gemacht an den Schauplätzen der österreichischen Geschichte, an denen sich die einzelnen Etappen seines Lebensweges vollziehen. 348 Vgl. SW 3, S. 40. 1904 ergänzt Saar das 8. Sonett über Rußland, das nun der mächtige Herrscher sei, der alle anderen Völker unterjochen werde. Die panslawistische Bewegung hatte gezeigt, daß die Verbindung der slawischen Völker unter der Führung Rußlands verwirklicht werden sollte. Wenn auch z. T. Protest dagegen laut wurde, die Idee als solche hatte sich durchgesetzt und ihre Folgen gezeitigt. Die Folgen dieser Bewegung stellt eines der Sonette aus dem Zyklus Laienpolitik - von Minor später veröffentlicht - dar, vgl. Minor: Politische Dichter. 1861 wirft Saar darin den Theiß- und Savevölkern vor, durch ihr Aufbegehren und Pochen auf alte Rechte - Ungarn und Böhmen konnten auf die alten Rechte ihrer Monarchien verweisen - den Bestand der K. und K. Monarchie zu gefährden. Saar erhob diesen Vorwurf wohl im Zusammenhang mit der Schmerlingschen Februarverfassung von 1861. Unter Schmerling wurde der Versuch unternommen, einen konstitutionellen Zentralismus in der Monarchie einzuführen. An die Stelle der "geschichtlich bedeutsamen Nationalitäten" sollte die Gleichberechtigung aller Volksstämme treten. Gemalt diesem Ziel hatte Kaiser Franz Josef I. seine Thronrede am 1. Mai 1861 begonnen: "Ich halte fest an der Überzeugung, daß freie Institutionen unter gewissenhafter Wahrung und Durchführung der Grundsätze der Gleichberechtigung aller Völker, der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetze und der Teilnahme der Volksvertreter an der Gesetzgebung zu einer heilbringenden Umgestaltung der Gesamtmonarchie führen werde", vgl. Fischel, S. LXXXI.
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Aber, o Schmerz! Du bist auch getrennt von den eigenen Gliedern,/ In Verblendung, mit Haß wüten sie gegen das Haupt(SW 4, S. 24.). Auf dem Hintergrund dieser politisch gespannten Situation in der K. u. K. Monarchie schafft Saar mit dem Fridolin ein versöhnliches Werk, das auf seine Weise Stellung zur Geschichte der Monarchie bezieht.
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7- Der geschichtliche Hintergrund im Fridolin Die friedvollen politischen Verhältnisse, die Treue des böhmischen Dieners wie auch das Verhalten der adligen Herrschaft im Fridolin scheinen sich vom tatsächlichen Geschehen in der K. und K. Monarchie zur Entstehungszeit der Novelle abzuheben und eher die Restaurationsepoche als die Veränderungen im Liberalismus und die Auseinandersetzungen der aufkommenden Parteien am Ende des 19. Jahrhunderts widerzuspiegeln. Allerdings muß hier darauf hingewiesen werden, daß das 'biedermeierliche Lebensgefühl', wie es in den ersten beiden Kapiteln zur Darstellung kommt, nicht als Widerspiegelung der historischen Epoche des Vormärzes zu verstehen ist. Fridolins Lebensstil ist ein Relikt dieser Zeit, die er selbst zum Zeitpunkt seiner Erzählung im Wirtshaus als vergangen betrachtet. Er stimmt dem Urteil seines Zuhörers zu, daß sie in einer Zeit leben, in der jeder nur Herr sein wolle (19,6): "Man will sich nicht mehr unterordnen [...]" (19,8). Das im Fridolin dargestellte patriarchalische Herr-Diener-Verhältnis ist in seiner Art einer 'vergangenen Epoche' zuzurechnen, wenn es auch tatsächlich in der K. und K. Monarchie lange Zeit überlebte und nach der Märzrevolution im Neoabsolutismus zu neuem Leben erwachte349. Ganz in dieser Tradition wird Fridolin von der Gräfin-Mutter für seine Dienste entlohnt. Mit der Beschreibung des Schlosses werden diese gesellschaftlichen Verhältnisse des 'ancien regimes' angedeutet. Die Stilbezeichnung "altfranzösisch" (14,32) für den barocken Bau ist in der Kunstgeschichte ungewöhnlich350. Saar konnte jedoch mit diesem Begriff auf die absolutistische Machtentfaltung verweisen, die sich an diesem Stil am klarsten offenbart151. Die wichtigen
349
In der Erstfassung der Novelle gebrauchte Saar den Titel des Altgraten und der Altgräfin, um so einerseits auf den Titel seiner Gönnerin Altgräfin Elisabeth von Salm-Reifferscheidt anzuspielen, zum anderen, um damit auf die "altfeudalistischen" Strukturen, auf das 'ancien regime' hinzuweisen. Zu diesen zählt etwa die 'Heiratspolitik' der Gräfin-Mutter, die sich im Sinne des grätlichen Hauses forciert in das Privatleben ihrer Diener einmischt und dem treuen Fridolin die passende Gattin wählt. Hier mag man sich an die Habsburgische Maxime "Bella gerant alii, tu t'elix Austria nuhe", vgl. Berglar, S. 117, erinnert fühlen. Diese entsprach dem Selbstverständnis des aufgeklärten, spätahsolutistischen Fürsten und der Tradition der Habsburger Monarchie, die durch Lehens-, Dienst- und Treueverhältnisse und einer geschickten Heiratspolitik ihre Machtposition aufgebaut hatte, ebenda, S. 9. Erst aus der weiteren Beschreibung des Schlosses im Text und den Anspielungen auf das tatsächliche Schloß Raitz kann man schließen, daß es sich hierbei um einen barocken Bau handeln soll. Typisch für den Baustil der barocken Schlösser ist u. a. die Gestaltung der Flankenbauten, vgl. Hamann, S. 660-661. Bei der Formulierung "altfranzösisch" mag Saar an diese frühe Phase des französischen Barocks gedacht haben, ebenda, S. 705. Im Fridolin wird das Hofportal, durch das der Protagonist zu Beginn seiner Laufbahn (14,33) und bei seiner Wiederkehr nach seinem Abenteuer mit Milada in den Innenhof des Schlosses tritt (39,36), ausdrücklich erwähnt. Auch die Nebengebäude, in denen Fridolin und seine Frau ihre Wohnung erhalten (12,33), passen zu dem Bild barocker Schlösser und ihrer Flankenbauten. 351 Schon die Ausstattung des Schlosses mit all seiner Pracht läßt an die repräsentative Rolle u. a. der Spiegelsäle und Schlafgemächer in Versailles denken, wo die Wohnräume in öffentliche Kulträume
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Entscheidungen in der Erzählung werden dann in diesen Räumlichkeiten der herrschaftlich-patriarchalischen Repräsentation getroffen: Im Salon wird das folgenträchtige Urteil über Miladas gefährliche Schönheit gefällt (24,12), und im Balkonzimmer wird Fridolins Heirat mit Katinka beschlossen (41,9). Repräsentation und Vergnügen als ursprüngliche Zwecke der barocken Schlösser zeichnen auch das gräfliche Schloß aus, bis es zuletzt nur noch für gelegentliche Jagdpartien (13,22) in dem zu dem Besitz gehörenden Tiergarten-Revier von dem jungen Herrn aufgesucht wird. Um der geschichtlichen Einordnung der Erzählung gerecht zu werden, muß der zeitliche Unterschied zwischen Rahmen und Binnenerzählung berücksichtigt werden. Griff die Gräfin noch aktiv in das Leben des jungen Fridolin ein, so weilt sie zur Zeit, als Fridolin auf den Erzähler trifft, auf den Gütern der Familie oder in Wien. Daher ist der treue Diener mehr oder minder sein eigener Herr auf dem Schloß. Als "Alleinherrscher" (13,9) trägt er die Verantwortung für dessen Instandhaltung und kann dabei für das Wohl seiner eigenen Familie sorgen. Die "Herrschaftsstruktur" des Schlosses hat sich also im Laufe der Jahre geändert. Fridolins Laufbahn begann - historisch gesehen - in der Zeit des Neoabsolutismus und reichte bis in die Epoche des Liberalismus und der wachsenden nationalen Eigenständigkeit. Dieser historischen Entwicklung ist auch der Adel in dieser Erzählung unterworfen, weshalb er differenzierter, als es zunächst scheinen mag, beschrieben wird. Aus dem Gespräch zwischen Milada und Fridolin erfährt man, daß die gräfliche Familie Eisenund Hüttenwerke besitzt, die auch unter ihrer Führung und Verwaltung stehen. In diesen Betrieben bestünde nach Miladas Vorstellung eine neue Verdienstmöglichkeit für Fridolin. Tatsächlich war der böhmische Adel schon früh dazu übergegangen, Industriebetriebe auf seinen Gütern zu gründen. Er hatte sich dem Großbürgertum angeschlossen und eine neue produktive Funktion im bürgerlichen Leben gefunden352. Zu der aufgeklärten Einstellung des jungen Grafen gehört auch, daß er nicht nur eine Bildungsreise nach Italien, sondern auch eine zweite, längere, über Frankreich nach England und Amerika unternimmt. Diese drei Länder waren industriell viel weiter entwickelt als die österreichische Monarchie, so daß nicht nur das politische System Englands mit seiner Verbindung von Adel, König und Großbürgertum, sondern auch der technische und wirtschaftliche Vorsprung für den böhmischen Adel von Interesse war353. Das hier entworfene Bild des Adels nimmt verschiedene Schattierungen auf, verwandelt wurden, vgl. Kugler, S. 12. Vgl. Prinz, S. 46. Der Adel schaltete sich nicht direkt in das Fahrikwesen ein, konnte aber die industrielle Entwicklung beeinflussen, indem er Verwaltungsräte in Aktienbanken in seinem Interesse arbeiten ließ, vgl. Mentschel, S. 259. Allerdings überließen die Adligen im Verlaufe des Jahrhunderts mehr und mehr der bürgerlichen Konkurrenz die Leitung, was im Fridolin auch dargestellt ist, da der junge Herr sich auf seine entfernt liegenden Güter zurückzieht, um diese zu verwalten. Die Liberalisierung bringt in der Erzählung Vorteile für die Dienerschaft, da Katinka mit dem selhstangebauten Gemüse und der Schweine- und Federviehzucht einen erträglichen Handel führen darf. Vgl. Prinz, S. 46. Gerade in Böhmen und Mähren waren gute Voraussetzungen zur
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die sowohl negative als auch positive Seiten dieser Schicht aufdecken. Die gelegentlichen Feste, die nach den Jagdpartien abgehalten werden, könnten ein Indiz für die Preisgabe und den endgültigen Rückzug aus dem politischen Leben sein. Auch dies entspricht den historischen Gegebenheiten, die der junge Kronprinz Rudolf nach seiner ersten Kavalierstour in einer anonymen Schrift als Warnung und Mahnung an den österreichischen Adel darlegte. Seine Beschreibung des adligen Lebens stimmt in seinen genau beobachteten Details mit Saars Schilderung in vielen Punkten überein: Jagden, Reiten, alle Vergnügungen sind je nach Jahreszeit festgelegt. Im Frühjahr auf dem Lande, Reiten und Jagden, Besuche, im Sommer Reise in die Bäder oder ins österreichische Hochland. Endlich, kurz vor Ausbruch des Herbstes beginnen die Jagden auf Hochwild. Im Herbst kehrt man auf die Schlösser zurück, jetzt ist es Zeit für niedere Jagden354. Anstatt die Zeit künstlich mit diesen kurzweiligen, sinnlosen Vergnügen zu füllen, sollten die jungen Adligen - so die Kritik des Kronprinzen - ihr Bewußtsein für die Belange und Bedürfnisse der Gegenwart, des Fortschrittes und des öffentlichen Lebens schärfen355. Der junge Graf Benno hat diesen adligen Kavalieren schon seine Bildung und seine Tätigkeit in den eigenen Industrieunternehmen voraus, aber auch er kümmert sich fortan nur um seine Güter fernab in Böhmen und Ungarn. Seinem Diener überläßt er hingegen die Verwaltung des Stammsitzes in Mähren. Der Neoabsolutismus war dem monarchischen Interesse verpflichtet, im wirtschaftlichen Denken und Handeln aber umfaßte er schon die Bandbreite vom josephinischen Wohlfahrtsstaat bis zum laissez-faire eines Adam Smith 356 . In diese Zeit fällt Fridolins Dienst beim jungen Herrn Grafen, als dieser - wie in Kapitel VI und VII geschildert - die Leitung der Eisenhüttenwerke übernommen hat und noch nicht verheiratet ist. Obwohl er nun bereits als Industrieller tätig ist, bleibt er dem patriarchalischen Ideal verpflichtet und kümmert sich auch dann noch um das Wohl seines treuen Dieners, wenn er schon selbst nicht mehr im Schloß wohnt. Dies dürfte ein von Saar absichtlich positiv gezeichneter Zug sein, der die Dienerexistenz vom
Industriegründung vorhanden: Kapital, Unternehmeriieist und Facharbeiter. Schwierigkeiten machten jedoch zuerst die unzulänglichen Energiequellen, weshalb der Bau der Eisenbahnlinie in diesem Raum so wichtig war, ebenda, S. 3. Zu England: Schon Karl Postl hatte es in seiner Kritik der österreichischen Monarchie als das "Bollwerk der Freiheit" gefeiert, das mit seinem Gesellschaftssystem für die Mettemich-Herrschaft ein Vorbild sein konnte, vgl. Charles Sealsfield, Bd. 3, S. 27. 354 Vgl. Kronprinz Rudolf: Adel, S. 32. 355 Ebenda, S. 30. Vgl. Matis, S. 31. Für die wesentlichen Kräfte der Monarchie, der Dynastie, der Beamtenschaft, des Heeres und der privilegierten Stände, galt jedoch, daU ihre Interessen durch die Industrialisierung und den Kapitalismus gefährdet waren, so daß sie deren Verbreitung eher hindernd als fördernd im Wege standen, vgl. Gross, S. 12.
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"freien Spiel der Kräfte auf dem freien Markt" in der Zeit des Liberalismus ausklammert357. Erst die Depression von 1873 sollte diesen Optimismus in der Wirtschaftspolitik dämpfen und den naiven Glauben an eine natürliche Harmonie des freien Spiels der Kräfte erschüttern. Da Saar die Novelle nach dieser Zeit verfaßte, also die unglücklichen Auswirkungen des Liberalismus vor Augen hatte, ist es nicht verwunderlich, wenn er den glücklichen Fridolin in den Genuß eines sozialen Systems kommen läßt, das die noch aus Maria Theresias Zeit stammende Vorstellung vom Wohlfahrtsstaat und der patriarchalischen Fürsorge mit der Idee größerer, liberaler Selbständigkeit verbindet358. Der Diener seinerseits weiß sich seiner Herrschaft verpflichtet und im Ertragen von lebensgefährlichen Streich scheint er ganz dem Bild des servilen böhmischen Staatsdieners, wie es Bauernfeld beschrieb, zu entsprechen359. Die Begegnung mit Milada gefährdet jedoch seine wohlgeplante Karriere36". Milada bringt ihn, wenn auch Der einzelne ist sich selbst überlassen und kann daher keine Hilfe von seilen der Herrschaft erwarten. Denn gerade der Ausleseprozeß sollte der Garant für den Fortschritt sein, ebenda, S. 32. 358 Daß diese allein verheerende Wirkung haben kann, demonstriert Saar einige Jahre später an der Familie Worel. Zunächst wie im Fridolin an die patriarchalische Struktur des gräflichen Hauses gebunden, mit ähnlichen Privilegien als Diener und Tischler ausgestattet, gibt sich Vater Worel mit seiner Stellung nicht mehr zufrieden. In einem Verein für tschechische Parteizwecke über die neuen Möglichkeiten, die mit der Einführung der Gewerbefreiheit 1859 gegeben waren, und den Forderungen der sozialistischen Bewegung vertraut gemacht, verläßt Worel mit seiner Familie das Schloß, um als Arbeiter seine Existenz in Brunn zu gründen. Es folgt der langsame aber stetige Niedergang, der von politischem Aktivismus und Streik gezeichnet ist, wobei Worel als Streikbrecher den Haß der Arbeiter auf sich zieht. Auch seine ältesten Kinder scheitern mit ihren beruflichen Zielen. So erfüllen sich die Worte des Erzählers im Fridolin "Heute will keiner mehr Diener sein" in der Familie Worel auftragische Weise. Verglichen mit dem Schicksal des vierten Standes als Proletariat in der Stadt stellt sich der Diener im rückschrittlichen System auf dem Lande besser. Die vermeintliche Freiheit, einen Betrieb zu gründen, entpuppt sich als harter Kampf ums Dasein, in dem sich jeder der Nächste ist. Zur Zeit des Brünner Arbeiteraufstandes 1867 hat die sozialistische Bewegung in der Monarchie noch nicht die Stärke, die sie erst gegen Ende des Jahrhunderts erhalten sollte, vgl. Hantsch, S. 69. So scheitert Worel, während sein jüngster Sohn schon der Hoffnungsträger der neuen Generation ist. Wiederum macht sich hier Saars rückschauende Perspektive bemerkbar. Gegen Ende der neunziger Jahre sollten in den industriellen Zentren von Mähren und Böhmen die Mittelpunkte der Arbeiterbewegung entstehen, die den Klassenkampf bald mit dem tschechischen Nationalismus verband und ihre Forderungen durchsetzt, vgl. Hantsch, S. 70. Es wäre sicher zu einfach, wollte man Saars Aussage in der Erzählung Die Familie Worel auf die Befürwortung des patriarchalischen Systems reduzieren. Wie auch die Dissonanzen, ein der Erzählung verknüpftes Prosawerk, zeigen, überblickt Saar die verschiedenen politischen Entwürfe vom Neoabsolutismus über die liberale Ära zu der sozialistischen Bewegung. Der Feudalismus hatte 1904 abgedankt, der Adel sich aus dem politischen Geschäft zurückgezogen. Seit 1873 war der Liberalismus in Mißkredit geraten, und die Verbindung von Sozialismus und Nationalismus in Böhmen und Mähren mußte Saar als ebenso suspekt wie für die Idee des Gesaintstaates bedrohlich erscheinen. Auf der Ebene des grätlichen Schlosses erfüllt Fridolin die wesentlichen Voraussetzungen, die der treue Staatsdiener für sein Amt in der Monarchie besitzen muß. Indem Fridolin die deutsche Sprache erlerat, entspricht er der Grundanforderung an den Beamten der österreichischen Monarchie. Um den zentralistisch gelenkten Kernstaat Österreich unter Kontrolle halten zu können, war ein wohlgeschulter Beamtenapparat nötig, vgl. Berglar, S. 56. Bei der ersten Affaire Miladas scheint er sich über die Maßen darüber zu ereifern, daß der Valet •J trt
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nur zeitweilig, von seinem ursprünglichen Plichtbewußtsein ab361, bis er am Ende ins Schloß zurückkehrt. Schon in Wischau findet er wieder in die alten Gleise zurück, denn er sucht sich eine Unterkunft im Gasthof "Krone". Saar hat den Namen "Glocke" aus J 1 und J2 in Hr (38,10) gestrichen. Es soll deutlich werden, daß Fridolin mit der Krone verbunden ist und sein Glück bei seiner adligen Herrschaft findet. Für Fridolin gilt noch das klar geordnete Gesellschaftsprinzip: Adel - Bürger -Bauer, in dem jeder Stand seinen Platz hat362. Er weiß aber, daß dieses System im Wandel begriffen ist. Seine Geschichte erzählt er bezeichnenderweise in der bürgerlichen Atmosphäre des Wirtshauses, wo sich die Honoratioren des Ortes treffen. Der Adel hingegen tritt in der Erzählsituation des Rahmens nicht mehr in Erscheinung. Aber Fridolin ist auch als Tscheche mit seiner Lage einverstanden und sucht nicht, wie später Vater Worel in der Erzählung Familie Word, seine nationalen Wünsche durch einen Ausbruch aus diesen Verhältnissen zu verwirklichen. So unpolitisch auch unsere Erzählung auf den ersten Blick sein mag, so gibt der Autor doch im ersten Kapitel zu verstehen, daß Fridolins eigene 'Politik', seine Kinder zweisprachig zu erziehen, auf privater Ebene schon das praktiziert, was auf der Ebene der Regierung in Wien erst verspätet in Kraft gesetzt wird: der Nationalitäten-Ausgleich. Wenn Fridolin bei seiner Aufnahme im Schloß die deutsche Sprache erlernt, so nicht nur, weil er so den Wünschen der Herrschaft nachkommt, sondern auch weil dies Mitte des Jahrhunderts noch den politischen Gegebenheiten in Böhmen und Mähren entspricht. Für ein Fortkommen im Amt oder in der freien Wirtschaft war die Zweisprachigkeit und insbesondere die Beherrschung des Deutschen unerläßlich. Da Fridolin selber positive Erfahrung mit dieser Zweisprachigkeit gemacht hat, ist er daran interessiert, sie seinen Kindern ebenfalls zu vermitteln. Die glücklichen Verhältnisse im Hause Kohout skizzieren einen Ausschnitt der kein Franzose, sondern Pole ist. Hier gibt er ein nationales Ressentiment zu erkennen, das zwar durch seine Eifersucht heraufbeschworen wird, das aber zugleich die von Bauernfeld schon genannte Spannung zwischen den einzelnen Nationalitäten widerspiegelt. Bedenkt man, daß Fridolin ein treuer böhmischer Diener seines deutsch-österreichischen Herrn ist, so erklärt sich die Feindschaft zum polnischen Teil der Monarchie auch aus den dortigen geschichtlichen Verhältnissen. Wenn auch Böhmen im Zuge der panslawistischen Bewegung vom Nationalismus erfaßt wurde, so doch zunächst nur in der milderen Form des "Austroslawismus", Vgl. Kohn, S. 52. In Polen hingegen machte sich in der ersten Jahrhunderthälfte ein Messianismus breit, der das Ziel hatte, eine slawische Föderation zur Aufhebung der polnischen Teilung zu gründen, vgl. Kohn, S. 52. Diese Bestrebungen mußten sich gegen die drei politischen Mächte richten, unter denen Polen aufgeteilt war, also das Deutsche Reich, die Habsburger Monarchie und die russische Krone. Noch eine weitere Möglichkeit wird im Fridalin erwogen, wie sich der Diener selbständig machen kann: die Ausreise nach Amerika. Seit 1867 enthielt das Staatsgrundgesetz das Recht der Freiheit der Auswanderung, und da Fridolin sich keines Unrechtes schuldig gemacht hat, kann er dieses Recht in Anspruch nehmen, vgl. Chmelar, S. 21. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hört man immermehr von den negativen Erfahrungen der Amerikareisenden, so daß Fridolins grenzenloser Optimismus an sich schon übertrieben wirkt und eher seiner Naivität zuzuschreiben ist, vgl. Martini, S. 180. 362 Vgl. Möller, S. 98.
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Entwicklung des slawischen Volkes, wie sie Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Menschheit enthusiastisch dargelegt hatte. Mit diesem Werk hatte Herder ungewollt der panslawistischen Bewegung das Ideengut für das Erstarken des nationalen slawischen Gedankens an die Hand gegeben. Saar scheint dieser Argumentation der slawischen Bewegung im Fridolin bewußt zu folgen, wenn er das friedliche Idyll der Familie Kohout entwirft. So heißt es bei Herder von den Slawen, "Landwirtschaft, mancherlei häusliche Künste" bildeten die Grundlage ihrer friedlichen Existenz, und sie eröffneten "allenthalben mit den Erzeugnissen ihres Landes und Fleißes einen nützlichen Handel"363. Nichts anderes aber tut die treue Gattin des fleißigen Fridolin, um so das Wohl der Familie zu mehren364. Auch hinsichtlich der Hausmannskost ist man in der Familie der slawischen Tradition verpflichtet. Daß Fridolin ab und zu vom "alten Oesterreicher" (15,30) kostet, zeugt zwar von seiner Treue, aber ein Genuß bereitet es ihm nicht (15,32). Allein das frisch gezapfte Pilsener Bier entspricht seinem Stand und seiner Herkunft und wird zugleich zum Ausdruck nationalen Stolzes gegenüber dem "süßlich prickelnden Weiberschleck" Champagner (15,29-30) und den nach "Tinte schmeckendefn] Bordeaux" (15,38). Seit dem 13. Jahrhundert war das Pilsener Bier berühmt365. Mit Blick auf Herders Charakterisierung der Slawen als ein "unterwürfig[es] und gehorsam[es]" Volk366 kann Fridolins Name nicht nur als Reminiszenz der Schillerschen Dienerfigur verstanden werden. Sein Rufname ist ein sprechender Name: Friedrich, der "Friedensreiche"367, entspricht dem friedfertigen Wesen des Protagonisten, der sich durch nichts aus seinem "stoischen Gleichmut" (14,16) bringen läßt. Das ganze Leben Fridolins zeichnet sich durch Ruhe, Wohlstand und Glück aus368.
