Kritische Texte und Deutungen. Band 4 Autobiographische Schriften I: Meine Kinderjahre. Aus meinen Kinder- und Lehrjahren [Reprint 2015 ed.] 9783110934748, 9783484105973


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German Pages 317 [328] Year 1989

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Table of contents :
Meine Kinderjahre
I. Text
II. Kritischer Apparat
1. Editorische Hinweise
2. Zur Gestaltung des Apparates
3. Das Skizzenmaterial
4. Sammelvarianten
a. Orthographische Varianten
b. Lautvarianten
c. Wortvarianten
d. Interpunktionsvarianten
5. Fortlaufendes Variantenverzeichnis
III. Text- und Wirkungsgeschichte
1. Die Entstehung und Wirkung des Werkes bis zur ersten Buchausgabe (E1)
2. Die Textgeschichte der beiden Buchausgaben E1 und E2
3. Die Entwicklung des Stils in den Druckfassungen
4. E2 als Grundlage des kritischen Textes
5. Die Rezensionen
6. Die weitere Textgeschichte
7. Die Sekundärliteratur
IV. Deutung
1. Voraussetzungen einer Deutung: Tendenzen in der Autobiographie-Forschung
2. Die historische Entwicklung der Autobiographik bis zu den Kinderjahren
a. Die Autobiographie der Kindheit und Jugend
b. Autobiographien von Frauen
3. Textanalyse
a. Die Struktur
b. Die Zeit
c. Der Raum
d. Die Personendarstellung
e. Erzählweise und Sprachstil
f. Leitthemen
4. Autobiographie und Erzählung. Ein Vergleich
AUS MEINEN KINDER- UND LEHRJAHREN
I. Text
II. Kritischer Apparat
1. Editorische Hinweise
2. Zur Gestaltung des Apparates
3. Die Handschrift
4. Sammelvarianten
a. Orthographische Varianten
b. Interpunktionsvarianten
5. Fortlaufendes Variantenverzeichnis
III. Textgeschichte
1. Die Entstehung des Werkes
2. Gründe für die Wahl des edierten Textes
IV. Deutung
1. Aufsatz und Autobiographie im Vergleich
2. Die Geschichte des Erstlingswerks (KL2)
3. Weitere Selbstzeugnisse
BIBLIOGRAPHIE
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Kritische Texte und Deutungen. Band 4 Autobiographische Schriften I: Meine Kinderjahre. Aus meinen Kinder- und Lehrjahren [Reprint 2015 ed.]
 9783110934748, 9783484105973

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MARIE VON EBNER-ESCHENBACH KRITISCHE TEXTE UND D E U T U N G E N Herausgegeben von Karl Konrad Polheim Vierter Band Autobiographische Schriften I

MARIE VON EBNER-ESCHENBACH

K R I T I S C H E TEXTE U N D D E U T U N G E N

Herausgegeben von Karl Konrad Polheim

VIERTER B A N D Autobiographische Schriften I

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1989

M A R I E VON EBNER-ESCHENBACH

AUTOBIOGRAPHISCHE SCHRIFTEN I Meine Kinderjahre Aus meinen Kinder- und Lehrjahren Kritisch herausgegeben und gedeutet von Christa-Maria Schmidt

MAX N I E M E Y E R V E R L A G TÜBINGEN 1989

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Ebner-Esdienbadi, Marie von: Kritische Texte und Deutungen / Marie von Ebner-Eschenbach. Hrsg. von Karl Konrad Polheim. / Christa-Maria Schmidt. — Tübingen : Niemeyer, 1989 NE: Polheim, Karl Konrad [Hrsg.]; Ebner-Eschenbach, Marie von: [Sammlung] Bd. 4. Autobiographische Schriften. — I / krit. hrsg. u. gedeutet von Christa-Maria Schmidt. - 1989 NE: Schmidt, Christa-Maria [Hrsg.] ISBN 3-484-10597-6 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: CompuRent, Bonn Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Heinr. Koch,Tübingen

VORWORT

Mit der Edition der autobiographischen Schriften Marie von Ebner-Eschenbachs wird die historisch-kritische Werkausgabe der Dichterin fortgesetzt. Der vorliegende vierte Band umfaßt den vollständig abgedruckten Text, ein Variantenverzeichnis sowie eine ausführliche Darstellung der Entstehungsund Wirkungsgeschichte der Jugendautobiographie Meine ΚΐηάβήαΗκ und des selbstbiographischen Aufsatzes Aus meinen Kinder- und Lehqahren. Neben der Betrachtung der Texte vor dem gattungsgeschichtlichen Hintergrund der Jugend- und Frauenautobiographik kommt der ästhetischen Analyse dieser Selbstdeutung einer Dichterin besonderes Augenmerk zu. An dieser Stelle möchte ich meiner Familie und allen danken, deren Zuspruch mir in den vergangenen Jahren geholfen hat. Mein Dank gilt weiterhin den Mitarbeitern der Handschriftenarchive in Weimar und Wien, dem Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat für seine finanzielle Förderung sowie der Graduiertenförderung des Landes Nordrhein-Westfalen für die Gewährung eines Stipendiums; vor allem aber möchte ich danken meinem verehrten Lehrer Professor Dr. Karl Konrad Polheim, der die Entstehung der Arbeit stets mit vielen Anregungen unterstützt hat.

Bonn, im Herbst 1989

Christa-Maria Schmidt

INHALTSÜBERSICHT

MEINE KINDERJAHRE I. Text Π. Kritischer Apparat 1. 2. 3. 4.

Editorische Hinweise Zur Gestaltung des Apparates Das Skizzenmaterial Sammelvarianten a. Orthographische Varianten b. Lautvarianten c. Wortvarianten d. Interpunktionsvarianten 5. Fortlaufendes Variantenverzeichnis III. Text- und Wirkungsgeschichte 1. Die Entstehung und Wirkung des Werkes bis zur ersten Buchausgabe (E1) 2. Die Textgeschichte der beiden Buchausgaben E 1 und E 2 3. Die Entwicklung des Stils in den Druckfassungen 4. E 2 als Grundlage des kritischen Textes 5. Die Rezensionen 6. Die weitere Textgeschichte 7. Die Sekundärliteratur IV. Deutung 1. Voraussetzungen einer Deutung: Tendenzen in der Autobiographie-Forschung 2. Die historische Entwicklung der Autobiographik bis zu den Kinderfahren a. Die Autobiographie der Kindheit und Jugend b. Autobiographien von Frauen

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3. Textanalyse a. Die Struktur b. Die Zeit c. Der Raum d. Die Personendarstellung e. Erzählweise und Sprachstil f. Leitthemen 4. Autobiographie und Erzählung. Ein Vergleich

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AUS MEINEN KINDER- UND LEHRJAHREN I. Text II. Kritischer Apparat 1. 2. 3. 4.

Editorische Hinweise Zur Gestaltung des Apparates Die Handschrift Sammelvarianten a. Orthographische Varianten b. Interpunktionsvarianten 5. Fortlaufendes Variantenverzeichnis

ΠΙ. Textgeschichte

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1. Die Entstehung des Werkes

291

2. Gründe für die Wahl des edierten Textes

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IV. Deutung 1. Die Aufsatz und Autobiographie im Vergleich 2. Geschichte des Erstlingswerks (KL2) 3. Weitere Selbstzeugnisse BIBLIOGRAPHIE

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Marie von Ebner-Eschenbach

MEINE KINDERJAHRE Biographische Skizzen

I. TEXT

Marie von Ebner-Eschenbach

MEINE KINDERJAHRE Biographische Skizzen

Kritischer Text aufgrund der zweiten Auflage von 1907 (ΕΛ)

Les souvenirs des vieillards, a-t-on dit, sont une part d'héritage qu'ils doivent acquitter de leur vivant. G.Lenôtre Vorwort. ***

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Die "Geschichte des Erstlingswerkes", die Κ. E. Franzos vor zwölf Jahren herausgegeben hat, brachte auch einen Beitrag von mir. Alles, was darin ausgesagt ist, unterschreibe ich heute noch, einen Irrtum aber muß ich berichtigen. Meine Erinnerungen an die Kinderzeit, meinte ich damals, sind nicht besonders lebhaft, und erfahre nun, daß sie, um es zu sein, nur geweckt zu werden brauchten. Es unterblieb zu jener Zeit; denn so alt ich schon war, lag doch noch etwas wie Zukunft vor mir, und auf sie, nicht zurück zur Vergangenheit, lenkten sich meine Gedanken. Nun stehe ich am Ziel, der Ring des Lebens schließt, Anfang und Ende berühren sich. Mit einer Macht des Erinnerns, die nur das hohe Alter kennt, lebt die Kindheit vor mir auf. Aber nicht wie ein kräftig ausgeführtes Gemälde auf hellem Hintergrund, in einzelnen Bildern nur, die deutlich und scharf aus dem Dämmer schweben. Die Phantasie übt ihr unbezwingliches Herrscherrecht und erhellt oder verdüstert, was sie mit ihrem Flügel streift. Sie läßt manches Wort an mein Ohr klingen, das vielleicht nicht genau so gesprochen wurde, wie ich es jetzt vernehme; läßt mich Menschen und Begebenheiten in einem Lichte sehen, das ihnen eine an sich vielleicht zu große, vielleicht zu geringe Bedeutung verleiht. Ihrer über das Kindergemüt, dessen Entfaltung ich darzustellen suchte, ausgeübten Macht wird dadurch nichts genommen. Das Schwergewicht liegt auf dem Eindruck, den sie hinterlassen haben, und ihn bestimmt die Beschaffenheit des Wesens, das ihn empfing. Dieses Wesen ist treu geschildert, buchstäblich und im Geiste.

Rom, Januar 1905 Unter den Augen der Meinen, unter dem Einfluß ihrer verwöhnenden 25 Liebe sind diese Skizzen entstanden. Ein Reflex der Teilnahme, die sie erweckten, fiel auf sie, und ich dachte: Ihr seid etwas. Jetzt bin ich allein und bin in Rom, und hierher werden sie mir nachgesandt, wenn auch erst im Negligé der Korrekturbogen, doch schon als "Drucksache" und vorbereitet zur Fahrt in die Fremde. - Meine Kleinen, ihr 30 kommt mir recht armselig vor mit eurem Geplauder von Puppen und Am5

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menmärchen. Mich beschäftigen andere Dinge als eure Geringfügigkeiten. Die Weltgeschichte spricht zu mir, ich lebe an der Stätte, an der Jahrhunderte hindurch ihr mächtiger Puls geschlagen hat, und bin da, ein dankbarer Gast, fortwährend zu hohen Festen und großartigen Schauspielen geladen... Ich kann durch den Steineichenhain auf die Höhe in der Villa Medici wandeln und die Sonne untergehen sehen hinter dem Janiculus. Majestätisch ist das Tagesgestirn versunken; in den feurigen Himmel ragt die Kuppel von Sankt Peter, und durch die Lüfte gleiten, andachtweckend, auf tönenden Schwingen die silbernen Klänge ihrer Glocken... Der graue Streifen, der links am Horizont emporzusteigen scheint, das ist das Meer, das tyrrhenische, das auf seiner ruhelos wogenden Brust die Flotten Roms getragen hat, zur Eroberung vergänglicher Reiche und unvergänglicher Kunst... Und bei der Tassoeiche kann ich stehen und ihrem Gestöhn im Winde lauschen. Quercia del Tassol Der Blitz hat sie getroffen und ihren Stamm zerspellt, der Sturm hat wild in ihrem Geäste gehaust, aber noch begrünt sich alljährlich ihr gelichteter Wipfel. Sie strotzte in Kraft, war jung und reich bekleidet, als der Poet sich todesmatt zu ihr herüberschleppte von Sankt Onofrio, wo er "im Verkehr mit den heiligen Vätern den Verkehr mit dem Himmel begonnen hatte". Was galten ihm noch seine höchsten Erdenwünsche, die Dichterkrönung auf dem Kapitol, die Huld der angebeteten Frau?... Aber der Mai war nahe, in Duft und Blüte stand die Welt, und Sehnsucht nach dem herben Glück der letzten Abschiedsgrüße zog ihn hierher in den Schatten seiner Eiche. Seine sterbenden Augen haben auf dem Bilde geruht, das vor uns liegt, und der Gedanke verleiht der traumhaften Schönheit des Anblicks eine wehmütige Verklärung. Ein Hauch ewigen Frühlings weht über den Geländen der holden Berge, aber der Monte Gennaro besinnt sich, daß Winter ist, und trägt seine Tiara aus Schnee... Und in der Tiefe liegt die Stadt, die heute noch keine Fabriken hat mit rauchenden Schloten und keine berußten Dächer, und selbstleuchtend erscheinen im Abendlichte ihre schimmernden Mauern. Wie tot liegt sie da, die so viel verbrochen und so viel erduldet hat. Kein Laut dringt herauf, vernehmbar nur dem inneren Ohr ist ihre feierliche Sprache des Schweigens. Mein stilles Fest auf dem Janiculus habe ich gestern begangen und heute auf dem Forum einige Stunden zugebracht, geleitet von einem liebenswürdigen und gar zuverlässigen Führer, dem jüngsten Buche meines verehrten Freundes, Professor Hülsen. Doch was sind einige Stunden auf dem Forum! Nicht mehr als ein eiliges Vorüberwandeln an Stätten, die durch herrliche Taten geweiht, durch entsetzliche Greuel gebrandmarkt worden. Von der Basilika Julia bin ich zum Heiligtum der Juturna gewandert, zu Santa Maria Antiqua, zum Atrium Vestae und hinauf zur Velia, zum schönsten der römischen Triumphbogen. Und dann auf dem Rückweg betrat ich die Sacra Via und meinte den Boden unter meinen Füßen erzittern zu fühlen und dröhnen zu hören vom Marsche der Legionen. Eine Riesenschlange, die Reiche er6

drückt hat in ihren gewaltigen Ringen, bewegt sich der Siegeszug zum Kapital, umbraust vom Zuruf der Menge. Goldene Beutestücke funkeln, die Ketten der Gefangenen klirren. Sie kommen am Tullianum vorbei, und dort in seine "abschreckende Dunkelheit" hinabgeschleudert, verschwinden Heer5 führer, Fürsten, Könige. Niemals staut der Zug, unaufhaltsam strebt er vorwärts, dem Triumphwagen nach zur Höhe, auf der Jupiter in seinem Heiligtume thront... Noch ganz erfüllt von den Eindrücken, die ich Tag für Tag empfange, hier in diesem großen Rom, kehre ich in meine Behausung zurück und sollte 10 meine Skizzen vornehmen, auf die Druckfehlerjagd ausziehen und entgleisten Sätzen auf die Beine helfen. Das wird mir schwer. Mein Glauben an euer Etwas ist mir entschwunden, ihr armen Blätter. Weil ihr aber eure papiernen Flügel schon entfaltet habt, so fliegt denn, so gut ihr könnt. Heimwärts, rate ich euch, dorthin, wo ihr geboren seid und wo immerwache Liebe 15 euch empfängt. Indessen wird Rom den Purpurmantel seiner Rosen umgetan haben, und bei uns zu Hause werden an Bäumen und Sträuchern die Knospen schwellen und Schößlinge in Unzahl hervorsprießen. Das ist dann auch für das grüne Seelchen, dessen Geschichte ihr erzählt, der richtige Augenblick, sich ans Licht zu wagen. * * *

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Meine Schwester Friederike war vierzehn Monate, ich war vierzehn Tage alt, als unsere Mutter starb. Dennoch hat eine deutliche Vorstellung von ihr uns durch das ganze Dasein begleitet. Ihr lebensgroßes Bild hing im Schlafzimmer der Stadtwohnung unserer Großmutter. Ein Kniestück, gemalt von Agricola. Er hat sie in einem idealen Kostüm dargestellt, einem bis zum Ansatz der Schultern ausgeschnittenen, dunkelgrünen Samtgewand mit hellen Schützen und langen, weiten Ärmeln. Der Kopf ist leicht gewendet und etwas geneigt; der Hals, die auf der Brust ruhende Hand sind von schimmernder Weiße und gar fein und schön geformt. Das liebliche Gesicht atmet tiefen Frieden; die braunen Augen blicken aufmerksam und klug, und aus ihnen leuchtet das milde Licht eines Geistes so klar wie tief. Zu diesem äußeren Ebenbilde stimmten die Schilderungen, die uns von dem Wesen, dem Sein und Tun unserer Mutter gemacht wurden. So einhellig wie über sie habe ich nie wieder über irgend jemand urteilen gehört. Wenn die Rede auf sie kam, hatten die verschiedensten Leute nur e i n e Meinung. Und gern und oft wurde von ihr geredet. Besonders hoch in Ehren stand ihr Gedächtnis auf ihrem väterlichen Gute Zdißlawitz, wo der größte Teil ihres Lebens verflossen war. Ich glaube, daß meine Liebe zu den Bewohnern meiner engsten Heimat ihren Ursprung hat in der Dankbarkeit für die Anhänglichkeit und Treue, die sie meiner Mutter über das Grab hinaus bewahrten. Die Diener spra7

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chen von ihr, die Beamten, die Dorfleute, die Arbeiter im Garten. Ein alter Gehilfe nannte ihren Namen nie, ohne das Mützlein zu ziehen: "Das war eine Frau, Ihre Mutter!... Gott hab sie selig." Da wurde mir immer unendlich stolz und sehnsüchtig zumute: "Ich seh ihr ähnlich, nicht wahr? Geh, sag ja!" - Er zwinkerte mit den Augen und schob die Unterlippe vor: "Ahnlich? Ahnlich schon, aber ganz anders." Es sollte sich niemand mit ihr vergleichen wollen, nicht einmal ihre eigene Tochter. - "Ja," fuhr er nach einer Pause fort, "blutige Köpfe hat's gegeben bei ihrem Begräbnis; geschlagen haben sie sich um die Ehre, ihren Sarg zu tragen. - Das war eine Frau!" Man hatte uns die Überzeugung beigebracht, daß sie vom Himmel aus über uns wache und als ein zweiter Schutzengel umschwebe in Stunden der Krankheit oder der Gefahr. Ich vergesse nie, mit welcher Zuversicht und mit welcher geheimnisvollen Glückseligkeit das Bewußtsein ihrer Nähe mich oft erfüllte. In e i η e m Punkte hatte ich das selbe Schicksal erfahren wie sie. Auch ihr Leben war um den Preis des Lebens ihrer Mutter erkauft worden, und auch ihr war die auserlesene Schicksalsgunst zuteil geworden, für den schwersten Verlust den denkbar besten Ersatz zu finden - die liebreichste und gütigste Stiefmutter. Die ihre, unsere vortreffliche Großmutter Vockel, erreichte, unserer Kindheit zum Heile, vorgerückte Jahre. Sie blieb bei uns nach dem Tode ihrer Tochter; sie verließ uns auch dann nicht, als unser Vater sich wieder verheiratete. In Wien bezog sie eine Wohnung im ersten Stock seines Hauses, dem sogenannten "Drei-Raben-Haus", auf dem damals sogenannten "Haarmarkt". Wir bewohnten den zweiten Stock. Im Sommer lebte sie mit uns auf dem Lande. Sie war klein und mager und hatte einen für ihre zarte Gestalt etwas zu großen Kopf. Ihr Gesicht blieb noch im Alter schön. Ein edel und kräftig gebautes Gesicht. Die Stirn von klassischer Bildung, die Nase schlank und leicht gebogen, mit feinen, beweglichen Flügeln. Der Mund schmal und gerade, die Lippen fest geschlossen - so charakteristisch für die vereinsamte, stolze, schweigsame Frau. Ihre großen, tiefdunkeln Augen hatten einen schwermütigen Ausdruck. Ich habe ihn manchmal sich wandeln gesehen in einen schmerzlich-geringschätzigen; zu einem verachtungsvollen, verdammenden wurde er nie. Sie wunderte sich nicht leicht über ein Unrecht, das sie begehen sah; durch eine hochherzige Handlung, deren Zeugin sie war, oder von der sie hörte, konnte sie so freudig überrascht werden wie durch ein unerwartetes selbsterlebtes Glück. Ein solches, ein eigenes war ihr gleichsam nur im Vorübergehen zuteil geworden. Unser Großvater und sie hatten geheiratet aus Liebe - nicht zueinander, sondern zu einem Kinde, zu seinem Kind. Und in dieser Liebe erst hatten sie sich gefunden, und ihr anfangs geschwisterliches Verhältnis reifte langsam zu einem schönen ehelichen heran. 8

Der Tod löste den Bund und nahm auch bald darauf der Verwitweten die einzige vielgeliebte Tochter. Diese hatte in ihrem Testamente ihren Gatten zum Herrn auf Zdißlawitz eingesetzt. So war nun unsere Großmutter ein Gast geworden in ihrem ehemaligen Haus und Heim. Sie beschied sich. Sie s wünschte nichts mehr, als nur in der Nähe der Kinder ihres Kindes leben zu dürfen. In der kleinen Erzählung "Die erste Beichte" habe ich eine Skizze von der herrlichen Frau entworfen. Die eigentümliche Art ist erwähnt, in der sie, die kaum je eine Besorgnis, geschweige denn eine Klage aussprach, Klagen auf10 nahm. "Alles geht vorüber, alles wird gut," sagte sie halblaut vor sich hin. Und wenn es in ihrer Macht lag, das Üble und Traurige gutzumachen, dami w u r d e es gut. Ausgesprochen hat sie es nicht, im stillen soll sie aber sehr gelitten haben, ids unser Vater sich wieder vermählte und an die Stelle unserer Mutter eine 15 jüngere und schönere Frau trat, "Maman Eugénie", eine geborene Freiin von Bartenstein. Das erste Kind, das sie zur Welt brachte, war ein Knabe und das zweite wieder ein Knabe, während die Verstorbene ihrem Gatten nur Töchter geboren hatte. Nun würden wir nichts mehr gelten, besorgte die Großmutter. Zurückgesetzt würden wir werden und zu fühlen bekommen, 20 daß es eigentlich uns, den Älteren, zugestanden hätte, männlichen Geschlechts zu sein. Die Besorgnisse der lieben, alten Frau erwiesen sich als ganz ungerechtfertigt. Unsere junge Mama Schloß uns ebenso innig ins Herz wie ihre eigenen Kinder, die kleinen Brüder und das holde Schwesterlein, das ihnen 25 nachfolgte. Wir ließen es uns sehr wohl sein unter der milden mütterlichen und großmütterlichen Herrschaft, und unser Übermut wäre allmählich stark ins Kraut geschossen, wenn ihn die Hand der temperamentvollen Kinderfrau nicht niedergehalten hätte. Sei gesegnet noch in deinem Grabe, in dem du seit so langen Jahren 30 ruhst, du brave Josefa Navratil, genannt Pepinka! Du hast dir ein unschätzbares Verdienst um uns erworben. Du hast uns zu einer Zeit, in der die weisesten Vorstellungen keinen Weg zu unserem Verständnis gefunden hätten, durch eine rechtzeitig angebrachte demonstratio directa bewiesen, daß der Schuld unerbittlich die Strafe folgt. Gewiß trifft das auch im Leben ein, aber 35 oft so spät und in so verhüllter Weise, daß menschliche Augen den Zusammenhang nicht mehr entdecken. In unserer Kinderstube ging die Sache rasch und einfach vor sich. Wenn eine Tür heftig zugeworfen wurde, wenn es beim Spiel allzu lautes Geschrei, oder arge Streitigkeiten gab, kam Pepi daher auf ihren großen, weichen Schuhen und hielt Gericht. Ohne erst zu fragen, wer 40 der Schuldigste sei, teilte sie - darin ein ganz getreues Bild des Schicksals ihre Schläge aus. Wir nahmen sie ohne Widerspruch in Empfang und hebten unsere Pflegerin und Richterin. Wir fürchteten sie nicht einmal sehr, so laut

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sie manchmal auch zankte und so zornig sie uns anfunkeln konnte mit ihren feurigen schwarzen Augen. ***

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Hatte eine erziehliche Maßregel unserer Schicksalsgöttin sehr hart getroffen, dann ging man zu Anischa, meiner ehemaligen Amme, und weinte sich bei ihr aus. Sie war der lichte Stern unserer Kinderstube und immer freundlich und gut. Auch bildhübsch war sie und lieblich anzusehen in ihrer heiteren hannakischen1 Tracht. Sie verwandte viel Sorgfalt auf ihr Äußeres, sie schlang das bunte Tuch mit den langen Fransen kunstvoll um ihren Kopf, trug immer nur schimmernd weiße Halskrausen, seidene, mit Flittern benähte Leibchen und tadellos gesteifte und geplättete Röcke. Pepinka brummte sie manchmal an: "Was putzen Sie sich so auf? Er kommt heute doch nicht." Die arme Anischa wurde jedesmal feuerrot und antwortete leise und demütig: "Heute nicht und morgen nicht." Er kam auch nicht. Hingegen erschien alljährlich im Herbste eine ältliche Frau, die wir, dem Beispiel Anischas folgend, "pani kmotrenka"2 nannten, in Zdißlawitz. Ein derber Junge in schmucker hannakischer Tracht begleitete sie. Er stand im selben Alter wie ich, und Pepi sagte, daß er eine Art Bruder von mir sei. So erwiesen wir ihm denn alle geschwisterlichen Ehren, fütterten ihn, beschenkten ihn, luden ihn ein, an unseren Spielen teilzunehmen. Er aß, was man ihm auftischte, er nahm, was man ihm anbot, aber er dankte nicht, er lächelte nicht; er verhielt sich uns gegenüber trotzig wie ein Bock. Leichten Herzens sagten wir ihm Lebewohl, wenn er sich wieder empfahl. Anischa begleitete ihren Besuch zum Wägelchen, das ihn vor dem Dorfwirtshaus erwartete. Sie hatte rote Augen, wenn sie zurückkam, war aber nicht mehr so bedrückt und befangen wie tagsüber während der Anwesenheit des wortkargen Bäuerleins. Ein anderes Ereignis wiederholte sich gleichfalls alljährlich, dieses aber im Frühjahr und fast unmittelbar nach der Ankunft auf dem Lande. Da war es gewöhnlich unsere Großmutter, die eines Morgens eintrat und sagte: "Pepi, der Bader ist da," worauf Pepi ihrem Schranke ein Paket Wäsche entnahm und das Zimmer verließ. An einem solchen Tage sahen wir sie nicht mehr; sie kam erst am folgenden wieder, hatte einen verbundenen Arm und speiste uns mit einer ausweichenden Antwort ab, wenn wir sie fragten, wo sie gestern gewesen sei, und warum sie einen Verband trage. Einmal aber schlichen Adolf, der ältere der Brüder, und ich ihr nach bis zum ersten Absatz der Treppe, und von dort aus sahen wir sie in eines der

1 Hanna, zwischen der March und ihrem Zufluß, der Hanna, gelegener Landstrich in Mähren. 2 Frau Gevatterin.

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sonst immer verschlossenen ebenerdigen Zimmer treten. Wir schlichen weiter bis zum nächsten Absatz und bis zum dritten, und endlich bis zur Tür, hinter der Pepi verschwunden war. Drinnen im Zimmer wurden Sessel gerückt, es wurde Wasser in Gläser und Lavoirs geschüttet, und eine fremde Männerstimme sprach höhnisch: "Fürchten S'Ihnen? Recht haben S'. Warten S'nur, was Ihnen heut geschieht!" Du lieber Gott, was ging da vor? Von Angst und von Helfedrang ergriffen, warfen wir uns gegen die Tür. Sie war verschlossen. Wir schrieen und klopften und hörten Pepi klagen: "Jesses, die Kinder!" "Ruh geben! Draußen bleiben!" wetterte die Männerstimme. In starrem Entsetzen schwiegen wir eine Weile. Endlich wurde die Tür von innen aufgesperrt, geöffnet, und heraus trat das Stubenmädchen und hielt in der Hand eine große Schale voll Blut. Nun überstieg unsere Bestürzung alle Grenzen. Blut! Blut! So viel Blut! Von wem das viele Blut? "Von der Pepi," antwortete das unbegreifliche Mädchen ganz gleichgültig. "Der Doktor hat ihr zur Ader gelassen. Und jetzt seien Sie still, sonst wird der Doktor auch Ihnen zur Ader lassen." "Zur Ader gelassen! Was ist das? Wie ist das? Muß man sterben, wenn man zur Ader gelassen bekommt?" Sie lachte und riet uns, gleich hinaufzugehen, wenn wir nicht noch gestraft werden wollten für unsere Neugier. Die Neugier blieb vorläufig ungestillt, aber unsere Seelenruhe wurde uns zurückgegeben, denn drinnen in der Stube erhob die Stimme Pepinkas sich in alter Kraft und befahl den "verdunnerten Kindern", sogleich zur Anischa zu gehen. Wir gehorchten und hatten dann noch einen sehr guten Tag fast uneingeschränkter Freiheit, und am Abend erzählte uns Anischa, viel länger, als ihr sonst erlaubt wurde, schöne, wundervolle Märchen. O welch ein Erzählertalent war unsere Anischa! Wie verstand sie zu schildern, zu spannen, ihre Phantasiegebilde klar und lebendig hinzustellen, sie aufsteigen, vorüberschweben, entschwinden zu lassen! Jammervoll nüchtern erscheint mir die Kinderstube, aus der die Märchenerzählerin "grundsätzlich" verbannt ist. Wir haben das Glück genossen, uns nach Herzenslust in einer Wunderwelt ergehen zu dürfen, sowohl als kleine wie später als größere Kinder. Es war uns ein stolzes Vergnügen, eine Menge zu hören und zu sehen, was andere nicht hörten und nicht seihen: im Gurgeln des Brunnens am Ende des Gemüsegartens die Stimme des Wassermanns; im Glanz, der im Hochsommer über die Ähren fliegt, huschende Lichtgeister, und Elfchen im Laube, wenn es leise zu rascheln beginnt. Diese Elfchen, wußte Anischa, sind zu Mittag nicht größer als Libellen. Aber sie wachsen sehr, sehr geschwind, und um Mitternacht sind ihre Flügel wie Adlerflügel, und das Laub stöhnt, wenn sie mit Windeseile hindurchfegen. 11

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"Ja gewiß! ja, es stöhnt!" Wir alle behaupteten es. Jedes von uns wollte einmal um Mitternacht wach gewesen sein und das Stöhnen vernommen haben. Nur unsere Sophie, d i e nicht, die wußte noch nichts von Wassermännern, Irrwischen und Elfen. Sie schlief schon lang, diese Kleine, zur Stunde des Märchenerzählens, und Anischa saß neben ihrem Bettchen, und wir saßen auf Schemeln zu ihren Füßen. Ganz anders arg und grausig als das Stöhnen des Laubes beim Wehen leiser Lüfte waren die schrillen Schmerzenslaute, die sich erhoben, wenn ein heftiger Sturm die Ecke des Hauses, die wir bewohnten, umrauschte. Es brach aus ihm wie Schluchzen, flüsterte wie hastiges Flehen, glitt über die Fensterscheiben mit tastenden Fingern... "Hört ihr?" fragte dann eines von uns die andern, "das ist Melusine, die ihre Kinder sucht, nach ihnen ruft, um ihre Kinder jammert und weint." Melusine... Grad ist sie vorbeigeflogen; meine Schwester hat ihren weißen Schleier erblickt und sagt ganz leise: "Lösche das Licht, Anischa, daß sie uns nicht sieht; sie glaubt vielleicht, wir sind ihre Kinder, und holt uns." Ein Märchen gab's, das erzählte Anischa nur mir allein, weil ich so couragiert war. Meine Schwester, die kleinen Brüder durften nichts hören von der "zlâ hlava" \ sie hätten lang nicht einschlafen können und schwere Träume gehabt. Diese "hlava", das war ein Kopf, nichts weiter als ein Kopf, ohne alles Zubehör. Er hatte struppige Haare und einen struppigen, feuerroten Bart, Teufelsaugen und Ohren so groß, daß er sie als Flügel gebrauchen konnte. Aber nicht lange, weil er sehr schwer war und bald wieder zu Boden plumpste. Der Kopf war ein König und hatte ein Heer, und im Kriege rollte er ihm voran, eine fürchterliche Kugel, und biß den Menschen und den Pferden in die Füße, daß sie reihenweise tot hinfielen. Er hatte auch eine Königin, die neben ihm schlafen mußte auf dem selben Polster und vor Schrecken über seinen Anblick ganz weiß wurde, immer weißer, und endlich selbst ein Gespenst. Greuliche Untaten beging die "hlava", und eine ihrer schlimmsten war, daß sie der Großmutter Anischas, als diese einmal des Nachts von einem Botengang heimkehrte, auf der Hutweide nachgerollt kam.... Die Großmutter hörte sie pusten, knirschen und schnauben und rannte! rannte! Bis zu ihrem Hause rannte sie; dort aber stürzte sie zusammen und wußte nichts mehr von sich, eine Stunde lang - o länger als eine Stunde! Am nächsten Tag ging der Großvater und mit ihm das halbe Dorf auf die Hutweide, und an der Stelle, wo die Großmutter das Scheuel zuerst pusten, knirschen und schnauben gehört, lag ein großer, runder, weißer Stein, den - man schwor darauf - noch niemand da gesehen hatte. Nur der Hirtenbub behauptete steif und fest, daß der Stein von jeher dagewesen sei. Aber der Hirtenbub war dumm und ein halber Trottel. Der Stein wurde eingegraben, und heute noch 12

machen die Leute einen Umweg, wenn sie an dem Platz, wo er liegt, vorüberkommen. Ich nahm natürlich Partei gegen den Hirtenbuben. Ich wäre am liebsten gleich nach Trawnik, wo Anischa zu Hause war, gefahren, hätte die Hut5 weide besucht und den gespenstischen Stein ausgegraben. Und je entsetzter Anischa sich stellte über meine Tollkühnheit, desto mehr fühlte ich sie wachsen und verstieg mich zu den Versicherungen: "Ach, ich möchte, ich möchte, daß die hlava einmal mir nachgerollt käme! Ich würde nicht davon laufen, o nein! o nein! Ich würde stehen bleiben - ich! 10 Ich würde mich umsehen und der hlava dreimal nacheinander recht ins Gesicht das heilige Zeichen des Kreuzes machen. Da wäre sie gleich weg. O ich fürchte mich nicht - ich weiß nicht, wie das ist, sich fürchten; ich hab eine große Courage!" * * *

Es war viel Geflunker bei dieser Behauptung. Ich wußte sehr gut, was 15 Furcht sei, denn in der Furcht vor dem Papa waren meine Schwester und ich aufgewachsen. Man hatte sie uns in der Kinderstube eingeflößt durch eine Drohung, die sich nie erfüllte, stets aber wirksam blieb: "Wartet nur, ich sag's dem Papa, und dann werdet ihr sehen!" W a s wir sehen würden, blieb in ein Dunkel gehüllt, das unsere Phanta20 sie mit Schrecknissen bevölkerte. Kein Wunder. Den Zorn unseres Vaters zu erfahren, wäre entsetzlich gewesen. Nicht nur kleinen, auch erwachsenen Leuten leuchtete das ein. So liebenswürdig Papa in guten Stunden sein konnte, so furchtbar in seinem unbegreiflich leicht gereizten Zorn. Da wurden seine blauen Augen starr und hatten den harten Glanz des Stahls, seine 25 kraftvolle Stimme erhob sich dräuend - und vor diesen Augen, dieser Stimme hätten wir in den Boden versinken mögen, wenn wir uns auch nicht der geringsten Schuld bewußt waren. Zum Schaden unseres Verhältnisses zu ihm ließ sich Papa in gereizter Stimmung manchmal zu dem unglückseligen Ausspruch hinreißen: "Nicht 30 geliebt will ich sein, sondern gefürchtet!" Wie sehr er sich damit täuschte, lernten wir später einsehen; als Kinder nahmen wir die Sache als ausgemacht an und taten ihm den Willen, weit über seine eigene Erwartung. Wir zwei Schwestern zitterten und bebten vor ihm; die Brüder waren in seiner Nähe viel unbefangener, obwohl Pepi mit ihrer Drohung, sie der Strenge Papas zu 35 überliefern, gegen sie besonders freigebig war. Ich erinnere mich eines Tages, an dem meine Schwester das Mißgeschick erfuhr, beim Spielen mit dem Balle eine Fensterscheibe einzuschlagen. Nun war uns die peinlichste Sorgfalt für alles Zerbrechliche, das uns umgab, zum Gesetz gemacht worden, und die arme Kleine, die sich so schwer daran ver40 gangen hatte, geriet in sinnlose Verzweiflung. 13

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"Der Papa! Der Papa!" rief sie in Todesangst, kniete auf den Boden nieder, rang die Händchen, faltete sie und schluchzte herzzerreißend. Wir umstanden sie betroffen und ratlos. Großmama, die neben uns wohnte, war auf Fritzis Geschrei herbeigeeilt, und sie und Pepinka sprachen der Armen Trost zu und bemühten sich, sie zu beruhigen. Ganz umsonst. Sie war schon blau im Gesichte, stoßweise rang sich der Atem aus ihrer Brust, in Bächen rannen die Tränen über ihre Wangen. Großmama, sehr besorgt, tauschte leise einige Worte mit Pepi. Dann, nach einem neuen, vergeblichen Versuch, ihre kummervolle Enkelin zu beschwichtigen, verließ sie das Zimmer. Bald darauf betrat sie es wieder, und wer kam hinter ihr hergeschritten? Der unbewußte Urheber all dieses Leids und Schreckens - der Papa. Lautlose Stille empfing ihn. Fritzi verstummte. Keines von uns regte sich. Der Blick des Vaters glitt über die Gruppe seiner bestürzten, angsterfüllten Kinder und blieb auf der kleinen Knieenden haften. Sie war wie versteinert. Ihre prachtvollen braunen Augen starrten weitgeöffnet zum Vater empor; nur die Lippen des schmerzverzogenen Mundes zuckten. Und jetzt ließ sich eine überaus sanfte Stimme schmeichelnd, ja bittend vernehmen: "Fritzi, meine Fritzi, weine nicht! Meine Fritzi soll nicht weinen, meine Fritzi ist ja brav. Ich hab ja meine Fritzi lieb!" Und auf einmal sahen wir unsere Älteste hoch über uns erhoben in den Armen Papas und hörten sie wieder schluchzen, aber bei weitem nicht mehr so heftig wie früher. Der Papa lachte: "Dummheit! Dummheit. Die Fritzi hat ein Fenster zerschlagen; das macht nichts. Der Papa ist ja gar nicht bös - der Papa.... Schau her, Fritzi, schau, was der Papa tut!" Er ließ sich ihren Ball reichen und schleuderte ihn durch das nächste Doppelfenster, dessen beide Scheiben er, wie aus der Pistole geschossen, durchflog. Eine Sekunde schweigender Überraschung und dann lag, an die Schulter des Papas geschmiegt, Fritzis selig lächelndes Gesichtchen. Sie weinte noch, aber Tränen heller Freude und Dankbarkeit. Und Papa tanzte mit seinem Töchterchen in den Armen im Zimmer herum, und wir jauchzten und jubelten ihm zu. Ich indessen, gelehrig, wie ich nun einmal war, machte mir eine Nutzanwendung aus dieser Begebenheit. Unser Frühstück bestand aus Milch und aus Königskerzentee, von uns Himmelbrandtee genannt. Die Blüten, aus denen er bereitet wurde, sammelten wir auf unsern Spaziergängen selbst und fanden das Getränk köstlich. Leider wurde uns der Genuß dieser Delikatesse sehr vergällt durch den Anblick der Kannen, in denen man sie auftrug. Sie gehörten zu den Überbleibseln eines Vieux Saxre-Käferservices, das heute ein Vermögen wert wäre. Damals hatte der Fluch des Veralteten sie getroffen. Auf der "herrschaftlichen Tafel" prangte modernes englisches Steingutgeschirr; die Tische der Dienerschaft und der Kinder besetzte man mit beschädigtem Vieux Saxe. 14

Ich fand das unwürdig, ich fand, daß auch wir etwas Modernes haben sollten, ich feindete besonders unsere Teekanne an mit ihrem defekten Schnabel und ihren grauslichen fliegenden Käfern. Der Moment schien mir, nach der Erfahrung, die wir gestern gemacht hatten, äußerst günstig, um ihr den Un5 tergang zu bereiten. So wartete ich nur, bis unsere Tassen alle gefüllt waren; dann holte ich aus.... Ein Schlag - die alte Kanne wankte, stürzte, und die Käfer taten ihren letzten Flug - auf den Boden. Nun aber gestalteten sich die Folgen ganz anders, als ich es mir ausge10 dacht hatte. Meine Erwartung, daß Papa geholt werden und daß er sofort auch die Milchkanne zerschlagen würde, erlitt eine bittere Enttäuschung. Es kam unserer Pepinka dieses Mal nicht in den Sinn, eine höhere Instanz anzurufen. Sie wählte zur Bestrafung meines Angriffs auf die Sicherheit des Porzellans - das standrechtliche Verfahren. **#

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Den ersten Unterricht im Lesen und Schreiben erteilte uns Herr Volteneck, der Verwalter von Zdißlawitz. Er hatte eine rundliche Gestalt und einen an den Schläfen eingedrückten, länglichen Kopf und nahm sich von weitem aus wie ein Zylinder mit einer kleinen Gurke darauf. Seine Leibfarben waren Braun und Gelb, braun die klugen, sanften Augen, das schlichte Perückchen, die Umgebung der unaufhörlich nach Schnupftabak verlangenden Nase und die Fingerspitzen, die ihr den aromatischen Staub zuführten. Gelb waren die kleinen Hände und das kleine Gesicht. Die Seelenfarbe dieses Mannes aber kann nur das zarteste Apfelblütenrosa gewesen sein. Schon unter meinem Großvater hatte er die Stelle der amtierenden Gerichtsperson auf dem Gute redlich und ehrenfest versehen und genoß allgemeine Hochachtung. Dabei war er das Stichblatt schlechter Witze, die besonders unter den Schloßleuten unkrautmäßig wucherten. Er hatte eine eigene Manier, von Zeit zu Zeit seinen Rock an der Brust mit beiden Händen zu fassen und gegen den Nacken hinzuschieben. Die Gewohnheit, behauptete man, ist ihm vom Kuttentragen geblieben, denn die Kutte hat er getragen, er ist ein entlaufener Kapuziner. Und nun hätte er seinen ganzen Lebensgang wahrheitsgetreu darstellen, hätte urkundlich nachweisen können, daß er nie einen Tag im Kloster zugebracht, geistliche Kleidung nie getragen hatte, - alles umsonst! Sie wären nicht zu erschüttern gewesen in ihrer Überzeugung: er ist und bleibt ein davongelaufener Kapuziner. Zum Unglück hatte der reizlose, ältliche Mann den Mut gehabt, eine hübsche, junge Frau heimzuführen, die nicht gerade pedantisch gewesen sein soll im Festhalten an der ehelichen Treue. Darüber wurde oft gespöttelt, in 15

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verhüllter Weise sogar in seiner Gegenwart. Wir wußten natürlich nicht, um was es sich handelte; aber wir sahen, daß er ausgelacht wurde, und unsere Empörung darüber war groß, denn wir liebten diesen guten, alten Menschen und langmütigen Lehrer. Wir liebten ihn schon um seiner herrlichen Schrift willen. Da war keine, von der einfachen Kurrent bis zur Kyriliza, die er nicht hingemalt hätte in unsere Zensurenbüchlein, leicht und schwungvoll, daß die Feder hinschwebte in kleinen und großen Linien, Kreisen und Ovalen, wie durstige Schwalben spielend über dem Wasser schweben. Im Zensurenbüchlein meiner Schwester wimmelte es von "ausgezeichnet"; ich brachte es selten zu einem "sehr gut", und auch dieses war meist ganz mager hingehaucht, gleichsam der Schatten eines "sehr gut". Dabei ging es vollkommen gerecht zu. Meine Schwester konnte schon geläufig lesen, während ich noch die Kunst des Buchstabierens nicht völlig innehatte. Papa pflegte sich selten und auch dann nur oberflächlich nach dem Fortgang unserer Studien zu erkundigen. Ein kurzes: "Brav sein!" war alles, was er mir sagte, wenn er auf seine Frage: "Sind sie fleißig?" die Antwort erhalten hatte: "Fritzi sehr, und Marie wird es auch werden." Einmal aber, wie es bei ihm meist geschah, machte etwas, das er oft übersehen und überhört hatte, ganz plötzlich Eindruck auf ihn. "Werden? Oho, erst werden?" wiederholte er das letzte Wort, das Mama gesprochen hatte, wandte den Kopf und sah mich an. Es war bei Tische. Obenan saß unsere hebe Mama, unsere Großmutter zu ihrer Rechten, unser Vater zu ihrer Linken. Dann war ein langer Zwischenraum an dem großen, ovalen Tische, und dann kamen wir zwei, meine Schwester und ich. "Kann sie vielleicht noch nicht lesen? Hat im Frühjahr angefangen, lernt jetzt schon den ganzen Sommer und kann noch nicht lesen?" setzte Papa sein Verhör fort, und ein Strafgericht drohte aus seiner Stimme. Eine Verhandlung zwischen ihm und Mama folgte. Unsere Großmutter schwieg; sie mischte sich nie in eine Beratung der Eltern, die uns betraf. Es ist mir später klar geworden, daß Papa die "Methode" des Herrn Verwalters angezweifelt und den Besitz einer besseren - sich selbst zugeschrieben hat. Zu meinem Entsetzen, zur - ich bemerkte es wohl! - stillen Unzufriedenheit Großmamas befahl er mir, morgen früh zu ihm zu kommen. "Allein", schloß er nachdrücklich. Das war ein Wort! Wir betraten immer nur in corpore die Zimmer Papas zum Guten-Morgen- und zum Gute-Nacht-sagen. Damals war nur ein Flügel an das Schloß angebaut; in dem befand sich unsere Wohnimg. Die Papas lag am andern Ende der langgestreckten Front. Ihre Zimmer mündeten auf einen geschlossenen Gang, den wir täglich zweimal durchwanderten. Seine Fenster sahen auf den Hof; der Blumenhof hieß er, und er verdiente seinen Namen, denn er war von Blumengruppen und von hohen, mit blühenden Topfpflanzen be16

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setzten Gestellen umschlossen. Aus dem Hofe führte ein breites Tor, das immer weit geöffnet blieb, in eine tiefschattige, von vier Reihen herrlicher Lindenbäume gebildete Allee. Als ich ein Kind war, da strotzte noch ihr Gezweige von Saft, da waren ihre Blätter hellgrün und weich wie Samt und ihre Blüten voll süßen Duftes. Damals prangten sie in ihrer Vollkraft. Aber Höhe ist Wende. Heute wehren ihre Wipfel den Sonnenschein nicht mehr völlig ab. Er dringt durch das dünn gewordene Laub und wirft den dunklen Stämmen goldige Lichter vor die Füße, wie spielend, wie übermütig fragend: "Seht ihr? da sind wir nun doch!" - Einst, wenn der Wind sich durch die Unzahl der Blätter drängte, da gab's ein weiches Rauschen, ein sanftes, harmonisches Flüstern. Anders ist das jetzt. Anders als in den jungen spielt der Wind in den alten Bäumen. Die Stimmen sind rauh, die er in ihnen erweckt. Ein Knistern und Knarren durchläuft das Geäst; da und dort zerbricht ein dürrer Zweig und fällt... Auf dem Wege zu Papa begleitete uns die Kinderfrau und wartete im Vorzimmer auf unsere Rückkehr. Wenn wir in der Frühe bei unserem Vater eintraten, saß er an seinem Schreibtisch, mit dem Rücken gegen die Tür, hatte große Wirtschaftsbücher vor sich hegen, rechnete und schrieb. Wir wurden meistens freundlich empfangen, küßten ihm eines nach dem andern die Hand, beantworteten seine Frage: "Seid's brav?" immer bejahend und so auch die bald darauf folgende: "Ist die Pepi da? Gut also, also geht." Manchmal durfte er in seiner Arbeit nicht unterbrochen werden. Da hieß es: "Seid ruhig, wartet." Man wartete, rührte sich nicht und hatte Zeit, sich mit schüchterner Neugier im Zimmer umzusehen. Es kam mir größer vor als alle anderen im Hause, und jeder Gegenstand darin hatte etwas Eigentümliches und erregte mein ganz besonderes Interesse. Wie merkwürdig war schon der Lüster, der an vergoldeten Ketten von der Decke niederhing! Eine flache, mattgrüne, mit Arabesken aus Bronze geschmückte Schale. Aus ihr heraus streckten sich sechs magere, sehnsüchtige Arme und trugen in ihren Händen tulpenförmige kleine Urnen, aus denen vergilbte Wachskerzen emporragten. Einen sehr ernsten Eindruck machten die schwarzen Möbelgestelle, der umfangreiche, schwarze Schreibtisch und die Schwärze der ganzen Gesellschaft von Schränken und Etageren. Über dem Kanapee, das rechts an der Längswand stand, hing ein Bild, das ich mit dem Bück eben nur zu streifen wagte, weil mir sonst heiße Tränen der Rührung in die Augen schössen. Es war eine schöne Radierung und stellte einen Invaliden der grande armée vor, einen alten Mann in verbrauchter Uniform. Er saß auf einem Bänkchen vor einer niedrigen Hütte. Sein kahles Haupt war gebeugt, seine Arme lagen auf den ausgespreizten Knieen; er hielt sein Taschentuch in den Händen und ruhte aus von einer traurigen Arbeit. An der Wand neben ihm lehnte die Schaufel, mit der er eine Grube gegraben hatte für einen treuen 17

Gefährten - seinen Hund. Der lag zu seinen Füßen, das gebrochene Auge noch auf den Herrn gerichtet. - "Ich habe dich schwer verlassen", schien es zu sagen, "aber ich mußte fort; es war ja hohe Zeit. Sieh mich nur an, lieber Herr. Bin ich nicht zum Kinderspott geworden, so alt und abgezehrt und 5 häßlich? Mut, lieber Herr, steh auf und lege mich in die Grube, die du für mich gegraben hast. Ich werde da schlafen, und - Hunde träumen ja, weißt du - träumen, daß wir wieder jung sind, wir zwei, und schön und gesund. Entschließ dich, lieber Herr...." Endlich wird der Invalide doch aufstehen, nach der Schaufel greifen und 10 den guten Hund begraben und dann keinen Freund und keinen Kameraden mehr haben und nichts mehr auf der Welt... Noch andere Bilder hingen an den Wänden, Radierungen und Kupferstiche, lauter Erinnerungen an die Feldzüge gegen Frankreich, die unser Vater mitgemacht hatte, an Erzherzog Karl und an Napoleon. Und auf dem 15 Schreibtisch befand sich ein Aquarellbildchen und stellte drei hübsche Offiziere in Uniform, drei junge Hauptleute, dar: unseren Vater und seine zwei Brüder, und diese seine zwei Brüder waren vor dem Feinde geblieben. "Vor dem Feinde geblieben." Ich hörte das sagen und fragte mich, was es bedeuten sollte. Es schien etwas Trauriges und Schönes zu sein. Papa sprach 20 es immer in sehr ernstem und sehr stolzem Tone aus. Und auch das wirkte ergreifend auf mich und trug dazu bei, die ehrfürchtige Scheu zu erhöhen, mit der ich in seinem Zimmer stand. ***

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Und nun galt's, wie Papa gestern befohlen hatte, mich allein in sein imponierendes Bereich zu begeben. Mama begleitete mich bis zur Schwelle des Eingangszimmers, blieb dort stehen und machte mir, als ich mich nach einigen Schritten umwandte und ihr Lebewohl zuwinkte, ein Zeichen, vorwärts zu gehen und dann anzuklopfen. Ich tat's, und: "Herein!" tönte es mir laut und barsch entgegen. Ein ermutigender Empfang wurde mir nicht zuteil. Papa reichte mir zwar die Hand zum Kusse, ließ aber vom Moment meines Eintretens an fortwährend seinen Blick forschend und streng auf mir ruhen und fragte endlich: "Was ist dir denn? Was machst du für ein Gesicht? Mir scheint, du fürchtest dich. Du hast ein schlechtes Gewissen. Wer kein schlechtes Gewissen hat, fürchtet sich nicht." Nun war das Unglück fertig. Nun mußte ich ja überzeugt sein, daß ich ein ganz elendes Gewissen hatte, denn wahrhaftig, ich zitterte vor Angst. Ach, es war danach! Alles war danach. Was lag auf dem großen, schwarzen Schreibtisch, auf dem Platze, den sonst die Wirtschaftsbücher einnahmen? Eine Fleißarbeit Papas. Bewunderungswürdig im Grunde. Viereckige 18

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Blättchen von gleicher Größe aus Kartenpapier. Man sah ihnen die Sorgfalt und militärische Pünktlichkeit an, mit der sie zugeschnitten und reihenweise in gleichen Abständen von einander geordnet worden waren. Jedes einzelne von ihnen trug ein dick und deutlich ausgeführtes Zeichen. Ein gut gekanntes und gut gehaßtes Zeichen - einen Buchstaben. "Was ist das?" fragte Papa und wies, nicht ohne Wohlgefallen, auf das kleine papierne Pikett vor ihm. Ich meinte, es seien Buchstaben. "Ja, ja, Buchstaben, natürlich. Aber das Ganze da - das Ganze!" "Buchstaben... viele Buchstaben..." Bei den Buchstaben blieb ich. Wie die Familie heißt, wenn sie vollständig versammelt ist, wußte ich nicht. Ich wußte überhaupt bald gar nichts mehr, nicht einmal ein A von einem I zu unterscheiden und auch nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, als Papa ein geringschätziges "I! A!" ausstieß. Der einzelnen Vorgänge bei diesem denkwürdigen Examen kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur einer großen Verwirrimg, die in den Reihen der schnurgerade aufmarschierten Kärtchen eintrat, entsinne ich mich: sie wanden sich wie Schlangen, sie tanzten, bildeten Gruppen, stoben davon nach allen Richtungen. Und dabei deutete Papas Finger unbeweglich auf eine Stelle, die für mich abwechselnd von einem a, einem b, einem r besetzt war. Einen Buchstaben um den andern nannte ich, riet und riet und erriet nicht. Die Qual dauerte lang. Mein armer Papa, der Selbstbeherrschung doch so ungewohnt, nahm sich zusammen, wiederholte die selbe Frage mehrmals, ohne die Stimme allzusehr zu erheben. Die meine aber wird zuletzt gar keinen Laut mehr gehabt haben. Ich vermochte trotz aller Anstrengung nicht, auch nur ein vernehmliches Wort über die Lippen zu bringen und nahm in hilfloser Bestürzung das Urteil entgegen, daß ich - ein großes Mädel von fünf Jahren - mich mit Schande beladen habe. Der kurze Spruch Papas schloß mit dem Befehl: "Hinaus!" Ich besorge sehr, ihn mit unanständiger Geschwindigkeit und ohne Abschiedsgruß erfüllt zu haben. Noch hatte ich auf meinem Rückzug das Eingangszimmer nicht durcheilt, als Papa mir nachkam, die Tür vor mir öffnete, mich hinausschob und mit einem raschen Wurf das ganze Alphabet über mich ausstreute. Dann flog die Tür hinter ihm zu, und ich kauerte auf dem Boden, sammelte hastig die Kartenblättchen in meine Schürze und lief, so rasch ich konnte, davon. Und nun muß ich sagen: Dieser Buchstabensprühregen, den mein Vater mir damals nachschickte, ist die einzige "Gewalttat" gewesen, die ich je durch ihn erfuhr. Seine Hand hat mich nie unsanft berührt, er hat seine Stimme nie laut gegen mich erhoben, dieser fürchterliche, liebe, gute Papa. * * *

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Wie oft höre ich junge Leute und Kinder sogar behaupten: "Bei mir richtet man nur mit Güte etwas aus, aber mit Strenge nichts." Das kommt mir vor, wie wenn eins sagte: "Vom schmeichelnden Lüftchen lasse ich mich allenfalls dirigieren, dem Orkan trotze ich." Du armes Reislein! Ein Zornesausbruch unseres im Grund der Seele so guten Vaters schloß jeden Gedanken an Widerstand aus. Ob sich ein solcher Ausbruch zu dem, was ihn veranlaßt hatte, in einem halbwegs erklärlichen Verhältnis befand, die Frage stellten wir uns nicht. Wir meinten, daß man an der Handlungsweise seines Vaters Kritik nicht üben kann. In späteren Jahren verwandelte das "kann" sich in ein "darf'. - Einem jungen Menschen von heute muß es schwer fallen, unsere Empfindungsweise zu begreifen. Es gibt ja kaum etwas, das sich in einer Zeit, die ich zu überdenken vermag, so verändert hätte wie die Art des Verkehrs zwischen Eltern und Kindern. Wenn unsere Großmutter von ihrer Mutter sprach, sagte sie: "unsere Allergnädigste" und neigte leise das Haupt. Unsere Mutter sagte "Sie" zu ihrem Vater. Er war ihr geistiger Führer, ihr alleiniger Lehrer. Von ihrer Hand beschriebene Hefte, die sich bei uns zu Hause in der Bibliothek erhalten haben, geben Zeugnis von dem Ernst und der Gründlichkeit der Studien, die er sie treiben ließ. Aus jeder Zeile ihrer auch noch vorhandenen Briefe an ihn spricht unbegrenzte Ehrfurcht. Wir standen mit unserem Vater auf dem Duzfuße; er war aber ungefähr von der Sorte, auf dem sich das russische Bäuerlein mit dem Väterchen in Petersburg befindet. Von einer Seite ein unbeschränktes Machtgefühl, von der anderen Unterwürfigkeit. Heute ist das anders. Die Jugend steht obenan; sie wertet und entwertet. Das Alter sieht bewundernd oder grollend zu. Ich staune nur, wie rasch es abdiziert hat. Komisch fast ist die Eilfertigkeit, mit der es sich in die Ecke drückt, um dem vorbeibrausenden Zug der Jugend nur ja nicht im Wege zu sein. Dankbarkeit erhellt die Gesichter der Eltern, wenn ihre Söhne oder ihre Töchter auf der Jagd nach Brot, nach Glück, nach Ruhm einen Augenblick Halt machen, um den Alten einen Lappen ihrer kostbaren Zeit zu schenken. Und auch gute moderne Kinder haben dabei doch das Gefühl eines Zugeständnisses, das sie den unmodernen Eltern machen. Es ist so, und je tiefer ins Greisenalter ich hineingerate, um so mehr Hochachtung bekomme ich vor dem, was i s t. Mein Vater hätte sich zu ihr nie bequemt; was in seinen Tagen für das einzig Rechte und Gehörige galt, sollte in allen Tagen dafür gelten. Er hatte von Kind auf Subordination geleistet, hatte sie von seinem Jünglingsalter an pflichtgemäß zu fordern gehabt. Gehorsam! Wie ferner Donner rollte das r am Schluß der zweiten Silbe, wenn er dieses Wort befehlend aussprach.

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Wie seine beiden Brüder, Josef und Fritz, war unser Vater Zögling der Theresianischen Ritterakademie gewesen und hatte sie verlassen, um Kriegsdienste zu nehmen. Josef, den Ältesten, traf bei Dresden 1813 die tödliche Kugel. Der Jüngste, Fritz, fand vor Parma 1814 einen Heldentod. Unser Vater, bei einer glänzenden Waffentat in der Nähe von Cléry an der Loire schwer verwundet, geriet in französische Gefangenschaft. Im Jahre 1816 trat er, noch nicht völlig hergestellt, in den Ruhestand. Das militärische Wesen, die gerade Haltung, den strammen Gang behielt er bis ins höchste Alter bei. Mit einem großen Vorrat an positivem Wissen hatte er sich nicht beladen und lebte in dieser Beziehung sozusagen von der Hand in den Mund. Doch litt er dabei keinen Mangel. Sein guter, klarer Verstand, sein Schönheitssinn, seine Schlagfertigkeit und Beobachtungsgabe ließen ihn nie im Stiche. Er verzichtete gern auf vieles, das sich erlernen läßt, weil er reich war an vielem, das sich nicht erlernen läßt. Er hatte Sinn für Poesie und war ein Freund der Musik; nur durfte sie nicht zu ernst sein. Vor allem aber war er ein Freund des Theaters, und für ihn wie für so viele ist das Burgtheater ein mächtiges Bildungsmittel gewesen. Bis kurz vor seinem Tode blieb er ein treuer Besucher des geliebten alten Hauses. Die Aufführung eines klassischen Stückes "in der Burg" versäumte er nie und verließ seine Loge nicht, bevor das letzte Wort gesprochen und der Vorhang gefallen war. Dabei schämte er sich aber durchaus nicht, zu gestehen, daß kein noch so großes "Vergnügen an tragischen Gegenständen" ihm die Wonne aufwog, ein Theaterstück Raimunds aufführen zu sehen. Raimund stand von allen Dramatikern seinem Herzen am nächsten. Und wie viel von seiner liebe- und verständnisvollen Sympathie für das Wesen, für das Schaffen, für den ergreifend wehmütigen Humor unseres altösterreichischen Dichters hat er uns vererbt! Lange bevor wir ins Theater geführt wurden, hatten wir die Bekanntschaft des Verschwenders, des Herrn Rappelkopf, des Barometennachers auf der Zauberinsel gemacht und verdankten sie den Erzählungen unseres Vaters, die er so gern und so oft wiederholte. Sein Reichtum an Geschichten und Anekdoten war unerschöpflich. Es gab ihrer von allen Sorten, lustige und traurige. Es gab auch lange, komische Gedichte, von denen wir nie mehr als den Anfang zu hören bekamen. Das Schönste, uns Liebste blieben aber doch immer die Erzählungen Papas von seinen Erlebnissen während der Kriegsjähre. Schlicht, einfach und klar brachte er sie vor, mit edler Bescheidenheit. Der Ausdruck seines Gesichtes wurde mild und weich, und seine Augen, die er fest auf einen Punkt in der Ferne richtete, trübten sich, wenn er seiner Brüder gedachte. Ich habe im Ohr noch den Klang der Stimme, mit dem er von dem letzten Zusammentreffen mit ihnen sprach, das ihm beschieden gewesen war. Der nächste Morgen trennte sie; in wenigen Tagen standen sie alle vor dem Feinde. Josef, schon mehrmals verwundet und nur notdürftig geheilt, hatte Todesahnungen. Fritz sprach übermütig: "Die Kugel, die mich trifft, ist noch nicht gegossen!" Mein Vater forderte beide zu einem feierli21

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chen Gelöbnis auf: "Der zuerst fällt, gibt den Überlebenden ein Zeichen. W e n n eine Möglichkeit dazu vorhanden ist, geschieht's". Sie schworen es sich zu: Der fällt, grüßt die Überlebenden. Aus dem Jenseits grüßt eine Liebe, die stärker ist als der Tod. Zwei der Brüder waren hinübergegangen, und der dritte hatte gehofft und geharrt und sich nach dem verheißenen Zeichen gesehnt. Es kam nicht es k ο η η t e nicht gegeben werden... Den Behauptungen eines Verkehrs mit Verstorbenen setzte mein Vater den schroffsten Unglauben entgegen: "Es führt kein Weg von drüben zu uns, sonst hätten meine Brüder ihn gefunden," sagte er. Unter den vielen "Geschichtchen", an denen wir uns nicht satt hören konnten, zeichnete sich besonders das von dem kleinen französischen Herrn mit dem blauen Mantel aus. Sein Schauplatz war Troyes. Dort hielt an einem kalten Märzmorgen der Zug der Gefangenen, die man nach der Normandie brachte, eine kurze Rast. Viele Leute eilten herbei, um ihn zu sehen; die Verwundeten erregten besondere Aufmerksamkeit. Der Leiterwagen, in den man meinen Vater mit anderen Blessierten auf Stroh gebettet hatte, wurde umdrängt; Neugierige kamen herbei, Männer und Frauen - auch junge, hübsche. Peinlich für Einen, der gewöhnt war, jungen Frauen ganz andere als mitleidige Gefühle einzuflößen. Und gerade er sah wohl unter allen Leidensgefährten am bedauernswürdigsten aus. Marodeure hatten ihn ausgeplündert, als er bewußtlos auf dem Schlachtfelde lag. Seine Wunden schmerzten, Fieberfröste schüttelten ihn, mühsam richtete er sich auf. Sein Blick wandte sich von den Leuten, die ihn umgaben, ab und begegnete dem eines kleinen, alten Herrn, der in einiger Entfernung am Eingang eines Hausflurs stand. Er trug einen blauen Mantel mit schwarzem Kastorkragen, der am Halse mit einem Kettchen aus Stahl geschlossen war. Langsam löste der kleine alte Herr das Kettchen, schritt auf meinen Vater zu, nahm den Mantel von den Schultern und reichte ihn dem freudig Überraschten mit dem einzigen Worte: "Tenez!" Er wartete den Dank nicht ab, er war gleich wieder in seinem Hausflur verschwunden. Das war eine Wohltat, dieser fadenscheinige Mantel, dessen Eigentümer nicht danach aussah, als hätte er viele überflüssige Kleidungsstücke zu verschenken. Lieber, kleiner, alter Herr aus Troyes, dein Geschenk war königlich, deine ärmliche Spende so reich! Im Lichte bleibt dein Andenken für uns, die wir als Kinder dich verehren lernten. Die Gefangenen kamen am Hauptquartier Napoleons vorbei. Sie sahen den Imperator. Er war zu Pferde, sehr blaß, prachtvoll sein Cäsarengesicht, die Gestalt schwer und aufgedunsen. Mit einigen der Unglücklichen im Zuge sprach er und ließ ihnen Geld reichen. Mein Vater erhielt dreihundert Francs, die ihm sehr zugute kamen während seiner Internierung in Caen. 22

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Dort fand er sich vortrefflich aufgehoben bei einem braven, alten Ehepaare. Auch für diese beiden Leute hegte er eine unaussprechliche Dankbarkeit und konnte die soupe à l'oignon nicht genug loben, die zu kochen seine Hausfrau verstand. Als seine Wiederherstellung fortschritt und er auch feste Nahrung zu sich nehmen durfte, kaufte er sich ein Messer, mit dem er Brot in die Suppe einschnitt, ein großes Taschenmesser mit grauer Hornschale und mehreren Klingen. Es hat immer auf seinem Schreibtisch gelegen, und man brauchte es nur mit der Fingerspitze leise anzutippen und zu sagen: "Nicht wahr, Papa, das hast du in der Normandie gekauft?" Alsbald waren die alten Erinnerungen alle geweckt, und er ließ sie vor uns aufsteigen in deutlichen, farbigen Bildern. Wir sahen den Hauptmann Dubsky für tot auf dem Kampfplatz bei Cléry liegen, sahen die Marodeure herankommen, die ihn ausplünderten und ihn ganz tot gemacht hätten, wenn er nicht auf einige Worte, die sie an ihn richteten, in ihrer Sprache geantwortet hätte. "Laisse le vivre, il parle français", sagte einer zum andern. Dann wurde er auf einen Wagen gehoben und fortgeführt in Feindesland. - O, wie litten wir mit ihm und sorgten jedesmal von neuem, daß es ihm nun schlecht ergehen werde! Aber bald kam trostreich der blaue Mantel zum Vorschein und imponierend der Anblick des Kaisers Napoleon und endlich zur Erquickung die soupe à l'oignon. Wie unser Vater hielten auch wir seine Erinnerungen hoch in Ehren und stimmten ihm von Herzen bei, wenn er eine summarische Verurteilung der Franzosen nicht duldete. Er sprach immer mit der größten Anerkennung von ihnen, gegen die er jahrelang im Felde gestanden hatte. Es war damals allgemein so üblich: man schoß den Feind tot, aber man verleumdete ihn nicht.

Mein Vater besaß in hohem Grade die männliche Tugend der Gerechtigkeit. Eigensinn kannte er nicht. Wenn er, hingerissen von seinem leidenschaftlichen Temperament, ein zu hartes Urteil gefällt, eine zu strenge Strafe 30 diktiert hatte, ruhte er nicht, bevor es ihm gelungen war, seine Schuld glänzend gutzumachen. Die Lüge verabscheute er, und daß man feig sein könne, begriff er nicht. Nicht einmal den Frauen verzieh er Furchtsamkeit, und was andere in Schrecken versetzt, löste bei ihm eine Wallung des Zornes aus. Viele starke und überzeugende Beispiele wüßte ich davon zu geben, doch 35 will ich nur ein kleines anführen, weil es so charakteristisch ist. In Zdißlawitz wurde das Eintreffen eines Trupps ungarischer Ochsen erwartet, die zur Mast eingestellt werden sollten. Wir Kinder hatten uns im Meierhof eingefunden, um ihren Einzug mitanzusehen. Papa beorderte uns auf die Rampe den Stallungen gegenüber und blieb mit den Beamten in der 40 Nähe des breiten Hoftores stehen. Eine Staubwolke kündigte das Heranna23

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hen der Fußreisenden an. Sie kamen, geleitet von ihren Treibern, wegmüde, die ganze Herde mit den riesigen, spitzen Hörnern, den breiten Köpfen, mageren Leibern, eingefallenen Flanken. Der Burggraf, ein großer, stattlicher Mann, trat an die Tiere heran, rief den Treibern, den Stalleuten Befehle zu. Auf einmal hörte man ihn ein Angstgebrüll ausstoßen und sah ihn entfliehen... Die übrigen Beamten stoben auseinander wie Spreu, in die ein Windstoß fährt. Ein Ochse war wild geworden und stürzte schnaubend, den Kopf gesenkt, den Schwanz emporgereckt, auf den Platz zu, den sie früher eingenommen hatten, und auf dem mein Vater jetzt allein stand. - Er aber, empört über die Frechheit des Gastes, sprang ihm entgegen, schwang das Spazierstöckchen und rief mit drohender Stimme: "Na - du!" Uns stockte der Atem. Die erschrockenen Treiber schrien und ließen ihre Peitschen knallen. Der aufgeregte Sohn der Steppe besann sich, bog aus und schloß sich wieder seinen Gefährten an. Noch eine Eigenschaft darf ich meinem Vater nachrühmen: die Treue. Wer seine Liebe errungen hatte, dem blieb sie ein unverlierbarer Besitz. S e i n e Frau war für ihn die einzige in der Welt. Leicht mochte er freilich auch der geliebtesten das Leben nicht gemacht haben; dazu war er zu sehr Kampfnatur, dem raschen Wechsel seiner Stimmungen zu sehr unterworfen. Die Ausgeglichenheit fehlte und auch der feine Blick für die Vorgänge im Gemütsleben selbst derer, die ihm am nächsten standen. Aber - nehmt alles nur in allem - er war ein Mann mit warmem Herzen, stark an Leib und Seele. Im Jahre 1825 verheiratete sich mein Vater mit der verwaisten Tochter des in Österreich unvergessenen, um unsere Kunstindustrie hochverdienten Freiherrn von Sorgenthal. Die Ehe war von kurzer Dauer. Seine anmutige, kleine Frau verließ ihn bald. Er hat sie, dankbar für die schwärmerische Liebe, die sie ihm entgegenbrachte, innig betrauert, ein volles Glück aber doch erst in der Verbindung mit seiner zweiten Frau, meiner Mutter, gefunden. Liebreich und sorgsam hat sie alles Gute und Edle in ihm gehütet und entfaltet, hat mit kluger, sanfter Hand die Mängel seines Wesens in den Schatten gedrängt und seine Rauhigkeiten zu mildern gesucht. Die Jahre, in denen sie an seiner Seite gestanden, bildeten die Krone seines Lebens, und er hat die Erinnerung an sie heilig gehalten. Nach ihrem Tode, der völlig unerwartet eintrat, rang er mit der Verzweiflung und wollte dem Leben ein Ende machen, das ihm fortan unerträglich erschien. Ein Zufall, die Dazwischenkunft eines Verwandten, der ihm die schon geladene Pistole entwand, vereitelte den unseligen Entschluß. Einige Wochen nach dem furchtbaren Verluste schrieb mein Vater an seine Schwester nach Wien: "Wie überglücklich bin ich gewesen! Sichtbarlich vom Himmel begünstigt, hatte ich alle Ursache zu fragen: Gibt es wohl einen glücklicheren Menschen auf dieser weiten Erde denn mich? Anders sieht es 24

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nun in mir aus. Aus allen meinen Himmeln geworfen, kann ich nun fragen: Wo ist wohl mehr Schmerz, Kummer und Leiden zu finden als in meinem Herzen, welches statt des ihren hätte aufhören sollen zu schlagen, da für meine armen Kinder der Verlust des Vaters gegen jenen einer solchen Mutter, wie meine Marie war, sowohl in der Gegenwart wie in der Zukunft bei weitem weniger empfindlich gewesen wäre!" Die Zeit verging und übte ihre unwiderstehliche Macht aus. Der Daseinswille, die Sehnsucht nach einer Häuslichkeit erwachten von neuem; er kam zu dem Schlüsse: "Wenn der Himmel mir mein Haus niederreißt, muß ich es mir wieder aufbauen." So hat er denn auch das seine wieder aufgebaut, und abermals wurde es ihm nach kurzer Zeit zerstört. Erst seinem vierten Ehebunde war eine lange Dauer beschieden. Er stand in hohem Greisenalter, als ihm sein Daheim mit grausamer Raschheit noch einmal verödet wurde. Und wenn dieser letzte schmerzvolle Schlag ihn auch in allen Seelentiefen erschütterte, fand der schwer Heimgesuchte allmählich doch seine Fassung und seine Kraft wieder. Sie wankte keinen Augenblick, als die Anzeichen des herannahenden Endes sich einstellten. Er hatte dem Tod in Jünglings- und in Mannesjahren so oft ins Auge geblickt; mit großer Ruhe, in tiefem Frieden sah er ihm nun entgegen. Als treuer Hausvater nahm er mit guten Worten Abschied von jedem seiner Angehörigen und von jedem seiner Diener. Der Priester, der ihm die letzte Wegzehrung gereicht hatte, wandte sich vom Sterbebette zu uns und sprach: "Ihr Vater stirbt wie ein braver Soldat."