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Vgl. Herder, Bd. 4, S. 393. Auch ihre Kochkünste, die von Fridolin den ausländischen Leckereien der Adligen vorgezogen wurden, gehören zu den typischen slawischen, besser gesagt böhmischen Besonderheiten. Hinsichtlich dieser kulinarischen Genüsse unterscheiden sich also Herrschaft und slawische Dienerschaft auch: zu den festlichen Diners reicht Fridolin Champagner und zwar in Anspielung auf die Grätin-Witwe- Veuve Cliquot und alten Johannisberger. Letzterer stammt vom Besitz des Staatsmannes, der sich um die Erhaltung der Monarchie verdient gemacht und daher dieses Gut erhalten hat: Fürst Mettemich, vgl. Reinirkens, S. 41. 365 Vgl. Brednich, Bd. II, S. 310. 366 Vgl. Herder, Bd. 4, S. 393. 367 Vgl. Kluge, S. 219: über das Wort Frieden läßt sich der Name von der german. Wurzel *fri, indgerm.*pri, mit der Bedeutung "lieben" ableiten. Ursprünglich bedeutet "Frieden" im Germanischen ein "Zustand der Freundschaft, der Schonung". Vielleicht mag Saar bei dem Namen Fridolin an eine etymologische Verwandschaft mit dem Namen des germanischen Vanengottes Frodi gedacht haben. Denn so wie sich alles um Fridolin ins Positive, Nützliche und letztlich Richtige.verwandelt, so bringt der Vanengott die Zeit des Friedens, des Wachstums, des Wohlstandes und des friedlichen Gedeihens. Vgl. Hermann, S. 223. In der Zeit des Frodi-Friedens mahlen zwei Riesinnen in einer Mühle Gold, Frieden und Glück. Da schon Simrock in seinem Handbuch der deutschen Mythologie \ 874 auf die Bedeutung des Vanengottes eingeht, kann man 364
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Die Friedfertigkeit des Protagonisten verweist also auch auf ein Ideal vom gehorsamen Staatsdiener und einen Charakterzug seines Volksstammes369. Zugleich macht sich eine allmähliche Ablösung der alten Herrschaftsformen durch die neue Kraft der Slawen bemerkbar. In der Erzählung nimmt Fridolin den Platz im Schloß stellvertretend für seinen Herrn ein, der ihm die Schlüsselherrschaft übertragen hat. Dies ist aber ein Indiz mehr für die Vergänglichkeit dieses friedvollen abgeschiedenen Daseins, das eben nur noch durch künstliche Pflege am Leben gehalten wird. Mit Gehorsam, Fleiß, Treue und Unternehmergeist gelingt es dem ehemals barfüßigen Lehrjungen, eine sichere Existenz zunächst unter und dann in Vertretung der deutschen Herrschaft in Frieden aufzubauen. Herder sah aufgrund der dargelegten Tugenden den Anbruch der Slawenherrschaft für gekommen, denn: [...] die Gesetzgebung und die Politik in Europa wird statt des kriegerischen Geistes immer mehr den stillen Fleiß und den ruhigen Verkehr der Völker untereinander befördern müssen und befördern werden, so werdet auch ihr so tief versunkene, einst fleißige und glückliche Völker endlich einmal [...] von euren SkJavenketten befreiet, eure schönen Gegenden [...] als Eigentum nutzen und eure alten Feste des ruhigen Fleißes und Handels auf ihnen feiern dürfen370. Sie werden zu den Nationen gehören, die "aufblühen" 171 und die sich, in Herders Lebensaltervorstellung, in der aufsteigenden Entwicklung befinden. Die Zukunft im Fridolin gehört den von der Mutter slawisch erzogenen Kindern (14,10). Daß der Fridolin trotzdem zum He.rbstre.igen zählt, also eine 'Herbstkultur' geschildert wird, bezieht sich auf Fridolins Werdegang selbst. Denn er verkörpert noch die 'alte monarchietreue Kultur der Böhmen', symbolisiert durch die von der Gräfin-Mutter an einem Frühherbsttag (39,36) gestifteten Ehe zwischen den beiden treuen Herrschaftsdienern Fridolin und Katinka. Die Realität gab der optimistische Prognose Herders insofern Recht, als gerade den Tschechen die Liberalisierung seit 1867 zugute kam und sie bald einen großen Teil des aufstrebenden Bürgertums und damit auch eine politische Macht in der Monarchie stellen sollten. Fridolins Familie repräsentiert mit all ihren positiven Eigenschaften und Vergünstigungen seitens der Herrschaft das Modell des glücklichen Slawen. Dieser aber ist nicht im harten Kampf ums Dasein auf sich allein gestellt, sondern durch kindliche
Saars Kenntnis über diesen Teil der germanischen Mythologie voraussetzen. -JJLQ "Denn da sie sich nie um die Oberherrschaft der Welt bewarben, keine kriegssüchtige erbliche Fürsten unter sich hatten und lieber steuerpflichtig wurden, wenn sie ihr Land nur mit Ruhe bewohnen konnten, so haben sich mehrere Nationen, am meisten aber die von deutschen Stämmen, an ihnen versündigt" vgl. Herder, S. 393. 370 Ebenda, S. 394. 371 Vgl. Jöns, S. 19.
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Bande und Pflichtgefühl an seinen Herrn geknüpft und der Krone ergeben. Der historische Hintergrund der Erzählung soll jedoch nicht den Blick auf die künstlerische, poetische Gestaltung versperren. Vielmehr gehören die bisherigen Ergebnisse zum Aspekt des 'realistischen' Gehalts im Fridolin. Die weitere Untersuchung wird zeigen, daß Saar das Glück seines Helden auch in philosophischer Hinsicht als Ausnahmefall verstanden wissen will.
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2. DIE ERZÄHLPERSPEKTIVE Sicherlich ist dem Ergebnis der bisherigen Rezeptionsgeschichte des Fridolin zuzustimmen, daß sich diese Novelle aufgrund ihrer humoristischen Tonlage und ihres Themas von dem Gesamtwerk Saars abhebt. Allerdings mangelt es dabei an entsprechenden formalen Untersuchungen, die Aufschluß über diesen besonderen Aspekt der Erzählung geben könnten. Das der Novelle innewohnende Schwanken zwischen humoristischer Schilderung und ironischer Erzählerhaltung wurde von den Kritikern wenn es überhaupt festgestellt wurde - durchweg negativ beurteilt372. Um Klarheit über die Besonderheit dieser "lustigen Geschichte" (BrW74) zu erhalten, ist es daher erforderlich, eine genaue Formanalyse durchzuführen, die sich an den Kriterien der Erzählperspektive und des Redestils der Figuren orientieren wird. Dabei muß nicht nur auf die Deutung vorgegriffen werden, sondern es ist auch ein Blick auf das übrige novellistische Werk Saars notwendig, um die Besonderheit bzw. Nähe des Fridolin zu diesem zu überprüfen. Vorab sei auf die Textgeschichte verwiesen. Sie machte deutlich, daß Saar zur Entstehungszeit der Erzählung Veränderungen nicht nur hinsichtlich seines Verlages, sondern auch für seine eigene Kunst suchte. Der 'Wiener Elegiker' und Verfasser des Innocens und der Marianne wollte mit dem Herbstreigen deutlichere Töne anschlagen, indem er u. a. dem Frauenbild dämonische und zerstörerische Züge verlieh. Dies sollte auch Folgen für seine Darstellungsweise haben.Im Herbst seines sechzigsten Lebensjahrs mag für Saar gegolten haben, was Jean Paul über den Humoristen schreibt: Endlich steigert sich an Jahren Humor, Ironie und jede komische Kraft, und mitten in der kalt nebelnden Trübe des Alters spielt wie ein Nachsommer die komische Heiterkeit sich heiter ein373.
Vgl. die Kritik, Saar habe im Stile Ibsens schreiben wollen, sei seinem Wesen nach aber zu versöhnlich, als daß er hätte satirisch werden können. 373 Vgl. Jean Paul, S. 118.
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a. Ironisches und humoristisches Erzählen in Saars Werk Die Doppelung der Erzählperspektiven, also das Verfahren, aus der Sicht des Erzählers wie aus der des Protagonisten das Geschehen zu beschreiben und zu kommentieren, legt den Grund für den ironischen Ton im Fridolin, der mit "humoristischem Behagen" (SW 10, S. 102) vorgetragen wird. Sicherlich überwiegt im Fridolin diese humoristische Note, aber insbesondere die Kommentare des Erzählers während Fridolins 'Beichte' lassen auch eine ironische Erzählhaltung erkennen, die Saar zuvor schon in anderen Novellen, wenn auch z. T. unter anderen Vorzeichen, erprobt hat. In diesem Zusammenhang sind neben der zum Herbstreigen gehörenden Ninon die drei Erzählungen Leutnant Burda, Seligmann Hirsch und Die Troglodytin aus dem Sammelband Schicksale zu nennen. So scheint das groteske Äußere des Seligmann Hirsch den ironischen Ton seines Beobachters zu rechtfertigen (KTD 4, 13,5-16), der sich durch diese Haltung zunächst von dem ungeschlachten Ruhestörer sprachlich distanziert. Aber auch Seligmann selber betont durch seine ironische Wortwahl, mit der er seine Familienverhältnisse zu beschreiben weiß, seine Kritik an deren Abhängigkeit von den äußerlichen, gesellschaftlichen oder auch religiösen Zwängen (KTD 4, 23,26-37; 24,1-22). In diesem Sinne schärft am Ende der Erzählung der "Cicerone des Gesellschaftsabends" seine Zunge an den zum größten Teil jüdischen Gästen (KTD 4, 33,38-34,25). In allen Fällen handelt es sich letztlich um die Decouvrierung des Scheins, die hier durch die Ironie geleistet wird: Hinter der abenteuerlichen Aufmachung Seligmanns verbirgt sich ein kleiner King Lear (KTD 4, 24,34), seine Familienverhältnisse sind in Wirklichkeit enttäuschend, und die strahlende Fassade des jüdischen Großbürgertums verdeckt nur den erfolglosen Kampf um gesellschaftliche Anerkennung. So verwundert es nicht, daß das anfängliche Behagen, mit dem der Erzähler sich über die verschiedenen Kurgäste lustig macht (KTD 4, 11,9-20), immer mehr einem tragisch-ironischen Ton weicht. Die Distanz zum Helden wird durch das Mitleid mit seinem Schicksal zunehmend aufgehoben374. Ähnliches läßt sich für den Leutnant Burda feststellen. Ursprünglich den Titel Vanitas tragend375, tritt hier die Sein- und Schein-Problematik ganz in den Vordergrund. Die Ironie erweist sich als die angemessene Tonart, um diesen Doppelcharakter der Dinge zu enthüllen. Aber im Verlaufe der Erzählung des sich selbst betrügenden Burda geht sie um so mehr verloren, je stärker dieser in seinem Wahn befangen ist, und der 374
Die Mitleidstheorie Schopenhauers kommt zum Tragen, wodurch der ironische Ton gemildert wird. Allerdings ist die Ironie zugleich Voraussetzung, um die Problematik Seligmanns, die Spannung von Sein und Schein, zu durchleuchten. Zu der Bedeutung der Schopenhauerischen Philosophie im Seligmann Hirsch vgl. Haberland. 375 Vgl. Minor in SW 9, S. 10.
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Erzähler diesem Phänomen zwar mitleidig aber doch hilflos gegenübersteht. Solange die Ironie dazu dient, allgemeine Schwächen zu entlarven, wie etwa zu Beginn das Soldatenleben (SW 9, S. 15), scheint sie angemessen. So beleuchtet der Erzähler selbstironisch seine eigene Vergangenheit und entlarvt seine und seiner Kameraden Bewunderung für die Liebesabenteuer Burdas als "romantischen Hang" (SW 9, S. 15). Die bewußt gewählte unpräzise Form des Konjunktivs (SW 9, S. 14) und die ironische Parenthese (SW 9, S. 13/15) sind die stilistischen Mittel des Erzählers. Aus seinem distanziert-ironischen Blick wird dann zunehmend der eines 'klinischen Beobachters', der die Gefahr der von Burda aufgebauten Scheinwelt erkennt. Dieser macht aus seinem Leben einen Roman, während der Erzähler, der sich in frühen Soldatentagen noch als sentimentaler Poet versucht hat, die Vernunft gelten läßt (SW 9, S. 25). Dies bringt ihm zwar den Tadel des Leutnant ein, verhindert aber, daß er sich wie dieser in eine Welt der Illusion flüchtet. Im Gegensatz zu diesen beiden Erzählungen fehlt der Troglodytin die Doppelung von Erzähler und Protagonisten. Allerdings zeigen sich hinsichtlich des 'Beichtcharakters' gewisse Gemeinsamkeiten mit dem Fridolin. Denn auch der Forstmeister Pernett erzählt von einer "Leidenschaft", die ihn "auf ganz merkwürdige Art" (SW 9, S. 123) befiel. Darauf bedacht, sich nichts zuschulden kommen zu lassen, sucht er in gemessenem Ton und vorsichtiger Wortwahl diese 'Versuchung' zu schildern. Für ihn gelten "Vernunft und Ehrgefühl" (SW 9, S. 136) als Mittel, der Verführung durch "die hübschen Teuflinnen" (SW 9, S. 123) zu widerstehen. Mit pädagogischem Eifer sucht er die "Waldprinzessin" Maruschka auf den Pfad der Tugend zu bringen: "Alle unlauteren, häßlichen Empfindungen waren in mir hinweggespült; ich hatte nur das frohe Gefühl, wohl gehandelt zu haben "(S W 9, S. 139). Die Diskrepanz zwischen innerer Erregung - wenn Maruschka "mit blinkendem Leib" venusgleich vor Pernett einer Waldquelle entsteigt (SW 9, S. 135) - und scheinbar distanzierter Sprache läßt den Leser die ironische Absicht des Autors ahnen. Neben den direkten Erzählerkommentaren wird die ironische Brechung auch durch den Stil des Protagonisten erreicht. Die kurz vor dem Fridolin entstandene Novelle Ninon nähert sich schon stärker dem humoristischen Ton unserer Dienererzählung. Ironische Erzählerkommentare entlarven die Welt des Scheins, d. h. der Bühne (SW 10, S. 76-77), ebenso wie der ironische Tonfall im Gespräch zwischen Erzähler und Protagonistin (SW 10, S. 64f.) das eigentliche Wesen der gefühlskalten Nina verrät. Ihre Demaskierung vollzieht sich dabei ganz konkret und läßt das blasse, fast tote Gesicht, ein "tete de cire" (SW 10, S. 67), erkennen. Die Welt des "doppelten Scheins" (SW 10, S. 74), der Poeten, Maler und Schauspieler trägt Kostüm und Maske, verkleidet sich sogar bis in die Sprache hinein - Nina verrät ihr eigentliches Wesen erst im Rausch, wenn sie wienerisch spricht (SW 10, S. 101) - und wird nur von denen durchschaut, die ihr mit Ironie begegnen: dem Erzähler und seinem Bekannten, dem Maler (SW 10, S. lOOf.). Dieser hat sich von den Reizen Ninas ebensowenig verführen lassen wie von ihrem mondänen Leben in Paris,
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von dem er "mit humoristischem Behagen" (SW 10, S. 102) berichtet376. Nur einmal kippt der ironische Ton des Erzählers um und gerät zum bitteren Sarkasmus, nämlich dann, als er vom Tode des Schriftstellers Z erzählt (SW 10, S. 97). Die Mitleidsethik Schopenhauers wirkt sich hier wie im Seligmann Hirsch auf die Erzählhaltung aus. Zudem mag die innere Beteiligung des Autors Saar an dem z. T. zum Vorbild dienenden Sacher-Masoch eine Rolle gespielt haben. Diese Mischung von Ironie und Sarkasmus mag Saar unter anderem bewegen haben, die Ninon innerhalb des Herbstreigens trotz ihrer früheren Entstehung an die zweite Stelle zu setzen. Der Fridolin konnte so zu einem 'humoristischen Vorspiel* werden. Zudem stehen sich Ninon und Das Requiem der Liebe durch ihre Künstlerthematik näher. Stilistisch aber rückt das Requiem von den beiden anderen Novellen ab, da hier statt einer ironischen Brechung durch die doppelte Erzählperspektive der erzählerische Standort in den Helden verlegt ist. An die Stelle der Erzähldistanz tritt hier starkes subjektives Empfinden.
b. Der ironische Rahmenerzähler im Fridolin Die Gestaltung des Fridolin als breit gerahmte Binnenerzählung hat zur Folge, daß neben der Figur Fridolins als Ich-Erzähler auch die des Schriftstellers als Ich-Erzähler der Vorgeschichte377 und Gesprächspartner Fridolins hinsichtlich der Erzählper376
An späterer Stelle wird noch einmal auf diesen Künstler einzugehen sein, wenn es um das Verhältnis von Kunst und Leidenschaft geht. Er ist ein Vertreter der "apollinischen Kunst*, die als eine Kunst der Klarheit und Feme auch eine Kunst der Ironie ist, vgl. Koopmanns Ausführungen zur Ironie bei Thomas Mann, S. 277. Wie in der Erzählung Ninon im Herbstreigen und einigen anderen früheren Novellen konstituiert Saar auch im Fridolin ausdrücklich die Figur des Erzählers und suggeriert damit seinem Leser, diese als "Schriftsteller" bezeichnete Figur mit seinem Autor gleichzusetzen, vgl. Stockert, S. 157. Daß es sich hierbei auch um ein ironisches Spiel mit dem Leser handeln könnte, wurde dabei von der Kritik übersehen. Äußere Faktoren aus Saars Biographie, die auf den ersten Blick mit Zügen des Erzähler übereinstimmen, galten bei einigen Interpreten als Indiz dafür, daß Saar seine eigene Situation im "Dichterasyl" der adligen Schlösser abschildere. So fände Saar im Fridolin zu seinem "üblichen Erzähler zurück, wie er im Zentralrahmen vorgezeichnet ist: Der Ich-Erzähler ist ein Schriftsteller, er genießt ein Dauergastrecht im Schloß und ist in einem Seitenflügel untergebracht", vgl. Rothbauer, S. 134. Dies bedeutet für Rothbauer, daß der Erzähler mit dem Standort Schloß auch die ideologische Position seiner adligen Gönnerinnen teile, ebenda, S. 26. Um diese These auf die Saarschen Erzählungen anwenden zu können, müssen Details im Text überlesen oder vergröbert werden. So folgert er aus diesen äußeren Umständen, daß der Erzähler im Fridolin sein Mittagsmahl nicht an der fürstlichen(!) Tafel einnimmt, daß er weder zu der Dienerschaft noch zum Schloß gehöre, ebenda, S. 134. Dabei übersieht Rothbauer jedoch offensichtlich die Tatsache daß der "Schriftsteller" Gast eines von der Herrschaft verlassenen Schlosses ist, ihm also gar nichts anderes übrig bleibt, als sein Mittagessen außerhalb einzunehmen, ganz
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spektive berücksichtigt werden muß. Dieser Schriftsteller-Erzähler ist es, der den Leser zunächst mit dem Protagonisten vertraut macht378. Durch seine Erzählstrategie werden erste Hinweise gegeben, wie man die Geschichte von dem glücklichen Mann aufzufassen hat. Es wurde schon im Zusammenhang mit der Untersuchung der Ironie in den Novellen Saars darauf hingewiesen, daß diese sich zumindest in der Ninon mit dem "humoristischen Behagen" verbindet. Eine genauere Betrachtung des Stils und der Sprache der beiden Ich-Erzähler kann helfen, die humoristischen oder ironischen Schattierungen im Fridolin zu verdeutlichen. Zunächst gilt es, die Position des Rahmenerzählers - womit im folgenden immer der sich in Kapitel III vorstellende Schriftsteller gemeint ist - festzumachen. Dieser führt den Leser langsam an die Figur heran, indem er aus der Außenperspektive desjenigen berichtet, der an dem von Fridolin erzählten Geschehen nicht teilhat. In Kapitel III umreißt er seine Tätigkeit: er habe dies alles - die Details über das Leben des Protagonisten - "so nach und nach in Erfahrung gebracht" (17,20). Dabei scheint die gleich eingangs genannte philosophische Betrachtungsweise wie auch das Zitieren der Meinung anderer eine Objektive Darstellung' zu begünstigen. Die Art und Weise, wie jedoch diese verschiedenen Perspektiven verknüpft und zitiert werden, lassen die stete Anwesenheit des Erzählers durchscheinen und die bewußte Subjektivität der Darstellung erkennen. In Kapitel I gibt der Erzähler einzelne Redezitate von Personen aus dem engeren Umkreis der gräflichen Familie wieder. So wenn Graf Benno seinem Verhältnis zu Fridolin wie folgt Ausdruck verleiht: "halb im Scherz, halb im Ernst: er könne ohne seinen Fridolin gar nicht mehr leben." (11,32). Das andere Mal ist es eine Äußerung der Gräfin-Mutter, die in dieser Form indirekt wiedergegeben wird: "sollte die brave Katinka für ihre aufopfernde Dienste belohnt und ihr, wie die Frau Gräfin-Mutter ausdrückte, ein "sort" bereitet werden" (12,18). Mit solchen indirekten Redewiedergaben ist nicht nur das Herr-Diener-Verhältnis vom Standpunkt der Herrschaft aus um-
abgesehen davon, daß die poetische Ausgestaltung auch dieser Figur völlig übersehen wird. 378 Im Sinne einer Authentizitätsformel gibt der Saarsche Erzähler vor, 'Erlebtes' bzw. 'Gehörtes' wiederzugeben, vgl. Kayser, S. 199. vgl. Saar an Altmann, Briefe Altmann, S. 67-68). Schon im Fridolin erfolgt aber die Einschränkung des Erzählers, er könne Fridolins Geschichte zwar nicht "mit seinen höchst eigenen Worten" (22,4), aber doch in seinem Sinne (22,5) niederschreiben. Die Rolle des Erzählers wird so vor Beginn der Binnengeschichte, d. h. bevor Fridolin als Erzähler auftritt, beschrieben, und es wird zugleich darauf aufmerksam gemacht, daß Erzählen hier die Wiedergabe von Gehörtem durch ein anderes Medium, das des Schriftstellers, bedeutet. Fridolins 'Lebensbeichte' besitzt einerseits den Anspruch des Wahren, ist aber andererseits vom Schriftsteller in eine künstlerische Form gebracht. Diese Thematisierung des Dichtens wird bei Deutungsansätzen wie im Falle Rothbauer nur als autobiographisches Detail bewertet und in seiner Problematisierung nicht erkannt. Was hier als •gesellschaftlicher Standort* zu Spekulationen über das Selbstverständnis Saars führt, ist aber das bewußte Konstrukt eines Autors, der sich - wie die von ihm geschaffene Gestalt des Schriftstellers - in der Schopenhauerischen Philosophie auskennt und auf diesem Hintergrund seine Erzählung gestaltet.
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rissen - für seine Dienste zeigt man Anerkennung und Belohnung, die Bindung des Dieners an seinen Herrn geht zugleich über das übliche Maß hinaus -, es wird auch deutlich, daß Fridolin der Herrschaft Anlaß zur Erheiterung gibt (l 1,22), was schon in dem Umstand der Umbenennung seines Taufnamens zum Ausdruck kommt. Diese amüsierte Grundeinstellung gegenüber dem Diener wird vom Erzähler im folgenden übernommen und muß für die Spanne der Binnenerzählung immer als Folie für den Vortrag Fridolins gesehen werden. Die ganze Tragweite dieser Zitate ist aber erst gegen Ausgang der Erzählung zu ermessen, als die Sicht des Schlosses durch Fridolins Perspektive relativiert ist. Das "sort" der Katinka und damit auch seines sieht in Fridolins Augen eher wie ein Überfall (41,13f.) aus, und so kommentiert er die Heiratspläne der Gräfin: "Jetzt war ich völlig paff (41,18). Durch diese Doppelung der Perspektive wird also ein ironischer Effekt erzielt, der als solcher schon in der Erzählhaltung der ersten drei Kapitel angelegt ist. Bedient sich der Erzähler zu Beginn des I. Kapitels der Perspektive der Adligen bzw. einer nicht näher ausgeführten "Allgemeinheit" ("jemand" (11,23) wandelt Fridolins Namen um, "allgemeinster Beliebtheit" (11,20) etc.), so schwenkt er nun zu einer Perspektive über, die dem entspricht, was man allgemein von außen im Schloß wahrnehmen kann, nämlich zur Schilderung der gemütlichen Häuslichkeit. An einzelnen Formulierungen wird hier jedoch schon sichtbar, daß der Erzähler aus der Innensicht Fridolins erzählt: "eine geordnetere, behaglichere Häuslichkeit, als die seine, konnte es kaum mehr geben" (13,32). Dies gilt auch für die Schilderung der sonntäglichen Kaffeestunde (14,30). Die subjektive Färbung der Beschreibung dürfte jedoch in parodistischer Absicht vom Schriftsteller-Erzähler gewählt sein. Der Biedermeierwortschatz ist nicht zu überhören, was noch in Kapitel II bei der Schilderung des "gemütlichen Biervereins" verstärkt wird379. So steht das Haus der Kohouts in einem "schmucken Vorgärtchen" (13,32), und auf dem Hinterhof "gackerte, schnatterte und gluckste es in allen Tonarten" (13,35). Begriffe wie "behagliche Häuslichkeit" (13,30-31), "Frische" und "Gesundheit" (14,5) lassen das Bild einer traulichen Idylle entstehen, die so perfekt ist, daß sie schon wieder das amüsierte Lächeln des Erzählers hervorruft. Saar hat stilistische Änderungen gegenüber der Erstfassung in auffallender Weise besonders im I. Kapitel vorgenommen. So zeigt sich die Tendenz, bei der Vorstellung
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Vgl. Sengle: Biedermeierzeit, Bd. I, S. 443: Die gemütliche Komponente wird gesteigert, "gemütlich" im Sinne von traulich aber auch "biedermeierlich-konservative Verstandesfeindlichkeit" verwandt, vgl. S. 445. So spiegelt die "gemüthliche"(16,4) Bierrunde bei Herrn Sykora dieses Empfinden wider. Hier sind es wiederum die "Biedermeierbegriffe", die ins Auge fallen: "wohligstes Behagen" (16,3-4), "gemüthlich" (16,2). "Im Vereine"(16,6) ist ebenso dem Biedermeierwortschatz entnommen und charakterisiert hier die Vorliebe für das Gesellige, vgl. Grimm, Bd. 4, S. 3330. "Häuslichkeit" und "Behaglichkeit" gehören als Tugend der Hausfrau und als Zeichen von Geselligkeit, vgl. Sengle: Biedermeier, Bd. I, S. 447, ebenso zum Biedermeierwortschatz.