* * *

Von diesem, in wenigen Zügen nur entworfenen Bilde eines Starken, 25 wende ich mich wieder den kleinen Erlebnissen seiner Kinder zu. Als meine Schwester ihre Wanderimg ins sechste und ich die meine ins fünfte Lebensjahr zurückgelegt hatte, sollten wir eine Gouvernante bekommen. Es war Spätherbst, und wir waren in Wien, und schon seit längerer Zeit 30 hatte Pepinka ihre Drohungen mit den Strafgerichten Papas in Drohungen vor den Strafgerichten der Gouvernante umgesetzt. "Wartet nur, was euch die Gubernante tun wird!" hieß es jetzt beim geringsten Anlaß zur Unzufriedenheit, den wir ihr gaben. Kein Wunder, daß wir der Ankunft der neuen Machthaberin ohne Begei35 sterung entgegensahen. Zu dem großen Ereignis wurden geziemende Vorbereitungen getroffen. Unser wartete eine Art Proserpina-Schicksal. Schlafen sollten wir nach wie vor bei der Kinderfrau, tagsüber jedoch bei der Gouvernante bleiben in ihrem eigens für sie eingerichteten Zimmer. Es war kein Prachtgemach! Es 25

hatte die Aussicht auf einen mit Glasfenstern versehenen Gang, der das Haus auf der Hofseite umlief. Nicht der geringste Ausblick ins Freie bot sich dem Fräulein; Zerstreuung konnte ihr nur die Betrachtung ihrer neuen Möbel bieten. Unter ihnen zeichnete sich ein großes Kanapee aus, das durch s eine kunstreiche und zu jener Zeit noch ungewöhnliche Einrichtung spielend leicht in ein bequemes Bett umgewandelt werden konnte. Ach, du lieber Gott! Auf diesem Kanapee werden wir neben der "Gubernante" sitzen müssen den ganzen Tag. Und den ganzen Tag wird sie uns erziehen, und wir werden von allem, was sie zu uns sagt, kein Wort verste10 hen, denn sie spricht nur Französisch, so eine "Gubernante". Das alles sagte uns Pepinka, um uns recht angenehm vorzubereiten zum Empfang ihrer Nachfolgerin. Sie kam, und als Mama uns zur Begrüßung zu ihr führen wollte, machte ich eine Szene, schrie und heulte und mußte über die kleine Stiege, die aus 15 der Kinderstube ins Gouvernantenzimmer führte, getragen werden. * * *

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Wie freudig bin ich seitdem alle Morgen die fünf Stufen der selben kleinen Treppe hinabgehüpft, um gleich nach dem Frühstück zu Mademoiselle Hélène zu eilen! Wie bald haben wir sie liebgewonnen, diese Dritte im Bunde der Vortrefflichen, die unsere Kindheit schön und glücklich gemacht haben. Einige Jahre unserer Kindheit, sollte ich sagen, denn gar bald haben zwei von ihnen uns verlassen. Mademoiselle Hélène Hallé war unsern Eltern durch die Gräfin Saint-Aulaire, die damalige französische Botschafterin, empfohlen worden. Sie stammte aus gutem Hause und war eine äußerst sympathische Erscheinung. Eine große, junge Dame mit durchsichtigem, rosigem Teint, rötlich-blonden Haaren und sanften, blauen Augen. Sanft und ruhig war auch ihre liebe Art und Weise. Sie gewann, ohne im geringsten darum zu buhlen, das Wohlwollen aller Hausgenossen, sogar das unserer eifersüchtigen Pepinka. Reinste Freude bot uns der Umgang mit ihr; eine "leçon" war helle Unterhaltung. Nach kurzer Zeit konnten meine Schwester und ich Französisch reden und lesen. Im Herbste noch, noch in Zdißlawitz, war es mir plötzlich und fast mit Leichtigkeit gelungen, den Inhalt deutscher Bücher zu enträtseln. Die Unterrichtsstunde bei Papa hatte doch wunderbar rasch gute Früchte getragen, und so standen nun geöffnet vor mir die Pforten zweier Weltliteraturen. Aber nicht bloß Gelehrsamkeit galt es zu erwerben - auch mit "weiblichen Handarbeiten" sollte ich mich befassen: ich sollte stricken lernen. Warum mir das als eine Schmach erschien, ist mir heute noch unerklärlich. Ich wehrte mich heftig und lange, doch wurde mein Widerstand endlich besiegt. Der Abscheu, den ich vor der Strickkunst empfand, endete mit der Herstel26

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lung von Strumpfbändern für meine geliebte Mama. Sie waren das Mißratenste, was je auf diesem Gebiete geleistet worden; aber die größten Meisterwerke hätten nicht freudiger empfangen werden können als das klägliche Paar. Mit welcher Zärtlichkeit schloß mich Mama in ihre Arme und wischte mir die Tränen ab, die ich vergoß, indem ich ihr das Zeichen meiner Unterwerfung auf den Schoß legte! Das Weihnachtsfest war nahe, wir konnten die Tage bis zum 24. Dezember schon an den Fingern abzählen, als sich etwas begab, das uns in die größte Aufregung versetzte. Vor unsern Nasen gleichsam verschwanden unsere Puppen. Auf einmal waren alle fort. Eine vollständige Puppenauswanderung hatte stattgefunden. Das Bett, in das Fritzi gestern noch ihre älteste Tochter, die große Christine, schlafen gelegt hatte, - leer. Die Angehörigen Christinens hinweggefegt, als ob sie nie dagewesen wären. Meine blonde Fanchette, die freilich von der Blondheit nur noch den Ruf besaß - denn eine geduldige Friseurin war ich nicht -, ebenfalls unauffindbar. Wir kramten vergeblich nach ihr in unsern Laden, durchforschten alle Schränke und Winkel. Wir liefen ins Kinderzimmer und klagten die armen kleinen Brüder des Raubes unserer Puppen an. Daß wir auch im vorigen Jahre kurze Zeit vor Weihnachten den selben Jammer erlebt und dann unter dem Christbaum ebenso viele Puppen, als wir vermißt hatten, mit glänzend lackierten Gesichtern, reichem Gelock und schön gekleidet sitzen sahen, fiel uns nicht ein. O, wir waren dumme Kinder! Ich glaube nicht, daß es heutzutage noch so dumme Kinder gibt. Pepinka, ärgerlich über die Nachgrabungen, die wir nun auch in dem von ihr beherrschten Reiche zu unternehmen begannen, ließ sich zu einem unvorsichtigen Worte hinreißen. "Geht, geht! sucht eure Puppen dort, wo sie sind." "Weißt du, wo sie sind?... Ja, ja, du weißt es! Wo sind sie?" Wir ließen nicht nach, gaben ihr keine Ruhe, bis sie endlich, um uns loszuwerden, sagte: "Die kleine Greislerin hat sie gestohlen. Grad ist sie mit der Christine über die Gasse gelaufen." Gestohlen also! unsere Kinder gestohlen! durch die kleine Greislerin - o das leuchtete uns ein. Der konnte man alles Schlechte zutrauen. Ihre Mutter hatte einen Laden, gerade unter einem der Fenster des Kinderzimmers. Wir kauften dort die Glas- und Steinkugeln, mit denen wir eine Art Kriegsspiel spielten. Von der Mutter erhielten wir immer fünf Stück für einen Kreuzer, von der Tochter nur drei. Genügte das nicht, um uns ein Licht aufzustecken über das ganze Wesen dieser Person? Sie, natürlich, war die Puppenentführerin, sie lief herum mit der Christine, an ihr mußte Rache genommen werden. Es mußte! ich war Feuer und Flamme dafür, und es gelang mir, meine Schwester davon zu überzeugen. Auch die sanfteste Mutter kann grausam werden, wenn es Kindesraub zu bestrafen gilt. Am liebsten würden wir die Missetäterin durchgeprügelt haben - woher aber die Gelegenheit dazu neh27

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men? Sie bei der Frau Greislerin verklagen? Ach, die tut ihr nichts, die fürchtet sich selbst vor ihr. Was also soll geschehen? Was für ein Gesicht soll unsere Rache haben? Ein schwarzes! machten wir endlich aus. Es war beschlossen, was der Diebin geschehen soll: Wir werden ihr Tinte auf den Kopf gießen. Pepi war ins Nebenzimmer zu den Kleinen gegangen und hatte die Tür geschlossen; wir glaubten unser nichtsnutziges Vorhaben ungestört ausführen zu können. Ich holte eilends das Fläschchen herbei, das unsern Tintenvorrat enthielt; wir schoben in das Fenster, unter dem der Greislerladen sich befand, einen Schemel und bestiegen ihn. Fritzi öffnete den inneren Fensterflügel, und mit Mühe nur ein wenig den äußeren, und ich steckte den mit der Tintenflasche bewaffneten Arm durch den Spalt. Jetzt - hinunter mit dem Guß! Hinunter auf die Greislerin, die natürlich nichts Besseres zu tun hat, als dazustehen und ihm ihr schuldiges Haupt darzubieten. Die spanische Armada war einst nicht siegesgewisser ausgezogen als wir zu unserer Unternehmung - und ihr Schicksal teilten wir. Die Elemente erhoben sich wider uns. Es stürmte an dem Tage im Rotgäßchen wie anno 1588 auf dem Atlantischen Ozean, und noch dazu gab's ein Gestöber von weichem Schnee. Ein Windstoß entriß meiner Schwester den Fensterflügel und schlug ihn gleich darauf so schnell wieder zu, daß ich kaum Zeit hatte, meinen ausgestreckten Arm zurückzuziehen und das Tintenfläschchen vor dem Sturze zu retten. Sein Inhalt übersprühte die Glasscheibe, tropfte, mit Schnee und Regen vermischt, vom Fenstersimse herab, umhüllte meine Finger mit der Farbe der Trauer. Laut und lebendig gestaltete sich der Schluß des ganzen Abenteuers. Pepinka mußte etwas von unserm Treiben vernommen haben, denn plötzlich stürzte sie herbei. Ihr Antlitz glich dem rot aufgehenden Monde, ihre Haubenbänder flogen - ich weiß noch recht gut, daß sie eidottergelb waren. "Ihr Verdunnerten!" rief sie. "Jesus, Maria und Josef. Fenster aufreißen, mitten im Winter! Was fällt euch ein, ihr, ihr..." Der Rest sei Schweigen. Mögen die Ehrentitel, mit denen sie uns ausstattete, der Vergessenheit anheimfallen. Sie bildeten eine relativ milde Einleitung zu den in prophetischem Tone ausgesprochenen Worten: "Ihr könnt euch freuen. Gleich wird die Polizei über euch kommen!" Da war mit einemmal alles erloschen, jeder Funke des Hasses gegen die Greislerin und bis aufs letzte Flämmchen unsere lodernde Racheglut. Nur noch einen heißen Wunsch hatten wir, nur mit einer Bitte bestürmten wir Pepinka: Nur die Polizei nicht hereinlassen! Nur der Polizei nicht erlauben, daß sie komme, uns "einzuführen"!

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Der Winter verrann, das Frühjahr war nahe; wir begrüßten die ersten wärmeren Tage mit Freude und hofften auf unsere baldige Abreise nach Zdißlawitz. Sehr angenehm und wie ein Gruß aus der Heimat mutete es uns an, als wir eines Morgens einen schönen Hannaken im blauen Mantel auf dem Gang stehen sahen. Er schien zu warten, und bald kam denn auch Papas Jäger, von dem er sich vermutlich hatte anmelden lassen, und holte ihn ab. Wir liefen eiligst ins Kinderzimmer, um dort zu verkünden, daß der Franz soeben einen Hannaken zu Papa geführt habe. Pepi empfing unsere Nachricht ohne Überraschung. Anischa saß auf einer Fußbank neben dem Tischchen, an dem unsere kleinen Brüder spielten, und hatte die Augen voll Tränen. Als wir auf sie zutraten, nahm sie unsere Hände und küßte sie mit innigster Zärtlichkeit, aber unsere Frage, warum sie geweint habe, wollte sie nicht beantworten. Pepi schaffte uns bald und auffallend gebieterisch fort. Auch war die Zeit zur Unterrichtsstunde da. Nachher wurde der gewohnte Spaziergang auf die Bastei unternommen, dann Toilette gemacht und Schlag vier Uhr zu Tisch gegangen. Am Nachmittag, als wir mit Mademoiselle Hélène "die Kleinen" besuchen kamen, was sahen wir? - Sophiederl auf dem Arme eines fremden Mädchens, das mit ihr herumtanzte, während Pepi mit den Buben Verstecken spielte. Das tat sie sonst nie, das war Anischas Amt. "Wo ist Anischa?" riefen meine Schwester und ich, von einer bösen Ahnung ergriffen. Pepi machte zuerst Ausflüchte, vertröstete uns, versicherte, Anischa sei nur für kurze Zeit weggegangen und würde bald wiederkommen. Wir brachten ihren Versicherungen den größten Unglauben entgegen. "Weggegangen?" - Anischa ging nie weg, ging nur am Sonntag in die Kirche, und heute war gar nicht Sonntag. Auf einmal durchblitzte es mich... Wie pflegte Pepi, wenn sie ein wenig böse war, zu sagen: "Er kommt heute nicht." Und wie pflegte Anischa zu antworten? - "Heute nicht und morgen nicht." Jetzt aber, ganz gewiß, jetzt war "er" gekommen und hatte sie hinweggeführt; denn "er", das war kein anderer als der Hannak, den wir am Morgen gesehen hatten. Gern war sie nicht mit ihm gegangen; sie hätte sonst nicht so arm und verweint auf dem Fußschemel gesessen bei den Brüdern, sie hätte uns nicht so inbrünstig die Hände geküßt... Die Liebe! Die Geliebte! Da hatte sie Abschied von uns genommen... Und wir nicht von ihr... warum hat man uns nicht Abschied nehmen lassen von ihr? Warum? fragte ich und wollte doch die Gründe nicht hören, die Pepinka dafür angab. Ich wollte auch nicht glauben, daß Anischa wiederkommen werde... Belogen und betrogen fühlte ich mich. Nein, nein! sie würde nicht wiederkommen, nie! Der grausliche Hannak würde sie nie mehr hergeben. Entrüstet klagte ich ihn an und Pepi, die ihm Anischa überliefert hatte, und benahm mich recht wie ein Unband beim Einzug des ersten bitteren Schmerzes in mein Leben. ***

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Im Laufe des Sommers erkannte ich dann mit freudiger Beschämung, wie unrecht es von mir gewesen war, an einem Wiedersehen mit Anischa zu verzweifeln. Die schwer Entbehrte besuchte uns und brachte allerlei Eßwaren mit, die uns vortrefflich schmeckten. Sie lobte ihren Mann, ihren Sohn, ihre zwei braven Kühe und sah gut und zufrieden aus. Nur waren ihre Hände sehr abgearbeitet. Manches Jahr hindurch ist sie so gekommen zur Sommerszeit, und bis zu ihrem Tode bin ich mit ihr im Verkehr geblieben. Meinerseits im schriftlichen; ihre Antworten auf meine Briefe bestanden in einigen Zeilen, die sie dem Herrn Pfarrer diktierte. Sie setzte nur ein kleines, meist recht schiefes Kreuz darunter, denn schreiben konnte die vortreffliche Erzählerin nicht. Auf dem letzten Zettel, den ich von dem geistlichen Herrn bekommen habe, fehlte Anischas kleines Kreuz. Dafür stand ein anderes, ein größeres, auf einem Hügel des Friedhofs ihres Dorfes, und unter ihm ruhte die Getreue. Mademoiselle Hélène hatte kaum zwei Jahre bei uns zugebracht, als es auch von ihr scheiden hieß. Ihre Familie rief sie nach Frankreich zurück. Sie trennte sich nicht leicht von uns Kindern; am schwersten aber, wir konnten uns darüber nicht täuschen, trennte sie sich von Mama. Sie schien von einer großen Besorgnis erfüllt und bat dringend und wiederholt, ihr nur gewiß in einiger Zeit Nachricht geben zu lassen... nur ganz gewiß!... Mama versprach's, umarmte sie, und beide hatten feuchte Augen. Der Wagen war schon angemeldet worden, der Mademoiselle Hélène zum Postgebäude auf dem "alten Fleischmarkt" bringen sollte. Von dort aus setzte sich die Diligence in Bewegung. Wöchentlich ein paarmal kam sie dick und gelb herbeigerasselt und fuhr über den Haarmarkt dahin, mit Reisenden besetzt, die sich auf dem Wege nach fremden, fernen Ländern befanden. Heute trug sie uns einen köstlichen Besitz davon. Fritzi und ich knieten auf Stühlen am offenen Fenster. Mama stand zwischen uns und hatte ihre Arme um uns gelegt. In höchster Spannimg blickten wir auf die Straße hinab, und leise begann in mir die Hoffnung sich zu regen: Vielleicht kann Mademoiselle Hélène sich doch nicht entschließen, von uns fortzugehen... Vielleicht kommt sie wieder zurück... Nim rollte er heran, im Trabe zweier kräftiger Pferde, der breite, schwere Kasten, ein rosiges Gesicht neigte sich aus dem Schlage... und wir hatten die letzten Grüße getauscht mit unserer guten Hélène Hallé. Als wir zurückkehrten in ihr verlassenes Zimmer, fiel eine große Traurigkeit uns aufs Herz. Die Möbel hatten ihre imposante Feierlichkeit für uns verloren, und wir meinten, auch ihnen die Bekümmernis darüber anzusehen, daß sie der besten Mademoiselle nicht mehr dienen sollten. Auch die kleinen Brüder fragten betrübt nach ihr; von allen wurde sie schwer vermißt. Was wir an ihr verloren hatten, die uns den Gehorsam zur Freude, das Lernen zum Genuß, das Leben leicht und heiter gemacht hatte, das ermaßen 30

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wir aber erst völlig, nachdem ihre Nachfolgerin eingetroffen war. Grausamer für uns hätte ein Tausch kaum ausfallen können. Wer Mademoiselle Henriette unsern Eltern empfohlen hatte, wußten wir nicht, doch davon waren wir überzeugt: Beim Jüngsten Gericht wird er darüber zur Rechenschaft gezogen werden. In seinem Zorne hatte Gott Mademoiselle Henriette zur Gouvernante geschaffen. Sie war schön und jung; darin bestand die einzige Ähnlichkeit, die sie mit Hélène Hallé hatte. In allem übrigen war sie ihr Widerspiel. Äußerlich eine mittelgroße, schlanke Brünette, nächtiges Dunkel im Haar, Feuer in den Augen. Innerlich - ein Drache. Eine treue Anhängerin der Moral, die unsere Modernen erfunden zu haben glauben, eine Dienerin der Pflicht "sich auszuleben". Sehr unwillkürlich bildeten ihre Zöglinge dabei doch einige Hindernisse, und als solche hat sie uns herzlich gehaßt. Es regnete Strafen. Die ärgste diktierte sie mir, als ich einmal in offenen Aufruhr gegen sie geriet, weil sie statt "les Autrichiens" "les autres chiens" gesagt hatte. Hoch angerechnet soll übrigens der leidenschaftlichen Dame eines werden, und ihr zum Ruhme muß ich es besonders hervorheben: Wohl hat sie uns hungern, hat uns bis zur Erschöpfung im Winkel stehen, viele Seiten aus Noël et Chapsal auswendig lernen lassen, von denen wir kein Wort verstanden, - geschlagen hat sie uns nicht. Die Note fehlte in der Symphonie ihres Erziehungsprogramms. Trotzdem lernten wir durch sie aufs gründlichste erfahren, wie tief unglücklich Kinder sein können, die sich wehrlos einer böswilligen Macht überantwortet fühlen. *

Wir würden nicht lange unter den Launen der Tyrannin gelitten haben, 25 wenn Mama sich damals um uns hätte kümmern können. Aber sie konnte nicht, sie war krank und unsere Trennung von ihr durch mehrere Wochen eine vollständige. Im Vorfrühling gab sie einem Kindlein das Leben, das sich sehr beeilte, auf alle Vorteile dieses Geschenks zu verzichten. Es brauchte keine Wiege, 30 nur einen Sarg. Einige Wochen verflossen, und endlich durften wir zwei Großen zuerst, die drei Kleinen nach uns die arme, kranke Mama wieder besuchen und täglich ein bißchen länger, wenn auch nicht stundenlang wie sonst, bei ihr bleiben. Und einmal wurde mir eine große, unaussprechlich große Freude zuteil. 35 Mamas treue Pflegerin, Tante Helene, die Schwester unseres Vaters, brachte eine wundervolle Nachricht: Doktor Wierer hatte der Mama erlaubt auszufahren, und sie ließ sagen, daß ich, ich, die Marie, sie begleiten werde. Das war mir ein Glück, vom Himmel gefallen, das war mir die pure Seligkeit. Mich wollte sie mitnehmen bei ihrer ersten Ausfahrt, keines von meinen Ge40 schwistern, nur mich, mich allein! So hat sie mich denn, machte ich sofort 31

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aus, am liebsten von uns allen. Günstlingsgefühle erfüllten mich. Daß Fritzi erstaunt und betrübt dreinsah, daß die Brüder schrieen: "Auch ausfahren mit der Mama!" ließ mich ganz gleichgültig. Mochten sie nur spazieren gehen auf der Bastei, ich fuhr mit Mama, denn ich - ich war ihr Liebling. O, sehr oft war es mir schon so vorgekommen. Jetzt wußte ich's. Wir fuhren zum Belvedere. Papa hatte die noch schwache Rekonvaleszentin über die Stiege getragen und in den Wagen gehoben; er war unter der Einfahrt stehen geblieben, als der Schlag geschlossen worden, und hatte mir lächelnd zugerufen: "Acht geben auf die Mama!" Im Garten des Belvederes machte sie nur einige Schritte bis zur ersten Bank des großen Parterres und blieb dort sitzen und sprach nicht. Ich lief vor ihr hin und her, ich ahmte, entschlossen, sie zu zerstreuen, das Summen und Brummen der Mücken und der Fliegen nach, ich setzte mich zu ihr und schwatzte ihr allerlei vor und besaß doch sonst das Geheimnis, sie lachen zu machen. Heute versagten alle meine Unterhaltungskünste. Wohl nickte sie mir liebreich zu, blieb aber schweigsam und traurig, schlug den pelzverbrämten Mantel fester um ihre schmale Gestalt und fröstelte, obwohl die Sonne, die im Scheitel stand, so glühende Strahlen niedersandte, daß die Blumen ihre Köpfchen verdrießlich neigten und das junge Gras förmlich versengt aussah. Am Abend, als wir durch das Kinder- in miser Schlafzimmer gingen, fanden wir dort Tante Helene im Gespräch mit Pepi, beide sehr aufgeregt. Pepi perorierte in ihrer heftigen Weise: "Ich hab's ja gesagt... Ausfahren lassen... Jetzt schon ausfahren! Gleich umbringen wäre gescheiter." Sie schimpfte über Doktor Wierer, und als wir wissen wollten, was denn geschehen sei, bestand ihre Antwort in einem neuen, heftigen Ausfall gegen den Arzt. Und nun war's, wie es schon wochenlang gewesen: Mama war wieder krank. Der Eingang, durch den man aus dem Gouvernantendepartement zu ihr gelangte, blieb wieder verschlossen, das Speisezimmer blieb wieder unbenutzt. Es stieß an ihr Schlafgemach und befand sich wie dieses an der Vorderseite des Hauses. Ebenso der Salon und die Wohnung Papas. Wenn unser Drache am Morgen Billette schrieb auf rosenfarbigem Papier, mit einem Blümchen in der Ecke, schlichen meine Schwester und ich uns davon, leise und gebückt über den Gang an den Fenstern Mademoiselles vorbei und weiter ans Ziel unserer Wünsche, in die Nähe Mamas, ins Speisezimmer. Auf zweien der Stühle, die dort in langer Reihe an der Wand links vom Eingang standen, nahmen wir Platz und - warteten. Worauf? Nun, daß Mama uns rufen lasse. Sie würde uns doch gewiß einmal rufen lassen, und da wollten wir gleich bei der Hand sein. Wir saßen ganz still und rührten uns nicht, aus Furcht, weggeschickt zu werden. Manchmal ging Papa an uns vorbei mit unhörbaren Schritten und mit gesenktem Haupte. Er öffnete vorsichtig die Tür des Krankenzimmers und trat 32

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auf ein Zeichen, das ihm von dort gegeben wurde, ein oder kehrte wieder zurück in seine Gemächer, ebenso lautlos, wie er gekommen war. Oder er trat an ein Fenster, lehnte die Stirn an die Scheiben und blieb so stehen, lang, lang, endlos schien es uns. Regelmäßig, zur selben Morgenstunde, kam Doktor Wierer, den Pepi von jeher angefeindet hatte, und den auch wir nicht hebten, weil er uns beim geringsten Unwohlsein auf schmale Kost setzte, auf "einen Spinat und eine Ponade". Unsere Großmutter Vockel war auch täglich da und holte Erkundigungen nach der Kranken ein. Und "Grandmaman" Bartenstein, Mamas Mutter! Wenn sie erschien, brachte sie Trost und Zuversicht. Sie sprach nie eine Besorgnis, immer eine Hoffnung aus. Immer lag der Widerschein heldenmütig bewahrten Seelenfriedens auf ihrem durchsichtig blassen Gesichte, dem das ihrer Tochter so ähnlich war. Immer schritt sie gerade aufgerichtet, schmal wie eine Gerte, in ihrer tiefen Witwentrauer dahin, und keiner vermochte wahrzunehmen, welch eine schwere Sorgenlast auf ihren zarten Schultern ruhte. Voll Angst, weggeschickt zu werden, lehnten wir uns zurück auf unsern Stühlen, so oft jemand eintrat, mucksten nicht und spielten uns auf die Unsichtbaren hinaus. Wenn aber eine unserer Großmütter kam, standen wir auf und küßten ihre Hände. Sie würden uns nicht fortwinken, diese lieben, eilten Hände, das wußten wir. Auch die gute Tante Helene hatte nichts gegen unser Dableiben einzuwenden; sie brachte uns manchmal sogar einen Gruß von Mama. Eines unvergeßlichen Tages kam sie aus dem Krankenzimmer sorgenvoller und bekümmerter denn je. Mama sandte meiner Schwester eine zärtliche Umarmung, und mich - es kam merkwürdig zögernd heraus - mich ließ sie zu sich rufen. Ich jauchzte auf, ich wollte zu ihr stürzen. Die Tante hielt mich an beiden Schultern fest. Merkwürdig ernst und fast feierlich sprach sie zu mir. Sie stellte mir vor, daß Mama das Fieber habe und sich infolgedessen manches einbilde, das gar nicht sei. So bilde zum Beispiel die arme Mama sich jetzt ein, daß ich ein großes Unrecht begangen habe. Dafür wollte sie mir einen Verweis erteilen, und was sie wolle, müsse geschehen; sie dürfte um keinen Preis durch einen Widerspruch aufgeregt werden. Der Doktor habe es strengstens verboten. Und so müsse ich, weil sie durchaus darauf bestand, zu ihr kommen, müsse die Vorwürfe, die sie mir machen würde, schweigend anhören, um Verzeihimg bitten und dann sogleich fortgehen. Dringend legte mir die Tante das alles ans Herz, und ich versprach gern, es zu tun. Ach, unsagbar gern! Was lag mir daran, von Mama ausgezankt zu werden, wenn ich sie nur Wiedersehen durfte! Zitternd vor Glückseligkeit betrat ich ihr Zimmer und wollte auf sie zueilen. Da streckte sie den A r m abwehrend aus. ***

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Sie lag auf dem Ruhebette, in einen Schal gehüllt, eine Decke über den Knieen. Ihr Kopf war in die Kissen zurückgelehnt, und mit Schrecken sah ich, daß ihr schönes, ihr geliebtes Gesicht ganz klein und auch seltsam verändert, fast fremd geworden war. Ihre reichen braunen Haare, die sich sonst in weichen Locken an die Schläfen schmiegten und die Wangen umspielten, waren glatt gescheitelt und von einer kleinen, weißen Haube bedeckt. Am ungewohntesten aber war der Ausdruck der Augen, die mich mit unruhig gequälten Blicken ansahen. Sie sprach mühsam mit klangloser Stimme, und - klagte mich einer Lüge an. Einer Lüge, des, wie man uns immer sagte, Schimpflichsten?... Das war ja gar nicht möglich, das war ein grausamer Scherz, und wenn mir nicht ein Schluchzen die Kehle zugeschnürt hätte, - ich hätte gelacht. Ein Wort stieß ich heraus, oder vielmehr, es kam von selbst, es drängte sich auf meine Lippen: "Mama!" und obwohl Tante Helene, die hinter das Ruhebett getreten war, mir Zeichen machte, zu schweigen, wiederholte ich doch immer: "Mama," als wäre sie es nicht, neben der ich da stand, als müsse ich sie herbeirufen können. Mich zu verteidigen, fiel mir nicht ein; ich dachte nicht einmal daran, daß mir unrecht geschah. Ich fühlte einen dumpfen Schmerz, eine grenzenlose Betroffenheit und hatte zugleich die Empfindung: es muß ausgehalten werden, es geht vorbei. Auf einmal wird meine Mama mich in ihre Arme nehmen und alles wird gut sein. Immer wieder rief ich sie an, mit dem einen angstvoll ausgestoßenen Worte. Sie wollte nicht hören, sie wies mich zurück, so oft ich nähertrat und ihre Hand zu fassen suchte. Ohne Erbarmen wurde ich zuletzt fortgeschickt. Ich bin damals im siebenten Jahre gewesen und bin heute im fünfundsiebzigsten. Wenn aber die Erinnerung an jene Stunde lebhaft vor mir aufsteigt, erwacht noch ein Reflex der Qual, die damals mein Kinderherz zerriß. Damals, als ich, nach der Ausweisung aus dem Zimmer Mamas, mich nicht entschließen konnte, seine Schwelle zu verlassen, nicht zu rufen, nicht zu pochen wagte, nur den Mund an den Türspalt preßte, an dem meine Tränen herunterliefen, und hineinhauchte leise und jammervoll: "Verzeih! Verzeih!" Dieses Wiedersehen mit meiner viel, vielgeliebten Mama blieb das letzte. Von Tag zu Tag stiegen die Besorgnisse um sie. Der furchtbare Ausspruch: "Keine Hoffnung mehr!" wurde getan, und eines Morgens kamen Großmama Vockel und Tante Helene verweint und übernächtig zu uns und brachten die Trauerbotschaft. In der Nacht, während wir schliefen, hatte Mama uns für immer verlassen... Für immer? - das ließ sich nicht begreifen. Wie hatte sie uns für immer verlassen können, die uns so lieb gehabt? Unser Vater ließ sagen, daß er uns sehen wolle, und wir gingen zu ihm.

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Im Speisezimmer trafen wir "Gran dm am an" Bartenstein. Sie trat aus dem Gemach ihrer entschlafenen Tochter uns entgegen. Wir blieben stehen. Ich erinnere mich der fast scheuen Ehrfurcht, die mich bei ihrem Anblick ergriff. Auf den Mienen meiner Geschwister malte sich, bewußt und unbewußt, das selbe Gefühl. Es lag in dem Augenblick etwas Überirdisches in der Erscheinung dieser Frau. Ein so großartiges Bild der Resignation hat sich mir nie wieder dargeboten. Man sagte uns, sie sei am Morgen gekommen, einige Stunden, nachdem sie die Meldung vom Tode Mamas erhalten hatte. Sie sei niedergekniet am Bette und habe gebetet, das Gesicht in den Händen, lautlos, tränenlos. Kein Beben durchlief ihre Glieder, kein Schluchzen hob ihre Brust, aber allen Anwesenden war, als wohnten sie einer feierlich ergreifenden Andachtsübung bei. Endlich hatte sie sich erhoben, hatte einen langen Kuß auf die Stirn der Toten gedrückt und war hinweggeschritten, aufrecht wie immer. Jener fernen Vergangenheit mußte ich gedenken, als diese stille Heldin vor nun auch schon vierzig Jahren nach Zdißlawitz kam zur Hochzeit ihrer Enkelin, unsrer Sophie. Da besuchte sie zum erstenmal das Grab ihrer Tochter. "Laßt mich dort allein!" sprach sie mit einer Bestimmtheit, der niemand entgegenzutreten wagte. Nicht einmal auf dem Wege zur Gruft wollte sie begleitet sein. * * *

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Unser Vater hemmte nicht den Ausbruch seines Schmerzes. Der starke Mann war völlig gebrochen, seine Stimme versagte, als er mit uns sprechen wollte, und er weinte mit seinen Kindern wie ein Kind. Wir aber - wie bald stellte sich die Reaktion ein gegen alle die dunkeln und herzzerreißenden Eindrücke, die wir an diesem Tage empfangen hatten! - Wir spielten am Abend ganz vergnügt in den Zimmern der Kleinen. Plötzlich entsann ich mich dessen, was geschehen war, und sagte zu meiner Schwester: "Jetzt ist diese beste Mama gestorben, wir werden sie nie Wiedersehen - warum sind wir denn nicht traurig?" "Warte nur," erwiderte sie, "wenn erst die schwarzen Kleider kommen, dann werden wir schon traurig sein." So spät wie noch nie traten wir die Reise nach Zdißlawitz an. Sie nimmt heute sechs Stunden in Anspruch; damals dauerte sie anderthalb, und wenn das Wetter schlecht war, zwei Tage. Im Reisewagen, uns gegenüber, auf dem Platze, den sonst Mama an der Seite unseres Vaters eingenommen hatte, saß Tante Helene. Schwermütiger Ernst an der Stelle erquickender Heiterkeit. Die traurige Jugend, die sie durchkämpft und durchduldet hatte in Mühsal und Leid, warf einen Schatten über ihr ganzes Leben. Es war kein geringes Opfer, das sie ihrem Bruder brachte, als sie sich entschloß, die Leitung seines Hauses und der Erziehung seiner Kinder zu 35

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übernehmen. Sie gab damit ihre Unabhängigkeit auf und den Frieden ihres kleinen, mit kunstvoller Sorgfalt geführten Haushalts, um an die Spitze eines großen zu treten, in dem die verschiedensten Elemente sich geltendmachen wollten, und dessen Herr ein unglücklicher, schwerlebiger Mann war. Als ein langes Fest war uns sonst die Reise erschienen, und die Vorbereitungen zu ihr schon so angenehm. Das Einpacken, besonders das der Unterrichtsgegenstände, die immer zuerst in den Koffern verschwanden, welch ein Genuß! Und die Fahrt selbst, das Rollen über die Landstraße, an den Pappelbäumen vorbei, durch Ortschaften und Dörfer. Das Wechseln der Pferde auf den Poststationen, das lustige Trompetengeschmetter, mit dem die Postillone uns gern ergötzten, denn sie wußten: "fürs Blasen" gibt's ein Extra-Trinkgeld. Zuletzt dann, die Krone des Ganzen, die Ankunft in Zdißlawitz. War das ein Drängen im Schloßhof, wenn unsere Wagen hereinfuhren! War das ein Willkommenrufen und Versichern, man hätte die Stunde, die uns wiederbringen sollte, kaum erwarten können! Nicht minder herzlichen Willkomm als die Menschen bot die traute heimische Natur, boten die Felder, die Wiesen, die blütenüberschneiten Bäume am Rande der Wege, und im Garten jeder Halm und jeder Strauch. Kein schöneres Wiedersehen aber als das mit unserer Lindenallee, unserem liebsten Spielplatz an heißen Sommertagen, o wie herzlich habe ich oft gewünscht, ein Riese zu sein mit ungeheuern Armen, um alle diese Wipfel umfassen und an mein Herz drücken zu können! ***

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Nicht heiter wie sonst gestaltete sich nach dem Tode Mamas unsere Ankunft auf dem Lande. Nur ernste Mienen, nur Kundgebungen der Teilnahme empfingen uns. Unser erster Weg führte in die Gruft, wo eine Nische mehr zugemauert worden war. Wir kannten diese Stätte des Friedens gar gut. Sie lag jenseits der Straße in einem schattigen Parke, den wir Kinder täglich besuchten. Meine Schwester und ich traten oft in den stillen, kühlen Raum, um dort andächtig unserer Toten zu gedenken. Nun kamen auch die "Kleinen" mit uns, und wir beteten zusammen, denn neben unserer unbekannten wohlbekannten Mutter schlief jetzt auch die ihre: unser aller vielgeliebte Mama. Unsere Unterrichtsstunden beim Herrn Verwalter wurden nicht wieder aufgenommen. Meine Schwester und ich waren nun des Lesens und - wie man so sagt - des Schreibens kundig. Auch einige Begriffe vom Rechnen und von der Geographie hatte im Laufe des Winters ein mit Geduld reichlich ausgestatteter Lehrer uns in Wien beigebracht. Mademoiselle Henriette gewährte sich und ihren Schülerinnen spärliche Einblicke in die Geheimnisse der französischen Grammatik und gab uns täglich eine Anzahl Verse und eine halbe Seite Prosa zum Auswendiglernen auf. 36

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Die Grammatik hätte unsertwegen ihre Geheimnisse für sich behalten können. Das allmähliche Auswendiglernen einer Anthologie, die Fabeln von Lafontaine und viele hübsche Gedichte enthielt, machte uns Vergnügen. Eine sprudelnde Quelle des Glücks aber wurde mir die "Histoire universeile" von Louis Richard dit Bressel. Es gibt nicht viele Menschen, deren Umgang mich erfreut und bereichert hat wie mein Umgang mit diesem Buche. Dickleibig, großoktav, eng gedruckt auf dünnem Papier, in blau und grün marmoriertem Pappendeckel, - so präsentierte es sich. Aber welchen Schatz barg das Innere dieser schlichten Erscheinung: eine Wünschelrute, die mich auf einen Wink in Sagenwelten versetzte, in dunkle, in sonnighelle, die ältesten Zeiten in rätselhafter Ferne vor mir auftauchen, mich die alten miterleben ließ. Bis zum Untergang des römischen Kaiserreichs führte sie, und ich folgte ihr, ob leidend, schmerz- und haßerfüllt, ob in jubelnder Bewunderung - immer voll brennender Spannung. Es gab eine Zeit, da konnte man das Werk meines Historikers wo immer aufschlagen, mir einen Satz vorlesen und mich auffordern weiter fortzufahren, ich versagte nicht. Und bis heute ist so manche Stelle dieses lieben Buches meinem Gedächtnis eingeprägt geblieben. Felsenfest stand meine Freundschaft mit dem biederen Bressel, als ein Wundermann sich unserem Bunde anschloß. Er hieß Perrault. Nach der Sage und der Geschichte fand eine neue Bereicherung meines Daseins, das holde Märchen, sich ein. Und auch dieses reizumflossene Wesen ließ allen seinen Schimmer und all seine Pracht einem ärmlichen Schreine entsteigen. "Die jetzigen Kinder denken's nicht," wie kümmerlich die Hüllen gewesen sind, in denen unsere größten Reichtumsspender sich uns darstellten. Perraults Märchenhort, von Madame Foa für kindliche Leser eingerichtet, bildete den Inhalt von einigen unscheinbaren, gelben Bändchen. Hie und da erschien im Texte ein schwarzer Fleck, und wenn man recht aufmerksam hinsah ließen Kontliren sich erblicken. Ein Kopf kam zum Vorschein, eine Gestalt, die man als zu ihm gehörend vermuten durfte, und - o welches Entzücken, wenn man in ihr einen winzigen, aber ganzen Prinzen Percinet entdeckte! Ein paar Seiten weiter, und da stand eine Dame im Schleppkleid, hatte die Form einer Stangenbohne und statt des Gesichts einen Patzen Druckerschwärze, war aber in unseren Augen die Prinzessin mit den goldenen Haaren und schön wie das Morgenrot. Ja, damals war er noch ein ganz junges Bübchen, saß auf dem Schöße seiner Mutter, und sie erzählte ihm die Märchen, die er später versinnbildlichen sollte mit seinem begnadeten Griffel, der Genius Gustave Doré. Wir hatten ihn noch nicht zum Führer und Lenker. In vollster Freiheit waltete unsere Phantasie und wurde da schöpferisch, wo sie heute nur eine Nachempfinderin zu sein braucht. Meine Illustrationen zu Bressel und Perrault malte ich mir selbst in die Lüfte. 37

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Es waren schöne Stunden der Kunstbetätigung, und sie schlugen mir in der Zeit, die ich an Sonn- und Feiertagen bei meiner Großmutter nach ihrer Rückkehr aus der Kirche zubrachte. Die Fenster ihres Zimmers sahen links auf den Gruftgarten und rechts über die Felder und die Wiesen. Weit gedehnt auf hügeligem Boden, senkten und hoben sie sich wie mit müdem, sachtem Schwünge der fernen Bergkette zu, aus der, nur bei ganz klarem Himmel wahrnehmbar, der Hostein majestätisch emporragt. In der Vertiefung des einen Fensters stand auf zarten, geschwungenen Beinen der Arbeitstisch unserer Großmutter und davor ihr Stühlchen, eine ganz eigentümliche Sitzgelegenheit mit niedrigen Seitenlehnen und ohne Rückenlehne. Über dem Arbeitstische hing das Bild der verstorbenen Levrette. Als sie noch ein schmales Hündlein gewesen war, hatte sie ihren Ruheplatz auf dem Stühlchen hinter ihrer Herrin erhalten und das Recht, sich dort breitzumachen, im Sinne des Wortes rücksichtslos ausgeübt. Sie betätigte ihre Ausdehnungskraft zuletzt derart, daß unsere arme Großmutter sich dos-à-dos mit ihr nur noch halb im Schwebesitz behaupten konnte. Jetzt hatte Dame Levrette das Irdische längst gesegnet und saß, in Öl "auf Leinwand verewigt", ihrer ehemaligen Lagerstelle gegenüber. Immer fleißig, häkelte und strickte die Großmutter schöne Bettdecken, feine Strümpfe für uns, warme, dauerhafte Kleidungsstücke für die Armen im Dorfe. An Sonn- und Feiertagen arbeitete sie nicht. Da holte sie einen Band der "Stunden der Andacht" von Zschokke aus dem Schranke und vertiefte sich in dieses Lebenswerk des schweizerischen Schulmannes und Dichters. Es stammte von unserem Großvater, der Protestant gewesen war, und seine gut katholische Witwe erbaute sich daran. Während sie ihre sonntägliche Feier abhielt, war ich abgereist nach dem Land der Träume. In der Ecke neben dem zweiten Fenster befand sich ein großer Fauteuil. Vor ihn stellte ich zwei fausthohe Pferdchen aus Pappe, türmte alle Polster des Diwans auf ihn, erklomm den hohen Sitz, und nun - leb wohl, Vaterhaus, leb wohl Heimat! Meine Pferde werden lebendig, ihnen wachsen schimmernde, rauschende Flügel, der alte Fauteuil wird eine goldene Muschel mit weißen, weichen Seidenkissen und breiten Schleiersegeln, und ich fliege schneller als die schnellste Schwalbe über die Berge und über ein weites Meer in mein himmlisch Uchtes Märchenland. Von den Abenteuern, die ich dort bestand, von den Wundertaten, die ich dort ausführte, habe ich viele Jahre später - es ist nun auch schon lange her einem kleinen Neffen erzählt, von mir dabei in der dritten Person. So stark sein Glaube auch war - daß die kleine, alte Tante selbst die Heldin all dieser Märchenromane gewesen, bei denen ihn oft gruselte, hätte er vielleicht doch bezweifelt.

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Manchmal, wenn es besonders lang still geblieben war in meiner Ecke, wandte die Großmutter sich nach mir um und fragte: "Bist du noch da? Was tust du?" Scheinbar tat ich nichts. In Wirklichkeit hatte ich eben einen Drachen 5 getötet oder die greuliche Stiefmutter Grognon in ein Faß voll giftiger Schlangen geschleudert. ***

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Der Sommer und der Herbst vergingen. Wir fuhren wieder nach Wien, und dort wurden zwei neue Lehrkräfte für uns bestellt. Ihre Aufgabe war, bei meiner Schwester und mir Talente auszubilden, von denen ich keines besaß. Während Fritzi bald zu den besten Schülerinnen des Tanzmeisters Monsieur Minetti gehörte, erlebte er keine Freude an mir. Jaleo de Xeres! du Kind des stolzen Spaniens, welch ein Schmerzenskind warst du für mich! Deine Posen und Pas studierten wir ein, beim Geklapper unserer Kastagnetten und bei den Mißklängen der Gitarre, die am Halse Herrn Minettis an einem Bande hing, das einst himmelblau gewesen war. Am 24. Februar, dem Geburtstage Papas, sollten wir ihn und eine kleine, gebetene Gesellschaft mit der Aufführung des iberischen Tanzes ergötzen. Aber schon im Jänner raufte Minetti seine grauen Lockenhaare und bombardierte den Plafond mit grimmigen Blicken. Ein Fiasko prophezeite er mir und sich statt eines "Divertissements", das wir darbieten sollten. Dabei fuhr er mit dem breiten Daumen so wild über die Saiten seines armen Klimperkastens, daß er dröhnte. Manchmal stampfte er auch mit dem Fuße, doch nicht ohne Zierlichkeit. Nur der Mühe, die meine Schwester sich mit mir gab, nur der unerschöpflichen Geduld, mit der sie mich anhielt, den unseligen Jaleo immer von neuem mit ihr einzuüben, dankte ich den kleinen Erfolg, den ich schließlich im Schatten ihres großen Erfolges errang. Indessen - meine Leiden beim Tanzunterricht zählten nicht im Vergleich zu denen bei den Klavierstunden, die eine Frau Krähmer uns erteilte. Eine strenge Lehrerin und nicht bloß gegen mich, die musikalisch völlig Unbegabte, sondern auch gegen meine Schwester, die, talentvoll und fleißig, eine freundliche Behandlung verdient hätte. Doch erlitten auch ihre Finger harte Zurechtweisungen mittels eines Stabes aus Elfenbein, den Frau Krähmer immer bei sich führte und meisterhaft zu gebrauchen verstand. Seine Aufgäbe war, die Noten anzuzeigen, auf die man eben seine Aufmerksamkeit zu richten hatte, aber er trieb mit Eifer eine Nebenbeschäftigung. Er sauste mit einer Sicherheit, die nie verfehlte, und einer Kraft, die nie versagte, auf den Finger nieder, der sich einer Abirrung von der richtigen Taste schuldig machte. Er traf den Knöchel so hart, daß es klapperte, und flog gleich wieder zu den Noten empor, und die hätte man genau unterscheiden sollen, 39

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wenn einem die Augen in Tränen schwammen? Einen Einwand zu erheben, wagten wir nicht; dazu war Frau Krähmer viel zu imposant. Nur eine der anderen vertrauten wir an, daß wir doch recht arme Kinder wären mit einem Drachen als Gouvernante und einer mitleidslosen Klaviermeisterin. Ganz regelmäßig schloß mein Morgengebet mit dem dringenden Flehen: "Lieber Gott, mache, daß Frau Krähmer heute nicht kommt!" Daran fügte ich ein Direktiv für unseren lieben Herrgott. Nicht etwa, weil ein Unglück sie getroffen hat, weil sie vielleicht auf der Straße überfahren worden ist. Nein, nichts Böses soll ihr geschehen sein, im Gegenteil, etwas sehr Angenehmes, aber nur etwas, das sie abhält, heute zu kommen. Wie ein richtiger Bettler sorgte ich nicht über das Heute hinaus. Mein Gebet wurde nie erhört. Jeden Morgen mit dem Glockenschlag der zehnten Stunde sahen wir von unserem Fenster aus die Gefurchtete pflichttreu und pünktlich auf den Gang treten. Sie trug einen großen, schwarzen Hut mit weit ausladendem Schirm, der unter dem Kinn festgebunden war, und den sie nie ablegte. Ihr edles, schmales Gesicht sah aus seinem Hintergrunde hervor wie aus der Tiefe einer sehr schattigen Laube. Auch von ihren unförmlich großen und dicken grauen Handschuhen trennte sie sich nicht. Nur den dunkeln Tuchmantel, der mehrere Kragen hatte, wie zu jener Zeit die Mäntel der Fiakerkutscher, zog sie aus. Seltsam war's, wenn sich aus dieser weitläufigen Umhüllung eine mittelgroße, feine Gestalt herausschälte, der man die Kraft nicht zugetraut hätte, eine so schwere Last zu schleppen. Mit augendienerischer Beflissenheit suchten wir uns dabei unserer Lehrerin nützlich zu machen. Dann nahm eine von uns beiden Platz am Klavier, die andere setzte sich ans Fenster, faltete ein Blatt ihres Grammaireheftes vierfach zusammen und trug in die so hergestellten Abteilungen die Conjugaison eines Verbes gedankenlos und mechanisch ein. Beim Fortgehen ermahnte uns Frau Krähmer, fleißig zu üben, und trabte fort auf Stiefeln, in ihrer Art ebenso wuchtig wie der Mantel. Mademoiselle spöttelte ihr nach, sie trage die Kleider ihres verstorbenen Gatten zum Andenken an ihn. Dieser unwürdigen Zuhörerin hatte sie erzählt, daß ihr Mann ein ausgezeichneter Musiker gewesen, vom Unglück aber immer verfolgt worden war. Seine Familie blieb, als er starb, in Armut zurück. Seitdem erwarb die Mutter das tägliche Brot für sich und für ihre fünf Kinder. Um auch nur zu ahnen, was das heißt, waren wir nicht gescheit genug. Zwei ihrer Söhne wollten auch Musiker werden. 'Der ältere ist ein Genie,' sagt Madame Crémér, 'und wird ein großer Künstler und sehr berühmt und reich werden.' Bis dahin muß sie aber 'courir le cachet' und Unterricht geben im Klavier, das noch dazu gar nicht 'son instrument' ist. Ihre Meisterschaft übte sie aus auf der - man denke - auf der Klarinette! Mademoiselle fand kein Ende mit Witzeleien über diese Klarinette. Es war ja doch "le comble du ridicule", daß eine Frau sich's einfallen ließ, anders als zum Spaße mit gespitzten Lippen in ein hölzernes Rohr hineinzublasen. Wirklich, einer solchen Geschmacklosig40

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keit war nur eine Deutsche fähig! Wir, in unserer Abneigung gegen Frau Krähmer, gingen gern auf diese Scherze ein und freuten uns wie auf eine große Ergötzlichkeit, als Großmama uns eines Tages ankündigte: "Frau Krähmer gibt ein Konzert im Musikvereinssaale, und ihr dürft mich dahin begleiten." Viel zu früh kamen wir; unsere Ungeduld hatte sich nicht bändigen lassen. Fast noch leer gähnte der Saal uns an, als wir eintraten, und füllte sich nur langsam. Kleine Füße kamen angetrippelt; die Schüler und Schülerinnen der Konzertgeberin erschienen unter der Obhut ihrer Eltern oder des Erziehungspersonals. Ehrenplätze nahmen einige ältere Herren ein, die von vielen jungen Männern und jungen Fräulein respektvoll begrüßt wurden. "Das sind die Professoren," sagte die Großmama. Du lieber Gott, wenn man vor so einem spielen sollte! Von den Darbietungen derer, die bei diesem Konzerte aus Gefälligkeit mitgewirkt haben, weiß ich nichts mehr. Aber vor mir schwebt deutlich, unvergeßlich ein ergreifendes Bild: Frau Krähmer zwischen ihren beiden Söhnen. Der jüngere, ein Jüngling von etwa fünfzehn Jahren, handhabte seine Viola mit Ruhe und erstaunlicher Sicherheit, stillvergnügt in der Ausübung seiner Kunst. Der ältere, der Violinspieler, war hochaufgeschossen, hager und hatte auffallend rote Flecke auf den Wangen. Er wandte die leuchtenden dunkeln Augen nicht von seiner Mutter. Fragend, erratend ruhten sie auf ihr, und aus ihnen sprach Vergötterimg. Ja, ich habe das gesehen! - oder vielmehr damals nur geahnt. Die größte Zärtlichkeit, die ein Menschenherz empfinden kann, die hervorgeht halb aus Begeisterung, halb aus Erbarmen, leuchtete aus diesem Sohnesblick. Und sie, seine Mutter... Schüchtern fast war die gefürchtete Meisterin vor ihre Schüler getreten und stand da, eng umschlossen von einem schwarzen Seidenkleide, das in spärlichen Falten an ihr niederhing. O gewiß! wenn Kleider sprechen könnten, das ihre hätte gesagt: "Was zerrt ihr mich aus meiner Dunkelheit ans Tageslicht, das zum Verräter wird an meinen Gebrechen?" Eine ähnliche Sprache hätte wohl das kleine Spitzentuch geführt, das über der Brust Frau Krähmers gekreuzt war. Auf dem Kopf trug sie eine weiße, unter dem Kinn gebundene Haube, und jetzt sah man erst, wie schön braun ihre glatt gescheitelten Haare noch waren, und wie rein das Oval ihrer Wangen sich erhalten hatte. Und ihre Hände, die wir heute zum erstenmal ohne Hülle erblickten, mußte man bewundern. Schlanke Hände mit seelenvollen Fingern. Ihre Spitzen berührten abwechselnd eine oder die andere der blanken Klappen des Instruments, aus dem die Meisterin wie mit leisen Küssen liebliche Töne hervorlockte. Heitere Melodien erklangen; manchmal glaubte man das silberne Lachen eines Kindes zu hören. Es hob sich hell ab von dämmeriger Begleitung. Die Stimmen der Viola und der Violine schmiegten sich ihr an, trugen sie, blieben immer voll Hingebung dienend und Untertan, ob ihr tiefernster Gesang 41

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in breitem Strome flutete und brauste, ob er kristallklar dahinglitt mit seidiger Geschmeidigkeit. Es war traumhaft schön. Man konnte eine Landschaft vor sich hinzaubern unter grauem Himmel mit weitem Ausblick in die Ferne; alle Umrisse unbestimmt, die Farben ineinander verschmolzen. Aber verborgen in den Zweigen eines Baumes hatte sich ein Vogel - der sang. Sang Licht und Duft und Farbe in die graue Landschaft hinein... O du gebenedeites Kehlchen! Gebenedeit vor allem, die uns von seinen Wundertönen träumen läßt, - die Klarinette Frau Krähmers. Mit fanatischer Bewunderung sah ich zu der genialen Künstlerin im dürftigen Gewand empor, mit der selben Empfindung, meine ich, mit der ihr Sohn sie ansah. Auch in meine Bewunderung mischte sich ein namenloses Mitgefühl. Ich bin ja damals nur ein unwissendes Kind gewesen, aber davon hatte ich gehört: Todesrosen nennt man die roten Flecke, die auf den eingefallenen Wangen junger, hagerer Menschen brennen. Sah die Mutter die Rosen auf den Wangen ihres Lieblings, ihrer Hoffnung, ihres Stolzes nicht? Beim Nachhausekommen wurden wir von Fräulein Henriette mit Gespöttel über den Genuß, den wir gehabt hatten, empfangen. Sie schrieb unsere Versicherungen, daß es herrlich gewesen sei, einem esprit de contradiction zu, den sie versprach uns auszutreiben. Meine Schwester schwieg und bat auch mich, zu schweigen. An dem Tage schluckte ich denn meinen Ärger hinunter; als Mademoiselle aber am nächsten wieder anfing, sich über das Konzert Frau Krähmers lustig zu machen, brach ich los. All mein Groll und Haß gegen sie machte sich Luft, ich tobte, ich ließ mich durch ihre Drohungen nicht einschüchtern. Schwören möchte ich nicht darauf, fürchte aber sehr, daß ich ihr eine Ohrfeige angetragen haben dürfte. Und als sie, nicht minder zornig als ich, zu Papa zu gehen und mich bei ihm zu verklagen drohte, riß ich, tollkühn vor Wut, die Tür auf und rief: "Gehen Sie! Gehen Sie!" Sie machte von meiner Einladung keinen Gebrauch; sie fühlte sich doch nicht so ganz im Rechte; aber eine Reihe von Strafen kündigte sie mir an, die damit anfing, daß ich in die Ecke treten und dort stehen mußte, bis Frau Krähmer zur Stunde kam. Wir hatten ausgemacht, meine Schwester und ich, daß wir auf sie zugehen und ihr die Hand küssen würden. Doch verging uns bei ihrem Anblick der Mut dazu. Wir brachten nur stammelnd heraus, daß es gestern so schön gewesen wäre - so schön. Sie wies uns kurz ab; sie war nicht mehr die herzbezwingende Künstlerin, sie war wieder die strenge Lehrerin. Emsig wie immer flog der Elfenbeinstab vom Notenblatt herunter auf die Knöchel meiner Finger. Indessen - das große Mitleid ist eine große Kraft, eine, die doppelt wirkt. Sie beschützt den, der sie erregt, sie macht den unverletzlich, der sie empfindet. Die Klapse taten nicht mehr weh.

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Diese Unterrichtsstunde war eine der letzten, die Frau Krähmer in unserem Hause erteilt hat. Der Frühling brach an, und wir verließen Wien. Nach unserer Wiederkehr sollten die Klavierlektionen wieder aufgenommen werden. Die Lehrerin wurde berufen. Sie kam nicht. Sie war, sagten ihre Haus5 leute, nach dem Tode ihres älteren Sohnes verreist. Wohin, wußten sie nicht, vermuteten nur: nach Deutschland. Einige ihrer Schüler hatten schon Erkundigungen eingeholt, aber nichts von ihr erfahren können. Weil sie tot ist, weil sie ganz gewiß tot ist, bildete ich mir ein und malte mir aus, wie traurig ihr Sterben gewesen sein mußte, in der Fremde, in Ario mut und Einsamkeit. Ich dachte oft an sie, träumte von ihr, sah sie vor mir stehen im Konzertsaale auf dem Podium zwischen ihren Söhnen. Und die Erinnerung an diesen ergreifend wehmütigen Anblick ist zum Ereignis geworden in meinem Leben. Sie hat dazu beigetragen, es auf die Tonart zu stimmen, in der es sich abspielen sollte. Ein Begriff war mir aufgegangen von 15 dem Leiden, das in der Welt ist und neben uns hergeht mit erhobenem Haupte und geschlossenen Lippen, von einer Armut, die darbt und ringt, ohne je zu sagen: "Gib! Hilf!" Ganz unbestimmt noch, eben nur als leises Vorgefühl, war ein trotziges und selbstsüchtiges Mitleid in mir erwacht, ein Wille zum Leiden. Nicht weil die anderen etwas davon haben, sondern weil 20 mein Leiden mir das ihre erleichterte. ***

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Im Frühjahr 1839 begleitete ein neuer Hausgenosse uns auf das Land: Just Dufoulon, ein neunzehnjähriger, bildhübscher Franzose - ein Erzieher für unsere Brüder, in Gestalt eines guten Kameraden. Seine Mutter war mit ihm von Paris nach Wien gekommen und dort unser täglicher Gast gewesen. Sie wünschte die Familie kennen zu lernen, an die sie den einzigen Sohn hingab. Es bestand eine Ähnlichkeit zwischen ihrem Schicksal und dem der Frau Krähmer; auch Madame Dufoulon war Witwe, auch sie setzte auf das Haupt eines geliebten Kindes alle ihre Hoffnungen - und ebenso schmerzvoll sollten sie getäuscht werden. Vom ersten Tage an erschien "Monsieur Just" uns Kindern wie ein älterer Bruder. Der Respekt war da, aber die Liebe überwog. An Liebe hat es ihm überhaupt bei uns nicht gefehlt, und nur allzu heiße brachte ihm e i η Herz im Sturme dar, denn es war ein gar feuriges, es war das Herz seiner Kompatriotin. Monsieur Just wurde der Anführer aller unserer Spiele und mein besonderer Freund, obwohl meine Eitelkeit oft schwer durch ihn litt. Er behauptete regelmäßig den Sieg beim jeu de barre und beim Wettlauf, und schlug er mich einmal n i c h t , dann war meine Demütigung erst recht groß. Dann fühlte ich mich von ihm als ein albernes Kind behandelt, das man gewinnen 1 ä ß t, und dann strafte ihn mein entrüstetes: 43

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"Monsieur; vous trichezl" Ich hatte im Garten einen Umkreis ausgemittelt, den ich in zehn Minuten zu umlaufen vermochte. Ich allein, niemand sonst, nicht einmal Mademoiselle. Doch mußte ich meinen Ruhm mit Seitenstechen bezahlen, die sich nach vollbrachter Heldentat einstellten. Und nun begab es sich, daß Monsieur Just, dem ich eine Wette angeboten hatte, den selben Weg in fünf Minuten zurücklegte. Tief betrübt und beschämt sah ich ihn an. Er war sehr rot, und auf eine kleine Genugtuung hoffte ich doch noch und fragte: "Monsieur, avez vous des picotements?" Er lachte nur, er war herrlich bei Atem, und meine Brüder, diese miserablen Kleinen, bejubelten ihn, bejubelten den Sieg ihres jungen Galliers über die hannakische Atalante. Bald danach war aber Monsieur Just in Gefahr, sein Ansehen bei ihnen einzubüßen. In dem kleinen Park, wo die Gruftkapelle sich erhebt, breitet ein üppiger Wiesengrund, von prachtvollen Kastanienbäumen und dichten Gebüschen umsäumt, seinen blumendurchwirkten Teppich aus. Dorthin hatten wir an einem heißen Somernachmittag unseren Spielplatz verlegt. Ein "cinquante et un" war eben im besten Gange, als plötzlich in dem Geäste und Gezweige über uns kreischendes Vogelgezwitscher laut wurde. Todesbang und kriegerisch zugleich, ein verzweifelter Schlachtruf, pflanzte es sich weit und weiter fort. Hunderte von kleinen Stimmen waren laut, piepsten, pfiffen, kleine Flügel rauschten, das gefiederte Völkchen schoß umher wie toll. Man kennt den Grund eines solchen Aufruhrs. "Ein Raubvogel! Ein Raubvogel!" riefen wir und rannten ins Freie, auf die Wiese hinaus. Und richtig, wir sahen ihn. Ruhig und majestätisch und scheinbar regungslos schwebte auf ausgebreiteten Schwingen der Gefürchtete, der Gehaßte, der den jungen Vögeln im Neste die Mutter raubt, Wachteln würgt und Rebhühner und unsere armen Tauben... ein riesiger Geier. Monsieur Just, die Brüder wurden wie von einem Fieber ergriffen. - Ein Gewehr... O Gott, wer eines hätte und den Übeltäter herunterschießen könnte! Ein Gewehr... Ach, der Papa hat so viele Gewehre - aber niemand würde wagen, eines nur anzurühren ohne seine Erlaubnis... Monsieur Just, Adolf, der schöne, starke, rotwangige Junge, sind ratlos; dem kleinen Viktor kommt ein Gedanke. Im Bedientenzimmer, da hängt an der Wand ein altes Geschütz, ein Tromblon, und ist immer geladen. Er weiß das. Also vorwärts! Her damit! Monsieur Just rennt, stürzt dem Schlosse zu, die beiden Büblein ihm nach... Sie kommen nicht weit, er ist schon hinter der Kapelle verschwunden, während sie kaum die Mitte der Wiese erreicht haben. Dort stehen sie und warten und "fippern" vor Spannung und Ungeduld, und wir stehen bei ihnen und warten und "fippern" auch. Der Geier hat einen Stoß nach abwärts gemacht, spreizt sich, völlig herausfordernd: Zielt 44

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nur, trefft! Die Aufregung der Brüder ist unbeschreiblich. Adolf glüht vor Blutdurst, Viktors bis zur Pein gesteigerte Spannung gibt ihm einen Stich ins Gelbe; er möchte seine schmächtige Gestalt bis zum Geier hinaufdehnen können, er streckt sich, er hüpft ratlos bald auf der einen, bald auf der anderen Fußspitze. Mademoiselle ist dieses Mal eines Sinnes mit uns und verkündet jubelnd die Rückkehr Monsieur Justs... sie hat ihn zuerst erblickt auf dem Wege vom Schlosse her. Nur unsere Älteste will nicht, daß geschossen werde, und verstopft sich die Ohren. Aber da hilft nichts mehr, der Schütze kommt gestoben, rennt wie ein Verfolgter und ist es auch - es sind Leute hinter ihm her, sie schreien ihm nach, sie drohen... Mademoiselle Henriette versteht etwas Deutsch, etwas Böhmisch, sie ist auf die Warnungen aufmerksam geworden, die Monsieur Just zugerufen werden. Wir haben ihn mit Ausbrüchen der Begeisterung empfangen. Er steht da, den unförmigen Schießprügel in den Händen, sieht sieghaft empor, legt an... Da fällt Mademoiselle ihm in den Arm und schreit: "Au nom du Ciel, ne tirez past' "Halt!" lassen sich nun schon aus der Nähe die Stimmen des Zimmerwärters und anderer Diener vernehmen. "Nicht schießen! Das alte Zeug platzt Ihnen in der Hand!" Voll Entsetzen erklärt Mademoiselle dem jungen Mann, an den sie sich herandrängt, die Bedeutung dieser Worte. Er wehrt sie ab, zögert aber doch... Und nun stürzt der kleine Viktor vor Monsieur Just auf die Knie. Er hebt die Arme zu ihm empor, er verschlingt krampfhaft die Finger und keucht und fleht: "Tirez! Je vous aimerai! Je vous adorerai! Tirez! Tirezf Der heiße Wunsch seines Kinderherzens blieb unerfüllt. Monsieur Just üeß sich überzeugen, daß es Unsinn wäre, die Muskete in Gebrauch zu nehmen, die so viel Neigimg zeigte, aus Ärger darüber, daß man ihr eine Anstrengimg zugemutet hatte - zu bersten. "Aber der Geier! der Geier!" schreien die Buben. Die Leute beruhigen sich: "Geduld! Der Franz" - das war Papas Büchsenspanner - "kommt schon, wird gleich da sein, der holt ihn herunter." Der Franz!... Nun stehen alle unsere Hoffnungen auf dem Franz. Zum größten Glück läßt er nicht auf sich warten. Meine Brüder und ich, wir laufen ihm entgegen. "Hierher! da, sehen Sie, da!" Wir rufen alle durcheinander, jedes weiß den Platz am besten, auf dem Franz sich aufstellen soll. "Da?" Franz schaut in die Höhe, schaut und schaut und murmelt etwas, das einem Fluch zum Verwechseln ähnlich ist. Der stolze Vogel hatte seine Feindesschar mit einem leichten Flügelschlag gegrüßt, in ruhiger Majestät einen großartigen Kreis umschrieben und war dann plötzlich wie ein abgeschossener Riesenpfeil am Himmel hingeflogen und verschwunden.

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Viktor ballte sein Fäustchen gegen Monsieur Just. "Poltron, val" sagte er. Und noch von einem an Gemütsbewegung nicht minder reichen Erlebnis aus jener Zeit weiß ich zu berichten; von einer Begegnung mit einer Katze. Von klein auf hatte ich einen Abscheu gegen das ganze Geschlecht dieser samtpfötigen Raubtiere, dieser Vogelmörder mit dem unhörbaren Schritt, den widerwärtig weichen Bewegungen, den falschen phosphoreszierenden Augen. Mich überlief s bei ihrem Anblick, Hände und Füße wurden mir eiskalt, ich zitterte am ganzen Leibe, wenn meine Geschwister ein Kätzchen ins Zimmer brachten. Das kam übrigens selten vor, auch mein Vater liebte diese Tiere nicht, man hielt sie nicht im Hause und verjagte sie aus dem Garten. Eines Tages ging ich über den Hof, der Lindenallee entgegen an den hohen Blumengestellen vorbei. Zwischen einem von ihnen und den Gebüschen, die seine Rückwand verdecken, befand sich ein Bottich mit Wasser zum Begießen der Blumen. Da, wie gesagt, ging ich vorbei und vernahm plötzlich ein Kratzen und Plätschern, wie wenn sich etwas aus dem Wasser herausarbeiten wollte und immer wieder hineinplumpste; dazwischen, dünn und schrill, ein angstvolles, hilfeheischendes Miauen. Es durchblitzte mich... Eine Katze! Eine Katze ist ins Wasser gefallen - oder hineingeworfen worden... Es gibt böse Menschen, die so etwas tun, die grausam sein können gegen Tiere... Haben wir nicht unlängst eine Fledermaus gesehen, eine jämmerliche! Der Sohn des Gärtners hatte ihre Flügel an ein Brett genagelt... Wie sie pfiff, wie ihr kleiner Körper bebte, wie sie rang... O, herzzerreißend! - und dort die Katze, die krallt und miaut, ringt auch um ihr Leben... und das muß qualvoll anzusehen sein... Ich wandte mich und eilte vorbei. Aber bald regte sich das Gewissen und auch - die Eitelkeit. Soll ich sie zugrund gehen lassen, weil sie mir zuwider ist? Es wäre schlecht, es wäre feig!... Ich werde doch nicht feig sein - ich! Also zurück durchs Gebüsch und mutig hingetreten an die Stätte des Grauens... Mutig, ja, das war ich im Vorsatz, in der Tat elend vor Angst. Es wurde schlimmer, je näher ich dem Bottich trat, es wurde Entsetzen, als ich, mich auf die Fußspitzen stellend, ein scheußliches Ding gewahrte, ein mit dunklem, struppigem Fell überzogenes Skelett... Es haut um sich mit langen, dürren Beinen, es krümmt einen fürchterlichen Rücken... Wie Knoten in einem Stricke stehen die Knorpel hervor... Und danach die Hand ausstrecken, es anrühren, das sollst du, das willst du?... Ich tu's!... Vom Fieber des Abscheus geschüttelt, ergreife ich das Ding und hebe es in die Höhe. - Aber da ringelt sich sein fadendünner Schwanz, da faucht es mich an, setzt an zum Sprung in mein Gesicht... O, du Miserables! Empört und schaudernd werfe ich es auf den Boden und laufe davon und bilde mir ein, daß es mir nachläuft... ja, ja, ich höre es, es faucht, es ist schon nahe, es wird mich erreichen, an mir hinaufspringen... Und ich renne mit klopfendem Herzen, mit versagendem Atem, ich Heldin, vor einem eingebildeten Verfolger, durch Gar-

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tengänge, über Wege und Wiesen, bis meine Füße versagen, und ich in Angstschweiß gebadet niederstürze... Ich weiß die Stelle gar gut, und wenn ich an ihr vorbeikomme, gedenke ich noch oft lächelnd jener Schreckensstunde. 5 Am nächsten Tage fragte ich den alten Gartengehilfen: "Sag mir, wer wirft denn da bei uns Katzen ins Wasser?" Ob ich das Vieh in dem Bottich meine? Ja, das hatte er hineingeworfen. Aber es krappelte sich heraus, und da schlug er es tot. Tot geschlagen hatte er's! Und womit denn? - "Ja, mit der Schaufel; mit 10 der da. Was eine Katze ist, wird nicht geduldet im Garten. Und das war nicht einmal eine rechte, war so was Halbes." "Und was war denn die andere Hälfte? vielleicht ein Ratz?" Er gab darüber keine Auskunft, und ich war im Stillen ganz zufrieden mit dieser Lösimg der Dinge, betrachtete aber doch das Mordinstrument mit 15 Gruseln, und auch ihn, der etwas erschlagen hatte. Wie zur Rechtfertigung wiederholte er, daß Katzen im Garten durchaus nicht geduldet werden dürfen. "Nicht einmal eine halbe?" "O, die schon gar nicht!" ***

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In dem Gedichte in Prosa "Schattenleben" gab ich Rechenschaft von einer eigentümlichen Vorstellung, mit der ich meine ganze Kindheit hindurch gespielt habe. Da hat es mich denn sehr überrascht, als ich kürzlich in einer von Tolstoi erzählten Geschichte seiner Jugend die Schilderung der ganz gleichen Er25 scheinung fand. Auch er hat unter ihrem Banne gestanden, und ich habe seitdem gehört, daß es sich damit nicht um etwas Exzeptionelles bei Kindern handelt. So manche sollen von dem Zweifel an der Wirklichkeit dessen, was sie umgibt, heimgesucht sein. Bei mir hatte der Zweifel sich allmählich zur Überzeugimg herangebildet. 30 Der Himmel, zu dem ich emporsah, die Sonne, der Mond, die Sterne und die Landschaft, die mich umgab, und was sie belebte oder vielmehr zu beleben schien, das alles war nicht. Meine Augen nur zauberten es hin. Wohin mein Blick fiel, wölbte sich das Firmament, breitete ein Stück Erdenwelt sich aus. Wohin aber mein Blick nicht drang, da war das Nichts, die Leere. 35 Vor mir die Welt, hinter mir das schreckliche Nichts, grau, stumm, tot. O, wie brannte ich darauf, ihm einmal auf die Spur zu kommen, diesem Nichts! Unheimlich war's und häßlich, sich immer sagen zu müssen: es gähnt hinter dir her, macht sich breit in seiner grenzenlosen Armut und unaussprechlichen Langweiligkeit.

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Nein, ich w o l l t e mich nicht beständig von ihm narren lassen, ich w o l l t e es entlarven und ihm auf sein schnödes Geheimnis kommen. Und ich rajante, so schnell ich nur konnte, in den Garten tief hinein, bis an den Zaun, und dort, rasch wie ein Blitz, sah ich mich um... Aber da war schon wieder alles aufgestellt, die Gesträuche, die Bäume, Blumenbeete und Wiesen. Meine Augen waren immer zu langsam gewesen, kamen immer zu spät. Manchmal faßte ich kühne Entschlüsse. Wenn die Menschen nicht sind, wenn ich sie mir nur einbilde, will ich sie mir so einbilden, wie sie sein müßten, um mir bequem und angenehm zu sein. Ich will mir einen Papa einbilden, den ich nicht fürchte, und eine Gouvernante, die mich nicht quält. Und einem in dieser Weise umgestalteten Papa, einer Mademoiselle Henriette, die eitel Liebe und Güte war, begegnete ich dann mit einer imbefangenen Vertraulichkeit, die äußerst mißfälliges Staunen erregte und mir manche Strafe zuzog. Das war gleichsam der stimmende Akkord zu der Erfahrung, die ich im späteren Leben so oft machen sollte. Über keines der Wesen, die ihre Existenz wirklich nur unserer Einbildungskraft verdanken, haben wir unumschränkte Macht. Wir können sie ins Leben rufen, sie aber nicht handeln lassen nach unserm bloßen Gefallen. Sind es Menschen, die den Namen verdienen, dann haben sie ihre eigenen Gesetze, müssen tun nach ihrer eigenen Natur und sich aus diesem Tun ihr Schicksal bereiten. Zu jener Zeit, in der die irdische Welt mir zu einer Sinnestäuschung herabgesunken war, hatte ich mir eine andere, eine so schöne hergestellt, wie eine Kinderphantasie sie nur jemals erschuf. Sie befand sich weit drüben jenseits der Berge und eines großen Meeres. An heißen Sommertagen, wenn die Sonne im Scheitel stand und die Sonnenstäubchen glitzerten wie Diamanten, - wenn ich da recht lang zum Himmel hinaufblickte, da glaubte ich in der leuchtenden Bläue mein Land sich spiegeln zu sehen. Seine Wälder blieben immer dicht, immer blühten seine Blumen und reiften seine Früchte. Die Männer waren hohe Göttergestalten, die Frauen alle wie Feenköniginnen. Die Hauptsache aber waren die unzähligen Kinder, von denen mein Land wimmelte. Sehr verschiedene Kinder und durchaus nicht alle gut und schön, aber alle so vollkommen frei wie junge Füllen auf unabsehbaren Weiden. Ich malte mir ihr buntes Treiben, ihre Spiele und ihre Kämpfe aus, ich dachte mich in sie hinein, ich war sie. Einmal die, einmal der, einmal das mit allen Tugenden geschmückte, opferdurstige kleine Mädchen, einmal ein übermütiger, wilder Junge. Nicht immer konnte ich dann die Gestalt, in der ich eben einhergewandelt war, sofort ablegen. Es blieben Überreste von ihr an mir haften. Und wieder überraschte ich meine Umgebung durch ein Gebaren von ganz besonderer Art. Gewöhnlich holte meine Schwester mich herab von einem Gipfel der Vollkommenheit oder strafte mein keckes und bubenhaftes Benehmen, indem sie ein sehr trauriges Gesicht machte, mich

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mit schmerzlicher Mißbilligung ansah und sagte: "Du bist aber heute wieder so kurios!" Damit brachte sie mich augenblicklich zu mir, denn "kurios" sein wollte ich um keinen Preis. Es erschien mir, ohne daß ich einen Grund dafür hätte anführen können, sehr schimpflich. A l l m ä h l i c h genügte es mir nicht mehr, nur in Gedanken in meinem Lande zu weilen, und ich eröffnete eine Korrespondenz mit seinen Bewohnern. Ich schrieb kleine Briefe auf das feinste Papier, das ich auftreiben konnte, und übergab es den Lüften zur Besorgung. So wurde Uhlands guter Rat: "Gib ein fliegend Blatt den Winden" von mir befolgt, bevor er mir zur Kenntnis kam. Glückwünsche zu dem beseligten Leben, das meine fernen Freunde führten, Ausbrüche der Sehnsucht und Grüße bildeten den Inhalt meiner Briefe. Ich schrieb jeden mehrmals ab, bevor er mir endlich würdig schien, seine Reise anzutreten. Wenn er aber so weit gebracht war, dann kannte meine Ungeduld, ihn abzuschicken, keine Grenzen. Da gab's nur noch einen Wunsch: den günstigen Augenblick erspähen, in dem ich ihn seinen Flug unbemerkt antreten lassen konnte. Eine Stelle war dazu auserwählt; sie befand sich in der südöstlich gelegenen Ecke, die der Garten gegen die Fahrstraße und die Felder bildet. Ein Erdhügel ist dort aufgeschichtet, der einem Gartenhause zum Postament diente, einem hölzernen, weiß angestrichenen Rundbau mit rotem Kuppeldache. Die kleine Anhöhe bietet an sonnigen Sommertagen eine freundliche Aussicht auf die wellige, fruchtbare Landschaft, auf das in weichen, warmen Tönen schimmernde Marsgebirge, auf den abgestumpften Kegel des Klum, der jetzt bewaldet ist, auf dem aber damals nur ein paar einzelne Bäume standen. Für uns knüpft sich an ihn eine Erinnerung, die mir etwas Ergreifendes hat. Im Jahre 1829 kehrte unser Großvater Vockel aus Pyrmont, wo er vergeblich Heilung von einem Brustleiden gesucht hatte, zurück. Auf dem Gipfel des Klum ließ er den Reisewagen halten, stieg aus und überblickte zum letztenmal die Stätte seiner langjährigen und erfolgreichen Tätigkeit. Ein verwahrlostes Gut hatte er übernommen, ein sorglich und weise gepflegtes, das seine Freude geworden war, schickte er sich an, für immer zu verlassen. Klein mußte von dort oben das Bereich seines Strebens und Wirkens ihm erscheinen, und nur wie ein weißer Strich im Grün sein geliebtes Haus. Aber sagen durfte er sich, daß er in diesem kleinen Bereich zum Segen gewaltet hatte, und daß sein Wohnort für die Hütten in seiner Nähe Schutz und Schirm gewesen war. Und nun, nicht ganz zwei Jahrzehnte später, stand die törichte Enkelin dieses Edlen und Weisen dem Klum gegenüber und hielt einige mit großer Kinderschrift beschriebene Papierstreifen in der Hand: ihre offenen Briefe an unbekannte Empfänger. 49

Sogar an - bei uns seltenen - windstillen Tagen war das Gartenhaus auf seinem Hügel von unermüdlich spielenden Lüften umweht. Immer war ich sicher, dort den Boten bereit zu finden, der mein Sendschreiben übernehmen und befördern sollte. Am schönsten war's bei heftigem Sturme, wenn 5 die Wetterfahne, die in Gestalt eines Blätterkranzes das Dach bekrönte, sich knarrend drehte und das Áhrenmeer auf den Feldern große Wellen schlug. Dem Sturm vertraute ich mit Entzücken meine papiernen Brieftauben an, hielt sie hoch empor, war glücklich, wenn er sie mir entriß, und sie bald nur noch wie weiße Pünktchen vor meinen Augen aufblitzten im Sonnenlicht... 10 flogen, flogen - und meine Gedanken ihnen nach. Wer wird sie finden? Ein Mann, eine Frau, ein Kind? und sich wundern, sich freuen und fragen: "Wer schickt mir diesen Gruß? Wer schreibt mir so schöne, Hebe Sachen?" Nie trat die Versuchung mich an, von meinem Verkehr mit den Freunden jenseits der Berge und Meere gegen irgendwen auch nur die geringste Erls wähnung zu tun. Vielleicht leitete mich dabei eine unbestimmte Angst vor einem Zweifel, einem Spott, der den Filigranbau meiner Träume erschüttert oder mir seinen Schimmer, wenn auch nur mit einem Hauch, getrübt hätte. ***

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Zdißlawitz hat keine eigene Kirche; die Gemeinde ist in dem benachbarten Dorfe Hostitz eingepfarrt. Die Fahrstraße, die beide Orte verbindet, läuft bergab und bergan im Bogen zwischen Obstbäumen, Feldern und Hainen. Die Sehne dieses Bogens bildet ein Fußsteig, auf dem unsere Dorfleute in zwanzig Minuten aus ihren Behausungen zur Kirche gelangen. Bei gutem Wetter nämlich, denn bei schlechtem, wenn der Regen unsern lehmigen Boden durchweicht und kniehoch in einen zähen Brei verwandelt, dann gibt es keine Berechnung der Distanzen mehr, und das Anlangen auch des besten Schreiters an seinem Bestimmungsorte wird zur problematischen Sache. In Hostitz, in der kleinen Lokalei, die heute den Titel einer Pfarrei führt, ohne deshalb stattlicher geworden zu sein, lebte unser allerbester Freund, der hochwürdige Herr Pater Borek. Er hatte meine Eltern getraut, mich getauft, unsere Mutter zu Grabe geleitet. Er hat meiner Schwester und mir die Lehren eines milden Christentums vermittelt. Zweimal wöchentlich kam er zur Unterrichtsstunde am Vormittage, bieb zu Tische bei uns, und wenn er den Heimweg antrat, gaben wir Kinder ihm das Geleite. Meine Schwester und ich hatten es nie besonders eilig und wichtig, die Vorbereitungen zu einer Lektion zu treffen. Wenn aber die Religionsstunde in Sicht kam, da entwickelten wir eine ameisenhafte Tätigkeit im Herbeischleppen der unnötigsten Dinge. Ein Tintenzeug, das nie gebraucht wurde, Schreibhefte, deren blütenhafte Unschuld immer unberührt blieb, ein Polster für den Stuhl des geistlichen Herrn, das er immer hinwegtat, bevor er sich hinsetzte. Auf dem Kanapee Platz zu nehmen, konnten wir ihn nicht bewe50

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gen. "Was Ihnen einfällt! Das schöne Kanapee... das ist doch nicht zum Draufsetzen da?" - Schön? Nun, wenn er's sagte! Es stand am Pfeiler zwischen den zwei Fenstern, hatte plumpe, mit Holz eingefaßte Lehnen und trug ein Wollkleid von unerklärlicher Farbe. Eine Art Gelbgrün, über das ein grauer Hauch hinwehte. Ihm gegenüber, an der Langseite des Tisches, ließ Pater Borek sich nieder; wir zwei, die eine rechts, die andere links von ihm, nahmen die Schmalseiten ein. Wenn beim "Aufsagen" des Katechismus oder der biblischen Geschichte eine Stockung eintrat, wartete unser gütiger Religionslelirer„und schwieg und sah ins Gelbgrau hinein mit seinen kleinen, geduldigen Augen, die immer trauriger wurden, je länger die Stockung dauerte. An der Wand, gerade vor mir, machte ein niedriger Schrank sich breit, auf dem unsere Menagerie in stattlicher Reihe paradierte. Zu jedem Geburts- und Namenstage bekamen meine Schwester und ich ein Tier aus Carton-pierre, ein wildes oder ein zahmes, zum Geschenk. Famose Geschöpfe! nur - etwas heimtückisch. Wie sie es anstellten, wer weiß es? Gewiß aber ist: sie verstanden nie, sich so interessant zu machen als während der Religionsstunde. Förmlich in einem neuen Lichte erschienen sie, es war ein Genuß, sie anzusehen. Der Elefant entwickelte eine ungewohnte Anmut, die Tigerin lächelte hold. Wir müssen ihnen einmal gar zuviel Aufmerksamkeit zugewendet haben, denn der Herr Lokalist, dieses Urbild der Langmut, sah sich zu der Warnung genötigt, er werde ein Tuch breiten lassen über unsere Tiere, wenn ihr Anblick uns zerstreue. Wir blieben starr. Ein Ereignis ohne Beispiel: der geistliche Herr drohte mit einer Strafe! Ich weiß nicht, was in diesem Augenblick größer gewesen sein mochte, unsere Beschämimg oder der Wunsch, uns in seiner Meinung zu rehabilitieren. Am Abend, nachdem man uns zu Bette gebracht - wir zwei Großen hatten jetzt unser eigenes Schlafzimmer -, wurde Rat gehalten und das Mittel bald gefunden, dem guten Pater zu beweisen, wie zweckmäßig die Maßregel gewesen wäre, die er uns in Aussicht gestellt hatte. Als er wiederkam, empfingen wir ihn mit siegreichen Mienen und nahmen hastig unsere Plätze am Tische ein. Dabei gab's ein unterdrücktes Gekicher, ein Hin- und Herschießen von Blicken an Pater Borek vorbei, ein verstohlenes Gucken nach der Menagerie. Wird er es endlich merken? - Vivat! Endlich merkte er etwas. Er wandte sich, seine Augen folgten der Richtung der unseren, und nun sah er, daß wir seine Worte in Ehren gehalten und unsere Tiere eigenhändig verhüllt hatten mit unseren Umhängtüchern. Sie waren leider nur etwas zu klein, und von einer Seite guckte ein halber Dachshund, von der anderen ein halber Löwe aus dem Versteck hervor. Meine Schwester sprach, mit wichtiger Miene auf die mangelhafte Umkleidung deutend: "Wissen Sie, Hochwürden, damit unsere Tiere uns nicht zerstreuen."

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Er seufzte: "Aber! Aber!" und blickte ratloser denn je ins Gelbgraue. Unsere ausgebreiteten Umhängtücher, der halbe Dachshund, der halbe Löwe zerstreuten uns viel mehr, als der vollständige Aufzug der Vierfüßler es jemals getan hatte. Vom achten Geburtstage Fritzis an wurden wir mitgenommen, wenn man Sonntags nach Hostitz zur Kirche fuhr. Gut vorbereitet durch den geistlichen Herrn, wohnten wir der Messe mit inbrünstiger Andacht bei. Der Anblick der vielen Betenden, der Ausdruck ihrer Gesichter, ihr Gesang rührte und ergriff mich in der Seele. Ich liebte sie, ich fühlte mich mit ihnen verwandt, weil ich auf der selben Erdscholle wie sie geboren war. Erhebend wirkte auf mich der Klang der Orgel, und mit einem Entzücken, das kein Wort zu schildern vermag, flatterte und bebte mein ganzes Herz der Erscheinung unseres Herrn entgegen, und jubelvolle Demut erfüllte mich, wenn der Glockenklang feierlich seine Ankunft verkündete. Der Herr des Himmels und der Erde ließ sich nieder zu uns, kam zu uns in unsere kleine, schmuckarme Kirche, erfüllte uns mit den süßen und heiligen Schauern seiner göttlichen GegenwartAufmerksam verfolgte ich jede Bewegung und jeden Schritt des Priesters am Altare, merkte mir genau seine laut gesprochenen und den Tonfall seiner nur gemurmelten Worte. Beim Nachhausekommen holte ich dann eine Schachtel herbei, die ein vollständiges Meßgerät enthielt, und versuchte nun selbst, die Messe zu lesen. Meine Schwester ministrierte, wenn auch ungern, und mußte sehr gebeten werden, bevor sie sich dazu herbeiließ. "Ich weiß nicht, ich weiß nicht," sagte sie, "es scheint mir nicht ganz recht." Aber ich wußte sie zu überreden: ich machte ihr klar, daß wir dem Pater Borek eine neue, viel schönere Überraschung als die letzte bereiten würden, wenn wir einmal unser kleines Meßopfer vor ihm darbrächten. Da sieht er doch, wie wir achtgeben in der Kirche, und wie gut wir uns alles, was dort vorgeht, merken. Sie blieb zwar bei ihrem: "Ich weiß nicht, ich weiß nicht," beugte sich aber, wie gewöhnlich, meinem Willen. Eines Nachmittags wurde denn der geistliche Herr eingeladen, in das Zimmer Großmamas zu treten, die ins Geheimnis gezogen war. Er und sie nahmen Platz vor einer Doppeltür in der Tapete. Ihr äußerer Flügel stand offen, von innen war sie weiß ausgelegt, und in ihrer Vertiefung hatten wir unseren Altar errichtet. In feierlicher Stimmung erschienen wir, meine Schwester das Glöcklein schwingend, ich hinter ihr, den verdeckten Kelch in den Händen, ganz Andacht und Versunkenheit. An unsere kleine Gemeinde dachten wir nicht während der unbefugten Darbringung unseres Opfers. Aber als wir, die Konsekrierende und die Ministrierende, ernst, wie wir gekommen waren, von dannen schritten, sah ich den geistlichen Herrn erwartungsvoll an und rechnete auf einen freundlichen, Beifall spendenden Blick. Statt dessen begegnete ich einem sehr befremdeten. Pater Borek sah traurig 52

und fast wie verlegen aus. Wir hatten ihm mit der unbefugten Ausübung einer heiligen Handlung kein Vergnügen gemacht. "Siehst du, es war nicht recht," sagte meine Schwester, als wir in unser Zimmer zurückkehrten, s Sie legte das Kamisölchen ab, das sie angetan hatte, um aufs Haar einem Sakristan zu gleichen; ich entledigte mich der zwei Schürzen, die, eine nach vorn, die andere nach rückwärts gebunden, ein Meßgewand vorstellen sollten. Langsam räumten wir das Meßgerät wieder in seine Schachtel ein, recht mit dem Gefühl: Zum letztenmal und für immer. 10 Bald darauf sollte mein treuer Seelsorger noch weit Schlimmeres durch mich erfahren. Er bereitete uns, in seiner mild eindringlichen Weise, zur ersten Beichte vor und ich malte mir gar deutlich die Wonne aus, die mich ergreifen würde nach der Lossprechung von allen meinen Sünden. Sie sind ausgelöscht, sind 15 wie nie begangen; ich werde keine Gewissensbisse mehr haben, weil ich unhöflich war gegen das Stubenmädchen, voll Streitlust gegen meine Brüder, weil ich so heiß gewünscht habe, ein tüchtiger Prügel möge aus den Wolken niederfahren und der Mademoiselle blaue Flecken schlagen. In engelhafter Reinheit werde ich aus dem Beichtstuhl treten, und engelhafte Freude wird 20 mein Herz erfüllen. Diese Aussicht war entzückend, aber furchtbar die Angst, früher oder später doch wieder in meine alten Fehler zu verfallen und den Glanz meiner Seelenschönheit zu trüben. Ach - wer sterben könnte, gleich nachdem er sündenfrei geworden ist! Er wäre gerettet, er würde pfeilgerade auffliegen in 25 den Himmel und von dessen Bewohnern empfangen werden wie ein Heimgekehrter von den Seinen. Aus dem brennenden Wunsche nach einem so herrlich erlösenden Tod keimte und reifte auch sehr bald der Entschluß, ihn herbeizuführen. Das konnte ich ja, das war ja kinderleicht; es kostete nur einen Schritt oder viel30 mehr einen Sprung - einen Sprung aus dem Fenster. Wer sterben will, springt aus dem Fenster, und diese Art, ins Jenseits zu fliehen, sollte die meine sein. Daß unser Haus nur ein Stockwerk hatte, und daß mein Sturz durchaus nicht todbringend sein mußte, erwog ich nicht; ich war dem Nächstliegenden entrückt, schwebte schon in himmlischen Sphären, der 35 Nähe Gottes entgegen, in die geöffneten Arme meiner Mutter. Ahnungen der Glückseligkeit erfüllten mich, kein Zweifel an der Vortrefflichkeit meiner Tat störte mich, kein Gedanke an den Abschied von den Meinen fiel mir aufs Herz... In der Kapelle war mittels eines Fauteuils und eines Betschemels ein 40 Beichtstuhl improvisiert worden. Sehr gut erinnere ich mich, daß ich beim Eintreten dem geistlichen Herrn zulächelte, und daß er mich ernst ansah und ein weißes Tüchlein, das er in der Hand trug, emporhob und vor sein Gesicht hielt. 53

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Meine Schwester legte zuerst ihre Beichte ab; ich folgte, ich tat mein Schuldbekenntnis mit heißer Reue und vernahm in tiefster Zerknirschung die Ermahnungen meines priesterlichen Freundes und in unsagbarer Spannung der leise gemurmelten Lossprechung. Vor dem unmittelbar darauf Folgenden gibt mein Gedächtnis mir keine Rechenschaft. Ich fmde mich erst im Zimmer meiner Großmutter wieder, auf ihrem Arbeitsstuhle stehend am offenen Fenster, sehe mich hastig und in Angst, überrascht zu werden, das Fensterbrett ersteigen. Nun ein rascher, heftiger Satz, ein Schlag vor die Stirn, ein Funkenstieben vor den Augen... Ich stürzte - aber nicht hinab in den Garten - zurück ins Zimmer. Mein Sprung hatte mich zu hoch getragen; ich war an das Fensterkreuz angeprallt und lag halb betäubt auf dem Boden, als die Tür sich öffnete und Pater Borek eintrat. Im Saal hatten sich alle zum Frühstück versammelt; nur eines seiner Beichtkinder fehlte. Er, von einer unbestimmten Angst erfaßt, ging es zu suchen und fand es und sah, wie es sich bei seinem Anblick entsetzt aufraffte und nun vor ihm stand, verstört, verwundet... Wohin waren plötzlich meine Träume von Engelsunschuld und Himmelsherrlichkeit gekommen? Nach den ersten Fragen schon, die der geistliche Herr an mich richtete, bei der Mühe und dem Schmerz, die es mich kostete, sie zu beantworten, wußte ich: ein schweres Unrecht war, was ich im Sinne gehabt, und ich hatte eine Sünde begehen wollen, viel größer als die Sünden, deren ich mich in der Beichte angeklagt. Mein Freund, mein Vertrauter, mein Lehrer sah traurig zu mir herab, seine gütigen Augen wurden immer trüber, die Kummerfalten längs der Wangen vertieften sich immer mehr... Er streckte die Hand aus, drückte die Schwurfinger an die Beule auf meiner Stirn und sagte: "Da hat Ihr Schutzengel 'Merk's Tölpel' draufgeschrieben." Er hat mir auch später keine Vorwürfe über meine mißlungene Himmelfahrt gemacht. Vorwürfe zu machen war so wenig die Sache unseres lieben geistlichen Herrn! Strenge lag ihm fern; er wandte sie sogar da nicht an, wo sie sehr am Platze gewesen wäre. Das schadete aber seinem Ansehen in der Gemeinde nicht. "Er ist eben ein Heiliger", sagten die Leute, "und meint, alles in Güte schlichten zu können." Zwei Jahre früher, anno 1836, als in unserer Gegend die Cholera wütete, da hatte der stille und einfache Mann sich in seiner Glorie gezeigt. Die Seuche raffte Tag für Tag neue Opfer mit grauenhafter Plötzlichkeit hinweg. Sie überfiel die Menschen und ließ nicht mehr ab von ihrer Beute. Unaufhörlich klang der traurige Schall des Zügenglöckleins vom Dorfe herüber. Tag und Nacht stand Pater Borek im schweren Dienste seines Priesteramtes. Von Sterbebett zu Sterbebett rief es ihn. So manches Mal konnte er zu dem Kranken, dem er die letzten Tröstungen brachte, nur gelangen, indem er über Leichen wegschritt, die auf dem Boden hingestreckt lagen. An den 54

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F e n s t e r n d e s Schlosses rasselte sein W ä g e l c h e n i m m e r u n d i m m e r wieder vorbei. Wir h ö r t e n es von weitem k o m m e n , knieten n i e d e r u n d b e t e t e n für eine s c h e i d e n d e Seele. Im e r s t e n S c h r e c k e n h a t t e n sich die a r m e n M e n s c h e n widerstandslos der u n b e k a n n t e n Feindin überantwortet. M a n m u ß t e sie erst lehren, d a ß es möglich sei, g e g e n sie a n z u k ä m p f e n . A u c h bei uns war die Seuche eingekehrt. E i n i g e d e r D i e n e r w u r d e n von ihr ergriffen. M a m a n E u g é n i e u n d u n s e r kleiner Viktor erlitten schwere A n f ä l l e d e s f u r c h t b a r e n Übels. M a m a erholte sich langsam, d a s schwächlic h e Kind schien verloren. Sogar die f r e u d i g e u n d trostvolle Zuversicht des Arztes, D o k t o r Engel, geriet endlich ins W a n k e n . E r w a r ein n o c h junger M a n n , ein g r o ß e r , dunkelbärtiger J u d e u n d k a m täglich a u s d e r kleinen Stadt K r e m s i e r von e i n e m D o r f , von e i n e m Schloß z u m a n d e r n g e f a h r e n u n d bem ü h t e sich u m d e n ärmsten seiner K r a n k e n mit d e r gleichen Sorgfalt wie um d e n w o h l h a b e n d s t e n . V o n P a t e r B o r e k unterstützt, leitete er die Anstalten, d i e g e t r o f f e n w u r d e n , u m d a s E l e n d , von d e m wir u m g e b e n waren, zu lind e r n u n d n e u e m Unglück womöglich vorzubeugen. M o r g e n s u n d a b e n d s s t a n d e n im S c h l o ß h o f e g r o ß e P f a n n e n voll d a m p f e n d e r R u m f o r d e r S u p p e . D i e L e u t e k a m e n mit T ö p f e n u n d K a n n e n u n d holten eine gute, g e s u n d e N a h r u n g f ü r sich u n d ihre Kinder. M a s s e n von U n t e r k l e i d e r n w u r d e n verteilt. A m eifrigsten von unserer G r o ß m u t t e r , d i e sich nie g e n u g tat, w e n n es zu g e b e n u n d zu h e l f e n galt. W o sie war, d a war H o c h h e r z i g k e i t u n d G ü t e , d a - wenigstens uns Kindern g e g e n ü b e r - war a b e r a u c h Nachsicht u n d etwas Schwäche. Sie b r a c h t e es nicht ü b e r s H e r z , uns sogleich davonzujagen, w e n n wir uns heranschlichen, u m zuzusehen bei d e r S u p p e n - u n d Kleiderverteilung. Sie d r ü c k t e ein A u g e zu, w e n n wir d e r K ö c h i n o d e r einer K ü c h e n m a g d d e n Schöpflöffel abschwatzten, u m ihre Tätigkeit a m S u p p e n k e s s e l nur ein b i ß c h e n , n u r ein klein wenig a u s ü b e n zu dürfen. Allerdings k a n n t e m a n damals die feige A n g s t vor A n s t e c k u n g n o c h nicht, die h e u t e herrscht. N o c h w a r e n d i e u n s i c h t b a r e n F e i n d e nicht entdeckt, d i e in scheinbar reiner L u f t h a u s e n u n d j e d e n A t e m z u g zur L e b e n s g e f a h r m a c h e n k ö n n e n . U n s e r e U n wissenheit w a r u n s e r e Stärke. E s fiel w e d e r u n s e r e m V a t e r n o c h e i n e m and e r n Gutsbesitzer in d e r U m g e b u n g ein, die Flucht zu ergreifen, w e n n im a n g r e n z e n d e n D o r f e eine a n s t e c k e n d e Krankheit a u s g e b r o c h e n w a r . M a n blieb d a h e i m , teilte d a s Mißgeschick d e r kleinen N a c h b a r n , f a n d d a s selbstverständlich u n d setzte es nicht auf R e c h n u n g seiner H u m a n i t ä t . Einmal, a n e i n e m s c h ö n e n Sommervormittag, g e r a d e n a c h der Ausspeisung d e r D ö r f l e r , bei d e r wir uns wieder überflüssig m a c h t e n , k a m d a s Kind e r m ä d c h e n in d e n Hof gelaufen u n d rief uns zu: "Die M a m a läßt I h n e n sagen, Sie sollen hinaufschauen zu d e m Fenster!" u n d d a b e i d e u t e t e sie auf d a s letzte d e s Seitenflügels, in d e m d i e jetzt zum K r a n k e n z i m m e r verwandelte K i n d e r s t u b e sich b e f a n d . "Sie w e r d e n etwas sehen, was Sie schon lange nicht m e h r g e s e h e n haben."

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Nun brach ein unaussprechlicher Jubel aus. Etwas sehen, das wir lange nicht mehr gesehen hatten, und dort am Fenster? Es war leicht zu erraten, was das sein konnte. Der Kleine! der Kleine - und vielleicht auch die Mama! Wir standen und guckten empor in brennender Erwartung. Und jetzt wurde der innere Flügel des Fensters, das wir anstarrten, geöffnet, und dicht an den äußeren trat Mama und mit ihr unsre alte Pepi mit einem Wesen auf dem Arme, bei dessen Anblick wir weinten und lachten. Er war's, es war unser armes Brüderlein. Aber sein Gesicht war gelb wie eine Zitrone und förmlich zusammengeschrumpft. Der kläglich verzogene Mund versuchte uns zuzulächeln, und ein müdes Händchen hob sich und winkte grüßend zu uns herab. Adolf fing an zu tanzen und drehte sich wie ein Derwisch; unsere Kleinste jauchzte. Und alle sandten unzählige Küsse zu unseren Genesenden empor. Ein Wunder, daß die Sehnsucht uns nicht wie an Stricken zu ihnen hinaufzog. In vollster Festfreude fand uns Papa, der mit Doktor Engel aus dem Hause trat. Er warf einen raschen Blick auf uns, wandte sich dem Arzte zu und umarmte ihn. "Kinder," sprach er, "dankt dem. Der heißt nicht nur Engel, der ist ein Engel." Er wiederholte diese Worte regelmäßig, wenn er später jener schweren Zeiten gedachte, und versäumte dann auch nie, unseren getreuen Seelsorger zu preisen: "Ja, der jüdische Arzt und der katholische Geistliche, allen Respekt! Beide waren Helden!" ***

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Meine Zweifel an dem wirklichen Bestehen all dessen, was mich umgab, meldeten sich allmählich immer seltener. Der Glaube an die Schöpferkraft meines Auges erlosch. Zugleich wurden die Bilder meiner erträumten Welt in der unerreichbaren Ferne immer undeutlicher. Die lange und eigensinnig genährte, immer getäuschte Hoffnung auf ein wenn auch noch so schwaches Zeichen "von drüben" entschwand am Ende doch. Auch eine mütterliche Liebe für meine Verse und meine Prosa begann sich in mir zu regen, und statt sie den Lüften auszuliefern, schrieb ich sie sauber und nett in ganz kleine Hefte, die ich selber verfertigte, und von denen ich immer mehrere Exemplare in meiner Tasche trug. Wenn mir eine besonders tönende Strophe zum Lobe Gottes, der heiligen Jungfrau oder eines Helden, den ich heiß verehrte, gelungen war, dann ging mein Mund über von dem, was mein Herz erfüllte. Ich deklamierte und sang meine Hymnen; da säuselte und brauste es nur von "voile und étoile, gloire und espoir* und so weiter! Manchmal wurde meine Schwester aufmerksam und sagte: "Das ist schön; wo hast du das gelesen?" - Aber wenn ich voll Stolz erwiderte: "Das hab ich selbst gemacht!" war es vorbei mit der Bewunderung, und sie bat in ihrer sanften Art: "Ach geh, mach doch keine Gedichte!" - Und nun konnte ich 56

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noch so dringend fragen, was sie gegen mein Versemachen einzuwenden habe, immer lautete ihre Antwort ausweichend und imbestimmt. Es kam ihr "halt so kurios" vor. Ich glaube, daß eine dunkle Empfindung ihr verriet, Versemachen sei eine gefährliche Sache, mit der man sich lieber nicht befassen sollte. Sie forderte mich nie auf, eines meiner Gedichte zum zweiten Male herzusagen, und wich jedem Gespräch darüber ängstlich aus. Von dem Schmerz und dem Groll, den diese stumme Ablehnung mir verursachten, habe ich nie etwas verraten, und wie oft sollte ich sie erleiden! Alles wiederholt sich im Leben. Der Grundton, auf den das Schicksal des Größten wie des Kleinsten gestimmt ist, kommt immer wieder hervor. Die stumme Ablehnung, die mein erstes poetisches Gestammel durch eine Getreueste und Geliebteste erfuhr, wurde meiner Schriftstellerei bis ins reifste Alter durch andere Vielgetreue und Vielgeliebte zuteil. Allverehrte, auch von den Meinen anerkannte Autoritäten hatten mir längst ein Talentchen und die Berechtigung, es auszuüben, zugesprochen, und immer noch bewahrten die mir teuersten Menschen über meine per nefas geborenen Geisteskinder ein rücksichtsvolles Schweigen. Als meine Schwester ihr zehntes und ich mein neuntes Jahr erreicht hatte, wurden wir von Zeit zu Zeit ins Theater mitgenommen. Im jetzigen KarlTheater, damals noch das Kasperl-Theater genannt, ergötzten wir uns an der Aufführung einiger urwienerischer Possen, die genial gespielt wurden. Einen hinreißenden Eindruck aber machte mir Raimunds "Mädchen aus der Feenwelt" (wenn ich nicht irre, im Theater an der Wien dargestellt). Völlig berauscht kam ich nach Hause; die Richtung, in der meine Phantasie fortan ihre Flüge nehmen sollte, war bestimmt. Ich wurde unerschöpflich in der Erfindung von Theaterstücken, die ich nicht aufschrieb, sondern nur meiner Schwester und unsern Freundinnen und Altersgenossinnen erzählte. Gegen diese Art der Produktion wendete Friederike nichts eins; sie übernahm sogar eine Rolle, wenn die Aufführung meiner Komödie beschlossen wurde. Und das war keine so leichte Sache, denn die Schauspielerinnen mußten die Reden improvisieren. Es geschah mit Feuereifer und gänzlich unbefangen. Auf ein Publikum brauchten wir nicht Rücksicht zu nehmen; das fehlte, ging uns aber nicht ab. Die Gouvernanten, die es hätten bilden können, saßen im Nebenzimmer und schwatzten. Uns selbst zu erfreuen und zu gefallen war der Zweck unserer künstlerischen Leistungen, und sie erfüllten ihn glänzend. Da - in der Zeit ihrer hohen Entfaltung, schien eine noch höhere ihnen bevorzustehen. Eines Sonntags erfuhren wir die merkwürdigste Überraschung. Unsere feinste Darstellerin, sie, die mit meiner Schwester in den Rollen der unschuldig Verfolgten abwechselte, erschien, Triumph im rosigen Gesichtchen, in den zarten Händen ein Manuskript, und verkündete uns, daß sie ein Theaterstück gedichtet und aufgeschrieben habe. Nein, war's möglich? Aufgeschrieben, ein ganzes Theaterstück? - Nein, diese Fanni, wer hätte ihr das zugetraut! Sie lächelte still vergnügt, setzte 57

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sich an den Tisch und begann mit leiser, bewegter Stimme ihr Werk vorzulesen. Wir hörten mit gespannter Aufmerksamkeit zu; es gefiel uns außerordentlich; es war etwas Neues. Bisher hatten wir uns im Heroischen oder im Lustigen bewegt. Fanni brachte etwas Sentimentales. Die Rollenverteilung machte keine Schwierigkeiten; wir einigten uns rasch. Am zufriedensten war wohl ich. Mir war die Darstellung eines alten Onkels anvertraut, der zankt und poltert, sich aber zuletzt als der weichste Gemütsmensch entpuppt und eine rührende Rede hält. Der Abend wurde damit zugebracht, die Rollen auszuschreiben. Um sie auswendig zu lernen, benutzten wir die Woche hindurch jeden freien Augenblick. Am nächsten Sonntag fand die Probe, am übernächsten die Aufführung statt; nicht bei uns, sondern im Hause der Mutter unserer Dichterin. Ein kleines Theater war aufgestellt, ein kleines Publikum war eingeladen, die Vorstellung ging wie am Schnürchen. Alle Personen, die auftraten, wurden ernst genommen und erhielten Applaus; bloß der alte Onkel erregte immer nur Heiterkeit. Seine Zornesausbrüche wirkten komisch, und als er am Schlüsse rührend werden wollte, brach das Publikum in Gelächter und der Mißverstandene in Tränen aus. Und nun kam der bitterste Tropfen im Leidenskelche dieses Abends. Für sein mühsam unterdrücktes Schluchzen, für die heißen Tränen, die ihm in den grauen Bart liefen, erntete der alte Onkel lauten, grausamen Beifall. Am nächsten Sonntag stellte unsere Freundin sich an der Spitze eines zweiten Theaterstücks ein, das sie uns auch vorlas. Es war - wieder eine Neuerung - in deutscher Sprache geschrieben. Ihm aber geschah unrecht von Anfang an. Man wollte sich nicht mehr mit dem Ausschreiben der Rollen und mit dem Memorieren plagen. Überdies sagte der Stoff des neuen Dramas uns nicht zu. Es war ein biblischer: "Abrahams Opfer". Willkürlicherweise hatte die Dichterin die Erzmutter Seirah in den Vordergrund gestellt. Sie spionierte, entdeckte und erlauschte alles, was ihr Gatte sann, war, sichtbar oder unsichtbar, immer auf der Bühne. Sie hatte sich durch ihr zudringliches Wesen schon recht mißliebig gemacht, schon manches: "O je, die Sarah! ist sie wieder da?" war laut geworden, als die Vorleserin zu der Stelle kam: "Sarah tritt auf. Sie wirft ihre Augen in eine Allee"... Weiter ging es nicht. Ein Schrei der Entrüstung erhob sich. Das hätte man wissen mögen, wie das zu machen war. Man bat um Erklärungen; man verhöhnte jede, die versucht wurde; man brach den Stab über das Opfer Abrahams. Dieser unselige Mißerfolg riß auch mich ins Verderben. Unsere besten Kräfte entdeckten plötzlich, daß die Komödienspielerei sie eigentlich langweile. Meine in hellem Enthusiasmus erdachten Theaterstücke teilten das Schicksal meiner Gedichte - niemand wollte sie mehr anhören. So wurden denn meine kleinen Hefte abermals meine einzigen Vertrauten. Längere Zeit hindurch half mir eine trotzige Resignation, über ihren Inhalt Schweigen zu bewahren. Ebensogut hätte ich aber eine Brut Singvögel mit mir her58

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umtragen und sie bewegen können, stumm zu sein. "Hat er es einmal aufgeschrieben, will er, die ganze Welt soll's lieben." Mir vertrat meine Schwester diese ganze Welt, die "es" lieben sollte. Sie jedoch war erschrocken und betrübt, als ich ihr wieder mit meinen Gedichten kam. So hatte ich denn meine unglückliche Kuriosität noch nicht abgetan? Wie unzufrieden wären der Papa und die Großmutter und die Tante, wenn sie etwas von ihr erführen! Ich gestand mir, daß sie recht haben könne, wollte es aber nicht zugeben und berief mich auf das Beispiel der Mutter Fannis, die sich freute, daß ihre Tochter Theaterstücke machte. - Ja, es war eben anders bei uns, und ich hatte mich zu fügen. Wenn man weiß, daß man etwas nicht tun soll, läßt man's bleiben. Das ist ganz einfach. Sie hielt mir eine ihrer hübschen, wehmütigen Predigten, die dem Tiefsten ihres warmen, frommen, liebevollen Herzens entquollen. Dabei wurde sie so traurig und brach endlich in so heiße Tränen aus, daß ich, gerührt und ergriffen, einen heroischen Vorsatz faßte und ihr versprach, nicht mehr davon zu reden, wenn "es" in meinem Kopf wieder anfangen würde zu dichten, auch nie mehr etwas aufzuschreiben, und wenn die Versuchung dazu mich anträte, innig zu beten um die Kraft, ihr zu widerstehen. So tat ich, mit heißer Inbrunst, und die Gebete, die ich im frommen Selbstbetrug zum allgütigen, allmächtigen Vater und Schöpfer emporsandte, waren nichts anderes als ein armes, kindisches Versgestammel. ***

In der Stadt begleiteten wir zwei Ältesten unsere Großmutter am Sonntag in die Ruprechtskirche, und nach der Messe durfte dann immer eine von uns noch eine Weile bei Großmama bleiben. Da war denn wieder m e i n Sonn25 tag, und ich stand am Fenster und genoß die wohlbekannte Aussicht. Unser Haus hatte die Form eines langgeschwänzten Klaviers; sein schmales Ende zog sich vom Haarmarkt herüber durch zwei kleine Gassen, bis zum sogenannten "Rabenplatzl". Dort überragte es turmartig seine beiden Nachbarn zur Rechten und zur Linken, uralte, umfangreiche Häuser. Das Gegenüber 30 bildete ein gelbes, plumpes Gebäude, das uns nur seine Ecke zuwandte und immer im Begriff schien, auf dem abschüssigen Terrain des "Platzl" zur Donau hinab zu gleiten, der auch die beiden Gassen, die neben ihm hinliefen, entgegenstrebten. Sehr heiter und belebt war es hier herum nicht, am wenigsten des Sonn35 tags, wenn die Kaufleute ihre Läden geschlossen hatten. An diesem einen Sonntags-, einem Frühlingsmorgen, aber erschimmerte alles, worauf meine Augen sich richteten, im Reflex des Glanzes, der mir die Seele erfüllte. Ich freute mich am Sonnenlicht, das auf fremden Fensterscheiben blinkte - zu den unseren drang es nicht. Ehrwürdig und heb sogar erschienen mir auf

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den Dächern die plumpen Rauchfänge mit ihren schiefen Hüten, denen der blaue Himmel einen leuchtenden Hintergrund abgab. In der Kirche war ich heute besonders andächtig gewesen, hatte die heilige Messe eifrig nachgebetet aus dem Büchlein "Nouvelles heures à l'usage s des enfants", das ich seit meinem siebenten Jahre besaß. Den krönenden Schluß meiner Sonntagsfeier bildete immer das Genießen des poetischen Anhangs, der dem kleinen Buche beigegeben war und unter anderem die "Méditation sur la mort" von Pierre Corneille enthielt. Sie erschien mir als das Höchste, zu dem ein Dichtergeist sich aufschwingen kann, sie machte mein 10 Entzücken aus und mein Leid; denn meine eigenen Poesien erschienen mir so fahl und nichtig wie Staub im Vergleich zu diesen prunkvollen Versen. Sie klangen damals, als ich am Fenster stand und den Himmel und die Rauchfänge bewunderte, in mir nach. Ich sagte sie leise vor mich hin, so lang, bis ich, hingerissen von meiner Begeisterung, dem Wunsche, sie geteilt zu sehen, 15 nicht mehr widerstehen konnte. So trat ich denn zu Großmama, die auf dem Kanapee saß und strickte, und begann, jetzt aber laut: "Pense, mortel, à t'y résoudre, Ce sera bientôt fait de toi. Tel aujourd'hui donne la loi, Qui demain est réduit en poudre."

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Sie sah etwas befremdet von ihrer Arbeit auf, sie lächelte; der gütige Ausdruck, mit dem ihre Augen auf mir ruhten, ermunterte mich fortzufahren. Und öfters, während ich sprach, nickte sie mir Beifall zu, und als ich zum Schlüsse gekommen war, lobte sie das Gedicht und mich - weil ich es auswendig gelernt hatte. Ihr Lob, mit dem sie so sparsam war wie mit Tadel, berauschte mich, und noch mehr davon zu erlangen, begehrte meine geschmeichelte Eitelkeit. Auswendig gelernt? Ach was! Ich hatte es nicht auswendig gelernt... Es hatte sich von selbst meinem Gedächtnis angeklebt. Alle Verse, die ich las, klebten sich ihm an, fielen mir wieder ein beim Spazierengehen oder beim Spielen. Die Verse kamen zu mir, weil ich selbst Verse machen konnte. Ja, ich mußte es der Großmama anvertrauen... Auf einmal waren meine guten Vorsätze, war alles vergessen, was ich meiner Schwester versprochen und mir selbst zugeschworen hatte. Ich wußte nur noch, daß alles gesagt und gesungen werden müsse, was mir im Herzen klang und tönte, andern zur Freude, mir selbst zum Heile. Hastig und konfus werde ich es vorgebracht haben, aber meinen wirren Reden entnahm Großmama doch die Neuigkeit, daß ich "Poesien" machte. So schöne noch nicht wie Pierre Corneille, aber das wird kommen, später, ganz gewiß, wenn ich eine erwachsene Dichterin sein werde... Du lieber Gott! In der Schilderung dieses ruhmvollen Zukunftsbildes kam ich nicht weit. Großmama unterbrach sie mit einer Strenge, die ich noch nie von ihr erfahren hatte, und die mir bis zum heutigen Tage 60

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unerklärlich geblieben ist. Warum hat die sonst Gütigste und Nachsichtigste mein Geschwätz nicht wie eine kindische Torheit, sondern wie ein Unrecht behandelt und hart zurückgewiesen? Bevor ich mich besonnen und den Mut zu einem Wort der Entschuldigung gefunden hatte, war ich fortgeschickt worden und befand mich unter der Obhut Josefs, Großmamas altem Diener, auf dem Heimweg in den zweiten Stock. Das war eine Reise! Das war ein Emporsteigen mit einer Last auf dem Gewissen, die schwerer wurde mit jeder Stufe, die ich sonst lustig hinaufhüpfte und jetzt so mühsam erklomm. Wie oft blieb ich stehen; wie brannte mir die Lüge auf den Lippen: "Josef, ich bitte Sie, kehren wir um; ich hab etwas vergessen." Aber ich brachte es nicht heraus. Wir gingen weiter; wir langten an. - Nun war keine Hoffnung mehr. Ich würde keine Gelegenheit mehr finden, mich zu rechtfertigen - es wenigstens zu versuchen. Großmama kam, ich wußte das wohl, auf eine einmal erteilte Rüge nie wieder zurück. Die Sache war für sie abgetan, und meine Absicht, eine Dichterin zu werden, blieb in ihren Augen etwas Unrechtes und Sündhaftes. Ihre Entrüstung hatte es mir gezeigt. Ach, wenn der Himmel sich meiner erbarmen und mich erlösen wollte von dieser Sündhaftigkeit, oder was es denn sein mochte. "Erlöse mich! erlöse mich!" rief ich den Allmächtigen an, und bei ihm und bei meiner Getreuesten, meiner Schwester, suchte ich Hilfe in meiner mit Verzweiflung recht nah verwandten Ratlosigkeit. Aber Hilfe wußte meine Schwester nicht zu bringen. Sie meinte immer nur: "Sprich nicht davon; dann vergeht's vielleicht." Vielleicht! Ihre Zuversicht war dahin; sie begann mein Übel als ein unheilbares anzusehen. Wir beteten ein wenig und weinten viel, und ich wünschte mir ehrlich und heiß, bald zu sterben, um nicht noch mehr unwillkürliche Schuld auf mein Haupt zu laden. Gut bei diesem Verfahren der Meinen war bloß die Absicht. Gewollt haben sie mein Bestes und, ohne zu wissen was sie taten, mir das peinvoll demütigende Gefühl eines angebornen, geheimen Makels aufgebürdet. Mit der Zeit wandte sich das Blatt, jedoch nicht zum Besseren. Woraus mir ein Vorwurf gemacht wurde, das war etwas Unentrinnbares und ohne mein Wissen und Wollen durch eine höchste, göttliche Macht über mich verhängt. Die Leiden, die ich dadurch erduldete, und leiden wollte ich ja! erschienen mir nicht wie gewöhnliche, sondern wie besonders schöne und erhabene, wie die eines Märtyrertums, und aus diesem Bewußtsein schöpfte ich eine große Widerstandskraft; es erweckte aber auch in mir ein tüchtiges Maß Hoffart. ***

Gegen die Schreckensherrschaft unseres Drachen in Gouvernantengestalt 40 hatte sich allmählich eine kleine Partei gebildet. Wenn er gar zu arg wetterte, 61

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erschien unversehens Pepinka oder unser feines, braves Stubenmädchen Apollonia und machte dem Tanz ein Ende. Ja, wenn es hier "einen solchen Spektakel" gibt, muß der Papa gerufen werden, hieß es mit vielsagenden Blicken nach der Mademoiselle. Sogleich legte sich der Sturm, und wir merkten wohl, auf wen die Drohung gemünzt war. Auch Tante Helene fand sich oft ein, holte uns ab und nahm uns mit in ihr Zimmer. Sie bewohnte das selbe, in dem Maman Eugénie gestorben, und wir sprachen von jüngst vergangenen glücklichen Zeiten, in denen sie noch bei uns gewesen war. Aber auch längst vergangene und sehr traurige Zeiten ließ Tante Helene vor uns aufleben, ihre freudlose, sorgenvolle Jugend. Sie war in Armut aufgewachsen; sie hatte ihren Bräutigam und zwei Brüder in den Kriegen gegen Frankreich verloren. Über den dritten (unseren Vater) war sie lange in quälendem Zweifel geblieben, ob er tot oder gefangen sei. Viel Leiden hatte die Tante erfahren müssen, bis ihr endlich ein Glück erblühte. Ihrer Ehe mit einem ausgezeichneten, allverehrten, aber weit älteren Manne entsproß ein Söhnchen. Nun lernte sie das Beste und Höchste kennen, was das Leben dem Weibe zu bieten hat. Ihr Kind wurde ihre Freude, ihr Licht. Zu einem Loblied gestaltete sich ihre Rede, wenn sie von ihm sprach, und mit Spannung hörten wir zu; denn alles war interessant, und am interessantesten die Kindheit des Onkel Moritz. So titulierten wir unseren Vetter, nicht wegen des Unterschiedes im Alter, sondern wegen des großen Ansehens, das er bei uns genoß. Seine Mutter verwahrte in ihrem Schreibtisch einen Schatz: alle Zeugnisse, die der "Onkel" sich verdient hatte als kleiner Junge in der Privatschule Kudlig, später im Theresianum, wo er den Gymnasialunterricht erhielt, und endlich in der Ingenieurakademie, die er als Armeeleutnant verließ. Eine lange Kette der Ehren. Für uns war die Zeit, in der Onkel Moritz als kleiner Junge das Institut Kudlig besucht hatte, die interessanteste seines ganzen Lebens. Dieses unglaublich merkwürdige Institut befand sich nämlich auf dem Hohen Markt und dort auch - man denke! - das Polizeihaus. Meisterlich verstanden wir das Gespräch in seine unheimliche Nähe zu lenken, von wo immer es auch ausgegangen sein mochte. Und dann hob ein Fragen an, so dringend und so neugierig, als hätten wir von der Antwort, die kommen würde, keine Ahnung gehabt: "Was hat manchmal dort gestanden, dort, beim Polizeihaus? Vor dem Balkon und vor der großen Figur mit der Waage in der Hand?" "Was dort gestanden hat? Nun, ihr wißt ja, der Pranger ist manchmal dort aufgerichtet worden." "Ja, ja, der Pranger. Wie der nur aussehen muß, so ein Pranger? Und wie das sein muß, wenn man oben ist, und alle Menschen schauen hinauf... Und einmal, nicht wahr, hat der Onkel Moritz auch hinaufgeschaut?" "Ja, einmal, weil die Magd, die ihn im Institut abholte, ihn nicht rasch vorbeigeführt hat, wie sie sollte, sondern ihm erlaubt hat, stehen zu bleiben." 62

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"Und da waren just zwei Frauen oben auf dem Pranger, eine alte und eine junge, und was haben die getan? Erzähl! erzähl!" "Ihr wißt es ja ohnehin. Die alte hat geweint, und die junge hat geschimpft und die Leute angegrinst." "Auch den Onkel Moritz?" "Auch ihn." "Ach, die muß grauslich gewesen sein! Und was hat er gesagt?" "Was soll er gesagt haben? Nichts. Abends aber hat er nicht einschlafen können aus Angst, sie kommt und grinst ihn an." Der kleine Onkel Moritz von damals stand jetzt (1840) im siebenundzwanzigsten Jahre, war Oberleutnant im Geniekorps und kürzlich auf seine Bitte von Olmütz nach Wien transferiert worden, um an der Ingenieurakademie die Professur der Naturwissenschaften zu übernehmen. Tante Helene lebte auf nach seiner Ankunft. Man kann sich ein innigeres, schöneres Verhältnis nicht denken, als das zwischen dieser Mutter und diesem Sohne. Dafür mußte bei unserem Vater und seinem Neffen die gegenseitige Zuneigimg und Wertschätzimg ihre Kraft bewähren, um die Kontroversen, in die beide Männer oft gerieten, friedlich ausklingen zu lassen. Der ältere verteidigte seine Ansichten mit sprudelnder Lebhaftigkeit, der junge die seinen gelassen und nachdrücklich. Am Ende eines solchen Streites war es immer Papa, der die Hand zur Versöhnung bot. Er hatte ein starkes Emotionsbedürfnis und liebte Versöhnungen ebensosehr, wie er den Kampf liebte. Ihm, der als sechzehnjähriger Jüngling der Theresianischen Akademie und ihren Schulen Valet gesagt hatte, um sich dem Kriegsdienst zu widmen, war es nicht recht begreiflich, wie ein Soldat sich auf die Wege der "Gelahrten" begeben konnte. Der Gelahrten! Durch das Vertauschen des zweiten e in diesem Worte mit einem a glaubte er seine geringe Meinung von dem Stand, den es bezeichnet, an den Tag zu legen. Sie tragen einen Fluch an sich, diese Menschen; sie sind unpraktisch und finden jedes Stühlchen, auf dem sie beim Mahle des Lebens Platz nehmen möchten, immer schon besetzt. Papa hatte vor Jahren zu gleicher Zeit mit Hegel die Kur in Karlsbad gebraucht und von der äußeren Erscheinung des berühmten Philosophen einen befremdlichen Eindruck erhalten. Sie blieb für ihn das Urbild der Gestalt, in der die Leuchten der Wissenschaft auf Erden wandeln. Er versäumte nie, wenn er von seiner Begegnung mit Hegel sprach, dessen vermeintes Wort zu zitieren: "Ich habe nur einen Schüler gehabt, der mich verstanden hat, und auch der hat mich mißverstanden." Ebenso brachte er gern ein Kommando in Erinnerung, das während Bonapartes ägyptischen Feldzuges vor jedem Zusammenstoß mit dem Feinde gegeben wurde. Da hieß es zur Sicherung der notwendigen wie der überflüssigen Begleiter des Hauptquartiers: "Les ânes et les savants au milieu!" Diese Spötteleien ließen Onkel Moritz sehr kühl. "Ich fühle mich nicht getroffen," sagte er; "ich bin kein 'savant'. Ich komme mir vor wie ein 63

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Schwamm, sauge mich an in den Vorlesungen Ettinghausens und Schrötters und presse mich am nächsten Tage in meiner eigenen Vorlesimg aus." An seinem freien Tage, am Sonntag, speiste er regelmäßig bei uns und erwies uns vor dem Diner manchmal die Ehre eines Besuches im Schoolroom. Es befriedigte unsere Eitelkeit gar sehr, daß er Mademoiselle Henriette nicht mehr Beachtimg schenkte, als die Höflichkeit gebot, und deutlich merken ließ, er sei nicht ihret-, sondern unsertwegen gekommen. Gewiß aber nicht, um uns Komplimente zu machen. Er belächelte unser seit Frau Krähmers Scheiden gänzlich in Verfall geratenes Klavierspiel und unser fortwährendes Französischparlieren. Eines Tages machte er sich darüber lustig in Gegenwart Mademoiselles. Sie nahm es übel - was ihr freilich nicht zu verargen war -, schleuderte ihm einige zornige "Mais Monsieurf zu und stolzierte aus dem Zimmer. Uns schwebten die Folgen vor Augen, die aus der bedrohlich gewordenen Stimmung unserer Gouvernante erwachsen würden. Onkel Moritz fuhr fort, uns zu hänseln. Er bedauerte die arme deutsche Wissenschaft, weil wir so gar keine Notiz von ihr nahmen. Wohin man auch blickte, weit und breit wax kein deutsches Lehr- oder Lesebuch zu erschauen. Und unsere Hefte, die auf dem Tische lagen, die er zur Hand nahm und durchblätterte! Sie trugen die Aufschriften: "Grammaire", "Calligraphie", "Dictée", "Dictée", "Calligraphie", "Grammaire". Die Abwechslung war gering. Nun aber, zu meinem Entsetzen, kam ihm ein Heftchen in die Hand, das ich, von Mademoiselle am Lehrtisch beim Dichten überrascht, in eines meiner großen Hefte geschoben und dort vergessen hatte. Er schlug es auf und las: "Ode à Napoléon" - mein letztes Gedicht. Etwas grandios Heroisches, das der Nachwelt, wenn es ihr erhalten geblieben wäre, erst den rechten Begriff vom Genie des Imperators gegeben hätte. Den Schluß bildete ein cri de haine an die Adresse des perfiden Albion, dem ich schmachvollen Untergang auf Erden, im Jenseits die ärgste Höllenpein verhieß. "Von wem ist denn das?" fragte Onkel Moritz in einem Tone, bei dem mir heiß und kalt wurde, und der so wegwerfend war, daß meine Schwester sich in meiner Ehre gekränkt fühlte. Die Getreue, der meine Dichterei doch so herzlich zuwider war, nahm sie einem andern gegenüber in Schutz und sagte mit allerliebster Würde, als ob von etwas Respektablem die Rede sei: "Es sind Gedichte von der Marie." Er lachte, las weiter und verzog während des Lesens keine Miene, und ich hatte die Empfindung, daß mich jemand würgte, und daß mir dabei hunderttausend Ameisen über die Wangen liefen und über den ganzen Körper, mit kalten, hastigen Füßchen. Nach einer Zeit, in der ich mir einbilden konnte, daß ein Begriff der Ewigkeit mir aufgegangen war, legte Onkel Moritz das Heftchen auf den Tisch zurück. Gleichgültig, wie wenn es ein Knäuel Zwirn oder irgend eine andere Geringfügigkeit gewesen wäre. Ich wagte nicht, ihn anzusehen, und noch weniger, ihn zu fragen: "Hat es dir denn gar nicht gefallen?" Was wir 64

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gestern gelitten haben, ist nichts; was wir heute leiden, ist alles. Die Abfertigung, mit der Großmama mich vor einigen Jahren so unglücklich gemacht hatte, erschien mir bei weitem weniger grausam als das Schweigen des ersten Lesers meiner von Flammen der Begeisterung durchloderten Ode. Im Laufe der Woche erhielt ich eine hübsche, mit einem Seidenband umwundene Rolle zugeschickt. Sie enthielt sehr gutes Zuckerwerk und einen Briefbogen. Auf den hatte der Onkel in seiner beneidenswert klaren, gleichmäßigen Schrift das Loblied auf den Rhein aus dem "Waldfräulein" von Zedlitz hingesetzt. Vom Anfang: O Rhein, wie klingt dein Name hold, Gleich einer Glocke, hell von Gold, O fließe fort in stolzer Ruh', Taufwasser deutschen Volkes du! bis zum Schlüsse:

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Es singen die Sänger zur Harfe laut Was sie im Nebel der Lüfte geschaut! Sie singen fort bis diese Stund, Noch ist geschlossen nicht ihr Mund; Sie werden singen vom stolzen Rhein, So lang er fließt in das Meer hinein! Nun aber folgte ein Epilog:

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O, sing auch du, du deutsche Maid, Nicht fremden Ruhm in fremdem Kleid! Du bist ein Sproß aus gut german'schem Blut, Was deutsch du denkst, hab deutsch zu sagen auch den Mut. Diese Verse galten mir! An mich waren sie gerichtet, und ich fühlte mich dadurch hochgeehrt und ausgezeichnet. Und wie leuchtete ihr Inhalt mir ein und erhellte mir das Herz! Ich durfte sagen, was ich dachte, wenn ich es nur in deutscher Sprache sagte. Ein sehr Gestrenger sanktionierte mein Dichten unter dieser Bedingung. Aber - "was deutsch du denkst"... Es kam mir nicht vor, daß meine Gedanken gebürtige Deutsche wären. Als kleine Kinder hatten wir fast nur Böhmisch und später dann fast nur Französisch gesprochen - und die Sprache, die wir reden, ist doch die, in der wir denken. Eine strenge Selbstüberwachung begann. Meine Einfälle wurden auf ihre Nationalität geprüft. Innerlich fand meine Umgestaltung aus einer französischen in eine deutsche Dichterin geschwinder statt, als je die Verwandlung einer Raupe in einen - sagen wir - Kohlweißling stattgefunden hat. Von der Notwendigkeit, mir die deutsche Sprache als meine Denksprache anzugewöhnen, war ich sofort überzeugt, und keinesfalls hat meine Sangesfreudigkeit eine lange Störung erlitten. Der Hymnus an den Rhein bekam eine zahlrei65

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che Nachkommenschaft. Mit ganz besonderer Wonne schwelgte ich im Wohlklange des Verses: "Es singen die Sänger zur Harfe laut"... Die Harfe bildete denn auch die köstlichste Bereicherung meines neuen poetischen Hausrats, und bald begann es in meinen Liedern von Harfenklängen zu tönen. Doch vertauschte ich oft das musikalische Rüstzeug der Barden mit der Laute der Minnesänger, weil sich auf "Laute" so viel mehr und lieblichere Reime finden lassen, als auf das stolze, herbe "Harfe". * * *

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Der Winter des Jahres 1841 war verflossen, ein stiller, fast trübseliger Winter. Wir hatten alle ein dumpfes Bewußtsein davon, daß sich im Hause ein außerordentliches Ereignis vorbereite. Etwas Erwartungsvolles, Spannendes lag in der Luft, die Stimmungen unseres Vaters wechselten noch rascher als sonst; er schien in einem schweren Kampfe mit sich selbst befangen. Wir fanden ihn oft, wenn wir zu Tante Helene kamen, in ein Gespräch mit ihr vertieft, das bei unserem Eintreten abgebrochen wurde. Auch Großmama nahm an diesen Beratungen teil, die - wir sahen es wohl - einen quälenden Eindruck auf sie machten. Die glostende Aufregung, in der die Spitzen der Familien sich befanden, warf Reflexe nach allen Richtungen. Die Dienstleute zischelten untereinander und schwiegen plötzlich, wenn eines von uns in ihre Nähe kam. Sie machten geheimnisvolle Gesichter; sie nahmen uns gegenüber ein liebevoll-bedauerndes, beschützendes Wesen an. Das seltsamste aber war die Veränderung, die mit Mademoiselle Henriette vorging. Sie bemeisterte sich, mäßigte ihre Zornesausbrüche und ganz besonders ihre Großmut im Erteilen von Strafen. Alle Hausgenossen schienen einen Grund zu haben, uns ungewöhnliche Rücksichten zu erweisen; nur Monsieur Just blieb immer gleich unbefangen, immer der selbe gute, heitere Kamerad. An einem regnerischen Sonntagnachmittage dieses Frühjahrs waren wir alle fünf bei Tante Helene versammelt und spielten eifrigst "Schwarzer Peter", als Papa eintrat. Er blieb eine Weile am Tische stehen, wechselte einige Worte mit der Tante, wandte sich dann an uns und fragte: "Kinder, was würdet ihr sagen, wenn ich euch eine neue Mama brächte?" Die drei Kleinen sahen verständnislos zu ihm empor, Fritzi wurde über und über rot, senkte den Kopf und schwieg. Mir kam eine Erleuchtung. Das also war's - darüber beriet sich unser Vater mit Großmama und mit der Tante, darüber zischelten die Leute - wir sollten eine Stiefmutter bekommen. Alle bösen Stiefmütter, die in den Märchen ihr Wesen treiben, standen mir vor Augen, und es fiel mir nicht ein, daß Maman Eugénie auch eine Stiefmutter gewesen war, und daß es demnach unaussprechlich gute Stiefmütter geben könne. Ohne mich lange zu besinnen, rief ich aus: "Bring uns keine neue Mama; wir brauchen keine!" 66

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Wenn ich mich recht erinnere, überhörte Papa diesen kühnen Protest; am nächsten Tag aber machte seine Verlobte ihren ersten Besuch in unserem Hause. Sie kam in Begleitung ihrer Mutter, die eine imponierende Dame mit noch außerordentlich schönen Gesichtszügen war. Von der ersten Begegnung mit ihr und ihrer Tochter hielt unsere Großmama Vockel sich fern, nur Tante Helene nahm Teil daran. Das Benehmen der drei Damen gegeneinander hielt sich in den Grenzen einer kühlen Höflichkeit, und auch uns bezeigte die zukünftige Stiefmutter keine besondere Freundlichkeit, was recht und ehrlich war. - "Ich übernehme euch, wie man Pflichten übernimmt," sagten ihre lichten, blauen Augen, und wie gut verstanden wir sie! Meine Schwester teilte mein Gefühl einer gewissen peinlichen Beschämung dieser hohen Erscheinung gegenüber, die uns bald so nahe stehen sollte. Als wir verabschiedet und in unsere Zimmer zurückgeschickt wurden, sagte Fritzi schwerbetrübt: "Wenn wir nur nicht fünf wären!" Die neue Mama war ebenso imponierend wie ihre Mutter, hatte das dreißigste Jahr schon zurückgelegt und neigte zur Fülle. Ihre Haare waren blond, ihr Teint war rosig, ihr Mund, nicht klein, aber fein geschnitten, hatte schön geschwungene Lippen und war geschmückt mit den herrlichsten Zähnen. Im ganzen bot sie ein Bild blühender Gesundheit und selbstbewußter Kraft. Der ersten Begegnung mit ihr folgte bald eine zweite, die den herben Eindruck der früheren bedeutend milderte. Und nun machten wir zusammen auch gleich aus, daß sie am Ende noch sehr gut mit uns sein werde. Wirklich erfuhren wir bald darauf durch sie eine große Wohltat. Fremde Leute hatten ihr die Augen geöffnet über Mademoiselle Henriette, und sie verlangte deren Entfernung aus dem Hause und sorgte zugleich für einen Ersatz. Es war der beste, der sich hätte finden lassen. Das Fräulein, dem jetzt unsere Erziehung anvertraut wurde, hieß Marie Kittl und war eine Deutschböhmin, die Tochter eines fürstlich Schwarzenbergischen Hofrates und Schwester des damaligen Direktors des Prager Konservatoriums. Wir kamen bei diesem Regierungswechsel aus der Hölle in den Himmel. Ich wüßte keine gute und vortreffliche Charaktereigenschaft zu nennen, die unser Fräulein Marie nicht besessen hätte. Geboren für ihren Beruf, war sie eine Kinderfreundin ohnegleichen und begabt mit dem innigsten Verständnis für alle Vorgänge in der Kinderseele. Sie kannte keine Rücksicht auf ihr eigenes Interesse, ihr Behagen, ihre Gesundheit, wenn es sich um unser Wohl handelte. Wie viele Nächte hat sie an unseren Krankenbetten durchwacht, wie sorgsam uns betreut in der Rekonvaleszenz, wie klug und geschickt uns lernen gelehrt, mit welcher Hingebung an unseren Spielen teilgenommen! Daß wir sie nicht von der ersten Stunde an vergötterten, daran trug ihr Äußeres schuld, das nichts besonders Einnehmendes hatte. Im Gegensatz zu unseren früheren, groß und schlank gewachsenen Gouvernanten war ihre Gestalt und waren auch ihre Hände und Füße etwas in die Breite geraten. 67

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Sie stand in den Zwanzigern, schien aber viel älter. Ihrer Hautfarbe fehlte die Frische, ihre Bewegungen waren ohne Anmut, ihre Nase... doch nein, ich will nicht detaillieren. An jedem einzelnen ihrer Züge hätte sich etwas aussetzen lassen, während der Gesamteindruck, den die Physiognomie und das Wesen unseres Fräuleins Marie machten, höchst sympathisch war. Ein feiner, nobler etwas schwärmerischer Geist sprach aus ihren kurzsichtigen Augen, und bald wurde es uns zur Ehrensache, sie Beifall spendend auf uns ruhen zu sehen. Sie war eine tüchtige Musikerin und sang besonders Lieder sehr hübsch, mit angenehmer, gut geschulter Stimme. Wirklich ergreifend trug sie eine der Kompositionen ihres Bruders, das liebenswürdige Lied "Der Vogelsteller" vor. Wer kennt es heute noch? Wer kennt noch Kittls Oper "Die Franzosen vor Nizza", die in den vierziger Jahren vom Prager Publikum mit großem Beifall aufgenommen wurde? Wer auch schwärmt heute noch für den Dichter Egon Ebert? Marie Kittl tat es aus vollem Herzen, und wir, getreu unserer Manie, angenehme Überraschungen zu bereiten, fanden uns eines Tages feierlich als Deklamatricen bei ihr ein. Wir wollten etwas im Geheimen auswendig Gelerntes vortragen: ein Gedicht von Ebert, das die Sage von dem Mönche behandelt, den ein Wunder zum Glauben an die Ewigkeit bekehrt. Er war gegen Abend in den Wald gegangen, hatte sich ins Moos gelegt unter einen Baum, in dessen Zweigen ein Vöglein lieblich sang, war eingeschlafen und mochte wohl eine Stunde geschlafen haben; denn als er erwachte, glitten schon dunkle Schatten über den Waldesgrund, und die Kirchenglocke rief zur Hora. Der Mönch erhob sich und schritt dem Kloster zu. Er ging den wohlbekannten Weg, und seltsam verändert kam ihm der vor, seltsam verändert alles um ihn her, die Sprache, die Tracht der Menschen, denen er begegnete; fremdartig sogar mutete die Gegend ihn an und völlig fremd das Kloster, das er nun betrat. Das ist sein altes, kleines Kloster nicht mehr, das ist ein Prachtbau, in Marmorglanz schimmernd, mit riesiger Pforte, mit breiten Gängen. Er steht im Treppenhaus und Sieht hinan die hohen Stufen, Sieht hinan die hohen Hallen, Schlägt die Hände bang zusammen: Gott, o Gott! Was ist geschehn?

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Mönche kommen, ihm alle unbekannt, scharen sich um ihn, fragen ihn, was er wünscht, wen er sucht. Seine Freunde möchte er sehen, seine Genossen: Ruft mir doch den Vater Bernhard Und den weisen Cyprianus, Daß sie mir das Dunkel klären Und das Rätsel lösen mögen.