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des Helden häufiger den Superlativ zu setzen3*0. Diese gehäufte Verwendung des Superlativs widerspricht der Vorstellung eines objektiven Betrachters, so wenn es heißt, der Nationalitäten - Ausgleich sei auf das "befriedigendste" hergestellt (14,9). Hier wird der ironische Unterton durch den Vergleich mit der großen Politik hörbar. Neben dieser Stelle findet sich von seilen des Erzählers noch ein zweiter Hinweis (19,6-7) auf den historischen Rahmen der Erzählung und zwar in seiner Unterhaltung mit dem Protagonisten381. Der heitere Ton der Darstellung verbunden mit dem Stilmittel der Hyperbel lassen vermuten, daß der Erzähler selber diese Idylle mit kritisch-heiterem Blick betrachtet. Nähert er sich in der Erzählerrede der Innenperspektive Fridolins, erscheint dieses Leben als absoluter Glückszustand, so daß er schließen kann: "da mochte er [...] mit dem erhebenden Bewußtsein dessen, was er erreicht und errungen,.auch das Vollgefühl haben, ein Glücklicher zu sein" (14,32-35). An anderer Stelle wird deutlich, daß der Erzähler sein Wissen über Fridolin gefiltert durch seine eigene Perspektive vermittelt. Gemäß seiner Schulung an Schopenhauer vergleicht er Fridolins Gemütsverfassung mit der eines Stoikers: "wie er denn fast in allem, was nicht den Dienst betraf, den erhabenen Grundsätzen der Stoa huldigte." (14,16). Natürlich gibt Fridolin an keiner Stelle der Erzählung eine solche Vertrautheit mit dieser antiken Philosophie zu erkennen. Indem der Erzähler ein so "unbedeutendes" Wesen wie den Herrschaftsdiener mit den hohen Erkenntnissen der Stoa in Verbindung bringt, deutet er an, daß es ihm hier nicht um eine ernsthafte Darstellung eines philosophischen Grundsatzes geht, sondern daß er mit den hehren stoischen Idealen die etwas lächerliche Gestalt Fridolins parodiert. Das Verfahren der Parodie beschreibt Schopenhauer folgendermaßen: es bestehe darin, "daß sie [die Parodie] den Vorgängen und Worten eines ernsthaften Gedichtes oder Dramas unbedeutende, niedrige Personen.oder kleinliche Motive und Handlungen unterschiebt"382. Dadurch, daß etwas Reales - hier der Gleichmut Fridolins - unter einen Begriff oder abstrakten Gedanken - den der Stoa - subsumiert wird, zu dem das Reale zwar streng gesehen gehört, es aber unendlich weit unterschieden ist von der ursprünglichen Absicht und Richtung des Gedankens, entsteht der parodistische Witz383. An dieser Stelle läßt sich bereits festhalten, daß unser Erzähler nicht nur der "Berichterstatter oder Gestalter"384 ist, der sein Material ordnet und "distanziert und verhalten"385, wie etwa im Innocens, vorträgt.
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Vgl. Hr 11,14 statt J1: sämtlicher; Hr 11,17 statt J1 "überraschend". Vgl. Stockert, S. 67 zu dieser Funktion des Rahmenerzählers bei Saar. 382 Vgl. Schopenhauer: WWV II, Kap. 8, S. 114. 383 Ebenda, S. 115. 384 Vgl. Stuben, S. 259. 385 Ebenda, S. 259. 311
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Der humoristische Ton in der Novelle soll nun exemplarisch an der stilistischen Gestaltung des I. Kapitels dargelegt werden. Der Erzähler macht sich etwa das humoristische Stilmittel der "überfließenden Darstellung"386 zu eigen, indem er auf das genaueste Fridolins Tätigkeit im Schlosse beschreibt (13.10-14)387. Die Akkumulation von Adjektiven - auffällig häufig im Dreierrhythmus, wobei das letzte Adjektiv durch einen umständlichen Relativsatz ersetzt werden kann (12,19; 11,27-28) -, schwerfällige Partizipialkonstruktionen (12,3-9), der "Sternische Periodenbau"388, die Verknüpfung mehrerer parallel gebauter Satzperioden zu einem Ganzen (13,10-19; 12,2-9; 14,29-35) und die "Zerfällung von Subjekt und Prädikat"389(12,25-31) geben der Schilderung ihre dichte Fülle und Behäbigkeit. So spiegelt der Stil die Figur wider, der Erzähler scheint von der Rede des Helden selbst "angesteckt", ein Phänomen, das im II. Kapitel zu seiner eigentlichen Wirkung gelangt. In den Beschreibungen liegt aufgrund dieser Genauigkeit zugleich ein Moment der Übertreibung, wodurch etwa das Bild Fridolins karikaturhafte Züge erhält (l 1,16-20) und selbst kleine Schönheitsfehler, wie im Falle des "Fräulein Katinka Kwapils", nicht übersehen werden (12,11-12). Der "methaphorische sinnliche Stil des Humoristen"390, äußert sich in Wendungen wie "Trotz bieten" (11,37), "Perle unter den Dienern" (12,24) oder "dier Flamme des häuslichen Herdes auflodern zu lassen" (12,34). Eine ironische Absicht zeigt sich aber auch in der Wahl der Eigennamen, wenn man sie auf ihre eigentliche Bedeutung hin untersucht391. Dabei lebt die Ironie in diesen Fällen von dem äußeren harmlosen Schein und dem dahinter verborgenen, im Sinne Schopenhauers, triebhaften Sein. Fridolin Kohout würde mit deutschem Nachnamen "Hahn" heißen392, womit sich 386
Vgl. Jean Paul, S. 139. Bei diesen detaillierten Beschreibungen ist sicherlich das zu beachten, was Preisendanz an Kellers Darstellungstechnik feststellte: durch das in Beziehung setzen von Dinglichem und Seelischen wird ein Spielraum für die "humoristische Verinnigung" geschaffen, ebenda, S. 159. So ist das Heizen Fridolins nicht nur eine unter vielen Tätigkeiten, sondern es erhält symbolische Funktion und gibt Aufschluß über die innere Verfassung des Helden. Zu diesem Aspekt s. Kapitel Feuersymbolik. 387 Hierbei fällt besonders die "Flinkheit" Fridolins auf. Zur komischen Wirkung der Schnelligkeit vgl. Jean Paul, S. 114, A.l. Bei Jean Paul findet man aber auch unter der Rubrik des "Lächerlichen" die Darstellung des Schnellen angeführt, wobei das Lächerliche in der Bewegung besteht. Zu diesem wahren Widerspruch mit dem Äußeren wird dem komischen Wesen dann noch ein erdichteter innerer hinzugegeben, ebenda, S. 114. So kontrastiert bei Fridolin die Ruhe des "stoischen Weisen" mit seiner äußeren Unruhe. Ob Saar Jean Pauls Ästhetik kannte, läßt sich nicht nachweisen, das dichterische Werk Jean Pauls dürfte ihm aber nicht fremd gewesen sein, so daß er auch aus diesem eine Inspiration für seine "humoristische Idylle" erhalten haben könnte. 388 Ebenda, S. 127. 389 D. h. die Aufteilung in endlos viele Subjekte oder Prädikate, ebenda, S. 142. 390 Ebenda, S. 140. Ebenda, S. 141. Jean Paul führt die Eigennamen und Kunstwörter als Mittel des Humors an. 392 Vgl. Rank, S. 228. Diese "zweite" Bedeutung muß allerdings vom Leser unterlegt werden, durch diese "kontrastierende Einsicht" kommt die Komik erst zur Wirkung, vgl. Jean Paul, S. 113. Er beschreibt diesen Vorgang an der Figur Sancho Panzas: Hier komnmt das Lächerliche dadurch zustande, das wir dieser naiven Figur unsere Einsicht unterlegen, wodurch wir einen Widerspruch und damit die
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Konnotationen wie Wachsamkeit - in religiöser Auslegung - aber auch Triebhaftigkeit verbinden393. Erstere Eigenschaft trifft auf den vorsichtigen Diener durchaus zu, während die zweite Konnotation im Sinne der Umkehrung zur Wirkung kommt. Der Erzähler spart daher im folgenden nicht mit Hinweisen auf Fridoiins Verhältnis zum "Geflügel": Frau Katinka kümmert sich allein darum (15,24-25), und von Fridolin heißt es, daß er "auf Fasane und Schnepfen mit Geringschätzung hinabsah" (15,22-23). Diese Beziehung zum "Geflügel" wird an einer späteren Stelle der Binnenerzählung durch Fridoiins Schilderung der Waschfrauen noch einmal aufgegriffen, wenn es von diesen heißt: "Die standen, als ich eintrat, von ihren Trögen394 entfernt, in einem Haufen beisammen [...], mit den Armen fuchtelnd, [...] in große[r] Aufregung [...]. Da sie aber alle durcheinander schrien, konnte ich nicht verstehen, um was es sich eigentlich handelte" (25,37-26,1). Als sie Fridolin entdecken, rufen sie ihn bei seinen verschiedenen Namen, und der Eindruck, der "Hahn im Korbe", der "Liebling der Damen" (19,33) sei heimgekehrt, ist voll beabsichtigt. Die durch seinen Spitznamen Fridolin symbolisierte kindliche Treue wird durch den unzweideutig auf die männliche Potenz anspielenden Nachnamen ironisiert. Katinkas Nachname "KvapiF leitet sich von Tschechisch "kvap": Eile395 ab. Auch hier mag in ironischer Absicht darauf angespielt sein, daß sie es nicht minder eilig wie Milada hat, mit Fridolin verheiratet zu werden. Im Zusammenhang mit der symbolischen Ebene der Erzählung wird jedoch noch auf eine weitere Bedeutung des Wortes "kvap" einzugehen sein396. Selbst für Nebenfiguren ist diese Technik angewandt: der Name der alten Hudetz erinnert an das pejorative dialektale "hudeln"397, eine dementsprechende Unordnung scheint Fridolin in der Kalupe der wenig Vertrauen erweckenden Alten zu erwarten (35,32). Der Name des Herrn Sykora ist zwar wie zu sehen war der reale Name des Wirtes, den Saar in Blansko aufsuchte. Aber gerade weil sich mit diesem Namen eine symbolische Beziehung herstellen ließ, hat ihn Saar übernommen. Gemeint ist die sumerische Bezeichnung des Bieres "sikaru", an die der tschechische Name auffällig anklingt398. Der Wirt erhält so einen 'sprechenden Namen' für seinen Beruf. In Anspielung auf seine Potenz dürfte der Name des Müllers Mussil gewählt sein. "Mus" bedeutet der
"unendliche Ungereimtheit, das Lächerliche" erzeugen. Das Komische wohnt nicht im Objekt, sondern im Subjekt. 393 Vgl. Lurker, S. 127, vgl. auch Kapitel Konfiguration. 394 Diese Stelle wird bezeichnender Weise in J2 und Hr ergänzt. 395 Vgl. Rank, S. 266. 396 Vgl. S. 340. 397 Vgl. Rank, S. 166: hudlar: Hudler, Pfuscher. 398 Die Geschichte des Bieres sieht seinen Ursprung im Land der Sumerer an Euphrat und Tigris, vgl. Hoffmann, S. 22, AI. Der Name des Bierschenken klänge somit an diese Bezeichnung stark an. Die Übersetzung des tschechischen Namens führt hier nicht weiter: sikora ist die Meise, vgl. Rank, S. 838.
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"Müssende" bzw. der "Herr Muß" und dürfte auf die Triebhaftigkeit des Müllers verweisen399. Im II. Kapitel der Erzählung gibt die perspektivische Darstellung erneut Aufschluß über die Einstellung des Erzählers zu seinem Gegenstand. Der Skeptizismus des Philosophen scheint recht zu behalten, denn auch an Fridolins Glück macht der Erzähler einen "wunden Punkt" (15,7) aus. Damit aber die Tragweite dieses Makels auch ersichtlich wird, nähert sich der Erzähler immer wieder der Innenperspektive seiner Figur an. Zugleich tritt er deutlich in Kontakt mit dem Leser. So nimmt er Fridolins Vorliebe für das Pilsener Bier in Schutz: Nun soll damit nicht etwa gesagt sein, daß er ein Trinker gewesen (15,11-12). Er entwickelt sich gleichsam zum Verteidiger in Fragen Bier ebenso wie der Held selbst: Welcher Freund und Verehrer jenes hellen, durchsichtigen, stark hopfenhältigen Getränkes könnte etwa ein Trinker genannt werden? (15,12-14). In einen ironischen Ton verfällt der Erzähler erneut, wenn er Fridolins Maßhalten im Sinne Schopenhauers mit dem korrekten Verhalten "bedeutender Menschen" (15,17) etwa dem Genie - vergleicht. Aber gleich schwenkt er wieder um, äußert aus seiner Außenposition nur Vermutungen über Fridolins Geschmackswandel. Dieses "in der Waage halten", dieses vorsichtige Spekulieren über die 'Trinkleidenschaft' des Helden entspricht auf stilistischer Ebene der Litotes, ebenso wie ihre Umkehrung, die Hyperbel, ein ironisches Mittel400. Gerade die euphemistische Wortwahl, das Zurücknehmen von Behauptungen, das vorsichtige Umschreiben etwa im Falle der gestrengen Gattin macht das eigentlich Gemeinte in seiner 'Verschleierung' deutlich. Dieser Stil entspricht zugleich der Vorsicht des 'Spießbürgers' Fridolin, der darauf bedacht ist, nicht als Trinker zu gelten. Geschickt jedoch nimmt der Erzähler die anfangs gemachte Behauptung, Fridolin sei kein Trinker, einige Zeilen später durch die Litotes zurück: "Er zog es [das Bier] eben jedem anderen Getränke vor, ja es war gewissermaßen das einzige, das er zu sich nahm" (15,15-17). Hinter der Attitüde der Bescheidenheit und Zurückhaltung, die sich in Kommentaren wie "Auch an seinem Glücke war ein wunder Punkt; freilich nur ein ganz kleiner, verschwindend kleiner, aber [...]" (15,7-8) oder hinsichtlich Fridolins Geschmackswandel "Möglich, daß er sich seinerseits an den Leckerbissen übernommen hatte [...]" (15,19-20) äußert, versteckt
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Vgl. Rank, S. 330: von museti = müssen als Nomen abgeleitet und spaßhaft gebraucht. Vgl. Baumgart, S. 29.
sich der scheinbar abwägende Erzähler. Allein die fallende Litotes im ersten Beispiel und die subjektive Wahl des Wortes "Leckerbissen" unterstreichen die ironische Spannung zwischen der Perspektive des Erzählers und der des Protagonisten. Die indirekte Redewiedergabe der Figur selbst legt die seelische Verfassung des Helden plastisch dar, macht ihn dem Leser sympathisch. Auch der Erzähler nähert sich bedenkenlos der Perspektive des Biergenießers an: O, wie gemüthlich ging es dabei zu! Besonders an Samstagen, wo man sich, den geschäftelosen Sonntag vor Augen, dem wohligsten Behagen hingeben konnte (16,2-4). Nur der Blick auf den "geschäftelosen Sonntag" kann bei dieser Äußerung noch als Indiz dafür gelten, daß der Erzähler die Perspektive der Gäste wiedergibt, da er als Schriftsteller von den Wochentagen nicht abhängig ist. Endgültig erfährt der Leser, wie es im Innern Fridolins aussieht, wenn es um die heikle Frage geht, ob man Pilsener Bier im Notfall auch aus der Wirtschaft nach Hause tragen kann (16,28). Hier nähert sich die Erzählerrede dermaßen stark dem Empfinden und dem Stil des Helden an, daß man schon von 'Ansteckung' des Erzählers durch die Figurenrede sprechen kann401. Diese Form des 'indirekten Zitats' dient der leichten Ironisierung, denn die Worte verlieren, aus dem Munde des Erzählers gesprochen, ihren scheinbaren Ernst: Es war, wie gesagt, ein furchtbares, grausames Gebot (16,35). Diese 'Ansteckung' durchzieht eigentlich das gesamte I. und II. Kapitel und wird dem Leser erst mit dem Auftreten Fridolins und dessen Sprechen bewußt. Wenn also der Erzähler von sich in Bescheidenheit behauptet, das, was er da niederschreibe, seien nicht Fridolins "höchst eigene[] Worte" (22,4), aber "doch in seinem Sinne" (22,5) gewählte, so zeigt sich in dieser Untertreibung schon die 'Ansteckung'. Man vergleiche nur Fridolins Beschreibung seines Amtes als Hausknecht (19,20f.) mit der Anfangspassage der Erzählung (ll,13f.), in der sich stilistische Ähnlichkeiten, die bis in die Wortwahl gehen (11,14-15; 19,9), wiederfinden. Die entscheidende und für Fridolin so peinliche Szene an jenem Donnerstagabend, an dem er es wagte, länger als erlaubt auszubleiben, teilt der Erzähler zum Teil durch direkte, zum Teil durch indirekte Redewiedergabe mit. Indem er die Plastizität der Situation steigert, kommt die Komik zur vollen Wirkung. Hier wird dem theatralischen Gebaren ein kleinliches Motiv untergeschoben. Die auftretenden Personen verhalten
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Vgl. Stanzet, S. 249. Stanzel erläutert dieses Phänomen, das sich häufig in den Werken Thomas Manns befindet, nach einer Arbeit Leo Spitzers, der diese 'Ansteckung* von Autor- und Figurensprache am Beispiel Alfred Kerrs erläutert, vgl. Spitzer, S. 201.
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sich, als wollten sie Fridolin vor der Übertretung eines erhabenen Gesetzes bewahren, worauf dieser jedoch unter Aufbringung seiner ganzen Kraft nicht eingeht, bis gleichsam als Rächerin die Ehefrau erscheint und das 'Verbrechen der Übertretung' bestraft402. Die Reaktion der Mitgäste, ihr Lachen, und die des Wirtes, sein halb mitleidiger, halb spöttischer Abschiedsgruß (17,11-12), stehen im Widerspruch zu der von Fridolin höchst ernsthaft empfundenen Situation. Auffallend an diesem Kapitel ist neben dem lebhaften Redestil, der schon ein komisches Bild des Protagonisten gibt, die kontrastierende Schilderung des Samstagund Donnerstagabend, die die ironische Erzählhaltung zu unterstreichen vermag. So steht der übertreibenden Beschreibung der "nachsichtig und duldsam [...] liebende[n]" (16,18) Gattin mit "kokettefm] Nachthäubchen" (16,15) am Samstag, die Schilderung der "unerschütterlich[en], ja grausam strengen" (16,19) Gattin, die "Haupt und Brust malerisch" (17,5-6) mit einem Tuch umhüllt hat, an dem besagten Donnerstagabend gegenüber. Die breite Darstellung dieser Situation Fridolins im Wirtshaus entspricht der Bedeutung, die dieser Bierabend für Fridolins Glück hat, und so kommen Erzählzeit und erzählte Zeit fast zur Deckung. Der Ruhe der Darstellung kommen das Behagen und die Gemütlichkeit entgegen, während der unter dem Gebot der Stunde stehende, übereilte und hektische Aufbruch an jenem fürchterlichen Abend eine ebenso eskalierende Schilderung erfordert. Ohne auf eine genaue Messung von Erstreckung und Gestaltung erzählter Zeit im Text und Lesezeit in Form von Seitenzahlen eingehen zu wollen403, kann man doch festhalten, daß mit wachsender Annäherung der Innenposition, mit Innerem Monolog oder direkter Redewiedergabe, auch die erzählte Zeit der Erzählzeit näherrückt, und der einzelne Moment im Leben Fridolins eine intensivere Darstellung erhält404. So kann man für die gesamte Erzählung eine Spannung zwischen der Ruhe der Darstellung in den Kapiteln I und II und der unter Zeitdruck gegebenen Schilderung der Binnengeschichte erkennen. Die bewußte Inadäquatheit der gewählten philosophischen Perspektive wird durch die sich wiederholende Satzstruktur der beiden Kapitelschlüsse bestätigt. Greift die erste "Und wenn...da..."-Konstruktion die Äußerung Schopenhauers über den "wahrhaft Glücklichen" (14,29-35) auf, so stellt die zweite dieser die verneinende des Horaz gegenüber (17,10-15). Beidemale setzt der Erzähler den Konjunktiv, was die
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Vgl. Schopenhauer: WWV II., S. 114. Vgl. Müller: Zeitgerüst, S. 196. 404 Ähnliches läßt sich auch für die 'Teichepisode' sagen, die mit solch einer Annäherung von erzählter Zeit und Erzählzeit von Fridolin geschildert wird. 403
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Beurteilung ebenso in ironischer Schwebe hält wie der Wechsel der Perspektiven innerhalb der Kapitel405. Das Übergewicht an Innenperspektive und indirekter Wiedergabe in Kapitel II stützt die Vertrautheit zwischen Helden und Erzähler. Für Fridolin ist der Biergenuß eine ernste, geradezu heilige Angelegenheit. Doch mit seinem Ernst stößt Fridolin auf eine Umwelt, die sich über diese Einstellung lustig macht und für die er zum Gespött wird. Hinter der komischen Wirtshausszene, dem Scherz, steht aus der Perspektive Fridolins 'bitterer Ernst'. Der Erzähler vermag diese Einstellung seines Helden nachzuvollziehen, und so schildert er sie nicht bissig ironisch, sondern humorvoll, gemäß der Humor-Definition Schopenhauers, daß sich hinter dem Scherz der Ernst verberge406. In der weiteren Folge der Erzählung wird das 'Biertrinken' immer wieder leitmotivisch erscheinen und, mit Blick auf dieses Bierkapitel, seine mehr oder minder ironische Note erhalten. Ohne der Interpretation zu sehr vorzugreifen, läßt sich jetzt schon festhalten, daß der Erzähler jeweils vor einer unerwarteten, zumeist für Fridolin peinlich verlaufenden Situation das Biertrinken des Protagonisten erwähnt, sodaß der "halb mitleidig, halb spöttische Blick" auch in der Binnenerzählung erhalten bleibt. So gewinnt das Leitmotiv des Biertrinkens eine "Beziehungsfülle"407, ihm wird in parodistischer Absicht jeweils ein neuer Gehalt unterlegt: so steigert sich Fridolin vom einfachen "Landbier" (27,8) des Försters zum "köstlichen Naß" (16,10) des Pilsener Biers, gleichzeitig aber tauscht er sein Junggesellentum und den "blauen Montag" (39,33) gegen den streng geregelten Biergenuß am Donnerstag und Samstag ein. In Kapitel III erfolgt ein erneuter Perspektivenwechsel: Fridolin als Ich-Erzähler kann nun ungebrochen seine Sicht der Dinge im Gespräch mit dem Erzähler vortragen. Zugleich erscheint er mit Mimik und Gestik plastisch vor dem Auge und Ohr des Erzählers und damit auch des Lesers, womit eine komische Wirkung erzielt wird40*. Mit dem Wechsel der Perspektiven setzt auch ein Rollen tausch ein: der Erzähler - und mit ihm der Leser - wird zum Zuhörer und Betrachter Fridolins409. In dieser letzten 405
Vgl. Baumgart, S. 63-64.