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Seine Worte erregten Staunen und Grauen: Liegt ja doch der Vater Bernhard Und der weise Cyprianus Schon dreihundert Jahr' im Grabe. 5

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So erfährt der Mönch, daß er im Walde nicht ein Stündlein, sondern drei Jahrhunderte verschlafen hat, und die Ahnung einer unendlichen Zeitdauer steigt in ihm auf. Nim aber drohte unserer Unternehmung eine Gefahr. Fritzi sollte das Gedicht sprechen bis zu der Stelle: "und das Rätsel lösen mögen", dann war's an mir, fortzufahren. Ja - wenn die Namen der zwei Patres nur nicht für uns die Quintessenz alles Komischen enthalten hätten! Wenn es nicht schon in Fritzis Gesicht gezuckt und geblitzt hätte, sobald der Moment, sie über die Lippen zu bringen, nahte, wenn ich mich nur vor verhaltenem Lachen nicht gekrümmt und gewunden hätte, während sie losbrach und die guten Mönche silbenweise und kreischend herbeirief. Als dann ich sie übernahm, um sie für dreihundert Jahre ins Grab zu legen - da war es Fritzi, die sich krümmte und wand und ich, die laut auflachte. So ging es bei den Proben, so bei der Vorstellung, die kläglich mißraten wäre, ohne die Langmut unserer Zuhörerin. Marie wartete ruhig, bis unser Lachanfall überstanden war und blickte uns dabei nachsichtsvoll an mit ihren kleinen Augen, aus denen eine Güte leuchtete, so groß wie die Welt. (Mathematisch würde ich das beweisen, wäre ich Sophie Germain.) Sie kannte das junge Kindervolk; sie fragte nicht nach dem Warum? seines Lachens oder Weinens, sie wußte: Sensationen, das sind seine Gründe. Wir empfanden dankbar die Wohltat ihres Verstehens und fühlten uns glücklich in ihrer sicher geleitenden Hand. Einmal, ganz besonders gerührt durch neue Beweise ihrer geduldigen Liebe, baten wir sie, uns gegenüber nicht das steife "Sie" zu gebrauchen, sondern uns wie die kleinen Geschwister, die wir darum beneideten, "du" zu nennen. Sie forderte das selbe von uns, und nun war das freundschaftliche Verhältnis auf den Ton gestimmt, in dem es sich erhalten sollte durchs ganze Leben. Wie eine kleine Insel der Seligen ragt die Erinnerung an die Zeit, die wir damals verlebten, vor mir empor. Sie war die schönste, friedlichste meiner ganzen Kindheit. ·**

Seit Anfang Mai befanden wir uns auf dem Lande unter der Obhut unserer Großmutter und Tante Helenens. Papa war in Wien zurückgeblieben, wo am 21. Juni seine Vermählung stattfand. Zwei Tage später sollte er mit seiner jungen Frau in Zdißlawitz eintreffen. Nach seiner Berechnung, wenn auf 69

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der Reise alles klappte, wenn nicht Regen eintrat und die Wege völlig ruinierte, in den Nachmittagsstunden. Empfangsfeierlichkeiten waren streng verboten; im Hause fand keine Veränderung statt. Tante Helene zog aus den Zimmern Maman Eugénies, die sie benutzt hatte, in eine Gastwohnung zu ebener Erde - das war alles. Wir hatten uns bis jetzt wenig mit dem Gedanken an die neue Stiefmutter beschäftigt; als es aber hieß: morgen ist sie da! gerieten wir in die gespannteste Erwartung. Daß Großmama stiller und ernster war denn je, und Tante Helene besonders traurig, bemerkten wir kaum. Vom Wetter hing die rechtzeitige Ankunft der Reisenden ab - es gab also nichts Interessanteres als das Wetter. Und das war schlecht. Am Abend schon begann es zu regnen, und es regnete fort die ganze Nacht und auch den ganzen Morgen! Im Hause herrschte Ratlosigkeit. Die Beamten kamen und halfen sie vergrößern. Der Regen hielt an - was tun? Gestern waren Relaispferde entgegengeschickt worden; sollte man noch andere nachschicken? Wenn sie überflüssig waren, gab's Verdruß; wenn sie gebraucht wurden und fehlten, gab's auch Verdruß. Der Verwalter konstatierte das unter frenetischem Tabakschnupfen; der Burggraf, dem daran lag, nicht alle seine Pferde auf die Landstraße zu schicken, prophezeite gutes Wetter. Und richtig, es machte sich! Zu Mittag lag ein silberner Schimmer über dem Himmel, am Nachmittag schien die Sonne. Da zog man unserer Kleinsten ihr weißes Kleidchen an und auch uns weiße Kleider, und unseren Brüdern ihre neuen blauen Blusen, und für jedes von uns brachte der Gärtner ein Bukett. Die Kleine sollte das ihre mit einigen begrüßenden Worten zuerst übergeben, und der Anblick dieses engelhaft schönen Kindes, das für sich und für seine Geschwister um ein bißchen mütterliche Liebe bat, mußte die neue Mama gewinnen und rühren. Nim waren wir zu ihrem Empfang bereit, und so würde sie denn gleich kommen. Wir standen im Hofe, und alle Augenbücke wollten das eine oder das andere das Rollen eines Wagens gehört haben, der den Berg heraufgefahren kam und nur der ihre sein konnte. "O, mir klopft das Herz!" rief eines der Fünf und ein anderes: "Und erst mir, fühl nur!" - "Meins klopft noch stärker." Jedes wollte im Besitze des stärksten Herzklopfens sein. So verging der Nachmittag. Das Wetter trübte sich wieder; wir wurden ins Haus zurückgerufen, lungerten herum, schlichen von einem Fenster zum anderen und spähten hinaus. Die Kleinste hatte vor Schläfrigkeit schon ganz verglaste Augen, wollte aber durchaus nicht zu Bett gehen und weinte bitterlich, als Pepinka sie in die Arme nahm und unter den zärtlichsten Liebkosungen ins Kinderzimmer trug. Dann gelang es Monsieur Just mit vieler Mühe, die beiden Büblein, die vor Schläfrigkeit nur noch lallten, aber doch wie die großen Schwestern aufbleiben wollten, in ihre Stuben zu locken. Endlich, ganz spät, ließ die Tante das Souper auftragen. Niemand aß; erschöpft von der Aufregung, in der der Tag zugebracht worden war, verlang70

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ten wir nach nichts anderem mehr als nach Ruhe. Still saßen wir bei Tische und hörten mit stumpfer Gleichgültigkeit den Regen unablässig niederströmen und prasselnd an die Fenster schlagen. Es wurde elf Uhr. Nun legte Großmama ihr Strickzeug, das sie mechanisch vorgenommen hatte, fort, und "Schlafen gehen" hieß es für uns. Aber die Leute sollten doch noch eine Weile auf den Beinen bleiben und der Nachtwächter in der Nähe des Hoftores seines Amtes walten. Wir lagen in unseren Betten im ersten tiefen Schlafe, als Großmama uns weckte. Sie war in Nachttoilette, ganz eingehüllt in ein umfangreiches braunes Seidentuch und trug einen Leuchter mit brennender Kerze in der Hand. "Kinder, sie sind da!" rief sie. Ihre Stimme zitterte und auch die Hand zitterte, in der sie den Leuchter hielt. Das Haustor knarrte, Pferdehufe trappelten auf dem Holzpflaster der Einfahrt, ein schwerer Wagen rollte langsam herein... Einige Augenblicke, und aus der Tür des Nebenzimmers traten die neue Mama und unser Vater. Sie begrüßten die Großmama, kamen zu uns heran und küßten eine nach der anderen. Papa erzählte von den Widerwärtigkeiten der Reise. Besonders arg war es auf der letzten Strecke gewesen. Nur Schritt für Schritt kamen die Pferde auf den elenden Wegen vorwärts; die Finsternis wurde fast undurchdringlich. Gar oft mußte der Jäger absteigen, mit einer Wagenlaterne vorausgehen und leuchten... Und die Xaverine! Eine solche Ängstlichkeit wie die ihre war dem Papa noch nie vorgekommen - geschrieen, alle Heiligen angerufen... sie hatte keine Courage, seine Frau. Es war bald wieder dunkel und still um uns her, aber einschlafen konnten wir lange nicht. Wie feucht das Kleid Mamas an ihr niederhing, und auch ihr Gesicht war ganz feucht; wir hatten es bemerkt, als sie uns küßte. Sie hatte geweint. "Natürlich, weil sie sich gefürchtet hat," meinte Fritzi, die das innigste Verständnis besaß für jede wie immer geartete Ängstlichkeit. Nach einer Weile ich hatte gedacht, sie schliefe schon - begann sie wieder: "Eine Hochzeitsreise... Es ist traurig, eine solche Hochzeitsreise!" Ich wunderte mich sehr. War das eine Hochzeitsreise? Das Wort schon hatte einen so heiteren Klang; man stellte sich darunter etwas ganz Helles, Angenehmes vor... Konnte man denn weinend ankommen von einer Hochzeitsreise? ***

Die erste Empfindung, die Mama Xaverine uns einflößte, war ein großes Bedauern. Wir fanden sie oft in Tränen. Sie litt an Heimweh, sie litt unter den Schwierigkeiten ihrer Stellung. Auf einen Schlag mit fünf Kindern gesegnet, die vierte Frau eines ältlichen, ihr fast fremden Mannes sein, durch 40 ihre Umgebung, durch alles, was sie vor Augen hatte, an ihre Vorgängerin71

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nen gemahnt werden, Vergleiche hervorrufen, die nicht immer das Wohlwollen anstellt, und nie seinen guten Mut verlieren - dazu hätte viel gehört. Überdies wirkte gar befremdlich auf sie der Einblick in einen musterhaft geführten Haushalt. Alles festgefügt und ineinander greifend, strenge Ordnung und durchsichtige Klarheit, nirgends ein Winkel, in dem unlauteres Getriebe und betrügerisches Wesen sich verbergen konnten. Eine atmende, fühlende Maschine, die ihre Tagesarbeit munter und gelassen verrichtete, an der aber auch das kleinste Rad und die kleinste Schraube glänzte vor Vergnügen an ihrer treuen Pflichterfüllung und der Anerkennung, die ihr dafür zuteil wurde. Im Geiste dieses genialen Pedantismus weiterzuwirken, lag nicht in der Absicht und nicht in der Fähigkeit der neuen Gebieterin. Sie suchte vor allem unserem Hause den etwas bürgerlichen Anstrich abzustreifen, der ihm eigen war, trotz des soliden Wohlstandes, der in ihm herrschte, der vielen Diener, der hübschen Livreen, der eleganten Equipagen. Der Verwandtenund Bekanntenkreis Mamas stand auf der sozialen Leiter um eine Sprosse höher als der unsere und sollte a l l m ä h l i c h der tonangebende werden. Ohne Frage zog mit der neuen Stiefmutter ein frischerer Geist bei uns ein. Sie besaß, was man "des talents d'agrément" nannte, sang mit angenehmer Stimme und nettem Ausdruck französische Romanzen, und wir waren glücklich, sie auf dem Klavier begleiten zu dürfen. Ebensosehr freute es uns, ihr zuzuhören, wenn sie, was sie regelmäßig tat, im Herbste, als die Abende länger wurden, vorlas. Grüns edles Gedicht "Der letzte Ritter", "Kenilworth", "Godwie-Castle", auch manches gute Buch von Friederike Bremer und Emilie Flygare-Carlèn lernten wir durch sie kennen mit einem Genuß, für den ich nie aufhören werde ihr dankbar zu sein. Wir gewannen sie bald sehr lieb und bewunderten, außer ihrem Gesang und ihrer Vorlesekunst, auch ihre Malereien. Kleine Ölbilder, die sie unter der Leitung ihres Lehrers gemalt hatte, würden vor einer strengeren Kritik als die unsere bestanden haben. Besonders reizvoll aber fanden wir Aquarelle, die in einem Album versammelt und von Mama ganz allein gemalt waren: Darstellungen aus dem Leben, das sie daheim geführt hatte, ihre Lieblingsplätze im Garten und im Schlosse - alles höchst interessant, und heute müßte man mir mit einem Rudolf oder Franz Alt kommen, um mich so zu erfreuen, wie die Bilder der guten Mama mich erfreut haben. Sie zeichnete kühn und naiv und lebte mit der Perspektive auf dem selben Fuße wie Giotto. Da gab es zum Beispiel in ihrem Album ein Bild, das den Titel führte: "Mein Zimmer" und das Aussehen eines aufgerichteten Schachbretts hatte. An dem hingen mehrere Möbel und ein kleiner Hund. Nach oben verjüngte sich das Brett, und auf seiner schmalen Kante stand an einem offenen Fenster eine Dame vor einem Blumentopf. - Wenn die nur nicht herunterrutscht! dachte man. Weil sie aber am nächsten Tage noch dastand, verging die Sorge, und die Heiterkeit des Anblicks blieb. 72

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Im Laufe des Sommers verließ uns unsere liebe Tante Helene, und schwer wurde ihr und uns der Abschied, obwohl die Trennung nur kurze Zeit dauern sollte. Sie fuhr nach Wien, um im dritten Stock des Rabenhauses eine Wohnung für sich und Onkel Moritz einzurichten, die selbe, die sie schon innegehabt hatten, als er noch ein Kind war, und die später er und ich durch viele Jahre bis zu seinem Tode bewohnt haben. Sie war nicht groß, und durch keines ihrer Fenster drang je ein Sonnenstrahl. Ihm aber durchleuchtete die Erinnerung an seine glückliche Kindheit und an Mannesjahre voll reicher geistiger Tätigkeit ihre bescheidenen Räume. Er hat den Abbruch des alten Gebäudes nicht mehr erlebt. Nun ist es hinweggefegt. An einer Ecke des Platzes, den es wuchtig und breit eingenommen hat, erhebt sich ein schmuckes Haus mit schmalem Eingangstor, schmaler Treppe, niedrigen, schmalen Gängen und niedrigen Zimmern. Nach englischer Mode, heißt es, die aus der Not eine Tugend macht. Der Rest des Baugrundes ist Straßengrund geworden. Wagen und Automobile rasseln, Ströme von Menschen schreiten über den Boden, in den einst die "drei Raben" ihre mächtigen Fundamente senkten. Eine zweite Vielgetreue schied im Laufe des Winters. Die alte Pepinka trat in Pension. Mama Xaverine sah ihrer Niederkunft entgegen und hatte für das Kindchen, das zur Welt kommen sollte, eine andere, jüngere Wärterin gewählt. Pepinka schlich sich nicht leise davon wie Anischa, stürmisch und tränenreich war ihr Abschied von dem Hause, in dem sie fünf Kinder mit grenzenloser Pflichttreue und Hingebung aufgezogen hatte. Besonders schwer fiel ihr die Trennung von ihrem Liebling, von unserer Ältesten. Und diese hörte ich am Abend des selben und manchen folgenden Tages noch lange schluchzen, nachdem man uns zu Bette gebracht hatte. Ich kannte die Ursache ihres Grams. Ihn erweckte der Gedanke: jetzt geht auch Pepinka schlafen und hat niemand, der ihr "gute Nacht" sagt. In ihrer Unermüdlichkeit nahm Fräulein Marie die Obsorge über unsere Kleine auf sich, die damais noch mehr ins Kinder- als ins Gouvernantenzimmer gehört hätte. Aber sie befand sich in bester Hut, und für meine Schwester und mich war es ja doch ein auserlesenes Vergnügen, das "Sophiederl" jetzt immer in der Nähe zu haben und mit beaufsichtigen zu dürfen. Unter dem Einfluß Mamas erfuhr nach und nach unser ganzes Unterrichtswesen eine Umgestaltung. Vom Gediegenen hüpften wir zum Gleißenden hin. Ein neuer Klavierlehrer setzte uns bald instand, unserem Vater Potpourris aus verschiedenen Opern vorzuspielen. Zu seinem Geburtstage konnten wir ihm "reizende" Aquarelle darbringen, in denen sich stellenweise eine erstaunliche Routine verriet, die wir mit dem besten Willen nicht für selbsterworben halten konnten. An die Stelle des altmodischen Herrn Minetti trat eine elegante Französin, die den Tanzunterricht damit begann, daß sie uns gehen, stehen, sitzen lehrte und in den Salon eintreten und den Salon verlassen und grüßen - je 73

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nach Gebühr. Der Praxis ließ sie die Theorie vorangehen. Man hätte ihre Definitionen der verschiedenen Arten zu grüßen bei einem Haare geistvoll nennen können. Zum Schluß kamen dann, oft wiederholt, die Worte: "O, meine jungen Damen, genau muß das wissen, wer gute Manieren haben will! Gute Manieren, meine jungen Damen, sind sehr viel, beinahe alles. Wenn Napoleon gute Manieren gehabt hätte, wäre er ein g a n z großer Mann gewesen." Mit einem heben Hausgenossen, mit Monsieur Just, war eine Zeit nach der Ankunft unserer Stiefmutter eine traurige Veränderung vorgegangen. Seine kindliche, immer gleichmäßige Fröhlichkeit, sein inniges Interesse für jedes einzelne von uns, seine eifrige Teilnahme an unseren Spielen - alles vermindert, alles wie verwelkt und erloschen. Im Sommer schon war es uns oft aufgefallen, daß er dasitzen konnte, ohne Bewußtsein dessen, was um ihn vorging. Wenn wir ihn in einem solchen Augenblick anriefen, fuhr er auf und starrte uns an, verwirrt und fragend, wie plötzlich geweckt aus tiefem Traume. Manchmal rannte und rannte er im Garten herum, bis ihm der Atem versagte und er halb bewußtlos auf eine Bank niedersank. Unserem Vater gegenüber war er immer völlig unbefangen gewesen, hatte nie die geringste Furcht vor ihm gezeigt, hatte auch keinen Grund dazu gehabt, denn Papa hielt ihn wert und ergriff jede Gelegenheit, ihn zu loben und ihn unseren Brüdern als Muster aufzustellen. Jetzt aber ging Monsieur Just ihm aus dem Wege, so oft es ihm nur möglich war. Wir bemerkten, daß er eine ganz andere Stimme hatte als sonst, wenn er mit unserem Vater sprechen mußte, der doch immer gleich gut gegen ihn war, und dem sein seltsames Wesen Besorgnis zu erregen schien. Auch die Gegenwart Mamas setzte den armen Monsieur Just in große Verwirrung; er wurde rot und blaß und geriet völlig außer Fassung. Warum nur? Sie behandelte ihn ja nicht um ein Haar anders als uns, ebenso freundlich und mütterlich. Einmal geschah's, daß sie bei Tische eine Frage an ihn stellte und er zusammenfuhr, die Augen auf sie richtete, erbleichte, wankte und - ohnmächtig zu Boden stürzte. Wir weinten und jammerten und hielten ihn für tot. Er aber, eine Stunde später, lachte über uns und über seinen Unfall und versicherte, daß ihm nichts fehle, gar nichts, und daß es sehr gesund sei, manchmal ein bißchen ohnmächtig zu werden. Der kleine Viktor ließ sich über das Unheimliche der Sache nicht so leicht beruhigen und fragte unaufhörlich: "Mais pourquoi avez-vous été mort, Monsieur Just? pourquoi avez-vous été mort?" Mit Fräulein Marie hatte Just lange Unterredungen. Sie schien ihm tröstend, beschwichtigend zuzusprechen. Einmal glaubten wir zu hören, daß sie ihn beschwor, auf die Bitten unserer Eltern Rücksicht zu nehmen, und daß er darauf erwiderte: "Ich kann nicht, es ist unmöglich, ich muß fort!" 74

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Im Spätherbste dann, bald nach unserer Rückkehr in die Stadt, begab es sich, daß er vom Abendessen wegblieb, das immer gemeinsam für uns in unserem Lehrzimmer aufgetragen wurde. Erst als es für die Brüder Zeit war, schlafen zu gehen, holte er sie ab. Er brachte ihre Mäntel, legte sie ihnen um, sagte meiner Schwester und mir gute Nacht, ging auf Fräulein Marie zu und drückte ihr die Hände herzlich und lange, konnte aber nicht sprechen. Wir sahen voll Bestürzung, daß er schwer mit seinen Tränen rang, und erhielten keine Antwort auf unsere besorgten Fragen, was ihm sei und warum er weine. Er schob die Knaben bei den Schultern vor sich her, der Tür zu, die sich bald darauf zum letztenmal hinter diesem lieben Menschen schloß. Am nächsten Morgen kamen die Brüder weinend zu uns herüber. Monsieur Just war fort. Er hatte ihnen Lebewohl gesagt und uns alle noch, alle, vielmals grüßen lassen. Mama war den Knaben auf dem Fuße gefolgt, bemühte sich, uns zu trösten, und versicherte, Monsieur Just werde wiederkommen, er habe jetzt nur für kurze Zeit zu seiner Mutter nach Frankreich reisen müssen. Und dann bat sie die gute Marie, heute auch die Buben zu beaufsichtigen und mit der ganzen Kindergesellschaft im großen Familienkobel - das war ein weitläufiger, viersitziger Wagen - in den Prater zu fahren. Für abends hatte Papa eine Loge im Kasperltheater genommen, wo Döbler seine Taschenspielerkünste vorführte. Vierzehn Tage hindurch hatten wir Ferien. Man ließ uns nicht Zeit, dem Schmerz um unseren Freund nachzuhängen. Wir undankbaren, leichtsinnigen und eitlen Kinder genossen jedes dargebotene Vergnügen aus dem Grunde und bildeten uns viel ein auf die Mühe, die unsere Eltern sich gaben, uns zu zerstreuen. Einmal fuhren wir nach einer Vorstadt, in der sich eine vielgerühmte Erziehungsanstalt für Knaben befand. Unser Besuch mußte angekündigt gewesen sein, denn der Vorsteher und seine Frau erwarteten uns auf der Schwelle ihres Hauses. Wir wurden durch alle seine Räume geführt, auf die Ordnung und Reinlichkeit, die in ihnen herrschten, auf die Zweckmäßigkeit jeder Einrichtung, auf jeden Vorzug des mustergültigen Instituts aufmerksam gemacht. Unsere Eltern waren voll der Anerkennung und des Lobes. Aus dem Hause ging's in den Garten, dessen Größe gerühmt wurde und der uns sehr klein erschien. Einige Dutzend Knaben und Jünglinge spazierten herum, spielten oder turnten. Alle, die vom Vorsteher-Ehepaare angesprochen wurden, antworteten je nachdem mit einem kindlichen: "Ja" oder "Nein", "Mutter" oder "Vater". Am nächsten Tage bei Tisch ergingen sich unsere Eltern im Preise der Anstalt, ihrer Leiter, des blühenden und zufriedenen Aussehens der Zöglinge. Fräulein Marie und auch wir Kinder wurden aufgefordert, unsere Meinung zu sagen. Wie das Urteil der anderen ausgefallen ist, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, daß ein Gelächter sich erhob, als ich erklärte, Mutter zu 75

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sagen zu einer fremden Frau würde ich m e i n e n Kindern nie erlauben! Bald darauf standen die Brüder im Speisezimmer, eingeknöpft in ihre kleinen Paletots, die Hüte in der Hand, zum Fortgehen bereit. Aus den hellblauen Augen des jüngeren sprach eine schmerzliche Betroffenheit. Sollte mit ihm nicht etwas geschehen, das eigentüch unmöglich war, sollte er nicht fort von Zuhause? Der ältere hatte den Kopf von ihm abgewandt, er wollte ihn nicht ansehen, sein Anblick hätte ihm zu weh getan. Wir kannten ihn, Fritzi und ich, wir wußten, was in ihm vorging. Er hatte jetzt nur eine Sorge. Wie wird es dem Kind ergehen im Institute? Unter allen Buben, die dort sind, wird er der jüngste und schwächste sein, und sein starker Bruder wird vielleicht nicht immer zurechtkommen können, um ihm beizustehen, wenn er sich in Händel einläßt, der leicht gereizte, streitbare Kleine. Keiner der beiden sprach, und auch wir brachten kein Wort heraus, und es war, als ob die Scheidenden uns fast schon entfremdet wären. Wir betrachteten sie von einer Fenstervertiefung aus, und der Druck einer beängstigenden Befangenheit, eines peinlichen Zwiespalts lag auf uns. Warum schickt man sie fort, diese zwei Kinder, die ein gutes Daheim, die Eltern und Geschwister haben? Ist es nicht grausam, sie fortzuschicken unter fremde Menschen? Aber die Eltern tun es, und was sie tun, hatten wir von klein auf gehört, ist immer das Rechte. Der Wagen wurde angemeldet, Papa kam aus seinem Zimmer, und aus dem ihren, von der entgegengesetzten Seite, kam Mama. Sie umarmte die beiden kleinen Buben und ermahnte sie, recht brav zu sein, sie würden dann schon am nächsten Sonntag wiederkommen dürfen. "Und dableiben?" Ich glaube, wir riefen das alle zugleich wie aus einem Munde, und die Enttäuschimg war bitter, als es dann hieß: "Ja, ja, den ganzen Tag." Papa schritt der Ausgangstür zu. "Sagt Adieu und kommt!" sprach er, und es war leicht, aus seinem strengen Tone eine unterdrückte Rührung herauszuhören. Von einigen der Notizbüchlein, die ich damals immer nebst Bleistift und Federmesser in meiner Tasche herumtrug, sind noch Rudera erhalten. Ein ganz schief mit Bleistift liniiertes Blättchen kam mir neulich in die Hand, auf dem, kaum noch zu entziffern, geschrieben steht: "Die Brüder sind heute fort. Ich habe einen Schmerz in meinem Herzen. Der ist viereckig und hat Ränder, die sind scharf. Er hat auch Spitzen." Am nächsten Sonntag hatten die Knäblein wirklich "Ausgang". Papa holte sie selbst im Institute ab. Sie waren traurig und gedrückt, und der Kleine vertraute mir geheimnisvoll an: "Was dort für Buben sind!... Wie die sind! Das kannst du nicht denken, wie die sind!" Ihre Ferienzeit brachten die Brüder in Zdißlawitz zu, und wir verlebten gute Tage mit ihnen. Einer der Vorsteher der Anstalt, Herr Hönig, hatte sie begleitet. Er war mit Monsieur Just an Liebenswürdigkeit, Lustigkeit, an Er76

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findungsgabe bei den Spielen nicht zu vergleichen, aber ein vortrefflicher Mensch, ein wahrer Freund seiner Zöglinge. Sie hatten leider bald das Mißgeschick, auch ihn zu verlieren; er trat, wenn ich nicht irre, eine Professorstelle an einem Gymnasium an. Sein besonderer Schützling, der kleine Viktor, war ganz untröstlich und schrieb an Papa: "Ich hab drei Tage um Herrn Hönig geweint." Im September, an meinem Geburtstage, erlebte ich das für mich vielleicht denkwürdigste Ereignis meiner Kinderjahre: Mama schenkte mir Schillers sämtliche Werke in einem Bande. Ein großes, dickes, prächtiges Buch, eng gedruckt, ein Reichtum, nicht zu erschöpfen, und wenn ich hundert Jahre alt würde. In den ersten Tagen, im ersten Rausche des Besitzes, war von systematischem Lesen nicht die Rede. Ich glaube, daß es eine der Balladen gewesen ist, die mich umfing wie eine feurige Umarmung und mich erhob in ein Bereich nie geträumter Herrlichkeit. Das gibt's? - das gibt's? - Das ist eingefangen da auf diesen Blättern, und wenn man seine Augen auf ihnen ruhen läßt, steigt es herauf, durchtränkt die Seele, prägt sich dem Gedächtnis ein, und man hat es, man kann es vor sich hersagen und sehen, was er gesehen hat, dieser Dichter, und uns darstellt mit prunkvollen Worten, wie nur der Eine, Einzige sie sprechen konnte! Das Titelbild, ein Stahlstich nach der Schillerstatue von Thorwaldsen, stellte mir den Dichter in edelster Erscheinung dar. So mächtig, so voll Größe und Kraft und das schöne Haupt doch gebeugt unter der Last des schweren Kranzes. Selbst errungen, der überreiche, der ihn nun bedrückte. Klar wurde es mir freilich nicht, daß der Bildhauer vielleicht diesen Gedanken hatte ausdrücken wollen; nur als etwas Unbestimmtes, unsagbar Anziehendes, kam es mir zum Bewußtsein. Marie und meine Schwester fanden mich einmal in die Betrachtung des Bildes meines vergötterten Dichters versunken, und ich machte sie auf sein unter dem Kranze gesenktes Haupt aufmerksam. Da legte Fritzi ihre Hand auf meinen Scheitel und sagte: "Sie glaubt gewiß, daß auch sie einmal einen solchen Kranz auf ihrem Kopf haben und so dastehen wird." Sie hatte das liebreich, mit ganz harmlosem Spotte gesprochen und mich trotzdem schwer beleidigt. Gerade jetzt meldete "es" sich nicht mehr. Seitdem ich im Besitze meines Schillers war, lebte ich nur in ihm, und seine Gedichte unermüdlich herzusagen, machte jetzt mein Glück und meine Freude aus. Wie oft mußten die alten, vertrauten Lindenbäume unserer Allee den Eichwald brausen hören! Wie oft rief ich ihnen, die gewiß darüber staunten, zu: "Ich habe gelebt und geliebet!" Alles wiederholt sich im Leben, weil wir selbst uns immer wiederholen, und wie ich einst mit allen meinen Gedanken und Gefühlen in der Haut eines kühnen Drachentöters oder eines armen, verfolgten Stieftöchterleins gesteckt hatte, so war ich jetzt abwechselnd eine oder die andere Heldengestalt Schillers und nahm zum Erstaunen meiner Umgebung plötzlich laut Ab77

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schied von meinen geliebten Triften oder forderte mit ungestümem Pathos Gedankenfreiheit. Böse Stunden der Reaktion stellten sich allerdings auch ein, ich konnte auch Entrüstung empfmden über meinen Abgott. Er hatte mir mit der matten Limonade und mit verschiedenen Grobheiten, die der alte Miller seiner Frau sagt, "Kabide und Liebe" verunstaltet, und sehr lächerlich kamen die Gedichte an Laura mir vor. Ich erlaubte mir sogar, eines von ihnen zu travestieren, und wurde dafür von Marie tüchtig gezankt. Sie bedauerte, daß Mama mir ein Kleinod in die Hand gegeben habe, dessen Wert zu schätzen ich noch ganz und gar nicht vermöge. Ich würde mir sonst eine Kritik nicht erlauben - aus Pietät. Zur Pietät aber fehle mir die Reife. Sie fehlte mir freilich auch zur Würdigung dieser Strafpredigt. Viel später erst ging ein Verständnis des innigen Zusammenhanges zwischen Unreife und Mangel an Pietät mir auf. Aus tausenden von Lehren, die das Leben uns erteilt, aus täglichen Erfahrungen können wir es schöpfen. Pietät ist immer nur die Frucht der edlen Ausgeglichenheit, die man Reife nennt. Die Jugend weiß nichts von ihr und ewig unerreicht bleibt sie den Halbgebildeten, den Vorurteilsvollen, den Parteilichen. Daß meine Stiefmutter unrecht gehabt hat, mir, dem elfjährigen Kinde, die Werke Schillers zu schenken, kann ich heute noch nicht einsehen. Ich werde es meinen Eltern auch immer danken, daß sie im Laufe des folgenden Winters meine Schwester und mich an jedem ihrer Logentage ins Burgtheater mitnahmen. Wir sahen alle klassischen Stücke, die auf der damals ersten deutschen Bühne zur Aufführung kamen. Wir sahen "Das Leben ein Traum" und fühlten uns in den Himmel getragen von dem Schwung seiner Verse, wir sahen "Wallenstein" mit Anschütz in der Titelrolle, "Maria Stuart", "Hamlet", wir sahen den Prinzen in "Emilia Galotti" von Fichtner so hinreißend und liebenswürdig dargestellt, daß wir herzlich wünschten, der alte Edoardo möge doch ihm seinen Segen geben zur Vermählung mit Emilia. Von einem weniger soliden Bunde wußten wir nichts und fanden überdies den Grafen Appiani einen recht steifleinenen Herrn. "Minna von Barnhelm" mit Fräulein Enghaus als Minna, Lucas als Teilheim, Wilhelm als Werner, La Roche als Just gespielt zu sehen, war ein feinster, unauslöschlicher Kunstgenuß. Und nun erst "Egmont" mit Löwe in der Titelrolle und Julie Rettich als Margarete. Da, und als Mutter der Makkabäer und später dann als Marfa im Demetriusfragment, hat diese Frau, die eine Herrschernatur war und ihre Kunst wie eine Priesterschaft ausübte, dank ihrer geistigen Überlegenheit und echten Seelengröße eine Höhe erreicht, zu der stärkere, aber auf minder edlem Boden stehende Talente nie gelangen. Wie die Märchen Perraults, wie die Geschichte und die Sagen des Altertums, so wurden uns auch die Kunstgenüsse im Burgtheater in ärmlicher Ausstattung geboten. Meine verehrte Freundin, Gräfin Schönfeld, ehemals Luise Neumann, und ich erinnern uns oft lächelnd des Rüstzeugs, mit dem 78

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die großen Schauspieler jener Tage versehen wurden, um ihre glänzenden Siege zu erringen. Der ganze Dekorationsapparat der ersten deutschen Bühne entfaltete sich innerhalb der Grenzen äußerster Sparsamkeit. Besonders hart übte sie ihre Gesetze dem feinen Lustspiel gegenüber aus. In den vornehmen Häusern saßen die Damen auf einem mit Rohrgeflecht überspannten Kanapee, im bürgerlichen Haushalt gab es nur Holzsessel. Eine Zimmerdekoration, eine besonders gute alte Bekannte, war in jungen Tagen rosenfarbig gewesen, zwei Landschaften, Grau in Grau gemalt, zierten ihre Mittelwand. Bevor sie selbst erschien, schwebte ihr der ganzen Breite nach ein Streifen sehr schmutziger Fransen voran, in die sich a l l m ä h l i c h ihre untere Partie aufgelöst hatte. Während sie niederrollte, kamen rechts und links je zwei Diener, die je einen glatten, viereckigen Tisch auf die Bühne stellten. Sie trugen auch einige Sessel herbei, und wenn ein Paar von diesen vor das Souffleurhüttchen gestellt wurde, ahnten wir, daß ein wichtiges Gespräch zu erwarten war, und spitzten die Ohren. Es kam; die Zuhörer genossen es und verstanden jede feine Wendung und freuten sich jeder Pointe, und u n s e r e Herzensangelegenheit war's, die man dort verhandelte. Wenn ein Liebling des Publikums auftrat, ging's wie ein leises, freudiges Atmen durch das Haus; ein beifälliges Gemurmel, ein kurzes, herzliches Klatschen dankte für besonders vortreffliches Spiel. Unsere Mimen verstanden die Innigkeit unseres Dankes und die Treue zu schätzen, die ihrer nie vergessen und die Nachwelt zwingen werde, ihnen Kränze zu flechten. Unser altes Burgtheater! Es war für mich und wird es gewiß für viele gewesen sein, ein Quell edler Freude, ein Bildungsmittel ohnegleichen. Ihm verdanke ich die Grundlage zu meiner ästhetischen Erziehung, die damals begann und heute - noch lange nicht beendet ist. Die Glückseligkeit, in die mich die Vorstellung versetzte, wurde immer etwas getrübt durch das Fallen des Vorhangs nach den Aktschlüssen. Es riß mich aus der Bezauberung und mahnte, daß ein Teil der mir so köstlichen Stunden vorüber sei. Der Nachgenuß aber war etwas Vollkommenes. Ich wandelte einher wie auf dem Kothurn, ja, es kam mir in die Füße! Ich schritt gleich den hochgestellten Persönlichkeiten bei feierlichen Aufzügen auf der Bühne, heroische Gefühle erfüllten mein Herz, der Wille zum Leiden erwachte in seiner ganzen Stärke und mit ihm die brennende Sehnsucht nach einem großartigen Martyrium. Neben den klassischen Stücken waren aber die Schau- und Lustspiele, die bei den Meinen besonders in Gnaden standen, auch mir sehr willkommen. Zwei Damen, zwei dramatische Schriftstellerinnen, gelangten um jene Zeit sehr oft zu Worte. Die Prinzessin Amalie von Sachsen mit dem "Oheim", dem "Landwirt", der "Stieftochter", Frau von Weißenthurn mit zahlreichen Dramen. Die Erinnerung an sie ist erloschen; ich entsinne mich nur dunkel

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des einen, das "Pauline" hieß, und in dem Luise Neumann die Hauptrolle spielte. "Ach, die liebe, gute Frau von Weißenthurn, wenn wir sie nicht hätten!" sagte Börne, und sie hätte erwidern dürfen: "Ach, der liebe, gute Börne, der destruktive Kritik so meisterhaft übt, - wenn ich den nicht hätte! Er nimmt mich mit in seine - Vielleicht-Unsterblichkeit; wer würde ohne ihn nach einem halben Jahrhundert noch etwas wissen von meinem Schauspiel "Agnes van der Lille" und von meinem Lustspiel "Beschämte Eifersucht"? Der Winter 1842 brachte dem Burgtheater drei Ereignisse: die erste Aufführung von Friedrich Halms "Der Sohn der Wildnis", den Abschied Johannas von Weißenthurn vom Burgtheater, dem sie durch zweiundfünfzig Jahre angehört hatte, die Feier von Korns vierzigjährigem "Dienstjubiläum". Dem "Sohn der Wildnis" stand ich ratlos gegenüber. Das "romantische Drama" feierte Triumphe, ich hörte nur Aussprüche des Lobes und der Bewunderung, während mir einige Szenen geradezu Pein verursachten. Einen großen Teil der Schuld schob ich Julie Rettich, der Darstellerin der Parthenia, zu. Der edlen Frau und Künstlerin fehlte der Zauber der Anmut. Wenn sie, im zweiten Akte von den wilden Tektosagen gefangen genommen, sich hinsetzte und Kränze wand, entwickelte sie diese unwahrscheinliche Tätigkeit mit verletzend eckigen Bewegungen. Man mußte wirklich ein Barbarenhäuptling sein, um nicht Anstoß an ihnen zu nehmen. - Aber dann... Als Ingomar, angewidert durch die Niedertracht des Kulturvolkes, dessen Genösse er geworden, sich losreißt, um in seine Wildnis zurückzukehren, holt Parthenia sein ihr anvertrautes Eigentum, sein Schwert, herbei. - Er will es ihr abnehmen. - Nein. Sie wird es tragen - ihm nach. "Wohlan denn," sagt er, "bis zum Markte" Und sie: Bis zum Markt Nein, noch ein Stückchen weiter - bis ans Tor Noch weiter, bis zum Meer und übers Meer Hinaus, und über Berg und Tal und Ströme, Nach Ost und West, wohin dein Lauf sich kehrt, Wohin dich irrend deine Schritte tragen, Solang mein Herz pocht, meine Pulse schlagen, Solang ich atme, trag' ich dir dein Schwert!

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Da meinte man Glockenklang zu vernehmen, siegreich und unwiderstehlich flutete der Wohlklang dieser Verse durch das Haus, getragen von einer Stimme, die gleich einer Naturgewalt mächtig blieb, ob sie dräute oder schmeichelte, brauste oder lispelte. 40 Gar oft haben wir den "Sohn der Wildnis" aufführen gesehen, und jedesmal brach an dieser Stelle des Gedichtes jubelvoller Beifall los, in den mein Vater einstimmte und auch ich aus allen meinen Kräften. Leid tat mir nur, 80

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daß der Sieg des Barbairen über die unerträglich nörgelnde Griechin kein vollständiger war. Sein Bärenfell hätte er wieder umhängen, in seine Wälder hätte er die merkwürdigerweise Geliebte mitnehmen und wieder Häuptling seiner Tektosagen werden sollen, ein Feind und Schrecken der verruchten Stadt Massalia, nicht ihr friedlicher Bürger. So meinte ich als Kind, und bei der Meinung bin ich geblieben und habe sie viele Jahre später dem Dichter mitgeteilt, der mein treuer Freund und Lehrer geworden ist. Er hat mir nicht ganz unrecht gegeben. Der Abschied Frau von Weißenthurns von der Stätte ihrer langjährigen Tätigkeit gestaltete sich zu einem Burgtheater-Familienfeste. Unter fast ununterbrochenem zustimmenden Gemurmel des Publikums und so vielem Applaus, als sich halbwegs passend anbringen ließ, wurden zwei von der dichtenden Schauspielerin verfaßte Stücke aufgeführt. Dann, stürmisch gerufen, trat sie an die Rampe und erzählte umständlich ihren ganzen Lebenslauf. Sehr andächtig hörte man ihr zu, und als sie mit Worten innigen Dankes Schloß, erntete sie Dank, sehr warmen, aber völlig platonischen. Kein Lorbeerregen, keine Auffahrt von Blumenarrangements; nichts von fanatischen Huldigungen, die jetzt unseren Bühnengrößen dargebracht werden und - wer weiß - vielleicht einen Mangel verbergen. Gibt man heute so viel, weil man morgen nichts mehr zu geben hätte? "Dableiben! Dableiben!" riefen wir alle, ehe der Vorhang sich senkte, der guten Frau von Weißenthurn zu, der es nicht einfiel, fortzugehen. Wir sahen sie gar oft noch im dritten Stock des Burgtheaters in der Schauspielerloge sitzen. Wenn eines ihrer Werke aufgeführt wurde, fehlte sie nie und belohnte bei den rührenden Stellen ihre ehemaligen Kollegen durch strömende Tränen für ihr vorzügliches Spiel. Wie das Jubiläum Korns gefeiert wurde, davon vermag ich nicht mehr Rechenschaft zu geben; ich weiß nur, daß wir erschraken, als wir erfuhren, er gehöre dem Burgtheater seit vierzig Jahren an. Da hatten unsere Großmütter schon für ihn geschwärmt, und er wäre ein alter Mann?... Und neulich erst hatte er uns so gut gefallen als Admiral in den "Fesseln", und Fritzi war tief gekränkt gewesen, als Papa sagte: "Der arme Korn hat keine Stimme mehr." Und nun mußte man's ganz natürlich finden, daß er keine Stimme mehr hatte, dieser bejahrte Liebling. Übrigens - Liebling blieb er, trotz seiner Heiserkeit, die sich nicht mehr geben wollte. Löwe war ja herrlich und keim uns in manchen Rollen, zum Beispiel als Siegfried in Raupachs "Nibelungen", wie ein Halbgott vor und Fichtner stets wie das Urbild der Liebenswürdigkeit. Auch Lucas konnte äußerst gewinnend sein in seiner gehaltenen, noblen, etwas feierlichen Weise; aber Korn blieb der Feinste, der unumschränkte Beherrscher schöner Form, die nur das sichtbar Gewordene des schönsten, geistigen Inhalts sein konnte. Korn blieb der siegreiche Herzensbezwinger. Einmal erhielt er einen Beweis davon, der ihm gewiß mehr Freude machte als der lauteste Applaus und die schmeichelhafteste Rezen81

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sion. Er hatte seinen unvergeßlichen Hauptmann Klinger gespielt, stand als gütige Vorsehung der ganzen Gesellschaft mitten unter glücklichen Brautpaaren, sah sich um und fragte: "Und mich will niemand heiraten?" - "Ich!" antwortete ihm laut eine Mädchenstimme. Aus einer Loge des ersten Ranges kam der Ruf spontan, mit unwillkürlicher Hingerissenheit. Korn lächelte, wollte aber nichts gehört haben; das Publikum lachte wohlwollend; einige "Bravo!" ließen sich hören, einige Parterrebesucher grüßten hinauf zu der Loge, in der eine anmutige junge Gräfin sich bestürzt hinter ihre bestürzten Eltern zurückzog. Kaum zwei Jahre hatten wir unter der Obhut unserer guten Marie gestanden, als sie nach Prag berufen wurde, wo ihr Vater und ihr Bruder an Typhus erkrankt waren. Sie fand die Ihren in einem trostlosen Zustand. Er besserte sich zwar allmählich, unter allen Umständen aber, schrieb unsere Freundin, müßten wir uns auf eine lange Trennung gefaßt machen; vorläufig wäre der Tag ihrer Rückkehr noch nicht abzusehen. So blieb denn nichts übrig, als sich dem bedenklichen Auskunftsmittel einer provisorischen Regierung zu bequemen, und unser Haus wurde der Schauplatz eines seltsamen Gouvernantenfestzuges. Eine schöne, hochgewachsene Deutschböhmin, die in Paris erzogen worden war, eröffnete ihn. Ihr Benehmen konnte man nur vortrefflich nennen; sie war weder verlegen noch anmaßend, grüßte schön, aß schön. Aber bei der Wahl ihres Berufes hatte sie daneben gegriffen und zog deshalb vor, ihn nur nominell auszuüben. Sie hatte reiche dunkelblonde Haare, die sie, nach der damals herrschenden Mode, vorne abgeteilt und in Locken trug. Den Morgen brachte sie damit zu, den goldigen Kopfschmuck auf dem Lockenholz zu glätten und zu blänken, und den Abend damit, ihn in Papilloten zu wickeln. In der Zwischenzeit lag sie auf dem Kanapee und las Romane aus der Leihbibliothek. Der Müßiggang, dem die Interimsgouvernante uns überließ, wurde sehr bald langweilig. Es verdroß uns auch, daß sie sich um unsere Jüngste gar nicht bekümmerte. Die kleine Sophie aber lernte ihr etwas ab. Sie hatte feine, von der Natur gelockte Haare und fing an, dem Beispiel des Fräuleins folgend, einen der seidenweichen Strähne nach dem andern um ein Kipfel zu winden, das sie eigens zu diesem Zwecke vom Frühstück aufbewahrt hatte. Sie saß auf einem Schemel, schaute vor sich hin, sprach nicht und wand ihre Locken auf und ab und hätte stundenlang so dasitzen mögen, wenn wir es geduldet hätten. Mama täuschte sich nicht über die Unzulänglichkeit der wohlerzogenen Dame. Eines Tages verschwand sie samt ihren Romanen und ihrem Lockenholz, und ihre Stelle wurde durch eine kleine, dicke, rotbäckige Französin eingenommen. Das war nun die Gutmütigkeit in Person, dieses abermalige Fräulein. Schon nach den ersten Unterrichtsstunden, die sie uns gab, bemerkte ich, daß sie mich an Ignoranz weit übertraf. Ihre Bekanntschaft mit Geographie und Geschichte war von komischer Dürftigkeit. Die Sprachlehre 82

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kannte sie nur dem Namen nach. Sie mußte, um unser Diktando auszubessern, das Buch, aus dem sie vorgesagt hatte, zu Hilfe nehmen. Ich fragte sie, ob sie nicht auswendig korrigieren könne, und sie antwortete unbefangen: "Ma foi, noni' Mon Dieu! Es war ihr nicht an der Wiege gesungen worden, daß sie Gouvernante werden sollte. In Wohlhabenheit aufgewachsen, hatte sie selbst eine Gouvernante gehabt, eine vernünftige, von der sie nicht geplagt wurde mit dem Studium gelehrter Bêtisen. Auch gute Eltern hatte sie gehabt; nur ein bißchen verschwenderisch waren sie und hinterließen, als sie starben, ihren schon erwachsenen Kindern, einem Sohn und einer Tochter, sehr beträchtliche Schulden. Les pauvres vieux! Sie werden sich Sorgen genug gemacht haben! Ihre Kinder grollten ihnen nicht. Der Sohn diente in der österreichischen Armee, hatte es bis zum Hauptmann gebracht und seine Schwester kürzlich nach Wien berufen. In Frankreich durfte sie sich als garde d'enfants placieren, in Wien nur als Gouvernante. Pensez donc - die Schwester eines Hauptmanns! Wir lernten auch ihn kennen, Papa lud ihn oft zu Tische. Er hatte große Ähnlichkeit mit seiner Schwester, hebte sie sehr, nahm sie oft mit auf "Elitebälle" und ließ ihr dort zwei Portionen Gefrorenes geben. O, ihr Bruder, der Hauptmann, der kargte nicht! Der war die Krone der Brüder, der Hauptleute, der Menschen überhaupt! Sie geriet in Begeisterung, wenn sie von ihm sprach, schob die Bücher und Hefte fort, sprang auf und schlug uns eine Partie "au loup" vor. Im Augenblick waren Fritzi und ich von Angstfrösteln durchrieselt. Mademoiselle hob die kleine Sophie auf ihre Schulter und zog sich in die Ecke hinter dem Ofen zurück. Ein bedrohliches Brummen, Knurren, Knirschen begann daraus hervorzudringen... Der Loup war da... Vorsichtig schlichen wir heran, und wenn es uns gelang, an der Höhle des Raubtieres dreimal nacheinander vorbeizuhuschen, ohne gefangen zu werden, dann hatten wir gewonnen. Aber das kam fast nie vor. Es erhaschte uns; unter einem Indianergeschrei der kleinen Schwester fletschte es seine Zähne, wir fühlten uns schon zerfleischt und zerrissen - und das war ein großer Genuß. Daß der gegenwärtige Zustand nicht von Dauer sein konnte, verstand sich von selbst und war uns auch ganz recht; denn wir sehnten uns nach unseren Beschäftigungen, nach einem Unterricht, wie Marie ihn erteilt hatte, zurück. Wir waren so gut im Zuge gewesen, hatten uns der Fortschritte, die wir machten, gefreut. Und nun waren sie jählings unterbrochen worden, und unser kaum erwachter Wissensdurst blieb ungestillt. Allerdings erhielten wir "Stunden"; doch wurden besonders die im Klavierspielen und Zeichnen recht oberflächlich gegeben und genommen. Die einzige Ausnahme in all dem dilettantenhaften Wesen machte der Unterricht, den eine Engländerin uns in ihrer Muttersprache erteilte, eine hübsche, etwas nervöse Frau, an den Associé eines englischen Geschäftshauses in Wien verheiratet. Daheim war sie 83

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Lehrerin an einem angesehenen "College" gewesen und suchte nun wieder ihre freie Zeit auszufüllen. Sie brauchte Beschäftigung und Zerstreuung, denn ach, der Himmel versagte ihr, die sich so schmerzlich danach sehnte, das Mutterglück. Sie hatte kein Kind, dem sie ihre Sorgfalt widmen konnte. Wenn sie unsere Sophie erblickte, war die zurückhaltende und gern absprechende Frau wie verwandelt, war ganz Hingebung und Entzücken. Sie küßte und herzte die Kleine, gab ihr die zärtlichsten Namen und brach zuletzt in heiße Tränen aus. Die "englische Lehrerin" war uns schon deswegen wert, weil Fräulein Marie Kittl sie empfohlen hatte; von einem förmlichen Strahlenglanz schien sie uns aber umgeben, als wir hörten, daß sie auch einer unserer gefeiertsten Burgtheatergrößen, Luise Neumann, Unterricht erteilte. Wir staunten ein Wesen, das mit ihr im persönlichen Verkehr stand, wie ein Weltwunder an. Wir wollten wissen, ob sie ihr Glück denn auch ganz ermaß und Luise Neumanns Hefte mit gehörigem Respekt durchsah. Und wie waren diese Hefte beschaffen, und befand sich nie ein Fehler darin? Und warum lernte Luise Neumann Englisch? Wozu braucht sie, die alle Welt bezaubert, auch noch Englisch zu lernen? Ja, bekamen wir zur Antwort, sie ist eben sehr gescheit; sie weiß, wer die englische Sprache beherrscht, überragt in jeder Hinsicht alle, die sie nicht beherrschen. Und w i e sie lernt! und w i e sie die schwersten Worte ausspricht! Da könnten Sie sich ein Beispiel nehmen, meine kleinen Misses. - Natürlich wurde es sofort ein Ziel unseres Ehrgeizes, Luise Neumann an Eifer und Fleiß zu erreichen, und wenn wir einmal Außerordentliches geleistet hatten, nahm die Lehrerin zur Belohnung einen Brief mit, den wir an unsere Vielbewunderte gerichtet, und den sie ihr zu übergeben versprach. Er wurde mit vereinten Geisteskräften aufgesetzt, bevor ich ihn ins reine schrieb; unter welcher Gemütsbewegung, das weiß Gott! Zu dieser Korrespondenz konnten doch nur hochfeine Bögelchen verwendet werden. Weh mir, wenn ich eines verdarb; sie waren so teuer, und wir hatten so wenig Geld! Von den schmalen Einkünften, die wir am Ersten jedes Monats bezogen, mußte unsere Armenpflege bestritten, mußten an den Namenstagen der Hausleute kleine Geschenke für sie, mußten überdies unsere Handschuhe gekauft werden. Je nun - Schwärmerei und Liebe verrichten Wunder; das Briefchen war geboren, schmuck und zierlich, meistens rosenfarbig, und versank ins Ledertäschchen der Mistreß, dessen Bügel sich mit einem triumphierenden Schnapper über ihm schloß. Wir konnten das Wiedererscheinen der Lehrerin kaum erwarten und bestürmten sie mit Fragen nach dem Gelingen ihrer Mission. Ließ denn Luise Neumann uns gar nichts sagen? Schickte sie uns nicht einmal einen kleinen Gruß? "Nein, heute nicht, sie hatte keine Zeit - vielleicht ein nächstes Mal." - Keine Zeit, einen Gruß zu schicken? Das wollte mir doch nicht recht einleuchten. 84

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Eines Tages war die Engländerin mit Schnupfen behaftet und hatte mehr Sacktücher in ihr Täschchen gestopft, als dem behagte. Doch fügte es sich in sein Schicksal, tat seine Pflicht und hielt alles ihm Anvertraute hartnäckig fest. Der Not gehorchend, wollte seine Besitzerin ihm plötzlich von seinem Inhalt etwas entreißen; es widerstand - sie brauchte Gewalt - da, voll Grimm und Tücke, spie es die sämtlichen verschluckten Güter auf den Tisch und auf den Boden aus. Gebrauchte und nichtgebrauchte Taschentücher kamen zum Vorschein und zugleich - unsere Briefe an Luise Neumann. Alle! Die Briefe alle, "all die lieben, kleinen"... Ja, ich hatte etwas davon gewittert, daß unser Vertrauen getäuscht wurde; daß es aber in solchem Grade geschehen könne, hätte ich nicht für möglich gehalten, und ohne den geringsten Rückhalt sprach ich der falschen Mistreß meine Meinung aus. Die Unglaubliche, auf einer langen Reihe von Wortbrüchen ertappt, kam nicht einen Augenblick außer Fassung. Sie kehrte sogleich den Spieß um und behauptete, s i e schäme sich unserer Albernheit. Wie hatten wir nur glauben können, daß sie einer berühmten Künstlerin zumuten werde, ihre Zeit mit dem Lesen von Briefen zu verlieren, die Kinder an sie richteten! So endete in einem Gefühl nagender Pein eine ganze Menge großer Gemütsbewegungen. Und dieser Reichtum und so viel Liebe und Begeisterung hatten sich entfaltet - um nichts. Es fiel mir schwer aufs Herz und beschäftigte meine Gedanken: wie kann etwas in der Welt gewesen sein - um nichts? Und doch war's hier der Fall, und etwas war geschehen, was eigentlich nicht geschehen kann. Es erschien mir als ein Widersinn und als eine Grausamkeit. In späteren Jahren habe ich das kleine Erlebnis in anderem Maßstab und in anderer Form sich an mir und um mich zahllose Male wiederholen gesehen. Die Bewegung, mit der du ein Steinchen ins Rollen bringst, pflanzt sich fort, Gott weiß wie weit. Was aber dein Innerstes erbeben machte in Zorn und Qual, in Wonne und Entzücken - kann erlöschen und sterben, ohne die geringste Wirkung nach außen geübt zu haben. Wie kleine Tote, die ihr Geheimnis ins Grab mitnehmen, lagen unsere zerknitterten Briefchen vor mir, und ich besang den Eindruck, den ihr Anblick mir machte, in einem Gedicht, das ihr Los geteilt hat. **•

Jetzt hätte meine Freundin Marie da sein müssen! Jetzt wäre ihre Anwe35 senheit mir segensreich gewesen. Ihr durfte ich alles sagen; mit allen meinen Zweifeln und Bekümmernissen durfte ich ihr kommen. Das Unbedeutendste, das in meiner kleinen Gedankenwelt vorging, war ihr wichtig. Sie nahm silles ernst, was ich selber ernst nahm, wenn es auch noch so töricht war. Die Waffe des Spottes, die Erwachsene nur zu gern gegen Kinder gebrauchen, 40 hat sie nie angewendet. Um meine Reue über die Parodie auf "Laura am 85

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Klavier" kundzutun, hatte ich sie noch kurz vor ihrem Scheiden mit einem Siegeshymnus auf das Liebespaar Friedrich und Laura überrascht, in den ich die Chöre der Seraphim und Cherubim einstimmen ließ. Marie lächelte nicht einmal; sie fand einzelnes sogar recht hübsch und entfesselte mit ihrem Lobe eine Flut von Herzensergießungen. Immer schmerzlicher vermißte ich jetzt die Vertraute meiner Dichterleiden, bestürmte sie mit immer heißeren Bitten: "Komm! komm! wir verwildern. Komm! komm, oder ich lasse mich verhungern!" Ich begriff nicht, warum ihre Antworten auf meine Beschwörungen und Drohungen kühl beschwichtigend lauteten, und warum die Pausen zwischen ihnen immer länger wurden. Meine Klagen langweilten Mama endlich so sehr, daß sie sich entschloß, mir mitzuteilen, Fräulein Kittl werde nicht mehr zu mis zurückkehren. Sie habe die Ihren in ansteckender Krankheit gepflegt, und ihre Nähe könne gefahrbringend sein. Nach Jahren hat meine Stiefmutter mir gestanden, daß sie ihre übertriebene Ängstlichkeit oft und sehr bitter bereut habe, nachdem vielfache Erfahrungen sie belehrten, daß eine Erzieherin wie Marie Kittl gefunden zu haben, ein Glücksfall sei, der sich nicht leicht wiederhole. Als wir hörten, wie die Dinge standen, war die Trauer meiner Schwester groß, und ich hatte Anfälle von Verzweiflung. Wußten denn die Menschen nichts Besseres als uns zu belügen und zu betrügen? Wie durfte man uns so hinhalten, uns ein ganzes Jahr hindurch von der Hoffnung auf die Rückkehr unserer Freundin leben lassen, während sie uns längst entrissen war? Vollkommen, unwiederbringlich, denn sie hatte die Stelle als Gouvernante bei einer jungen Prinzessin Arenberg in Paris angenommen und befand sich schon seit einiger Zeit dort, indessen wir, da alle unsere letzten Briefe unbeantwortet blieben, uns eingeredet hatten, sie wolle uns überraschen. Plötzlich, wenn wir am wenigsten daran dächten, werde die Tür aufgehen, und sie werde dastehen in ihrer Mantilla, der wir nachsagten, daß sie etwas Spanisches habe, obwohl sie aus Prag stammte. Und auf ihrem Kopfe würde ihr Hut mit frischgekräuselten Federn thronen, und in den Rüschen, die sein Inneres schmückten, würden unserer Freundin dünne Locken, eigensinnig wie Schwächlinge einmal sind, sich verfangen... O, die Liebe! Dastehen werde sie, die Arme ausbreiten und nicht sprechen können vor Rührung. Meine Schwester mochte ihr dann nur entgegenstürzen, jauchzend, in Freudentränen gebadet. Was mich betraf, ich war entschlossen, mich zu beherrschen, der schroffsten Spartanerin zum Trotz, und nichts von meiner Glückseligkeit zu verraten. Bei der ersten Lektion aber wollte ich unserer Ersehnten in großartiger Weise erklären, daß ich jede Stunde, die sie nicht bei uns zugebracht hatte, als eine verlorene ansah. Und sie sollte wissen: Die ist's, die scheinbar Gleichgültige, die mich am liebsten hat. Und nun waren mir nicht nur die vielen vergangenen Stunden, sondern auch alle, die noch kommen sollten, verloren. Was ich in dieser langen Zeit 86

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aufgespeichert hatte an unausgesprochenen Einfällen und Empfindungen, um es ihr mitzuteilen, der ganze knospende Reichtum mußte nun zurückgedrängt werden und lag, gleichsam zusammengeballt, mir schwer wie ein Stein auf dem Herzen. Ich war sehr unglücklich und viel zu kindisch, um nicht grausam zu sein, und trotz des Heroismus, den ich mir zuschrieb, viel zu schwach, um mein Unglück still zu tragen. So ließ ich es eine an ihm völlig Unschuldige entgelten: die bedauernswürdige Nachfolgerin der Mademoiselle "au loup". Ein junges, schüchternes Mädchen, selbst noch gewöhnt, geleitet zu werden, kam sie direkt aus dem Erziehungsinstitut zu uns. Mit meiner Schwester hatte sie leichtes Spiel, ich war ihr gegenüber ein kleiner Teufel. Dabei bewunderte ich mich noch, weil mein nichtsnutziges Benehmen gegen sie die Treue bekunden sollte, die ich unserer Freundin Marie bewahrte. Fräulein Karoline war edel und gut, sie hat mir alles verziehen. Sie hat der Erwachsenen nicht nachgetragen, was das Kind ihr angetan. Ich aber fühle mich durch ihre Großmut nicht entsühnt. Heute noch treibt mir die Erinnerung an die bösen Streiche, die ich einem harm- und hilflosen Wesen gespielt habe, die Schamröte ins Gesicht, und fast bin ich dann geneigt, dem Franzosen beizustimmen, der sagte: "Les enfants sont des petites bêtes malfalsantés." Fräulein Karoline besaß tüchtige Kenntnisse in Sprachlehre, Geographie und Geschichte, und ich hätte alle Ursache gehabt, mich ihrer Leitung zu unterwerfen. Statt dessen gab ich dem bösartigen Wunsche nach, ihr beständig etwas am Zeuge zu flicken oder sie auf einem Irrtum zu ertappen. Mit müßigen Kontroversen ging viel Zeit verloren. Aus Widerspruchsgeist trat ich jeder Behauptung unserer unglücklichen Lehrerin entgegen. Wenn sie das Mittelalter mit dem Untergang des weströmischen Reiches beginnen ließ, schwor ich darauf, daß es durch den Anfang der Völkerwanderung bezeichnet werde, und daß es in der ganzen Welt nichts Wichtigeres gebe, als das zu wissen. Für Alarich offenbarte ich eine fanatische Bewunderung, die durch Platens Gedicht entzündet worden war und durch die Vorliebe Fräulein Karolinens für Stilicho genährt wurde. Sie bevorzugte die Hermunduren und Friesen; natürlich hatte ich deshalb schon für diese friedlichen Viehzüchter und Ackerbauer nur Geringschätzung übrig und fand kein Ende in Lobpreisungen der kriegerischen Langobarden, Goten und Vandalen. Zu heißen Kämpfen führte unter anderem die Verschiedenheit unserer Ansichten über Karl den Großen. Je mehr das Fräulein diesen Heros pries, desto entschiedener erklärte ich, ihm meine Hochachtung durchaus versagen zu müssen. Für mich war es eine ausgemachte Sache, daß er seinen Bruder hatte töten lassen. Und seine Frau, warum verstieß er sie? Weil er sich des Thrones ihres Vaters bemächtigen wollte. Endlich seine entsetzliche, schauderhafte Tat, die Ermordung von 4500 Sachsen, Überwundenen, die um ihre

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Freiheit und ihren Glauben gekämpft hatten, und die jetzt lim Gnade flehten... Nein, einen M a n n , der das getan hat, nenne ich nicht den "Großen". Bei einem besonders lebhaften Wortgefechte ließ ich mich dazu hinreißen, Kaiser Karl auch als Bekehrer anzugreifen, und nannte Wittukind und Albion, die aus seiner blutgetränkten Hand das Christentum angenommen hatten, Feiglinge und Heuchler. Was konnten sie von einer Religion halten, die ihren Bekennern Untaten verzieh, wie Kaiser Karl sie an den Sachsen begangen hatte? Dieser frevelhafte Ausbruch entsetzte Fräulein Karoline. Sie war ganz verstört, sie faltete die Hände unter dem Tische. Meine Schwester sank in sich zusammen und flüsterte: "Um Gotteswillen, jetzt versündigt sie sich sogar gegen die Religion!" Ihre Worte erschreckten mich. Wir befanden uns in Zdißlawitz; unsere Religionsstunden waren wieder aufgenommen worden, ich dachte an die Betrübnis Pater Boreks, wenn meine "Versündigung" ihm hinterbracht würde. So leitete ich denn Friedenspräliminarien ein, indem ich das Fräulein versicherte, daß es mir ferngelegen habe, einen Angriff auf die Religion zu unternehmen. Karoline hatte sich von ihrem Schrecken noch nicht erholt. Fassungslos starrte sie mich an, übersprang in ihrer Gemütsbewegung Zeiten, Könige, Kaiser und große historische Umwälzungen und sprach mit bebender Stimme: "Aber Karl V. werden Sie doch gelten lassen?" - Nun, ich sah wohl, auch ihn hatte sie in Protektion genommen, und Pflicht gegen mich selbst wäre es gewesen, ihn zu verunglimpfen. Aber in Rücksicht auf meine bedrängte Lage, und doch auch weil - abermals Platen! - der Pilgrim von St. Just mir mitten im Herzen saß, und weil endlich Karl V. und ich uns in der Liebhaberei für Uhren, die mich seit meiner frühen Kindheit beseelt, teilten, ließ ich ihn in Gottes Namen gelten. Fräulein Karoline atmete auf. Meine Nachgiebigkeit, an die ich sie so wenig gewöhnt hatte, war Balsam für sie. Die Gute lobte mich, sie dankte mir beinahe, was mich doch sehr beschämte; ich war mir ja bewußt, daß die Furcht vor einer Denunziation den Hauptgrund meines Rückzugs bildete. Eine vorübergehende Rührseligkeit ergriff mich, meine Kampflust löste sich in Reue und Wehmut auf, und unter ihrem Einfluß trug ich dem überraschten Fräulein das freundschaftliche "Du" an. Wir haben nur einen Tag Gebrauch davon gemacht. Mama verbot mir mit Recht die vertrauliche Ansprache. Es sollte nicht eine Schranke mehr des Respektes vor meiner Erzieherin niedergerissen werden. Auch herrschte bald wieder Unfrieden zwischen uns. Wir zankten uns durch das ganze Mittelalter hindurch. Wenn ich mich in dieser großen, Kulturen zerstörenden und Kulturen verbreitenden Epoche heute noch leidlich auskenne, verdanke ich's dem Kampf, den ich mit meiner jungen Lehrerin um eine selbständige Meinung über Menschen und Begebenheiten jener Zeit führte. Gut bestellt mußte es mit meinen Kenntnissen sein, wenn ich eine Ansicht erfolgreich verteidigen wollte. Fräulein Karoline 88

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wünschte mir ebenso wehrhaft entgegenzustehen. Der "Abriß der Weltgeschichte", der uns zur Verfügung stand, genügte uns nicht. Sie nahm ihre Zuflucht zu Tillier, mein Gewährsmann war der Abt Millot. Onkel Moritz hatte mir einige Bände von dessen "Universalhistorie alter, mittlerer und neuer Zeiten" in der Übersetzung Christianis geliehen, und: "Hie Tillier! Hie Millot!" lautete unser Kampfruf. Wie Fräulein Karoline es mit ihrem Orakel, in dessen Heiligtum sie mir keinen Einblick gönnte, gehalten hat, weiß ich nicht. Was mich betrifft, ich war im Auslegen der Urteile des meinen gewissenlos, drehte und wandte jedes so lang, bis ich es in Gegensatz zu einer Äußerung meiner Erzieherin gebracht hatte. Dann feierte ich erbärmliche Triumphe. Zwei Jahre hat Fräulein Karoline es bei uns ausgehalten, dann aber, als ihr eine Lehrerinnenstelle an einer staatlichen Mädchenschule angeboten wurde, rasch zugegriffen. - Dort waltete sie, geliebt und verehrt, durch viele Jahre ihres Amtes. Von ihrer vorgesetzten Behörde wurden ihr immer nur Zeichen der Hochachtung und der Anerkennung gespendet. Mit aller Hochachtung und Anerkennung versetzte man sie dann, zwölf Monate vor Ablauf der Zeit, die ihr das volle Gehalt als Pension gesichert hätte, in den Ruhestand. Wie am Anfang, erfuhr sie am Ende ihrer Laufbahn Grausamkeit. Doch klagte sie nicht und klagte nicht an. Ihre tiefe Frömmigkeit lehrte sie verzeihen, und Seelenfrieden ward ihr statt des Glückes. Sie verlebte ihre letzten Tage in Wien mit ihrer Schwester. Diese hatte es in einem anspruchslosen Berufe besser getroffen. Dank der Großmut der Kaiserin Karolina Augusta, deren treue Kammerfrau sie gewesen, gestaltete sich ihr Alter sorgenfrei und behaglich. ***

Nun aber ein papierenes Denkmälchen für einen lieben Freund. Ja, wir haben ihn immer sehr lieb gehabt und immer ein bißchen über ihn gelacht, den Herrn Direktionsadjunkten bei dem k. k. hofkriegsrätlichen Einreichungsprotokoll zu Wien, Josef Fladung. 30 Ich stand im dreizehnten Jahre, als er durch Mama in unser Haus eingeführt wurde, und damals schien mir, daß er dem Alter nach ein Methusalem sein könnte. Doch sollte dieser vortreffliche Mensch sich noch durch mehr als zwei Jahrzehnte seines Daseins erfreuen. Er hatte sich stets, besonders seitdem er in Pension getreten war, mit dem Studium der Naturwissen35 schaften und der Altertumskunde beschäftigt, in diesen Fächern es aber nur zu einem immerhin anerkennenswerten Dilettantismus gebracht. Hingegen hatte er als Mineraloge Tüchtiges geleistet. Sein Buch "Versuch über die Kenntnis der Edelsteine" wurde sehr geschätzt. Seine kleine, aber vortrefflich zusammengestellte und fortwährend vervollständigte lithologische 40 Sammlung würdigten Kenner und Gelehrte ihrer Aufmerksamkeit. Wenn er 89

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seiner Neigung hätte folgen dürfen, wäre er Lehrer geworden. Im Erteilen von Unterricht fand er sein höchstes Glück. Anderen Dank, als daß ihm Aufmerksamkeit geschenkt werde, forderte er nicht. Und es war so bequem für die Mamas, nicht erst lang nach einem Professor der "höheren Gegenstände" suchen, sich nicht erst erkundigen zu müssen: wie steht's mit seinen politischen Ansichten, seiner Moralität, seiner Religiosität? Alles perfekt! succus expressus des Perfekten! Ein ehrenwerter, alter Herr, immer liebenswürdig und wohlwollend und immer bereit, einem Wunsch oder einer Bitte womöglich zuvorzukommen. Dabei sehr würdig und gewöhnt, mit den Spitzen der oberen Zehntausend umzugehen, ohne Demut und ohne Selbstüberhebung. Er war ein stets freudig begrüßter Gast, ob er sich im Winter in der Stadt beim Mittagstische einfand, ob im Sommer zu längerem Aufenthalt auf dem Lande. Auf sein Äußeres verwandte er große Sorgfalt und war immer sehr nett gekleidet. Zum Diner kam er nie anders als im Frack, gewöhnlich im schwarzen, bei besonderen Gelegenheiten im blauen mit gelben Knöpfen. Mit diesen Fräcken mußte er einen Pakt auf Unsterblichkeit geschlossen haben. Solange wir sie kannten, ist uns keine besondere Spur des Alterns an ihnen aufgefallen. Seine Erscheinung war höchst vertraueneinflößend, ein ehrwürdiges Bild der Rechtschaffenheit, Solidität und Feinheit; die Gestalt untersetzt, der Gang das Gegenteil von leicht. Auf den breiten Schultern saß ein kurzer Hals, der einen schönen Kopf trug, edel gewölbt, mit hoher, völlig faltenloser Stirn und immer rosig angehauchten Wangen. Deshalb, und weil sein kahler Scheitel halbmondförmig von einem Kranze schimmernd weißer Haare umgeben war, nannten wir ihn den beschneiten Rosenhügel. Sehr viel Platz nahm in seinem Gesichte die kühn gebogene Adlernase ein. Er scherzte oft über ihre Größe und behauptete, sie habe nur eine Rivalin in Wien, die des berühmten Orientalisten Freiherrn Hammer von Purgstall. Eine der beiden Anekdoten, die wir oft von ihm hörten, handelte von diesen beiden Nasen. Ihre Träger sollten einst, auf allgemeines Verlangen, aus der Blumenausstellung entfernt worden sein. Der köstliche Duft, der in ihr herrschte, wurde von den gewaltigen Gesichtsvorsprüngen der beiden Herren gänzlich aufgesogen, und die anderen Besucher hatten sich beschwert, daß nichts davon für sie übrig bliebe. Die zweite Anekdote handelte von Perlen und war nicht erfunden. Der Fürstin Melanie Metternich, der Gattin des Staatskanzlers, waren aus Paris einige so vorzüglich nachgemachte Perlen zugeschickt worden, daß kein Juwelier sie von echten zu unterscheiden vermochte, natürlich ohne sie zu berühren und auf ihr Gewicht zu prüfen. Diese Gelegenheit, Fladungs Kennerschaft, die für unfehlbar galt, auf die Probe zu stellen, wurde von der Fürstin ergriffen. Sie legte drei Perlen vor ihn hin und sagte: "Zwei davon sind falsch. Wenn sie die echte herausfinden, gehört sie Ihnen."

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Welch eine Verheißung! Die Perle wäre jedenfalls ein beneidenswerter Besitz gewesen, aber hier handelte es sich um mehr, um etwas, das, einmal verloren, nicht wieder zu gewinnen ist: den Ruf der Unfehlbarkeit. Er kämpfte, er wollte um Entschuldigung bitten. "Perlen schlagen ja doch nur auf einem weiten Umweg in mein Fach," erklärte er uns, "gewissermaßen nur als wertvolle Schmuckgegenstände. Aber trotzdem fuhr ich fort, die drei liebevoll zu betrachten, denn sie waren entzückend schön. Und heiß ist mir geworden, und immer habe ich gedacht: Mein Ruf! mein Ruf!... Nun, ich will Sie nicht auf die Folter spannen. Eine von den dreien war etwas weniger makellos in der Form, hatte etwas weniger Orient... und doch... ja, von ihr ging eine eigene Anziehung aus... und plötzlich war mir's klar: Die ist's... Sie war's, und mein Ruf war gerettet, und sie wurde mein!" Freund Fladung war der erste überzeugte Beschützer meines schriftstellerischen Gestammels, von dem ich ihm einige Proben vorgelegt hatte. Aus eigenem Antrieb, ohne mein Wissen, sprach er mit meinen Eltern, machte sie aufmerksam, daß er Talent zur Poesie in mir entdeckt habe, und riet, es zu pflegen. Hätten sie doch gefragt, wie sie das anfangen sollten, und mir dann seine Antwort mitgeteilt! Da wüßte ich, wie die meine in ähnlichen Fällen zu lauten hätte. Das Kind, das Talent zu einer darstellenden Kunst besitzt, schickt man in eine Schule, in der sie gelehrt wird. Für das schriftstellerisch veranlagte Kind gibt es, Gott sei Lob und Dank! noch keine in Mauern eingeschlossene, mit Lehrsälen und Professoren ausgestattete Schule. Nur das Handwerk seiner Kunst könnte ihm beigebracht werden, und dieses lernt jeder am besten allein. Bücher, die vom Erlernbaren handeln, stehen ihm in Hülle und Fülle zur Verfügung; er mag aus jedem nehmen, was ihm entspricht, und was er verwenden kann. Es wird nicht viel sein. Jede Dichterindividualität, wenn sie auch nicht zu den großen gehört, hat von Natur aus ihr eigenes Gepräge und gibt es der Form, in der sie sich, in oft schwerem Ringen, auszugestalten sucht. Der Geist baut sich selbst sein Haus; was er von fremden Baumeistern lernen kann und soll, ist nur das Alphabet der Kunst. So meine ich, und so habe ich allmählich ein großes Mißtrauen gegen die "Pflege eines schriftstellerischen Talentes" durch andere gefaßt, besonders durch Familienmitglieder, die selbst nicht ein paar gereimte Zeilen zusammenbrächten und das Kind, das Verse aus dem Ärmel schüttelt, für ein gottbegnadetes Wesen halten, dessen Genie aufgepäppelt werden muß. In den hinterlassenen Memoiren meines Mannes findet sich eine völlig ungerechte Selbstanklage. "Der Vetter, der gelehrte Studien trieb," sagt er, "wollte das geringe Wissen seiner kleinen Base, deren Phantasie goldene Brücken über den Abgrund schlug, der das Wollen vom Können trennt, bereichern und benahm sich dabei höchst albern und ungeschickt." Gegen diesen Ausspruch protestiere ich aus allen meinen Kräften. Der geliebte und verehrte Vetter hat das einzig Rechte getan, er hat mich den 91

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Wert der Bildung ermessen gelehrt und den heißen Wunsch in mir erweckt, die klaffenden Lücken der meinen abzugleichen. Es war die größte Förderimg, die er mir angedeihen lassen konnte, und nur zu danken habe ich. Nicht nur ihm, auch allen, die meinen Bestrebungen Hindernisse in den Weg legten. Sie ahnen nicht, wie oft mein Gedanke sie segnet. Selbst daß ich mich im Kampfe um ein höchstes Gut zu manchem Irrtum und mancher Übertreibung verleiten üeß, hat schlechte Früchte nicht getragen. Die Zeit heilte und half und wandte zum Guten, was sich anfangs als verfehlt dargestellt hatte. Je härter und widerwilliger der Boden war, in dem das Bäumchen meiner Kunst Wurzel schlagen mußte, desto fester stand es, und je grausamer die Mißerfolge gewesen sind, die jeden Schritt am Beginn meiner Laufbahn bezeichnet haben, desto enger schloß sich das Bündnis zwischen mir und meinem vielbestrittenen Talent. * * *

Der Sommer des Jahres 1843 war der letzte, den unsere Großmutter Vockel noch mit uns in Zdißlawitz verlebte. Meine Schwester und ich hatten uns an sie viel inniger angeschlossen seit dem Austritt Marie Kittls aus unserem Hause. Sie war - das bemerkten wir, obwohl sie nie auch nur eine Silbe darüber verlor - mit der neuen Gouvernantenwahl, die Mama getroffen hatte, nicht zufrieden. Ich fühlte deut20 lieh, wie genau unsere Ansichten in diesem Punkte zusammentrafen, und bewahrte dabei das selbe Schweigen wie sie. Aber die Stille des Einverständnisses zwischen der Großmutter und der Enkelin befestigte nur ihr Bündnis. Weniger Worte sind zwischen zweien, die einander lieben, wohl nie gemacht worden, und nie haben zwei sich besser verstanden. Immer mit der 25 einen einzigen Ausnahme: weder von meinen Gedichten noch von meinen Theaterstücken durfte ich vor meiner Großmutter etwas verlauten lassen. Wohl faßte ich mir einmal ein Herz und sagte ihr: "Weißt du, Großmama, ich schreibe noch immer," und wartete gespannt auf den Eindruck, den mein Bekenntnis machen würde. Er schien gering zu sein und äußerte sich bloß 30 durch ein Achselzucken und durch die mit leiser Ungeduld ausgesprochenen Worte: "Nur gescheit!" Sie sagte das oft und in der verschiedensten Weise. Liebreich, indem sie mir mit ihren feinen Fingern über die Wangen glitt, streng, wenn sie unzufrieden mit mir war. Lob und Tadel, Aufmunterung und Warnung vermochte 35 sie in die zwei Worte zu legen: "Nur gescheit!" So hatte ich nun doch den abscheulichen Druck vom Herzen, den das Bewußtsein mir verursacht hatte, im stillen etwas zu tun, das sie mißbilligte. In jenen Tagen verschlang meine Korrespondenz mit Marie Kittl den größten Teil der Zeit, die ich der Ausübung meines "schriftstellerischen Be40 rufes" widmen konnte. Meine Briefe sind - so hoffe ich wenigstens - nicht er15

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halten. Die ihren befinden sich, vom ersten bis zum letzten, in meinem Besitze. Ich durchblättere sie nicht ohne Grauen. Wie viel verwegenen Unsinn muß ich vorgebracht haben, um meine geduldige Freundin in solche Angst und Bangigkeit zu versetzen! Sie legte meinem Vertrauen übergroßen Wert bei; sie wollte es durch Zurechtweisungen nicht preisgeben. Je besorgter um mein Wohl sie sich aber zeigte, desto ärger werde ich es mit meinem Geflunker getrieben und die lächerlichsten Gedanken und Gefühle an den Tag gelegt haben. Wie die Melodie auch anhob, das Ende vom Lied dürfte doch immer gewesen sein: "Staune in mir ein Kind von außerordentlichen Gaben und Fähigkeiten an, das zu großen Dingen bestimmt ist." Wie aus einem Spiegel blickt dieses Wunderkind mir aus den Briefen meiner oft ratlosen Führerin entgegen. Ich sehe einen kleinen Affen, der sich vor Vergnügen darüber nicht kennt, daß seine Grimassen ernst genommen werden. Womit habe ich nicht renommiert! Mit welcher Belesenheit habe ich geprunkt, um Fräulein Marie zu dem Geständnis zu veranlassen, daß meine "Literatur" ihr Sorge mache. Welcher tollkühnen Reiterstücke habe ich mich gerühmt, um den gelinden Tadel zu erfahren: "Je vous admire dans vos exploits, mais je suis loin de les approuver." Sie fürchtet nicht nur, daß ich mir den Hals breche beim Reiten und Kutschieren, sondern auch, daß ich durch das Führen der Zügel die Ruhe und Leichtigkeit der Hand verliere. Und wie sehr brauchte ich sie, um die Gemälde, an denen ich arbeitete, auszuführen! Die leiseste Mißbilligung, zu der meine Freundin sich aufgerafft hat, begräbt sie sogleich wieder unter einem Blumenregen von Zärtlichkeiten und Schmeicheleien. Einem nma petite Maritscherl a aussi ses défauts" folgt sogleich ein entschuldigendes "les défauts de son âge". In den Augen der Übernachsichtsvollen bin ich "une petite styliste, une jeune personne délicieuse, intelligente", und man darf es ihr sagen, weil sie viel zu gescheit ist, um sich dadurch verwöhnen zu lassen. Ja, dieser Ton gefiel mir, der tat wohl! Von mir aus dürfte denn auch das Mögliche geschehen sein, um mir die Bewunderung und die Teilnahme meiner gläubigen Getreuen zu sichern. Auf Kosten der Wahrheit? - ohne Frage. Und doch würde ich mich sehr gewundert haben, wenn mich jemand eine Lügnerin genannt hätte. Zu allem anderen bildete ich mir auch noch ein, daß mein Vater, der sich den "Ritter der Wahrheit" nannte, seine heiße Wahrheitsliebe im vollen Maße auf mich übertragen habe. Auch log ich im Grunde nicht, ich e r l e b t e ja während ich schrieb alles, was meine Briefe von meiner interessanten Persönlichkeit aussagten. In einer wundervollen Novelle1 erzählt Isolde Kurz die Geschichte eines Knaben, mit dem umzugehen seinen Altersgenossen verboten wird, weil er für einen Lügner gilt. Alle Kinder halten sich von ihm fern; nur ein junges

1 "Werthers Grab"

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Mädchen schließt sich ihm an und schenkt ihm Glauben, als er ihr verspricht, sie in ein schönes, geheimnisvolles Reich zu führen, zu dem er den Zugang entdeckt hat. Die beiden begeben sich oft auf den Weg dahin, ohne je ans Ziel zu kommen. Nach einiger Zeit trennt sie das Leben, der Knabe stirbt, und viele Jahre später steht seine ehemalige Spielgenossin an seinem Grabe. Längst entschwundene Erinnerungen leben auf, und sie sagt sich: auf diesem Denkmal sollte stehen: Hier ruht ein Dichter. Eine Analogie ist da zwischen diesem Knaben und dem großsprecherischen Kinde, das ich gewesen bin. Wir spiegelten den anderen vor, was unsere Phantasie uns vorgespiegelt hatte. Von langer Dauer sollte meine erträumte Herrlichkeit aber nicht sein. Ich stand am Morgen der bittersten Tage in meiner Kinderzeit. Ehe wir Wien verließen, hatte Freund Fladung meiner Schwester und mir seine beiden letzten Werke geschenkt. Fritzi erhielt eine kleine römische und griechische Götterlehre, ich einen Leitfaden der Astronomie. Das Büchlein war hübsch eingebunden; ich stellte es neben meinen Schiller auf den höchst einfachen Tisch, den ich mit dem Namen "mein Sekretär" dekoriert hatte, und beeilte mich, Fräulein Marie mitzuteilen, daß ich jetzt auch Astronomie studiere. Um mich vor mir selbst nicht zu sehr schämen zu müssen, schlug ich den zierlichen Band auch wirklich auf. Was las ich da gleich auf der ersten Seite? Nicht so, wie der Katechismus es lehrte, war die Welt erschaffen worden. In Perioden von unermeßlicher Dauer erst hatte unsere Erde sich aus einem feuerflüssigen Ball, der die Sonne umflog, zu dem schönen Planeten gestaltet, den wir bewohnen. Der Katechismus irrte und auch die kleine Bibel, die wir auswendig gelernt hatten, und in der es hieß: "Und Gott machte zwei große Lichter: ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch Sterne. Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, daß sie schienen auf die Erde... " Nein, nein, dazu nicht! die waren nicht geschaffen, damit wir uns an ihrem Anblick erquicken und erbauen. Die waren für sich selbst erschaffen und die meisten von ihnen so viel größer als die Erde, wie s i e größer ist als ein Stäubchen, das im Sonnenstrahle tanzt. Und auf diesem Stäubchen, was bin dann ich? Ein tödlicher Schmerz ergriff mich bei der Frage, auf die ein Gefühl trostloser Verlassenheit, völligen Vernichtetseins antwortete. Der alte, liebe Freund, der mir sein Büchlein so arglos in die Hand gelegt, hatte nicht geahnt, welchen Sturm es erregen würde. Auch war es nicht das erstemal, daß ein Begriff der Unermeßlichkeit des Weltalls mir hätte aufsteigen können. Wenn Onkel Moritz uns in Zdißlawitz besuchte, stellte er an hellen Abenden ein Fernrohr auf, das sonst wohlverwahrt in Papas Zimmer ein nutzloses Dasein führte, und ließ uns den Mond betrachten, den Saturn mit seinem Ringe, den Jupiter mit seinen Satelliten. Er hatte uns auch 94

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gesagt, daß unsere Erde an der Sonne und am Monde Bilder ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft vor sich habe. War ich damals noch zu kindisch, um mir über diesen Ausspruch Gedanken zu machen? Habe ich nicht gefragt, hat mein Vetter mir nicht Rede gestanden? Ich wußte es nicht mehr, klar wurde mir nur: wenn ich mich seiner Worte auch entsann, ihre Bedeutung begriff ich erst jetzt. Die Erde wird sterben, wie der Mond gestorben ist. War sie denn nicht dein Lieblingskind, mein Gott, weil du deinen eingebornen Sohn geschickt hast, um die Menschen zu erlösen... Die Menschen? was sind die? Das selbe jeder, was ich bin: ein Hauch, über ein Stäubchen geweht, ein Nichts in der Unendlichkeit. Wie hatte ich mich gefühlt, als ich noch zum gestirnten Himmel emporsah und dachte: Auch mir zur Erquikkung und Freude hat euch Gott, der Herr, ans Firmament gesetzt, ihr blinkenden Lichter, Edelsteine aus seiner Krone, himmlische Smaragde, Rubine und Diamanten! Und jetzt kreisten sie dort oben, in Zahlen nicht auszudenken, in unermeßlichen Fernen und furchtbarer Größe - kalt, hoffärtig und fremd. Ihn aber, der dies Unermeßliche geschaffen hatte, wie durfte ich wagen, ihn Vater zu nennen? Er war mir entrückt, und mitten im Gebet bedrängte mich die Frage: "Gelangt meine Stimme bis zu ihm? Weiß er von mir? Habe ich einen allmächtigen, gütigen Vater, der die Haare auf meinem Haupte gezählt hat, der meine Leiden kennt, dem ich danken darf für jede Freude?... Danken, das ist das Schönste... Wie oft, wie oft hatte ich innegehalten, mitten im Spiele, mitten im Jagen und Tollen, um, erfüllt von einem unaussprechlichen Glücksgefühl, wortlos Gott zu danken für dieses Glücksgefühl, für die Bäume, die Blumen, den Sonnenschein, für alle Schönheit, alles Licht, das er über seine Welt, m e i n e Welt ergossen hatte... Und nun sollte es aus sein? - Kein Dank mehr! Mein Dank drang ja nicht zu ihm - er wußte nicht von mir." ... Bei Tage wurde ich Herr über meine schweren Gedanken, zu schwer für einen Kinderkopf. Wenn ich aber des Nachts erwachte und sie kamen, da war ich ihre Beute. Oft konnte ich mir nicht helfen und schrie laut im Schmerze meiner Zweifel. Meine Schwester, aus dem Schlafe gerissen, fuhr erschrocken auf und wollte wissen, was mir sei. Und ich beruhigte sie: "Nichts, gar nichts, - ich habe nur von etwas Schrecklichem geträumt." Da wußte ich im voraus: gleich wird meine geliebte Furchtsame den Kopf unter die Decke stecken und rufen: "Erzähl mir's nicht! Erzähl mir's nicht!" Am Morgen sah ich dann blaß und elend aus, und Fritzi sagte: "Sie hat wieder einen so bösen Traum gehabt." Nicht bei ihr und bei keinem konnte ich Hilfe holen in meiner Seelenqual. Ich glaubte jedes Wort zu hören, das sie, das jeder der Meinen mir entgegnen würde, wenn ich versuchen wollte, auszusprechen, was mich beängstigte und verwirrte. Und den Brief, den ich von meiner Marie bekäme, nachdem ich sie eingeweiht hätte in meine Bekümmernisse, den meinte ich auch ungeschrieben lesen zu können. 95

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So blieb denn nur mein geistlicher Führer - Pater Borek. Zu ihm kam das Kind, das ihm schon von der ersten Beichte an Sorgen bereitet hatte. Nicht losgestürmt kam es. Leise und zagend kam es heran. Hohe Röte stieg ihm in die Wangen, und die Zunge klebte ihm am Gaumen, als es fragte, ob Hochwürden auch wisse, daß Gott die Erde nicht in sechs Tagen geschaffen, sondern dazu ungeheuer lange Perioden gebraucht habe. Nein, wirklich, davon wußte Hochwürden nichts; aber woher mir diese Kenntnis kam, hätte er gern erfahren. Ich holte den Quell herbei, aus dem ich meine Gelehrsamkeit geschöpft hatte, Fladungs Leitfaden der Astronomie. Pater Borek las nur den Titel und sagte lächelnd, dieses Buch hätte ein Mensch geschrieben; es sei besser, sich statt an menschliche an die göttliche Weisheit zu halten. Was wir zu wissen und zu glauben haben, hat uns Gott durch seine Propheten in den heiligen Schriften geoffenbart. Daß er sich einem Gelehrten geoffenbart hätte, war dem geistlichen Herrn nicht bekannt, und ihm auf diesem Wege beizukommen, unmöglich. Er glaubte an die Heilige Schrift, nicht an die Astronomie, und er tat sie ab mit dem einen Worte: "Menschenwerk". Nun hatten sich zu meinen Zweifeln an der biblischen Schöpfungsgeschichte noch andere gesellt. Ach sie kamen in Scharen! Außer den "Nouvelles heures à l'usage des enfants" besaß ich jetzt auch einen kleinen, bilinguenen "Paroissien Romain", der mich instand setzte, unserem Pater Borek, wenn er uns die Bedeutung der einzelnen Vorgänge bei der heiligen Messe rekapitulieren ließ, die betreffenden Stellen in der majestätischen und melodischen Sprache der Kirche herzusagen. Da waren viele, die mir zu denken gaben, vor allem die Worte bei der Konsekration: "Deus, qui humanae substantiae dignitatem mirabiliter condidisti"... Ich konnte es nicht verstehen. Wenn die ersten Menschen wirklich vorzüglich gewesen wären, wie hätten sie sündigen können, wie hätten sie den unbegreiflichen, unentschuldbaren Ungehorsam gegen Gott begehen können? Er hatte ihnen das Paradies geschenkt, war zu ihnen gekommen, die Glückseligen hatten sein Angesicht gesehen und seine Stimme gehört... Und mehr als dem, was diese göttliche und liebevolle Stimme ihnen sagte, hatten sie dem Gezisch einer elenden Schlange geglaubt und über ihrem scheußlichen Anblick den des Allgütigen vergessen? Die das vermochten, die waren nicht in einem Zustande der Vollkommenheit geschaffen worden; das war ein Widerspruch, über den ich nicht hinweg kam, so dringend Pater Borek mich auch beschwor, das unselige Grübeln aufzugeben. Ich aber hatte gar nicht das Bewußtsein, daß ich grübelte. Ich dachte ja nur nach, und dann kamen die Zweifel von selbst; sie fielen mich an, ich empfand einen physisehen Schmerz dabei, wie neulich während der Wandlung... Da war es entsetzlich gewesen, da hatte es mich ergriffen: "Bist du bei uns, mein Heiland? Es sind auf der Erde Millionen Kirchen, und in hunderttausend wird vielleicht in diesem Augenblick zur Wandlung geläutet, und überall sollst du in 96

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Brotgestalt erscheinen. Bist du auch bei uns? bist du da, mein Heiland? und warum fühle ich nicht deine Nähe?" Pater Borek hörte diese Bekenntnisse in stiller Ergebimg an; er zürnte mir nicht, aber traurig hatte ich ihn wieder gemacht. Meistens nahm er dann seine Zuflucht zu dem Wunder und wiederholte eindringlich: "Mein Kind, wir sollen das Wunder verehren, an das Wunder glauben, aber nicht fragen: Wie kann das sein? Wäre es denn ein Wunder, wenn es sich erklären ließe?" Nie ein hartes Wort, kaum je ein tadelndes. Nie eine Andeutung, daß es außer der guten Macht auch eine böse gebe, einen unheimlichen Versucher, der frevelhafte Gedanken in uns erwecke, unsere Andacht störe, uns irre zu machen suche in unserem Glauben, - nie eine Warnung vor dem Teufel. "Mein Kind, ich werde morgen in der heiligen Messe recht andächtig für Sie beten." So sah seine Strenge aus. Wenn ich dann am Sonntag in die Kirche kam und ihn, der für mich beten wollte, an den Altar treten sah, war's vorbei mit Grübeln und Zweifeln. Da war ich nichts anderes als ein demütiges kleines Geschöpf, das auf den Knien lag in Anbetung des Herrn der Welten. Ich freute mich der Kämpfe und Leiden, die der schönen Stunde vorangegangen waren, mit denen ich sie vielleicht hatte erkaufen müssen: "Schick mir nur Leiden, ich will ja leiden," klang mein Gebet immer aus. Daß meine angeborene und unverwüstliche Fröhlichkeit sich auch während jener Werdetage bei mir eingefunden hat, muß ich der getreuen nachsagen. Sie kam höchst überraschend, manchmal in ganz unpassenden Augenblicken, und sie Heß sich nicht verleugnen wie die Verzweiflungsanfälle. Und wenn meine Schwester mich erstaunt fragte, warum ich heute gar so lustig sei, konnte ich ihr keine Ursache dafür angeben. Ich hatte ein herrliches Gefühl von Glück - ich hatte es - "halt so"; es war das beste, das es gibt, das grundlose. Ein Glück, das Grund hat, Geht mit ihm zugrunde stündlich, Und nur ein grundlos Glück Ist tief und unergründlich sagt Hieronymus Lorm, so weise wie schön. * * *

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Die Zeit der Schulferien war da und brachte uns unsere Brüder heim. Der ältere entwickelte sich zu dem, was man bei uns "einen Prachtbuben" nennt; der jüngere, immer gleich schmächtig und gleich kampffreudig, hatte an dem Erstgebornen einen Schutzengel, der ihn nie aus den Augen ließ, für ihn einstand, den kleinen, hitzigen Angreifer auch im ungerechtesten Streite 97

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verteidigte. In diesem Jahre wurden die Knaben von einem alten Herrn begleitet, einem emeritierten Erzieher und großen Kinderfreund. Er war von hoher, hagerer Gestalt und zu gebrechlich, um an unseren Spielen teilzunehmen, bildete aber einen wohlwollenden Zuschauer und Kampfrichter. Sehr gern wohnte er auch dem Reitunterrichte bei, den Papa, der selbst ein vorzüglicher Reiter war, uns erteilte. "Sie machen das gut, Sie machen das gut," bekamen wir dann oft von ihm zu hören, und dabei bewegte er die langen Zeige- und Mittelfinger der längsten Hand, die ich je gesehen habe, vor unseren Gesichtern auf und ab: "Ja, wenn Sie alle Lektionen mit solchem Eifer nehmen würden, da hätten Ihre Lehrer bessere Zeiten." Unseres Fräuleins Karoline nahm er sich väterlich an, verwies mir meinen Übermut und ihr ihre Gereiztheit; während seiner Anwesenheit herrschte immer Frieden zwischen uns. Traurig, daß die Tage, die unsere Brüder in Zdißlawitz zubrachten, nur das war genau ausgerechnet! - nur zwölf Stunden hatten. Sie verflogen doppelt so schnell wie alle anderen Tage. Gar so bald war der Morgen wieder da, an dem die angehenden Gymnasiasten ins Institut zurückkehren mußten. Sie haben dort keine besonders guten Zeiten verlebt, aber nicht geklagt, denn sie waren tapfere kleine Buben. Trotzdem wußten Fritzi und ich genau, wie ihnen ums Herz war, wenn sie in den Wagen stiegen, der sie zur Bahnstation bringen sollte. Noch ein Händedruck, noch eine Umarmung, noch ein tröstendes Wort Papas; "Wir sehen uns bald wieder!" und fort waren sie... Wir standen noch eine Weile im Hofe und winkten mit den Taschentüchern, wenn der Wagen aus dem Tore fuhr, im Bogen am Gartengitter vorbei, und nun rasch auf der abwärts führenden Straße hinunterrollte. Dann liefen wir, und die kleine Sophie mit uns, in das Zimmer Großmamas, an das Fenster, an dem ihr Arbeitstischchen vor dem Bild der hingegangenen Levrette stand, und begleiteten die Reisenden in Gedanken. Jetzt sind sie am Ende des Schloßberges angelangt, jetzt geht es links eine Strecke auf ebenem Wege zwischen Feldern und Obstbäumen am Wassergraben vorbei, an dem die jungen Pappeln stehen, an der Wiese, auf der die vielen Gänse weiden. Und jetzt kann man den Wagen noch im Flug erblicken, und die Brüder sehen vielleicht gar uns am offenen Fenster. Die kleine Sophie meint, wenn sie uns sehen, können sie uns auch hören, und ruft: "Adieu, meine Brüder!" und schwenkt wieder ihr Tüchlein. Noch ein zweites Mal wird der Wagen sichtbar, ganz klein, ganz fern, wenn er den Berg hinauffährt, den letzten, auf dem wir eine Fahrstraße noch auszunehmen vermögen. Und die uns dort entschwinden in der Ferne, die beiden, die wenden sich jetzt gewiß noch einmal zurück und sagen zueinander : "Da sieht man's noch, das Schloß"... Grüße fliegen hin und her durch die Luft, Grüße einer Liebe, die felsenfest gestanden hat in der verrinnenden Zeit, unwandelbar im wechselvollen Leben. 98

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Es war eine epochemachende Neuerung, daß jeder, der in Zdißlawitz einen Brief erwartete, ihn täglich erhalten konnte. Erst seit wenigen Jahren befand sich ein Postamt in unserer Nähe. Früher mußte der Bote vier Stunden weit nach dem Städtchen Wischau pilgern, um die für das Dorf und das Schloß bestimmten Postsendungen abzuholen. Er setzte sich nur zweimal wöchentlich in Bewegung, und was er dann regelmäßig außer einem Räuschchen mitbrachte, das waren einige Nummern der Wiener und der Brünner Zeitung. Wenn auch Briefe eintrafen, galt das schon als ein kleines Ereignis. Papa öffnete sie nie vor Tische. Er muß das Lesen von Briefen als etwas Appetitverderbendes angesehen haben. Beim schwarzen Kaffee erst nahm er die Schriftstücke zur Kenntnis, nachdem er ihr Außeres sorgfältig geprüft hatte. Einmal kam ein schmaler, schwarzversiegelter Brief auf dünnem Papier aus Paris. Die Adresse war mit einer feinen Perlschrift geschrieben, die dem Papa nicht ganz fremd schien; es konnte wohl die Madame Dufoulons sein. "Lies," sagte er, reichte Mama den Brief, und sie las eine Weile schweigend. - "Nun, was schreibt sie?" - "Es wird euch traurig machen", war die Antwort, "und tut auch mir sehr leid. Der arme Just, das arme Kind - und seine noch viel ärmere Mutter!" Madame Dufoulon teilte die Nachricht vom Tode ihres heben Sohnes mit. Ein Nervenfieber hatte ihn dahingerafft, wenige Monate, nachdem er so glücklich gewesen war, eine Stellung zu finden, die ihn instand gesetzt hätte, seiner Mutter und seiner Schwester eine kräftige Stütze zu sein... Das war eine grausame Verschärfung der Bitternis dieses Verlustes. - Ich kam von der Frage nicht fort: Was wird geschehen, was wird man tun? Es wird geschehen, man wird tun, was in solchen Fällen das Gewöhnliche ist. Man wird, von Mitleid erfüllt, einen ungemein warmen und herzlichen Brief schreiben, man wird noch einige Male sagen: "Der arme Just, seine arme Mutter, was wird sie jetzt wohl anfangen?" und dann - vergessen. Man wird... ich werde! Mit peinlichem Selbstvorwurf ergriff mich der Gedanke an Frau Krähmer. Wie lange hatte ich mich ihrer nicht mehr erinnert, die das selbe Schicksal gehabt wie Madame Dufoulon. Auch sie hatte alle ihre Hoffnung auf den Sohn gesetzt, der ihr weggestorben war, bevor sein verheißungsreiches Leben sich zur Blüte entfalten konnte. Es war Spätherbst geworden, und vor unserer Abreise wollten wir noch etwas ausführen, was meiner Schwester als eine Pflicht gegen unseren Freund und Spielgefährten erschien. Eine Viertelstunde weit vom Schlosse, aber schon zum angrenzenden Dorf gehörend, befand sich eine Schlucht. Sie war von einem dünnen Wasserfaden durchzogen und mit Buschwerk dicht überwachsen, aus dem einzelne schlanke Bäume hoch emporschössen. In ihrer Eile, der niedrigen Umgebimg zu entragen, hatten sie sich nicht Zeit genommen, unterwegs Zweige anzusetzen; all ihren Blätterschmuck entfalteten sie erst in der Krone, und die wurde ihnen manchmal zu schwer. Wenn ich sie ansah, 99

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mußte ich an meinen Schiller denken mit seinem Kranz. Ganz gerade stand keiner von ihnen; nach verschiedenen Richtungen hin hatte der Wind sie gebogen. Mitten in der Schlucht ist ein kleiner, freier Platz, und da befindet sich ein kapellenartig übermauertes Brünnlein. Zwei steinerne Stufen führen durch den schmalen Eingang zu seinem Wasserspiegel. Im Dunkel sieht das Wasser so schwarz wie Tinte aus; ins Glas geschöpft, ist es kristallklar, und ihm wird die Kraft zugeschrieben, Augenleiden zu heilen. Einige Schritte von dem Fußsteig entfernt, auf dem man vom Felde aus steil ab zum Brünnlein gelangt, steht eine Buche... Du alte Königin, weißt du von dem munteren Zeug, das grünt und lebt und sich vermehrt und nichts verlangt, als seines Daseins froh zu werden zu deinen Füßen und unter deinem Schutze? Weißt du von den Emporstrebenden, die der Ehrgeiz treibt, dir in deinen erhabenen Gipfel zu schauen und seine Geheimnisse auszuspähen? - Du alte Königin, du Herrscherin, wie du dastehst vor meinem geistigen Auge in deiner Schönheit, deinem Stolze, deiner Kraft, so könnte dich mir zu Dank kein Maler malen, kein Dichter beschreiben. Vor dir, zwischen zweien deiner mächtigen Wurzeln, haben kleine Menschen ein kleines, hölzernes Standbild aufgerichtet: die heilige Anna, die ihr Töchterchen lesen lehrt. Kein Kunstwerk und - mehr als ein Kunstwerk für die Armen, die Betrübten, die hierher beten, die Glücklichen, die Genesenen, die danken kommen. Die Schlucht, in der der wundertätige Quell sich befindet und die herrliche alte Buche sich einst befand, hatte ihren Namen von dem kleinen Standbilde erhalten. Zur "Svatá Anna" wanderten wir als Kinder oft, brachten dort manchen Sommernachmittag zu, und einmal schnitt Monsieur Just seinen Namen in den Stamm der Buche ein. Mit großen Buchstaben, tief durch die dicke Rinde bis aufs Lebendige. Von weitem konnte man lesen, gelbweis herausleuchtend aus dunkler Umrahmung: Just. Das dürfe man nicht so lassen, meinte Fritzi; jetzt, weil er tot sei, müsse ein Kreuz über den lieben Namen gesetzt werden. Wir bewaffneten uns mit unseren schärfsten Taschenmessern und begaben uns eines trüben Novembermorgens zu der Buche bei der "Svatá Anna". Eifrig mühten und streckten wir uns, soviel wir konnten, um zu der Höhe hinaufzureichen, in der unser Kreuz angebracht werden sollte. Es war vergeblich, wir mußten uns bequemen, das Zeichen des ewigen Friedens unter den Namen unseres entschlafenen Freundes zu setzen. Heute steht die kleine "Svatá Anna" nicht mehr unter dem Schutze der Buche. Sie haben die Herrliche gefällt und auch die schlanken Bäume in ihrer Nähe und alles Gebüsch fortgeputzt, um mehr Platz zu schaffen für Rüben und Getreide. Gewiß wird bei dem Standbild der Heiligen noch immer fromm gebetet, gewiß noch an die Heilkraft des Wassers im Brünnlein geglaubt. Ich aber meide diese Stelle und habe sie nicht mehr betreten, seitdem die alte Riesin ihren noch grünen Wipfel, der wonneschauernd das erste 100

Morgengrauen begrüßte, der feierlich den letzten Sonnenkuß empfing, zu Boden senken mußte.

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Nachdem Fräulein Karoline uns verlassen hatte, fand man Fritzi und mich alt genug, um fortan in Freiheit dressiert zu werden; nur für die kleine Sophie wurde eine Gouvernante aufgenommen: Madame Vaxelaire, die weibliche Hälfte eines Ehepaares, das sich dem Erzieherfache gewidmet hatte. Zu der Zeit, als die Gattin unserem Schwesterchen ihre Sorgfalt widmete, was sie treu und redlich tat, war der Gatte Hofmeister eines Knaben, von dem er stets erzählte, dessen ungewöhnliche Begabung und edle Eigenschaften er rühmte, und dem er eine glänzende Zukunft vorhersagte. Er hat recht behalten, denn dieser Knabe hieß: Graf Hans Wilczeck. An Madame Vaxelaire hatten wir eine äußerst angenehme Hausgenossin. Sie war eine kräftige, wohlwollende Frau, im Besitze des unschätzbaren Vorzuges einer immer gleichmäßig guten Laune. Sehr gesund, nicht mehr jung, machte sie, mit ihren roten Wangen und dem gelbbraunen Teint, den erfrischenden Eindruck eines schönen Oktobertages. Sie hatte unsere kleine Sophie sehr lieb und nahm sich auch unser freundlich an, obwohl sie gegen Fritzi und mich keine andere Verpflichtung hatte als die, uns täglich auf dem Spaziergang zu begleiten. Das Stadtleben ging seinen gewohnten Gang, unsere Lehrer und Lehrerinnen fanden sich wieder ein; nur trat ein neuer Zeichenmeister an den Platz des früheren. Dieser hatte sich leider zu einer kleinen Taktlosigkeit hinreißen lassen. Er wartete eines Vormittags, wie gewöhnlich, auf uns im Speisezimmer, das während der Zeichenstunde unser Atelier vorstellte. Wir erschienen - ebenfalls wie gewöhnlich - in Begleitung von Mamas Musterkammerjungfer, Fräulein Josefine. Sie hatte die Aufgabe, den Herrn Lehrer zu beaufsichtigen, und nahm die Sache sehr ernst. Als wir an jenem verhängnisvollen Vormittage eintraten und ihn grüßten, kam er uns entgegen, blieb vor meiner Schwester stehen, stemmte den Arm in die Seite und sprach: "Sakerlott, Komteß Fritzi, was haben Sie für Augen! Nein wirklich, mirakulös schöne Augen!" Wir hätten dem biederen Oberösterreicher diesen Ausdruck einer gerechten Bewunderung verziehen. Die Kammerjungfer hielt es für ihre Pflicht, ihn höheren Ortes anzuzeigen, und wir erhielten einen Zeichenlehrer, noch um ein Jahrzehnt älter als der frühere, der auch kein Jüngling war. Der Nachfolger hatte einen Beethovenkopf. Ich lernte in ihm eines der größten Originale kennen, die mir im Leben begegnet sind. Ein ganz ungelehrter Mensch, der sich in den Wunsch verrannt hatte, Entdeckungen auf wissenschaftlichem Gebiete zu machen, und nicht die geringste Freude an 101

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der Ausübung des braven Malertalents fand, mit dem er begnadet war. Er überließ seine kleinen Ölgemälde - treffliche Genrebildchen - zu guten Preisen einem Kunsthändler, der sie zu noch viel besseren nach England verkaufte. Der Mann quälte ihn mit seinen Bestellungen, er aber ließ die Arbeit stehen und beschäftigte sich mit abenteuerlichen Entdeckungen. Von ernsten Studien war er ein Feind, er las wenig. "Die Bücher", war eine seiner Lieblingsbehauptungen, "bringen uns um die Originalität. Auch verdirbt es mir ja die Freude an einem eigenen Einfall, wenn ich erfahre, daß ein ¿inderer ihn vor mir gehabt. Oder vielleicht nicht? was?" Es war komisch, unseren Zeichenlehrer, während er eine Aufgabe korrigierte, sagen zu hören, daß wir nichts anderes seien als lebendige Leydener Flaschen. Wir meinten, das müsse in irgendeiner Beziehung zur Zeichenkunst stehen; es stand aber in Beziehung zur Physik. "Ja, der Cunäus," pflegte er seinen Vortrag zu eröffnen, "ein großer Mann - aber er ist bei der Flaschenelektrizität stehen geblieben, bis zur menschlichen nicht vorgedrungen. Und wir sind mit Elektrizität doch ebenso angefüllt wie seine stanniolbeklebten Glasgefäße, und was die Entladung betrifft, für die ist gesorgt. Wenn der Mensch zum Beispiel erschrickt, oder wenn er sich zum Beispiel plötzlich verliebt." Bei dem Worte spitzte Fräulein Josefine die Ohren und ließ ein deutliches Räuspern vernehmen. Er bemerkte es nicht und fuhr fort: - "Das wären jähe Entladungen. Allmähliche finden ununterbrochen statt. Sie können sich davon selbst überzeugen. Gehen Sie spazieren durch mehrere Tage nacheinander immer auf dem selben Weg. An jedem Tage wird er Ihnen kürzer vorkommen als am vorhergehenden. Warum? Sie haben am ersten am meisten Elektrizität abgegeben an die Erde, die ein mittelmäßiger Leiter ist; am zweiten finden Sie den größten Teil abgegebener Elektrizität auf dem Wege wieder, verbrauchen also weniger von der Ihren, werden also weniger müde, der Weg kommt Ihnen also kürzer vor. Ist das richtig? Oder vielleicht nicht - was?" Er sah uns dabei so streng an, daß wir es immer richtig fanden. Ein zweites Steckenpferd bestieg er auch fürs Leben gern. Er schrieb sich - gewiß ohne je eine Zeile von oder über E. T. A. Hoffmann gelesen zu haben - die Fähigkeit zu, Farben zu riechen und zu hören. Blau klingt wie ein Mollton, Rot ist Dur. Farbenempfindung, Tonempfindung werden durch den gleichen Reiz erregt, einfache Farben, einfache Töne. Mit halben Farben, mit allerlei Schattierungen, lassen sich Terzen, Quarten, Quinten darstellen. Eines Tages brachte er uns ein gemaltes Farbenklavier mit mehreren Oktaven. Ich war geblendet und freute mich, demnächst vor meinem Vetter Moritz mit den physikalischen Kenntnissen zu prunken, die ich bei der Zeichenlektion erworben hatte. Sie machten aber keinen besonderen Eindruck, und ich erfuhr den Schmerz, zu hören, daß die vermeinte Entdeckung des Künstlers, der sich führerlos auf wissenschaftlichen Pfaden umhertrieb,

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keine sei. "Ein Farbenklavier ist schon zusammengestellt worden," sagte mein Vetter. "Schon zusammengestellt - und durch wen?" "Durch Castel." "Und wann?" "Vor mehr als hundert Jahren." Vor so langer Zeit? eine so alte Geschichte hat das Farbenklavier? O Gott! Der arme Herr Lehrer wird arg enttäuscht sein, wenn er hört, daß er nicht der alleinige Entdecker dieses mysteriösen Instrumentes ist... Ich versetzte mich in seine Lage und machte im voraus alle Qualen der Beschämung mit ihm durch - zum Glück unnötigerweise; denn er war viel zu sehr beschäftigt mit seinen eigenen wissenschaftlichen Leistungen, um von denen anderer Notiz zu nehmen. Einige Tage später fragte mich mein Vetter, ob es mich interessieren würde, etwas zu hören von den Versuchen, die gemacht worden sind, um die Harmonie zwischen Farben und Tönen nachzuweisen. In seiner klaren und anschaulichen Art beschrieb er den Apparat, den Ruete zusammengestellt hat, um den Eindruck von Farbenakkorden hervorzubringen. Er sprach von Kontrastharmonien, von den Farben, die nur stimmen, wenn sie durch Grau oder Weiß eine Unterbrechung erlitten haben. Solange er sprach, war ich überzeugt, alles gut zu verstehen, was er mir erklärte. Als ich aber darüber nachdachte und es mir zurechtlegen wollte in meinem Kopfe, da merkte ich, daß die neuen Erkenntnisse nicht hineingedrungen waren. Draußen schwebten sie umher als klang- und farbenreiche undeutliche Gebilde. Mein Zeichenmeister hatte es besser; ihm tönte, wenn er den großen, mit bunten Streifen bedeckten Bogen betrachtete, den er sein Farbenklavier nannte, das "Gott erhalte", entgegen. ***

In den Briefen meiner treuen Mentorin finde ich einen recht trüben Reflex des Glanzes, in dem ich mich ihr als angehender Shakespeare des 19. 30 Jahrhunderts vorstellte. Sie begann ernstlich besorgt um mich zu werden und schlug einen strengen Ton an. In Bücher gebunden liegen alle ihre Briefe vor mir; wohlverwahrt und ungelesen sind sie jahrelang im Schranke geblieben. Ich habe sie erst wieder hervorgesucht, um sie dem Freunde zur Verfügung zu stellen, der die Geschichte meines Werdegangs mit feiner und liebevoller 35 Hand aufgezeichnet hat. Jetzt blättere ich oft in den inhaltreichen Bänden, und was mich dabei mit schmerzvoller Wehmut erfüllt, ist das Schicksal ihrer Verfasserin, von dem sie Zeugnis geben. Marie Kittl ist die erste der vielen gewesen, die mir, je weiter ich fort40 schritt auf meinem Lebenswege, desto öfter begegnen sollten - der Opfer ei103

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nes eingebildeten Schriftstellerberufes. Es wurde allmählich meine ständige Qual, mitansehen zu müssen, wie diese Bedauernswerten, von ihren Aspirationen getrieben und genarrt, taub werden für die dringendste Bitte, den ehrlichsten Rat, und wie sie dem widerwilligen Verzichten, mit einem anderen Wort: - der Verzweiflung entgegengehen. Ich kenne ihre Sehnsucht und weiß, daß sie ebenso unüberwindlich ist wie die der echten Begabung, mit der die ihre noch manche andere Ähnlichkeit und wahrscheinlich den selben Ursprung hat; aber sie leidet an Unzulänglichkeit. Denn nur von Unzulänglichkeit kann die Rede sein. E t w a s Talent ist immer vorhanden, ohne Talent macht man gar nichts, nicht einmal etwas Miserables. Aber das vorhandene Fünkchen, ja sogar der Funke, wird noch lange nicht genügen, ein Licht daran zu entzünden, das über den Tag hinaus leuchten kann. Und nun steht vor mir der ganze Jammer, der sich da vorbereitet, der wachsen und wuchern und traurige Früchte reifen wird. Das peinvoll hastige Streben der Ohnmacht, die mit jeder neuen Arbeit neu aufflackernde Hoffnung, die blutige Enttäuschung nach langem Warten und Harren, endlich die Trostlosigkeit und Erbitterung. Die Menschenliebe erlischt; wie soll man die lieben, die uns nicht gelten lassen? Das Interesse und das Wohlwollen für Mitstrebende verwandeln sich in Gleichgültigkeit und, wenn ihnen ein Glückssternchen aufblinkt, in Mißgunst. Da ist der und da ist jener, die haben Minderwertiges geleistet und Anerkennung gefunden. Man wägt und vergleicht und legt einen seltsamen Maßstab an; nicht am Großen mißt man sich, nein - am Kleinen. Hat man einmal einen anderen Kleinen oder, wenn ein besonders glücklicher Zufall es fügt - einen Großen scheitern gesehen, dann erwacht die Bettlerin unter den Freuden - die Schadenfreude. Kein wirklicher Balsam und Trost, denn sie entspringt dem Giftquell des Neides, dieses moralischen Gebrechens, dessen fressender Qual sogar der "fanfaron du vice" sich nicht rühmen mag. Lächelnd verbeißt ihn jeder, den er foltert, wie der Spartanerknabe seine Schmerzen verbiß, als ihm der gestohlene Fuchs, den er unter dem Mantel verbarg, die Brust zerfleischte. Marie Kittl hat allerdings weder Erbitterung noch Neid gekannt, aber unglücklich machten sie ihre immer gescheiterten Versuche, sich schriftstellerisch zu betätigen. Sie stand in reifen Jahren, hatte die Erziehung der jungen, mütterlicherseits verwaisten Fürstin Arenberg vollendet und ihren geliebten Zögling noch zum Altar geleitet. Bald darauf war sie einer Einladung nach Brüssel gefolgt und hatte dort die Stellung einer Gouvernante bei der hochbegabten Tochter König Leopolds, der Prinzessin Charlotte, eingenommen, und später die der Vorleserin der Herzogin von Brabant. Es waren sonnige und schöne Jahre, die sie am belgischen Hofe verlebte. Der Wirkungskreis, der sich ihr eröffnet hatte, sagte ihr in jeder Weise zu; er brachte äußere Ehren, für die sie nicht ganz unempfänglich war, und bot ihr Befriedigung ihres innigen Herzensbedürfnisses, die Anhänglichkeit und Liebe ihrer Umgebung zu gewinnen. Auch ihr lang genährter Wunsch, weite Reisen zu unterneh104

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men, erfüllte sich unter den denkbar angenehmsten Verhältnissen. All das Gute erfuhr sie bei der Ausübung ihres wirklichen Berufes, und sie fand ihr Glück in ihm, bis der falsche sein Lügenhaupt erhob und sie umstrickte mit allen Zaubern und Lockungen, über die das Blendwerk verfügt. Sie begann nach Freiheit zu lechzen, um schreiben zu können, soviel sie wollte. "Meine Flügel", teilte sie mir mit, "haben sich geregt." Und sie kamen nicht wieder zur Ruhe, die verhängnisvollen Flügel, deren kümmerlicher Schlag gerade genügte, um ihre Besitzerin hinzuschleifen über Dornen und Gestein. Ihre Geschwister und ich bewunderten, was sie schrieb, weil sie es geschrieben hatte - alle übrigen schwiegen. In ihrem Kreise entstand, wie wir hörten, Verlegenheit, wenn sie kam, der oder jener Hoheit ein neues Werk zu überreichen. Auf eigene Kosten war es gedruckt und prächtig eingebunden und wurde mit höflichem Lächeln hingenommen, denn man achtete Madame Kittl zu hoch, um ihr Lobsprüche über Arbeiten zu erteilen, die ihrer so wenig würdig waren. Sie hat es mir nie gesagt, doch vermute ich, daß der Mangel an Anerkennung für ihre Reisebeschreibungen und Novellen sie bestimmte, den Hof zu verlassen. Diesen Entschluß führte sie unerwartet rasch aus, um den Einwendungen zu entgehen, die sich gegen ihr Scheiden erhoben hätten. In London, wo sie ihren Wohnsitz nahm, erhielt sie den Beweis der treuen Gesinnung, die man ihr am belgischen Hofe bewahrte. König Leopold setzte der Erzieherin seiner Tochter aus eigener Initiative ein ansehnliches Jahresgehalt aus. Marie Kittl befand sich in behaglichen Verhältnissen und konnte leicht einen Teil ihrer Ersparnisse daran wenden, von Zeit zu Zeit einen neuen, hübsch ausgestatteten Band in kleiner Auflage erscheinen zu lassen und einige Exemplare an Freunde zu verschenken. Der Rest stapelte sich auf in den Magazinen ihres Verlegers, und oft klagte sie: "Er tut zu wenig für meine Bücher. Ich finde sie nirgends angezeigt." So ging es fort, bis die Ersparnisse aufgezehrt waren. In schonendster Weise bemühten sich die ehrlichen unter den Freunden und Verehrern der unermüdlich Strebenden, sie zu bewegen, die Schriftstellerei nur noch als Hausindustrie zu betreiben. Davon jedoch wollte sie nichts hören. Manuskripte gehen mit der Zeit verloren, Bücher, die lange unbeachtet blieben, kommen manchesmal doch ans Licht, und dann wundern sich die Menschen, daß dieser Schatz erst so spät gehoben wurde. So dachte sie vielleicht im stillen, ich aber hatte die Erkenntnis gewonnen: für diese Werke gibt es so wenig ein Morgen wie ein Heute. Es ist mir ein Rätsel geblieben, wie meine Freundin, die so viel Lebensweisheit besaß, die ein so richtiges Urteil für fremde literarische Leistungen hatte, über ihre eigenen mit völliger Blindheit geschlagen sein konnte. Sie erzählte vortrefflieh, sobald sie aber ans Niederschreiben des Erzählten ging, zerflossen die Begebenheiten, Gestalten, Landschaften wie feuchte Flecke auf Löschpapier. Von ihrer Sprache sagte sie selbst: "Ich weiß, sie ist international." Daß sich eine kleine Kur vornehmen ließe, davon wollte sie nichts hören. Man hat 105

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seinen Stil, wie man seinen Buckel hat, schien sie anzunehmen und wollte Ruhe haben vor der Orthopädie. Das Ende war Entmutigung und doch auch - und darüber kann ich nicht hinwegkommen - ein Zweifel an meiner Hilfstätigkeit. Er hat ihre Freundschaft und Liebe zu mir nicht verringert; aber er war da, ich fühlte ihn. Sie brachte die letzten Jahre ihres Lebens in Wien zu und nahm oft meine Vermittlung bei Redakteuren und Verlegern in Anspruch. Alle Briefe, mit denen ich ihre Manuskripte zurückerhielt, k o n n t e ich ihr nicht zeigen, und doch wollte sie jeden sehen. - Ich wußte oft nicht, welche Notlüge ersinnen, um zu erklären, warum es mir immöglich sei, ihr die Zuschrift mitzuteilen, die ich in Begleitung einer wieder abgelehnten Einsendimg erhalten hatte. Immer schwerer entschloß ich mich, die Botin des abermaligen Scheiterns einer frohen Erwartung zu sein. "Nicht angenommen? Auch das nicht? Und ich hielt es doch für mein Bestes." Mehr sagte sie nicht - aber ich ermaß den Schmerz, den diese heroisch kühlen Worte verbargen. Und ich sah mich im Zimmer um - und ich war anwesend bei ihrem Mittagessen und ich wußte, sie empfindet bitter die Dürftigkeit, die aus jedem Winkel dieses Raumes schreit, aus jedem Schüsselchen, das ihr die Hausmagd auf den Tisch stellt. Durch Jahrzehnte hat sie in königlichen Schlössern gewohnt und an königlicher Tafel gespeist. Sie mußte ja leiden, sie m u ß t e ! unter dem Kontrast zwischen einst und jetzt... Nun, sie verriet es nie. - Die Übergütige, die sich zu einem strengen Wort gegen mich nie hatte aufraffen können, wies jede Andeutung an das Glück, das es mir gewähren würde, ihr Dasein behaglicher gestalten zu dürfen, energisch zurück. "Ich bin ganz zufrieden, ich brauche nichts, schicke mein Manuskript jetzt nur an einen andern Verleger." Und sobald es eine neue Reise angetreten hatte, stiegen die Hoffnungen wieder empor. Eines ihrer Bücher würde ja doch einmal "einschlagen" und dann alle übrigen zu Ehren bringen. "Denke nur, wie lange du gerungen hast um deinen ersten Sieg!" Sieg! Mir war leicht, ihr zu beweisen, daß es nicht weit her sei mit diesem "Sieg". Sie hatte hundert Einwendungen, aber ein bißchen wohl tat es ihrem wunden Herzen doch, zu hören, daß ihre Schülerin sich nicht in ungetrübtem Ruhmesglänze sonnte. Sie hat das Bitterste erlitten, das ich weiß: sie hat einen brennenden und unerfüllbaren Wunsch in der Seele getragen. Und noch einen zweiten, einen weniger heißen, aber sehnlichen, hatte sie und betete täglich um dessen GeWährung, die ihr auch zuteil wurde. Ihr Tod war sanft und schmerzlos. Ohne vorhergegangene Krankheit, ist sie eines Nachts, nachdem sie sich am Abend zuvor wohlauf und gesund zur Ruhe begeben hatte, aus dem zeitlichen in

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den ewigen Schlaf gesunken. - Im Traume, im schönen, lichtverklärten Traume, so hoffe ich, du gute Träumerin! *»·

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Es war wieder Frühling geworden. Die Kastanienbäume im Prater standen im hellsten Flor, auf den Wiesen, die grünten und dufteten, fanden reiche und arme Kinder sich beim Blumenpflücken ein, die einen zum Vergnügen, die anderen zum Erwerb. Es war hauptsächlich auf Veilchen abgesehen. Von denen banden die Mütter der armen Kinder einige Dutzend an einen kleinen Stab, legten ihnen ein Efeublatt als Stehkragen um und boten die Sträußchen zum Preise von drei Kreuzern Konventionsmünze in den Straßen der Stadt aus. Der aufmerksame Gatte brachte der Frau ein "Büscherl" heim, der Bräutigam legte es der Braut zu Füßen, das Kind den Eltern, und welche Freude bereitete das bescheidene Geschenk! - Ihren beliebtesten Standort hatten die Verkäuferinnen am Graben vor dem Trattnerhof und dieser Alte, mein Gegenüber, mit dem ich von meinem Fenster aus gern Zwiesprache pflege, versichert mir, die kleinen "Praterveigerln" hätten bis zu seinem zweiten Stock hinauf geduftet. Die großen "wällischen V e i l c h e n " hingegen könnten haufenweise an ihm vorbei getragen werden, er röche nichts davon. Ich möchte das Körbchen einer Blumenfrau von einst gar zu gern neben dem tragbaren Blumenmagazin einer ihrer Kolleginnen von heute stehen sehen! In dem einen kleine dunkle Urbilder der Lieblichkeit, des Segens, den sie ausströmen unbewußt, in dem andern alle Farbenglut und Formenpracht südlicher Flora in Glanz und Reichtum prangend. Was hätten die einander zu sagen, die beiden! Kulturgeschichte würden sie reden. Die Zeit verfloß, die Tage wuchsen und mit ihnen unsere Sehnsucht nach der Rückkehr auf das Land. Sie war für Mitte Mai festgesetzt und allmählich in so nahe Aussicht gekommen, daß man begann, die Koffer vom Boden herunterzuschaffen. Auch die unseren erschienen, und wir machten uns an die köstliche Arbeit des Einpackens und sangen dazu aus vollem Halse nach der Melodie des Volksliedes: "Da droben auf dem Bergeri" mein selbstverfaßtes Reiselied: Adieu nun du Wien, Wir fahren hinaus, Nicht weit in die Fremde, O nein, nach zu Haus. Dort steht's auf dem Bergerl So traurig und denkt: Wann werden die Kinder Mir wieder geschenkt? Sei froh jetzt mein altes, 107

Sie sind schon ganz nah, Gott grüß dich, sie kommen, Die Kinder sind da! s

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Wohl hatte Fritzi gefunden, das Liedchen passe nicht mehr für uns, und so hatte ich eins für erwachsene Mädchen gedichtet. Das war aber ohne Schwung und sang sich nicht von selbst wie das erste. So blieben wir bei dem. Unser Festjubel erfuhr eine jähe Störung, die Abreise mußte verschoben werden, denn Großmama war plötzlich erkrankt. "Nichts von Bedeutung," versicherte der Arzt, ein Homöopath, der damals in Wien großes Ansehen genoß. "Eine leichte Lungenentzündung; in vierzehn Tagen ist die alte Frau wieder gesund, und dann fahren sie mit ihr, je eher, je besser aufs Land!" In vierzehn Tagen! in vierzehn Tagen erst? - das ist ja so lang, nicht auszudenken, w i e lang, das ist ja nicht zu erleben, das Ende dieser vierzehn Tage. Wir waren über die Verzögerung unserer Abreise so unglücklich, daß wir ihre Veranlassung im ersten Augenblick kaum erwogen. Als aber zwei Tage vergingen, an denen wir die Großmama nicht sehen durften, als es noch am dritten hieß: "Sie hat Fieber, sie hustet und muß Ruhe haben," begann uns angst zu werden. Auch Papa war besorgt und äußerte Zweifel an der Unfehlbarkeit des berühmten Arztes. Am vierten Tage hatten wir beim Nachhausekommen vom Spaziergang angeläutet an Großmamas Wohnungstür, waren, als sie geöffnet wurde, ins Vorzimmer gedrungen und bestürmten die Kammerjungfer mit Bitten, uns zu melden. Sie brauche nur zu sagen, daß wir da seien, sonst gar nichts. Vielleicht, man könne ja nicht wissen, vielleicht würden wir doch vorgelassen. Die Kammeijungfer mahnte zur Geduld. Unsere Eltern und der Arzt, die sich schon eine Weile bei Großmama befänden, würden gleich kommen und dann bestimmen, was zu geschehen habe. Als sie eintraten und wir unser Anliegen vorbrachten, wies der Doktor uns barsch ab. Er war in schlechter Laune und fuhr ungeduldig heraus, als Papa Besorgnisse um die Kranke äußerte: "Sehen Sie denn nicht? Es geht ja besser. Ganz gesund wird man in dem Alter doch nicht von einem Tag zum andern!" Beide Eltern fragten noch: "Also wirklich keine Gefahr?" "Wenn ich Ihnen sage: Nicht die geringste." Das war denn schön und beruhigend. Von den vierzehn Tagen, die überstanden werden sollten, bevor Großmama reisen durfte, waren vier vorbei. Zehn noch dazu, und wir sind wieder in unserem lieben alten Neste... Die Lindenbäume wiegen ihre blühenden, duftenden Zweige und die Fichten ihre in die Wolken strebenden Wipfel; wie von einer unsichtbaren Riesenhand gestreichelt, wallen und schmiegen sich wohlig die Millionen Ähren auf 108

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den Feldern, die mütterliche Heimaterde qualmt, die Sonne leuchtet, freundliche Augen lachen und alle, alle sagen: "Grüß euch Gott!" Nun war der fünfte Tag gekommen - ein Maitag mit Sommertemperatur, auf dem Lande wonnig, in der Stadt für mich ein Kopfschmerzenausbrüter. Sie hatten sich heftig eingestellt, und als die Eltern am Vormittage mit uns ausfahren wollten, bat ich zuhause bleiben zu dürfen. Die Meinen waren kaum fort, als Madame Vaxelaire herbei geeilt kam, um mir zu sagen, daß Großmama heraufgeschickt habe... Sie wollte Fritzi und mich sehen... und schrecklich - schrecklich - jetzt sei Fritzi nicht da! Die Erregung, mit der die gute Frau sprach, entsetzte mich. Was hat das zu bedeuten. Was gab es denn? Ich war aufgesprungen, ich rannte auf den Gang. Dort stand der alte Josef, der gekommen war, uns abzuholen, uns beide, und jetzt mich allein über die Stiege geleitete. "Nêstésti, Néstístir1 war alles, was er auf meine hastigen und angstvollen Fragen erwiderte. Die Kammerjungfer erwartete mich - tief bekümmert, von Zweifeln und Sorgen zerquält. Sie wußte nicht, ob es recht von ihr sei, mich zur Großmama zu führen. In der Früh, als der Arzt dagewesen war, hatte er unsere Bitten um Einlaß grimmig abgewiesen. Aber die Frau Baronin wolle uns sehen, habe den Befehl uns zu holen so bestimmt gegeben - da müsse man ihr doch gehorchen. Wir gingen in das Speisezimmer und leise auf den Fußspitzen zur Tür des Schlafzimmers. Sie war nur angelehnt und gab meinem zaghaften Drucke nach. Ich blieb auf der Schwelle stehen. Die zwei Fenster rechts, die in das Rotgäßchen sahen und zwischen denen am breiten Pfeiler das Bild meiner Mutter hing, waren ganz, das Fenster der Tür gegenüber bis zur halben Höhe verhängt. So konnte die Kranke ein Stückchen Himmel sehen, von ihrem Bette aus, das die Mitte der Längswand zur Linken des Eingangs einnahm. Nie anders als eilig und freudig war ich in dieses stille Gemach getreten, und nun bannte eine schwere, beklemmende Bangigkeit mich auf meinen Platz. Von ihm aus sah ich die hochgetürmten Polster, deren Stickereien das Kopfende des Bettes überragten, sich ein wenig bewegen und nun hörte ich die Stimme Großmamas. Sie fragte: "Die Kinder - kommen sie?" Da faßte ich mir ein Herz, da lief ich zu ihr, und plötzlich und wonnig ergriff mich die Freude des Wiedersehens. Ganz ungetrübt. Großmama machte mir nicht den Eindruck einer Kranken. Sie saß fast aufrecht in ihrem Bette, an ihre Schultern schmiegte sich ihr weicher, feiner Schal mit den bunten Blümchen, den sie so gern hatte. Sie war auch frisiert wie gewöhn-

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lieh, trug eine reich garnierte weiße Haube und an jeder Seite der Stirn drei braune Seidenlocken. Was liegt einem Kinde an der Schönheit alter Leute? Ich hatte nie darüber nachgedacht, ob meine greise Großmutter schön sei oder nicht. Jetzt aber sagte ich mir und war sehr glücklich und stolz darüber: Sie ist ebenso schön, wie sie lieb ist und gut! Sie hatte mir zugenickt. "Fritzi?" fragte sie, und ihre Stimme war arm und heiser. Ich versicherte, daß Fritzi gleich kommen werde, und begann, ohne selbst zu wissen warum, eine lebhafte Beredsamkeit zu entfalten. Genau entsinne ich mich, wie jeder Einzelheit dieser letzten mit meiner Großmutter verlebten Stunde, daß ich von Zdißlawitz erzählte und wie mich's freute, daß sie wieder fast gesund sei, weil wir jetzt bald abreisen könnten. Sie lächelte - sehr traurig, kam mir vor - und machte mir ein Zeichen, mich auf einen Sessel zu setzen, der an ihrem Bette stand, mit der Lehne gegen das Fenster. Ich gehorchte, war aber durch Großmamas Schweigen und durch ihr trauriges Lächeln aus meiner zuversichtlichen Stimmung und in Verlegenheit geraten. So verhielt ich mich denn ganz ruhig und wagte nicht mehr mich zu rühren. Großmama hatte die Augen geschlossen, und ihrem schweren und hörbaren Atem glaubte ich zu entnehmen, daß sie schliefe. Alles still rings um uns. Manchmal nur rollte ein Wagen durch das Gäßchen über den Rabenplatz. Die Sonne mußte nun im Zenit stehen, der Himmel leuchtete in purpurner Bläue. Durch den unverhangen gebliebenen Teil der Fenster fiel goldiges Licht in das Zimmer und bildete einen breiten hellen Streifen an den Wänden. Sie waren glatt, mit grüner Farbe bemalt. Von meinem Platze aus sah ich gerade auf die Stelle hin, an der, vor nun auch schon acht Jahren, mein Kinderbett durch längere Zeit gestanden hatte. Meine Schwester war an den Masern erkrankt, wir wurden getrennt, und Großmama nahm mich in ihre Obhut. Mein kleines Lager war in ihrem Schlafzimmer aufgeschlagen, und wenn ich früher als sie erwachte, stellte ich mich sachte auf und begann die Farbe von der Wand loszulösen. Eine angenehme Morgenbeschäftigung. Die Farbe, die sehr dick aufgetragen war, bildete hie und da Blasen, und wenn man sie eindrückte, sprangen sie ab wie Glas, und wie Glas ließ sich auch ihre nächste Umgebung vom lichten Grund abheben. Ein wenig weiter kam dann wieder ein Bläschen, und wieder wurde es eingedrückt, und nach ein paar Wochen war mitten im Grün ein weißer, vielfach ausgebuchteter Fleck zu sehen, der sich wie ein Ozean auf einer Landkarte ausnahm. Die Kammeijungfer hatte zu dem Unfug länger geschwiegen als ihr leicht wurde, und machte ihren Bedenklichkeiten endlich Luft. Sie stellte sich mit gerungenen Händen vor den Ozean und gab die bestimmtesten Versicherungen ab, daß sie nicht ahne, was jetzt mit der so übel zugerichteten Wand anzufangen sei. Großmama, die mir eben Unterricht im Häkeln gab, antwortete gleichmütig: 110

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"Man wird sie frisch anstreichen lassen." Ich hatte nie wieder daran gedacht - jetzt fiel es mir ein und, dem leisen Anstoß folgend, stieg nach und nach ein Zeichen ihrer still waltenden Liebe ums andere vor mir auf, eine unendliche Reihe, die sich im Unbewußtsein der Kindheit verlor... Und diese Liebe, die immer gab, sich nie erschöpfte, hatte ich besessen und hingenommen wie etwas ganz Selbstverständliches, das mir gebührte, mich nie besonnen, daß ich ein göttliches Geschenk genoß und noch weniger, daß es mir je genommen werden könnte... Immer würde ich sie haben, die mir jede Freude bereitet hatte, die sie mir bereiten konnte, immer eine Entschuldigung für mich gewußt, mir alles verziehen hatte, zuletzt sogar die Dichterei. Und wie wird es erst sein, wenn ich Großes geleistet haben werde und sie stolz auf mich sein wird?... Als ich, diese stumme Frage auf dem Herzen, zu ihr emporsah, begegnete mein Blick ihren weitgeöffneten Augen, die mit unsagbarer Zärtlichkeit auf mir ruhten. Es glitt wie ein lichter Schein über ihr Gesicht, und sie wies nach einem Tisch, den man in die Nähe ihres Bettes gerückt hatte. Dort standen allerlei Schächtelchen mit Hustenbonbons, die ich sonst sehr zu würdigen wußte. "Nimm dir," sagte sie. Mir aber war auf einmal jäh und schrecklich die Ahnung einer grausamen Möglichkeit aufgegangen: Wenn sie stürbe! Wenn wir unsere Großmutter nicht mehr hätten!... Ich sprang auf, ich stürzte mich über ihre Hand und küßte sie viel-, vielmals... Sie zog diese liebe Hand zurück, legte sie auf meinen Kopf, als ich aufschluchzend mein Gesicht in die Decke preßte, und sprach: "Nur gescheit! Nur gescheit!" ***

Am nächsten Tage knieten meine Schwester und ich am Bett der toten Großmutter mit tief gesenkten Häuptern. Wir wagten nicht empor zu sehen. Eine Leiche - das muß etwas furchtbar trauriges sein. Man hätte uns sonst, als unser kleines Schwesterchen starb, nicht so ängstlich von ihm ferngehal30 ten und es nicht so rasch fortgetragen. Nach langem Gebete stand Fritzi auf und ließ einen scheuen Blick über das Angesicht der Toten gleiten... "O!" sagte sie plötzlich und faltete die Hände in frommer, freudiger Überraschung: "O - schau!" Nun stand auch ich auf, und meine Augen folgten der Richtung der ihren und auch meine Hände falteten sich... Wie heilig war un35 sere Großmutter, wie herrlich und heilig! Der schwermütige Zug um den Mund, den wir an ihr gekannt hatten, war verschwunden, die stummen Lippen, deren Sprache ich immer verstanden hatte, sagten: "Jetzt ist alles gut." Ein unaussprechlicher, unendlicher Frieden lag auf ihren stillen Zügen und wehte uns entgegen, eine himmlische Tröstung und Erhebung, ein letzter 40 Gruß ihrer Liebe. Wir konnten uns von ihr nicht losreißen und - weinten 111

nicht. Man soll nicht weinen in der Nähe von Toten, es tut ihnen weh. Ich weiß nicht, wieso wir zu dieser Überzeugung gelangt waren. Erst als Tante Helene und Vetter Moritz kamen, sie laut klagend, er von tiefstem Leid erfüllt, brach meine Schwester in Schluchzen aus und vermochte ihren 5 Schmerz nicht mehr zu bemeistern. Am Abend fieberte sie, und nachdem man sie zu Bette gebracht hatte, schluchzte sie noch im Schlafe. ***

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Es wurde uns nicht erlaubt, das Sterbezimmer ein zweites Mal zu betreten. Wir sollten die Tote nicht mehr sehen, es griff uns zu sehr an. Bei der Einsegnung nur waren wir zugegen, als unsere Großmutter im geschlossenen Sarge lag, bereit zur letzten Reise nach unserem "zu Hause". Wie irrten alle, die glaubten, daß ich sie jetzt nicht sähe, daß die Wände ihrer metallenen Behausung für mich nicht durchsichtig wären! Die Verstorbene hatte unseren Vater zum Vollstrecker ihrer letztwilligen Anordnungen bestellt, und dadurch wurde unser Aufenthalt in Wien neuerdings verlängert. Ich erhielt den Auftrag, diese Zeit zu benützen, um einen Katalog der Bücher meiner Großmutter anzufertigen. Sie waren mein und meiner Schwester Eigentum geworden und sollten im Sommer verpackt und nach Zdißlawitz geschickt werden. Ich ging mit Eifer an meine Arbeit, hatte keine Ahnung davon, was das heißt: "einen Katalog anzufertigen," meinte aber diese Aufgabe zu lösen, indem ich ein Buch nach dem andern aus dem Schranke holte, den Titel desselben in ein Heft eintrug und es dann wieder an seinen früheren Platz stellte. Das Zimmer, in dem die kleine Bibliothek Großmamas sich befand, war ihr Toilettezimmer gewesen, stieß an das Schlafgemach und hatte wie dieses die Aussicht auf das sogenannte "Rabenplatzl". Die Wand zunächst am Fenster nahm der Bücherschrank ein, und wenn ich seine Flügel öffnete, breitete sich das helle Licht sonniger Junivormittage über eine auserlesene Gesellschaft. Sie bewohnte fünf Geschosse und bildete in jedem eine stattliche Reihe von vornehm in braunen, roten und grünen Saffian gekleideten Buchpersönlichkeiten. Ihre Anführerin war die Bibel. Ich kannte den Band; er hatte meinem Großvater gehört, und es waren viele Zeichen von seiner Hand darin eingelegt. An einer Stelle befand sich außer dem Zeichen ein Bleistiftstrich. Die Stelle lautete: "Und ich hörete eine Stimme vom Himmel zu mir sagen: Schreibe: Seüg sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit, denn ihre Werke folgen ihnen nach." O, das verstand ich! Der Anblick meiner entschlafenen Großmutter hatte es mich gelehrt: "Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben." Und wo hatte ich diese Stelle gefunden, die mir so hell einleuchtete? In der Offenba112

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rung Johannis, der heiligen, rätselhaft verschleierten Schrift, deren Geheimnisse noch niemand durchdrungen hat. Nicht einmal der große Newton, der, wie mein Vetter mir unlängst erzählt, die letzten Jahre seines Lebens dem Studium und der Erklärung der Apokalypse gewidmet hatte... Und ich - es mutete mich an wie ein Wunder - ich verstand sie! Mir war's gegeben, mir, einem Kinde!... In unaussprechlichem Jubel schwoll mein Herz, ich glaubte, daß eine himmlische Erleuchtung mir zuteil geworden sei. Mit zitternden Fingern blätterte ich zurück vom vierzehnten zum ersten Kapitel, und was ich las, Vers um Vers, war ein schönes, seltsames Gedicht. Aber je weiter ich kam, je dunkler wurde mir der Sinn des Gelesenen. Da half kein Kopfzerbrechen. Einzelne Bilder nur schwebten vor mir, sehr klar und in großer Pracht, so wie der Heilige sie geschaut hatte, als er "war im Geiste". Blendend die Vision von dem Einen, den er nicht nennt, und der anzusehen war wie Jaspis und Sardis, und vor dessen, von einem Regenbogen wie Smaragd umgebenen Thron die Ältesten ihre goldenen Kronen niederlegten. Ich sah die vier Lebendigen und sah das Buch mit den sieben Siegeln in der Rechten des Einen und glaubte eine Ahnung davon zu haben, was für ein Buch das war, und die Namen der vier Lebendigen nennen zu können. Damit ging meine Weisheit zu Ende. Von nun an gab es keinen Lichtschein mehr, der mir einen Pfad zu neuem Begreifen und Erkennen gewiesen hätte... Nein, ich war das gottbegnadete Kind nicht, das in Einfalt findet, "was kein Verstand des Verständigen sieht". Enttäuscht und beschämt brachte ich das Buch der Bücher wieder an seinen Platz und bemerkte jetzt: außer an der einen Stelle, die ich zuerst aufgeschlagen hatte, war in der ganzen Apokalypse kein Zeichen eingelegt. Zunächst an die Heilige Schrift schmiegte sich das Werk ihres frommen und milden Apostels, Thomas a Kempis, und er hatte Herder zum Nachbarn, und dann kam Lessing. Neben seinen Werken stand seine Biographie in drei Bänden, von K. G. Lessing. Ich las die ersten Kapitel und wurde dabei in meinen eigenen Augen so klein, wie ich nicht einmal als Auslegerin der Offenbarung Johannis geworden war. Meine hohe Meinung von meiner Begabung, meinem Lerneifer, meinem Wissensdrang erfuhr eine jämmerliche Einschränkung durch den Vergleich zwischen mir und dem Kinde Gotthold Ephraim. Wie kam ich mir vor, ich Dreizehnjährige, von Zweifeln Gequälte, wenn ich las: "Im vierten und fünften Jahre wußte er schon, warum und wie er glauben sollte." Und weiter: "Als ein Maler ihn im fünften Jahre mit einem Bauer, in dem ein Vogel saß, malen wollte, erfuhr dieser Vorschlag seine ganz kindische Mißbilligung. "Mit einem großen, großen Haufen Bücher," sagte er, "müssen Sie mich malen, oder ich mag lieber gar nicht gemalt sein." Und da er auf die Fürstenschule nach Meißen gebracht wurde, "mußte man ihn um ein Jahr älter machen, weil keiner unter dem dreizehnten Jahre angenommen werden soll." Auf der Schule studierte er sogar in

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den freien Stunden, und Klassiker, deren Namen ich nicht einmal hatte aussprechen hören, "waren seine Welt". So sind die Kinder beschaffen, aus denen große Menschen werden - s o w a r i c h n i c h t . Ich konnte mir nicht einmal recht vorstellen, wie dem 5 beneidenswerten Gotthold Ephraim zumute gewesen sein mußte im Besitze seines großen Reichtums. Alles gäbe ich darum, nur einen Tag, nur eine Stunde lang so zu sein wie er, umgehen zu dürfen mit unsterblichen Menschen wie mit Freunden, und einzudringen in ihre leuchtende Gedankenwelt. Es war eine bittere Zeit der Selbsterkenntnis, voll Sehnsucht und Küm10 mernis, diese erste, die ich Aug* in Auge mit den Bewohnern des Bücherschrankes meiner Großmutter zubrachte. Zur Unterstützung meines Gedächtnisses habe ich Lessings Biographie, die seitdem in meinem Besitze ist, zur Hand genommen und finde auf dem Schutzblatte des ersten Bandes die Zeilen eingeschrieben: 15

Ich bin ein Nichts für meinen Gott, Für meinen Nächsten bin ich klein, Mir selber dien' ich nur zum Spott, Wie könnt' ein Mensch noch ärmer sein?

Allmählich trat Erholung von dieser Depression ein. Wenn auch nicht ein 20 Lessing, konnte doch etwas anderes Gutes aus mir werden. Nur lernen mußte ich zuerst, alles kennen lernen, was es Schönes gab in diesen Büchern, die nun ich zu meiner Welt machen wollte. So feierte ich wahre Leseorgien und fand die Vormittage, die vermeintlich mit Katalogieren ausgefüllt wurden, immer zu kurz. Voll Heißhunger verschlang ich, was ich vorfand an 25 Dramen von Shakespeare, Racine, Corneille, Goethe, Kleist und bedauerte nur, daß meine arme Großmutter nicht ein einziges Werk der Klassiker besessen hatte, in die Lessing sich versenkte, als er in meinem Alter stand. Er freilich, er lernte sie in ihrer Sprache kennen, der Glückliche. Weil er ein Bub war, d u r f t e er das, er m u ß t e sogar Griechisch lernen und Latein. 30 Von seinen Lippen tönte die Sprache, in der Themistokles, Demosthenes, Cäsar, Titus geredet haben. Zum Ruhme gereichte ihm sein Glück... Wofür würde ich angesehen werden, wenn ich anfangen wollte, Griechisch und Latein zu lernen? Ganz einfach für verrückt. Ich war ja nur ein Mädchen. Was gehört sich alles nicht für ein Mädchen! Himmelhoch türmten sich die Mau35 ern vor mir empor, zwischen denen mein Dichten und Trachten sich zu bewegen hatte, die Mauern, die mich - umfriedeten. Kein gutes Wort in dieser Anwendung! "Umfrieden" paßt nur für den Kirchhof, in dem die Toten liegen; die Lebendigen kommen um den Frieden, wenn man ihnen enge Grenzen setzt... Sie werden fortwährend suchen 40 sie zu durchbrechen, immer gegen sie anrennen und glauben: dieses Mal weichen sie mir!

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Das dürften ungefähr die Gedanken gewesen sein, die damals meinen jungen Kopf durchschwirrten, und denen ich in zahllosen Gedichten Worte gab; es ist von den stürmischen und hoffärtigen, deren ich mich später schämte, nichts übrig geblieben. Nur einige friedliche Verslein ließ ich beS stehen. Als den letzten aus den Kinderjahren möge ihnen hier Unterkunft gewährt sein.

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Was hör' ich in der Dämmerung? Wie Glöcklein hell es klinget. 's ist wohl der Tag, der licht und jung Ein goldnes Liedchen singet. Wenn ich als Kind zum Himmel geschaut, Hat droben mein Land geblinkt und geblaut. Jetzt ist der Himmel geworden so leer, Ich sehe mein Land, mein liebes, nicht mehr. ***

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Der sogenannte Katalog war fertig-, ich hatte nun angefangen ihn abzuschreiben, weil ich einen Grund haben mußte, um meine Vormittage noch immer in der Wohnung Großmamas zubringen zu dürfen. Da herrschte jetzt Grabesstille; die Küche sowie das "Frauenzimmer" waren leer. Die Köchin und die Kammeijungfer hatten sich in ihre Heimat begeben, um dort ihren Ruhestand und ihr Ruhegehalt zu genießen. Nur der alte Josef war noch anwesend und sollte, bevor er uns auf das Land nachfolgte, die Verpackung der Möbel überwachen. Mit treuer Liebe zu seiner langjährigen Tätigkeit hielt er die Zimmer der verstorbenen Herrin so nett und blank wie je. Doch standen jetzt alle Türen weit offen, und ich konnte, ohne eine Klinke zu berühren, von der Küche aus bis in den großen Salon gehen. Daß auch seine Tür offen stand, mutete mich besonders fremdartig an. Wir Kinder hatten ihn nie betreten; er wurde auch nur benutzt, wenn unsere Großmutter eine Gesellschaft gab, was selten geschah. Immer nur verstohlen hatten wir hineingeguckt, wenn Josef darin gravitätisch seines Amtes waltete mit Staubbesen und Flederwisch. Der Salon machte uns einen feierlichen Eindruck. Seine weißlackierten, durch vergoldete Stäbe in Felder eingeteilten Wände verbreiteten einen majestätischen Glanz, und die Mahagonimöbel mit Intarsien und Beschlägen aus Bronze hatten jedes eine eigene noble Physiognomie. Der hellgelbe Seidenstoff, mit dem die Polsterung des Kanapees, der Stühle und Sessel überzogen war, schimmerte so prächtig, wie ich nie wieder einen hellgelben Seidenstoff habe schimmern gesehen.

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U n d dieses imposante, mit dem Reiz des Geheimnisvollen umkleidete Gelaß, da stand es nun erschlossen, jedem zugänglich, und war eben nur ein Zimmer wie ein anderes. Wie merkwürdig kamen meine Wanderungen mir vor durch die Räume, denen die zurückgeschlagenen Türflügel das Gepräge grenzenloser Ödigkeit verliehen. Ich w o l l t e sie mir beleben, w o l l t e mir einbilden, daß der Schatten der Entschlafenen vor mir herschwebe und Gestalt annehme, und daß ich sie sehen werde, an ihrer Toilette sitzend oder am Fenster im Schlafzimmer; und wenn da nicht, im nächsten, vielleicht im Speisezimmer, an dem Tische, an dem wir so oft ihre Gäste gewesen waren. Ich ging von Tür zu Tür, ganz sachte, voll Sehnsucht, und doch ein wenig bang, schloß die Augen und öffnete sie plötzlich und hoffte: jetzt - jetzt muß sie dir erscheinen... Aber da war nichts. Ihr Platz blieb unbesetzt; die Stuben blieben leer... Der Tag vor der Abreise von Wien und vor dem Scheiden von den lieben Räumen, die mir mit jeder in ihnen verlebten Stunde teurer und heiliger geworden, war gekommen, und ich veranstaltete eine kleine Abschiedsfeier. Ich holte zwei Bücher aus dem Schranke, nahm Platz am Arbeitstische meiner Großmutter und überdachte innig und ließ durch meinen Kopf und durch mein Herz ziehen, was diese beiden Bücher mir geschenkt hatten. Es war so viel! Das eine, der erste Band der "Mémoires pour servir à l'histoire d'Arme d'Autriche, épouse de Louis XIII, roi de France, par Madame de Motteville", hatte mir einen herrlichen Dramenstoff geschenkt, den ich im Laufe der Zeit immer reicher ausgestaltete. Alles, was in mir lebte an Vergötterung des Schönen, an Verachtung und Haß des Schlechten und Gemeinen und nicht zum mindesten an übermütigem Humor, mit dem ich oft verletzte und Anstoß erregte, alles ließ sich da hineinschütten wie in eine eigens mir zu Lieb und Ehr geformte goldene Schale. Cinq-Mars war mein Held, der junge, leichtsinnige, leichtgläubige Günstling Ludwigs ΧΙΠ., der seinen Herrn von der erdrückenden Tyrannei des allmächtigen Ministers Richelieu befreien will, im tollkühn unternommenen Kampfe mit dem Riesen unterliegt und nach einem Augenblick des Verzagens prachtvoll stirbt. U n d was für Gestalten gruppieren sich um ihn! Ludwig XIII., den mit kühnen Strichen hinzuzeichnen die reine Wonne sein wird, der sich fühlbar unter die Hand des Bildners schmiegt. Eine königliche Erscheinung, von einer kleinen Seele belebt; treulos wie die Schwäche, hart wie die Engherzigkeit. In einem Gefühl nur bleibt er unwandelbar, im Hasse gegen den Gewaltigen, der sich rühmen darf: "Ich habe meinen König zu meinem Diener gemacht und diesen Diener zum größten Monarchen der Welt." Sein Herr verabscheut ihn und kann ihn nicht entbehren, sein Herr ist im geheimen das Haupt jeder Verschwörung gegen ihn, und sobald eine neue mißlingt, kriecht der "Herr" grollend und knirschend zu Kreuze und liefert, 116

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ein Kronzeuge, seine Mitschuldigen dem Sieger aus. Und endlich einmal bietet, ja b i e t e t ! er seine beiden Söhnchen dem triumphierenden Kardinal zum Pfände völliger Unterwerfung an. Aber da bäumt die Königin sich auf und bewahrt "die Kinder Frankreichs" vor der Schmach, die ihnen droht. Ich liebte Königin Anna von Österreich und wollte schon dafür sorgen, daß jeder, der durch sie mich kennen lernte, sie ebenfalls lieben müßte. Als die Heldin sollte sie geschildert werden, die kühn und stolz den verliebten Löwen abgewiesen hatte, da er sich vermaß, um ihre Frauengunst zu werben. In allen Stunden ihres Lebens litt sie unter seiner unersättlichen Rachgier, erlitt Demütigungen und Grausamkeiten ohne Zahl und unterwarf sich nicht... Und wie viele tauchten neben ihr auf und waren voll Kraft und voll Leben und mir in ihren geheimsten Regungen und verborgensten Motiven durchsichtig wie die Luft. Aber die Krone des Ganzen sollte doch die Figur Richelieus werden. Der Reichtum, den sie der Phantasie bot, war unerschöpflich. Wo man antippte, gab's Funken. Diese rätselhaften Kontraste! Der Mann, der sein Frankreich an die Spitze aller Staaten der Erde gestellt, die Hugenotten besiegt, den mächtigen, rebellischen Adel unterworfen hatte, der die Vertreter der Parlamente mit den Fingern seiner Rechten wie Marionetten an Drähtchen hüpfen ließ - buhlte um literarischen Ruhm. Es fraß ihm am Herzen, daß die Pariser den Tragödien des jungen Corneille zujauchzten und die ihres alten Ministers mit so wenig Geräusch als möglich zu Grabe - gähnten. Der Kirchenfürst und Heerführer, der den Purpurmantel des Kardinals über der Stahlrüstung trug, wollte auch als Tänzer glänzen. Die Bewunderung, die seine Größe der Königin nicht abgewann, versuchte er ihr durch seine Grazie abzugewinnen. O, die Sarabande, mit der er sich zweihundert Jahre früher vor der Majestät und ihrem Hofstaat lächerlich gemacht, wie oft hat er sie mir aufgeführt im Schlafzimmer meiner Großmutter! Und wie viele andere herrliche Szenen! Die letzte zum Beispiel des ersten Aufzuges: Der König ist im Lager vor Perpignan, umringt von Feinden des Kardinals, und der liegt krank und gebrochen in Tarascón, weiß sich verraten und verkauft, weiß von dem Vertrag mit Spanien, der ihn stürzen soll, und vermag nicht ihn in seine Hand zu bekommen. Da plötzlich verwandelt sich seine Trostlosigkeit in wilden Triumph. Einer seiner Späher ist zurückgekehrt und legt einen ausgehöhlten Wanderstab vor ihn hin. Er enthält eine Rolle - den Vertrag. Nun hat er sie - da stehen sie, die ihn unterzeichnet haben: Gaston von Orléans, des schwachen Königs elender Bruder, der Herzog von Bouillon, der Großstallmeister Cinq-Mars. Sie sind zu hoch emporgeschossen, Monsieur le Grand! Man wird Sie um einen Kopf kürzer machen. Von neuer Lebenskraft beseelt, erhebt der kranke Kardinal sich vom Pfühl. Zu Pferde seine Garden! Das Gefolge rüste, ein Zug voll Glanz und Pracht ordne sich! Es geht zu Hof; es geht mit fürstlichem Gepränge ins königliche Lager nach Perpignan! 117

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Dort sollte der zweite Aufzug spielen, und ich dachte ihn mir sehr bewegt. Wir lernen Cinq-Mars kennen in seinem liebenswürdigen und blinden Glauben an sein Glück, und seinen Freund de Thou und Fontrailles, der die Verhandlungen mit Spanien geleitet hat. Gerüchte, der Kardinal sei sterbend, sind aufgetaucht; Gaston von Orléans meint, Katzen hätten ein zähes Leben, man solle nachhelfen. "Seht den König an," sagt er zu Cinq-Mars, "er macht mir Sorge, er war gestern wieder sehr krank. Wenn er vor seinem Minister stürbe, würde es euch schlecht ergehen." Cinq-Mars weist den Gedanken an den nahen Tod seines Herrn mit Schaudern zurück. Wie kann man einen solchen Gedanken nur haben, nur fassen? - "Versucht's!" erwidert Gaston, "und erinnert euch dann meines Mittels. Ich bleibe der Herzog von Orléans auch nach dem Tode meines Bruders. Ihr seid dann nur noch - der Feind des Kardinals. Cinq-Mars schlägt den abscheulichen Rat des Herzogs und die Warnungen de Thous in den Wind. Er und seine Anhänger blicken mit seliger Zuversicht dem unausbleiblichen Sturze Richelieus und kommenden schönen, ruhmvollen Tagen entgegen. - Im Lager wird gespielt, getanzt, musiziert; es herrscht tolle Lustigkeit... Nun, auf einmal, tritt, als sei plötzlich etwas Unheimliches aufgetaucht, da und dort Stille ein; sie verbreitet sich weiter und weiter, auch die Kühnsten halten den Atem an; die sangen und schrien - sie lauschen. Zwei Worte erschüttern die Luft und erfüllen die fröhlichsten Herzen mit Grauen: "Seine Eminenz!" Richelieu betritt das Lager wie der Tod den BallsaaL Wundergut gefiel mir dieses Ende des zweiten Aufzuges, und im dritten sollte es noch viel schöner kommen. Da sollte im Zelte des Königs die Begegnung zwischen ihm und dem Kardinal stattfinden. Ganz unhistorisch, aber daran lag mir nichts. Ich s a h es, deutlich zum Greifen - so w a r es denn! Sie saßen einander gegenüber, und mit kaum bezähmtem Wohlgefallen spürte einer in den Zügen des andern jedem Zeichen schweren Siechtums nach. Den Blick in die Augen des Königs gesenkt, unverwandt, unerbittlich, berichtet sein treuer Diener dem Ahnungslosen, daß er schändlich hintergangen wird... Er legt ihm den Vertrag mit Spanien vor und ist voll Entsetzen über die Gefahr, in der das Land und der Monarch gestanden haben. Sein Herz blutet, eine Rührung ergreift ihn, wenn er sich fragt: "Wer sind diese Verräter?" und antworten muß: "Die nächsten seinem Thron, seinem Vertrauen, seiner Liebe, es sind die, denen mein König im Begriffe war, seinen einzigen Getreuen zu opfern." Kaum noch bewahrt Ludwig einen Schein der Fassung, kaum noch verbirgt der Kardinal seinen knirschenden Zorn hinter der Maske süßlicher Heuchelei und erlangt alles, w a s er will, w i e er es will - demütig angeboten... Eine vortreffliche Szene, und genial würden Laroche und Löwe sie spielen.