406
Vgl. Schopenhauer: WWV II., S. 120. Will man diese Erzählung hinsichtlich ihres Humors bzw. der in ihr verwendeten Ironie untersuchen, so bietet sich mit Blick auf den philosophischen Hintergrund die Theorie Schopenhauers an. Schopenhauer grenzt sich selbst darin u. a. von Jean Paul und dessen Vorschule der Ästhetik ab, obwohl er in einzelnen Punkten Jean Pauls Definitionen nahe kommt. So schreibt Jean Paul in bezug auf den Ernst der Ironie, er habe zwei Bedingungen, "den Schein des Ernstes* (vgl. Jean Paul, S. 148), wozu man die Sprache studieren muß, um den Ernst des Scheines oder den ironischen zu treffen, und als zweite die Objektivität der Ironie (ebenda, S. 152). Auch Schopenhauer spricht der Ironie als Mittel der Erkenntnis diese Objektivität zu. Saar bedient sich der Ironie im Fridolin als "Schein des Ernstes": die Ernsthaftigkeit, mit der der Fall des Herrn Kohout unter dem Blickwinkel der Philosophie betrachtet wird, ist nur scheinbar. 407 Vgl. Baumgart, S. 52-53. In einem separaten Kapitel wird sein Redestil noch zu analysieren sein. 409 Vgl. Kayser, S. 199: Der Erzähler übernimmt als Figur der Rahmenerzählung die Funktion des 185
Funktion wirft der Erzähler im Verlaufe der folgenden Kapitel seine ironischen Zwischenbemerkungen nicht nur im Gespräch mit Fridolin, sondern direkt, in Parenthese, an seinen Leser gerichtet, ein. Er veranschaulicht Fridolins Reaktion auf das Wiedererlebte durch seine Bierbestellungen (21,37; 26,20-21) oder läßt diesen erst "nach einer Pause tief aufathmend" (33,24) in seinem Bericht fortfahren. Am deutlichsten ist die ironische Parenthese410, wenn der Erzähler Fridolins Eingeständnis seiner Keuschheit kommentiert: "(Herr Fridolin schlug jetzt verschämt die Augen nieder)" (34,4-5). Es fällt auf, daß diese ironischen Einschübe verstärkt in dem Gesprächspart der Kapitel III und VHIb auftreten, in Kapitel IV und VII eingestreut sind, jedoch in den zentralen Kapiteln V und VI, dort also, wo das 'erlebende Ich' Fridolins in den Vordergrund tritt, fehlen. Zu der langsamen ironischen Heranführung an die Person Fridolins in Kapitel gehört die Wahl des Zeitpunktes: Während der Erzähler gelassen die Erscheinung Fridolins wahrnehmen kann, steht dieser unter Zeitdruck. Es handelt sich um den Tag der Woche, der für Fridolin schon einmal so peinlich verlaufen ist, und den er nie wieder so erleben möchte. Die Zeitgestaltung soll hier einem ironischen Zweck dienen. Zudem wird der Diener mit einem ihm noch nicht zustehenden Titel - als "Schloßverwalter" - vom Wirt angesprochen (18,16), was ihn "sichtlich verlegen" (18,17) macht. Unsicherheit und Nervosität geben so der Begegnung ihre komische Note. Die einleitenden Worte, mit denen der Erzähler sein Interesse an der Person Fridolins bekundet, lassen einen ironischen Ton heraushören: [...] sollte mir ein noch tieferer Einblick in das Wesen des merkwürdigen Mannes vergönnt werden (17,23-25). Damit greift er zurück auf die anfangs formulierte Bemerkung, Fridolin, dieser "ausnahmsweise Glückliche" (11,8), sei ein "merkwürdiger Mann" (11,11). Dies scheint denn auch die Mitteilungsabsicht des Erzähler-Schriftstellers zu sein, nämlich besondere, auffällige Erscheinungen in seiner Dichtung zu beschreiben. Hinsichtlich der Person Fridolins geschieht dies nun mit ernster Haltung, hinter der sich die Erheiterung über diesen besonderen Fall verbirgt. Schon das Stilmittel der Hyperbel, typisch für Fridolins Redeweise, dient hier dem Erzähler zur Einführung des Helden. Nicht nur Ereignisse aus dessen Leben will er in Erfahrung gebracht haben, auch sein "Wesen" (17,24) hat ihm Fridolin offenbart. Dabei gesteht der Erzähler offen seine Neugierde hinsichtlich der Person Fridolins und insbesondere am Ende des Kapitels in bezug auf seine "Leidenschaft" ein.
sonst anwesenden Publikums. Saar geht in der Variation dieser Technik so weit, daß er etwa im Falle der Troglodytin das Publikum nicht einmal durch eine Figur ersetzt, sondern den Ich-Erzähler gleich mit einer inquit-Formel beginnen läßt. 410 Vgl. Baumgart, S. 37.
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Mit dem Erscheinen des Protagonisten wird es nun möglich - für den Erzähler wie für den Leser -, einen Vergleich zwischen dem Bild, das man sich von ihm gemacht hat, und seinem "Wesen" zu ziehen. Schon die "gewohnt herablassend ehrerbietige Verbeugung" (17,38) scheint dieser Vorstellung Recht zu geben. Der weitere Gesprächsverlauf trägt den durch Kapitel I und II gesetzten Erwartungen vollends Rechnung. Der Erzähler bestärkt Fridolin in dessen Verhalten und Meinungen (18,26), wie er sich überhaupt dessen Belangen gegenüber freundlich und interessiert zeigt (18,38). Es fällt auf, daß er den Redensarten bzw. allgemeinen Floskeln Fridolins auf gleiche Weise begegnet, womit er ihn scheinbar in seiner Aussage bestätigt - etwa in bezug auf die "Übelstände" des Dienerberufes (19,2) oder auf seine Berufsehre (19,6-7). In dieser Weise gestalten sich auch alle weiteren Reaktionen des Erzählers bezüglich Fridolins Schilderung der Tätigkeiten im Schloß, des Verhältnisses zu den Herrschaften und den weiblichen Gästen (19,33) oder auch der Zeit als Diener des jungen Erbgrafen (21,9). Da der Erzähler zugleich dabei das Lachen unterdrücken muß (19,32), stellt er unter dem Schein der Ernsthaftigkeit, der Zustimmung und der Anerkennung die Weitmaßstäbe Fridolins in Frage bzw. setzt sie einer möglichen Kritik von Seiten des Lesers aus. Das Verfahren, dessen sich der Erzähler bedient, ist das der Ironie, der Verstellung, so wie sie u. a. Schopenhauer in seiner Theorie des Lächerlichen erläutert. Schopenhauer erfaßt das Wesen der Ironie über das Gegensatzpaar Ernst und Scherz/Lachen. Ersterer bestehe im "Bewußtsein der vollkommenen Übereinstimmung und Kongruenz des Begriffes, oder Gedankens, mit dem Anschaulichen, oder der Realität. Deshalb ist der Übergang vom tiefen Ernst zum Lachen so besonders leicht und durch Kleinigkeiten zu bewerkstelligen"411. Der Scherz als das "absichtlich Lächerliche" entstehe dadurch, daß eine Diskrepanz geschaffen wird zwischen den Begriffen des anderen und der Realität. Daraus entwickelt Schopenhauer folgende Definition der Ironie: Versteckt nun aber der Scherz sich hinter dem Ernst, so entsteht die Ironie : z. B. wenn wir auf die Meinungen des Anderen, welche das Gegenteil der unsrigen sind, mit scheinbarem Ernst eingehen und sie mit ihm zu theilen simulieren; bis endlich das Resultat ihn an uns und ihnen irre macht412. Dies ist nun die Strategie des Erzählers gegenüber Fridolin. Dessen subjektive Rede erfährt durch die ironischen Erzählerkommentare im Sinne Schopenhauers eine
411 412
Vgl. Schopenhauer: WWV II., Kap. 8, S. 118. Ebenda, S. 120.
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Objektivierung, denn "die Ironie ist objektiv, nämlich auf den Anderen berechnet"413. Das Verfahren der Ironie erweist sich so als der Aufgabe des Schriftstellers angemessen, die Inkongruenz zwischen Begriff und Realität aufzudecken und damit den Scheincharakter der Welt zu entlarven414. Das Wesen dieser Welt liegt aber nach Schopenhauer im Willen zum Leben415. Mit diesem Wissen um das eigentliche Wesen der menschlichen Existenz geht nun der Erzähler an die Beichte Fridolins heran. Fridolins Erklärungsversuche sowohl in bezug auf seine Dienerlaufbahn als auch hinsichtlich seiner leidenschaftlichen Affäre mit Milada laufen darauf hinaus, daß er sein vernunftsmäßiges Handeln herausstreicht (23,19), wenn die Gefahr in Form der Verführung durch das Weib droht416. Gerade aber diese überlegte, besonnene, bedächtige Einstellung Fridolins reizt den Erzähler zu seinen Kommentaren (21,18-19; 22,36-37; 19,18), da er hinter diesen Erklärungsversuchen den Kampf gegen den Willen zum Leben erkennt. Nachdem er den ersten Teil der Geschichte vernommen hat, kommt er zu dem Resultat, daß er eine "besondere Leidenschaft" (26,18) Fridolins nicht feststellen kann. Auch durch seine abschließende Bemerkung wird die Kluft zwischen seiner Auffassung von Leidenschaft und der Fridolins noch einmal unterstrichen. Was aber Fridolin im mittleren Teil erzählt, ist nichts anderes als der Sieg des Willens zum Leben, hier in Form des ausgelebten Geschlechtstriebes. Die Ironie des Erzählers richtet sich gegen den letzten Endes vergeblichen Versuch Fridolins, den Willen zu verneinen. Wie die meisten Menschen ist er seinem Trieb unterworfen. Fridolins Glaube, sein Handeln sei durch vernunftsmäßige Entscheidungen geleitet worden, wird als irrig decouvriert. Beider Glücksvorstellung divergieren eben in dem wesentlichen Punkt des Primats des Willens voneinander417. Für den stillen und in geordneten Verhältnissen lebenden Fridolin bedeutet die Affäre mit Milada ein glücksgefährdendes Erlebnis, für den Erzähler verbindet sich mit dem Begriff der Leidenschaft die philosophische Frage nach dem Willen zum Leben. Indem aber zwei so unterschiedliche Standpunkte aufeinandertreffen, wird erneut eine ironische Wirkung erzielt. Die Perspektive des Erzählers ist durch ihren philosophischen Standpunkt ebenso 'subjektiv' wie Fridolins Sicht der Dinge. Objektivität' kommt erst durch die Vielzahl 'der Perspektiven zustande. So scheint auch unser Schriftsteller wie Saars sonstige Erzählerfiguren die Welt als Schüler Schopenhauers zu betrachten418. Durch die offensichtliche Kontrastierung zu
413
Ebenda, S. 120. Vgl. dazu das Kapitel zum Erzähler aus der Sicht der Schopenhauerischen Philosophie. 415 Vgl. Schopenhauer: WWV I., S. 390. 416 Vgl. dazu das Kapitel Philosophie. 417 Vgl. Schopenhauer: WWV L, S. 390. Vgl. hierzu die weiteren Ausführungen zur Erzählerfigur im Kapitel zur Philosophie Schopenhauers. 418 Etwa Walberg in der Geigerin oder der Erzähler in Tambi, der Verwandschaft mit der im Fridolin zeigt: er ist zu Gast auf einem herrschaftlichen Gute und trifft an einem kalten Wintertage 188
Fridolins Sicht macht aber Saar zugleich auf seine Technik aufmerksam, die Grenzen der Schopenhauer-Philosophie an den jeweiligen Figuren aufzuzeigen419. Eine rein humoristische Darstellung, wie sie der biedermeierlichen Idylle des I. und II. Kapitels angemessen ist, in denen sich der Erzähler als "Humorist, der seine eigene Verwandschaft mit der Menschheit sich nicht verleugnen kann"420, erweist, wird von Saar im weiteren Verlauf der Erzählung nicht beabsichtigt. Die Ironie kommt zum Zuge, da sie der philosophischen, kritischen Fragestellung nach der Existenz des Glücks angemessener scheint. Die Verbindung von Humor und Leidenschaft entspricht nicht der fiktiven Wahrscheinlichkeit. Saar hatte Soffi gegenüber daher Zweifel geäußert, ob man aus dem Stoff des Fridolin mehr als eine Posse machen könne. Erst das Thema der Leidenschaft gibt der Erzählung den "belebenden Funken". Fridolins Naivität paßt jedoch bewußt nicht zu dem Anspruch auf Leidenschaft. So schätzt Otto Ludwig in seinen Romanstudien diese Verbindung ein: [...] übrigens ist es Regel bei Shakespeare, Naivität, d. h. die Naivität des Stillebens, nicht mit Leidenschaft zu paaren, außer im Komischen [...].' Und das ist auch im Leben das Typische, daß der Reitz der gefährlichen Leidenschaft nicht in die selbstgenügsamen, eben in ihren Sitten und Bescheidenheit schönen Wiesenblumen schlägt, sondern in hohe Wipfel und Giebel421. Ein guter Teil der Komik in dieser Erzählung wird aber durch die Selbstdarstellung des Protagonisten bewirkt. Deshalb soll im folgenden der Erzählperspektive Fridolins und seinem Redestil die Aufmerksamkeit gelten.
zufällig auf dem ihm bekannten Autor Bacher in einem Wirtshaus. Die "Vorzeichen" sind hier jedoch gegenüber dem Fridolin negativ: es ist ein "elendes Wirtshaus" und es wird nur "trübes Bier" ausgeschenkt. Aber neben diesen Äußerlichkeiten spielt hier die Mitleidstheorie Schopenhauers eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zum Erzähler im Fridolin ist dieser betroffen vom Schicksal des Protagonisten, "erlebt" es mit, versucht zu vermitteln, und muß das unausweichliche Ende hinnehmen. Am Fridolin läßt sich als ironisches Mittel die Grundkonzeption ausmachen, das hehre Gebäude der Philosophie Schopenhauers mit dem biedermeierlich beschaulichen Leben des Herrn Fridolin in Relation zu setzen. Diese Inadäquatheit von Anspruch und "realem Sein" ist vom Autor Saar gewollt, und kontrastriert mit den ernsten Novellen. In ihnen läßt sich wie etwa im Falle der Geigerin oder des Innocens eine ernste, philosophische Erörterung ausmachen. Im Fridolin wird sie auf die Spitze getrieben. Mit Necker könnte man so von einem "Künstlerhumor" sprechen (Necker, Neue Novellen): eine Art Selbstparodie, die mit den eigenen künstlerischem Mitteln spielt. 4IQ
Etwa wie im Falle des Priesters Innocens, vgl. Stuben, S. 375. Auch das Ideal des Heiligen wird an seine Grenzen geführt. 420 Vgl. Jean Paul, S. 128. 421 Vgl. Ludwig, S. 643.
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c. Fridolin als Erzähler Die Binnenerzählung ist im höchsten Maße vom subjektiven Standpunkt ihres Erzählers geprägt. Konnte im Innocens die subjektive Innenperspektive des Helden die Identifikation mit ihm fordern422, so ist dieses Formprinzip im Fridolin dermaßen auf die Spitze getrieben, daß das Miterleben durch ein amüsiertes Belächeln ersetzt wird. So wird statt Identifikation Distanz erreicht. Schon in Kapitel III wird der Leser an Fridolins Darstellungsweise und dessen Erlebnis der "Leidenschaft" langsam herangeführt. Fridolins erster 'Auftritt* ist dabei symptomatisch. Durchnäßt tritt er in die Wirtsstube und äußert sein Unbehagen mit einer allgemeinen Floskel: "Man sollte eigentlich keinen Hund hinausjagen" (18,4). Jedoch wird hier schon gleich die ironische Diskrepanz zwischen Behauptung und Sein für den Leser klar, denn Herrn Kohout treibt kein Auftrag, sondern die Lust auf ein Bier ins Wirtshaus. Wie sehr es ihn in das Wirtshaus zieht, läßt seine zweite Antwort erkennen: bezeichnenderweise besteht sein Glück darin, daß der Gasthof des Herrn Sykora so nahe beim Schloß liegt (18,6). So sind in dieser Eingangssituation zwei Aspekte enthalten, die die weitere Rede Fridolins prägen: er liebt die Übertreibung, und zum anderen steht er unter erheblichem Zeitdruck (18,9-10), was seinen Biergenuß an diesem Tage betrifft. Somit ist von Beginn des Gesprächs an die Zeit allgegenwärtig und der Schriftsteller-Erzähler wird durch seine Kommentare ironisch auf diesen äußeren Zwang in Fridolins Dasein aufmerksam machen. Einzelne Bierpausen werden den Redefluß des Dieners im folgenden markieren, ihm Erholung und "neue Kraft" zur Erinnerung geben. Sobald daher das erste Bier auf dem Tisch steht, vergeht seine Unruhe, und es entspinnt sich zwischen dem Schriftsteller und Fridolin ein ruhigeres Gespräch. Dieses nützt Fridolin zur Selbstdarstellung: Er erläutert sein Selbstverständnis als Diener und schildert seinen Tätigkeitsbereich, den der Leser in Kapitel I aus der Sicht der Schloßherrschaft schon kennengelernt hat. Die superlativischen Bildungen, derer er sich bedient - wie z. B. "die vielen und verschiedenartigsten Gäste" (19,25-26) oder "das feinste Auge" (19,25) - entsprechen seinem Selbstbewußtsein und seiner Eitelkeit. Auch den Stolz über die eigene Weitläufigkeit verbirgt er nicht, wenn er dieser durch Fremdwörter Ausdruck verleiht (19,27-28). Seine devote Redeweise (19,39-40), die auch dann noch erhalten bleibt, wenn beim Erzählen der Spaß zum Ernst wird, zeigt, wie sehr Fridolin die Denkweise des Dieners verinnerlicht hat. Er geht dabei sogar
422
190
Vgl. Stuben, S. 257.
soweit, sich selbst zu entmenschlichen, wenn er von einem der Scherze erzählt, bei dem "über das Ganze" (20,4), daß heißt über ihn selbst und den brennenden Strohsack, Wasser ausgegossen wird. Mit den häufig verwendeten Litotes hinsichtlich der "Spaße" (19,40) und "Spiele" (20,4) und "gewissen Handgreiflichkeiten" (19,39) der jungen Kavaliere spielt Fridolin den tatsächlichen Sachverhalt herunter. Aber Fridolin beabsichtigt mit seiner Darstellungsweise keine Kritik, sondern er zeigt vielmehr mit Stolz, wie er sich trotz solcher Angriffe immer zu behaupten versteht. Mit seinem Beruf als Diener zufrieden, kommt es ihm nicht auf Kritik an. Die gedrängte Kürze der Darstellung der Teichepisode, die Komik der schnellen Bewegung (20,25), die kurzen Parataxen (20,32-34) und das stark subjektiv eingefärbte Sprechen (20,33: das verdammte Loch; 20,24: wie die Teufel; 21,1: wie die Mutter dem Kinde) geben dem dramatischen Geschehen ihren komischen Effekt. Erzähltechnisch wird mit dieser Episode die stufenweise Verinnerlichung des Geschehens durch den 'erzählenden Fridolin' vorbereitet. Seiner sicheren Position bewußt, kann er rückblickend diese Geschichte durchaus mit Humor vortragen. Das ändert sich, als er nun zum eigentlichen Thema der Novelle vorstößt, zu dem Punkt seiner Biographie, an dem er sein Glück in Gefahr gebracht hat. Nach Fridolins eigener Einschätzung war dies der "tollste, wahnsinnigste Streich" (21,15-16) seines Lebens. Mit dem Thema der Leidenschaft richtet sich nun die Perspektive zunehmend auf die Innensicht des Protagonisten, der nun seine innersten Gefühle offenbart. Eitelkeit und Arroganz - man könne "einen Roman" daraus machen (21,37) - verbinden sich mit der unbestimmten Ahnung, daß sich in dieser Phase seines Lebens Wesentliches und Entscheidendes ereignet hat. Die Behauptung, er werde sich bloßstellen (21,36), fungiert hier als captatio benevolentiae, mit der die Neugierde und damit die Spannung gesteigert werden soll423. Auch der Faktor Zeit setzt eine spannungssteigernde Zäsur, bevor die Binnengeschichte beginnen kann. Das erste Glas Bier ist schon längst geleert, da wirft Fridolin einen Blick auf die Wanduhr und stellt beruhigt fest: Ein Stündchen haben wir noch Zeit (21,39). Der Zeiger der Uhr weist auf fünf (21,40), als er die Geschichte seiner großen Leidenschaft zu erzählen beginnt. Die Kapitel IV bis Villa werden nun von Fridolin in
423
Hier macht sich eine gewisse Nähe zum Schelmenroman Lazarillo de Tormes bemerkbar, da die Form der "Beichte" mit Blick auf die Confessiones des Augustinus, parodiert wird. Auch Lazarillo hält das, was er erzählt, für bedeutend und will es vor viele Ohren bringen. Die Naivität der Erzählhaltung entspricht dem Stand und der Herkunft des Helden, vgl. Baader, S. 441, aber sie ist auch hier Mittel der ironischen Brechung. Die "Entlarvung" der Wirklichkeit liegt allerdings auf seilen Lazarillos, während im Fridolin dies dem Erzähler überlassen ist.
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einer knappen Stunde erzählt. Im weiteren Verlauf der Novelle wird der Erzählakt und damit das Durchscheinen der Rahmensituation allmählich reduziert. Fridolin setzt nun ohne Umschweife ein, um die vergangenen Geschehnisse vor dem Zuhörer auszubreiten. Dabei läßt er in Kapitel IV noch Kommentare einfließen, die die Erzähldistanz markieren: Denn ich wollte mir vor den anderen nichts vergeben.[...] auch befolgte ich den Grundsatz, daß ich mich von Weibsleuten so fern wie möglich halten müsse. Denn Liebschaften - und nun gar solche mit Nebenbediensteten, machen zerstreut, lenken von der Arbeit ab und können, da ja Gelegenheit geboten ist, leicht zu den ärgsten Unzukömmlichkeiten führen (22,31-35). Gerade dieses letzte Zitat kann als symptomatisch für Fridolins Naivität gelten. Er scheint ein Mann von Grundsätzen zu sein, insbesondere in bezug auf den Umgang mit dem weiblichen Geschlecht und hinsichtlich seines Berufs. Der Wechsel ins Präsens erweckt den Eindruck, daß Fridolin hier aus der rückblickenden Perspektive desjenigen argumentiert, der seine Erfahrungen gemacht hat. Im Verlaufe seiner Erzählung werden sich die Hinweise darauf häufen, daß Fridolin sein Vorgehen unter Zuhilfenahme solcher 'Gebote' oder 'Normen' begründet und rechtfertigt. Den ironischen Ton in den Antworten seines Zuhörers vermag er nicht herauszuhören, sondern fühlt sich vielmehr verstanden: Ja, ich habe sehr früh begonnen, zu überlegen und alle Verhältnisse in Betracht zu ziehen (22,27-28). Für ihn gibt es keine Entwicklung, die Erfahrung hat ihn in seinen Ansichten nicht verändert, zu Selbstkritik oder Selbsterkenntnis ist er rückblickend nicht fähig. Sein maßvolles Verhalten sucht er in ebenso maßvolle Worte zu fassen. Das Wort "beherrschen" taucht leitmotivisch immer wieder in seiner Erzählung auf (23,8; 23,19; 25,17). Seine subjektive Sehweise tritt offen in seinen Beschreibungen der Personen zutage, die der Schriftsteller nicht kennt, wie etwa im Falle des Kunstprofessors. In der Sicht von Fridolins zurückhaltender Einstellung zum Sinnlichen wirkt dessen Auftreten "unanständig" (23,10), und sein "ungezwungenes Benehmen" (23,20) steht diametral zu Fridolins Selbstbeherrschung. Auffällig und von Bedeutung für die Interpretation ist die Wiedergabe des gräflichen Urteils als direkte Rede (24,19-22): Diese Worte der Gräfin haben sich Fridolin eingeprägt und sie werden leitmotivisch an den entscheidenen Punkten seiner Affäre wiederkehren. Obwohl keine eigentliche Beteiligung Fridolins am äußeren Geschehen in Kapitel IV auszumachen ist, hat die Rolle des Eifersüchtigen und Betrogenen, die er gegenüber
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dem polnischen Valet einnimmt, ihn doch so sehr physisch mitgenommen, daß er eine Erzählpause einlegen muß: Er sank erschöpft in sich zusammen (26,13). Mit der Fortsetzung wartet er, bis er sein drittes Bier bekommen hat (26,21). Die Zweifel des Erzählers richten sich zu Recht gegen den Anspruch Fridolins auf diese Eifersuchtsrolle. Denn wie man später erfahren wird, ist er vielmehr in seinem Verhalten durch die Angst bestimmt, seine Stelle durch die Beziehung zu Milada zu riskieren. Insofern wühlt ihn auch noch nach Jahren die Erinnerung an diese Erlebnisse auf. Die Breite der Schilderung entspricht dabei seiner Neigung zum Pedantischen und zum Gewissenhaften. Mit Kapitel V setzt nun eine weitere Konzentrierung der Perspektive auf das erlebende Ich ein. Einleitende Beschreibungen des Raumes werden durch erklärende Worte über die Verfassung des Helden ergänzt, die Erzähldistanz verringert sich aber auffällig (27,17f.) und wird durch die Wiedergabe der Dialoge fast aufgehoben (27,29). Nur noch einzelne Randbemerkungen zur Gestik und Mimik lassen den Erzähler Fridolin in Erscheinung treten. Wenn er allerdings seine innere Verfassung kommentiert, so durchbricht er, ungewollt natürlich, die aufgebaute ernste, fast unheimliche Stimmung: Mir war, als hätte mich der Blitz getroffen. Ich fühlte es wie Blei in den Beinen [...](27,26). Das Unsagbare wird in nicht zusammenstimmenden Bildern von elementarer und ominöser Gewalt gebracht. Was er an Milada wahrnimmt, ist offensichtlich von der Warnung der Frau Gräfin-Mutter geprägt: "mit bösem Blick" (27,36) schaut sie ihn mit ihren "schwarzen Augen fest und eindringlich" (27,39-40) an. Hinsichtlich der Figur Miladas ist der Grad der Objektivität durch die Dialogisierung nun höher als die indirekte Schilderung durch Fridolin. Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte zeigt zudem, daß Saar bei den Kommentaren Fridolins die Direktheit z. T. wieder zurückgenommen und dadurch den negativen Eindruck Miladas abgemildert hat424. Milada tritt durch den Dialog als Mädchen des Volkes vor den Zuhörer; auch sie zeigt eine Neigung zum volkstümlich-metaphorischen Sprechen, etwa wenn sie den
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Vgl. J1 (V 21,14): "mit lauernder Zuversicht'; J'(V 31,5): "der Hauch ihres Mundes durchrieselte mich". Ganz deutlich ist diese Darstellungsabsicht in Kapitel IV: Hier wurde Milada in J1 von Fridolin ein "hoffahrtigs" Gebaren vorgehalten J'(V 24,36).