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Reiche Handlung stand mir auch für den vierten und fünften Akt zur Verfügung: Die Auslieferung de Thous, den keine andere Schuld traf, als daß er der Freund eines Feindes Richelieus gewesen, an den Kardinal. Cinq-Mars' leichtsinniges Spielen mit dem Verhängnis, das über ihm schwebt. Die Fahrt Richelieus auf der Rhône. In purpurumhangener Barke liegt der Sterbende, und von seinem stolzen Fahrzeug wird ein ärmlicher Kahn geschleppt. Seine Opfer befinden sich darin, zwei Menschen, kraftvoll und jung, in blühender Gesundheit. Und er, der vielleicht seinen alternden Schattenkönig nicht mehr überlebt, die beiden w i r d er überleben. Der Gedanke zaubert ein Lächeln auf sein düsteres Gesicht und legt ihm grauenvolle Worte auf die Lippen. Den Tod meines jungen Helden. Seinen Abschied von der großen PrinZessin, die ihm ihr Herz geschenkt hatte, und von seiner berückenden Geliebten Marion Defórme... Wie mit dem Fuße stößt er dann ein Leben von sich, in dem seine ehrgeizigen Träume sich nicht erfüllen sollten. Entsühnt durch den Priester, erbaut durch die Frömmigkeit des Freundes, betritt er den Weg zur Richtstätte. Zu dem letzten Gang hat dieser Mann, dieses Kind sich schmücken lassen wie zu einem Gang nach Hofe. Diese heroische Eitelkeit war mir unaussprechlich rührend und kostete mich viele Tränen. Lange Jahre hindurch sollte ich mich mit diesem Stoffe, von dem ich gemeint hatte, daß er sich selbst zum Drama gestalten werde, herumschlagen. Zuletzt stand ich an der Spitze einer kleinen Armee von Manuskripten, von denen nur die ersten den Titel "Cinq-Mars", die letzten aber den "Richelieu" führten. Seine Gestalt wuchs und wuchs riesenhaft vor mir empor, bis ich begriff, daß ich aus meiner Blindheit über ihre Größe den Mut geschöpft hatte, sie darzustellen. Allmählich waren die Augen mir aufgegangen, ich wußte: Mit all meiner Begeisterung, all meinem Fleiß habe ich nur ein Pfuschwerk zustande gebracht. Durchaus nicht in einem Verzweiflungsanfall, ganz ruhig schichtete ich dann meine "Cinq-Mars" und "Richelieus" im Ofen sorgfältig und nett zu einem Scheiterhaufen zusammen und zündete ihn an. Er rauchte erst sehr stark, dann lohten schöne Flammen auf. Die Blätter viele von ihnen waren kalligraphiert und illustriert - wanden und krümmten sich wie in Schmerzen, Fünkchen - Klosterfrauen, die in ihre Zellen eilen, nennen sie die Kinder - huschten über den Zunder. Nun lag ein unförmiger Pack schwarzer, schmutziger Fetzen da - als Frucht so vieler Mühen. Hätte eine Vision mich dieses Ende sehen lassen, als ich in den ersten zärtlichen Verkehr mit dem vortrefflichen "Stoffe" trat, für den ich Madame de Motte-

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ville so dankbar segnete, würde ich die Arbeit, die zu diesem Resultate führte, unternommen haben? Fast glaube ich: Ja. ***

An jenem Junimorgen aber vor nun einundsechzig Jahren trübte nicht die 5 leiseste Furcht vor der Möglichkeit eines Mißlingens meine freudige Zuversicht. "Mein Stück" leuchtete vor mir im reinen Glänze eines Phantasiegebildes, an das die gestaltende Hand noch nicht gelegt wurde. Noch war es geistiger Natur, noch haftete keine Werdequal und keine der Widrigkeiten ihm an, mit denen jede Geburt eines Lebendigen sich vollzieht. 10 Das zweite Buch, das ich mir zu meinem Abschiedsfeste eingeladen hatte, enthielt die Oden Klopstocks. Ich kannte von ihnen allen nur eine, diese aber kannte ich gut. Sie hieß "Die Frühlingsfeier" und war mir entgegengekommen, als ich ihre alte braune Behausung ein wenig durchmustern wollte. Immer öffnete sie sich da, wo die "Frühlingsfeier" stand. Wie oft mußten an15 dere vor mir sie dort aufgesucht haben, und wer mochte es gewesen sein meine Großmutter, mein Großvater oder vielleicht meine Mutter? Vielleicht sind sie alle es gewesen, und diese noch sichtbare leise Spur führte ein Kind, dessen Dasein dem ihren entsprossen war, aus seinem bangen Tasten und Suchen auf den Weg, den sie gegangen waren. 20

Nicht in den Ozean der Welten alle Will ich mich stürzen Nur um den Tropfen am Eimer, Um die Erde nur will ich schweben und anbeten Wer sind die Tausendmaltausend, wer die Myriaden alle, Welche den Tropfen bewohnen und bewohnten? Und wer bin ich?

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. . . mehr, wie die Erden, die quollen, Mehr wie die Siebengestirne, die aus Strahlen zusammenströmten! Mehr - weil ich weiß, wie wenig ich bin: - ein verwehender Hauch auf einem Stäubchen im All... Aber der Atem Gottes lebt in diesem Hauche. Um 30 das zu begreifen, bedurfte ich einer Gnadengabe des Unendlichen, eines Lichtstrahls von seinem Geiste. Er hat ihn mir gespendet, seinem Geschöpf, und ich d a r f "mein Vater" zu ihm sagen. ***

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Als ich auf der Schwelle stehen blieb und noch einmal zurückblickte in den stillen Raum, aus dem ein teures und köstliches Leben entschwunden und in dem ich so oft allein mit meinen Gedanken gewesen war, überkam es mich: Eine andere, als ich ihn betreten, verlasse ich ihn. Meine Sehnsucht, zu 5 denken und zu leiden, sollte sich fortan nicht nur von dämmernden Träumen nähren, sie begann sich zu erfüllen. Eine kleine Vergangenheit lag schon hinter mir. Ich hatte gedacht und gelitten - ich war kein Kind mehr. * * *

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II. KRITISCHR APPARAT

1. EDITORISCHE HINWEISE Siglen: Für ungedruckte Quellen sowie fär die Textzeugen von Meine Kindeijahre werden Siglen verwendet, die im Quellen- und Literaturverzeichnis aufgeführt und mit bibliographischen Angaben versehen sind. Abkürzungen und Zeichen: V Variantenverzeichnis Stellenangaben der Nachweise aus den Kinderjahren erfolgen un() mittelbar nach den Zitaten in runden Klammem (Seiten, Zeilen) Zusätze der Herausgeberin in H S [] 7ilgungen der Autorin in H s {} Hinzufügungen der Autorin in H s (> X unleserliche Buchstaben in H s x-x unleserliche Wärterin H s x-x-x unleserliche Stellen mit mehreren Wörtern in H s Wiedergabe des Textes: Der originale Frakturtext ist in Antiqua wiedergegeben, Antiqua-Text des Originals wird durch Kursivdruck abgehoben. 2. ZUR GESTALTUNG DES APPARATES 1 2 Berücksichtigt werden alle Druckfassungen der Kindeijahre (J, Ε , E ), die Druckfahnen und Korrekturbogen nur insoweit, als sie von den Druckfassungen abweichen, außerdem eine Handschrift zu einem in E2 neu aufgenommenen Passus: H . Gehäuft auftretende Veränderungen in der Orthographie, in Laut- und Wortgestalt sowie der Interpunktion sind in Abschnitt 11,4 bei den Sammelvarianten aufgeföhrt, in Abschnitt 11,5 folgt das fortlauf ende Variantenverzeichnis. Gesondert abgedruckt ist im folgenden Abschnitt 11,3 das handschriftliche Skizzenmaterial zur ersten Fassung des Textes. 3. DAS SKIZZENMATERIAL Ein vollständiges Manuskript der Kinderjahre scheint nach bisherigen Nachforschungen nicht mehr zu existieren; um so wichtiger werden damit die Skizzen der Dichterin in einem Arbeitsbuch, das die Wiener Stadtbibliothek unter der Inventarisierungs-Nummer 54.477 verzeichnet, hier H s benannt. Es enthält Notizen, Aufsätze und Studien zu den Kinderjahren sowie zahlreiche Aphorismen. 125

Viele Seiten des Arbeitsbuches sind herausgerissen worden, andere durch Zusammenkleben unkenntlich gemacht. Man kann also davon ausgehen, daß hier ursprünglich weitaus umfangreichere Vorarbeiten zur Autobiographie vorgelegen haben. Erhalten sind 43 Blätter, davon 75 Seiten in lateinischer Schrift mit Bleistift beschrieben (Format 8°); die Stempel-Paginierung erfolgte nachträglich. Die ßr die Autobiographie relevanten Entwürfe sind unter Angäbe der entsprechenden Paginierung von H s nachfolgend wiedergegeben und kommentiert, dabei wird Seitenwechsel im Text durch einen Schrägstrich kenntlich gemacht. c H

Text und Kommentar

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Titel und Arbeitsdatum der Autobiographie: Kindeijahre 6.IX.03 Mit den Vorarbeiten hat Marie Ebner also unmittelbar nach der Zusage ihres Verlegers Rodenberg, dem sie die Abfassung einer Autobiographie vorgeschlagen hatte, begonnen} Unter dem Arbeitsdatum Beginn des Anfangssatzes des im engeren Sinne autobiographischen Textes, also nach Vorrede und Einleitung (7,20f): Meine Schwester war vierzehn Monate, ich war vierzehn Tage alt Die folgenden beiden Seiten sind zusammengeklebt, zwei weitere Blätter herausgerissen. Anschließend nicht paginierte Seite mit Entwurfzu 15,27ff„· hinter ihm her aber lachten u kicherten sie Es wurde im Schlosse behauptet, der Herr Verwalter sei in seiner Jugend Kapuziner gewesen u dem Kloster entlaufen. Und die Gewohnheit die er hatte {alle Augenblicke} seinen Rock an der Brust mit beiden Händen zu schieben habe er mit gebracht aus seinem früheren Stande In E lautet die entsprechende Stelle in stilistisch ausgereifter Form: Dabei war er das Stichblatt schlechter Witze, die besonders unter den Schloßleuten unkrautmäßig wucherten. Er hatte die eigene Manier, von Zeit zu Zeit seinen Rock an der Brust mit beiden Händen zu fassen und gegen den Nacken hinzuschieben, denn die Kutte hat er getragen, er ist ein entlaufener Kapuziner. Keine Aufnahme in den Text hat dagegen ein Entwurf gefunden, der auf dergleichen Seite steht. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Frau, die

1 Siehe dazu die BrtSuterungcn S.171. 126

in dem Jahrzehntefrüherentstandenen Aufsatz Aus meinen Kinder- und Lehriahrengeschildertwird (vgl. dort, 272,26ff.).· Da war eine alte Frau die hatte unzählige Jahre als Kochin bei m. Großeltern gedient u lebt jetzt in einem Zimmer des Erdgeschoß Längs am Blattrand Entwurf zu 16,4L· Das Büchlein in das er unsere Censuren eintrug, hatte als Vorlage für verzierte Schriftgattungen Je besser die Note war die wir erhielten, je kunstreicher die Schrift in der sie eingetragen wurde In E2 wird diese Schrift in einem anderen Zusammenhang erwähnt: Wir liebten ihn schon um seiner herrlichen Schrift wegen Die anschließenden 20 Blätter sind herausgerissen worden. 13

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Entwurf zu ll,30ffalte Hexen mit krummen Nasen u gelbe Zwerge u. Drachen u. im furchtbarsten Mitleiden u Mitentsetzen wie ein kleines Uchtes Punktchen am schwarz verhangenen Horizont die leise Hoffnung es wird noch alles gut Himmlische Stunden diese Stunden des Marchenlesens in der Allee unter den vier Reihen dichter Lindenbaume die der Sommersonne den Eintritt wehrten Damals die liebe alte dunn belaubte damals / gab es unter deinem Blatterdache nur wahrend der Augenblicke in denen die Sonne im Scheitel stand einen einzigen Fleck auf dem Boden auf dem die Sonne eine glanzende gelbe Ausführlich werden später die Stunden des Märchenlesens beschrieben (11,30-13,13), dennoch findet der Entwurf in dieser Form keine Aufnahme in den Text. Vielmehr erzählt die Dichterin dort zwei konkrete Beispiele, um an ihnen die Reaktionsweise der Kinder zu veranschaulichen. Bemerkenswert ist auch, daß die Lindenallee in diesem Zusammenhang nicht erwähnt wird, wohl aber an anderer Stelle als Metapher für Werden und Vergehen (17, 1-16). Schon hier wird die Tendenz, vom bloß Anschaulichen zum inhaltlich Motivierten bzw. zur Metaphorisierung des Dargestellten überzugehen, erkennbar.

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Entwurf zu 18,35-19,36: Bald drang ich dann auch in die Geheimnisse der Schreibekunst ein u hatte mein helles Vergnügen daran Buchstaben auf das Papier zu setzen u. Worte aus ihnen zu bilden. Wie Knaben mit Zinnsoldaten spielen spielte ich mit den Buchstaben, ließ sie vor mir aufmarschiren, ordnete sie in Reihen. Im Anfang nähte ich kleine Hefte (zusammen) von denen ich eines immer bei mir trug u das zu einer 127

Art kleiner Tagebuch dem sich höchst denkwürdige Ereign verei x-xX Ist bei x-x mich noch irgend einem meiner Geschwister etwas von die[sen] Aufzeihn mit getei[lt] Die ersten Erfahrungen mit dem Lesenlernen beschreibt die Ebner später durchaus nicht als Vergnügen, sondern eher als kleine Katastrophe, bei der erst der Druck väterlicher Disziplinierungsmaßnahmen den Ehrgeiz des Kindes anstachelt: die Schilderung wird gänzlich umgewandelt und problematisiert. 16

Rasurtext, nicht lesbar.

17 Entwurf zu 49,6ff.; 50,Iff.: Das war dann ein herrliches Gefühl so ein Brieflein vom Wind: davon tragen zu sehen Es mit den Augen zu verfolgen so lang als möglich sich zu sorgen daß es nicht in ein Graben od auf dem Felde liegen blieb Ein Teil des Schlosses war einmal ein Kloster u lag an der Straße Dieser Teil bildet jetzt einen Flügel u. ist von der Straße durch ein Gitter abgetrennt u durch {x-x-x} 2 In E ist die Schilderung der Korrespondenz mit den Bewohnern eines Phantasielandes vergleichsweise umfangreich ausgefallen. 18 Stichworte zu weiteren Episoden: Weihnachten 1835 die gestohlenen Puppen das Tinten 2 Marz Jahrestag der M. Eugen Kaiser Franz Grf Bartenstein an ihrem Totenbette Bis auf Kaiser Franz verweisen die Angaben auf später ausgearbeitete Episoden (27,7ff.; 35,Iff.). Die genaue Datierung fehlt dagegen, sie setzt in den Kinderjahren erst Ende der dreißiger Jahre ein. Verweise auf die Historie fehlen im Text übrigens fast durchgängig.2 Entwurf zu 48,22ff.; 50,13ff.: Sie wurden wahrhaftige Wesen fur mich ich wußte wie sie aussahen wie sie lachten ich dachte ihre Tageseinteilung aus. Ich feierte mit ihnen ihre Feste u teilte ihre Trauer wenn ihnen ein Unglück begegnet war Neben {dem} (meinem) eigentlichen Leben führte ich ein

2 Dazu später ausführlicher, S.232ff.

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eingebildetes das fast intensiver war als das / reale. Und nie fiel mir ein einem meiner Geschwister oder irgend wem etwas zu erzählen von meinen Traumgebilden u der schonen Welt in der sie wandelten

19a Entwurf zu 43,21ff„·

19b

Im nächsten Jahre begleitete ein neuer Hausgenosse uns auf das Land. Ein junger, bildhübscher Franzose, M Just Dufoulong. Seine Aufgabe war den kleinen Brüdern die französische Sprache beizubringen u ihnen ein lieber heiterer [Spielgefährte zu sein. Er wurde e[s] uns allen er wurde auch mein ganz besonderer Freund weil ich viel viel öfter als meine stille ruhige Schwester an den lärmenden Spielen meiner Brüder teilnahm Manche Wunde freilich meinem Ehrgeiz geschlagen. Besonders schmerzlich / war die daß er mich beim Wettlaufem imer uberholte Und bisher war doch immer ich Siegerin gewesen. Tief {krankend} (gekrankt) mußte ich sehen wie er einen bestimmten Umkreis im Garten in 5 Minute x-x-x wahrend ich mich fur eine Atalante hielt wenn ich x-x Min dazu gebraucht hatte. Überdies erkaufte ich diesen Ruhm immer nur mit Seitenstich Mr Just aber Wenn er anlangte fragte ich: M Just avez vous des picotements Mais non Mlle - Ich aber hatte welche O mannliche Überlegenheit schmerzlich habe ich sie zum erstenmal empfunden Aber meiner Liebe tat es keinen Eintrag Der Beginn des Entwurfs entspricht der späteren Fassung (43,21-23) nahezu wörtlich; auch die Wettkampfszene hat in erweiterter Form Eingang in die Autobiographie gefunden (43,35ff). Trotz des insgesamt wesentlich größeren Umfangs der Einführung von Just sowie der anschließenden Anekdote fehlen jedoch in den Druckfassungen folgende Stellen: weil ich viel öfter als meine stille ruhige Schwester an den lärmenden Spielen der Brüder teilnahm und: O mannliche Überlegenheit schmerzlich habe ich sie zum erstenmal empfunden. Das Kind habe sich also mehr mit den Brüdern als mit der Schwester identifizieren können und werde in diesem Selbstverständnis schmerzlich mit männlicher Überlegenheit konfrontiert; wieso gerade diese Sätze später fehlen, wird noch zu erläutern sein.

19c Text ohne Entsprechung: Am 2. Marz 1836 dem l' Jahrestage des Todes unseres Kaisers F wurden wir in die Kirche gefuhrt u wohnten einem feierlichen Traueramte bei. Mama hatte uns empfohlen andachtig zu sein u inbrunstig fur den Kaiser zu beten Das war eine gr Sache u hob uns hoch in unsern eig Augen dß unsere Fürsprech fur den Monarch ein Geltung haben könne Es war großartig die herrliche Musik der im Weihrauch wölken Altar die duster brennenden Kerzen die schwarzen Gewander der 129

celebrirenden Priester u der Gesang der x-x flehend empor stieg getragen von Inbrunst Diese Episode ist nicht übernommen worden. Die Eindrücke des Kindes vom Gottesdienst werden in anderem Zusammenhang geschildert, zur Betonung seiner Verbundenheit mit den Bewohnern des Umlandes von Zdißlawitz sowie als Vorbereitung für die Episode des Meßspiels (52,5ff.). Statt Bezug auf historische Ereignisse zieht die Dichterin also die private Gewohnheit im persönlichen Umfeld des Kindes zur Schilderung seines Erlebens vor. 20

Entwurf zu 48,8ff. senkrecht am Blattrand: Stelle sie dir doch so hin wie sie dir behaglicher waren Einen Pap den man nicht furchtet, eine Gouvernante die nicht quält x-x-x

20a Entwurf zu 30,16ff_· Der erste gr Schm m. L. war noch nicht lang verwunden u schon stellte ein 2. sich ein Ebenso gr ebenso herzzerreißend Aber der wurde still und klaglos ertragen ich hatte ja schon die Erfahrung gemacht daß (alle) Wehklagen u (alles sich) Aufbaumen nicht hilft Eine unserer 3 Gou H.H. - von ihrer Fa nach Pa. zuruck gerufen verließ uns Auch ihr wurde der Abschied schwer von uns u. unseren kl. Gesch. ganz besonde Der Entwurf bezieht sich auf den Abschied der Gouvernante Hélène Hallé von den Kindern. In der Textfassung wird der Abschiedsschmerz sehr viel dezenter geschildert. Möglicherweise erfolgte die Abmilderung, um Szenen mit ungleich tragischerem Gehalt abzusetzen von solchen, in denen die Gemütsbewegung der Kinder weniger Dramatik zu haben schien. Allgemein - darüber später mehr - wird Emphase im Verlauf der Textentstehung abgeschwächt. 22

Text ohne Entsprechung: Traurige kahle Welt in der es keine Prunkentfaltung mehr geben wird.

22a Text ohne Entsprechung: Zu unserem großen Schmerz starb dieser vortreffliche Lehrer u wurde nicht ersetzt Mein Vater war mit unserem Wissen zufrieden Er war ein ausgemachter Feind der Gelehrsamkeit u. lebte im Glauben daß sie hinter der Tur nur so laure wenn man ein Buch zur Hand nahm bereit jeden Augenblick herein zu springen u einen

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praktischen Menschen mit gesunden Verstand einen dummen Gelehrten zu machen Vom Tode des Verwalters Volteneck ist in der Autobiographie später nicht die Rede. Die väterliche Skepsis gegenüber Gelehrsamkeit wird zwar erwähnt, jedoch nicht im Zusammenhang mit der Erziehung der Kinder, sondern bei der Schilderung seines Verhältnisses zum gebildeten Vetter Moritz (63,23ff.)· Damit wird dem Vater die im Entwurf angedeutete Schuld am ungenügenden Wissensstand der Kinder später genommen. 23

Entwurf, vgl. Aus meinen Kinder- und Lehrjahren (250,3ff): An anderer Stelle habe ich erzählt wie feindlich er sich gegen die neu erfundene Stahlfeder stellte. Er unterricht[ete] uns in der deutschen Sprachlehre u. erst durch diese lernte[n] wir die fremden Buch verstehen In den unklare[n] Wust des Auswendig gelernten und maustodt in unseren Köpfen Liegenden (fiel) kaum ein erklärendes u erhellendes Lichtlein Der erste Satz bezieht sich auf eine Schilderung im erwähnten Aufsatz, in den Kinderjähr en fehlt die Erwähnung. Daß der Unterricht offensichtlich keine rechten Früchte getragen hat, geht aus der Textfassung nicht hervor, hingegen wird der Lemfortschritt der Kinder unter der Gouvernante Hélène Hallé betont. Die Vermeidung negativer Attribute wie hierfindetsich in der Tendenz auch bei den Umarbeitungen der einzelnen Druckfassungen.

23a Entwurf zu 37,4f£ (Mit dem Buch ist die Histoire universelle von Louis Richard dit Bressot gemeint.):

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spannendste Buch das ich - meine Marchen ausgenommen kannte: Großoktav eng gedruckt es begann mit x-x-x u endete mit dem Untergang des römischen Reichs Das verschlang ich, seinen Inhalt machte ich mir zu eigen. Heute noch kann ich Stellen daraus citiren Punktum H Schrift Geschichte Sprachlehre dann hatte Mlle zu unterrichten Das ging fort das Jahr hindurch Im Winter hatten wir auch deutschen Unterricht H. B. war unser gutiger geliebter Lehrer / Unser[e] Bibliothek bestand aus lauter französischen Büchern Einer dicken Bibel ad usum Dephini schon zum Auswendiglernen hergerichtet Kleine Kapitel zu anderthalb Seiten u über jedem in einem kleinen viereckigen Rahmen ein Bildchen Meist so schlecht gedruckt daß man erst nachdem man da[s] Kapitel gelesen hatte heraus bringen konnte was das Bild vorstellte Dann die Wonne mitten im Unglück mein Labsal u meine Erholung: Der erste Band der l ' Bd eine Histoire universelle v. Jean Richard du Bressot. Das liebenswürdige

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24a Entwurf zu 36,37fL·

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H. d. Villette der Unterricht den sie uns erteilte beschränkte sich auf eine neue Methode des Schreibens. Das Heft wurde in acht Teile gefaltet u jeder einzelne Buchstabe in eine dieser Falten gesetzt ohne die Hand vom Papier zu erheben x-x in eine Falte gesetzt das gescha[h] pour defier la main Auf diese Methode tat sie sich viel zu gute. Der Unterricht den sie uns sonst erteilte beschrankte / [s]ich auf das Auswendiglernen einer halben Seite in der franz Sprachlehre u einer ganzen in der Geschichte u auf das Decliniren eines Verbes Sie gab nie eine Erläuterung u wir sagten die Sprachlehre aus dem Buche her ohne eine einzige Regel anwenden zu können. Daß wir keine Fehler machten beim Deklin. Nur kurz geht die Ebner später auf die Unterrichtsmethode der Gouvernante ein, ironisch schildert sie in der Autobiographie (36,37ff.).· Mademoiselle Henriette gewährte sich und ihren Schülerinnen spärliche Einblicke in die Geheimnisse der französischen Grammatik und gab uns täglich eine Anzahl Verse und eine halbe Seite Prosa zum Auswendiglernen auf.

25a Entwurfzu 10,3ff-· sanften, schönen, lieben Anischa. Bei ihr fanden wir immer Trost, sie sang uns Lieder vor u erzählte Märchen zum entzücken schauerlich. Ihr Anblick war ein so lieber u heiterer Sie sah wunderhübsch in ihrer hannakischen Tracht Ihr buntes Kopftuch war kunstvoll x-x-x Die Beschreibung der Amme fällt in den Kinderjahren wesentlich ausführlicher aus, entspricht aberz. T. wörtlich dem Entwurf. Entwurf zu 12,24-26: {Seine} (Die) Ohren dienten {ihm} (diesem Scheusal) als Flügel, {aber nur schlecht,} weil er (aber) zu schwer war konnte er (sich) nicht lang schwebend erhalten, sondern {hoch in die Lüfte steigen,} plumpste auch oft mitten im Fluge herab Zwei Blätter herausgerissen. 26

Entwurf zu 49,18ff.; 50,Iff-· Am Ende des Gartens in der Ecke die er dort gegen die Fahrstraße u. die Felder bildete, stand auf künstlicher Anhöhe ein rundes Lusthaus, weiß getüncht mit rot angestrichenem Kuppeldache. Es hatte zwei schmale Türen u. vier schmale Fenster, alles doppelflügelig mit Glasscheiben u. Jalusien, sehr zierlich gearbeitet.

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26a

Anhöhe immer von unermüdlich spielenden Lüften umweht, (nie kam die Wetterfahne, die in Gestalt eines Kranzes aus Blech auf dem Dache emporragte, zur Ruhe) Immer war ich sicher dort den Boten zu finden der meine Sendschreiben übernahm u. in die Ferne trug. So lang ich konnte verfolgte ich ihn mit den Augen, u. ging traurig heim wenn ich sie in {die} (den) Áhren {fallen} (versinken) in einen Graben fallen, hinter einer Scholle verschwinden sah. Unaussprechliche Freude hingegen / dem Überheß ich sie gern Seligkeit hingegen wenn sie diesen hoch empor wirbelten wenn das weiße Punktchen flog u. flog x-x-x ihm folgen Uber die Berge flogen sie u über x-x bare Ebenen u über das weite Meer Und einige fielen auf segelnde Schiffe u andere flogen weiter bis ins Zauberland von schönsten Menschen bewohnt sie aufnahm Und nun stellte ich mir ihre Verwunderung vor u ihre Freude u träumte (Wer wird sie finden? Zu wem werden sie reden - ein Erwachsener und ein Kind -) Der daran anschließende Text im Arbeitsbuch hat in den Kinderjahren keine Entsprechung gefunden:

27a

Da habe ich die {Wonne} (Kunst) des Träumens kennen gelernt, {die unerschöpflich reiche, die heilende, die tröstende, die} (Sie ist) mir treu gebüeben {ist} ein langes Leben hindurch. {Der die Zeit} (Sie war mir) immer eine {Tröste} Kraftspen[de] nichts abzustreifen vermochte hat mich nicht verweichlicht, (im Gegenteil. Wenn ich erquickt aus ihrem schimmernde[n] Bereich trat x-x-x es mich) sie war von ihrem zauberhaften Schim mir immer eine Kraftspende Jung und kräftig wie je u hat mich gestärkt in Zeiten und nicht verweichlicht hat mich der Aufenthalt in ihr lud e[in] zum oft harten Kampfe mit der Wirklichkeit / x-x-x u wenn müde Menschen Beruhigung im Schlafe finden, finde ich sie in meinem Traume In der ausgearbeiteten Fassung spricht die Dichterin später keineswegs die Funktion des Träumens in ihrem weiteren Leben an. Die Schilderung ihrer imaginierten Welt endet mit den Worten: Der Glaube an die Schöpferkraft meines Auges erlosch. Zugleich wurden die Bilder meiner erträumten Welt in der unerreichbaren Ferne immer undeutlicher. (56,23ff.) Da in der Autobiographie ansonsten öfter auf die Fortwirkung kindlicher Erfahrungen und Verhaltensweisen im späteren Leben verwiesen wird, kann hier nur vermutet werden, daß eine gewisse Scheu vor der Preisgabe dieser Eigenart die Dichterin bewogen hat, diese Erinnerungen nicht zu veröffentlichen.

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28a

Entwurf zu 31,16ff.; 61,39ff„· 'Ein anständiges Kind klagt nicht u verklagt nicht!' das war uns mit dem ersten Süppchen eingeflößt worden Eine Gerechtigkeit muß ich ihr widerfahren lassen, sie hat uns nie tatlich mißhandelt Wahrscheinlich hatte sie nicht den Mut dazu, denn sie wußte sich scharf uberwacht von unserem braven Stubenmädchen Apollonia Beckel Und wer manchmal ganz leise und unerwartet bei uns eintrat u sich nach unserem Befinden erkundigte] u mißbilligend fragte wenn wir jede in einer anderen Ecke / standen u rotgeweinte Augen das war niemand andres als unsre getreue Pepinka Sie behauptete es durchau[s] der Großmama melden zu müssen, daß wir taglich schlimmer wurden u taglich mehr Strafen verdienten Nach einem solchen Besuch war unser Drache fur einige Zeit etwas milder gestimmt Aber im Ganzen blieb unser Zustand ein qualvoller u mehr als einmal fragten wir uns meine Schwester u ich ob es ungluckliche[re] Kind[er] geben könne al[s] u[ns]? Die Erziehungsmethoden der Gouvernante Henriette und die Reaktionen der Kinder werden in den Kindeijahren mehrfach geschildert und bilden eine Ait roten Faden, indem sie als Hintergrund der herausragenden sonstigen Ereignisse den traurigen Alltag der Kinder vor Augen führen.

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Texte ohne Entsprechung in der Autobiographie: Ich verstand daß meiner guten Tat ein gemeines Motiv zugrunde lag. Daß ich mich nicht entschlossen hatt[e] mein Opfer zu bringen wenn niemand etwas davon erfahren hatte. Daß dieses Bewußtsein uns nicht hinderte eine Viertel Stunde später höchst vergnügt mit den Brüdern zu tollen ist hat übrigens seine Richtigkeit

29a Vermutlich geplante Kapitelüberschriften der Kinderjahre.' IX Winter in Wien. Arioli Moriz X Sommer. Nachbarschaft XI P.S Verlobung. M. Xaverine Mary XII Tod Großm Vockel Während sich die bisherigen Entwürfe, die in die Autobiographie aufgenommen wurden, ziemlich genau auf die erste Hälfte der Kindeijahre verteilen, markieren die unter den Ziffern IX bis XII angegebenen Stichwörter die wichtigsten Ereignisse des übrigen Textes. Wahrscheinlich haben sich die Ziffern auf eine ursprünglich vorgenommene Kapiteleinteilung bezogen (in einem Brief an Verleger Rodenberg vom 16. Dezember 1903 spricht die Ebner vom Fortschreiten ihrer Arbeit bis zum achten Kapitel - BrWei 4). 134

Die Druckfassungen weisen später wohl durch Zeichen kenntlich gemachte Absätze auf, sie sind jedoch so zahlreich - insgesamt vierzig Abschnitte sind markiert worden - und weisen einen so unterschiedlichen Umfang auf - zwischen einer halben Seite und neunzehn Seiten divergierend -, daß keine Kapitelgliederung als Ursprung vermutet werden kann. Interessant ist die Themenauflistung aus anderem Grunde: Erst im April 1904 teilt die Dichterin dent Verleger ihren Entschluß mit, nicht über die Schilderung des vierzehnten Lebensjahres hinauszugehen (BrWei 6); dies stimmt mit der Gliederung, wie sie hier aufgeführt ist, wohl überein, das Arbeitsbuch verzeichnet auf der folgenden Seite jedoch noch weitergehende Pläne (siehe unten). Text ohne Entsprechung: Ich lerne Gedichte ν V. Hugo, Lamartine Beranger (darunter höchst ungezogene Dinge. Wie dergleichen nicht schadet Constant Begeisterung fur Napoleon Racine Corneille) franz. Gedichte Moriz o sing auch du - Deutsche Gedichte. Mein stilles Treiben Inniger Verkehr in einer Die Lektüre der französischen Gedichte wird in der Autobiographie nicht erwähnt. Die Bemerkung Wie dergleichen nicht schadet macht deutlich, daß die Ebner von Anfang an bestrebt gewesen ist, von eigenen Erfahrungen ausgehend allgemeine pädagogische Erkenntnisse dem Lesepublikum nahezubringen (dies ist in anderem Zusammenhang in den Druckfassungen verschiedentlich auch geschehen). Der hier skizzierte Ansatz zum Sprengen der sonst recht streng auf Erinnertes oder Erinnerndes Ich bezogenen Perspektive ist gerade nicht ausgearbeitet worden, - wares Marie Ebner letztlich doch zu heikel, höchst ungezogene Dinge als ungefährlich und folgenlos hinzustellen? In der zweiten Hälfte des obigen Textes sind einige Stationen der literarischen Entwicklung des Kindes markiert, die in der Autobiographie ausführlich geschildert werden (60,5ff.; 64,24ff.; 65,22ff.). Entwürfe zu den Kinderjahren: Zu meinem 12l Geb:T bekomme ich Schillers W. in 1 Bde. Eindruck Die Theaterstücke üben die gr. W. aus. Leseabende im Spätherbste. Grün letzter Ritter. Romane der Palzoio. Burgtheater. Was ich ihm verdanke Es war mein Erzieher 1845. Brief an B. Paoü. Brief Mamas an Grillparzer Was er beweist? Daß G. ein höflicher u. feiner Mann ist. Die Bedeutung von Schillers Dramen für die junge Dichterin ist in der Autobiographie besonders betont worden: Marie Ebner nennt ihr Geburtstagsgeschenk von 1842 das für mich vielleicht denkwürdigste Ereignis mei135

ner Kinderjahre (77,7ff.). Über einen längeren Abschnitt hinweg berichtet sie anschließend über die Wirkung einzelner Dramen und die beginnende Ausgestaltung einer kritischen Einstellung zu ästhetischen Problemen. Auch die Leseabende im Spätherbste werden in den Kinderjahren geschildert, wenngleich nur gestreift in Zusammenhang mit dem neuen Geist den die Stiefmutter Xaverine in die Erziehung der Kinder einbrachte (72,18ff.). Die Rolle des Burgtheatersflrdie Entwicklung der jungen Dichterin ist ausgiebig gewürdigt worden; die längere Darstellung von Theaterereignissen und Schauspielerschicksalen im Zeitraum der Autobiographie gipfelt in der - schon im Skizzenmaterial angedeuteten - Feststellung: Unser altes Burgtheater! es war für mich und wird es gewiß für viele gewesen sein, ein Quell edler Freude, ein Bildungsmittel ohnegleichen. Ihm verdanke ich die Grundlage zu meiner ästhetischen Erziehung, die damals begann und heute - noch lange nicht beendet ist. (79,23-26) Die erwähnten Briefe an Betty Paoli und an Franz Grillparzer haben hingegen nicht nur keinen Eingang in die Autobiographie befunden, sie beziehen sich zudem auf einen über die geschilderten Ereignisse hinausgehenden Zeitraum. Wie schon erwähnt, hat Marie Ebner die Autobiographie mit dem Tod der Großmutter, d.h. mit der dadurch indirekt veranlaßten Konzeption ihres Dramas enden lassen, also mit dem Jahr 1844. Dies stimmt mit der Gliederung auf Seite 29a des Arbeitsbuches überein und auch mit den Angaben, die sie ihrem Verleger Rodenberg ein Jahr nach diesen Vorarbeiten gemacht hat? Die Erwähnung der beiden Briefe läßt darauf schließen, daß ursprünglich eine Weiterßhrung der Schrift geplant gewesen ist, in deren Zentrum die Bemühungen der jungen Dichterin um öffentliche Anerkennung stehen sollten. Betty Paoli, mit der die Ebner später lange Jahre eng befreundet gewesen ist, war Mitte der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts schon eine bekannte Schriftstellerin. Leider konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, wer sich aus welchem Grunde mit einem Brief an sie gewandt hat; zu vermuten ist jedoch, daß es sich um ein ähnliches Anliegen handelte wie in dem gleich danach vermerkten Brief an Grillparzer. Die Stiefmutter Marie Ebners schickte dem damals bedeutendsten Dramatiker Österreichs 1847 einige Gedichte des jungen Mädchens mit der Bitte um Beurteilung. Grillparzer antwortete mit wohlwollender Zustimmung, daß Spuren von Talent durchaus vorhanden seien* Der launige Zusatz der Ebner im Arbeitsbuch (der sich auf das Antwortschreiben des Dichters bezieht) zeigt, daß sie -

3 Vgl. S.135. 4 Siehe dazu "Meine Ennnerungen an Griüpatzef, Abschnitt 111,1.

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zumindest in der Rückschau - diesen Äußerungen keine große Bedeutung beimessen will; wohl ist sie aus diesem Grunde, vielleicht auch aus Bescheidenheit, von dem Plan abgekommen, das Ereignis überhaupt zu erwähnen. Zudem spricht einiges andere mehr für die schließlich gewählte zeitliche Begrenzung der Autobiographie, darüber mehr in der Entstehungsgeschichte und Strukturanalyse des Textes. Auf den restlichen Seiten des Arbeitsbuches finden sich Entwürfe zu Aphorismen, Aufzeichnungen von ungarischen Sitten und Gebräuchen sowie zahlreiche ungarische Vokabeln, auch Notizen zur Kirchengeschichte; ein Zusammenhang mit der Autobiographie besteht nicht. Damit kommt die Auswertung des Skizzenmaterials zu den Kinderjahren zum Abschluß. Aus verschiedenen Gründen rechtfertigt sich die ausführliche Darstellung: Zum einen läßt die Art und Weise der Aufnahme dieser Vorarbeiten in die späteren Druckfassungen Rückschlüsse zu auf Veränderungen in der Konzeption der Schrift, wie sie im folgenden beim Vergleich der einzelnen Ausgaben ebenfalls augenfällig werden. Da erst die Betrachtung des gesamten Materials bestimmte Tendenzen in den Umarbeitungen erkennbar machen kann, die bei der Untersuchung der Textgeschichte zum Tragen kommen werden, sind hier auch vorläufig wenig aufschlußreiche Abweichungen zu den späteren Fassungen verzeichnet worden. Zudem schien angesichts der Tatsache, daß es außer diesen Skizzen kein Manuskript bzw. andere Vorstudien gibt, die vollständige Dokumentation gerechtfertigt. Die Wiener Stadtbibliothek verzeichnet zwar unter der InventarisierungsNummer 54.523 ein weiteres Arbeitsbuch mit eigenhändigen Studien zu Meine Kinder jähre, eine Untersuchung der Aufzeichnungen ergab jedoch, daß es sich hier um den Entwurf einer Novelle handeln muß. Dafür spricht einerseits, daß das gesamte Konzept die Verwendung des Präsens aufweist, zum anderen stimmen Stil und Inhalt in keiner Weise mit den Schilderungen der Dichterin in ihrer Autobiographie überein. Als Beispiel sei der Beginn der Aufzeichnungen präsentiert: Mama hat mir aufgetragen wahrend ihrer Abwesenheit ein Tagebuch zu fuhren. Ich pflege nicht eifrig zu sein in der Ausfuhrung ihrer Auftrage Ich will es tun obwohl ich es nicht genau zu nehmen pflege mit der Ausführung der Auftrage Mamas. Aber dieses Mal werde ich eine Ausnahme vielleicht macht es mir Spaß ein Τ zu fuhren eine Unterhaltung kann man heraus aus der abgrundtiefen Langeweile die uns erwartet Thematik und Gestaltung erinnern an die beiden Komtessen-Geschichten Komtesse Paula und Komtesse Muschi die allerdings schon 1885 publiziert wurden,5 wohingegen sich sämtliche Daten im Arbeitsbuch auf den Oktober SSW 2.

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1910 beziehen. Auch dies spricht natürlich gegen einen Zusammenhang mit den Kinderjahren. Nach der Analyse des handschriftlichen Materials werden die Varianten der Druckfassungen vorgestellt, im folgenden Abschnitt 4 die orthographischen, Laut-, Wort- und Interpunktionsvarianten in Zusammenfassung.

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4. SAMMELVARIANTEN Zahlreiche Veränderungen, die die Dichterin bei der Überarbeitung des Zeitschriftenabdrucks J der Kindeijahre für die erste Buchfassung E 1 bzw. auf deren λ Grundlage für die zweite Buchfassung E vorgenommen hat, können in zusammenfassender Darstellung besser verdeutlicht werden als im fortlaufenden Variantenverzeichnis und sind deshalb aus diesem ausgesondert worden. Vermerkt wird jeweils die chronologisch früheste Fassung von der aus die Variante gewählt wurde; die Verfasserkorrekturen der Fahnen und Druckbogen 1 0 m E und E werden nur dann berücksichtigt, wenn sie von den Druckfassungen abweichen. a. Orthographische Varianten aa. Vokale und Konsonanten Im Gegensatz zu den bisherigen Ergebnissen der Reihe Marie von EbnerEschenbach. Kritische Texte und Deutungen lassen sich für die Kinderjahre im Bereich der Vokal- und Konsonantenveränderung so gut wie keine Varianten nachweisen; da Marie Ebner mit der Abfassung des Werkes erst 1903, d.h. nach der deutschen Rechtschreibreform, begonnen hat, ist anzunehmen, daß sich hier derEinfluß der orthographischen Neuregelungen bemerkbar macht. Einen Sonderfall stellt jedoch die Umschreibung des Eigennamens Krämer dar, der in E 2 an allen vierzehn Belegstellen mit Dehnungs-h erscheint, diese Korrektur hat die Dichterin nach Erhalt des Briefes eines Neffen besagter Frau Krähmer vorgef\ 0 pi nommen. Außerdem fällt in E das doppelte m von sammtpfötigen in H weg (46,5). ab. Fremdwörter Auch im Bereich der Fremdwortangleichung an deutsche Lautung und Schreibungfinden sich in den Kindeijahren aus oben erwähnten Gründen kaum mehr Varianten. Lediglich Compatriotin wird in E 2 mit Κ geschrieben (43,34). Bei Betisen (83,8) wird in E 2 der accent circonflexe ergänzt, bei Mélanie (90,35) dagegen wird der accent aigu von J auf E1 gestrichen. Weitere Veränderungen im Bereich der Fremdwörter sind bei der Groß- und Kleinschreibung vermerkt:

6 Abgedruckt aufS. 184.

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ac. Groß- und Kleinschreibung 1. Bei feststehenden Begriffen wird das Adjektiv von E1 an großgeschrieben bei: jüngstes Gericht (31,4) / heilige Schrift (96,16). 2. Umgekehrt wird ab E 1 bei Fürstlich Schwarzenbergischen Hofrates (67,28) das Adjektiv Fürstlich kleingeschrieben. 3. Das substantivierte Adjektiv besseres erscheint ab E 1 mit Majuskel (28,13 / 86,21). Λ 4. Großoktav (37,7) wird ab E kleingeschrieben, der adverbiale Ausdruck ins 2K1

5. 6. 7.

8.

reine erhält m E eine Majuskel, die jedoch nicht übernommen worden ist (84,27). Λ einen als Pronomen wird ab E großgeschrieben (113,13 /113,17). Zahlwörter in pronominaler Verwendung erscheinen ansonsten ab E1 mit Minuskel: Zweien (92,23) / Zwei (92,24). Während diese Veränderungen durchweg im Sinne der neuen Orthographieregelungen vorgenommen wurden, kommt die Dichterin bei zahlreichen fremdsprachigen Ausdrücken auf die Schreibweise in der Ausgangssprache zurück, d.h. aus Großschreibung wird Kleinschreibung bei: Hlava (12,20 / 12,22 / 12,32 / 13,8 / 13,10) / Anno (28,17) / Vous (93,17) / Vos (93,17) von J aw/E 1 ; Leçon (26,29) von E 1 auf E2. Aus ursprünglicher Kleinschreibung nach Ausrufezeichen wird Großschreibung bei: ! jetzt (85,34) von J auf E1, bei: ! war (36,14) und: ! in (60,40) von E1 auf E2. ad. Getrennt- und Zusammenschreibung

1. Zusammengeschrieben werden Verbformen von J aw/E 1 bei: hinauf dehnen (45,3) / zurecht kommen (76,11) / herbei rief (69,15) / hinauf fährt (98,37) / hinauf zu reichen (100,33) / da gewesen (109,18); von H E 2 auf E 2 bei: hinein plumpste (46,16) / vorbei komme (47,3) / hinein geworfen (47,7). 2. Auseinandergeschrieben werden Verbformen von J auf E 1 bei: vorwärtszugehen (18,26f.), von E 1 aw/E 2 bei: davonlaufen (13,9) / liebgehabt (34,41) / irrezumachen (97,10f.). 3. Bei adverbialen Ausdrücken wird Trennung vorgenommen von J auf E 1 bei: 1 1 , DI ebensoviele (27,20), von E auf E bei: voneinander (19,3), von auf Λ

t

1

E bei: kleinauf (46,4); dagegen wird zusammengeschrieben von J auf E : So lang (80,35) / wo möglich (90,9) / erste Mal (94,39) / irgend einer (102,12) / unnötiger Weise (103,11) / zu Mute (114,5); von E 1 auf E 2 : ge140

geil einander (67,7). Zusammengeschrieben wird außerdem ab E 1 : immer wache (7,14). 4. Konsequent ist die Getrenntschreibung von J auf E 1 bei sämtlichen flektierten Formen von der, die, das selbe. Von einigen Ausnahmen abgesehen setzt sich bei den meisten Varianten die nach der Jahrhundertwende allmählich üblich werdende Zusammenschreibung bei Verbformen, adverbialen Wendungen und Pronomina durch. ae. Der Apostroph Bei umgangssprachlicher wörtlicher Rede tritt im allgemeinen von J auf E 1 ein Apostroph hinzu; so wird etwa aus Entschuldigens in E 1 Entschuldigen'S, aus habens wird haben'S usw. Von J auf E 1 markiert der Apostroph das ausgefallene End-e bei: trag (80,35), von E 1 auf E 2 bei: Aug (114,10) und: hör (115,7).

b. Lautvarianten Äußerst zahlreich sind die Eingriffe, die den Lautstand ganzer Wörter betreffen; so tritt bei denflektiertenFormen der Pronomina anderer, andere, anderes und unser, unsere das zunächst fehlende e in der unbetonten Neben- und Endsilbe hinzu; da dies jedoch nicht konsequent praktiziert wird, sind die einzelnen Belegstellen verzeichnet. 1. Von J auf E 1 wird andre zu andere (6,1 / 11,37 / 18,12 / 23,33 / 41,37 / 48,23 / 51,6 / 53,7 / 57,13 / 64,42 / 70,15 / 70,28f. / 73,20 / 74,23 / 77,42 / 91,33 /101,18 / 104,7 /117,28f. / 119,3 / 120,14f. / 121,4). Von J auf E 1 wird andres zu anderes (10,28 / 30,13 / 59,21 / 70,31 / 97,17 / 102,11 / 114,20 / 116,3). Von J ÖM/E1 wird andrer zu anderer (45,17 / 85,26 /102,8f. / 103,13). Von J auf E 1 wird andrem zu anderem in 71,7. anderm wird von J auf E 1 zu anderem nur ein einziges Mal (85,25), von E 1 auf E treten weitere Veränderungen ein (60,7 / 87,36). Unregelmäßig sind die Veränderungen bei andern; so bleibt diese Wortform an zahlreichen Belegstellen in allen Fassungen gewahrt (16,39 /19,21 / 55,13 / 55,32f. / 64,32 / 82,32 / 107,22 / 108,34 / 118,30), A/ngegen tritt öfter noch von J au/E 1 ein e in der Endsilbe hinzu (17,26 / 20,24 / 22,17 / 40,2f. / 43,19 / 45,4f. / 51,39 / 71,17 / 75,42 / 90,2 / 93,34 / 98,17 / 104,23 / 101,6). Außer141

dem findet sich einmal der Fall, daß lediglich in E 1 das e in der Endsilbe steht (112,20). Die neben andern ebenfalls gebrauchte Form andren erhält von J auf E 1 ein e in der unbetonten Nebensilbe (70,35f. / 94,9). 2. Fast überall wird unsre von J auf E 1 mit einem e in der unbetonten Nebensilbe versehen (110 Belegstellen); Ausnahmen sind Beibehalten der urΛ sprünglichen Form in allen Fassungen (56,6) sowie unsere in J und Ε , in E 1 dagegen unsre (58,22). Bei unsrer wird an 43 Belegstellen von J auf E 1 das1 e in die 0 unbetonte Nebensilbe eingeßgt, dies geschieht einmal erst von E auf E (58,12), ein anderes Mal bleibt die Form in allen Fassungen erhalten (35,17). Ähnlich verhält es sich bei der Genitiv-Form unsres, die zwölfmal von J auf E1 mit dem Nebensilben-c versehen wird, ein weiteres Mal erst von E1 auf E 2 (13,28). Entsprechend wird unserm zu unserem im allgemeinen von J auf E 1 (18 1 0 Belegstellen), von E auf E dagegen nur einmal (9,32); auch hier findet sich 1 1 die ursprüngliche Form in E wieder, während E das Endsilben-e auf weist (28,26). Die Variante unsrem erhält von J auf E 1 das Nebensilben-c (37,20 / 97,11). Ein ähnlich verwirrendes Bild wie bei der entsprechenden Form von andern bietet sich bei unsern: Während meist von J auf E 1 das Endsilben-c eingeßgt wird (22 Belegstellen), tritt jedoch mehrfach auch der Fall ein, daß die Ursprungsform durch alle Fassungen gewahrt ist (14,37 / 26,22 / 27,9 / 27,17 / 28,8 / 31,3 / 57,27). 1 2 Zweimal tritt das Endsilben-c erst von E auf E hinzu (59,39 / 112,13), ein weiteres Mal entspricht auch hier wieder E 2 der ursprünglichen Form in J, während E 1 die Erweiterung auf weist (50,23). Die Nebenform unsren erhält ab E 1 das Nebensilben-c (37,35 / 98,3). Versetzt wird das e bei unsretwegen von J auf E 1 zu unsertwegen (37,1). Die Unsicherheit bei der Setzung des Neben- und Endsilben-c, die sich hier ma>η

nifestiert, wurde auch bei der Untersuchung des Gemeindekindes festgestellt. Hier war bis zur 7. Auflage von 1901 allerdings die erweiterte Form vorherrschend, bei der Überarbeitung zur 8. Auflage von 1903 hingegentilgtedie Dichterin das e in den meisten Fällen. Ein, zwei Jahre später hat dann bei der Niederschrift der Kinderjahre der umgekehrte Vorgang eingesetzt, und vielleicht ist der

7 Baasner, S.161

142

schnelle Wechsel die Erklärung für noch bestehende Inkonsequenzen bis hin zur zweiten Buchausgabe von 1907. 3. Hingegen ist die Einfügung von e bei Adjektiven regelmäßig: Nebensilben-t erhalten von J auf E 1 : bessre (98,11)/ bessren (102,3)/ papiernes (89,26)/ eigne (105,12)/ eignen (105,39); von E 1 auf E 2 : offnen (98.34)/ eignen (102,8)/ eigner (105,21)/ äußern (63,32). Endsilben-t tritt ein von J aufE1 bei: muntern (100,10)/ biedern (101,33)/ höhern (101,35)/ besondern (102,40). Entsprechend ist die Variante auch bei der Verbform blättre (103,36) und bei dem Substantiv Gefrornes (83,19) von J auf E 1 mit einem Nebensilben-e versehen. 4. Bei den Substantiva treten zahlreiche weitere Veränderungen ein, die im folgenden aufgeßhrt sind: Das End-t fällt weg im Dativ von J auf E 1 bei: Sonnenlichte (50,9) / Tische (75,39) / Liede (93,8) / Stocke (107,16); von E 1 auf E 2 bei: Gebete (95,17) / Gefühle (116,38). Im Akkusativ wird das End-t gestrichen von J auf E 1 bei: Proteste (67,1), von E 1 auf E 2 bei Kniee (45,22). Umgekehrt ist das End-e. ergänzt worden im Dativ von J auf E 1 bei: Wort (27,26) / Leidenskelch (58,18f.) / Tag (60,42) / Tag (64,3) / Lauf (65,5) / Sonntagnachmittag (66,27) / Tag (72,42) / Tag (75,39) / Spott (77,32) / Kampf (92,6) / Tag (102,32) / Begriff (118,37); von E 1 auf E 2 tritt ein Ende hinzu im Dativ bei: Platz (35,35) / Dorf (55,34) / Kopf (86,30) / Maß (93.35). Hinzußgung des e vor dem Genitiv-s erfolgt von J auf E 1 bei: Vorzugs (101,13f.) / Aufzugs (117,29); von E 1 auf E 2 bei: Unterschieds (62,21) / Feldzugs (63,38) / Hofrats (67,28) / Schloßbergs (98,30). Ansonsten tritt ein e ein in der Endsilbe von eins (108,5) von J aufE1 sowie als Wortbildungselement in der Wortmitte von Leinwand (38,18f.) von J auf E\ Außerdem fällt das End-e, weg von E 1 auf E 2 bei: lange (39,1) / habe (77,5). Fugen-s wird hinzugefügt von J auf E 1 bei: Zukunftbildes (60,40f.) / Herzenbezwinger (81,41f.). 5. Bei denflektiertenFormen jemanden und niemanden entfällt von J auf E 1 die Endsilbe.

143

c. Wortvarianten Auch beim Austausch einer Wortgruppe durch eine andere ist die Dichterin bei den Kinderjahren von vornherein konsequenter vorgegangen als bei den bisher untersuchten - früher entstandenen - Schriften. Eine Tendenz läßt sich dennoch vielleicht an folgenden Pronominalvarianten ablesen: Von J auf E 1 wird die zu diese (63,42 / 23,2), das, deren zu ihr, ihres (99,11 / 104,41). Die Wahl der Pronomina läßt auf das Bestreben nach präziserer Darstellung des Bezugsverhältnisses schließen. Außerdem werden an sämtlichen Belegstellen die Wörter Rüster durch Buche, Flöte durch Klarinette von J auf E 1 ersetzt, woßr jedoch sachliche Gründe verantwortlich sein werden, wie etwa Hinweise von Lesern auf die damaligen Gegebenheiten (z.B. Ferdinand Krähmer).

d. Interpunktionsvarianten Ein Großteil der Varianten in den Kinderjahren besteht aus Veränderungen im Bereich der Interpunktion. Insoweit sich diese in Gruppen zusammenfassen lassen, sind sie hier aufgeführt. da. Das Semikolon 1. Auffallend häufig ist der Austausch des Kommas durch ein Semikolon in einem Satzgefüge; dies geschieht von J auf E 1 bei: Gelbe, (45,3) / außerordentlich, (58,2f.) / Schwierigkeiten, (58,5) / nennen, (82,20) / gehabt, (83,8) / uns, (83,30) / gescheit, (84,18) / schrieb, (84,27) / entreißen, (85,5) / sagen, (85,35) / einmal, (86,4) / Friesen, (87,33) / fern, (93,41) / eingebunden, (94,16) / nennt, (97,37) / aus, (100,6) / ein, (101,21) / stehen, (102,13) / ist, (102,26) / unnötigerweise, (103,11) / zu, (104,40) / verringert, (106,4) / unbesetzt, (116,13). Von E 1 auf E 2 wird das Komma durch Semikolon ersetzt bei: Gebrauch, (42,30) / ab, (42,37) / getragen, (54,11) / versammelt, (54,14) / fern, (54,31) / Applaus, (58,15) / Erklärungen, (58,35) / wurde, (58,36) / Leid, (60,10) / stehen, (61,9) / weiter, (61,11) / dahin, (61,24) / Widerstandskraft, (61,37) / aufgewachsen, (62,11) / Gesichter, (66,19) / Kindervolk, (69,23) / musiziert, (118,17). Während diese Veränderungen zunächst (d.h. von J auf E1) nur etwa das letzte Drittel des Textes betreffen, hat die Dichterin bei der folgenden Überarbeitung für die zweite Buchausgabe fast ausschließlich im übrigen Text solche Eingriffe vorgenommen. 144

2. Durch die Wahl des Semikolons werden die häufig sehr langen Satzgefüge stärker strukturiert, aber auch hier läßt sich der umgekehrte Vorgang beobachten: mehrfach ersetzt ein Komma das Semikolon, - von J auf E 1 bei: Treibern; (24,1) / Zärtlichkeit; (29,12) / nicht; (43,5) / allmählich; (82,13) / geweht; (95,10) / preßte; (111,24) und von E 1 auf E 2 bei: wir; (52,36) / gaben; (96,25) / gesagt; (105,15) / Sterbende; (119,8). In beiden Fällen spielt es keine Rolle, ob im folgenden Teil des Gefüges ein Hauptsatz vorhanden ist oder nicht; die Veränderungen dürften demnach nicht auf dem Bestreben nach einheitlicher Zeichensetzung beruhen, sondern auf stilistischen Gründen; daßr spricht auch, daß die Varianten mehrfach in Passagen mit emphatischer Sprache gehäuft auftreten. db. Das Komma 1. Komma vor der Konjunktion und: Die heutige Regelung nach der vor ein zwei Hauptsätze verbindendes und ein Komma zu treten hat, ist schon von den Grammatikern vor der Jahrhundertwende gefordert worden.8 Daneben steht jedoch im Gegensatz zum späteren Gebrauch das Komma vor und auch dann, wenn die beiden Prädikate eines einzigen zusammengehörigen Satzes einen größeren Umfang besitzen.9 Demnach spielt es keine Rolle, ob nach der Konjunktion ein vollständiger Hauptsatz folgt oder nicht. Die zahlreichen Komma-Ergänzungen vor und zeugen von dem Bestreben der Verfasserin, diese Regeln zu beachten. Eingefigt wird ein Komma von J aw/E 1 bei: mir (5,7) / Bewunderung (56,39) / Augen (66,37) / Kind (81,5) / bequemen (82,17) / beschaffen (84,16) / teuer (84,19) / Fall (85,22) / aufgehen (86,28) / thronen (86,31) / werde (87,29) / Lage (88,24) / saß (88,25) / auf (88,32) / habe (91,16) / entspricht (91,26f.) / hatten (94,25f.) / stand (98,29) / zu (100,25) / rühmte (101,10) / war (104,41) / Berufes (105,2) / lassen (105,25) / Verlegers (105,26) / erschienen (107,28) / geschlossen (110,19) / aufgeschlagen (110,30) / Bläschen (110,35) / auf (111,33) / sie (112,5) / malen (113,39) / gegenüber (118,29) / Geschöpf (120,31).

So Friedrich Blatz: Neuhochdeutsche Grammatik Mit Berücksichtigung der historischen Entwicklung der Sprache: Bd 2 3. Auflage. Karlsruhe 1896, S.130Z Karl Ferdinand Becker Handbuch der deutschen Sprache. 11., verbesserte Auttage, neu bearbeitet von Theodor Becker. Prag 1876, S676

145

2.

3.

4.

5.

1 o Einfügung eines Kommas von E auf E erfolgt bei: je (70,8) / Kleider (70,22) / Helene (73,1) / gesund (108,12) / ihr (109,36) / durchschwirrten (115,2); von H m cm/E2 b«: gut (47,3) / heraus (47,8) / Auskunft (47,13). Außerdem gibt es jedoch auch Fälle, wo ursprünglich gesetztes Komma vor und gestrichen wird; von J auf Ε 1 bei: wand, (69,17) / ausbreiten, (86,34) / genommen, (114,13) / Kleist, (114,25); von E 1 aufE2 bei: bringen, (19,26) / nehmen, (34,21) / vor, (53,13) / Zahl, (117,10). Komma bei attributiv gebrauchten Adjektiven: Mehrfach fällt ursprünglich gesetztes Komma zwischen zwei attributiv ge1 brauchten Adjektiven später weg, so 1 von J 1auf E bei: gute, alte (79,7) / demütiges, kleines (97,17); von E auf E bei: prachtvollen, braunen (14,16) / tulpenförmige, kleine (17,31) / reichen, braunen (34,4) / nobler, etwas schwärmerischer (68,6) / neuen, blauen (70,22) / anmutige, junge (82,8); von H E auf E 2 bei: falschen, phosphoreszierenden (46,6). Der umgekehrte Fall tritt ein von J auf E 1 fc«: guten alten (16,3), von E 1 auf E 2 bei: Lieber kleiner alter (22,36). Komma bei Infinitiv: Einige Male wird später gestrichen, 1 das Komma vor Infinitivkonstruktionen 1 Λ so von J auf E bei: angefangen, (115,15); von E auf E bei: Ursache, (24,42) / sollen, (25,3) / erlaubt, (31,36) / auffordern, (37,16) / wissen, (61,29) /Befehl, (109,20). Komma bei Ausrufen mit O: Zunächst fehlendes Komma nach O in emphatischen Wendungen wird ergänzt von J auf E 1 zunächst zweimal (74,4 / 86,33), in weiteren Fällen von E 1 aufE2 (27,22 / 32,4 / 47,35 / 70,31), außerdem von H K aufE2 (46,38). Weitere Komma-Varianten: Abgesehen von den bisher angeßhrten Fällen hat die Dichterin zahlreiche Kommata in den späteren Fassungen hinzugefügt, die hier summarisch aufgelistet werden: Von J auf E 1 tritt ein Komma ein nach: Lichtgeister (11,39) / erfahren (13,21) / aber (29,29) / Vorgefühl (43,18) / Schlafzimmer (51,28) / Körper (64,37) / Mund (67,17) / Tücke (85,6) / Glauben (97,11) / Monate (99,20) / uns (100,33) / Vormittags (101,23) / gewöhnlich (101,23) / Krankheit (106,41); von E 1 auf E 2 nach: Fensterflügel (28,11) / größeres (30,13) / Morgenstunde (33,5) / Crémér (40,37) / eine (42,40) / Frühlingsmorgen (59,36); von H E 2 auf E 2 nach: ich (46,30) / anrühren (46,35) / gebadet (47,2) / Gruseln (47,15).

146

Umgekehrt fällt das Komma weg von J auf E 1 bei: hatte, (35,37) / Kraft, (77,21) / Mehr, (120,27); von E 1 aufE2 bei: an, (52,5) / werden, (53,25) / lassen, (66,7) / Papier, (99,13) / wissen, (110,10). de. Der Punkt 1. Ursprüngliches Komma wird durch Punkt ersetzt von J au/ E 1 bei: Uhr, (71,4) / beherrschen, (84,20) / werden, (84,29). Umgekehrt ersetzt ein Komma den Punkt von J auf E 1 bei: vor. (17,39) / erzählt. (38,39) / einzurichten. (73,4); von E 1 auf E 2 bei: mehr. (19,12) / einschnitt. (23,6) / empor. (39,40) / Tillier. (89,3). 1 ? 2. Durch Semikolon wird der Punkt ersetzt von E1 auf E bei: Krämer. (43,27) / statt. (58,12) / gab. (115,3). Der Punkt ersetzt ein Semikolon dagegen nur einmal von J auf E 1 be/.· nicht, (89,2). 3. Ein Ausrufezeichen tritt an die Stelle des Punktes von J auf E 1 bei: haben. (83,12) / sagte. (51,2); von E 1 auf E2 bei: umsonst. (15,35). Umgekehrt ersetzt der Punkt das Ausrufezeichen von J auf E 1 bei: schmiegt! (116,36) / Frau! (71,23). 4. Drei Punkte stehen statt Punkt von J au/E 1 bei: Wandlung. (96,40), von L· auf E 2 bei: Gegenwart. (52,17); der umgekehrte Fall liegt vor von J auf E 1 bei: knallen... (24,13), von E 1 auf E 2 bei: können... (113,19). 5. Ein Fragezeichen ersetzt der Punkt von J auf E 1 bei: sei? (95,31) / habe? (96,6) / bedeuten? (109,11); das Gegenteil tritt ein von J auf E 1 bei: Menschen. (76,19). 6. Doppelpunkt steht statt Punkt von J auf E 1 bei: Verfügung. (119,2), von E 1 auf E bei: zu. (22,3); Punkt statt Doppelpunkt findet sich dagegen von J auf E 1 bei: bitten: (91,4). Λ

dd. Drei Punkte In zwei Fällen werden von E 1 auf E 2 drei Punkte in vier Punkte verändert (14,19 /15,7), einmal ist der umgekehrte Eingriff vorgenommen worden (120,29). de. Anführungszeichen Bei Anführungszeichen zur Markierung wörtlicher Rede treten folgende Varianten auf: Das abschließende Satzzeichen, meist ein Komma, wandert bei den späteren Fassungen aus der wörtlichen Rede in den Nachsatz, so wird "(...) machen," in J zu "(...) machen", in E 1 (99,16). Entsprechende Veränderungen 147

finden sich von J auf E 1 bei: "(...) Flügel," (105,6) / "(...) Mama," (34,16); von E 1 aufB2 bei: "(...) Allein," (16,35) / (..^'verlassen," (18,2) / "(...) geschieht's," (22,2) / "(...) français," (23,15). BeifranzösischenPersonenbezeichnungen ist der Gebrauch von Anfilhrungszeichen unregelmäßig; Maman Eugenie erscheint durchgängig ohne, Monsieur Just teils mit, teils ohne Anführungszeichen; eine Variante tritt auf bei Grand1 1 maman; in J und E ohne, in E mit Anführungszeichen.

5. FORTLAUFENDES VARIANTENVERZEICHNIS

5,

6, 7, 8, 9,

10,

11, 12,

148

7f. geweckt zu werden brauchten ] gebraucht hätten geweckt zu werden J 18f. Ihrer bis Macht ] Ihrem Einfluß auf das Kindergemüt, dessen Entfaltung ich darzustellen versuche J E 1 24f. Unter bis entstanden ] Diese einleitenden Worte mußte ich den Skizzen voranschicken, die unter den Augen der Meinen, unter dem Einfluß ihrer verwöhnenden Liebe entstanden sind J 22 der letzten Abschiedsgrüße ] des Abschieds von ihr J E 1 36 Freundes, Professor ] Herrn Professors J 5 Niemals ] Keinen Augenblick J 36 Zeugin ] Zeuge J E 1 3 So] Und es J E 1 38 Spiel bis gab ] beim Spielen zu lautes Geschrei gab oder arge Streitigkeiten J E 1 7 hannakischen1) ] Fußnote fehlt J E 1 16 pani kmotrenka ] Panna Kmotrenka J 35 Verband ] Verband um den Arm J 22 für ] wegen J E 1 35 einer Wunderwelt ] der Märchenwelt J 20 "zlá hlava" ] "Kunska Hlava" J 35 pusten ] hüpfen J E 1 39 pusten ] hüpfen J E 1 40f. - man schwor darauf - ] fehlt J 41f. behauptete steif und fest ] wollte wissen J

2 15 16 17i 23 33 38 1 3i

6 10 12 30 30 3 321 61

15 16 21 36 17 28 30 32 7 18 38

herzzerreißend ] herzbrechend J ] herzzerbrechend E 1 haften. Sie ] haften. Sie hatte plötzlich aufgehört, zu weinen und zu schluchzen. Sie J Ihre bis weitgeöffnet ] Starr blickten ihre großen, prachtvollen, braunen Augen J ließ sich bis vernehmen ] hörten wir sagen J Λ Dummheit.] Dummheit Druckfehler E indessen ] aber J Leider wurde uns ] Mir aber wurde J sehr ] fehlt J unwürdig ] beschämend J Moment bis bereiten ] Moment, ihr den Untergang zu bereiten, schien mir gekommen, nach der Erfahrung, die wir gestern gemacht hatten J ] Moment, ihr den Untergang zu bereiten, schien mir, nach der Erfahrung, die wir gestern gemacht hatten, 11TI der günstigste, der sich denken ließ E So wartete ich nur ] Ich wartete nur noch J geholt bis sofort ] gerufen und J ] jetzt geholt und sofort E 1 K 1 ] geholt und sofort E 2 K 1 kam bis Sinn, ] fiel unsrer Pepinka nicht ein, auch bei dieser Gelegenheit J Nacken ] Hinterkopf J hinzuschieben ] hinauf zu schieben J ] hinaufzuschieben E 1 betraf. ] betraf, ein. J gebildete ] gebildeten Druckfehler J die schwarzen Möbelgestelle, ] das schwarze11Γ1 Holzwerk an den Möbeln und J ] die schwarzen Möbelgestelle E Hunde bis du ] du weißt ja, Hunde träumen ja J Aquarellbildchen und stellte ] Aquarellbildchen, das stellte E zwei ] beiden J mich ] mich ein J elendes ] miserables J E 1 entsinne ] besinne J mit Schande ] eine große Schande auf mich J Geschwindigkeit ] Eile J meinem Rückzug ] meiner Flucht J zu ] mit J E 1 bei bis der ] in der Zdißlawitzer J von seinem ] vom J

149

26 29f.

30f. 7

8 11 12 13 19f. 27 29 33f.

41 13 10 11 13Í 25 30 3 28f 11

20 5 24 34 36 37 39

uns] mir J den Erzählungen bis wiederholte ] dem Erzählertalent unsres Vaters, das er so gern und gut ausübte J ] den Erzählungen unseres Vaters, die er so gern und oft wiederholte E Sein Reichtum bis Anekdoten ] Der Reichtum an Geschichten und Anekdoten, über den er verfügte J k o n n t e ] konnte J Verstorbenen ] Verstorbenen, von denen er hörte, J Geschichtchen ] Geschichten J das ] die J E 1 Sein] Ihr J E 1 Peinlich bis bedauernswürdigsten ] Das war peinlich. Am ärmsten unter seinen Leidensgefährten sah wohl mein Vater J der bis war ] am Hals mit einem Kettchen aus Stahl geschlossen J freudig ] fehlt J Wohltat, bis lernten ] Wohltat für den Blessierten, dieser Mantel! - dieser stark abgetragene, dem man es ansah, daß sein Eigentümer einen zweiten schwerlich zu verschenken hatte. Nie sprach mein Vater ohne tiefste Rührung von dem großmütigen kleinen Herrn in Troyes. Sein Andenken blieb im Lichte J Unglücklichen im Zuge ] Blessierten J ihn bis hätten ] ganz tot gemacht haben würden J So bis aufgebaut ] Er baute das seine denn auch wieder auf J Zeit ] Zeit wieder E 1 K 1 mit bis einmal ] noch einmal mit grausamer Raschheit J zu.] zu Druckfehler E 2 konnten ] lernten J klägliche ] garstige J ließen bis ihr ] bestürmten sie mit Fragen, ließen nicht nach, gaben J Mühe ] Mühe, und J E 1 gleich ] fehlt J kam ] erschien J E 1 ging bis Kirche ] außer am Sonntag J ] ging bis Kirche; E 1 .... Und ]... und E 1 K 1 Gründe bis angab ] Antworten nicht hören, die Pepinka nur so aus dem Armel schüttelte J glauben ] hören J Entrüstet klagte ich ] Ich klagte J

benahm ] schrie und schluchzte und benahm J Unband bis Leben ] Unband, als ich den ersten bitteren Schmerz meines Lebens erfuhr J 22 feuchte Augen ] Tränen in den Augen J 38 hatten ] hatten längst J 38f. für uns verloren ] in unseren Augen längst eingebüßt E 1 4f. darüber bis werden ] Rechenschaft ablegen müssen über dieses Verbrechen J 16 leidenschaftlichen ] zornmütigen J 20 fehlte ] fehlt J E 1 2 Auch ] Auch ausfahren. Auch J zum ] in das J 6 2 er ] auch er J 32 mir bis erteilen ] mich zur Rechenschaft ziehen J unsagbar ] unaussprechlich J E 1 38 8f. Sie bis Schimpflichsten? ... ] Und eine harte, klanglose Stimme in der ich die ihre kaum erkannte, erhob sich und klagte mich der Lüge an. Der Lüge, die uns immer als das Schimpflichste hingestellt wurde? J 21f. Immer bis sie ] Die Erlösung, auf die ich hoffte, kam nicht. Mama

40 41 30,

31,

32, 33,

34,

τ J

34 35, 18 24f. 27 37, 34 38, 2f. 5f. 40 41 39, 4 16 18 19 38

viel, vielgeliebten ] viel-vielgeliebten J E 1 dort ] fehlt J ein bis hatten! - ] gegen alle die dunkeln und herzzerreißenden Eindrücke, die wir an diesem Tage empfangen hatten, ein! - J E 1 entsann ] besann J Form ] Form und Größe J an bis Kirche ] nach der Rückkehr aus der Kirche an Sonn- und Feiertagen bei meiner Großmutter J senkten ] senkten sie J war - ] war: J gruselte, ] gegruselt, - J eben ] vielleicht eben J gebetene ] geladene J Jänner ] Februar J grimmigen ] verzweiflungsvollen J Ein Fiasko ] Schande J richtigen Taste ] Taste, auf die er gehörte J E 1 151

40,

3 9 13 14 16 17 21 23f. 24f. 30 34f. 40f. 42f.

41,

4 12 17 18 19f.

29 38 42, lOf. 17 19 24 31 36 37 43, 2 4f. 5 5f. 6 152

an ] fehlt J wären ] waren J Angenehmes ] Angenehmes für sie J E 1 die Gefürchtete ] Frau Krämer J E 1 pflichttreu und pünktlich ] fehlt J edles, schmales ] schmales, gelbes J der Tiefe ] fehlt 3 mittelgroße, feine ] dünne, mittelgroße J E 1 unserer Lehrerin ] der Gefürchteten J E 1 nahm bis sich ] setzte sich die von uns beiden, die Stunde hatte, ans Klavier, die andre J Gatten ] Mannes J E 1 fünf bis werden ] zwei Söhne, die auch Musiker werden wollten J E1 fand bis Witzeleien ] konnte sich nicht genug lustig machen J E 1 mit bis Rohr ] ein hölzernes Rohr an den Mund zu führen und mit gespitzten Lippen J Musikvereinssaale ] kleinen Musikvereinssaale J die ] fehlt J Jüngling ] blasser Bursche J E 1 erstaunlicher ] fehlt J E 1 hager bis Augen ] hager, hatte rote Flecken auf den Wangen unter den schwarzen Augen. Er wandte sie J E 1 das ihre ] es J E 1 die Meisterin ) sie J E 1 genialen bis Gewand ] armen Frau im dürftigen, schwarzen Kleid J Fräulein ] Mademoiselle J E 1 sei ] war J machte ] machten J E 1 Rechte; ] Rechte: J E 1 stammelnd ] die Versicherung J wäre ] war J Der bis an ] Das Frühjahr war gekommen J sagten ihre Hausleute ] ließen ihre Hausleute sagen J verreist ] und nachdem auch der zweite zu kränkeln anfing, fortgezogen J nicht, bis Deutschland ] nicht; jedenfalls fort von Wien J schon ] fehlt J

7

aber]jedoch J 1 Tf 1

12 44, 14 37 45, 26 46, 2ff. 2f.

ergreifend ] herzzerreißend J ] unvergeßlich E in Gefahr ] drum und dran J altes bis Tromblon, ] Gewehr, ein ungeheures, altes J Muskete ] alte Flinte J Und noch bis nicht!" (47,19) ] fehlt J E 1 Und bis Katze ] Zu den kleinen, aber unvergesslichen Ereignissen in jener Zeit gehörte auch eine Begegnung mit einer Katze, die sich sehr undankbar gegen mich benahm H ] E entspricht Η , statt unvergesslichen hier aber unvergeßlichen über bis vorbei ] durch den Hof, der zur Allee führt und gebildet wird durch das Haus, die Seitenflügel und durch im Rechteck an diese anstoßende, hohe Blumengestelle H ein Bottich ] eine Bottich H m grausam bis Tiere... ] Tiere quälen können... H jämmerliche! ] arme, arme! H muß bis sein... ] muss noch häßlicher und ganz entsetzlich sein... H E , hier aber muß statt muss H E 2 J E 2 K L enspricht feig sern ] Furcht haben H m hingetreten ] hinzugetreten H dem Bottich ) der Bottich H m scheußliches ] gräuliches H K R2 struppigen ] struppigem H gar ] fehlt H E dem Bottich ] der Bottich H K er ] er mehrmals Η durchaus bis dürfen ] nicht geduldet würden Η eine ] fehlt H m schreckliche ] scheußliche J E 1 Unheimlich ] Unangenehm J ihm bis kommen ] mich von seinem schnöden Nichtsein überzeugen J müßten ] müssen J E 1 eine bis nur ] nur eine Kinderphantasie sie J südöstlich bis Garten ] Ecke, die der Garten im Südosten J E 1 seines bis erscheinen ] ihm erscheinen, das er beherrscht hatte J das Dach bekrönte ] auf dem Dache ragte J war bis Augen ] ließ sie mir von ihm entreißen, war glücklich, wenn sie nur noch wie weiße Pünktchen J 153 p ^

llf.

13 19f. 20f. 23f. 27 28 30 31 32 47, 3 7 16 16f. 18 35 37 48, 2 10 24 49, 19 35f. 50, 5 8f.

ΛΙ/1

12 18 28 30 2 21 33f. 36f. 3 5 18 26 26f. 43f. 9 lOfl 13 2f. 30f.

35 43 10 29 31f. 40 5f. 15 28 36 4

mir ] fehlt J hat ] hatte J lebte ] da lebte J geleitet ] getragen J hat ] hatte J Schön? ] Schön! J werde ] würde J vorbei, bis Menagerie ] vorbei nach der Gegend, in der die Menagerie sich befand J E 1 unsere Tiere eigenhändig ] eigenhändig unsre Tiere J der bis Vierfüßler ] die vollzählig aufmarschierte Menagerie J achten bis wir ] siebenten Jahre an wurden Fritzi und ich J Aufmerksam ] Mit innigster Aufmerksamkeit J machte ihr klar ] stellte ihr vor J E 1 Überraschung bis letzte ] als die letzte Überraschung J E 1 sah bis Handlung ] lächelte uns wohl an, aber traurig und fast wie verlegen. Unsre Überraschung hatte ihm J Zum bis immer. ] "Zum bis immer." J Bald bis gemacht. (54,30) ) fehlt J 1JCO ergreifen ] erfüllen E vernahm bis die ] horchte bis den E 1 Vorwürfe bis sie ] Getadelt wurden wir übrigens wegen der unbefugten Ausübung einer heiligen Handlung nicht. Tadeln war so wenig die Sache unseres lieben geistlichen Herrn! Streng zu sein fiel ihm schwer; er gewann es selten über sich, sogar da, wo es J Zwei bis anno ] Im Jahre 1836 J wegschritt bis lagen ] die auf dem Boden hingestreckt lagen, hinwegschritt J das ] aber völlig (niemand ahnte damals, wie bald sie uns für immer entrissen werden sollte); das J noch ] fehlt J Unwissenheit ] Ignoranz J Fenster!" ] Fenster," J den äußeren ] das äußere J E 1 vollster ] voller J Zeichen ] Lebenszeichen J étoile, gloire ] étoile", "gloire J ] étoile", gloire Druckfehler E 1 Versemachen ] das Versemachen J

58, 13 23 25 59,

8 llf. 60, 14

61,

17f. 5

62, 13 15 19 28 34f. 63, 15 26 32f. 36f.

37 40f. 64, 22 33 35 65, 28 35 66, 17 22 27

67,

28 1 5ff.

eingeladen ] geladen J wieder ] fehlt J Anfang ] allem Anfang J mehr ] wieder J berief bis Fannis ] führte das Beispiel der Mutter Fannis an J wehmütige ] eindringliche J ich bis Begeisterung ] meine Begeisterung mich hinriß und ich J E1 "Pense bis poudre." ] Pense bis poudre. J altem Diener ] alten Dieners J E 1 1 OK"? tot bis sei ] gefangen oder tot sei J E ] tot sei oder gefangen E aber weit älteren ] ihr im Alter aber weit fortgeschrittenen J und bis die ] ganz besonders die Geschichte der J als kleiner Junge ] ein kleiner Junge gewesen und J hätten bis gehabt ] ob wir von der Antwort, die kommen würde, keine Ahnung gehabt hätten J das zwischen ] das, das zwischen J ] das, zwischen E 1 konnte ] kann J von bis erhalten ] einen befremdlichen Eindruck erhalten von der äußeren Erscheinung des berühmten Philosophen J Wort bis mißverstanden." ] Wort: "Ich habe nur einen Schüler gehabt, der mich verstanden, und auch der hat mich mißverstanden", zu zitieren. J Ebenso ] Auch J notwendigen bis Hauptquartiers ] Gelehrten sowohl, die sich im Hauptquartier befanden, wie der vierbeinigen Gepäckträger J am Lehrtisch ] statt beim Deklinieren eines Verbs J Respektablem ] höchst Respektablem J lachte, ] lachte und J dachte ] mir dachte J E 1 aus ] von J E 1 Familien ] Familie J E 1 bemeisterte sich ] nahm sich zusammen J E 1 An bis wir ] In diesem Frühjahr waren wir an einem regnerischen Sonntagnachmittag J Schwarzer ] Schwarzen J überhörte Papa diesen ] schwieg Papa zu diesem J Von bis war (67,9) ] Eine geborne Gräfin Wildenstein, entstammte sie dem Adelsgeschlechte, das schon in grauer Vorzeit 155

die Bestätigung seines uralten Bestehens aus dem erlauchtesten Munde erhalten hatte. Ein Wildenstein, so lautet die Sage, ritt einst im Wald an einem Muttergottesbilde vorbei. Mit andächtigem Gruße zog er sein Barett und senkte es tief vor der Heiligen. Sie lächelte gnädig und sprach: "Setzen Sie auf, Herr Vetter." Die in Zukunft dritte Großmutter machte keinen Aufwand an Liebenswürdigkeit, weder gegen Tante Helene (Großmama hatte sich ferngehalten), noch gegen uns. Auch ihre Tochter verhielt sich kühl, als wir ihr vorgestellt wurden. - J 68, 5 Gesamteindruck ] Eindruck J 6 machten, höchst ] hervorbrachten, im ganzen höchst J E 1 7 kurzsichtigen ] freundlichen, kurzsichtigen J 15ff. Wer bis bekehrt (68,20) ] Wir waren glücklich, wenn Fräulein Marie uns Gedichte vorlas, doch hätten es nicht gar so oft die ihres Landsmannes Karl Egon Ebert sein dürfen. An diesem Poeten erschien mir nur der Taufnahme entzückend; Egon hießen alle Helden meiner ersten deutschen Balladen, und so schön ich die eigenen Produktionen fand, so wenig wollten die Eberts mir gefallen, und darin teilte Fritzi meinen Geschmack. Trotzdem lernten wir eines der Lieblingsgedichte unsrer Marie auswendig und gedachten sie mit dem Hersagen - Fritzi der ersten, ich der zweiten Hälfte zu überraschen. Das Gedicht behandelt die bekannte Sage von dem Mönche, der durch ein Wunder zum Glauben an die Ewigkeit bekehrt wird J 23 dunkle ] die ersten J 26f. verändert bis her ] alles um ihn her verändert J E 1 28 fremd ] fremd sogar J 69, 1 erregten ] erregen J E 1 6 unendlichen ] ewigen J 8ff. Nun bis losbrach. (69,14) ] Wir hatten das Gedicht am Schnürchen, wir hätten es ohne Unterbrechung nach unserm Schulkinderausdruck "herunterradeln" können, wäre nicht ein unübersteigliches Hindernis vorhanden gewesen. Meine Schwester hätte deklamiert bis "und das Rätsel lösen mögen", und dann wäre ich eingefallen, wenn... ja, wenn die zwei Patres, die der Mönch holen lassen will, nur nicht Bernhard und Cyprianus geheißen hätten! Aber diese Namen enthielten für uns die Quintessenz alles Komischen, und wenn der Moment, sie auszusprechen nahte, da 156

15 18f.

21 22f.

34 26 29f.

zuckte es schon und blitzte in Fritzis Gesicht, und ich wand und krümmte mich vor verhaltenem Lachen, während sie ausbrach J übernahm ] übernehmen sollte J So bis überstanden ] Und jedesmal, und so oft wir unser Fräulein mit dem Vordeklamieren ihres Lieblingsgedichtes erfreuen wollten, trat dieselbe Störung ein: wir mußten uns erst ausgelacht haben, bevor wir fortfahren konnten. Marie wartete ruhig, bis der Anfall vorüber J kleinen ] freundlichen, kleinen J Sie bis Gründe ] Sie machte Kindern keinen Vorwurf aus ihrem Lachen oder Weinen, wenn es einem Erwachsenen auch noch so unmotiviert und töricht erscheinen mußte. Sie kannte das junge Kindervolk so gut! Sie wußte: Sensationen, das sind seine Gründe. In vielen Fällen heißt Rechenschaft von ihm verlangen, warum es lacht oder weint, das Unmögliche verlangen J mir] uns J bat ] bitten kam J E 1 Wagens bis konnte ] Wagens, der den Berg heraufgefahren kam und nur der ihre sein konnte, gehört haben J Aufregung ] gespannten Erwartung J verlangten wir ] verlangte uns J E 1

43 43f. 11 zitterte ] fehlt J 32 wunderte ] verwunderte J E 1 2 seinen guten ] den guten, heiteren J 6 Getriebe ] Getreibe J "Kenilworth" ] Kenilworth J 23 24 Bremer ] Bremen Druckfehler J mich erfreut haben ] es vermocht hatten J 35 hatten ] hatte J E 1 5 einst bis senkten ] es einst seine mächtigen Fundamente gesenkt 17 hat J manchen folgenden Tages ] vieler folgender Tage J 25 Marie ] Marie auch J 29 doch ] doch auch J 32 eine ] einige J 8 ergriff jede ] versäumte nie eine J 20 als] wie J 28 Λ

29f.

mütterlich.] mütterlich Druckfehler E stellte bis und - ] stellte - bis und J 157

75,

76,

77,

78,

79,

80,

158

Iff. Im bis ab (75,4) ] Bald darauf begab es sich, daß er wegblieb vom Abendessen, das immer gemeinsam für uns in unserm Lehrzimmer aufgetragen wurde, und die Brüder erst abholen kam, als es Zeit für sie war, schlafen zu gehen J 27f. vielgerühmte bis Knaben ] vielgerühmtes Knabenerziehungsinstitut J 32 des mustergültigen Instituts ] der mustergültigen Anstalt J 18 Ist bis grausam ] Es ist nicht recht J 20 das Rechte ] recht J 22f. die beiden kleinen ] beide J 33 ganz bis Bleistift ] fehlt J 3 auch ] fehlt J 7 Im bis ich ] In demselben Herbste begab sich J 8 mir ] zu meinem Geburtstage J 14 - Das ] - das J 12 freilich ] allerdings J 27 und ] fehlt J 32 Wilhelm ] Wilhelmi J E 1 4 feinem Lustspiel ] Konversationsstück J 5f. saßen bis Kanapee, ] benützten die Damen ein mit Rohrgeflecht überspanntes Kanapee als Sitzgelegenheit; J 14 gestellt ] placiert J 21 und bis schätzten ] zu schätzen und die Treue J 26 begann ] begonnen hat J 37 Neben bis aber ] Bei alledem waren J 38 bei bis standen ] von den Meinen bevorzugten Stücke J 39 gelangten bis Zeit ] beherrschten um jene Zeit nicht gerade das Repertoire, kamen aber J E 1 gelangten ] kamen E 42 entsinne ] besinne J 14 Aussprüche ] Ausbrüche J 17ff. Der bis Ingomar (80,22) ] Die edle Frau und Künstlerin stand mit den Grazien auf schlechtem Fuße. Wenn sie Anmut entfalten wollte, war sie entsetzlich. Zum Beispiel im zweiten Akte, als Parthenia in die Botmäßigkeit der wilden Tektosagen gelangt, sich hinsetzt und Kränze windet. Sie entwickelte diese unwahrscheinliche Tätigkeit mit so eckigen Bewegungen, daß selbst der nachsichtige Häuptling Ingomar die Bewunderung, die er für seine

221 36

37 7 9 10 11 17 241

27 28 29 37 39 11! 15 29 32 35 38 39 9 91 22 25

Gefangene an den Tag legte, nicht wirklich empfinden konnte. Als der "Barbar" J dessen bis geworden ] das ihn Trug und Verrat lehren möchte J Da bis vernehmen ] Jetzt hatte Parthenia es mir endlich recht gemacht - und nicht nur mir. Julie Rettich brachte mit diesen Versen einen Eindruck hervor, der nie versagte. Wie wurden sie aber auch von ihr gesprochen! Wie J der bis Verse ] ihr Wohllaut J ] der Rhythmus dieser Verse E 1 mein treuer ] mir ein J ist ] war J langjährigen ] langjährigen redlichen J Burgtheater-Familienfeste ] Burgtheater-Familienfeste, einer Spezialität von anno dazumal J zustimmenden ] zustimmendem J Lorbeerregen ] Lorbeerhagel J belohnte bis Tränen ] entrichtete bei den rührenden Stellen ihren ehemaligen Kollegen durch strömende Tränen den Dank ] dankte bei den rührenden Stellen ihren ehemaligen Kollegen durch strö1K1 mende Tränen E vermag ] wüßte J erfuhren ] hörten J er bis an ] daß er dem Burgtheater seit vierzig Jahren angehöre J stets] st e t s J E 1 Korn ] Korn, der J Prag bis waren ] Prag, wo ihr Vater und ihr Bruder an Typhus erkrankt waren, berufen wurde J Tag bis abzusehen ] Tag noch nicht abzusehen, an dem sie die Ihren werde verlassen können J sehr bald ] mit der Zeit J Strähne ] Stränge J mögen ] können J E 1 verschwand sie ] war sie verschwunden J E 1 wurde ] fehlt J E 1 Französin ] Französin - eine echte - J deswegen ] deshalb J E 1 Fräulein bis hatte ] sie durch Fräulein Marie empfohlen worden war J ein bis Ehrgeizes ] für uns ein Gipfel des Ruhmes J gerichtet ] gerichtet hatten J E 1 159

30i 3 3 40 4 2

2 17

26 27 30 3 1 38 39 li 5

5i

10 15

18 19 4 2 43

16 21 4 2 5

26

am Ersten jeden Monats ] an jedem ersten des Monats J Schwärmerei ] sodann! Schwärmerei J Zeit bis Mal." ] Zeit" - vielleicht ein nächstes Mal. J einleuchten ] eingehen J behagte ] behaglich war J E 1 Briefen bis richteten! ] Briefen, die Kinder an sie richteten, zu verlieren! J E 1 mir bis mich ] an andern und an mir J bringst, ] bringst, übt ihre Wirkung aus J geübt ] ausgeübt J mitnehmen ] mitnehmen werden J selber ] selbst J E 1 gern ] gern und immer zum Unheil J hatte bis überrascht ] überraschte ich sie J Herzensergießungen. ] Herzensergießungen. Von Stunde an war sie die nachsichtige Vertraute meiner Dichterleiden. J jetzt bis Dichterleiden ] sie J beschwichtigend ] beschwichtigend und salbungsvoll J oft ] tausendmal J leicht ] so leicht J hörten ] erfuhren J E 1 waren ] schienen J ich ] sich J fühle ] fühlte J in ] in der J Überwundenen ] Überwundene J E 1 Albion ] Alboin J E 1 beseelt ] beseelte J teilten ] trafen E 2K1 Λ1/1

29 3 4 9 91 13 141

16 291

sehr ] so sehr E Gebrauch davon ] davon Gebrauch J Urteile ] Sprüche J ] Aussprüche E 1K2 jedes ] jeden J Mädchenschule ] Mädchenerziehungsanstalt J Dort bis Amtes ] Sie waltete ihres Amtes durch viele Jahre zum Nutzen ihrer Schülerinnen, die sie liebten und verehrten J der ] fehlt J Ihre Träger bis erfunden (90,34) ] "Wir befinden uns in der Blumenausstellung, der Baron und ich. Es herrscht ein köstlicher

91,

40 2 6f.

9 11 19 28 92, 25 93,

2ff.

6 8f. 14 14f. 16f. 30 36f. 94, 3 6 7 8

Duft. Wir genießen den Duft, schwelgen in Duft, merken lange nicht, daß mißgünstiges Geflüster sich rings lim uns erhebt, daß wir die Zielscheibe gehässiger Blicke sind. Endlich merken's wir aber doch... Und da kommt auch schon ein Aufseher zu uns, grüßt und sagt: "Entschuldigens, meine Herrschaften, verzeihens. Aber habens die Gnad, und gehens weg. Die Leut beklagen sich, daß ihnen die Herrschaften alles wegriechen mit ihre große Nasen!" Die zweite Anekdote handelte von Perlen J ] entspricht E 1 , hier aber anders: Entschuldigen S' und verzeihen S' und haben S' und gehen' S hin ] fehlt J etwas ] ein köstliches Gut, um etwas J liebevoll bis schön ] zu betrachten; mit liebevollen Augen, denn sie waren schön zum Verlieben J E 1 von den dreien ] der drei J E 1 klar ] unwiderruflich klar J in ähnlichen Fällen ] in einem ähnlichen Falle J E 1 nicht ] durchaus nicht J Theaterstücken ] Theaterstücken (denn als Dramatikerin begann ich mich eifrigst zu betätigen) J verwegenen bis preisgeben (93,5) ] Unsinn müssen die meinen enthalten haben, um den Eindruck hervorzubringen, den sie auf meine geliebte Freundin machten! Sie maß dem Vertrauen, das ich ihr schenkte, zu großen Wert bei, um es durch Zurechtweisungen auf das Spiel zu setzen J werde ] muß J dürfte bis sein ] wird doch immer dasselbe gewesen sein und ungefähr gelautet haben J renommiert! ] renommiert? J E 1 habe bis Marie ] mußte ich geprunkt haben, um sie J um bis erfahren ] damit sie schreiben konnte J Mögliche ] Möglichste J ich bis schrieb ] sondern e r l e b t e im Geiste J beiden ] Kinder J Grabe ] Grabmal J Denkmal ] Denkstein J ist da ] besteht J 161

95,

96,

97,

98,

162

19f. schlug bis auf ] werde ich den zierlichen Band auch wirklich aufgeschlagen haben J 31 für bis erschaffen ] da für sich selbst J 34 Und ] Und ich J lf. Erde bis sich ] Erde, zwischen dem Monde und der Sonne schwebend, ein Bild ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft habe J 5 entsann ] besann J 16 dies ] dieses J 20ff. hat, bis mir." (95,27)] hat?" J E 1 28 schwer ] schwere J 40 wollte ] sollte J E 1 2 kam ] schlich J 17 sich ] sich aber J 18 andere ] viele andere J 18f. Ach sie kamen in Scharen! ] fehlt J 25 vor bis Worte ] da war unter andern J ] da war unter anderem die beiE 1 36 nicht hinweg kam ] immer wieder nachdenken mußte J 38f. dachte bis an, ] tat's ja nicht mit Absicht, es kam von selbst, fiel mich an und schnürte mir das Herz zusammen; J 40f. war bis es ] hatte - gerade da, und es war entsetzlich gewesen der Zweifel J 42 Erde ] Erde vielleicht J 2 fühle bis Nähe ] weiß ich's nicht gewiß J 5 Kind ] liebes Kind J 7 Wie bis ließe ] wieso? wie kann das sein? Wenn es sich erklären ließe, wäre es kein Wunder J 34 sagt ] sagt der Dichter-Philosoph J schön. ] schön. Gegen Ende des Sommers jedoch fand ein Glück sich ein, das uns sehr echt erschien, obwohl es einen Grund hatte. J 15 Tage, bis zubrachten, ] Tage der Anwesenheit unsrer Brüder in Zdißlawitz J 17 Gar bis wieder ] So bald war wieder der Morgen J 23 Papas; ] Papas: J E 1 32 die bis weiden. ] große Scharen Gänse weiden, die hochmütigsten der ganzen Umgebung. Sie bilden sich gewiß ein, daß sie von Gott weiß welchen kapitolinischen Ahnen stammen, die Weltentdeckersgelüste nach der Hanna verschlugen. J

99,

2 9 11 14 19 26 34f.

100, 27 101, 7 14 22f. 33 102, 1 5 9 24 31 103, 11 20 27 104, 1 4 8f. 18f.

25 28f. 32f. 40 41 42 105, 3 12 13

wenigen ] wenig J öffnete ] eröffnete J ihr ] deren J konnte ] könnte J E1 teilte ] teilte in dem Briefe J ungemein warmen ] sehr teilnehmenden J geworden bis Schwester ] und unsre Abreise stand bevor. Vorher aber wollte meine Schwester noch etwas ausführen, was ihr J gelbweis ] gelbweiß J als] in der JE 1 jung, ] jung, hoch in der Farbe J Dieser bis lassen ] Wir erfuhren später, daß dieser sich einer schweren Taktlosigkeit schuldig gemacht hatte J Wir hätten ] Ich hätte J fand ] besaß J abenteuerlichen ] Erfindungen und J E1 gehabt ] gehabt hat J Ihnen ] ihnen Druckfehler J Ein bis er ] Auf ein zweites Steckenpferd schwang er sich J durch - zum ] durch. Zum J sprach ] redete J das "Gott erhalte", ] eine ganze Reihe schöner Akkorde J Schriftstellerberufes ] schriftstellerischen Berufes J wie sie ] fehlt J hat; bis Unzulänglichkeit ] hat, aber an Unzulänglichkeit leidet J Das bis verwandeln ] Die Teilnahme für die Mitstrebenden, die beseelte und anspornte, verwandelt J ] entspricht E1, hier aber Mitstrebende Bettlerin ] klägliche, die verpönte, die Bettlerin J Lächelnd bis foltert, ] Ich sehe jeden, den er foltert, ihn lächelnd verbeißen J machten bis betätigen ] haben sie ihre immer gescheiterten Versuche, sich schriftstellerisch zu betätigen, gemacht J brachte ] brachte ihr J ihres ] des J die ] das sie hatte, die J umstrickte ] umwob und umstrickte J war bis eingebunden ] gedruckt, prächtig eingebunden war es J 1K2 höflichem Lächeln ] stummen Danke E 163

14f. ihrer bis waren ] man ihrer so wenig würdig fand J 16 Anerkennung bis Novellen ] Anerkennung, den ihre Reisebeschreibungen und Novellen fanden, J 18f. sich bis hätten ] gegen ihr Scheiden erhoben worden wären J ] sich gegen ihr Scheiden erhoben E 1 22 aus. ] aus. So blieb sie bis an ihr Ende vor Mangel geschützt. Es war noch eine gute Frucht, die ihr echter Beruf ihr eintrug, der falsche forderte immer neue Opfer. Die ersten wurden leichten Herzens gemacht. J 24f. erscheinen ] drucken J 30ff. betreiben, bis wurde (105,34) ] betreiben/an der sie versprachen, ihre Freude haben zu wollen. "Nein, nein! Manuskripte gehen verloren, die Bücher, die sich jetzt in Kellergewölben häufen, werden ans Licht gelangen. Dann dürften die Menschen sich wundern, daß sie diesen Schatz so lange ungehoben ließen." J 35 ich ] so sagten laut die Ihren, deren Stütze und Hort, deren Leitstern sie war. Ich J 39ff. vortrefflich bis Landschaften (105,41) ] gut, sie schilderte gut mit gesprochenen Worten; sobald sie aber das Gesprochene niederschrieb, zerflossen die Begebenheiten, die Gestalten, die Landschaften J 106, 4 Hilfstätigkeit ] Hilfsbereitschaft J 8 und ] es hätte ihr zu weh getan; und J lOf. einer bis Einsendung ] eines wieder abgelehnten Manuskriptes J 11 Immer bis mich ] Einen immer schwereren Entschluß kostete es mich J 12 zu sein ] sein zu müssen J 17f. war bis Mittagessen ] wohnte ihrem Mittagessen bei J 31 alle übrigen ] die andern alle J 33 ihr zu beweisen ] sie zu überzeugen J 38 Und ] Aber J E 1 39 sehnlichen ] sehnlicheren J 107, 13f. dieser bis Gegenüber ] der Alte J 15 versichert mir ] versicherte mir erst gestern J 15f. zu bis Stock ] zum zweiten Stocke zu ihm J 17f. davon ] fehlt 3 23 Glanz bis prangend ] prangendem Glanz und Reichtum entfaltet J 164

23f. 25 18 23f. 37 6 7 8 10 14f. 19 27 29 1 9 10 llfí

14 20 22f.

26 3f. 10 17 30 10 11

hätten bis sagen ] die einander zu sagen hätten J Die bis die ] Es war wieder Frühling geworden. Die J die ) fehlt J bestürmten ] bedrängten J Von ] Es ging besser, es ging beinahe gut, setzte unser jugendlicher Optimismus hinzu. Von J dürfen. ] dürfen, weil das Rollen des Wagens übers Pflaster mir sehr qualvoll gewesen wäre. J herbei ] zu mir J wollte ] wolle J hat ] hatte J meine bis erwiderte ] die Fragen erwiderte, mit denen ich ihn bestürmte J Bitten bis abgewiesen ] Bitte, uns einfinden zu dürfen, abermals grimmig abweisen lassen J Bild bis hing ] Etablissement stand J Stückchen Himmel ] Stück des mild leuchtenden blauen Himmels J Haube und ] Haube; unbefangen angesteckt an die grauen Scheitel der eigenen Haare waren J versicherte ] versicherte mit Bestimmtheit J entsinne ] besinne J mit bis jetzt (110,13) ] Stunde, die ich mit meiner Großmutter verlebte, daß ich von Zdißlawitz sprach und daß wir nun, da sie fast gesund sei, J kam mir vor ] wie mir vorkam J Atem ] Atmen J Sonne bis Bläue ] Sonne, deren Anblick uns nicht gegönnt war, mußte nun im Zenith stehen, denn der Himmel hatte schon die purpurne Bläue, die seine Königin ihm verleiht, wenn sie den Gipfel ihrer Herrschaft über den Tag erreicht J gerade ] grade J E 1 stieg bis auf ] nach und nach, ein Zeichen ihrer still waltenden Liebe ums andre J hatte ] fehlt J mit ] fehlt J ] mit guten E 1 Fritzi ] meine Schwester J unserem "zu Hause" ] Zdißlawitz J alle ] sie J 165

21 113, 19 23f. 38 114, 2 13 23

24 25 26f. 27 115, 18 27 34 23f. 117, 4 32f. 40 43 118, 10 17f. 20 119, 6 14 16f. 23 41 120, 17 121, 2 5f. 166

holte ] nahm J den Titel desselben ] dessen Titel J E 1 ging] war J brachte bis jetzt ] stellte ich das Buch der Bücher wieder an seinen Platz und jetzt bemerkte ich J "Mit ] Mit Druckfehler E 2 hören ] gehört J seitdem bis ist ] sich seitdem in meinem Besitze befindet J vermeintlich bis wurden ] die mir zur Verfügung standen, um "einen Katalog anzufertigen" J 1 11fl Katalogieren ] Katalogisieren E ] katalogieren E Voll ] Mit J Racine, Corneille ] fehlt J Goethe ] Goethe, Schiller E 1 K 1 meine bis hatte ] die Bibliothek Großmamas nicht ein einziges Werk der Klassiker enthielt J versenkte ] versenkt hatte J Grabesstille ] Totenstille J benutzt ] benützt J E 1 des Kanapees ] der Kanapees J geschenkt, bis ausgestaltete ] geschenkt. J droht ] drohte J E 1 nicht ihn ] ihn nicht J E1 machen. ] machen lassen. - J nach ] zu J Schaudern ] Entrüstung J es bis Lustigkeit ] tolle Lustigkeit hat geherrscht J auch ] auch die Lautesten verstummen, auch J schrien - ] schrien, J schwebt ] schwebte J jungen ] fehlt J E 1 Leben bis sollten ] Leben, in dem seine ehrgeizigen Träume sich nicht erfüllen sollten, von sich J E 1 Lange ] Viele J vortrefflichen ] schönen J sind bis es ] waren es alle J E 1 teures ] liebes J sollte bis begann ] nährte sich nicht mehr von dämmernden Träumen, sie hatte begonnen J E 1

ΠΙ. TEXT- UND WIRKUNGSGESCHICHTE

1. DIE ENTSTEHUNG UND WIRKUNG DES WERKES BIS ZUR ERSTEN BUCHAUSGABE (E1)

Oftmals denke ich, meine Marie, daß auch Sie Ihr Erleben und Erfahren niederschreiben sollten. Nacherleben dürfte ich es ja nicht, dazu bin ich zu alt und Sie noch zu jung. Den Stoff und das schriftstellerische Zeug hätten Sie genug und satt (...).10 Mit diesen Worten versucht Louise von François im Jahre 1892 ihre Dichterfreundin zu einer Selbstdarstellung zu bewegen, und acht Jahre später berichtet Anton Bettelheim im Vorwort seiner ersten Ebner-Biographie von seiner Befürchtimg, mit diesem Unterfangen der Schriftstellerin selbst vorzugreifen. Er schreibt, seit langem habe er an eine Würdigung der Lebensarbeit Marie Ebners gedacht: Gleichwohl verschob ich die Vollendung der weit gediehenen Vorarbeiten in der stillen Erwartung, daß Marie Ebner selbst die nur gelegentlich entstandenen Capitel "Aus meinen Kinder- und Lehrjahren", "Bei meinen Landsleuten" und die Erinnerungen an Louise von François und Betty Paoli weiterführen und zu einem Kunstwerk abrunden würde, das in der deutsch-österreichischen Literatur seinesgleichen nur in der Selbstbiographie Grillparzers hätte.11 Als sich Bettelheim zwanzig Jahre später erneut der Biographie der Dichterin zuwendet, kann er tatsächlich auf umfangreiches autobiographisches Schrifttum der Ebner verweisen, das in der Zeit nach der Jahrhundertwende entstanden ist: Meine Kinderfahre von 1905 und Meine Erinnerungen an Grillparzer von 1916. Welche Rolle die hier zitierten Anregungen für die Motivation der Dichterin zur Abfassung ihrer Autobiographie gespielt haben, kann nicht mehr entschieden werden. Jedenfalls wird deutlich, daß Marie Ebner um die Jahrhundertwende eine Person öffentlichen Interesses geworden ist, deren Leben gleich zwei Biographen zur Darstellung bringen wollen.12 Bei der Analyse der Entstehungsbedingungen der Schrift ist der Blick auf die persönliche Situation der Dichterin aufschlußreich: Von Abschiedsstimmung ist die Zeit um 1900 geprägt, wenn man den Äußerungen in den privaten Zeugnissen Glauben schenkt. Seit Beginn der 90er Jahre sind zahlreiche der engsten Freunde und Vertrauten Marie Ebners gestorben, so neben

10 Mitgeteilt in Bettelheim: Biographische Blätter, S.IVf. 11 Ebd., S.IV. 12 Auch Moritz Necker hat ursprünglich eine Biographie der Dichterin verfassen wollen, dies geht aus einem Brief Marie Ebners an ihn vom 18.8.1898 hervor (BrW 1); sein Wunsch wird zugunsten Bettelheims abgelehnt.

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ihrem Mann, Moritz Ebner, die Freundinnen Louise von François, Betty Paoli, Marie Kittl und Ida Fleischl. Selbstzweifel werden laut, wie sie in einem Brief an den Verleger Julius Rodenberg von 1895 zum Ausdruck kommen: Manchmal überkommt mich ja der Zweifel, ist deine Gestaltungskraft nicht erloschen? Darfst du dir noch etwas zutrauen? 13 Auch der literarische Brief Aus Rom. An meine Freunde, den sie unter dem Eindruck ihres ersten Rom-Aufenthaltes im April 1899 verfaßt hat, verdeutlicht ihre innere Befindlichkeit in diesem Sinne: Für mich ist Rom kein Ausgangspunkt, sondern ein Ziel. Keiner von Euch kann ermessen, was es heißt, im 69. Jahre zum erstenmal seinen Fuß auf die Stätte zu setzen, die einst die Achse der Welt war. Über jeder Offenbarung des Gewaltigen und Schönen, die ich empfing, schwebte der Gedanke an das nahe Scheiden, und nie und niemals verließ mich die Überzeugung: Früchte werden diese goldenen Tage nicht mehr tragen. Ich habe nicht mehr die Zeit und nicht mehr die Kraft zu verwerten, was ich hier erwarb. Ein wehmütiges und doch auch ein köstliches Bewußtsein. Es macht diese jüngste Vergangenheit zu etwas Findigem, in sich Abgeschlossenen, an das kein Wunsch, keine Hoffnung sich knüpft, das nichts sein will, als eine beseligende Erinnerung.14 Über eineinhalb Jahrzehnte ist die Ebner in der Folgezeit noch literarisch tätig; die Rom-Erfahrungen regen sie an, ein Werk zu verfassen, das im Gegensatz zu ihrem sonstigen Schaffen nicht im geographischen und zeitlichen Umfeld ihrer Gegenwart angesiedelt ist, Agave, eine römische RenaissanceNovelle.15 Das Gefühl, am Ende des Lebens angelangt zu sein, verläßt die Dichterin in diesen Jahren jedoch nicht mehr, - sie wendet sich verstärkt ihrer eigenen Vergangenheit zu. Bettelheim berichtet von der Durchsicht alter Tagebücher, mit der sie damals beginnt, und zitiert: Ich arbeite mit Lust und Laune an den Tagebuchauszügen. Eine entschlafene Vergangenheit erweckt, ist nicht immer sehr heiter. Was habe ich ringen müssen um meine Kunst.16

13

Brief vom 6.8.1895. Mitgeteilt in Alkemade, S.26.

14

Marie von Ebner-Eschenbach: Aus Rom. An meine Freunde. Erstmalig abgedruckt in: Die Gartenlaube. Jg.48. Leipzig 1900, S.79ff. Hier S.79.

15

SW 6, S.355ff.

16

Bettelheim: Vermächtnis, S.249.

170

Auch im Vorwort zu den Kinde^ahren kommt die Dichterin ausdrücklich auf eine gewandelte Einstellung gegenüber ihrer Vergangenheit zu sprechen: Sie sieht sich an einem Punkt angelangt, von dem aus es nur noch ein Zurück zum schon Geschehenen gebe, und so erkläre sich auch ihre bessere Erinnerungsfähigkeit (5,3ff.). Anhaltspunkte für das Entstehen der Schrift konnten den Tagebüchern der Dichterin nicht entnommen werden.17 In dem schon erwähnten Arbeits1R • buch mit Vorstudien zu den Kinderjahren findet sich wohl ein Datumseintrag vom September 1903, jedoch verzeichnet das Tagebuch dieses Jahres keinerlei Hinweise auf ein solches Vorhaben. Das Tagebuch des Folgejahres, 1904, gilt als verschollen. Hilfreich für die Rekonstruktion der Textentstehung sind jedoch Briefe der Ebner an den Verleger der Deutschen Rundschau, Julius Rodenberg, die das Goethe- und Schiller-Archiv Weimar archiviert hat. Ein einzelner Brief Rodenbergs an die Dichterin ist zudem bei Bettelheim verzeichnet. Über ihr Vorhaben, eine Autobiographie zu schreiben, äußert sich Marie Ebner erstmals in einem Brief an Rodenberg vom August 1903 aus Zdißlawitz: Nun bin ich hier damit beschäftigt mein litterarisches Haus zu bestellen, ordne meine Correspondenzen, weihe viele Manuscripte dem Feuertode, lese alte Tagebücher durch und dabei kommt mir manchmal der Gedanke ob sich nicht ein Lebensbild zusammen setzen ließe, das nicht gerade langweilig anzumuten brauchte. Haben Sie, lieber, verehrter Freund, nicht einen Schrecken vor Lebensbildern? Wenn Sie sagen: nein, mache ich vielleicht einen Versuch in diesem Genre. Doch werden die Vorarbeiten dazu schwerlich vor vier Wochen fertig werden. (BrWeil) Aus dem Brief geht klar hervor, daß Marie Ebner sich aus eigenem Antrieb an den Verleger gewendet hat und es sich also bei den ΚϊηάεήαΗκη um keine Auftragsarbeit handelt, wie es der Fall bei dem Aufsatz Aus meinen Kinder- und Letyahren gewesen ist.19 Die knappe Terminangabe für die Vorarbeiten zeigt, wie sehr der Dichterin an einer Ausführung ihres Vorhabens gelegen ist. Bettelheim zitiert die prompte Antwort Rodenbergs, der "mit der nächsten Post" verkündet, daß sie ihm und ihren zahllosen Verehrern gewiß nichts Lieberes bieten könnte, als ein "Lebensbild": ihr, der Schöpferin, die so tief in die Seelen

17

Erschienen sind bisher im Rahmen dieser Ausgabe die Tagebücher 1862-1869, Hg. Κ. K. Polheim, Tübingen 1989. Für die späteren Jahrgänge wurden Manuskripte zugrundegelegt, siehe Bibliographie.

18 Siehe S.125ff. 19

Siehe hierzu S.291.

171

und Schicksale der anderen geblickt hat, einmal persönlich zu begegnen, welch ein Gedanke!20 Überschwenglich reagiert Marie Ebner auf diese Zusage am 9. September 1903: Wenn Sie doch gehört hätten, welcher Jubel sich beim Lesen Ihres Briefes erhob! Meine Kinder, (...) denen ich meine kleine Arbeit mitgeteilt hatte, ließen meine Skrupel nicht gelten u. triumphirten, als Sie, bester, verehrtester Freund, nur Worte der Zustimmung für mich hatten. (...) Ich kann nur immer das Wort wiederholen, das Sie gewohnt sind, von mir zu hören: Dank u. Dank! Sie haben mir wieder Mut gemacht u. mit Freude u. Eifer gehe ich an die Schilderung meiner Kinderzeit. (BrWei 2) Die besondere Bedeutimg der neuen Aufgabe geht aus dem folgenden Brief hervor, in dem die Abfassung der Kinderjahre als Genuß vom sonstigen Schaffen abgesetzt wird; die Dichterin schreibt am 24. Oktober 1903: O wie schlecht ist diese Geschichte!21 (...) Sie hat meine ganze Zeit aufgefressen u. mich von dem munter begonnenen Niederschreiben der Kindheitserinnerungen abgezogen. Bald jedoch hoffe ich wieder an die Arbeit - die keine ist u. keine sein darf - gehen zu können. (BrWei 3) Etwa acht Wochen später scheint sich die anfängliche Begeisterung gelegt zu haben, denn erste Zweifel hinsichtlich einer Veröffentlichung melden sich an. Der Brief vom 16. Dezember 1903 lautet: Mit der Kindheitsgeschichte bin ich bis zum achten Kapitel gelangt. Ob sich die Sache zur Veröffentlichung eignen wird, ist eine große Frage. Jedenfalls wird sie Ihnen zur Entscheidung vorgelegt werden. (BrWei 4) Von einer ursprünglichen Kapitelgliederung der Schrift ist schon bei der Untersuchung des Skizzenmaterials die Rede gewesen.22 Auf Seite 29a des Arbeitsbuchs sind Stichworte zu den bedeutendsten Ereignissen der zweiten Hälfte des Textes in entsprechender Reihenfolge aufgelistet und mit den Ziffern IX bis XII versehen; sollte es sich hierbei um die an das erwähnte achte Kapitel anschließenden übrigen vier Kapitel der geplanten Schrift handeln, könnte die Konzeption der ersten Hälfte der Kinderfahre zeitlich festgelegt werden: vom 6. September bis zum 16. Dezember 1903. Kapitelanzahl und Textumfang weisen, wenn dem so ist, Unterschiede auf; von "Moritz", dessen Darstellung demnach in Kapitel IX fiele, ist erstmals die Rede ziemlich genau in der Mitte des Textes. Die auf den folgenden Seiten des 20

Bettelheim: Vermächtnis, S.39.f

21

Gemeint ist die Erzählung Die arme Kleine, erschienen bei Paetel, Berlin 1903.

22

Siehe S.134Í.

172

Arbeitsbuches vermerkten Stichworte beziehen sich alle auf Ereignisse, die in der zweiten Hälfte der Schrift geschildert werden. Über den geplanten zeitlichen Rahmen äußert sich die Dichterin gegenüber dem Verleger erstaunlicherweise bislang nicht. Zweifel am Wert der Arbeit begleiten weiterhin das Schaffen Marie Ebners; hatte sie zunächst die Ausführung überhaupt vom Interesse des Verlegers, d.h. von der Möglichkeit einer Veröffentlichung abhängig machen wollen, so scheint dieser Anspruch sie nun zunehmend zu belasten. Sie schreibt am 4. März 1904: Meine Arbeit, bester, verehrtester Freund, schreitet langsam, bis jetzt aber ohne Unterbrechungen vorwärts. "Meine Kinderjahre" soll sie heißen. In einigen Monaten hoffe ich Ihnen das Manuscript schicken zu können. Wenn Sie dessen einziger Leser bleiben, ist es mir um so lieber. (BrWei 5) Ohne weiteren Kommentar teilt Marie Ebner mit dem Titel erstmals einen inhaltlichen Aspekt mit; ist im ersten Brief an Rodenberg noch ganz allgemein die Rede von einem Lebensbild gewesen, so nimmt die Autorin mit der Begrenzung auf ihre Kinderjahre eine außerordentliche Einschränkung vor, zu der sich Rodenberg sicherlich geäußert haben wird. Dies geht aus ihrem nächsten Schreiben hervor. Zunächst jedoch kündigt sie einen Ortswechsel an, hofft, in Zdißlawitz ungestörter arbeiten zu können; Aufschluß über ihre private Situation geben die folgenden Zeilen: Immer kleiner wird der Kreis der Freunde. Mit Schmerz sieht man einen nach dem andern sich daraus fortstehlen. (BrWei 5) Am 26. April 1904 schließlich erklärt Marie Ebner ihre Entscheidung für den zeitlichen Rahmen der Selbstdarstellung: Die Geschichte meiner Kindeijahre schreitet langsam vorwärts. Ich möchte sie nicht weiter fortführen als bis zum Beginn meines vierzehnten Jahres. Die ganze Zukunft, mein ganzes an äußeren Ereignissen armes Leben ist da schon vorgezeichnet gewesen. Es war bei mir ausgemacht, daß ich die Frau meines lieben Vetters u. eine Schriftstellerin werden würde. (BrWei 6) Die Κΐηάβήίΰιη geben in der Tat Aufschluß über das Werden der jungen Dichterin, die ihre Zukunft sehr genau geplant zu haben scheint; Moritz Ebner jedoch wird lediglich als geistiger Mentor des Mädchens vorgestellt. Bedeutsam ist, daß Marie Ebner an die Vorbestimmtheit ihres ganzen Lebens in der Kindheit glaubt, - eine Einstellung, die in der Schrift selbst immer wieder zum Tragen kommt, die zugleich typisch ist für viele Autobiographen

173

der Kindheit und Jugend; hiervon wird später noch zu reden sein. Noch einmal äußert sie in diesem Brief ihre Bedenken gegen eine Publikation der Schrift, ein neu genannter Faktor ist nun das Votum der Angehörigen: Ob die "Kindheitsgeschichte" Interesse erwecken kann, ob die Meinen mit deren Veröffentlichimg einverstanden sein würden, ist noch die Frage. Jedenfalls bedarf ich ihrer Einwilligung. (BrWei 6) Auf diesen Vorbehalt kommt die Dichterin später jedoch nicht mehr zurück. Zwei Monate nach diesem Brief berichtet sie am 30. Juni 1904 vom Fortgang ihrer Arbeit: Seit vierzehn Tagen bin ich nun hier und zwar noch recht müde, aber viel wohler. An ernste Arbeit ist freilich vorläufig nicht zu denken. Die Jugenderinnerungen sind in den Kinderschuhen stecken geblieben und ich halte es für unmöglich vor etwa einem halben Jahr die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, zu lösen. Gut zu lösen, denn etwas Mittelmäßiges könnte die "Deutsche Rundschau" nicht brauchen. (BrWei 7) Erstmals betont sie hier ihr Bemühen um eine besondere Qualität des Werkes; Rodenberg wird begütigend auf sie eingesprochen haben, denn schon am 6. Juli 1904 antwortet sie: Ihr Brief hat mir die Seelenruhe wiedergegeben und auf das Wärmste danke ich Ihnen. Jetzt heißt es noch eine kleine Karlsbader Kur beenden und dann wird mit Liebe - ich fühle schon ganz leise ihr Erwachen - an die Arbeit gegangen. (BrWei 8) Bald darauf, am 21. Juli, meldet sich Marie Ebner erneut bei Rodenberg, und alle Zweifel und Bedenken hinsichtlich der Publikation scheinen geschwunden zu sein, denn sie stellt schon konkrete Honorarforderungen: Ich glaube, wir dürfen es riskieren. Nur Krankheit würde mich abhalten meine Arbeit unvollendet zu lassen. Wenn mein jetziges, doch leidliches Befinden anhält, hoffe ich, Ihnen mein Manuscript vor dem Eintritt des Winters senden zu können. Es dürfte sechs Bogen der "Deutschen Rundschau" füllen und wenn mein lieber und hochverehrter Herr Herausgeber es annimmt, dann möchte ich von den Herren Gebrüder Paetel dasselbe Honorar erbitten, das Herr Georg Westermann mir für "Agave" bezahlte. (BrWei 9) Der Brief zeigt auch, welchen Wert die Dichterin auf die Meinung Rodenbergs legt:

23

174

Vgl. S.220f.

Doch halt, da fällt mir noch etwas ein. Unter welchem Titel sollen die Erinnerungen erscheinen? "Meine Kindeijahre." "Aus meinen Kindertagen." oder einfach nur: "Kinderjahre." Ich bitte, wählen Sie! (BrWei 9) Rodenberg hat den ursprünglich vorgeschlagenen Titel gewählt, und Marie Ebner ist "vollkommen einverstanden". Im gleichen Schreiben vom 1. August 1904 betont sie nochmals, welche Bedeutimg die Qualität gerade dieses Werkes für sie hat: Bitten möchte ich auch, daß mir nicht ausgedruckte Bogen, sondern Fahnen zugestellt werden, an denen ich ungescheut Änderungen vornehmen kann. Einen Vorzug wenigstens soll meine letzte Arbeit haben: sorgfältig ausgeführt soll sie sein! (BrWei 10) Selbstbewußt rechtfertigt Marie Ebner eine Woche später, am 8. August 1904, ihre Honorarforderung gegenüber vermutlichen Vorbehalten Rodenbergs: Wenn Sie den Anfang der "Kinderjahre" gelesen haben werden, vielleicht sagen Sie dann zu meinen Herren Verlegern: Dieses Manuscript wird nicht zurückgeschickt, mag's noch so viel Geld kosten! (BrWei 11) Am 17. August 1904 kann die Fertigstellung eines ersten Teiles der Erinnerungen angekündigt werden: Ihnen also werde ich in etwa sechs Wochen einen Teil des Manuscriptes zusenden können. Ich könnte es schon heute, wenn nicht ein Charakterbild meines Vaters fehlen würde, das ich vor hatte erst später zu bringen, das aber, wie ich jetzt sehe, besser in eines der ersten Capitel passt. (BrWei 12) Über einen Monat später ist das erste Drittel der Kinderjahre beendet, jedoch: Die allerletzte Feile fehlt noch, die möchte ich erst bei der Durchsicht der Fahnen vornehmen. Auch die Vorrede fehlt u. ist erst in meinem Kopfe fertig gestellt. (BrWei 13) Eine Woche später, am 29. September 1904, bittet die Dichterin um kritische Durchsicht des Zugesandten: Bitte lesen Sie mit dem Bleistift in der Hand. Es wird noch sehr vieles geändert werden müssen. Seien Sie unbarmherzig! (BrWei 14) Bald darauf glaubt Marie Ebner, das Ende ihrer Arbeit überblicken zu können; am 6. Oktober 1904 teilt sie Rodenberg ihre Vorstellungen mit: Ich war in diesen Tagen so fleißig, daß ich wohl hoffen darf in 14 Tagen mit der Niederschrift der "Kinderjahre" fertig zu sein. Dann 14 Tage zur 175

Feile am Manuscript u. in vier Wochen kann es hoffentlich zu Ihnen nach Berlin wandern. Wenn Sie mit dem zweiten Teile der Arbeit auch zufrieden sind, bekomme ich dann die Fahnen nach Rom zugeschickt? - An diesen möchte ich den ganzen Winter bessern u. zuschleifen dürfen. Auch das Vorwort möchte ich dort schreiben. Haben Sie Platz für mich u. ist es Ihnen genehm, könnten vielleicht die "Kinderjahre" im Mai in der "Deutschen Rundschau" erscheinen. (BrWei 15) Ein letztes Mal vor ihrer Abreise nach Rom meldet sie sich am 24. November bei ihrem Verleger: Mein Werk, bester Freund, ist nur zu Dreiviertel fertig geworden, es gibt noch Übergänge zu machen, Lichter aufzusetzen, Schatten anzubringen. Möge mir in Rom Zeit zu ruhiger Arbeit gegönnt sein. In Wien ist dais nicht der Fall; ich bin hier in jeder Hinsicht das Pferd im Blutegel Teich. (BrWei 16) Dem ersten Brief aus Rom vom 15. Dezember 1904 kann entnommen werden, daß Rodenbergs Lektüre der ΚίηάζήαΗτε der Dichterin willkommene Anregungen ermöglicht hat: Einen schönen, schönen Tag hat Ihr teurer Brief mir bereitet. Ja, wenn es wenigstens noch Einige gäbe, die so lesen wie Sie. Aber so liest nur ein Freund, der zugleich auch Dichter ist. Wo ich versage, treten Sie für mich ein u. dann ist alles in schönster Ordnung. Mit Dankbarkeit werde ich mir die Bemerkungen zu nutze machen, die Sie, meine Bitte erfüllend, in mein Manuscript eingetragen haben. (BrWei 17) Zu diesem Zeitpunkt kann Marie Ebner die Schönheiten Roms noch ungetrübt genießen; sie schreibt im gleichen Brief: Auf dem Pincio ist es Sommer, alle meine lieben wohlbekannten Palmen prangen in grünem Sammt, die prachtvollen Fichten in der Villa Borghese sind mit goldigen Zapfen schwer behangen; die Steineichen streuen ihre aromatischen Früchte verschwenderisch aus. (BrWei 17) Kurze Zeit später jedoch beginnt sie zu befürchten, unter dem Einfluß der Stadt ihrem Werk nicht mehr gerecht werden zu können; sie schreibt am 27. Dezember 1904: Wärmsten Herzensdank für alles, besonders für die unschätzbaren Randglossen. Jede einzelne eine Rettung. Und jetzt bitte ich nur auf das Innigste, lassen Sie mir die Fahnen bald zuschicken. Ich habe noch so manches einzutragen und möchte nicht ganz aus der Stimmung kommen, aus der die Jugendjahre hervorwuchsen. Angesichts der gewaltigen Eindrücke, denen man in Rom auf Schritt und Tritt begegnet, erscheint uns,

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was ein einzelnes kleines Menschenschicksal ausmacht, gar leicht so unwichtig, daß man keine Zeit daran wenden mag. (BrWei 18) Auf diesen Ton ist auch das später verfaßte Vorwort der Kindeijahre gestimmt. Tatsächlich scheint Marie Ebner in der Folgezeit in eine neuerliche Schaffenskrise geraten zu sein, so klingt jedenfalls ihr nächster Brief vom 13. Januar 1905: Gestern abends, lieber Freund, hatte ich einen Verzweiflungsanfall. Ich kam vom Pincio u. die Beleuchtung war ausnahmsweise schön gewesen, sogar die Wolken, die sich über der Stadt türmten, hatten etwas monumentales, unermeßlich war die Größe des Eindrucks u. nun kam ich heim u. wollte korrigieren. Das war unmöglich; meine armseligen Kindergeschichten widerten mich ganz einfach an. Wie wenn das schrille Gezirpe einer Grille mir ans Ohr schlüge, nachdem ich einen Löwen gehört hatte, so war's. (...) Ich muß Ihren ersten Brief, den vom II 1 Dezember oft wiederlesen, sonst verfalle ich total in Mutlosigkeit. Die Vorrede kommt demnächst zu Ihnen. Entworfen habe ich sie, aber auch die zu überlesen kostet eine schwere Selbstüberwindung. (BrWei 19) Im Tagebuch vom 15. Januar 1905 vermerkt die Dichterin die Fertigstellung der Vorrede (Tb 1905); am 20. Januar sendet sie sie mit der ersten Hälfte der Korrekturen nach Berlin und betont im Begleitschreiben nochmals ihr Unbehagen (Tb 1905) (BrWei 20). Aus der hier erwähnten Vorrede zitiert Bettelheim den vorläufigen Entwurf des Schlußsatzes: Weil ihr aber eure papiernen Flügel schon entfaltet habt, so fliegt denn, so gut ihr könnt. Und eins nehmt in Acht. Hütet Euch vor dem An0Λ spruchsvollen. Den Rat gebe ich euch mit auf die Reise. Rodenberg erscheint diese Formulierung offensichtlich zu kleinmütig, denn Marie Ebner antwortet ihm am 27. Januar: Wie Sie wollen! - ich werde mich also etwas aufgeblasen stellen, am Schluß der Vorrede. (BrWei 21) Kurz darauf unterbreitet sie dem Verleger eine veränderte Fassung, die in dieser Form später im Druck erscheint (7,12-19). Nach diesem Brief vom 2. Februar (BrWei 22) werden Einzelheiten über die Erscheinungsform der Schrift in der Deutschen Rundschau erörtert.25 Inzwischen nimmt die Dichterin die letzten Korrekturen vor; so schreibt sie am 14. und 19. Februar:

24

Bettelheim: Vermächtnis, S.245f.

25

BrWei 23 bis 25 vom 8., 12. und 13. Februar 1905.

177

Das Vorwort, bester Freund, muß ich noch einmal durchsehen, da hilft nichts. Der Gedanke an eine Kleinigkeit, die noch zu ändern wäre, hat mir schon eine Nacht verdorben. (BrWei 26) O wie gut, daß ich das Vorwort noch einmal lesen durfte! Jetzt wird niemand mehr glauben, daß ich von Einladungen zu Soiréen sprechen will, jetzt hat der Soracte dem Monte Gennaro den ihm gebührenden Platz eingeräumt u. in den Ringen der Riesenschlange werden Reiche erdrückt. (BrWei 27) Am 12. März ist die Arbeit endgültig abgeschlossen, und Marie Ebner kann schreiben: In ungefähr 14 Tagen also. Lang wird das Rundschau-Heft auf meinem Tische liegen bevor ich den Mut fasse u. es aus seiner Umhüllung löse. (BrWei 28) Die Kindeljähre werden, gemäß der Vereinbarung mit Rodenberg (Tb 14.2.1905), in vier Teilen in der Deutschen Rundschau im April, Mai, Juni und Juli 1905 publiziert. Eine erste Bilanz zieht die Dichterin nach dem Erscheinen des April-Heftes; nun ist keine Rede mehr von Zweifeln und Verzagtheit, ihre Sorge gilt jetzt Faktoren, die den Verkauf des geplanten Buches beeinflussen könnten. Am 24. April 1905 schreibt sie an Rodenberg: Dank, Dank für alles. Jetzt freue ich mich auf das Mai-Heft unserer geliebten Rundschau (...). Die "Kinderjahre" haben mir bis jetzt nur Gutes eingetragen, aber mich freut nicht, daß die Zeitungen so viele Auszüge daraus bringen. Ich kenne die Oberflächlichkeit des Publikums. Wenn im nächsten Jahr das Buch erscheint, wird es heißen: Das? ja, das kennen wir, das haben wir ja schon vor der Sintflut in der Zeitung gelesen; uralt ist es. Jenun - Sodann. (BrWei 29) Fast zwei Jahre hat Marie Ebner mit Unterbrechungen an den Κΐηάβήαίικη gearbeitet; in dieser Zeit sind keine weiteren Werke entstanden, ein Zeichen dafür, wie sehr die Rückbesinnung auf ihre Jugend die Dichterin in Anspruch genommen hat. Die Briefe an Rodenberg veranschaulichen die schwankende innere Einstellung zu diesem Werk, dessen Abfassung eben nicht nur Probleme im ästhetischen Bereich aufgeworfen hat, sondern darüber hinaus als "Selbst"-Darstellung ungleich stärker als fiktionale Texte die Preisgabe von Persönlichem herausforderte. Die ausführliche Dokumentation der Briefe an den Verleger rechtfertigt sich durch die Tatsache, daß ansonsten keinerlei Zeugnisse für das Entstehen der Autobiographie vorliegen. Wie schon erwähnt, bietet das Tagebuch von 1903 keine Anhaltspunkte, das Tagebuch von 1904, des Jahres, in dem die eigentliche Ausarbeitung vonstatten gegangen ist, scheint verschollen zu 178

sein, und im Tagebuch von 1905 finden sich nur kurze Vermerke zu den Korrekturarbeiten. Zudem hat auch die Einsicht in zahlreiche Briefe von und an Marie Ebner keine weiteren Informationen erbracht. Von der eindringlichen Wirkung ihrer Autobiographie hat sich die Dichterin schon vor der Drucklegung überzeugen können; im Tagebuch vom 10. Februar 1905 zitiert sie die Worte Professor Loewys, der ihr in Rom bei der Revision hilft: Λ /

Ich habe während des Lesens die Brillen oft herunter nehmen müssen, sie sind mir feucht geworden von Tränen, die ich gelacht - oder geweint habe. (Tb 1905) Ab Anfang April, als der erste Teil der Κιηάβήαίire in der Deutschen Rundschau erscheint, erreichen die Dichterin erste Reaktionen aus ihrem privaten Umfeld, die sie im Tagebuch vermerkt: 4. April Der lieben Mina gefallen die "Kinderjahre" sehr gut. Am Abend kommt von Frau Dr. Rodenberg ein gar herzlicher Brief. Auch sie sehr einverstanden mit den "biogr. Skizzen". 5. April Grfn Giech schreibt unendlich warm u. lieb über die "Kinderjahre". 7. April So lieb von L. Schönfeld üb: "Kinderjahre". 15. April Am Abend erhielt ich von meinem Neffen Adolf aus Constantinopel den schönsten Brief der mir über die "Kindeijahre" geschrieben wurde. 19. April Breuer schrieb so erfreulich über die "Kinderjahre". 16. Juni Alex. Weilen schreibt mir über die zwei ersten Abteilungen von: "Meine Kindeijahre" so herzlich zustimmend, daß es eine Freude ist. (Tb 1905) Einige Briefe sind erhalten geblieben, und darüber hinaus befinden sich im Archiv der Wiener Stadtbibliothek weitere Zeugnisse, die die Wirkung des Werkes auf das zeitgenössische Publikum verdeutlichen. Unmittelbar nach Erscheinen des ersten Teiles schreibt Justina Rodenberg, die Frau des Verlegers, am 2. April 1905: 26 Es handelt sich dabei eineiseits um Korrespondenz aus der Entstehungszeit, die in der Wiener Stadtbibliothek archiviert ist, zum anderen um über zwanzig Briefe von Nathalie von Milde, mit der die Dichterin sich im allgemeinen über ihre Vorhaben austauschte; sie befinden sich im Goethe- und Schillerarchiv der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar (BrWei 30-50).

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Aus der tiefen Ergriffenheit heraus in die mich Ihr "Vorwort" versetzt, in der gerührten Stimmung, die gleich die ersten Seiten Ihrer "Kinderjahre" über mich ausbreiten, drängt es mich zu Ihnen mit aller Macht! (...) Marie Ebner dem Kinde gegenüber aus dem sie hervorgegangen! Und wie schildern Sie dies Kind in der Poesie die es unbewußt einatmet, in dem blauen Licht, das nur dem Kindergemüt leuchtet. Mein Herz schwelgt in diesen Schilderungen der Kinderseele und ich sage mir, daß, wer das kann, nicht alt wird (...). (BrW 2) Überschwengliche Lobes- und Dankbekundungen wie die zitierten stellen unter den Briefen, die Marie Ebner in diesen Tagen erhält, keine Ausnahme dar; häufig wird auf die Identifikationsmöglichkeit, die die Aufzeichnungen böten, verwiesen, so im Brief von Marie Hirsch vom 4. Mai 1905: Sie müssen wissen, seit wir zurück sind, - es sind nur drei Tage, - habe ich mich gleich auf die Rundschau gestürzt und da habe ich in den entzükkenden Kindheitsbildern mit Ihnen gelebt, so intim und mehr, als hätte ich all' das auch gekannt und erfahren. (BrW 3) G cinz ähnlich wirken die Kinderjahre auf Marie Gräfin Giech, die in ihrem Brief vom 4. April schreibt: Zum Schlüsse habe ich mir das Vergelts Gott gespart für die unbeschreiblich große Freude, die Sie uns allen mit den unvergleichlich schönen Kindheitserinnerungen geschenkt haben. Ich habe sie allein gelesen in einer Feiertagsstunde im Garten, bei sanft beleuchtetem Abendhimmel u. ich habe sie mit den Kindern gelesen, jedesmal voll Dank, voll Bewunderung, voll Rührung! Und wie oft ist mir geschrieben, gesagt worden, was ich selbst dabei gefühlt habe! (...) ich darf wohl sagen, wir haben mit Ihnen geweint und gelacht. Als der letzte Akkord verklungen war, - mir schien es wie die schönste Musik - , da ergriff mich ein schmerzliches Heimweh, mit Ihnen weiterleben zu dürfen. (BrW 4) Zu allgemeineren pädagogischen Überlegungen werden andere Leser angeregt, wie aus dem Brief Emilie Exners vom 9. April 1905 hervorgeht: Wie sehr mich Ihre Äußerungen über das Verhältnis zwischen Kindern u. Eltern ergriffen haben, kann ich Ihnen gar nicht sagen. Vielleicht weil dieser Abschnitt meines Lebens sozusagen nun abgeschlossen ist u. man unwillkürlich beim Rückblick zusammenfaßt, wägt, das Resultat dreissigjähriger Arbeit vor Augen hat. Sie haben tausendmal Recht, wir Eltern resignieren viel zu früh, nur wenn die Kinder ihre eigenen Wege gehen auf denen sie uns nicht mehr brauchen, heißt es sich ein neues Leben schaffen um die Lücke auszufüllen. (BrW 5)

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Über die Problematik der Selbstdarstellung aus der Distanz des Erwachsenen zur eigenen Kindheit äußert sich Norbert Davidsohn in seinem Schreiben vom 14. Mai 1905: Die Kinderseele ist ein nicht zu erschöpfender Gegenstand der Betrachtung. Nur das Dasein ohne Zwecke erscheint uns wahrhaft liebenswürdig. Das Zweckmäßige kann Achtung abnötigen, aber die holde Zwecklosigkeit bei den Kindern stimmt wie das Blühen der Blumen; die einen wie die andern sind scheinbar nur um im gegenwärtigen Zustande zu sein. Doch nur wer so voll Güte ist, vermag die Kinderseele, und sei es die eigene, darzustellen. (BrW 6) Bemerkenswert ist, daß der Autor bei Ausführungen über die spezifische Betrachtungsweise kindlichen Seins und die Schwierigkeiten ihrer Erfassung eine moralische Kategorie bemüht, die er der Dichterin zuschreibt. Im folgenden greift er jedoch weiter aus und kommt auf die psychologischen Voraussetzungen für Kindheitsautobiographien zu sprechen: Denn auch die eigene Kinderseele ist doch zum fremden Gegenstand geworden, trotz aller Kontinuität im Menschen. Nun ist es selbst uns doch ein anderes Wesen. Das vordem Unbewußte wird nun von dem Wissenden gedeutet und die Keime und Ansätze nach dem erkannt, wohin sie sich zu entwickeln streben. Ich denke, wer Menschen erfassen will, soll dieses beobachten und aufrichtige Darstellungen aus Kinderzeiten auf sich wirken lassen. Der Mensch, nicht wie er handeln und nicht nach dem, was er leisten, aber der Mensch wie er sein wird, ist im Fünfund Zehnjährigen vorgezeichnet. (BrW 6) Zunächst sieht Davidsohn im schöpferischen Akt des Autobiographen den einer teleologisch ausgerichteten Selbstdeutung im Rückblick gegeben; zugleich aber relativiert er diesen Begriff der Interpretation, indem er auf die Bedeutung der ersten Lebensjahre für die Ausprägung von Psyche und Charakter verweist. Damit ergibt sich ein gewisser Widerspruch zu seiner Annahme eines teleologisch ausgerichteten Verfahrens der Selbstdeutung, den der Autor nicht auflöst, und der in der Tat immer wieder, bis hin zur Diskussion in den letzten Jahren Gegenstand der Betrachtung gewesen ist, wenn man versucht hat, die beiden Faktoren gegeneinander abzuwägen.27 Kunst und Psychologie sind die Kernbegriffe im Schreiben von Josef Breuer, der nicht nur als Arzt, sondern auch als Berater der Dichterin in künstlerischen Fragen über Jahrzehnte hinweg eine wichtige Rolle gespielt hat; er schreibt am 16. April 1905:

27

Siehe die Ausführungen zu Tradition und Forschungsdiskussion S.211ff.

181

Ich danke Ihnen als einer der sehr vielen, für die Sie das Dichteramt verwalten. Mehr noch als vom übrigen "Menschenleben" gilt von der Kindheit: "ein jeder hat's gelebt und wen'gen ist's bewußt." Künstleramt ist, ins Bewußtsein zu rufen, zur Klarheit zu wecken, was in uns andern dumpf schlummert; nicht bloß zu sagen, was er leidet; auch was er erlebt und genossen hat, genießt und durchlebt er heller, klarer, intensiver nochmals, wenn es ihm der Dichter erzählt. So gibt der Poet, der seine eigene Kindheit erzählt, jedem zugleich die seinige, und jeder dankt von Herzen für die Gabe. In einer zweifelvollen Stunde sagten Sie einmal, Sie glaubten kaum, daß die "Kindeijahre" die Menschen interessieren könnten. Wenn Sie so dachten, irrten Sie sehr. Es ist nicht bloß der Reiz eines den meisten doch einigermaßen fremden Milieus; es ist, wie mir scheint, vor allem eben der Glanz, in dem, vom Zauberstab des Dichters berührt, jedem die Kindheit überhaupt erscheint. Doch wie dem sei, das ist gewiß: "Wenn Sie das Leben packen, dann ist es interessant." (...) Natürlich habe ich, wie wohl die meisten Leser, nun auch nachgesehen, was eigentlich ich von meiner Kindheit wüßte. Vielleicht wird's später mehr; jetzt springen fast nur äußere Erlebnisse aus dem Dunkel hervor; (...) Vielleicht erfahre ich auch mehr davon, wenn ich noch älter bin und aus dem Lebensstrom heraus.28 Interessant, daß gerade Breuer als Arzt und Psychologe auf die besondere Bedeutung der künstlerischen Darstellung für die Identifikationsmöglichkeit der Leser abhebt; die Schilderung seiner persönlichen Reaktion auf die Lektüre liest sich wie eine Antwort und Bestätigung der Betrachtungen, die Marie Ebner im Vorwort der Kinderjahre über die Situationsbedingtheit der Erinnerungskapazität anstellt (5,4ff.). Auch Julius Rodenberg, den Verleger, regen die Schilderungen der Dichterin an, sich der eigenen Kindheit zu erinnern, und er, der wohl mehr als andere darum weiß, was in ihr während der Abfassung des Werkes vor sich gegangen ist, geht sogar noch einen Schritt weiter; am 12. September 1905 gratuliert er zum 75. Geburtstag und schreibt: Dieses Ihrer Werke, das alle vorangegangenen krönt, ist auch mir ein heiliges Besitzthum geworden, es hat mich in Stunden des Zweifels erhoben, mit Zuversicht und ruhiger Heiterkeit erfüllt, wenn ich auf die eigene Kindheit blickte. Wie vieles, was schon verblaßt war, ist durch Sie wieder lebendig geworden, trat aus dem Dämmerschein in reinerem Lichte hervor; u. wie gern hätte der Vierundsiebzigjährige diese Mémo28 Mitgeteilt in Robert Kann: Marie von Ebner-Eschenbach - Josef Breuer. Ein Briefwechsel. 1889 -1916. Wien 1969, S.72f. 29 Aus dem jahrzehntelangen Briefwechsel der Dichterin mit Breuer geht übrigens nicht hervor, daß dieser lange mit Freud zusammengearbeitet hat.

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rabilien der Fünfundsiebzigjährigen als Geburtstagsgeschenk dargebracht! - Es ist mir nicht vergönnt gewesen. Äußerlich abgeschlossen wohl, aber innerlich noch unvollendet liegen die Blätter da. Meine Kindheit, wiewohl es auch ihr an Sonne nicht gefehlt hat, ist doch nicht gradlinig verlaufen; zwischen ihr und meinem späteren Leben liegt eine Kluft, die in der Darstellung schwer zu überbrücken ist, ohne auf Bedenken jeder Art zu stoßen. (BrW 7) Rodenbergs Brief spricht eine Funktion der Autobiographie an, über die sich schon Breuer geäußert hat: Die Lektüre wird als eine Art therapeutisches Mittel angesehen, durch die Unvermitteltheit des Stoffes vermöge dieser direkter als Literatur gemeinhin Fragen der eigenen Identitätsfindung zu provozieren und auch bei der Beantwortung helfen. In ihrem Antwortschreiben dankt die Dichterin hochbeglückt für die Zeilen Rodenbergs, ermuntert ihn, seinem Plan treu zu bleiben und bittet ihn für den Fall der Vollendung seiner Lebensgeschichte, sie ihr zu widmen. Allem Anschein nach ist es jedoch nicht dazu gekommen, veröffentlicht hat Rodenberg jedenfalls keine autobiographische Schrift (BrW 8). Thematisch verbunden mit diesen persönlichen Äußerungen über die Kindeqahre ist die einzige Rezension, die für den Zeitschriftenabdruck ermittelt werden konnte; der anonyme Verfasser hebt in der Deutschen Arbeit neben dem künstlerischen den psychologischen Wert der Schrift hervor: Es ist nicht Dichtung und Wahrheit, aber doch jene Wahrheit des Künstlers, die immer zur Dichtung wird, zur Gestaltung eines Lebens, zu jener Form, in die sich unzählige Male die Beobachtungsgabe, die Phantasie, die Seele unserer Dichterin ergossen hat, zur Erzählung. (...) Die Freuden und Leiden der aristokratischen Nursery sind entzückende kleine Humoresken und Miniaturtragödien, Beiträge zur Erforschung der Kinderseele, wie sie wertvoller nicht gedacht werden können.30 Schlicht und einfach Interesse am Leben der Dichterin ist für viele Anlaß genug, die Autobiographie zu lesen; dies geht aus zahlreichen weiteren Schreiben an Marie Ebner in diesem Sommer hervor. So etwa bemerkt W. Jerusalem: Wir haben soeben in der Rundschau Ihre "Kinderjahre" gelesen und uns innig gefreut, daß unsere verehrte Dichterin auch einmal von sich selbst erzählt. (BrW 9) Wie bekannt das Werk bald nach dem Erscheinen geworden ist, bezeugen Freunde Marie Ebners, die sich dafür entschuldigen zu müssen glauben, es noch nicht zu kennen, so etwa August Sauer im Juli 1905: 30 Sonderabdruck aus der Monatsschrift "Deutsche Arbeit". Hg. i. A. d. Gesellschaft z. Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst u. Literatur in Böhmen. Jg.5 (1905).