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polnischen Valet als "spinnenden Kater" (28,10) bezeichnet, der ihr "goldene Berge versprochen [hat]" (28,12). Der erneute Perspektivenwechsel macht nun aus der "gefährlichen Person", "Kindesmörderin und Zuchthäuslerin" ein Opfer (28,16). Ihre Darstellung des Todes des Kindes, von Saar in der Fassung J2 in naturalistischer Deutlichkeit abgeändert425 - Milada spricht vom "Verscharren"(28,23) des Leichnams - , vermag der weiblichen Hauptfigur eine größere Überzeugungskraft und einen schillernderen Charakter zu geben als die berichtende Erzählung. Diese Wandlung vom "unerfahrenen Mädel" (28,24) zur gereiften Frau, die im Zuchthaus ihre Erfahrungen sammeln mußte, wirkt sich auch auf das Gespräch der beiden Protagonisten aus. Fridolins Kommentare machen dabei anschaulich, wer nunmehr das Geschehen bestimmt: so will sie ihm "die Arme um den Hals schlingen" (28,31), ihm wird es "ganz wirblig im Kopf" (29,2), und es gelingt ihm nur, sich "halb" von ihr abzuwenden (29,3). Immer stärker wird er durch ihren Blick gefangen (29,3). Um den Einfluß Miladas auf seinen Willen zu demonstrieren, ist das erzählende Ich nun ausgeschaltet, so daß der Zuhörer diesen Prozeß der 'Hypnotisierung' mit ihm unmittelbar nachvollziehen kann. Die Begegnung mit Milada hat Fridolin aus seinem bisherigen ruhigen Gleis gebracht. Diesmal wird die Wirkung auf den Helden in der Form des Inneren Monologs verdeutlicht und damit der Erfolg dieser 'Hypnose' veranschaulicht: [...] je länger ich darüber nachdachte, je mehr wollte es mir scheinen, daß sie eigentlich recht habe. Ja, wenn ich damals mit beiden Händen zugegriffen hätte, es wäre für sie alles anders gekommen! (30,6-8) Die Perspektive verengt sich zunehmend auf sein Inneres. Seine innere Unruhe am nächsten, entscheidenden Tag spiegelt sich in dem abgehackten Stil seines Inneren Monologs wider: Hingehen darfst du nicht, sagte ich zu mir selbst, um keinen Preis - sonst bist du ein verlorner Mann! [...] Nein: Milada wird nicht nachgeben, wird alles anwenden deiner habhaft zu werden. Sie wird jede mögliche Gelegenheit benützen, um dich zu umgarnen. Sie wird dir auflauern - wird sich am Ende vielleicht gar ins Schloß einschleichen! Nein, das wäre entsetzlich! (30,24-30) Diesmal sind es nur seine Ängste, die Fridolin schildert, eine Erklärung, wie noch im IV. Kapitel, gibt er für seine Gefühle nicht. Ebenso wie in Kapitel V bedeutet die Verengung der Perspektive zugleich eine 'Dämonisierung': "[...] aber es zog mich immer wieder vorwärts" (30,37-38). Die Schilderung des "schweren Kampfes" entbehrt in seiner Übertreibung nicht der Ironie. Fridolins Position im Gespräch wirkt allerdings
425
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Vgl. dazu die Ausführungen zur Entstehungsgeschichte.
weniger überzeugend. Er gibt sich nun ganz "wehleidig" (31,15), muß H[s]eine ganze Kraft zusammen[raffen]" (31,20) und kann seine Antworten nur mit "Anstrengung" (31,26) und "kleinlaut" (31,31) hervorstoßen. Mit Blick auf den Zuhörer, dessen Neugier sich nun dem Höhepunkt nähern dürfte, kommentiert Fridolin sein Verhalten: [...] das hätt' ich nun rund weg abschlagen sollen (31,30), [...] ich hätte umkehren sollen (31,36-37). Die Lage ändert sich jedoch schlagartig, als nun Milada den Versuch unternimmt, ihn zu bewegen, seine Stellung bei der Herrschaft aufzugeben, um mit ihr woanders ein neues Leben zu beginnen. So ruhig und bedacht sie den Vorschlag gemacht hat, so unbeherrscht und zornig reagiert Fridolin. Er lehnt ihre Idee als "nach Weiberart gedacht" (32,15) rundweg ab und nimmt eine verteidigende Position ein. An die Stelle von Willenlosigkeit (32,5) und "Taumel" (32,5) treten Verärgerung, Aggression und unbeugsamer Wille, Milada nicht nachzugeben. Fridolins Sätze sind kurz und abgerissen, er schleudert seine Überzeugung Milada geradezu ins Gesicht (32,16f.). Auf diesen Teil des Gesprächs war Fridolin vorbereitet, und Milada kann auf dieser Ebene nichts auszurichten. Fridolin erkennt, daß sie nun einlenkt und zu ihrer ursprünglichen Strategie zurückkehrt. Sie blickt dem irritierten Fridolin "eigentümlich in die Augen" (33,4), er ist "wie betäubt" (33,6-7), denn dieser Blick hat "etwas Lähmendes" (33,6) für ihn. Seine Beherrschung geht verloren, sobald er ihr nicht mehr mit Argumenten entgegentreten kann und sie ihn mit einer ihm noch rätselhaften Seite seiner selbst konfrontiert. Miladas "Folg1 nur dir selber" (33,8) wirkt auf den Zuhörer fast schon ironisch mit Blick auf Fridolins Gefühlsverwirrung, während sie ihn damit scheinbar in seinem Wunsch bestätigt, Herr der Lage zu sein. Ihre folgenden Worte haben jedoch einen eher drohenden Klang: Du würdest sonst keine ruhige Stunde mehr haben [...]. Du kannst nicht mehr sein ohne mich! (33,14-15)426. Die Suggestivkraft ihrer Worte geht so weit, daß auch Fridolin als Erzähler nun keinen weiteren Kommentar mehr abgibt. Mit der gewohnten Übertreibung beschreibt er dann ihre Umarmung, und ihr Kuß, dessen Einzelheiten Fridolin in lebhafter Erinnerung geblieben sind, wird zu einem Angriff auf Leib und Seele:
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Für die Interpretation ist diese Fokusiemng auf die Innenperspektive des Protagonisten und die Gestaltung der beiden Dialoge ein Hinweis auf eine hinter der realistischen Darstellung verborgene Leseart.
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[...] sie [...] preßte ihre halbgeöffneten Lippen auf die meinen und küßte mich, als wollte sie mir die Seele aussaugen (33,16-17). Dadurch vermag er die Peinlichkeit des Geständnisses gegenüber seinem Zuhörer zu überspielen. Kapitel V und VI werden als einzige ohne Unterbrechung vorgetragen. Während seiner Erzählung verweilt Fridolin nur bei den Einzelheiten des Dialogs, wenn sich auch schon die Ungeduld des Protagonisten auf den Erzähler Fridolin überträgt. Die Organisation der Erzählzeit entspricht zugleich der Gestaltung der erzählten Zeit. Beide Kapitel gehören insofern zusammen, als sie einen halben Tag, vom Abend des einen bis zum Morgen des anderen umfassen. Das Kapitelende ist nur ein äußerlicher Einschnitt, entspricht aber dem Handlungsablauf durch den Zwischenaufenthalt des Dieners im Forsthaus. Von der Atmosphäre und der inneren Verfassung des Helden her bilden sie eine Einheit. Die Erinnerung an seine erste Leidenschaft scheint Fridolin jedoch so mitgenommen zu haben, daß er erst einmal eine kurze Pause zu Beginn des Kapitels VII einlegt (33,23). Mit einem nervös-hastigen Gestus beginnt das Kapitel VIII, denn nun muß Fridolin zum Ende kommen: Herr Fridolin hatte hier seine Erzählung abgebrochen und einen ängstlichen Blick nach der Uhr gethan. Die Zeit drängt, sagte er, und so will ich ohne weitere Auseinandersetzungen gleich daran anknüpfen [...] (38,4-5). Die erläuternden Zwischenkommentare Fridolins nehmen wieder zu, sei es daß er seine Reaktion auf das Erlebnis beschreibt oder daß er seine Gewissensqualen bei der Suche nach einem Fluchtplan veranschaulicht. Es beginnt für ihn das innere Ringen um einen Entschluß und die Angst vor Entdeckung, was Fridolin in direkter Redewiedergabe plastisch darstellt: Ein wahres Glück, daß mein Herr erst morgen zurückkam; heute wäre ich außerstande gewesen, meinen Obliegenheiten nachzukommen (33,30-31). Er schenkt seinem Zuhörer volles Vertrauen und klärt ihn über die zu erwartende Reaktion seines Herrn auf. Seine eigene Auswegslosigkeit gipfelt in dem entsetzten Ausruf bei dem Gedanken, Milada zu heiraten: Nein, nie und nimmer! (34,2)
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Der dramatischen Darstellung des Fluchtplanes - "plötzlich" durchzuckt ihn der rettende Gedanke (34,13) - fehlt es nicht an Komik. Auch bei der Wiedergabe seines wahrhaft kurzen Gesprächs mit der alten Hudetz scheint die Komik durch. Hier bestimmt die Erzählsituation - der Zeiger der Uhr nähert sich der Sechs - seine raffende Erzählweise: in Stichomytie werden Frage und Antwort wiedergegeben. Auch die dritte Begegnung mit Milada erhält ihre komischen Momente, und zwar durch die Hetze, in der sich Fridolin befindet. Verdachtsmomente über Miladas mögliche Untreue werden nur angedeutet. Dabei läßt Saar ihn - für Fridolin unbewußt - geschickt spannungssteigernd erzählen (36,7-9; 36,16-17), ohne zuviel zu verraten. Am Ende dieses Kapitels scheint Fridolin die Situation unter Kontrolle zu haben. Schon der geringe Anteil Miladas am Geschehen und am Dialog markiert die Gewichtsverlagerung wieder allein auf Fridolin und seine Perspektive hin. Wie es um sie beide wirklich bestellt ist, vermitteln jedoch äußere Kennzeichen, die in ihrem symbolischen Gehalt vom Leser erfaßt werden müssen. Das wird an späterer Stelle noch darzulegen sein. Das letzte Kapitel beginnt mit einem Verweis auf die noch verbleibende Zeit: die raffende Erzählweise kommt deutlich zum Ausdruck, es häufen sich die Zeichen der Ungeduld: "Der Tag schlich so dahin" (39,32), im Fieber wacht Fridolin dem Morgen der Verabredung entgegen (39,32-33), und die Unruhe steigert sich zu bangen Gedanken: Wie war das zu deuten? Sollte sie gar nicht die Absicht gehabt haben, zu kommen, und mich hier ohne weiteres sitzen lassen (39,33-35). Dieser Innere Monolog unterstreicht noch einmal das letzte Aufbäumen der Gefühle, obgleich die objektiv-unbeteiligte Beschreibung Wischaus und der ironische Unterton beim Wiedersehen mit der Schwester den 'Stimmungswechsel' ankündigen. Bei seinem Gespräch mit Katinka fällt Fridolins kurzangebundener Redestil auf, der das völlige Fehlen von Leidenschaft in dieser Beziehung widerspiegelt (22,25). Gänzlich unbeteiligt und ahnungslos erzählt Katinka, was man im Schloß über Miladas Heirat mit dem Müller erfahren hat. Aus ihrem Wissensdefizit ergibt sich die Komik der Situation. Mit moralischen Maßstäben, die sonst auch die Fridolins wären, beurteilt sie die Absichten sowohl des Müllers als auch Miladas. Da aber Fridolin innerlich noch an Milada hängt, muß er sich verstellen, um seine wahren Gefühle nicht zu verraten. Das Auseinanderfallen von Reden und Meinen, Schein und Sein bewirken hier die Komik dieser Situation. Ähnlich gestaltet sich die Komik im abschließenden Dialog mit der Gräfin-Mutter: Sie wird verursacht durch die Ahnungslosigkeit der Gräfin hinsichtlich der Eskapaden
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des "treuen Fridolin" und Fridolins Sprachlosigkeit angesichts ihrer überraschenden Heiratspläne. Inzwischen scheint die Erzählzeit den unruhigen Erzähler einzuholen, denn es bleiben Fridolin nur noch fünf Minuten (41,34), um seinen Mantel anzuziehen, das Lokal zu verlassen und um um Punkt sechs Uhr zu Hause zu sein. Die Einzelheiten über Miladas weiteres Fortkommen werden nur noch hastig nachgereicht und gehören eigentlich nicht mehr zu seiner Geschichte. Dann zwingt ihn die 'reale Zeit' zum Aufbruch: Die Wanduhr schlägt schon sechs, bevor Fridolin das Wirtshaus verlassen hat. Er stürzt hinaus (42,8) und überläßt seinen Zuhörer der Nachwirkung seiner Erzählung. Diesem ist bewußt geworden, daß für Fridolins Glück die Zeit eine entscheidende Rolle gespielt hat. Der Rahmen wird vom Erzähler geschlossen. Hinsichtlich der "Katalysator-Funktion des Erinnerns"427muß jedoch für Fridolin festgestellt werden, daß die starke Annäherung von erlebendem und erzählendem Ich eine klärende Distanzierung nicht möglich macht. Für ihn wird sein Erlebnis auch weiterhin ein "RäthseP (21,30) bleiben.
d. Fridolins Redestil Für die humoristische Wirkung der Erzählung ist der Redestil des Helden von entscheidender Bedeutung. Er entspricht der vom Erzähler gesteckten Erwartung von "harmloser Dreistigkeit" (11,23) und spiegelt Fridolins Eigenschaften Beschränktheit, Phantasielosigkeit und Eitelkeit wider428. Dabei spielt im Sinne der 'realistischen' Erzählweise auch der Umstand eine Rolle, daß Saar insbesondere in der Erstfassung die Umgangssprache verstärkt einsetzte429. So zeigt sich Fridolins "Dreistigkeit" u. a. in seinem groben Umgangston mit dem Schloßpersonal. Er kommentiert das Verhalten der weiblichen Bediensteten als "Gerede und Gezischel" (24,34) und zeigt sich empört darüber, wie sie Milada "begaffen, belauern, kritisieren" (24,24). Überhaupt verrät die Wortwahl Fridolins ein gespanntes Verhältnis zum weiblichen Geschlecht. Mit Ausnahme Ihrer Erlaucht, der Frau Gräfin-Mutter, begegnet er allen Frauen mit Geringschätzung. So spricht Fridolin nur von den "Weibern" (25,35), und über die Kammerfrau weiß er nur zu berichten, daß sie auf ihre "schon etwas schadhafte Schönheit" (24,29-30) stolz ist. Hier scheint der Misogyne durch, der mehr aus Pflicht denn aus Neigung die Ehe mit dem Fräulein Katinka Kvapil eingegangen ist.
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4? H
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Vgl. Stanzel, S. 273.
Vgl. Hodge, S. 206: "a mixture of pompous and rhetoric and comic slang". Vgl. dazu die Ausführungen zur Überarbeitung der Erstfassung.
. einer späteren Novelle sollte Saar diesen Typus aus dem Komischen ins Pathologische kehren: Die Heirat des Herrn Stüudl. In dieser Mordgeschichte finden sich z. T. wörtliche Anklänge an den Fridolin, wenn diese dort auch nicht mehr ironisch gebrochen werden. Charakteristisch ist Stäudls Selbsteinschätzung: Aber ich bin immer sehr stolz gewesen auf meine Mannheit und habe es unter meiner Würde gehalten, mich mit ihnen [Frauen] abzugeben (SW 11, S. 132). Aus diesen Worten hört man noch Fridolins Lebensregel heraus: [...] auch folgte ich dem Grundsatz, daß ich mich von Weibsleuten so fern wie möglich halten müsse (22,31). Diese Liste wäre noch zu verlängern430. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Saar bewußt diese Anklänge konstruiert hat, um mit der Kontrastierung der beiden Erzählungen den Wandel der Zeiten zu verdeutlichen. Die Heirat des Herrn Stäudl, 1904 erschienen, nähert sich als 'Krankenbericht' dem Typus der analytischen Erzählung wie sie d'Annunzio im Giovanni d'Episcope geschaffen hatte und mit der Bahr den Fridolin verglich. Der glückliche Fridolin ist jedoch eine Figur vergangener Zeiten, dessen 'leidenschaftliche Affäre' ohne existenzgefährdende Folgen bleibt. Fridolins Sprache erweist sich aber nicht nur als sehr direkt, sondern auch als sehr bildreich, was den volkstümlichen Charakter der Erzählung verstärkt: [...] als wäre mit ihm (dem Brief) ein Stein von meiner Brust gefallen (39,8), [...] daß diesem Rausch ein entsetzlicher Katzenjammer folgte (33,25). Die einzelnen Episoden aus seiner Beziehung zu Milada werden, je nach Grad der Erregung, mit entsprechender Plastizität wiedergegeben, wie etwa die zweimalige Eifersuchtsszene - einmal wegen des "polnischen Haarkräuslers", das andere Mal wegen des alten Müllers. Seinem Konkurrenten gegenüber hält Fridolin nicht mit seinem Urteil zurück, und noch nach Jahren verliert er zumindest sprachlich die Fassung: [...] einen sogenannten valet de chambre, der sich auf den Franzosen hinausspielte (25,4), [...] der Schwengel (25,8), [...] bis er endlich eine ausgeschnüffelt
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So spricht Stäudl von den 'ausgelassenen Schnattergänsen "(l 32), von den "Weibsbildem"(134). denen er mit *Verachtung*(132) und Stolz (136) begegnet. Die Formulierung "in den Wurf kommen"(139), die Saar in der Erstfassung des Fridolin verwendet, dann aber gestrichen hatte (J1 V 24,37), klingt im Stäudl wörtlich an.
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hatte (25,12), windige[r] Kerl (25,16), der verdammte polnische Haarkräusler (25,30). Höhepunkt der Erregung jedoch ist seine verzweifelte Reaktion auf sein erstes Liebeserlebnis. Dabei wirkt das Pathos seiner Sprachgebärde auf den Zuhörer so überzogen, daß die Situation ihren Ernst verliert und ins Komische abgleitet. Die anfängliche Emphase wird gleich durch seine Selbstbeherrschung wieder zurückgenommen; was bleibt, ist der theatralische Effekt: [...] daß mich eine wahnsinnige Eifersucht befiel. Es trieb mich, auf den windigen Kerl loszustürzen und ihn an der Kehle zu packen. Aber ich beherrschte mich (25,15-17). Offensichtlich scheint sich der Held gerne in der Rolle des Eifersüchtigen und Rächers zu sehen, denn er spielt sie nocheinmal in Kapitel VIII. Zumindest kleidet er seine Gemütsverfassung in starke Bilder: "steinunglücklich" (25,22), "fast das Herz abdrückte" (25,18), und als er die Nachricht über Miladas Verhaftung erfährt, schildert er mit plastischen Vergleichen seine innere Verfassung: [...] einen Schlag vor den Kopf und ein Messerstich ins Herz (26,11). Hinsichtlich dieser Wortwahl kann man die Rede des Protagonisten auch als eine Parodie auf den Sprachduktus einer bestimmten Gattung verstehen: Saar läßt in dieser Absicht Fridolin selber seine Reaktion auf Miladas Abschiedsbrief mit den in der Presse vorgegebenen Handlungsklischees eifersüchtiger Mörder (38,8-12) vergleichen. Da jedoch Fridolin sich letzten Endes nicht öffentlich bewähren muß, die ganze Affäre sich in nichts auflöst, fällt die ganze Spannung und Dramatik der Selbstdarstellung schließlich in sich zusammen. Nun ist gerade die Hyperbel eine Wortfigur, die häufig in volkstümlicher Sprache und Mundart ebenso wie in Schimpfworten und im Tiervergleich vorkommt. Damit ist sie Lieblingsfigur in der pathetischen und komischen Dichtung431. Denn der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen ist klein. Sobald sich die Hyperbel mit der Ironie verbindet, bringt sie komische Wirkungen hervor432. Dieses Verfahren wird in der Erzählung dadurch erreicht, daß Fridolin einerseits aus seiner Sicht mit ernstem Pathos in Hyperbeln seinen Seelenzustand schildert, während der Leser gleichzeitig die ironische Einstellung des Schriftsteller-Erzählers realisiert und übernimmt.
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Vgl. Break, S. 42. Ebenda, S. 42.
Neben dieser Wirkung der Stilfigur kann man jedoch noch einen zweiten Aspekt an Fridolins Stil ablesen. Nicht nur die Hyperbel und die ihr verwandte Litotes - so z. B. bei der Beschreibung der Familie der Schwester ironisch von Fridolin verwandt (39,22) -, sondern auch die Periphrase ist eine vom Diener häufig benutzte Wortfigur. So zieht er es vor, seinen Zustand vor dem Erlebnis auf dem Felsen zu umschreiben - "was beim weiblichen Geschlechte eine Jungfrau ist" (34,6) - oder bezeichnet die Angriffe seines jungen Herrn und anderer Kavaliere als "gewisse Handgreiflichkeiten" (19,39-40). Die Attacke auf sein Leben nennt er euphemistisch einen "Spaß" (19,40). All dies schildert er in preziöser Ausdrucksweise, die als 'Dienersprache' zu charakterisieren ist: "manchmal beliebt es ihnen sogar, einem, wenn man gerade im besten Schlafe liegt, den Strohsack unter dem Leibe anzuzünden." (20,3) oder "[...] dann merken sie, daß es einen verdrießt" (20,5). All diesen Wortfiguren ist gemeinsam, daß sie den eigentlichen Sachverhalt verschleiern, sei es, daß sie ihn über- oder untertreiben, ihm einen Wert zumessen, den er nicht besitzt. So kann die rhetorische Figur auch für das Verständnis von Welt stehen und das Selbstverständnis des Sprechenden charakterisieren. Preziosität und Emphase entsprechen der Eitelkeit Fridolins und seinem Bestreben, durch die gehobene Sprache seinen Kontakt zur adligen Herrschaft herauszustreichen. Die Hyperbel läßt eine gewisse Selbstüberschätzung und Selbstbezogenheit erkennen, die schon durch die subjektive Erzählerposition angedeutet ist. Der Euphemismus unterstreicht, ähnlich wie die Verwendung der Litotes, Fridolins vorsichtigen Umgang mit der Welt, deren Erscheinung er lieber beschönigt als objektiv beurteilt. Dabei leugnet er allerdings nie den wahren Sachverhalt, sei es nun seine gespannte Beziehung zu seiner Schwester oder die Schwierigkeiten mit der Herrschaft. Was Fridolins Direktheit betrifft, so erweist sich die Erstfassung der Erzählung an manchen Stellen als noch deutlicher. So gestaltet Fridolin die Beschreibung Miladas, als man ihre Schönheit entdeckt hat, wesentlich gröber: sie scheine eitel und hoffärtig und [...] als trage sie eine gewisse wegwerfende Art zur Schau, wenn ich ihr in den Wurf kam (V 24,37). Ähnlich auch seine Formulierung in einem Anflug von Eifersucht: Aber was konnte dabei herauskommen? Eine Balgerei und in Folge davon Scandal und Verdruss (V 25,16). Diese Redeweise reiht nun Fridolin in die Tradition der Dienergestalten ein: verbindet ihn eine gewisse Derbheit und Dreistigkeit mit der Grobheit eines Justus aus Lessings Minna, so teilt er mit den meisten literarischen Vorgängern das Bemühen, in gewähltem Ton ähnlich wie die jeweiligen Herren zu sprechen und dadurch sich sozial auszuzeich-
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nen. Denn Fridolin ist längst nicht mehr der des Lesens und Schreibens unkundige Tischlergeselle und Hausknecht. Mittlerweile ist er die Rangleiter der Dienerkarriere bis zur höchsten Stufe hinaufgestiegen. Daß er im Kreise der Bürgerhonoratioren verkehrt, macht seinen sozialen Status im Dorf als angesehenen Bürger deutlich. Trotzdem erkennt man an seiner Sprache seine eigentliche Herkunft. Was das übertriebene Pathos Fridolins betrifft, so erinnert es an den Stil so mancher Schiller-Parodien. Besonders jedoch die Figuren des Wiener Volkstheaters sprechen in dieser Weise. Bauernfeld hatte sie in seiner Studie über Alt-und Neu-Wien beschrieben. Das Heer von Bediensteten, das das Wiener Volkstheater und insbesondere die Nestroyschen Stücke bevölkert, kann als Vorbild Fridolins gelten. Was Karl Kraus über die Nestroyschen Gestalten schreibt, kann z. T. auch für unseren Herrschaftsdiener geltend gemacht werden: Nestroys Leute reden geschwollen, wenn der Witz das Klischee zersetzen oder das demagogische Pathos widerrufen will. Jeden Domestiken läßt er Schillersatze sprechen, um das Gefühlsleben der Principalen zu ernüchtern433. Auch Fridolin endet seine Geschichte mit dem bedeutungsvollen Satz: "Bis hierher und nicht weiter" (42,35) aus Schillers Räubern434, was er gewissermaßen seinem Namenspatron schuldig ist. Ähnlich wie seine Kollegen bei Nestroy nimmt Fridolin kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Schwierigkeiten im Bedienstetenverhältnis geht: gute Miene zum bösen Spiel machen, da man für seine Ausdauer später belohnt wird435. Das Zusammenspiel von Devotion und Impertinenz aber macht den Erzähler Fridolin zur komischen Figur. Das Bestreben, die Karriereleiter aufzusteigen und sich damit seine Zukunft zu sichern, spiegelt sich in der teilweise prahlerischen Selbstdarstellung wider. Auf emotionaler Ebene hingegen ist er bemüht, Gefühlserregungen auch 433
Vgl. Kraus, S. 234. Auch Mauthner charakterisiert das Einsetzen der Theaterpathetik und Theatersentimentalität als wesentlich für die Nestroyschen Figuren, vgl. Mauthner, S. XXI. Ernüchtert wird jedoch nicht sein Herr, sondern der Erzähler, der Fridolins Pathos schon bald durchschaut. Er vermittelt diese Erkenntnis über den ironischen Erzählton an den Leser weiter. 434 Vgl. Die Räuber, H.Akt, I.Szene, Franz Moor: "[...] daß man nunmehr des Herzens Schläge jahrelang vorausrechnet und zu dem Pulse spricht, bis hieher und nicht weiter!". 435 Vgl.erwa den Diener Johann in Nestroys Zu Ebener Erde und Erster Stock oder die Launen des Glückes, S. 78. Ähnlich kompliziert wie der Nestroysche Tirus aus dem Talisman gestaltet Fridolin auch seine Redewendungen. Ersterer formuliert in bezug auf das Vorurteil, rote Haare seien etwas Schlechtes: "Das Vorurteil ist eine Mauer, von der sich noch alle Köpf, die gegen sie ang'rennt sind, mit blutige Köpf zurückgezogen haben!" (I, 5, S. 250.). Fridolin formuliert in ähnlicher Weise: "[...] wohin ich die Gedanken wendete, überall eine Mauer, an welcher ich mir, wenn ich wollte, den Schädel blutig stoßen konnte" (44,21-23).
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sprachlich unter Kontrolle zu bekommen, um seinem Ansehen nicht zu schaden. Die daraus folgende Diskrepanz von Sein und Schein fördert die Komik der Figur. Zugleich macht dies deutlich, daß Fridolin im Grunde ein Philister ist, dessen Pathos vergeblich Anspruch auf Wahrhaftigkeit erhebt.
3. DIE STRUKTUR
Die Grobstruktur der Novelle läßt eine Dreiteilung erkennen436: erstens die 'Vorgeschichte' in Kapitel I und II, worin der Held mit seiner Umwelt und in seinen privaten Verhältnissen vorgestellt wird, zweitens die Eröffnung des Rahmens in Kapitel III - es dient der Erstellung des Erzählanlasses und leitet mit Fridolin als Erzähler zu den anschließenden Kapiteln über - und drittens die Binnenerzählung Fridolins von Kapitel IV bis Villa. Durch den Wechsel des Erzähltempus zum Präteritum, das nur ab und zu noch durch die Erzählereinwürfe unterbrochen wird, wird der Sprung in eine vergangene Zeit deutlich. Die letzten Zeilen der Erzählung, durch ein Sternchen als einzige von Saar selbst markiert und im weiteren als Kapitel VIHb bezeichnet, schließen den Rahmen. Diese drei Erzählblöcke sind in sich strukturiert, und auch die manigfaltigen Verknüpfungen von Rahmen, Binnengeschichte und 'Vorgeschichte'437 stellen die Erzählkunst Saars unter Beweis. Die Gliederung ist dabei nicht allein von stofflichen Kriterien geleitet, vielmehr orientiert sie sich an dem Verhältnis von Auftreten der Personen, Wechsel des Ortes und zeitlicher Strukturierung438. Die ersten beiden Kapitel sind als kleine Erzähleinheiten konstruiert, die jeweils, wie die Binnenerzählung durch einen 'Rahmen', nämlich ein Zitat umschlossen werden. Das Schema Motto-Exempel-Motto verweist auf die schon angedeutete Tradition der moralischen Erzählung. Auffallend ist der spiegelbildliche Bau der beiden ersten Kapitel, die auf inhaltlicher Ebene bis in einzelne Sätze hinein parallel angelegt sind439. Durch diese klare Struktur, wie sie der philosophischen Erörterung des '
Vgl insbsondere Gierlich, S. 101, der die Bedeutung der "Composition" für Saars künstlerisches Schaffen nachgewiesen hat. 437 Vgl. Kayser, S. 199, vgl. Polheim: Erzählkunst, S. 22: hier zeigt sich Saars Erzählkunst in der "höchst kunstvollen, ja raffinierten poetischen Rahmentechnik mit verschiedenen, ineinander verschachtelten Erzählsträngen". 438 Vgl. zu diesem Verfahren Polheim: Mörike, S. 50. 439 Vgl. dazu das im Kapitel über den Erzähler angeführte Beispiel des Kapitelschlusses.
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Problems Glücks angemessen erscheint, besitzen diese beiden Kapitel eine große innere Geschlossenheit, wodurch sie den Eindruck des Genrebilds erwecken können. Allerdings darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, daß auch sie in vielfacher Wejse mit der übrigen Erzählung verbunden sind. Kapitel I nennt, den Titel weiterführend und verbreiternd440, das Motto der Erzählung nach einem Zitat aus Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (11,4-S)441 und endet mit dem Resümee des Schriftstellers: "da mochte er, [...] auch das Vollgefühl haben, ein Glücklicher zu sein" (14,31-34). Der umfangreiche Mittelteil - das Exempel vom glücklichen Mann - dient nun der Schilderung des Lebensbildes und ist seinerseits wieder in drei Unterabschnitte gegliedert: 1. der Beginn der Laufbahn als Hausdiener (11,8-12,9), 2. der Höhepunkt der Karriere mit der Eheschließung (12,10-13,28) und 3. das Ziel der Laufbahn, das häusliche Stilleben als Schloßverwalter (13,29-14,29). Wie sehr es Saar darauf ankam, diese einzelnen Phasen zu markieren, zeigen die parallelen Motive: die ersten beiden Unterabschnitte enden jeweils mit Fridolins Auftritt als Kammerdiener beim Diner (11,38/13,25-27), der letzte mit dem sonntäglichen Kaffee (14,30). Die einzelnen Phasen sind durch die zeitliche Strukturierung kenntlich gemacht: statt genauer Daten wird der Lebenslauf Fridolins geprägt von den jeweiligen Stufen seiner Dienerkarriere, die ihreseits in engem Bezug zu den Ereignissen in der gräflichen Familie steht. So beginnt er als "barfüßiger" Tischlerjunge (11,11), "einige Jahre später" (12,10) erreicht er die "Höhenlinie seines Daseins" durch die Ehe mit Katinka und kann sich, wenn die Jagdgesellschaften wieder fort sind, "alsbald" (13,30) seiner Häuslichkeit widmen. Anfang und Ende des "Exempels" korrespondieren dabei im rückblickenden Bild des "barfüßigen" Fridolin (11,11 und 14.33)442.
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Vgl. Polheim: Mörike, S. SO. Im novellistischen Werk Saars überwiegen Personennamen als Titel. Daneben zählen zu den programmatischen Titeln: Vae Viais, Sündenfall, Die Heirat des Herrn Stäudl, Dissonanzen, Hymnen, Requiem der Liebe. Im Falle der ersten beiden Titel dürfte durch die Wahl der Sentenz bzw. der Nennung des Mythos eine Spannungssteigerung erreicht werden. Beim Fridolin hingegen ist das Ende vorgegeben, und der Leser wird mehr auf das "wie" seine Aufmerksamkeit richten. 441 Vgl. Schopenhauer: WWV II., Kap. 46, S. 670. Im Kapitel zu Philosophie wird auf diese Umwandlung des Zitats noch einzugehen sein. Man kann für Fridolins Leben eine "Phaseneinteilung" vornehmen, die sich an der Karriere des Dieners orientiert. Die relativen Zeitangaben gliedern Fridolins Leben in fünf Stufen, von denen drei in der Binnengeschichte mehr oder minder gerafft zur Darstellung gelangen: 1. die Phase als "Tischlergeselle", 2. als Hausknecht, 3. als Diener seines jungen Herrn, 4. als Zimmerwärter und 5. als "Schloßverwalter". Die erste Phase spielt nur insofern eine Rolle, als sie den enormen Aufstieg des Dieners kennzeichnet. Die letzte Phase wird in Kapitel I nur angedeutet (14,26), in Kapitel III jedoch als nahe Zukunft von Fridolin hingestellt. Er erwartet mit der Geburt des Stammhalters seine letzte berufliche "Erhöhung", die ihn zum "Alleinherrscher" über das Schloß machen wird (14,17-20). Hier wird deutlich, daß diese Einteilung von Fridolins Werdegang engstens mit der Entwicklung in der gräflichen Familie verbunden ist: mit seiner dritten Stufe, dem Amt als persönlicher Diener des jungen Grafen, ist sein
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Wie Kapitel I beginnt auch das II. mit einem Zitat aus dem Werk Schopenhauers, diesmal aus den Aphorismen zur Lebensweisheit: "nemo ab omni parte beatus" (15,5). Dabei ändert Saar das ursprünglich auf Horaz zurückgehende Zitat - worauf der Erzähler hinweist (15,4) - um, indem er das lateinische "nihil" durch das personenbezogene "nemo" ersetzt443. Mit dem gleichen Ausspruch (17,14-15) endet zugleich das Kapitel, wodurch sein symmetrischer Aufbau deutlich wird. Zudem sind beide Kapitel in ihrer argumentativen Struktur spiegelbildlich gebaut: die anfangs aufgestellte These wird im Verlauf des Kapitels mit Episoden aus dem Leben des Helden untermauert (15,7-17,10) und am Ende wiederholt. Wird der 'Rahmen' durch das Zitat markiert, so lassen sich im Mittelteil wiederum drei Unterabschnitte feststellen, die durch den Wechsel der Zeitangabe gekennzeichnet sind: 1. ein allgemeiner Teil (15,7-16,1) über die Vorliebe Fridolins für Pilsener Bier, 2. der Samstagabend (16,22) bei Herrn Sykora und 3. der Donnerstagabend mit seinen fatalen Folgen (16,19). Ähnlich wie in Kapitel I enden die Unterabschnitte 2 und 3 mit einem antithetischen Bild: dem "Bettgeflüster" (19,1-6) folgt das "Donnerwetter" (16,35f.). So wie die Zeit strukturierende Funktion besitzt, weist auch der Wechsel des Raums die verschiedenen Kapitel bzw. Abschnitte aus. Kapitel I erhält seine Geschlossenheit durch den Raum des Schlosses, Kapitel II durch den des Wirtshauses. So stehen sich Kapitel I und II wie These und Antithese gegenüber: zunächst der merkwürdige Fall eines glücklichen Menschen, wie ihn die Philosophie Schopenhauers für kaum denkbar hält, dann in Kapitel II das scheinbare Zugeständnis an diesen Skeptizismus in der Schilderung der Schattenseite in Fridolins Dasein. Beides zusammen formt ein abgerundetes Bild von dem merkwürdigen Fall des Glücklichen. Antithetisch steht der Ruhe der Darstellung auch die Bewegung des zweiten Kapitels, insbesondere des Endes gegenüber. Durch diese komische Szene des Donnerstagabends kann die Aufmerksamkeit des Lesers wachgehalten werden, da es in der 'Vorgeschichte' an spannender Handlung fehlt. Einerseits knüpft dieses Kapitel II an die Beschreibung des behaglichen Ehelebens in Kapitel I an, andererseits wird hierin das 'Biermotiv' entfaltet, das in der Binnenge-
Leben ganz konkret durch die Herrschaft bestimmt. Die ersten beiden Stufen können quasi als Vorbereitung für diese Aufgabe verstanden werden. Fridolins Schilderungen in Kapitel III machen deutlich, wie sehr der Dienst beim jungen Herrn sein Leben beeinflußt hat. Von diesen fünf Phasen sind nun in den folgenden Kapiteln einzelne unterschiedlich stark in den Vordergrund gerückt. Kapitel II behandelt die Ehe des Protagonisten, also die 'Phase des Zimmerwärters". In Kapitel III erzählt Fridolin aus der Zeit als Hausknecht und Diener des jungen Herrn, wobei letzterer Phase seine besondere Aufmerksamkeit gilt, da sie sein Glück bestimmte (20,12). Hintergrund der Rahmensituation bildet seine in Aussicht stehende Beförderung. Seine Zukunft wird also auch weiterhin von der Entwicklung im herrschaftlichen Hause abhängig sein. Fridolins Ehrgeiz ist auf diese letzte Stufe seiner Karriereleiter gerichtet. In dieser Strebsamkeit bleibt er dem Gesetz der Zeit unterlegen. 443 Vgl. Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit, in: P. u. P., I, S. 469: "nihil ab omni parte beatus est". Zu dieser Veränderung vgl. das Kapitel Voraussetzung zur Philosophie.
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schichte und im Rahmen als 'Leitmotiv' wiederkehrt444. Hinter dieser inneren Geschlossenheit steht eine enge Verknüpfung mit den beiden anderen Teilen der Erzählung, die sich an einzelnen Motiven aufzeigen läßt. So werden in Kapitel I die beiden Reisen Fridolins angesprochen, die in Kapitel IV und V aufgegriffen werden, ebenso kehrt das Thema des Heizens und Reinigens in Kapitel III wieder. Damit werden Spiegelungen und Verzahnungen der Kapitel untereinander erreicht, die auch mit Blick auf den Spannungsbogen der Erzählung von Bedeutung sind.
Mit der Gestaltung der Erzähl situation grenzt sich nun das III. Kapitel von den ersten beiden Kapiteln ab. Diese ist ausgewiesen durch das Auftreten des 'Erzählers' (17,2015/22,1-5). Zugleich greift das Gespräch zwischen Fridolin und dem Schriftsteller auf der thematischen Ebene Aspekte auf, die in der 'Vorgeschichte' vom Erzähler geschildert wurden445. Der eingeschaltete Erzählblock, die Begegnung mit Fridolin, umfaßt seinerseits drei Unterabschnitte: 1. die Bierbestellung (17,21-19,7), 2. die Proben von seiner Vortrefflichkeit (19,8-21,13) und 3. das "Räthsel der Leidenschaft" (21,13-21,40). An diesen Unterabschnitten ist die 'Brückenfunktion' des Kapitels III zu erkennen: der erste knüpft an das 'Bierkapitel' II an, der zweite bringt die Spiegelung der in Kapitel I geschilderten Dienerlaufbahn, und der dritte leitet über zu dem eigentlichen Thema der Binnenerzählung, der Leidenschaft. Allerdings gibt die Gewichtung der einzelnen Teile schon einen ersten Hinweis auf das Verhältnis der verschiedenen Themen untereinander: während das Thema der Leidenschaft etwa ein Sechstel der insgesamt 170 Zeilen ausmacht, umfaßt die Bierbestellung ein Drittel des Erzählblockes, und die Hälfte wird auf die Darstellung der Dienertreue verwandt. Der Abschnitt über die Vortrefflichkeit des Dieners ist seinerseits noch in drei Unterabschnitte eingeteilt: Bewährung als Hausdiener (19,8-19,30), als Diener des jungen Herrn (19,31-20,20) und der Sturz in den Teich (20,21-21,13), wobei letzterer doppelt so lang ist wie die beiden etwa gleichlangen Unterabschnitte. Hier geben die Maßverhältnisse eine Gewichtung des Themas 'Dienen' vor. Diese Hervorhebung muß mit Blick auf Fridolins späteres Glück bei der Deutung ebenso berücksichtigt werden wie die besondere Betonung der 'Teichepisode'. Wiederum geben die Zeit und der Tempuswechsel die Schnittstellen der Abschnitte an. Die Begegnung erfolgt "an einem jener Donnerstage" (17,26), nach der ersten Bierbestellung (19,32) werden die ersten beiden 'Proben' im Präsens geschildert, während Fridolin die letzte im Präteritum erzählt (20,22). Die Andeutung auf seine 444
In Kapitel II wird allein das "Pilsener Bier" sechsmal (15,11; 15,13-14; 15,32; 15,33; 15,34; 17,28), in Kapitel III zweimal (18,33; 18,36), in Kapitel IV einmal (25,14), in Kapitel V dreimal (27,8), in VI einmal (30,13) und zuletzt ebenfalls einmal im Abschnitt Villa (39,32) erwähnt. 445 Vgl. Kapitel Erzählperspektive.
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große Leidenschaft leitet Fridolin ebenfalls im Präteritum ein: "[...] daß ich einmal auf dem Punkte stand" (21,14). Durch diese Tempuswahl sind diese beiden'Abschnitte miteinander verbunden und bilden so die Überleitung zur Binnengeschichte, die im Präteritum gehalten ist. Der Schriftsteller zieht nach diesem ersten Gespräch den erwarteten Schluß :"Ich gratuliere! Dann haben Sie ja auch den Gipfel Ihrer Wünsche erreicht. Sie sind in der Tat ein glücklicher Mann" (21,19). Die These des ersten Kapitels wäre damit bestätigt. Erst der letzte Abschnitt des Gesprächs bringt eine unerwartete Relativierung durch das Thema der Leidenschaft als mögliche Glücksgefährdung und knüpft so an das 'Bierkapitel', das die Glücksbeschränkung beschreibt, an. Nicht zuletzt wird die 'Brückenfunktion' dieses Kapitels an der Raumgestaltung deutlich: die Rahmensituation ist vom Wirtshaus des Herrn Sykora bestimmt, verbindet sich also mit dem 'Bierkapitel' und verzahnt so auch 'Vorgeschichte' und Binnenerzählung. Die monologischen Passagen Fridolins hingegen schildern zum einen das Schloß, zum anderen den Teich als Ort eines zentralen Ereignisses. Durch letzteren werden Kapitel I und V, VI und VII mit dem 'Rahmenkapitel' miteinander in Beziehung gesetzt. Vorerst läßt sich festhalten, daß offensichtlich die Dreizahl als Strukturprinzip vom Autor verwandt wird, um die einzelnen Kapitel untereinander zu verbinden, was zugleich der vorgenommenen Grobeinteilung der Erzählung in 'Vorgeschichte', Rahmen und Binnenerzählung entspricht. Während die ersten drei Kapitel der 'Einführung' des Helden dienen und diese durch die verschiedenen Abschnitte übersichtlich gegliedert wird, beginnt mit dem Kapitel IV eine Akzentverschiebung vom beschreibend-erzählenden Teil zur 'wiedererlebten Geschichte'. Die Handlung, d. h. die Entwicklung der Leidenschaft, tritt in den Vordergrund. Fridolin hat sich entschlossen, diese seinem interessierten (21,33) Zuhörer vorzuführen. Als Erzähler aber wird er seine Geschichte ebenfalls gliedern müssen. Er setzt Akzente durch die Gewichtung einzelner Episoden und baut zugleich Spannung auf. Der Spannungsbogen läßt sich an dieser Strukturierung des Geschehens ablesen. Auch im weiteren Verlauf ist die Erzählung vom Dreierprinzip geprägt. So zeichnet sich in Kapitel IV ein Dreischritt in der Handlungsführung ab: eine erste Phase der Annäherung, sinnfällig im Tuch-Geschenk (22,11-23,9), eine zweite der Verunsicherung und Distanzierung (23,9-25,24), die bestimmt ist durch das zentrale Urteil über Milada (23,19-24,39) und die aufkommende Eifersucht Fridolins (24,40-25-17) und eine dritte Phase, die die vorläufig endgültige Trennung durch das Gerichtsurteil bringt (25,25-27). Die jeweiligen Einschnitte sind dabei durch den Wechsel von Raum und Zeit markiert: die erste Phase findet zu der Zeit statt, als Fridolin "als Hausknecht diente" (22,10), im "nächsten Sommer" (23,12), wenn Fridolin "im Dienst [s]eines jungen Herrn" (23,16) steht, distanziert er sich von Milada, und erst "gegen Ende Mai" (25,25) des
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nächsten Jahres rückt er endgültig von ihr ab. Die Beziehung zieht sich so über drei Jahre hin. Die Trennungen sind jeweils mit einem Ortswechsel verbunden: zunächst verläßt Milada im Winter das Schloß, um ihrem Vater die Wirtschaft zu führen (23,9), dann begibt sich Fridolin milder Herrschaft nach Wien (23,10-11). Das nächste Mal ersetzt Milada ihre Schwester im Haushalt des Vaters (25,20), und Fridolin reist mit seinem Herrn im Winter nach Italien (25,23). Die vorläufig endgültige Trennung erfolgt dann mit der Verhaftung Miladas, die für sie einen erneuten Ortswechsel - ins Zuchthaus bedeutet (26,9-10). Fridolin seinerseits geht wieder auf Reisen, diesmal bis nach Amerika. Dies wird aber als zeitliche Markierung erst in Kapitel V angegeben. Die Annäherung an Milada verläuft dabei nach einem Schema, das in der späteren Beziehung mit dem alten Müller variiert wird: Fridolin schenkt Milada das Tuch im "schmalen Hinterhof, wo sie eben einige Stücke feine Putzwäsche an die Trockenleine hängte" (23,7). Ein Jahr später trifft er an derselben Stelle (25,15) den Valet, der auf Milada einredet. Im Falle des Müllers ist es statt der Trockenleine der Zaun, der die Umworbene von dem Werbenden trennt (37,18). Die Trockenleine stellt gleichsam eine Grenze dar, die von den Beteiligten überschritten wird. Im Falle Fridolins deutet die "feine Putzwäsche" (23,7) auf das erotische Abenteuer hin, ebenso wie die vom Müller über den Zaun geworfene Rose in der korrespondierenden Szene. Hieran ist zu sehen, daß der Raum nicht nur der Strukturierung, Verzahnung und Umklammerung einzelner Abschnitte und ganzer Kapitel dient, sondern zugleich eine deiktische Funktion besitzt. Mit seinen drei Etappen bildet das Kapitel IV zugleich die 'Vorgeschichte' zur eigentlichen Schilderung der Leidenschaft der folgenden Kapitel. Das Prinzip von Annäherung - Distanzierung - Trennung wird sich innerhalb der Kapitel aber auch für die ganze Binnengeschichte nachweisen lassen. Zugleich stellt es ein Mittel der Spannungssteigerung dar. Nachdem die Neugierde des Zuhörers am Ende von Kapitel III geweckt ist, folgt eine langsame Hinführung an die Person Miladas. Das Geschenk kennzeichnet eine erste Spannungssteigerung, die aber durch die Vorsicht des Helden wieder zurückgenommen wird. Der Mittelteil übernimmt die Funktion der Retardation; Hemmungen werden in den geradlinigen Ablauf der Handlung eingebaut. Die Distanzierung Fridolins macht zudem den Platz frei für mögliche Gegenspieler, den Kunstprofessor und den Valet. Damit wird als 'erregendes Moment' die Eifersucht geweckt, die aber keine Auseinandersetzung zwischen den Kontrahenten bringt. Der Spannungsbogen fällt wieder ab, bis er kurz vor Ende durch die 'Eröffnung' des Gerichtsurteils wieder neu ansetzt. Der Tiefpunkt dieser 'Geschichte einer Leidenschaft' ist zu Beginn des Kapitels V mit der räumlichen und zeitlichen Entfernung (26,28) erreicht. Die 'Bierpause' Fridolins in der Rah men situation macht dieses Abfallen des Spannungsbogen deutlich (26,14-23). Nach erneuter Stärkung setzt Fridolin ein zweitesmal an und führt die Handlung zielstrebig zum Höhepunkt. Dieser Erzählerein-
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schub - ebenso wie die teilweise eingestreuten Erzählerkommentare innerhalb des Kapitels - verknüpft das Kapitel IV mit dem Rahmen. Durch den Ort der Handlung, das Schloß, ist die räumliche Verzahnung mit der 'Vorgeschichte' gewährleistet. Dem Kapitel kommt jedoch eine vorausweisende Funktion zu, indem seine Handlungsstruktur in den folgenden gespiegelt wird. Kapitel V und VI sind symmetrisch aufgebaut und geben in räumlicher wie in zeitlicher Hinsicht ihre Einheit zu erkennen, korrespndieren aber zugleich in ihrem Aufbau mit Kapitel VII. Wieder liegt jeweils ein Dreierrhythmus vor: Heimkehr bzw. Einkehr (26,28-40/30,1-22) - Unterwegs (27,1-16/30,23-38) - Begegnung (27,1729,33/30,39-33,18). Von einem Ruhepunkt aus führt die Schilderung des Wegs zum entscheidenden Zusammentreffen der Protagonisten. Der Spannungsbogen wird so über die beiden Kapitel zum Höhepunkt in Kapitel VI geführt. Die Flucht Fridolins am Ende des Kapitels V bringt eine erneute Verzögerung und Hemmung, aber durch die Vorausdeutungen zu Beginn von Kapitel VI - die Mondlichtatmosphäre und den Traum - wird die Spannung erneut aufgebaut. Der Traum schlägt zugleich den Bogen zum Beginn der Leidenschaft in Kapitel IV. Hier hatte Fridolin in Italien vor dem erhofften Wiedersehen mit Milada einen bösen Traum (25,24-25). Fünf Jahre sind vergangen, als Fridolin wieder auf Milada - wiederum zu sommerlicher Jahreszeit - trifft. Der Schwerpunkt der Begegnung liegt auf dem Gespräch und seiner Dialogführung. Diese ist, ebenfalls symmetrisch, von Annäherung, Distanzierung und Trennung geprägt. Sechsmal wechseln Annäherung Miladas und Abwehr Fridolins, bis in Kapitel V der Held die Flucht ergreift (29,33) bzw. in Umkehrung der Situation am Ende des Kapitels VI kapituliert (33,18). Die Verteilung der Redeanteile auf die beiden Protagonisten hat dabei vorausdeutende Funktion: in Kapitel V kommen auf Fridolin 15 Zeilen, auf Milada etwa 80, in Kapitel VI 30 Zeilen auf Fridolin und wiederum 80 auf Milada. Der zusätzliche Redeteil Fridolins besteht aus der Verteidigungsrede seiner Dienerpflicht (32,15-36), womit in der Struktur ein weiteres Mal die Bedeutung dieses Aspekts in Fridolins Leben herausgehoben wird. Wiederum lassen sich über die Gestaltung von Ort und Zeit die Einschnitte erklären. Anders als in den vorausgehenden Fällen, ist die Verbindung zum Ort des Schlosses nur locker gehalten. Vielmehr unterstreicht der gemeinsame Ort, der "Feenteich", (27, 1/30,35), die Besonderheit dieser beiden Kapitel. Allerdings ist eine Verknüpfung zu Kapitel I durch die Erwähnung der Reise über den "Großen Teich" und zu Kapitel III durch den Sturz in den Parkteich gegeben. Bei der Interpretation der symbolischen Ebene der Erzählung wird dieser Beobachtung besondere Aufmerksamkeit gelten. In Kapitel VI folgt Fridolin Milada vom Teich aus hinauf zu einer abgelegenen Felsengruppe (31,35-40). Diese Stelle ist aber zugleich auch die Mitte der Binnengeschichte - Zeile 378, numerisch liegt sie etwa bei 380. Der Höhepunkt der Handlung wird durch die Raumgestaltung offensichtlich: der entscheidende Schritt vollzieht sich
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auf einem Gipfel, und der mühsame Weg hinauf faßt diesen langen Weg der Annäherung ins Bild446. Werden die einzelnen Abschnitte durch Zeitbestimmungen bzw. Ortswechsel markiert - nach der "großen Reise" (2x 26,32); "so vergingen zwei Jahre" (27,1), "das Thiergarten-Revier" (27,5); "gegen Abend" (27,17), "der Feenteich" (27,11); "kaum fünfzig Schritte" (30,3), "das Forsthaus" (30,9); "am Morgen" (30,23), "dem Orte" (30,35); "um die achte Stunde" (30,33-34) "zu einer kleinen Felsengruppe" (31,9) -, so sind sie durch Raum und Zeit auch untereinander verknüpft. Am offensichtlichsten ist diese Verzahnung durch die zeitliche Gestaltung. Denn die beiden Kapitel umfassen den Ablauf eines halben Tages: "gegen abend" trifft Fridolin erstmals wieder auf Milada, und um die achte Stunde des nächsten Tages kommt es zur entscheidenden Begegnung. Die zeitliche Konzentration entspricht so der räumlichen auf dem Felsen, wodurch die Gewichtung dieses zentralen Teils noch zusätzlich unterstrichen wird447. Mit Miladas Ankündigung, sie werde in Lettowitz auf Fridolin warten, ist zudem schon die Wende in der Handlung angedeutet: Die Helden trennen sich vorerst, und Fridolins Aufgabe wird es sein, einen Weg für ein gemeinsames Leben zu finden. Nach diesem letzten Treffen entsteht eine Pause: im Gegensatz zu den Kapitel V und VI beginnt nun das Kapitel VII wieder mit einem Erzählerkommentar. Damit ist seine Verzahnung mit Kapitel IV und dem Rahmen hergestellt. Allerdings weist die Kürze dieses Kommentars (l Zeile) darauf hin, daß das Kapitel VII noch mit den beiden vorausgehenden verknüpft ist. Es zeigt die gleiche Dreierstruktur auf: Rückkehr (33,23-35,5) - Unterwegs (35,636,6) - Treffen (36,7-37,39). Schon der Fixpunkt der Handlung, die Rückkehr ins Schloß, deutet auf eine Veränderung. Eine Akzentverlagerung wird durch die unterschiedliche Gewichtung der Abschnitte erreicht: verglichen mit dem entsprechenden Abschnitt "Heimkehr" in Kapitel V gestaltet sich die Rückkehr in Kapitel VII viermal so lang (52 Zeilen), der "Weg nach Lettowitz" ist etwa dreimal länger, während das Treffen um ein Viertel kürzer ist als in den Kapiteln V und VI (72 Zeilen zu 96 bzw. 115). Einerseits ist zeitlich und räumlich eine Verbindung zum Kapitel VI gegeben: "nach ungefähr einer Stunde" (33,24-25) verläßt Fridolin Milada und kommt zum letztenmal am "Feenteich" (33,26) vorbei. Andererseits ist der zweite Un-
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Die Doppelung des Ortes gehört zu den Strukturprinzipien: so findet sich etwa der Ort der Verführung gedoppelt wieder. Der Felsen wird zwar nur einmal aufgesucht, erscheint aber in verminderter Form im "Mühlhang", an dem sich die Kalupe Miladas befindet, wieder. Diese Wahl des Ortes entspricht dabei offensichtlich der geringer werdenden Leidenschaft und spiegelt sich im fallenden Spannungsbogen wider. 447 Die zeitraffende Erzählweise des Kapitels IV wird durch eine zeitdehnende in den Kapiteln V und VI ersetzt. Die starke Dialogisierung dieser beiden Kapitel macht eine Deckung von erzählter Zeit und Erzählzeit möglich.
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terabschnitt - die Entwicklung des Fluchtplans - durch zeitliche Trennung markiert: "in einer schlaflosen Nacht" (34,12) findet Fridolin im Schloß die Lösung (34,12-35,5), deren Umsetzung er "am nächsten Tag" (35,6) in Angriff nimmt (35,6-35,18). Auf gleiche Weise vollzieht sich im Abschnitt "Rückkehr" die Planung der Flucht in drei Etappen: verwirrte Ankunft - glückliche Idee - Umsetzung des Plans. Auch der nächste Abschnitt "Unterwegs" folgt dieser Dreierstruktur: Aufbruch nach Lettowitz (35,19-27), der zeitlich ganz exakt formuliert wird (35,22-23) und Ankunft an der Kalupe (35,27-36,6). Danach verstreichen fünfundzwanzig Minuten (36,4-6), bis das Treffen "endlich" (36,7) zustandekommt. Räumlich findet ein Wechsel vom "Feenteich" zum Schloß - Fridolins Zimmer, der gräfliche Ankleideraum - über die Bahnfahrt nach Lettowitz zur Kalupe und darin zum Zimmer Miladas statt. Zu der zeitlichen Verengung kommt also auch eine räumliche Konzentrierung. Wiederum dient die Raumgestaltung der Kontrastierung: Miladas Kalupe steht dem ehelichen Schlafgemach in Kapitel II ebenso gegenüber wie der Mühlgarten mit seinen Rosen (37,9) dem "rosendurchdufteten Vorgärtchen" (14,33/13,33) der Kohouts entspricht. Das Gespräch der Protagonisten gestaltet sich erneut nach dem Prinzip AnnäherungAbwehr in 6 Zweiereinheiten - allerdings diesmal mit einem Übergewicht Fridolins an den Redeanteilen (30 gegenüber 20 Zeilen). Die Umkehrung, die sich in der Gewichtung der Abschnitte andeutete, läßt sich an der Dialogführung ablesen: diesmal ist Milada passiv, während Fridolin ihre gemeinsame Zukunft in die Hand nimmt. Zur Strukturierung der Abschnitte durch den Raum kommt nun noch eine weitere durch das Auftreten neuer Figuren: so sollen Fridolins Schwester und der Auswanderungsagent Swinemann und die alte Hudetz, wie in Kapitel VI angekündigt, die Flucht fördern, während der alte Müller überraschend Fridolins Pläne stört. Das Interesse gilt nun diesem Fluchtplan, die Spannung konzentriert sich auf das 'Wie' der Ausführung. Da kommt das 'Moment der letzten Spannung' zum Tragen. Die Handlung wird durch das Hinwerfen eines leichten Hindernisses verzögert. Diese Verzögerung kündigt sich durch die Verspätung Miladas an, die Fridolins knapp bemessene Zeit noch mehr strapaziert. Dennoch scheint alles nach Plan zu verlaufen, da entdeckt er die Rose in ihrem Haar. Damit aber erlangt der Spannungsbogen, der nach dem klärenden Gespräch der Protagonisten wieder geglättet schien, einen 'Spannungshügel', ähnlich wie in Kapitel IV: das Eifersuchtsmotiv scheint auf, um dann schnell wieder zurückgenommen zu werden. Zum Ende des Kapitels hin wird die Spannung durch die Beschleunigung des Handlungsablaufes gehalten. So steht die Zeitorganisation dieses Kapitels unter dem Zeichen der Zeitraffung: konzentrierte sich zuvor das Geschehen auf die entscheidende Stunde, sind nun an die zehn Tage vergangen, als Fridolin Milada wiedersieht. In der Zwischenzeit hat er sich einen Fluchtplan zurechtgelegt, in dem die Zeit eine entscheidende Rolle spielen wird. Nach dem zeitenthobenen Augenblick der Leidenschaft zwingen die äußeren, durch die
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beruflichen Verpflichtungen bedingten Umstände, die Zeit der freien Muße mit der des Alltags in Einklang zu bringen448. Erneut unterstreicht ein Erzählerkommentar zu Beginn des Kapitels Villa einen Einschnitt und schlägt zugleich den Bogen zu den vorausgegangenen Kapiteln IV und VII. Diesmal sind es schon drei Zeilen, die auf die abschließende Wiederaufnahme des Rahmens in VHIb verweisen. Wie Kapitel IV symmetrisch, aber unter anderen Vorzeichen, angelegt, bringt Kapitel Villa die Binnengeschichte zum Abschluß. Wiederum ist der Schritt der Annäherung durch ein Geschenk markiert (38,22) und zeitlich und räumlich von Kapitel VII getrennt: "an einem regnerischen Morgen in Wischau" (38,5). Anders als zu vermuten, kündigt hier das 'schlechte Wetter' nicht ein tragisches Ende an. Mit Blick auf die symbolische Ebene läßt sich vielmehr feststellen, daß mit dem Regen das Element Miladas - das Wasser - zum" letztenmal in der Binnengeschichte erscheint. Auch Milada selbst tritt ja nicht mehr auf. Bezeichnenderweise wechselt das Wetter dann auch zum besseren, als Fridolin zu seiner Schwester aufbricht. Die Trennung erfolgt endgültig mit dem Abschiedsbrief "endlich, am vierten (Tag)" (39,2). Die Phase der Distanzierung setzt mit dem erneuten Eifersuchtsmotiv ein (39,9) und wird durch die räumliche Veränderung, den Aufenthalt bei der Schwester in Nemojan (39,20), angezeigt. Während die entsprechenden Abschnitte 'Annäherung' in Kapitel IV und Villa gleich lang sind, macht der Mittelteil 'Distanzierung: Eifersucht' in Kapitel Villa nur noch ein Viertel aus, das Eifersuchtsmotiv ist stark reduziert. Zum anderen wird die Sonderstellung des 'Urteils' der Gräfin- Mutter in Kapitel IV herausgestrichen, zu dem hier eine Parallele fehlt. Am ehesten korrespondiert es noch mit dem 'Schicksalsurteil' der Gräfin im dritten Abschnitt 'Trennung' von Villa. Offensichtlich aber ist die Verlagerung der Gewichtung auf den letzten Schritt: die endgültige Trennung. Diese wird mit der Rückkehr ins Schloß besiegelt. Es fällt auf, daß die Beschreibung dieser Rückkehr dreimal so lang ist wie ihre Entsprechung in Kapitel IV. Zeitlich distanziert dieser Abschnitt sich von den vorausgehenden
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So findet Fridolin seinen Herrn im rechten Augenblick in guter Laune (35,8), er geht selbst noch am selben Tag auf einige Zeit auf Urlaub, so daß er Fridolin "acht Tage Freiheit" (35,11) gönnen kann. Da sein Herr über Mittag fort ist, stehen ihm genau die drei Stunden zur Verfügung, um Milada aufzusuchen. Nun eilt jedoch die Handlung immer mehr ihrer Lösung entgegen, und auch die erzählte Zeit schrumpft nun auf die letzte Begegnung der Protagonisten von wenigen Minuten zusammen. Die Wiedergabe ihres Gesprächs ermöglicht am Ende des Kapitels noch einmal die Simultanität von erzählter Zeit und Erzählzeit. Zuletzt reißt sich Fridolin los, und als das Signal des Zuges ertönt (37,37), läuft er den Hang hinunter, um mit dem Glockenzeichen auf den Tritt des letzten Waggons zu springen (37,3839). Der Glockenschlag beschreibt nicht nur das gleichmäßige Forwärtsschreiten, sondern auch das "unaufhaltsame Ablaufen der Zeit". Im letzten Augenblick hat er sich von Milada gelöst und, ohne es zu wissen, auch auf immer.
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Abschnitten durch die Angabe der Jahreszeit: "an einem schönen Herbstnachmittage" (39,36) und setzt sich so vom Sommer in Kapitel IV-VII ab. Die Geschlossenheit der Binnengeschichte, aber auch der ganzen Erzählung, wird sinnfällig am Bild des Raumes: Fridolin tritt durch das Schloßportal (39,40) in den Vorhof ein. Das Schloß wird so zum Endpunkt des 'Abenteuers'. Durch diesen Ort sind alle Kapitel untereinander verknüpft. So ist die 'Vorgeschichte' mit der Binnenerzählung verzahnt: in Kapitel I wurde dieser Einzug durch das Schloßportal (14,34; 11,11) bereits zweimal erwähnt, hier erscheint er zum drittenmal. Sind Kapitel IV und Villa symmetrisch gebaut, so überwiegt doch in Kapitel Vnia der dialogische Part im dritten Teil Trennung'. Das Gespräch Fridolins mit den Waschweibern in Kapitel IV korrespondiert mit dem Zusammentreffen mit Katinka. Beidemale befindet sich der Protagonist in niedergeschlagener Stimmung, die von den Eröffnungen über Miladas Wesen herrührt. Das Gespräch mit der Gräfin-Mutter fällt jedoch aus dieser Symmetrie heraus. Ihm kommt so eine besondere Bedeutung zu. Durch die Wahl des Ortes - das Balkonzimmer (41,9) - wird zugleich ein Bogen geschlagen zu den Entscheidungsszenen im Salonzimmer (24,12) und Ankleidezimmer (35,7). Im Salon fiel das schicksalsträchtige Urteil über Milada, das sie zur "gefährlichen Person" erklärte. Im Ankleidezimmer gestattet der junge Herr Fridolin einen vierenzehntägigen Urlaub und im Balkonzimmer eröffnet die Gräfin dem Diener ihre Heiratspläne. Durch diese drei Räume werden zugleich die einzelnen Phasen der Binnengeschichte miteinander verbunden: die erste Phase der Annäherung, die zweite der Leidenschaft und die dritte der Trennung. Auf den Salon als Raum des Schönheitssurteils folgt daher der Raum des jungen Herrn, der, ohne es zu wissen, seinem Diener die Möglichkeit der Flucht eröffnet. Das Balkonzimmer gehört zum privaten Bereich der Gräfin. Es kommt in seiner intimen Atmosphäre dem vertrauensvollen Gespräch mit Fridolin entgegen, unterstreicht aber auch durch seine räumlich gesehen höhere Lage die 'Erhöhung' des Dieners zum "Zimmerwärter". Wiederum beginnt mit den Worten der Gräfin ein neuer Lebensabschnitt für Fridolin. Der Wechsel vom Sommer zum Herbst unterstreicht dabei die Endgültigkeit seiner Trennung von Milada. Auch im letzten Kapitel wird die Spannung noch gehalten. Schon durch den Ortswechsel konzentriert sich die Spannung auf das 'Wie' des Ausgangs. Mit der Überbringung des Abschiedsbriefes ist ein erneutes Moment der Erregung gegeben: wie löst sich die Protagonistin von Fridolin und wie reagiert der Liebhaber? Aber bevor es aus Eifersucht zu Mord und Totschlag kommen kann, ist Fridolin schon zu der Einsicht gelangt, daß kein besseres Ende für ihn möglich sei, als von seinem Versprechen durch Miladas Ehe mit dem Müller enthoben zu werden. Er entkommt dem Schicksal, mit Milada ein neues Leben in Übersee beginnen zu müssen, und kann ins Schloß zurückkehren, wenn auch in banger Erwartung, ob man
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etwas bemerkt hat. Damit ist der Spannungsbogen kurz vor Ende noch einmal zu einem Spannungshügel geführt. Aber nicht sein Verrat an der Herrschaft wird Fridolin zum Glück, sondern das zufällige Zusammentreffen mit Katinka. So tritt am Schluß doch noch eine 4dea' ex machina in Erscheinung: denn indem die Gräfin die Heiratspläne für Fridolin entwirft, nimmt sie das weitere Schicksal des Helden in ihre Hand. Durch diese Auflösung des 'dramatischen Konfliktes' schließt sich zugleich der Kreis der Erzählung, die mit der Schilderung des glücklichen Ehelebens begonnen hatte: man erfährt inwieweit, die Gräfin-Mutter das "sort" der Katinka Kvapil bereitet hat (12,18). Fridolin ist jedoch noch nicht entlassen. Auch im abschließenden Epilog wird die Neugierde des Zuhörers wachgehalten. Der Schriftsteller verlangt noch weitere Informationen über Milada, die Fridolin in den letzten fünf Minuten nachreicht. Die Binnengschichte selbst, die sich über einen Zeitraum von fünf Jahren erstreckte, hat er in fünfundfünfzig Minuten vorgebracht. Rahmen und Binnengeschichte sind auch in diesem letzten Teil durch die Figur Miladas verzahnt. Erst jetzt ist eine völlige 'Entspannung' möglich. Mit seinem Resümee knüpft der Erzähler dann an das Motto der 'Vorgeschichte' an: die Dreierstruktur läßt sich so bis in den letzten Abschnitt der Erzählung nachvollziehen. Abschließend kann festgehalten werden, daß die Struktur der Erzählung sich an Zeit-, Ort- und Personenwechsel orientiert. Dabei kommt es trotz der offensichtlichen Einteilung in Kapitel zu Verzahnungen innerhalb der Kapitel und über die Kapitelgrenzen hinweg. Diese Innenbezüge verweben das Ganze, was wohl durch die letzten Worte des Erzählers am augenfälligsten wird, da sie direkt an den Anfang der Novelle zurückführen. Zum anderen dürfte deutlich geworden sein, daß für die Struktur und die Verknüpfungen die Zahl drei maßgebliche Bedeutung besitzt. Die umfangreiche Erzählung erhält durch die Dreierstruktur eine klare Handlungsführung. Einerseits vermag das Prinzip der Wiederholung bestimmter Episoden den Eindruck der Regelmäßigkeit zu erwecken - etwa im Falle der Dienerlaufbahn in Kapitel I -,zum anderen wird auf diese Weise das Thema der "Leidenschaft" formal beherrscht. So muß Fridolin drei Anläufe nehmen, bis er endlich mit Milada allein sein kann: Erst verläßt sie das Schloß, dann bricht er mit der Herrschaft nach Italien auf, und erst nach der Rückkehr von der großen Reise über den Teich trifft er Milada wieder. Aber auch diese heimlichen Begegnungen sind dreifach gestaffelt: zunächst begegnen sie sich abends am Feenteich, dann am nächsten Morgen am Teich bzw. auf dem Felsen, und zum letzten Mal sieht Fridolin Milada in der Kalupe am Mühlhang. Ganz auffällig wird die strukturierende Bedeutung der Zahl drei an Fridolins Fluchtplan: erst ist er nach der letzten Begegnung verwirrt und ratlos, dann kommt ihm nach einigen Tagen die Idee mit der Flucht nach Amerika, und im dritten Schritt setzt er den Plan in die Tat um, d. h. er trifft Milada in Lettowitz. Die Fahrt dorthin erfolgt
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wiederum im Dreierrhythmus: sein Zug braucht von N. bis Lettowitz eine Stunde, eine Stunde will er bei Milada bleiben, und eine Stunde braucht er zurück. Die letzte Etappe seiner Geschichte gliedert sich ebenfalls in drei Abschnitte: in Wischau angekommen, wartet er vier Tage vergeblich auf Milada, verbringt dann die restliche Zeit bei seiner Schwester in Nemojan und kehrt erst dann zum Schloß zurück. Auch die Wahl des Donnerstags und Samstags als die Abende des Biergenusses wird erklärlich, wenn man sich den zeitlichen Verlauf der Affäre ansieht: an einem Samstag trifft Fridolin Milada zum letztenmal (37,30), an einem Donnerstag gibt ihn Milada frei. Denn am vierten Tag (39,2) seit seiner Ankunft an einem Montag in Wischau erhält er den Abschiedsbrief*19. Erneut wird so aber ein Bezug zwischen Fridolins Bierliebe und dieser leidenschaftlichen Affäre hergestellt. Diese wohlgeordnete Folge von Phasen wirft nicht zuletzt ein Licht auf die innere Konstitution des Protagonisten, der mit seiner Beichte seinem Zuhörer eine stilisierte Selbstdarstellung liefert. Zugleich wird aber auch formal die Nähe zur moralischen bzw. philosophischen Erzählung deutlich. Die Erzähltradition zum Volksbuch vom Guten Fridolin spiegelt sich in der linearen Handlungsführung und der bewußt gewählten Dreierstruktur wider. Diese formalen Kennzeichen der 'einfachen Formen' werden in einem späteren Kapitel im Zusammenhang mit der poetischen Gestaltung der Liebesgeschichte Fridolins mit Märchenmotiven eine Rolle spielen. Zum Schluß sei noch auf die thematische Verzahnung der Kapitel durch die beiden zentralen Begriffe Glück und Leidenschaft hingewiesen. Der Titel der Novelle gibt das Thema Glück als zentrales Problem der Erzählung vor. Im Verlaufe der Novelle macht sich jedoch eine Verschiebung hin zu einer weiteren Fragestellung bemerkbar. Steht in den ersten beiden Kapiteln das "Glück" programmatisch an Anfang und Ende, so wird es am Ende des dritten Kapitels mit dem Thema der Leidenschaft konfrontiert. Ein Blick auf die Verteilung dieser Schlüsselbegriffe läßt erste Rückschlüsse auf ihre thematische Gewichtung zu. Allein fünfmal erscheint der Begriff "Glück" bzw. "Glücklicher" im ersten Kapitel450. In vorausdeutender Funktion ist dann von der
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Saar hat diese Gestaltung der Zeit äußerst geschickt zu verbergen verstanden, gerade weil er den Donnerstag nicht ausdrücklich nennt, muß man diesen Wochentag über die übrigen Zeitangaben erst rekonstruieren: Im Gespräch mit Milada sagt Fridolin, er reise sonntags (37,30) nach Wischau. Dort angekommen verbringt er den ersten Tag mit einem Gang über den Jahrmarkt. "Am anderen Morgen" (38,28), also montags, wartet er auf die Ankunft Miladas, die 'Montag, oder längstens Dienstag" (37,30) reisen sollte. "Dem nächsten Morgen" (38,34) wacht er daher im Fieber entgegen, weil Milada jetzt auf jeden Fall ankommen müßte. Aber der Dienstag vergeht, ohne daß sie erscheint. Diesen und "auch den nächsten" (39,1) Tag - also den Mittwoch - verbringt er mit quälenden Überlegungen zu. "Endlich, am vierten" (39,2) Tag - den Donnerstag - erreicht ihn der Brief. 4SO "die sogenannten Glücklichen" (11,4), ein "wahrhaft Glücklicher" (11,6), ein "ausnahmsweise Glücklicher* (11,8) und "ein Glücklicher" (14,35) beziehen sich alle auf den "merkwürdigen Fall des Herrn Kohouf.
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"glücklichen Heimkehr" (11,37-38) nach der Reise über den Atlantik die Rede. Hier wird die Gefährdung durch das Element Wasser einerseits und die Sicherung des Glücks am Ort des Schlosses andererseits schon angedeutet. In Kapitel II wird das "Glück", diesmal unter umgekehrten Vorzeichen, dreimal erwähnt: zweimal durch das Horaz-Zitat (15,5; 17,15-16) und durch den Verweis, daß auch an "seinem Glücke" (15,7) ein wunder Punkt zu finden sei. Der Zusammenhang von Glück und Biertrinken wird dann im Kapitel III durch Fridolins Äußerung, es sei "zum Glück" (18,6) nicht weit vom Schloß zum Wirtshaus des Herrn Sykora, deutlich ausgesprochen. In Anschluß an das erste Kapitel zieht der Erzähler nach Fridolins Erzählung bereits den Schluß, daß er ein "glücklicher Mann" (21,10) sei. In den folgenden Kapiteln wird nun der Begriff "Glück" nur in seiner Verneinung in Bezug auf Milada verwandt: sie wirft Fridolin vor, an ihrem "Unglück" mit schuldig zu sein (27,39; 32,22). Der Diener wird im Zusammenhang mit seiner Person erst wieder in Kapitel VII vom "wahren Glück" (33,30) sprechen, nämlich, dann, wenn sein Herr die Folgen seines Abenteuers nicht bemerkt. Wie aber das Glück zu verstehen ist, erklärt Fridolin im letzten Kapitel: es bedeutet für ihn das "größte Glück" (39,13), daß Milada den Müller heiratet. Glück wird in der Erzählung von Fridolin auf seinen beruflichen Werdegang, seine soziale Stellung und sein Ansehen bezogen. Der Erzähler folgt ihm darin. Da dieser Aspekt letztlich überwiegt, verwundert es nicht, daß der antithetisch zum Glück gesetzte Begriff der "Leidenschaft" in der Erzählung wesentlich seltener angeführt wird. In Kapitel III wirft Fridolin dieses Thema auf (21,28), in den Kapiteln IV (26,18) und VIII (42,9-10) wird dann der Erzähler das Vorhandensein einer großen Leidenschaft bei Fridolin in Abrede stellen. Stattdessen kommt er zu dem Ergebnis, daß dessen Geschichte für sein "Glück" (42,10) spreche. Der vierzehnmaligen Erwähnung des "Glücks" als Thema der Novelle steht also die dreifache Nennung der "Leidenschaft" gegenüber. Um aber dem "Glücksmotiv" auf die Spur zu kommen, muß eine weitere thematische Gliederung vorgenommen werden. Das Thema "Glück" verbindet sich durchgehend mit den beiden Aspekten "Beruf-Pflicht-Treue" und "Familie". Fünfmal wird an entscheidender Stelle Fridolins Treue herausgestrichen: dreimal wird sie im I. Kapitel dem Protagonisten als Epitheton angefügt (12,2; 12,14; 14,25), um seine treuen Dienste im herrschaftlichen Hause und seine damit verbundene Entlohnung mit der "braven Katinka" (12,16) hervorzuheben. Im Kampf zwischen Pflicht und Leidenschaft erkennt Milada im "treuen Herz" (32,39) den Grund für Fridolins Bedenklichkeit. Nach Beendi,gung seines Abenteuers wird Fridolin dann für seine "treuen Dienste" (41,21-22)
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entlohnt. Es läßt sich also ein klares Übergewicht des Themas Glück-Beruf-Familie gegenüber dem der "Leidenschaft" erkennen451. Die Gliederung der -Erzählung in acht Kapitel überdeckt so auf den ersten Blick die langsame Heranführung an das Thema der Leidenschaft, das scheinbar im Gegensatz zum Titel der Erzählung steht. Der Umfang einzelner Abschnitte kann allerdings als Hinweis für die inhaltliche Gewichtung bestimmter Themen gelten: so die starke Hervorhebung der 'Dienerproben' in Kapitel III für die Treue Fridolins, ebenso das 'Urteil des Kunstprofessors' in Kapitel IV für die Gewichtung des Themas der Leidenschaft oder der aus der symmetrischen Struktur herausfallende Abschnitt 'Heiratspläne der Gräfin', mit dem am Ende das Thema des 'Familienlebens' herausgestrichen wird. Die folgende Gliederung soll das Dreierprinzip, das bei der Strukturierung der Handlung ausgemacht werden konnte, zur Darstellung bringen. Saar selbst hat durch die Verwendung des Sternchens in Kapitel VIII schon versteckt angedeutet, daß es sich eigentlich um neun Abschnitte handelt. Der Übersicht halber werden nur die Dreiergliederungen der Kapitel in der Graphik berücksichtigt. Die Verknüpfung der einzelnen Kapitel soll dann abschließend anhand einer vereinfachenden Skizze dargestellt werden.
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Im Vorgriff auf das Schopenhauer-Kapitel ist die Einteilung des Glücks unter die drei Kategorien, dessen, was einer hat, was einer vorstellt und was einer ist, schon eingezeichnet. Ein Blick auf die Raumbzw. Zeitstrukturierung könnte diese inhaltliche Gliederung noch unterstützen: das, was einer ist, eben das Thema der Leidenschaft, kommt isoliert im Zentrum der Erzählung, im zeitlichen und räumlichen "Außenbereich" von Urlaub und Natur zum Tragen. Die beiden anderen Kategorien hingegen verteilen sich auf den Raum des Schlosses bzw. des Wirtshauses und sind zeitlich gesehen durch das Immergleiche charakterisiert.
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I.
1. Motto: der glückliche Herr Fridolin 2. Exempel 3. Motto: der glückliche Herr Fridolin
6 Zeilen 155 Zeilen 4 Zeilen
II.
1. Motto: nemo ab omni parte beatus 2. Exempel 3. Motto: nemo ab omni parte beatus
8 Zeilen 80 Zeilen 6 Zeilen
III.
1. Der Erzähler 2. Die Begegnung mit Fridolin 3. Der Erzähler
5 Zeilen 170 Zeilen 5 Zeilen
IV.
1. Annäherung: das Geschenk 2. Distanzierung: Eifersucht 3. Trennung: das Gerichtsurteil Erzählerkommentar
38 Zeilen 139 Zeilen 28 Zeilen 10 Zeilen
V.
1. Heimkehr 2. Unterwegs zum Förster 3. Begegnung am Feenteich
12 Zeilen 16 Zeilen 96 Zeilen
VI.
1. Einkehr im Forsthaus 2. Zusammentreffen am Feenteich 3. Entscheidung auf der Felsengruppe
22 Zeilen 55 Zeilen 60 Zeilen
VII.
Erzählerkommentar 1. Rückkehr ins Schloß 2. Unterwegs nach Lettowitz 3. Das letzte Treffen
l Zeile 52 Zeilen 40 Zeilen 72 Zeilen
Villa. Erzählerkommentar 1. Annäherung: Geschenk 2. Distanzierung: Eifersucht 3. Trennung: Heiratsplan
3 Zeilen 40 Zeilen 30 Zeilen 74 Zeilen
VHIb. 1. Rahmensituation: Aufbruch Epilog 2. Nachgeschichte: Miladas Schicksal 3. Das Motto: der glückliche Herr Fridolin
4 Zeilen 8 Zeilen 4 Zeilen
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c
I. Der gl ck che Herr Fridolin Π. Nemo ab omni parte beatus ΠΙ. Begegnung mit Fridolin IV. Erste Ann herung V. Wiedersehen VI. Entscheidung auf dem Felsen ΥΠ. Fluchtvorbereitung
Vffla. Trennung . Epilog: der gl ckliche Herr Fridolin
219
4. DIE KONFIGURATION Im folgenden sollen die Beziehungen der einzelnen Figuren zueinander untersucht werden. Wie Raum und Zeit können auch die Figuren mit der ihnen zugewiesenen Handlung die Erzählung strukturieren452. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen die beiden Protagonisten und ihre Beziehungen zueinander sowie zu den übrigen Figuren der Erzählung453. Dabei fallt auf, daß sowohl Milada als auch Fridolin drei Figuren entgegengesetzten Geschlechts zuzuordnen sind, die jeweils an entscheidenden Punkten ihrer Lebensgeschichte stehen. Daraus ergeben sich folgende Gruppen: Milada zwischen dem polnischen Valet, Fridolin und dem Müller Mussil und andererseits Fridolin zwischen der Gräfin-Mutter, Milada und Katinka. Auf den ersten Blick scheint diese Konfiguration in ihrer Parallelität gestört: während der Müller Mussil als Ehemann Miladas gleichrangig mit Katinka als Fridolins Gattin ist, in Milada und Fridolin die beiden Protagonisten als Liebende sich finden, läßt sich für den polnische Valet und die Gräfin-Mutter nur schwerlich ein gemeinsamer Nenner finden. Hier ergibt sich die Symmetrie aus der Opposition heraus: während Milada durch den polnischen Valet ihren Status als Mädchen und Tochter verliert - durch die Geburt des illegitimen Kindes ist sie vom Vaterhaus verstoßen -, kann die Gräfin-Mutter vorerst schützend die Hand über Fridolin halten und so sein Zuhause im Schloß sichern. Wie sind nun die jeweiligen Gruppierungen gestaltet? Zunächst fällt auf, daß den beiden Protagonisten jeweils Opponenten zugeordnet sind. So kontrastiert der polnische Valet mit Fridolin in mehrfacher Hinsicht454. Gemeinsam scheint ihnen der Beruf des Dieners, aber auch hier sind offensichtliche Unterschiede: von Fridolin als Friseur oder Haarkräusler tituliert, ist das Betätigungsfeld des Polen nur auf das Frisieren seines Herrn beschränkt455, ansonsten verfügt er über viel freie Zeit. Fridolin hingegen ist zu diesem Zeitpunkt als Hausknecht tätig und wird bald zum Diener seines Herrn avancieren. Dabei hat er kaum eine ruhige Minute. Auffallend
452
. Vgl. Polheim: Hofmannsthal, S. 91. Neben der offensichtlichen Zweipoligkeit von gesellschaftlichem Unten und Oben - Volk und Adel - sind die Beziehungen zwischen den Figuren zu beachten. Was diese betrifft, so kann man hinsichtlich der Figur Miladas und ihrer "Partner" von einer Konstellation sprechen, da sie diese wechselt und nicht einer Person allein zugeordnet ist. Zum Begriff der Konstellation, d. h. der sich verändernden Gruppierung der Figuren, vgl. Polheim: Konfiguration, S. 238. 454 Diese Anlage der Konfiguration verweist gerade durch die krassen Gegensätze bei der Gestaltung der Figuren auf die Tradition der Schwankliteratur. Im Schwank resultiert wie hier die Komik aus den z. T. überindividuellen Zügen der Figuren - der Müller als Typus oder auch die Benennung nach Tieren wie im Falle Kohout - und durch das Verfahren, die Figuren in Opposition auftreten zu lassen: jung-alt, arm-reich, potent-impotent, vgl. Brednich, Bd. 4, S. 1074. 455 Vgl. Kapitel Philosophie.
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unterscheiden sich beide in ihrem Auftreten, was letztlich den Gesinnungswandel Miladas herbeiführen wird. Der polnische Valet ist durch Eitelkeit und Arroganz gekennzeichnet, seine auffallende Kleidung dient seiner Absicht, die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich zu ziehen. Er gibt en miniature ein Abbild seines mit einem prächtigen Hofstaat auftretenden Herrn und gebärdet sich wie ein Don Juan. Von Fridolin hingegen wissen wir, daß er sauber und ordentlich einen eher biederen Eindruck macht und seine ständige Dienstbeflissenheit und Eile ihm keine Zeit für amoureuse Abenteuer lassen. Aus den späteren Äußerungen Miladas ist allerdings noch ein wichtiger Unterschied zu erfahren: trotz seines Glanzes wirkt der Valet doch abstoßend auf sie, denn seine verfaulten Zähne stören den Eindruck der äußeren Schönheit. In diesem Punkte sticht Fridolin positiv von ihm ab: ein gesunder breiter Brustkorb und geschmeidige weiße Hände werden in seinem äußeren Erscheinungsbild betont. Noch ein weitere Eigenschaft muß hier erwähnt werden. Milada vergleicht den Valet aufgrund der Hartnäckigkeit, mit der er ihr nachstellt, mit einem "spinnenden Kater" (28,10). Damit soll die tierische Triebhaftigkeit seines Verhaltens charakterisiert werden. In diesem Punkt scheint ihm Fridolin trotz seiner Vorsicht und Schüchternheit in nichts nachzustehen, denn er trägt, wie erläutert, einen Nachnamen, der Hahn bedeutet. Überdies dürfte der Hahn als Symbol der Fruchtbarkeit456 positiv belegt sein. Immerhin wachsen die Kinder Fridolins in Gesundheit auf, während das des Valet stirbt. Neben diesen äußerlichen Unterschieden fällt zudem noch die ausdrücklich von Fridolin betonte Differenz der Nationalitäten auf: während Milada im Glauben ist, bei dem Valet handele es sich um einen Franzosen, was in ihren Augen ihm noch mehr Glanz verleiht, hat der Böhme Fridolin diese falsche Identität schnell durchschaut und entlarvt ihn als Polen. Die Verbindung mit dem Mann dieses slavischen Volk bringt Milada kein Glück, während der Tscheche Bedrich Kohout in dieser Erzählung zu Ansehen und Wohlstand gelangt. Die beiden Opponenten Fridolin und der Valet bilden mit Milada zusammen eine erste Dreiergruppe. Die sich daraus ergebende Konstellation - die Frau zwischen zwei Männern - läßt das klassische Schema des mangle arotique erkennen457. Ausgangspunkt dieser Beziehung ist gemeinhin das Schema vom Ehepaar, in das als Störfaktor, meist nur für den gehörnten Ehemann, der Liebhaber einbricht. Dieses Grundmodell kann vielfach variiert werden, wie es die Schwankliteratur und etwa das Decamerone des Bocaccio beweisen. JC*
Vgl. Bächtold-Stäubli, Bd. 3, S. 1336: der Hahn wird wegen seiner besonders starken männlichen Kraft verehrt und symbolisiert den sexuellen Trieb, S. 1330. In der christlichen Ikonographie tritt er als Zeichen der Fruchtbarkeit auf und steht zudem für den "reuigen Sünder", vgl. Kirschbaum, Bd. 2, S. 209. Fridolin kehrt nach seinem Sündenfall als "reuiger Sünder" zu seiner Herrschaft zurück. 457 Vgl. Brednich, Bd. 4, S. 1048.
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Im Fridolin wird nun die Konstellation übernommen, aber Saar verdeckt die Klarheit des Schemas von Ehemann, Ehefrau und Liebhaber durch die komplizierte sich über Jahre erstreckende Beziehung zwischen Fridolin und Milada. Beide sind zwar offiziell kein 'Ehe'paar, aber durch Fridolins Tuchgeschenk (23,1) wird doch eine Verlobung symbolisiert458. Milada hat es immerhin als ein Zeichen seiner Werbung aufgefaßt (28,2) und kann sich sein Zögern nur aus seiner Dienstbeflissenheit erklären (28,4). Diese Ängstlichkeit ist aber auch der Grund, weshalb sie dem Valet nachgibt (28,6), der dann in die Beziehung Fridolin-Milada mit der Funktion des 'verführerischen Liebhabers' im triangle rotique einbricht. Er weiß Milada mit Versprechungen zu gewinnen. Äußerlich entspricht er der Rolle des lockenden Verführers, aber eine innere Beteiligung auf Seiten der 'Ehebrecherin' scheint doch zu fehlen. Allein die Tatsache, daß sie durch eine Heirat mit dem Valet finanziell und sozial abgesichert sein könnte - sie denkt daran, sich selbständig zu machen (28,13) -, bewegt Milada dazu, Fridolin aufzugeben. Er empfindet sich zwar als der Verratene, aber es läßt sich fragen, ob nicht in diesem ersten Fall Milada als die Verlassene dasteht. Immerhin macht der Autor Miladas Reaktion auf Fridolins Unentschlossenheit plausibel. Die symmetrische Anlage der Konfiguration - im Sinne der Umkehrung, wie noch zu zeigen ist - und das Motiv der amour par d6pit stützen diese Auslegung. Die Wahl Miladas bringt ihr jedoch nicht die erhoffte Verbindung. Vielmehr wird sie nun verraten: die Briefe des polnischen Friseurs (28,11) erweisen sich als schlechtes Liebespfand, und da er zudem "über alle Berge ist", kann sie den Vater ihres Kindes nicht mehr zur Verantwortung ziehen. So liegt hier der Fall des triangle arotique vor, in dem sowohl der Ehemann als auch die Frau die Betrogenen sind459. Die Folgen sind insofern gravierender als sonst bei einer solchen Konstellation in der Schwankliteratur, da Milada, die verführte Unschuld, die Einlösung des Versprechens nicht erreichen kann und nun zur Kindesmörderin wird460. Damit aber ist sie gesell-
Vgl. zum Verlobungsgeschenk auch die Steinklopf er: auf dem Kirchtag werden Georg und Tertschka Verlobungsgeschenke füreinander besorgen, vgl. Baasner, S. 62. 459 Vgl. Brednich, Bd. 4, S. 1070. Die Verführung, d. h. die erzielte Willfährigkeit eines unbescholtenen Mädchens, wird durch die Versprechungen der Briefe erreicht, vgl. Frenzel, S. 756. Seit dem Sturm und Drang wird durch das Kindesmordmotiv der Anklagecharakter in der Darstellung der Verführten verschärft. Milada steht in der Tradition der Kindesmörderinnen, die aus Angst vor der Strafe des Vaters und wegen des Verlustes der Ehre das Zeichen ihrer unehelichen Beziehung und des Verrats töten, ebenda, S. 764. Saar selber hat die Problematik der Kindesmörderin in dem Gedicht Das letzte Kind beschrieben und hierin im Sinne der naturalistischen Behandlung des Themas die soziale Not als Ursache für die Tat in den Vordergrund gestellt: "[...] Ungehört und ungesehen/ Ruft's im öden Stall ein Weib/ Greift, bedrängt von raschen Wehen,/ In den Schmerz gesprengten Leib./ Mit der Hand, der schwielig rauhen,/ Faßt sie hart, was sie verflucht-/ Und stumpfsinnig, ohne Grauen,/ Schaut sie die entseelte Frucht...", SW 2, S. 138-139. In seiner naturalistisch-krassen Schilderung erinnert dieses Gedicht durchaus an die von Milada erzählte Geburt des Kindes im offenen Scheunchen, die Saar in der Fassung He noch deutlicher gestaltet hatte.
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schaftlich gesehen mit einem 'tabu' behaftet. Ihre Verhaftung entfernt sie aus dem positiven Bereich des Schlosses. Die Affäre Miladas scheint das Verhältnis zu Fridolin endgültig beendet zu haben. Aber nach einer zweijährigen Trennung wird es wieder aufgenommen, diesmal aber unter umgekehrten Vorzeichen. Wiederum bleibt ihre Beziehung allen Mitgliedern des Schloßbereiches verborgen. Die Ausgangslage hat sich verändert: Milada ist nicht mehr "Nebenbedienstete", sondern ehemalige Zuchthäuslerin, und dadurch gefährdet sie Fridolins Ruf in erheblicherem Maße als zuvor. Da sie aber dessen Bedenken kennt, wartet sie diesmal nicht ab, bis er seine zögerliche Haltung aufgibt. Aus der Umworbenen wird nun die Werbende, die Verführerin. War sie beim erstenmal das unschuldige Mädchen, so ist diesmal Fridolin der keusche Jüngling, dessen Moral und Pflichtbewußtsein von der verführerischen Schönheit der "falschen Schlange" (41,2) erschüttert werden461. Wieder läßt sich für die weitere Entwicklung der Beziehung ein triangle arotique erstellen, in dem Fridolin - nicht zu seinem Schaden - den Part des 'Betrogenen' übernehmen wird. Die Wiederholung des Eifersuchtsmotivs unterstreicht, daß er auch im Falle des Valets sich als der Verratene gefühlt hat. Nun liegt der Fall anders, denn er ist nicht mehr der Außenstehende, sondern der 'Verführte'. Beim Wiedersehen mit Fridolin trägt Milada sein Tuch (30,12) und erneuert so symbolisch die Verlobung, die dann auf dem Felsen besiegelt wird. Im Gegensatz zum Valet ist nun Fridolin tatsächlich an einer Heirat interessiert, setzt alles dazu in Gang und wird so durch die Aufkündigung der Verlobung durch Miladas Abschiedsbrief zunächst betroffen. Ihm fällt wiedereinmal die Rolle des 'betrogenen Ehemannes' zu. Der Müller Mussil ist nun sein Konkurrent, der die Funktion des 'Liebhabers'462 im triangle arotique hat. Allerdings wird er durch die wirklich vollzogene Heirat mit Milada die Rolle des alten und möglicherweise betrogenen Ehemanns spielen463. Der Ausgang dieses zweiten 'Ehebruchs' gestaltet sich diesmal auf den ersten Blick für die Beteiligten positiv. Milada findet bei dem Müller Mussil eine, wie es scheint, sichere und endgültige Beziehung: die erwünschte Ehe. Wie schon die Beziehung zum polnischen Valet ist diese kontrastierend zu der Affäre mit Fridolin gestaltet. Zwei Eigenschaften fallen gleich ins Auge: das hohe Alter - an die siebzig (40,18) - und die Lüsternheit des alten Mannes (37,14), was Fridolin sogleich mißtrauisch macht. Mit entsprechender Eheerfahrung - drei Frauen hat er schon ins Grab gebracht (40,34) - ist
Dieses Gedicht wurde veröffentlicht von John Henry Mackay in "Freunde und Gefährten. Meisterdichtungen auf einzelnen Blättern', Berlin, o. Jg., darf also als naturalistisches Werk Saars gelten. 461 Vgl. Frenzel, S. 737. 462 In der Schwankliteratur gilt der Müller als "sexuell ausschweifend und (allzu) listig*, vgl. Brednich, Bd. 4, S. 1074. 463 Ebenda, Bd. 4, S. 1046. Immerhin heiratet ja Milada kurz nach seinem Tod den Schaffer des Wirtschaftshofs. 223
der alte Müller im Gegensatz zu Fridolin sofort zu einer Heirat bereit, die dann auch Hals über Kopf festgelegt wird. Im Gegensatz zu seinen beiden Gegenspielern fehlt es Fridolin an der einschlägigen Erfahrung, ist er es, der seine 'Unschuld' verliert (34,6). Ähnlich dem Valet, der mit Briefen Miladas Widerstand brach, macht der Müller Avancen, indem er ihr eine abgebrochene Rose aus seinem Mühlengarten zuwirft. Da es mit seinem eigenen Ruf nicht zum Besten steht, kümmert er sich, im Gegensatz zu Fridolin, wenig um Miladas Leumund. Die Tatsache, daß der Müller aber durch sein Alter und seinen Besitz an den heimatlichen Ort gebunden ist, dürfte Milada geneigter machen, seinem Werben nachzugeben. Entscheidend für ihre Wahl dürfte daneben wohl der Reichtum des Müllers sein. Auch Fridolin hatte sich einiges erspart, aber der Müller ist für Miladas Verhältnisse geradezu unermeßlich reich. Nachdem er seine Kinder ausgezahlt und seine Mühle abgegeben hat, bleibt ihm noch ein Wirtschaftshof im Wert von Zehntausend (40,19). Damit besitzt er weit mehr als der Valet und auch als Fridolin und kann Milada die gewünschte Unabhängigkeit und Selbständigkeit geben. In diese beiden triangles irotiques fügen sich aber auch die Nebenfiguren ein. Die Konfiguration machte einen wichtigen Aspekt deutlich: der polnische Valet gehört nicht eigentlich zum Schloßbereich, sondern dringt in diesen ein, so wie er ja auch in die Beziehung von Fridolin und Milada einbricht. Ausgelöst wird diese Störung durch den Besuch des polnischen Fürsten. In der Fassung J1 hatte Saar noch stärker auf diesen Einbruch hingewiesen. Hier entwickelt sich eine Parallelhandlung auf der Ebene des Adels zu der des Volkes: der polnische Fürst kommt in der Absicht, die älteste Komtesse zu heiraten, zu Besuch und sucht durch den äußeren Aufwand an prachtvoller Ausstattung und Gefolge von Dienern Eindruck zu wecken464. Sowohl die Heiratspläne des Fürsten, als auch die Miladas, scheitern allerdings mit dem Unterschied, daß sie als die Verführte und Betrogene dasteht. Sie muß hinter der aufgemachten Fassade des polnischen Valet den Verrat erkennen. Daß Saar in den späteren Fassungen die Funktion des Fürsten als 'Auslöser' etwas zurückgenommen hat, mag an der Gestaltung einer weiteren Figur liegen. An dieser Stelle muß die Bedeutung von Miladas Vater erwähnt werden. Durch sein strenges und unwirsches Gebaren den Kindern gegenüber erweckt er in seiner Tochter den Wunsch, das väterliche Haus durch eine baldige Heirat zu verlassen. Damit löst er indirekt Miladas Beziehung zum Valet aus. Der Figur des Malers kommt in der Erzählung eine zentrale Position zu, da er auf besondere Weise für das Zustandekommen dieser ersten Dreiergruppe verantwortlich scheint. Entscheidend für das Schicksal Miladas und all ihre Beziehungen wird die
464
Vgl. Textkritischer Apparat, J 1 25,3 und die Erläuterungen zu den Varianten von J 1 zu J2 und Hr im Teil Entstehungsgeschichte.
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Tatsache, daß der Maler sie entdeckt und sein Schönheitsurteil publik macht. Damit ist er der 'Auslöser' für die Äußerung der Gräfin, die Reaktion im Schloß, das "zögerliche Verhalten" Fridolins und den Erfolg des Valets. Als von außen kommend bringt er Bewegung in die Zustände im Schloß und bürgt gewissermaßen als Fachmann für die Richtigkeit seines Urteils. Wichtig für dieses erste triangle orotique ist die Rolle der Öffentlichkeit. Sie ist durch den Maler, aber auch durch die weiblichen Bediensteten des Schlosses vertreten. Denn diese fungieren quasi als Sprachrohr einer öffentlichen Meinung, vor und nach Miladas Verhältnis. Damit beeinflussen sie aber andererseits Fridolins Verhalten, so daß sie 'Auslöserfunktion' innerhalb des Schloßbereiches besitzen, wie die Gäste des Adels. Durch sie wird das triangle Irotique zum "belauschten Ehebruch", der durch ein "listiges Substitut für den arglosen Ehemann"465, durch die Waschweiber bzw. Katinka, hinterbracht wird. Sie gehören damit aber auch zur Gruppe derjenigen, die, wie noch gezeigt wird, die Ordnung' im Schloß verkörpern. In diesem Zusammenhang muß noch eine Kategorie von Personen erwähnt werden, die als ausführendes Organ in Erscheinung treten: die Polizei und die Richter. Als Ordnungskategorie stehen beide Gruppen über Adel und Volk bzw. vertreten die staatliche Ordnung insgesamt. Dreimal findet auch diese Institution Erwähnung, jeweils im Zusammenhang mit den 'Affären' Miladas. Sie stellt die gesellschaftliche Ordnung wieder her, als Milada das Kind des polnischen Valet getötet hat. Verhaftung und Strafe verweisen zugleich Milada aus dem Schloßbereich, wo sie dann auch nicht mehr auftreten wird. Auch den Nebenfiguren des zweiten triangle arotique lassen sich 'Auslöserfunktion' wie im Falle der Beziehung zwischen Milada und dem Valet zuordnen. War es hier der polnische Magnat, der durch seinen Besuch den 'Verrat* ermöglichte, so ist es nun der Graf von Ostrov, der schon einmal in einem wichtigen Moment in Fridolins Leben eingegriffen hat. Er lädt seinen Herrn zur Jagd ein. So kann sich Fridolin Urlaub nehmen, bricht zum Förster auf und trifft Milada. Ebenfalls unter umgekehrten Vorzeichen steht die Funktion des alten Försterehepaars. Beförderte das Verhalten des strengen Vaters Miladas Heiratspläne, so bieten der Förster und seine Frau dem einsamen Fridolin Geborgenheit, nehmen ihn wie einen Sohn auf und stärken durch ihre Fragen seine Bindung an die gräfliche Herrschaft