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Ihre Erinnerungen dagegen habe ich noch nicht gelesen; (...) diese große Freude steht mir also noch bevor. Das, was ich davon gehört habe, macht mich ungemein begierig. (BrW 10) Ganz ähnlich äußert sich auch Ferdinand von Saar am 5. September 1905.31 Einen Sonderfall in der Briefflut stellt das Schreiben Ferdinand Krähmers vom 8. Juli 1905 dar: Ihn als Enkel der Klavierlehrerin Marie Ebners berühren die Schilderungen der Dichterin in ganz besonderer Weise: In den Erinnerungen an Ihre Kindeijahre, die gegenwärtig in der "Deutschen Rundschau" veröffentlicht werden, gelange ich soeben an eine Stelle, die mich veranlaßt, Ihnen aus tiefgerührtem Herzen den Dank für die prächtigen und eindrucksvollen Worte auszudrücken, die Sie dem Andenken einer eigenartigen Frau, meiner Großmutter, widmen. Es ist die Klavierlehrerin, Frau Karoline Krähmer, die ich selbst zwar nie gesehen, aber aus Bildnissen und den Erzählungen meines Vaters in Ihrer so lebensvollen Darstellung sogleich wiedererkannt habe. Die ganze Herbheit dieser Künstlerin, die nach dem frühen Tode ihres Mannes, eines Hofmusikers am Kärtnertor-Theater, die schwere Aufgabe zu erfüllen hatte, ihre fünf Kinder zu erziehen, ist in Ihrer Darstellung wunderbar gekennzeichnet. Die Art ihrer Kleidung und ihrer Verschlossenheit nach außen hin entspricht durchaus den Vorstellungen, die mir geläufig sind. (BrW 11) Dieser Brief hat die Dichterin mit Sicherheit veranlaßt, die Darstellung der Klavierlehrerin inhaltlich und vor allem stilistisch zu überarbeiten, wie die weitere Textgeschichte zeigen wird. Anhand verschiedener Fahnenabzüge und Druckbogen mit handschriftlichen Eintragungen der Dichterin lassen sich Autoreingriffe nach Abschluß der ersten Phase der Textarbeit dokumentieren. Auch das Tagebuch von 1905 enthält Hinweise auf Korrekturen Marie Ebners: Nachdem am 26. Januar sämtliche Korrekturen nach Berlin gesandt wurden, erfolgt bis Ende Februar die Revision. Am 20. des Monats klagt sie: Dreimal haben die Setzer u. Korrektoren trotz meiner dreimaligen Verbesserungen denselben Fehler stehen lassen. (Tb 1905)

31

184

Mitgeteilt in Heinz Kindermann: Briefwechsel zwischen Ferdinand von Saar und Marie von Ebner-Eschenbach. Wien 1957, S.97.

2. DIE TEXTGESCHICHTE DER BEIDEN BUCHAUSGABEN E 1 UND E 2

Unmittelbar nach Publikation des ersten Teiles der Autobiographie in der Deutschen Rundschau hat Marie Ebner in einem Brief an Rodenberg unmißverständlich klarwerden lassen, daß sie mit einer Buchausgabe rechnet.32 Über das weitere Vorgehen sind dem Tagebuch ab Oktober 1905 Informationen zu entnehmen: Am 4. Oktober schickt die Dichterin die ersten 15 Bogen revidiert an Paetel, die restlichen sieben Bogen am 31. Oktober (Tb 1905). Da die Tagebücher von 1906 und 1907 verschollen sind, müssen zur Klärung der weiteren Textgeschichte andere Zeugnisse herangezogen werden: Im Archiv der Stadtbibliothek Wien ist ein Brief von Paetel aus dem Folgejahr archiviert, der unter der Voraussetzung richtiger Datierung (d.h. 26. Juli 1906) Rätsel aufgibt: Hier erst wird das Projekt einer Buchausgabe vorsichtig angesprochen: Wollen Sie uns, hochverehrte Frau Baronin, bei dieser Gelegenheit eine Anfrage gestatten, die wir schon seit langer Zeit an Sie richten wollten? Gedenken Sie in diesem Jahre wohl noch Ihre Kindheitserinnerungen als Buch herauszugeben? Wir meinen, dieser Schatz an Liebe, Frische, Jugend und Nachdenklichkeit sollte nicht mehr länger nur den Rundschaulesern, sondern der Allgemeinheit zugänglich gemacht sein und das Buch Ihres Erwachens müßte so bald wie möglich Allen denen in die Hände kommen, die in Ihnen als der reifsten Meisterin nicht blos eine Dichterin sondern auch eine persönliche Freundin und Führerin erblicken. Wir möchten deshalb vorschlagen, das Buch noch in diesem Jahre herauszugeben. Es würde eine herrliche Gabe zum Weihnachtsfest werden, das ja in deutschen Landen alle Jugend froh und alles Alter wieder jung macht. Die Herstellung ließe sich gewiß unschwer bewirken lassen. Der Satz in der Rundschau ist seiner Zeit auf das genaueste von Ihnen wie von uns revidiert worden - großer Veränderungen für die Buchausgabe würde es also kaum bedürfen. Wir bitten deshalb um ein Wort Ihres prinzipiellen Einverständnisses, um dann alles weitere in die Wege zu leiten. (BrW 12) Angesichts der Tatsache, daß seit Vertragsbeginn mit den Gebrüdern Paetel dem Zeitungsabdruck der poetischen Werke im Abstand von ein, zwei Jahren in der Regel die Buchfassung folgte, ist der zurückhaltende Ton in der Anfrage verwunderlich. Noch verwunderlicher allerdings erscheint dieses

32

Vgl. S.178: BrW 29.

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Schreiben vor dem Hintergrund der genannten Tagebucheinträge: Wieso die Dichterin Ende 1905 eine Revision der Kinderfahre vorgenommen und an Paetel geschickt hat, wenn erst ein dreiviertel Jahr später über den Plan einer Buchausgabe gesprochen wird, - diese Frage hat anhand des vorliegenden Materials nicht geklärt werden können.33 Fahnen und Druckbogen für eine neue Ausgabe der Autobiographie sind in der Wiener Stadtbibliothek archiviert. Durch die Datumsstempel des Verlagshauses sowie weitere Briefe der Gebrüder Paetel an die Dichterin kann der zeitliche Rahmen für die Umarbeitung des Rundschau-Abdiucks (J) rekonstruiert werden. Nach der zitierten Anfrage zur Buchausgabe folgt zwei Wochen später, am 8. August 1906, der nächste Brief mit einem Musterbogen und der Bitte um unverzügliche Rückantwort, da man "wegen des Herbstgeschäftes zum Satz in Fahnen" schreiten müsse (BrW 13). Marie Ebner ist mit dem Musterbogen einverstanden, und die Gebrüder Paetel stimmen ihrem Honorarvorschlag von Mk 1,- pro Exemplar zu: (...) so geben wir das Werk sofort in Satz und lassen Ihnen die Korrektur der Fahnen zugehen. (BrW 14 vom 14. August 1906) Ein erstes Korrekturexemplar umfaßt 21 Bogen (2°) und weist auf der Rückseite des ersten Bogens folgende Eintragungen in der Handschrift der Dichterin auf: Erbitte Korrektur nach Löschna bei Krasna/Mähren. M. Ebner, 23.VIII 06 Der Seitenspiegel stimmt mit der ersten Buchausgabe (E1) überein: Die insgesamt 310 Seiten auf den 21 Bogen entsprechen zunächst genau der Textfassung von J. In Bogen X ist dann - noch ohne Seitenzählung - die in E 1 zusätzlich aufgenommene Anekdote der ersten Beichte (53,10ff.) eingefügt. Dadurch und durch die spätere Einarbeitung der zahlreichen Änderungsvorschläge Marie Ebners haben sich in E 1 in der Endfassung davon geringfügig abweichende Seitenspiegel ergeben. Wann dem Verlag das Manuskript zugegangen ist, kann aus dem vorhandenen Material nicht ermittelt werden. Die handschriftlichen Eintragungen der Dichterin sind im kritischen Apparat als E 1 K 1 gekennzeichnet. Am 24. August 1906 kündigen die Gebrüder Paetel die Zusendimg weiterer Korrekturbogen an und bitten wieder um schnelle Erledigung der Durchsicht, damit das Buch noch vor Beginn des Weihnachtsgeschäfts auf den Markt gebracht werden könne (BrW 15). Datumsstempel vom 26. September bis zum 13. Oktober 1906 weist ein zweites Korrekturexemplar der Kinderfahre auf. Es umfaßt die Bogen 1 bis 33 Denkbar ist eine falsche Datierung im Tagebuch, wie sie für andere Einträge nachgewiesen wurde, vgl. dazu Meine Erinnerungen an Grillpatzer, Abschnitt 111,2.

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17 in 8°, Bogen 18 bis 21 fehlen. Die Änderungsvorschläge der Dichterin von E 1 K 1 sind hier zum großen Teil schon eingearbeitet, weitere Korrekturen laufen im kritischen Apparat unter der Bezeichnung E 1K2 . Außerdem existieren die Bogen 8 bis 11 von E 1 mit den Datumsstempeln 12. und 15. Oktober 1906. Sie weisen keine Korrekturen auf, sondern bilden das Umfeld für die Einschaltung der Katzenanekdote (46,2ff.): Auf S.113 von E 1 ist eine dreiseitige Handschrift eingeklebt; sie hat allerdings erst in die zweite Buchausgabe von 1907 Eingang gefunden (H®2). Am 24. Oktober teilen die Paetels der Dichterin mit, daß die erste Auflage der Kinderfahre in einer Höhe von 3000 Exemplaren hergestellt werde. Man wolle dafür Sorge tragen, daß das Werk schon vor Mitte November ausgegeben werden könne (was auch geschehen ist) (BrW 16). Das vereinbarte Honorar von Mk 3000,- geht Marie Ebner am 10. November 1906 zu (BrW 17). Am 28. Dezember bringt das Verlagshaus seine Zufriedenheit mit dem Absatz des Buches zum Ausdruck (BrW 18). Bald darauf ist schon die Rede von einer zweiten Auflage: Der Verkauf Ihrer "Kinderjahre" ist erfolgreich gewesen (...). Immerhin dürfen wir heute schon sagen, daß wohl zum Herbst mit einer zweiten Auflage zu rechnen ist. (BrW 19 vom 29.1.1907) Die Dichterin wird im selben Schreiben dazu aufgefordert, mit eventuellen Korrekturen schon zu beginnen. Wahrscheinlich ist dies zu einem so frühen Zeitpunkt noch nicht geschehen, denn erst ein halbes Jahr später wird ihr in einem Brief vom 20. Juli 1907 die Frage gestellt, ob sie selbst die Korrekturen zur neuen Auflage zu lesen wünsche (BrW 20). Am 16. August kündigt das Verlagshaus die Zusendung von abgeänderten Bogen für die nächsten Tage an (BrW 21). Im nächsten Brief vom 22. August erklären die Gebrüder Paetel ihre Entscheidimg für den Wandel im Seitenspiegel der zweiten Auflage, den die Ebner kritisiert habe (BrW 22): Der Verlag möchte den Ladenpreis der ersten Auflage beibehalten, jedoch würde sich dieser wegen der Hinzunahme von zwei mehrfarbigen Portraits bedeutend erhöhen; deshalb wolle man an Seiten sparen und nunmehr statt 24 eben 28 Zeilen auf eine Seite nehmen. Die Dichterin scheint sich über die veränderte äußere Ausstattung der Kinderfahre Sorgen gemacht zu haben, denn man beruhigt sie: Das Aeussere des Bandes erleidet dadurch keine Einbusse, da wir ein bedeutend stärkeres Papier gewählt haben, wodurch der Band trotz der Verringerung um 3 Bogen ein stattlicheres Aussehen erhalten wird, als bei der ersten Auflage. Was Sie befürchten, trifft also nicht zu. (BrW 22)

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Zugleich versucht man mit dem Argument, neue Käuferschichten erschließen zu wollen, bei Marie Ebner für das Vorgehen Verständnis zu wekken: Wir müssen bei der Herstellung unserer Werke aber auch Rücksicht auf den veränderten Geschmack des Publikums nehmen. Solche splendiden Ausstattungen, wie sie früher üblich waren und die Sie bei Ihren Werken gern beibehalten sähen, betrachtet das Publikum als längst überlebt; es giebt den Büchern, bei welchen mehr auf der Seite steht, ohneweiteres den Vorzug, wenn nur der Ladenpreis kein unerschwinglicher ist. Und diesem Geschmack müssen wir, wenn wir als Kaufleute richtig handeln wollen, unbedingt entgegenkommen. Wie Sie ja selbst in letzter Zeit durch die vielen Beispiele, bei denen es sich um Ueberlassung von Novellen für Volksbücher handelt, erfahren haben, besteht zur Zeit eine Strömung, die erreichen will, dass auch das minderbegüterte Volk mit den Werken der besseren deutschen Autoren vertraut wird. Da wäre es von uns sehr unklug und auch nicht im Interesse unserer Autoren, wenn wir bei der übertrieben splendiden und dabei veralteten Ausstattung bleiben, die uns zwingen würde, die Ladenpreise immer höher zu schrauben. (BrW 22) Über die Hälfte des neuen Bandes sei bereits gesetzt, teilt das Verlagshaus zugleich mit, dem Sortiment habe man das Erscheinen für den Herbst angekündigt sowie in allen bedeutenden Weihnachtskatalogen Anzeige gemacht (BrW 22). Trotz dieser Erklärungen für die veränderte äußere Form der Ausgabe kritisiert Marie Ebner in der Folgezeit mehrfach das Vorgehen des Verlages und sieht darin den Grund für den in ihren Augen mangelnden geschäftlichen Erfolg der zweiten Buchausgabe. Zunächst belegt ein weiterer Brief der Gebrüder Paetel an die Dichterin den Fortgang der Korrekturarbeiten im August 1907 (BrW 23 vom 2 8 . 8 . 1 9 0 7 ) . Die Stadtbibliothek Wien verzeichnet für den entsprechenden Zeitraum eigenhändige Korrekturen Marie Ebners zur zweiten Auflage. Ein komplettes Exemplar weist Datumsstempel vom 14. August bis zum 27. September 1907 vor, zudem Bogen 1 vom 29. August und Bogen 10 vom 1. Oktober 1907 (8°). Im gleichen Format präsentiert sich ein zweites Korrekturexemplar, die Stempel zeigen Daten vom 11. September bis 7. Oktober 1907; im Apparat sind die Eingriffe der Autorin mit E 2 K 1 und E 2K2 gekennzeichnet; hinzu kommt die schon erwähnte dreiseitige handschriftliche Einschaltung II e 2 , die die Dichterin schon im Oktober 1906 dem Verlag hat zugehen lassen. Fast genau ein Jahr nach der ersten Buchpublikation erscheint im November 1907 die zweite Einzelausgabe der Kindeqahre in einer Höhe von 3000 Exemplaren. Am 28. Oktober sind der Dichterin wiederum Mk 3000,-

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Honorar zugegangen, und der Verlag sieht zuversichtlich dem kommenden Weihnachtsgeschäft entgegen (BrW 24). Offenbar hat Marie Ebner noch einmal an der äußeren Aufmachimg des Bandes Kritik geübt, denn am 18. Januar 1908 sehen sich die Gebrüder Paetel veranlaßt, wiederum auf die schon erwähnten Gründe für ihre Entscheidung zu verweisen (BrW 25). Tatsächlich scheint es Absatzschwierigkeiten gegeben zu haben, wie der Brief vom 3. Mai 1909 zeigt: Weniger günstig ist hingegen das bisherige Resultat des Absatzes von der zweiten Auflage der Kinderfahre, denn von dieser sind erst etwa 700 Exemplare verkauft worden. Doch müssen wir mit diesem Erfolge durchaus zufrieden sein, da zu berücksichtigen ist, dass die erste Auflage in einer Höhe von 3000 Exemplaren erschienen ist, und der Verkauf eines derartigen Werkes selbstverständlich sich langsamer vollzieht, als bei Roman- oder Novellenbänden. (BrW 26) Betroffen schreibt die Dichterin zwei Tage später in ihr Tagebuch: "Paetel gibt die traurige Nachricht, daß von der zweiten Auflage Kinderjahre (3000 Exemplare) erst 700 verkauft sind." (Tb 5.5.1909) In der Folgezeit scheint sie ihrer Klage über die mangelnde Nachfrage gegenüber Paetel Ausdruck gegeben zu haben, denn das Verlagshaus wendet am 2. September 1909 ein: Ihre Aussicht über den geschäftlichen Erfolg der "Kinderjahre" teilen wir nicht, hochverehrte Frau Baronin; wenn berücksichtigt wird, dass von dem Buche schon ca. 4000 Exemplare abgesetzt sind und es sich bei ihm nicht um einen Roman, sondern Memoirenband handelt, so kann man mit dem bisherigen Erfolg ganz zufrieden sein. Zu unserer Freude hält die Nachfrage nach diesem Werke an und seit unserer letzten Mitteilung sind ungefähr 250 Exemplare verkauft worden. (BrW 27) Wieso ein Memoirenband weniger gut im Geschäft "gehen" sollte - ein Einwand, der auch schon im Brief davor angeklungen ist -, darüber können nur Vermutungen angestellt werden; eine Begründimg von seiten des Verlages ist nicht erfolgt. Da ansonsten gerade in der Zeit um die Jahrhundertwende sehr reges Interesse an biographischen Abhandlungen, mithin auch an Autobiographien bestanden hat, und sich so der Verkauf "eines derartigen Werkes" nicht unbedingt langsamer vollziehen muß als der eines Romans oder einer Novelle, kann bei der Argumentation der Gebrüder Paetel von einer Beruhigungstaktik gegenüber der Dichterin ausgegangen werden. Diese Zurückhaltung kommt noch einmal zwei Jahre später zum Ausdruck, als es um Vorschläge für den zehnten Band der Gesammelten Schriften geht. Im Brief vom 18. Januar 1911 nennen die Verleger unter anderem auch die Kinderfahre als zur Verfügung stehendes Werk, wenden jedoch sofort, auch diesmal ohne weitere Begründung ein: 189

Aus dieser Auswahl kommen meines Erachtens vorläufig nicht in Betracht die biographischen "Meine Kindeijahre". (BrW 28) Band 10 der Gesammelten Schriften ist denn auch ohne die Autobiographie noch im Jahre 1911 erschienen; damit endete die Ausgabe. Zu Lebzeiten der Ebner ist keine weitere Fassung der Schrift mehr publiziert worden. So liegen für die Untersuchung der Lesarten mit dem Rundschau-Abdruck und den beiden Buchfassungen insgesamt drei Ausgaben vor: J, E 1 , E 2 ; hinzu kommen die erwähnten Korrekturbogen mit handschriftlichen Eintragungen der Dichterin sowie das Teilmanuskript H K . Als Textzeugen für den Apparat sind damit sämtliche erhaltenen Handschriften und Drucke berücksichtigt, die durch Mitwirkimg der Autorin bzw. deren ausdrückliche Billigung autorisiert sind. Wegen großer Abweichungen inhaltlicher Art und des geringen Umfangs ist das Skizzenmaterial (HS) abgesondert und vorab analysiert worden.34

3. DIE ENTWICKLUNG DES STILS IN DEN DRUCKFASSUNGEN

Die Untersuchung der Lesarten zeigt sowohl im Bereich der Sammelvarianten wie auch im fortlaufenden Verzeichnis, daß die Autoreingriffe während der Umarbeitung vom Zeitschriftenabdruck J zur ersten Buchausgabe E 1 im Verhältnis zur anschließenden Revision für die zweite Buchausgabe E 2 bei weitem überwiegen. Beim Vergleich mit den Varianten der bisher edierten Texte Marie Ebners ist aufgefallen, daß die Κίηάβήαίιτε relativ wenige Veränderungen in der Orthographie aufweisen.35 Man kann davon ausgehen, daß die Autorin zur Abfassungszeit bemüht gewesen ist, die neuen Rechtschreibregelungen zu beherzigen. Dafür spricht auch ihr Schreiben an Breuer ein Jahr vor Beginn der Arbeit an der Autobiographie am 17. August 1902: "An einer 2. Auflage der 'Spätherbsttage' korrigiere ich mich halbtot, wie man jetzt schreiben soll. (Was würde Ida zu unserem neuesten Lehrbüchlein der Rechtschreibkunst gesagt haben?)".36 Ebenso wird bei der Zeichensetzung, die im Vergleich zu früher entstandenen Werken ein wesentlich konsequenteres Vorgehen der Dichterin zeigt, 34

Siehe dazu Abschnitt 11,3.

35

Vgl. S.139.

36

Mitgeteilt in Kann, S.49.

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die Beachtung der gängigen Regelungen eine große Rolle gespielt haben, wenn auch die Vereinheitlichung z.T. erst bei der Überarbeitung von J für die erste Buchausgabe erfolgt ist.37 Daneben treten jedoch Varianten auf, die von dem Bestreben nach stringenterer Darstellungsweise zeugen; sehr häufig werden beispielsweise für E gegenüber J stärker gliedernde Satzzeichen gewählt, d.h. Kommata treten zusätzlich ein oder werden durch Semikolon ersetzt (80 Belegstellen), der umgekehrte Fall findet sich dagegen nur siebenmal. Vor allem in längeren Erzählpassagen wird damit eine bessere logische Gliederung der Sätze erzielt. Diese Funktion wird etwa deutlich bei der Charakterisierung einer Gouvernante: "Ihr Benehmen konnte man nur vortrefflich nennen, sie war weder verlegen noch anmaßend, grüßte schön, aß schön." (82,20f.) Der Ersatz des Kommas durch Semikolon nach "nennen" grenzt die allgemeine Beurteilung des Verhaltens von der konkreteren Beschreibung ab. Ahnlich gelagert ist der Fall bei einer Schilderung Luise Neumanns: "(...) sie ist eben sehr gescheit, sie weiß, wer die englische Sprache beherrscht (...)" (84,18f.). Die im vorgestellten Satzglied gemachte Aussage wird von ihrer Erläuterung im weiteren Gefüge durch den Eintritt eines Semikolons nach "gescheit" in E 1 abgesetzt. Während diese Variante häufig wie in den beiden vorgestellten Beispielen die inhaltliche Substitution einzelner Satzglieder gegenüber vorangestellten verdeutlicht, gibt es andererseits auch Fälle, in denen offensichtlich nur das Lesetempo durch die Wahl eines anderen Satzzeichens verlangsamt werden soll; exemplarisch sei die folgende Belegstelle angeführt: "Adolf glüht vor Blutdurst, Viktors bis zur Pein gesteigerte Spannung gibt ihm einen Stich ins Gelbe, er möchte seine schmächtige Gestalt bis zum Geier hinaufdehnen können, er streckt sich, er hüpft ratlos bald auf der einen, bald auf der anderen Fußspitze." (45,1-5) Durch die Setzung eines Semikolons nach "Gelbe" in E 1 bewirkt die Dichterin eine kurze Pause in diesem außerordentlich langen Gefüge, ohne daß jedoch der Gesamtvorgang unterbrochen wird. Die Neigung Marie Ebners zu diesen epischen Pausenzeichen macht sich auch bei der Überarbeitung von E 1 für die zweite Buchausgabe bemerkbar; dabei ist für den besonderen Fall des Eintritts eines Semikolons für ein Komma eine Auffälligkeit festzustellen: während diese Variante von J auf E 1 von drei Ausnahmen abgesehen nur im letzten Drittel des Textes auftritt, betreffen die entsprechenden Veränderungen von E 1 auf E 2 ausschließlich die übrigen Textpartien. Vermutlich hat sich die Dichterin erst kurz vor Abschluß der Überarbeitung von J, als die meisten Bogen schon in Berlin gewesen sind und ein Eingreifen nicht mehr möglich, zu diesen Eingriffen entschlossen und die noch ausstehenden Korrekturen dann später bei der Revision für E 2 ergänzt.

37

Vgl. S.144ff.

191

Die Tendenz zu nachträglicher Aufgliederung, zur Setzung epischer Pausenzeichen ist übrigens schon von Bittrich für die Autoreingriffe bei der Umarbeitung von J zu E 1 ' 2 des 15 Jahre zuvor entstandenen Werkes Unsühnbar beobachtet worden.38 Dies scheint auf eine zeitunabhängige Komponente in der Arbeitsweise Marie Ebners hinzuweisen; allgemeinere Schlußfolgerungen jedoch sind letztlich erst nach weiteren Untersuchungen ihrer Schriften zulässig. Aus den zahlreichen Interpunktionsvarianten im Übergang von J zu E 1 soll im folgenden eine zweite Gruppe ausgesondert werden. Satzzeichen zur Verstärkung oder Verminderung der Emphase werden ungefähr gleich oft ausgetauscht. Berücksichtigt man bei der Untersuchung dieser Varianten die Perspektive,39 von der aus geschildert wird, wird ein Bestreben nach konsequenterer Abhebung der beiden Ebenen des Erinnerten und des Erinnernden Ich durch diese Eingriffe deutlich. Der einfache Punkt bei der Einleitung einer Passage mit erlebter Rede wird von J auf E 1 beispielsweise durch drei Punkte ersetzt ("Wie neulich während der Wandlung.") (V 96,40), dagegen fallen bei der Schilderung aus dem Blickwinkel der Rückblickenden umgekehrt die drei Punkte weg, und ein einfacher Punkt tritt ein ("Knallen...") (V 24,13). Diese Beobachtung bestätigt sich auch für den Austausch von Punkt durch Ausrufe- und Fragezeichen und umgekehrt. Bei den zahlreichen Wortvarianten macht sich im Übergang von J auf E 1 im allgemeinen das Bestreben nach Abschwächung übersteigerter Formulierungen deutlich. Nur zweimal tritt eine Steigerungsform an die Stelle der ursprünglich einfachen: So wird "Sehr vergällt" zu "vergällt" (V 14,38) und "vollster" zu "voller" (V 56,15). Ansonsten zeugen viele Veränderungen von dem Bemühen Marie Ebners, durch Streichung von verstärkenden Zusätzen oder Wegfall von Komparativ bzw. Superlativ zu einer weniger emphatisch geprägten Sprachgestaltung zu kommen; stellvertretend für die zahlreichen Belegstellen seien folgende Beispiele angeführt: "große Schande" wird zu "Schande" (V 19,28), "Mit innigster Aufmerksamkeit" zu "Aufmerksam" (V 52,18), "höchst Respektablem" zu "Respektablem" (V 64,33), "Möglichste" zu "Mögliche" (V 93,30), "sehnlicheren" zu "sehnlichen" (V 106,39) und "versicherte mit Bestimmtheit" zu "versicherte" (V 110,9). Entsprechend fallen sehr oft die Wörter "gar", "sogar", "auch", "aber", "durchaus" u.ä., insofern sie in nur verstärkender Funktion gebraucht werden, von J auf E 1 fort (Vgl. V 33,2 / V 39,4 / V 50,28 / V 58,25 / V 68,28 / V 73,29 / V 73,32 / V 91,28). Auch durch die Vereinfachung verbaler Mehrfachkonstruktionen wird Emphase zurückgenommen, so bei: "schrie und schluchzte und benahm" zu "benahm" (V 29,40), "umwob und umstrickte" zu "umstrickte" (V 105,3).

38

Bittrich, S.244f.

39

Siehe dazu weitere Ausführungen unten, S.245ff.

192

Die Wahl eines Ausdrucks der Gemeinsprache statt eines Wortes, das allzu deutlich dem Kindervokabular entstammt, zeigt sich wiederholt, so wird etwa "garstige" zu "klägliche" (V 27,3). Bei sehr allgemein gehaltenen Formulierungen greift die Dichterin öfter zu pointierteren in E 1 : aus "schönen" wird "vortrefflichen" (V 119,41), aus "liebes" "teures" (V 121,2). Auch die psychologische Charakterisierimg der Personen erfährt durch veränderte Wortwahl häufig eine Verfeinerung, z.B. wird aus der "zornmütigen" Gouvernante eine "leidenschaftliche" (V 31,16). Weitere Varianten zeigen das Bestreben der Dichterin, in E 1 die Erzählpassagen aus der Perspektive der Rückblickenden stärker einer gehobenen Gemeinsprache anzupassen: Aus "geladene Gesellschaft" wird "gebetene Gesellschaft" (V 39,16), aus "herzzerreißend" "ergreifend" (V 43,12), aus "auf dem Dache ragte" "das Dach bekrönte" (V 50,5), aus "zu Grabe getragen" "zu Grabe geleitet" (V 50,30). Andererseits jedoch tritt manchmal im Erzählbereich des Erinnerten Ich auch der umgekehrte Vorgang ein, so verändert die Dichterin das allgemeine "Unangenehm" entsprechend der kindlichen Empfindungsweise in ein "Unheimlich" (V 47,37). Bei einer Reihe von Verben entscheidet sich Marie Ebner nach dem konkreten Ausdruck in J für einen abstrakteren in E 1 ; statt "lernen" schreibt Sie "konnten" (V 26,30), statt "hören" "glauben" (V 29,37), statt "hörten" "erfuhren" (V 81,28), statt "schlich" "kam" (V 96,2) und statt "redete" "sprach" (V 103,20). Aus dem Textzusammenhang wird auch hier deutlich, daß in diesen Fällen für die Erzählweise der Rückblickenden eine stärker von der Kinderwelt abgesetzte Sprachebene herausgearbeitet werden soll. Die Ersetzung der Verbformen von "besinnen" durch die von "entsinnen" ist sprachlich gerechtfertigt, da die Dichterin das Wort im Sinne von "sich erinnern" gebraucht (V 19,17 / V 35,27 / V 95,5 / V 110,10). Als eindeutigen Vorteil sind die zahlreichen syntaktischen Veränderungen zu werten; häufig werden eingeschobene oder nachgestellte Nebensätze aufgelöst und durch vereinfachte Wendungen ersetzt, zum Beispiel: "Der Reichtum an Geschichten und Anekdoten, über den er verfügte" wird zu "Sein Reichtum an Geschichten und Anekdoten" (V 21,30f.), "Unband, als ich den ersten bitteren Schmerz meines Lebens erfuhr" wird zu "Unband beim Einzug des ersten bitteren Schmerzes in mein Leben" (V 29,41) und "Taste, auf die er gehörte" wird zu "richtigen Taste" (V 39,38). Oft tritt jedoch auch nur eine Umgruppierung der Satzglieder ein, d.h. der Wortlaut bleibt erhalten, durch die Umstellung wird aber die syntaktische Zusammengehörigkeit betont, und der Lesevorgang gestaltet sich flüssiger; dies ist etwa der Fall bei: "Nach Prag, wo ihr Vater und ihr Bruder an Typhus erkrankt waren, berufen wurde" wird zu "nach Prag berufen wurde, wo ihr Vater und ihr Bruder an Typhus erkrankt waren" (V 82,llf.) Seltener findet sich der umgekehrte Vorgang, - durch die Ausgliederung eines Nebensatzes wird dieser in E 1 stärker betont; so ist die Rede von der "Bega193

bung" Marie Kittls, die mit einer echten Begabung Ähnlichkeit "und wahrscheinlich den selben Ursprung hat, aber an Unzulänglichkeit leidet"; dies wird zu " (...) hat; aber sie leidet an Unzulänglichkeit" (V 104,8f.). Eine Straffung des Erzählvorgangs erreicht Marie Ebner in E 1 auch durch Auslassen von Zusätzen, Satzgliedern und ganzen Sätzen, deren Inhalt ohnehin aus dem Textzusammenhang hervorgeht. In J wird das Verhalten der Schwester in der Ball-Anekdote folgendermaßen beschrieben: "Sie hatte plötzlich aufgehört, zu weinen und zu schluchzen. Sie war wie versteinert." Der erste Satz fällt in E 1 weg (V 14,15); dies ist um so mehr angebracht, als zuvor schon erwähnt worden ist: "Fritzi verstummte." (14,13). Entsprechend verbessert hat die Dichterin auch bei der Schilderung des Aderlasses der Kinderfrau; hier ist von deren "verbundenen Arm" die Rede (10,33), und noch im gleichen Satzgefüge findet sich in J die Formulierung "Verband um den Arm", die in E 1 zu "Verband" vereinfacht wird (V 10,35). Auch der Wegfall des Relativsatzes bei "Erzählungen vom Verkehr mit Verstorbenen, von denen er hörte" (V 22,8) ist gerechtfertigt, da sich sein Inhalt zum einen von selbst ergibt, andererseits die Gefahr eines falschen Bezuges auf die "Verstorbenen" bestehen könnte. Nicht allein die Glättung des Erzählvorgangs wird bei einer weiteren Auslassung der Grund für das Eingreifen der Ebner gewesen sein; ausführlich wird die Krankheit der Mutter mit ihren Auswirkungen auf das Erleben der Kinder aus deren Perspektive geschildert. In J findet sich hier der Zusatz: "(niemand ahnte damals, wie bald sie uns für immer entrissen werden sollte)" (V 55,10). Der Wegfall dieses Vorgriffs ist insofern gerechtfertigt, als die Dichterin im allgemeinen bei der Darstellung aus der Perspektive des Erinnerten Ich konsequent im entsprechenden zeitlichen Rahmen verbleibt. Ahnlich ist eine Variante bei einer Jahresangabe zu deuten: Bei dem Rückblick auf die Seuche "Im Jahre 1836" stellt die Dichterin in E 1 durch Zusatz von "Zwei Jahre früher" (V 54,35) nachträglich den zeitlichen Bezug her. Mehrmals werden in E 1 längere Abschnitte ersatzlos weggelassen; so entfällt beispielsweise eine Sage aus der Ahnengeschichte der Stiefmutter Xaverine, die mit deren Charakterisierung in keinem Zusammenhang steht (V 67,5-9). Als überflüssig empfindet Marie Ebner bei der Überarbeitimg von J offensichtlich auch die Ausführungen über die hannakischen Gänse (V 98,32), die in der Tat bei der Beschreibung der heimatlichen Landschaft in Zusammenhang mit der Abreise der Brüder inhaltlich und stilistisch unpassend erscheinen. Bei der Veränderung von weiteren Passagen wird ebenfalls das Bemühen um einheitlichere Gestaltung der beiden Erzählebenen des Erinnerten und des Erinnernden Ich deutlich. So sind die Passagen, in denen die Rückblikkende quasi sekundär Erlebtes wiedergibt, von direkter in indirekte Rede umgewandelt worden; damit bleibt in den späteren Fassungen die direkte Rede als Kennzeichen unvermittelter Wiedergabe auf den Bereich der Kin194

derwelt beschränkt. Dies geschieht von J auf E 1 bei der Schilderung des Schicksals von Marie Kittl (V 105,30ff.), von E 1 auf E 2 bei den Erzählungen Fladungs (V 90,29ff.). Der Übergang von Möglichkeitsformen zum Indikativ zeigt, daß Marie Ebner in zunehmendem Maße den Wahrheitsgehalt des Erinnerten zu unterstreichen bemüht ist, z.B. wird "Mußte ich geprunkt haben" zu "habe ich geprunkt" (V 93,14f.), "schienen mir" zu "waren mir" (V 86,42). Zahlreiche Varianten mit Tempuswechsel sind als Verbesserungen anzusehen, da die z.T. inkonsequente Verfahrensweise in J durch sie vermieden wird (so V 63,26 / V 81,7 / V 87,16). Dies gilt auch für Modusveränderungen, die vor allem im Bereich der häufig gebrauchten indirekten Rede den in J fälschlich gesetzten Indikativ durch Konjunktiv ersetzen (V 40,3 / V 42,19 / V 42,37). Zweimal werden in E 1 statt Fremdwörtern deutsche Entsprechungen gebraucht: "Ignoranz" wird zu "Unwissenheit" (V 55,31) und "Placiert" zu "gestellt" (V 79,14). Im Bereich der Personencharakterisierung weisen die Varianten die Tendenz zu einer positiveren Darstellung der Geschilderten auf; sei es, daß die Dichterin den Verriß ihres Kollegen Egon Ebert in E 1 schlichtweg ausläßt (V 68,15ff.), sei es, daß Verhaltensweisen wie die des Zeichenlehrers einer sehr viel milderen Beurteilung unterzogen werden: Macht sich dieser in J "einer schweren Taktlosigkeit schuldig", so ist in E 1 von einer "kleinen Taktlosigkeit", zu der er sich hinreißen läßt, die Rede (V 101,22f.). Auch die Kritik an der Schauspielerin Julie Rettich wird abgemildert: "Wenn sie Anmut entfalten wollte, war sie entsetzlich" in J wird in E 1 zu: "Der edlen Frau und Künstlerin fehlte der Zauber der Anmut" (V 80,17ff.). Am augenfälligsten sind die Eingriffe bei der Schilderung der Klavierlehrerin Krähmer und ihrer Söhne; am einfachsten scheint hier auch die Erklärung zu sein, die man für die anderen Personendarstellungen gleichfalls vermuten kann: Rücksicht auf das persönliche Umfeld. Dabei ist jedoch eine Besonderheit zu verzeichnen; der Enkel Frau Krähmers, aus dessen Brief die Dichterin sachliche Informationen, die zu Veränderungen im Text führen, entnehmen konnte, hat schon im Juli 1905 an Marie Ebner geschrieben, also lange vor Beginn der Korrekturen für E 1 . 40 Dennoch sind die meisten Varianten - so etwa die veränderte Orthographie des Namens - erst in die zweite Buchausgabe von 1907 eingegangen. In E 1 tritt neu hinzu die Charakterisierung "pflichttreu und pünktlich" (V 40,14), die Frau hat nun nicht mehr ein "schmales, gelbes", sondern ein "edles, schmales" Gesicht (V 40,16), aus der "armen Frau im dürftigen, schwarzen Kleid" wird sie zur "genialen Künstlerin im dürftigen Gewand" (V 42,10f.). Für E 2 werden weitere entsprechende Veränderungen vorgenommen: "dünne, mittelgroße" wird zu

40

Siehe BrW 11,S.184.

195

"mittelgroße, feine" Gestalt (V 40,21), ihr "Mann" zu ihrem "Gatten" (V 40,30), ihr Sohn vom "blassen Burschen" zum "Jüngling" (V 41,17). Hinzu kommen verschiedene sachliche Korrekturen aufgrund der erwähnten zusätzlichen Informationen. Die größte Veränderung der ersten Buchausgabe gegenüber dem Zeitschriftenabdruck stellt die Neuaufnahme einer Anekdote dar, die Schilderung der ersten Beichte des Mädchens mit dem anschließenden Selbstmordversuch (V 53,10 - 54,30). An anderer Stelle in der Autobiographie weist Marie Ebner auf ihre Erzählung Die erste Beichte hin und bestätigt, was die Zeitgenossen längst zu wissen meinen, - in dem im Jahre 1875 publizierten Werk hat sie eigenes Erleben dichterisch gestaltet (9,7ff.). Da es sich bei dem Ereignis um eine grundlegende Erfahrung für die religiöse und psychische Entwicklung des Kindes handelt, ist nicht recht einzusehen, wieso die Aufnahme in die Kinderfahre erst bei der Umarbeitung erfolgt ist, es sei denn, die Dichterin scheut sich zunächst, die schon von der Erzählung her vielen bekannte Episode nun autobiographisch zu "entblößen". Nach dieser detaillierten Beschreibung der Varianten im Übergang von J auf E 1 kann bei der nächsten Stufe der Textgeschichte von E 1 auf E 2 die allgemeine Beobachtimg vorangestellt werden, daß die Dichterin hinsichtlich der Tendenzen in der stilistischen Überarbeitung der ursprünglichen Fassung konsequent weitergeht. Sowohl im Bereich der Syntax als auch der Wortwahl ist einerseits das Bestreben nach Glättung der Sprache, zum anderen nach eindeutigerer Absetzung der beiden Ebenen des Erinnerten und des Erinnernden Ich unverkennbar. Was schon exemplarisch bei der Darstellung der Klavierlehrerin angeführt worden ist, kann also für die gesamte Umarbeitimg der ersten Buchausgabe geltend gemacht werden. Entsprechend sind auch die Veränderungen in der Interpunktion, in Tempus und Modus zu sehen. Dies soll an einigen wenigen Beispielen verdeutlicht werden: So entscheidet sich die Dichterin in E bei der Schilderung der Gouvernante für einen Ausdruck aus der gehobenen Gemeinsprache: "nahm sich zusammen" wird zu "bemeisterte sich" (V 66,22). Eine eindeutige stilistische Verbesserung stellt die Vereinfachung in der Perlen-Episode dar, statt "zu betrachten; mit liebevollen Augen" steht in E 2 "liebevoll zu betrachten" (V 91,6f.). Durch die Veränderung der Syntax wird auch oft der Lesefluß begünstigt, zudem die Betonung der Satzaussage unterstrichen, z.B.: "ihre Zeit mit dem Lesen von Briefen, die Kinder an sie richteten, zu verlieren!" wird zu "ihre Zeit mit dem Lesen von Briefen zu verlieren, die Kinder an sie richteten!" (V 85,17). Ohne daß in der späteren Fassung das Verlieren der Zeit weniger betont wird, ist die Bedeutung des Relativsatzes durch die Nachstellung hervorgehoben. Als Vorteil gegenüber der ursprünglichen Formulierung ist auch der Ersatz passivischer Konstruktionen durch aktivische anzusehen: "weil sie durch Fräulein Marie empfohlen worden war" wird zu "weil Fräulein Marie sie empfohlen hatte" (V 84,9f.). 196

1 o · Die einschneidendste Veränderung von E auf E stellt wiederum die Aufnahme einer zusätzlichen Episode dar; die Dichterin hat, wie erwähnt, schon im Oktober 1906 über die Handschrift dieser Einschaltung verfügt ( H e ) (V 46,2 - 47,19).41 Der Vergleich dieser ursprünglichen Fassung mit der in E 2 ergibt eine leichte Umbewertung der Bedeutung dieses Geschehnisses; zählt es Marie Ebner zunächst einfach zu den "kleinen, aber unvergesslichen Ereignissen jener Zeit", so ist im Druck die Rede von einem "an Gemütsbewegung nicht minder reichen Erlebnis" (V 46,2). Damit schließt die Schilderung zum einen enger an die unmittelbar vorangehende GeierEpisode an, zugleich deutet die Dichterin an, wieso ihr an der Aufnahme dieser Ereignisse gelegen ist: Sie veranschaulichen die Gemütsbewegungen des Kindes in der aufgelockerten Form einer Anekdote. Unmittelbar im Anschluß an die Katzengeschichte schildert sie gleichsam auf einer höheren Ebene ihre Gedanken- und Gefühlswelt zu dieser Zeit, wenn sie auf ihre Wirklichkeitszweifel zu sprechen kommt (47,20ff.). Die Varianten von H auf E 2 zeugen wiederum vom Bemühen um eine Reduzierung des ursprünglich stark emphatisch gehaltenen Kindervokabulars: Aus "Arme, arme" wird "jämmerliche" (V 46,20), aus "häßlich" wird "herzzerreißend" (V 46,22), aus "gräuliches" wird "scheußliches" (V 46,31). Auch die veränderten Formulierungen verbleiben jedoch im Bereich der kindlichen Ausdrucksweise, die der Erzählperspektive in der Episode entspricht.

4. E 2 ALS GRUNDLAGE DES KRITISCHEN TEXTES

Im Anschluß an die Charakterisierung der zu Lebzeiten Marie Ebners erschienenen drei Fassungen der Kindejahre stellt sich die Frage nach den Kriterien für die Auswahl des kritischen Textes. Das Problem der Autorisation ist schon an anderer Stelle erwähnt worden;42 aufgrund der Informationen aus dem Briefwechsel der Dichterin mit Rodenberg und Paetel sowie durch das Vorliegen von handschriftlichen Verfasserkorrekturen für beide Stufen der Werküberarbeitung sind die Bedingungen für die Autorisation sämtlicher Ausgaben erfüllt.

41 Siehe S.187. 42 Siehe S.190.

197

Weil bei der Auswahl des kritischen Textes vorab alle Verfahren, bei denen verschiedene Lesarten gemischt werden, ausgeschlossen sind, muß der Herausgeber die Entscheidung für eine Fassung treffen. Während in der Editionspraxis lange Zeit das Prinzip der "Ausgabe letzter Hand" dominierte, tendierte man neuerlich eher dahin, den Frühfassungen den Vorzug zu geben, d.h. [daß] eine Textfassung vollständig geboten wird, die den Intentionen des Autors bei oder kurz nach der Ausarbeitung des Werkes entspricht, daß also das Ergebnis der unmittelbaren Arbeit am Werk vollständig geboten wird.43 In beiden Ansätzen wird letztlich ein bestimmter Abschnitt in der Entstehungsgeschichte konserviert. Gerade am Beispiel eines poetischen Textes von Marie Ebner ist verdeutlicht worden, daß sich durch spätere Eingriffe der Dichterin der Sinngehalt des Werkes veränderte und der Editor somit vor der Aufgabe steht, sich zwischen zwei Interpretationsansätzen zu entscheiden.44 Damit kommt als bestimmende Instanz für die Wahl des Herausgebers die ästhetische Wertung des Textes in Frage. Dies steht zu den Meinungen der Vertreter des Prinzips erster oder letzter Hand im Grunde nicht in Widerspruch, denn die Entscheidung für den "ersten Wurf oder aber die überarbeitete spätere Fassung beruht letztendlich auch auf einem Werturteil. Nach dem jahrzehntelangen Hin und Her steht der Editor heute "in einem erfreulich vorurteilslosen Raum", umso mehr kommt ihm dabei die Aufgabe zu, die Beweggründe seiner Entscheidung für eine Ausgabe klar darzulegen und anhand ausführlicher Dokumentation der Textgeschichte eine kritische Stellungnahme der Leser zu ermöglichen.45 Bezieht man diese Überlegungen nun auf autobiographische Texte, so muß vorab die unterschiedliche Verfahrensweise bei der Konzeption eines poetischen Werkes und einer Selbstdarstellung berücksichtigt werden. Geht der Autor bei ersterem von einer in sich geschlossenen, von ihm erdachten und von ihm begrenzten Welt mit ihrem eigenen Aussagecharakter aus, so steht dem hier das in dauernder Entwicklung befindliche Bewußtsein seiner selbst und seines Gewordenseins gegenüber. Im Vergleich zum Roman etwa vermag die Autobiographie kaum den Eindruck letztendlicher Erfüllung zu bieten,

43

Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hg. G.Martens u. H.Zeller. München 1970. S.35. 44 Bs handelt sich um Unsühnbar, vgl. Bittrich, S.235ff. 45

198

So Karl Konrad Polheim in der Einführung von: Ferdinand von Saar Kritische Texte und Deutungen. Hg. K.K.Pohlheim. Bd 1: Marianne. Hg. Regine Kopp. Bonn 1980. S.X.

der Lebensrhythmus schwingt durch das Offenstehen zum Autor gleichsam weiter, das Rätsel der eigenen Existenz ist im Grunde nie völlig gelöst.46 Voraussetzung dabei ist die strikte Trennung von historischem und autobiographischem Ich, d.h. das Wissen um die Unwiederholbarkeit der Realität, da die Sprache selbst bereits Fiktionscharakter hat. Hinzu kommt als bestimmende Instanz das Gedächtnis; sobald der Autor beginnt, seine Vergangenheit zu reflektieren und dabei den Plan einer wie auch immer gearteten strukturierten Niederlegung zu verfolgen, kommt das teleologische Prinzip als Manipulationsfaktor der Erinnerung zum Tragen: L'illusion commence d'ailleurs dès le moment où le récit donne un sens à l'événement, qui, lorsqu'il avait lieu, en avait sans doute plusieurs et peutêtre aucun. Ce postulat du sens dicte le choix des faits à retenir, des détails à relever ou à écarter, selon l'exigence de l'intelligibilité préconçue.47 Zumindest den partiellen Charakter der Schrift hat Marie Ebner ausdrücklich betont und in diesem Zusammenhang ihr Erinnerungsvermögen angesprochen, dies geschieht im Vorwort (5,4ff.), darauf verweist auch der Untertitel des Werkes: Biographische Skizzen. Es ist nun bei einer solchen Sachlage nicht möglich, Anhaltspunkte für bewußtes oder aber unbewußtes Zurückstellen gewisser Episoden, für eine veränderte Beurteilung in der Charakterisierung bestimmter Personen auszumachen, allein das Faktum der nachträglichen Umarbeitung zählt. Dabei hat sich erwiesen, daß die Dichterin zumindest im Bereich der Selbstdarstellung zunehmend um ein stringenteres Bild der kindlichen Entwicklung bemüht ist, - eine Tendenz, die sich schon seit dem Skizzenmaterial abzeichnet. Die Aufnahme, neuer Anekdoten, in deren Zentrum das Erinnerte Ich in typischen Situationen der Selbstund Welterfahrung steht, bereichert dabei die Darstellung der kindlichen Psyche um weitere Facetten. Hinzu kommt die konsequente Ausarbeitung im stilistischen Bereich der beiden Ebenen des Erinnernden und des Erinnerten Ich. Sowohl in formaler wie auch in inhaltlicher Hinsicht bietet sich damit letzlich die Wahl der zweiten Buchausgabe für die Edition an.

46

Ingrid Aichinger Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk. In: Österreich in Geschichte und Literatur. Jg.14.1970. S.428. 47 Georges Gusdorf: Conditions et limites de l'autobiographie. In: Festgabe für F. Neubert. Formen der Selbstdarstellung. Berlin 1956. S.117.

199

5. DIE REZENSIONEN

Während für den Zeitschriftenabdruck der Autobiographie nur eine einzige Rezension ermittelt werden konnte, liegen für die Zeit nach dem Erscheinen der beiden Buchfassungen eine ganze Reihe von Zeugnissen vor. Als erster meldet sich im Dezember 1906, also unmittelbar nach der Publikation von E 1 , Moritz Necker zu Wort: Marie von Ebner-Eschenbach mußte das hohe Alter von fünfundsiebzig Jahren erreichen, ehe es ihr gelang, ihre ursprüngliche Scheu zu überwinden, persönlich anders als durch ihre Dichtungen vor die Oeffentlichkeit zu treten, um endlich autobiographische Skizzen niederzuschreiben, die uns nun in einem bescheidenen Bande vorliegen. Zwar haben ihre Werke einen reichen Zusatz persönlicher Bekenntnisse; für jeden, der lesen kann, war es immer klar, wie viel innere eigene Erlebnisse diese Dichterin in ihre so runden und abgeschlossenen Erzählungen hineinverflocht; aber jeder Zumutung, etwas aus ihrem eigenen Leben zu erzählen, leistete sie in den allermeisten Fällen beharrlichen Widerstand: sie hätte nichts erlebt und demnach nichts zu erzählen. (...) Sie ist auch jetzt in den "Kinderjahren" weit davon entfernt, sich interessant zu machen, sondern bietet wieder - wiewohl sie es nicht Wort haben ifi will - ein dichterisches Werk. Necker geht, und das ist durchaus typisch für die Reaktion der Zeitgenossen, auf die Charakterisierimg des Gesamtwerks als Erlebnisdichtung ein; einerseits wird die Schrift also als persönliche Mitteilung einer prominenten Persönlichkeit angesehen, zum anderen aber auch als Quellenfundus für die Betrachtung der poetischen Schriften; zugleich spricht der Autor die ästhetische Qualität - die dichterische - des Werkes an. Zu den Intentionen der Schriftstellerin äußert sich Necker wie folgt: Zweierlei Absichten verfolgt das Buch, eine äußerliche und eine innerliche. Marie Ebner will die Atmosphäre vergegenwärtigen, in der sie ihre entscheidenden Eindrücke empfing: das freiherrliche, bald gräfliche Vaterhaus der Dubskys in Wien, die altväterliche Erziehung durch Gouvernanten und Hauslehrer, die Typen der Familie·., die Kinderfreuden und -leiden. Und da bewährt sich ihre Meisterschaft in der Erzählung und Charakteristik. Sodann aber verfolgt sie einen noch tieferen Zweck. (...) Seit ihrem zehnten Jahre dichtete die Komtesse, füllte alle Schultheken mit Versen; in ihrem zwölften hatte sie - wie die Ebner einmal selbst erzählte (...) den Entschluß gefaßt, die erste Dramatikerin zu werden. Einen näheren 48

200

Moritz Necker in: Die Zeit. Nr.1510 (6.12.1906).

Kommentar nun zu diesen schon bekannten Tatsachen bietet ihr neues Buch und bietet ihn so schön, so reichhaltig, mit so viel tiefer psychologischer Einsicht, mit soviel elegischem Humor, daß man sich dem feinen Reiz der Darstellung gar nicht entziehen kann; (...). Das ganze Buch ist von dem goldenen Abendrot überstrahlt, das das Alter unserer Dichterin verklärt. Ihren "Kinderjahren" wird in der Reihe ihrer Schöpfungen eine ebenso ausgezeichnete Stellung zugestanden werden wie Theodor Fontanes gleichnamiges Buch als eines seiner schönsten anerkannt wurde.49 Für eine weitere Rezensentin sind die Kinderfahre Anlaß, den allgemeinen Wandel in der Betrachtung der Kindheit anzusprechen; so schreibt Gabriele Reuter im April 1907: Die Psychologie der jüngsten nimmt heute einen breiten Raum in der Literatur ein, und ganz gewiß mit Recht. Man bemüht sich, das Kind nicht mehr mit den Augen des Erwachsenen, gewissermaßen sentimental-humoristisch zu sehen oder es nur als freundliches Dekorationsmittel zu benutzen, sondern sucht sich mit Umgehung der gerade auf diesem Gebiet so üppig wuchernden Konventionen aufrichtig in die Wunder, die Leiden, Freuden und Kämpfe der eigenen Kindheit zurückzuversetzen. Denn schließlich schöpft man auch hier nur aus dem eigen Erlebten Erkenntnisse, die weiterwirkend uns die Jugend um uns her und unsere eigenen Kinder verstehen lernen. Man sieht hier nun mehr und mehr, daß "Kindheit" nicht ein Typisches ist, sondern etwas höchst Individuelles, daß Kinder die Welt, ihre Umgebimg und sich selbst in derselben Mannigfaltigkeit erleben wie die erwachsenen Menschen.50 Als einen Beleg für die künstlerische Schaffenskraft von Frauen führt Enrika von Handel-Mazzetti die Kinderfahre an; bezeichnenderweise jedoch wird nicht die gestalterische Fähigkeit, sondern die moralische Integrität der Autorin als Beurteilungsmaßstab angelegt: Es wurde neulich mit viel Geist und durchaus sachlich der Beweis angetreten, die Frau sei ihrem Wesen nach nie schaffende Künstlerin, bestenfalls Nachempfinderin. - Das Wort gibt zu denken. Sicher haben nur ganz wenige Dokumente der Frauenkunst über hundert Jahre hinaus gelebt. Dennoch, g a n z sollte man der Frau geniale Schaffensfähigkeit nicht absprechen. Wenn sich gerade die im Frauentum gelegenen Werte, die Güte, Liebe, Hingebung an Religiöses, aus edlem Frauenherzen quellend, in einem hellen, lebhaften, beweglichen Frauengeiste zu künst49 Ebd. 50 Gabriele Reuter Marie von Ebner-Eschenbach: Meine Kindeljahre. In: Der Tag. Nr.179 (10.4.1907).

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lerischen Gebilden verdichten, sollte der Frau für eine solche geistige Betätigung nicht der Titel einer Künstlerin zukommen? Marie von Ebners wundervolle Persönlichkeit bejaht uns dies. Ihr ward der Titel Künstlerin noch nie abgesprochen, und vielleicht darum nicht, weil sie als Künstlerin immer Frau geblieben ist.51 Diese Einleitung einer Rezension der Κΐηάβήαίικ ist symptomatisch für die Beurteilung Marie Ebners seitens ihrer Zeitgenossen; oft wird ihr Künstlertum an der Sittlichkeit ihrer Persönlichkeit gemessen, so auch hier der Wert der Autobiographie; später wird ein Vergleich mit Goethes Selbstdarstellung gezogen: Kulturhistorisch und poetisch sind diese Schilderungen gleich köstlich. Der echte Vormärz und zugleich das verklärte selige Kindermärchenland, gleichwie Goethes erste Kapitel in "Dichtung und Wahrheit" echt Altfrankfurt und daneben Hätschelhänschens Wunderland uns schauen lassen...52 In allen weiteren Rezensionen zu den ΚιηάεήαίΐΓβη dominieren durchweg Inhaltsparaphrasen, lediglich ab und zu wird die kulturhistorische und pädagogische Bedeutung oder der Quellenwert der Schrift für die Ebnerforschung angesprochen; es ergeben sich keine neuen Aspekte gegenüber den schon vorgestellten Rezensionen, deren Darstellung hiermit abgeschlossen werden soll.

6. DIE WEITERE TEXTGESCHICHTE

Noch zu Lebzeiten der Dichterin erscheint ein Teilabdruck der ßnelerjahre als Schulausgabe; das Datum ist nicht mehr zu ermitteln, Hinweise gibt jedoch ein Brief der Gebrüder Paetel vom 2. Juni 1911: Für Abdruck eines Kapitels "Meine Kindeijahre" in "Castles Schulausgaben" (Karl Graeser & Co in Wien) Mk 63,50. (BrW 30)

51

Enrika von Handel-Mazzetti: Marie von Ebner-Eschenbach: Meine Kindeijahre. In: Augsburger Nachrichten. Nr. 206 (6.9.1910).

52

Ebd.

202

Wiedergegeben sind hier auf 38 Seiten (8°) Auszüge vom Beginn der Schrift bis fast zum Ende - also nicht nur ein Kapitel; interessant ist neben der Tatsache, daß die Kinderfatire so offensichtlich als pädagogisches Anschauungsmaterial gelesen werden,53 auch die Kombination mit Auszügen aus einer weiteren Autobiographie, - Wilhelm von Kügelgens Jugenderinnerungen eines alten Mannes, die damals wie heute als d i e Jugendautobiographie des 19. Jahrhunderts angesehen werden.54 Bis zum Tode der Dichterin werden die Kinderfahre nicht mehr publiziert. 1920 veranstaltet Paetel die bis heute meistzitierte Ausgabe der Sämtlichen Werke Marie Ebners, in die auch die Autobiographie aufgenommen ist; diese Ausgabe wird 1928 bei Schmidt und Günther in Leipzig nachgedruckt. 1924 erscheint ein weiterer Teilabdruck unter dem Titel Marie von EbnerEschenbach. Meine Kinderfahre in der Reihe der Jugendrotkreuzbücher in Wien. Auf 123 Seiten (8°) finden sich Auszüge vom Anfang der Schrift bis zur Schilderung des Todes der Großmutter (112,6). Erst für 1947 verzeichnen die Bibliothekskataloge einen weiteren Abdruck der Autobiographie in der einbändigen Teilausgabe von Josef Lackner beim Österreichischen Verlag für Belletristik und Wissenschaft in Wien. 1953 folgt ein Band mit den Meistererzählungen der Dichterin und einem Anhang Aphorismen und Erinnerungen in der Reihe Manesse-Bibliothek der Weltliteratur in Zürich, Herausgeber ist Albert Bettex. 1958 erscheint der nächste Abdruck im dritten Band der von Johannes Klein besorgten Teilausgabe der Werke bei Winkler, ein Jahr später legt Edgar Gross einen Band Erinnerungen der Dichterin im Nymphenburger Verlag, München, vor. Eine Teilsammlung Erinnerungen und Erzählungen wird 1962 beim Österreichischen Bundesverlag von Johann Hanisch und Johann Lenz herausgegeben. 1969 folgt ein Abdruck in der von Alice Koch betreuten Ausgabe von ausgewählten Werken in der Reihe der Aufbau-Klassiker, herausgegeben von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar; die vierte Auflage ist 1978 erschienen. 1970 schließlich erfolgt eine Ausgabe bei Kiepenheuer in Weimar, die Friedrich Minckwitz besorgt hat. Abschließend soll ein kurzer Blick auf die Äußerungen der Herausgeber in den Nachworten weiteren Aufschluß über die Rezeption der Schrift geben. Josef Lackner spricht in seinem Kommentar zur Teilausgabe von 1947 von einem Buch "voll menschlicher Wärme und schönstem Humor, das die

53

Im gleichen Jahre gestattete der Verlag auch einem Lehrer in Altona den Abdruck von vier Seiten (BrW 29).

54

Meine Kindeijahre. Biographische Skizzen von Marie von Ebner-Eschenbach. In Auswahl. Aus den Jugenderinnerungen eines alten Mannes (Wilhelm von Kügelgen). Hg. Ed. Castle. Wien oJ. ( = Graesers Schulausgaben klassischer Werke, Heft 81).

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Nachfahren immer zu den liebenswürdigsten Kulturbildern aus dem alten Österreich zählen werden."55 Als einziger geht Johannes Klein auf die Erzähltechnik in den autobiographischen Werken ein: Die eigentlichen autobiographischen Mitteilungen verraten dann auf Schritt und Tritt die große Erzählerin; man erkennt die Technik, die sie ausgebildet hat, wieder, denn die Menschen werden bildhaft deutlich, die Situationen werden scharf abgegrenzt. Kenner ihres Werkes werden viele Motive der Romane, Erzählungen und so weiter wiedererkennen.56 Friedrich Minckwitz schließlich bemüht sich um eine Rehabilitierung der von der Autorin selbst - wie er meint - und vom Publikum zu Unrecht wenig beachteten biographischen Skizzen: Man entdeckt in diesen so schlichten Berichten aus dem Kinder- und Familienalltag nicht nur neue Schönheiten und Reize, sondern überdies kommt einem Marie Ebner-Eschenbach als Mensch wie als Dichterin seltsam nahe, tritt gewissermaßen die Morphe, die Grundgestalt ihres Wesens hervor, von der alles, was sie schuf, geprägt wurde, wenn nicht gar die in diesen Erinnerungen wieder zum Leben erweckte Kindheit überhaupt der Nährboden ihres schöpferischen Genius ist, allerdings erst dann fruchtbar werdend, als (...) sie sich dieser Kindheit als eines ganz zu einem Inneren und Innersten Gewordenen erinnert, aus dem die zur 57 künstlerischen Reife gelangte Dichterin nun immerfort schöpfen kann. In den weiteren Ausgaben werden die Kindeqahre nur beiläufig oder überhaupt nicht erwähnt.

55 Marie von Ebner-Eschenbach: Ausgewählte Werke mit einer Darstellung des Lebens und Schaffens der Dichterin. Veranstaltet von einer Arbeitsgemeinschaft unter der Leitung von Prof. Dr. Josef Lackner. Linz 1947. S.68. 56 Marie von Ebner Eschenbach: Erzählungen. Autobiographische Schriften. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Johannes Klein. München 1958. S.930. 57 Marie von Ebner-Eschenbach: Meine Kindeijahre. Aus meinen Kinder- und Lehrjahren. Bei meinen Landsleuten. Hg. Friedrich Minckwitz. Weimar 1970. S.345f.

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7. DIE SEKUNDÄRLITERATUR

In der wissenschaftlichen Literatur zum Werk Marie Ebners läßt sich bei der Behandlung der Autobiographie als Charakteristikum die besondere Betonung des Quellenwertes ausmachen. So wie Anton Bettelheim in seiner Ebner-Biographie von 1920 die Kindeqahre als Grundlage für seine Darstellung des ersten Lebensabschnitts der Dichterin benutzt,58 gehen auch die meisten Autoren in der Folgezeit vor. Heinz Wallach schreibt in seiner Persönlichkeitsstudie zum Kapitel Kindheit und frühe Jugend freimütig: "Als Quelle zu diesem Kapitel dient die Autobiographie der Dichterin. Kurt Benesch, der eine Art biographischen Roman ohne wissenschaftlichen Anspruch verfaßt hat, greift im wesentlichen auf Bettelheim und auf die Kinde^ahre zurück.60 Die in der Autobiographie geschilderten Personen, Schauplätze und Begebenheiten werden häufig als Vorlage für die literarische Gestaltung in den poetischen Werken angesehen; die Dichterin selbst hat nur vereinzelt darauf hingewiesen, am augenfälligsten noch bei der Schilderung ihrer Großmutter: In der kleinen Erzählung "Die erste Beichte" habe ich eine Skizze von einer herrlichen Frau entworfen. Die eigentümliche Art ist erwähnt, in der sie, die kaum je eine Besorgnis, geschweige denn eine Klage aussprach, Klagen aufnahm. (9,7-10) Es fällt auf, daß dieser Verweis auf das poetische Werk in Zusammenhang mit der Charakterisierung der Großmutter erfolgt, wohingegen die Episode der ersten Beichte in der Autobiographie keinesfalls mit der Erzählung in Verbindung gebracht wird. Letztlich hat die Dichterin nur sehr zurückhaltend die Aufnahme von Eigen-Erlebtem in ihre Werke erwähnt, - um so lebhafter reagieren die Autoren der Sekundärliteratur, die mannigfaltige Bezüge zwischen literarischen Gestalten und denen der Kinderjahre sehen. Alkemade etwa schreibt über den in der Autobiographie charakterisierten Pater Borek: Er gehörte zu dem Typus des Dorfgeistlichen, den Ebner-Eschenbach später wiederholt in ihren Werken dargestellt hat. In der Autobiographie "Meine Kinderjahre" und in der selbstbiographischen Erzählung "Die erste Beichte" gibt sie uns eine wirklichkeitsgetreue, lebendige Schilderung. (...) Züge seines Wesens tragen auch Pater Vitalis ("Die Resel"), der gute 58 Bettelheim: Vermächtnis, S.31f., S.39-75. 59 Wallach, S.7. 60 Kurt Benesch: Die Frau mit den 100 Schicksalen. Das Leben der Marie von Ebner-Eschenbach. Wien / München 1966.

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slawische Pfarrer in der Novelle "Die arme Kleine" und Pater Emmanuel ("Unverbesserlich").61 Ebenso liest Käthe Offergeid die Autobiographie als Quellenschrift für die Deutung einiger Erzählungen: Eigene Kindheitserlebnisse verdichteten sich in der "Ersten Beichte", "Er laßt die Hand küssen", "Schattenleben". In dem heldenmütigen Doktor der "Kindeijahre" fmden wir das Urbild Nathaniel Rosenzweigs ("Der Kreisphysikus"), und der gute Pater Borek, der uns dort begegnet, ist nicht nur der Doppelgänger Pater Josefs in der "Ersten Beichte'·, noch manche andere Priestergestalt trägt deutliche Züge seines Wesens. Auch ohne speziell auf die Κΐηάβήαίικ zu verweisen, betonen die Autoren der Sekundärliteratur immer wieder den autobiographischen Gehalt der poetischen Werke; für Wallach etwa sind die Schriften Marie Ebners: eindeutig Erlebnisdichtung und beinahe in allen Fällen auf spezielle Begebenheiten in ihrem Leben zurückzuführen (...). So gehen alle großen und die meisten kleinen Erzählungen der Dichterin auf ihre Eigenerlebnisse zurück. Aus allen sprechen ihre Lebenseindrücke und ihre Ideen.63 Selbstdarstellung hat Marie Ebner nach Anton Bettelheims Dafürhalten mehrfach betrieben: Glaubhafter und sachkundiger als ein anderer dais vermöchte, hat Marie Ebner sich selbst porträtiert in allen Stufenjahren ihrer Entwicklung.64 Die Kindetfahre dienen also den genannten Autoren dazu, einerseits Informationen über das Leben der Dichterin zu erhalten, andererseits Parallelen zwischen poetischen Werken und Biographie, für die die Autobiographie als Quelle zugrundegelegt wird, zu erarbeiten. Auf den ästhetischen Charakter der Schrift wird, wenn überhaupt, nur beiläufig verwiesen; so spricht Westphal von "künstlerisch geformten Teilen einer auf einem mährischen Landgut zwischen Puppen und Märchen verträumten Jugend".65 Auch Gertrud Fussenegger bewertet, jedoch ohne weitere Ausführungen, die künstlerische Qualität des Werkes: Wenn ich vorhin sagte, die Ebner sei mit Auskünften über sich sparsam gewesen, so stimmt das - mit einer Ausnahme allerdings. Mit nahezu

61 62 63 64

Alkemade, S.207. Offergeid, S.12f. Wallach, S.142f. Bettelheim: Vermächtnis, S.lOf.

65

M. Westphal: Die besten deutschen Selbstbiographien. Leipzig 1923, S.290.

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siebzig Jahren schrieb sie in Rom ihr - meinem Empfinden nach - schönstes und formal reinstes Buch: ihre Kindheitserinnerungen.66 Als eben Beweis für die ungebrochene Schaffenskraft der Dichterin auch nach 1900 sieht Maria Grundner neben den Erzählungen Der Erstgeborene und Ihr Beruf auch die Erinnerungen an: "Obwohl sie selbst die 'Kindeijahre' als nichtssagend ansah, gehören sie zu ihren besten Werken."67 Die Wirkungsgeschichte zeigt insgesamt eine durchweg positive Reaktion der Leserschaft auf die Autobiographie. Dabei treten subjektive Gesichtspunkte vor historischen und psychologischen in den Vordergrund. Spezielle Literatur zum Thema ist nicht erschienen; lediglich Kay Goodman behandelt in einem Kapitel ihrer Untersuchung deutscher Frauenautobiographien die Kinderfahre eingehend, - ihre Ergebnisse werden später gesondert betrachtet werden.68 Die ästhetische Seite des Werkes ist bislang noch keiner genaueren Untersuchung unterzogen worden, - ein Desiderat, dem die nachfolgende Analyse abhelfen will.

66 Fussenegger, S.13. 67 Grundner, S.149. 68 Siehe unten S.226ff.

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IV. DEUTUNG

1. VORAUSSETZUNGEN EINER DEUTUNG: TENDENZEN IN DER AUTOBIOGRAPHIE-FORSCHUNG

Zunächst werden im Blick auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Autobiographik Kriterien entwickelt, anhand derer die Kinderjahre und andere autobiographische Zeugnisse der Ebner als Selbstdarstellung einer Dichterin für literaturwissenschaftliche Zwecke nutzbar gemacht werden können. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellt der Dilthey-Schüler Georg Misch eine in der Folgezeit immer wieder zitierte Begriffsdefinition seiner monumentalen Geschichte der Autobiographie voran. Mischs Anliegen ist die Darstellung der Geschichte einer Literaturgattung, deren einzelne Zeugnisse er als "Belege für die Persönlichkeitsentwicklung der abendländischen Menschheit" ansieht.69 Das Werden der Autobiographie spiegelt ihm somit das des menschlichen Selbstbewußtseins wider, wobei sämtliche Schriften, die seiner historischen Darstellung Aufschluß über Selbstbewußtwerdung geben können, ohne weiteres als Autobiographien bezeichnet werden. Er schreibt, das Genre lasse sich kaum näher bestimmen als durch Erläuterung dessen, was der Ausdruck besagt: die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelmenschen durch diesen selbst (auto).70 Damit ist der Gattungsbegriff so weit gefaßt, daß sich die Frage stellt, inwieweit überhaupt von einem solchen gesprochen werden darf; dies veranschaulicht ein Blick auf den Umfang der Definition Mischs: Gebet, Selbstgespräch und Tatenbericht, fingierte Gerichtsrede oder rhetorische Deklamation, wissenschaftlich oder künstlerisch beschreibende Charakteristik, Lyrik und Beichte, Brief und literarisches Porträt, Familienchronik und höfische Memoiren, Geschichtserzählung rein stofflich, pragmatisch, entwicklungsgeschichtlich oder romanhaft, Roman und Biographie in ihren verschiedenen Arten, Epos und selbst Drama in all diesen Formen hat die Autobiographie sich bewegt (...).71 Der Autor beschränkt sich also auf den inhaltlichen Aspekt der Schriften und liest sie als Quellentexte; das Problem der Form-Inhalt-Korrelation wird nicht erwähnt. Man kann somit Walter Müller-Seidel zustimmen, der das Werk charakterisiert hat als

69 Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd I. Bern 1949f. Bd II-IV. Prankfurt am Main 1955-1969. Hier Bd 1/1 • S.Iff. 70 Ebd., S.7. 71 Ebd., S.6f.

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Kompendium, das man mit ehrfürchtiger Sprachlosigkeit bestaunt, das aber der heutigen Literaturwissenschaft nachgerade alles an Antworten schuldig bleibt, die man sich davon erwarten könnte.72 Wohl erwähnt Misch eine gattungsmäßige Kategorisierung der Werke, diese finde sich jedoch nur bei solchen "von der geringeren Art, die sich unter die Botmäßigkeit einer gegebenen Literaturgattung stellen",73 wenn aber die Autobiographie so recht sie selber ist und ein originaler Mensch sich in ihr darstellt, schafft sie die gegebenen Gattungen um oder bringt von sich aus eine unvergleichliche Form hervor.74 Damit ist jedes Einzelwerk entsprechend der Individualität einzig; Mischs Vorgehensweise, Selbstzeugnisse im Rahmen einer übergreifenden geistesgeschichtlichen Fragestellung zu untersuchen, hat viele Epochen- und Gesamtdarstellungen der folgenden Jahrzehnte beeinflußt, die durch die inhaltliche Ausrichtung dazu tendierten, die Problematik der Gattungsgeschichte mit der von Kultur- und Geistesgeschichte gleichzusetzen. Mit Aufstieg und Niedergang des Bürgertums seit dem 16. Jahrhundert hat Werner Mahrholz die Tradition der Autobiographie in Verbindung gebracht, ein Ansatz, der sich auch in der modernen Forschung findet.75 Mahrholz betont den Quellenwert des Schrifttums: In keinem literarischen Dokument finden wir so unvermittelt das gelebte Leben wieder, wie in der Selbstbiographie. Hier spricht unbewußt und bewußt der Mensch als Kind der Zeit unmittelbar.7 Das Kriterium der Unmittelbarkeit und den daraus folgenden Maßstab der historischen Authentizität nimmt auch Theodor Klaiber in seiner Untersuchung für die Autobiographie in Anspruch; nur in der traditionellen Form des Romans komme dabei den Schriften der Rang von Dichtung zu, wobei die Verfasser notwendig Dichter seien.77 Eine kultur- und geistesgeschichtliche Synthese verfolgen Hermann Ulrich und Marianne Beyer-Fröhlich, die anhand der Geschichte der Autobio-

72

Walter Müller-Seidel: Geleitwort. In: Wulf Segebrecht: Autobiographie und Dichtung. Eine Studie zum Werk Ε. T. A. Hoffmanns. Stuttgart 1967. S.VII.

73

Misch, S.15.

74

Ebd., S.6f.

75

Werner Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse. Berlin 1919; Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt a. M. 1970; Ralph-Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich. München 1974.

76

Mahrholz, S.8.

77

Theodor Klaiber: Die deutsche Selbstbiographie. Stuttgart 1921. S.207.

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graphie eine Zuordnung zu verschiedenen Volkstypen und Nationalcharakteren zu erarbeiten versuchen.78 Alle diese Bemühungen um die Gewinnung einer Gattungstradition gehen davon aus, daß ein autobiographisches Zeugnis als Dokument authentischer Wirklichkeit anzusehen ist. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Untersuchung Hans Glagaus, der als Historiker der Autobiographie einen Platz im Gattungsgefüge der Literatur zukommen läßt, letztlich jedoch die Schriften wieder auf ihren Quellenwert reduziert, wenn er behauptet, daß die Ausscheidimg der romanhaften Bestandteile aus der selbstbiographischen Quelle für den Historiker das hauptsächliche Arbeitsfeld bilden wird.79 Sämtliche bisher genannten Schriften mißachten den Vermittlungscharakter, der jedweder literarischen Form, damit auch der Autobiographie, innewohnt. Bei seiner Forderung nach einer Theorie der Gattung argumentiert Klaus Detlef Müller folgendermaßen: In der Tat schildert die Autobiographie ja den Erlebnis- und Erfahrungsbereich eines historischen Individuums und damit Wirklichkeit wie und insofern sie subjektiver Erfahrung zugänglich ist; (...) aber ein solches Verständnis der Autobiographie allein als Quelle übersieht doch, daß es die implizierte Unmittelbarkeit der Aussage in Wirklichkeit nicht gibt und daß sie durch die verbürgte Realität des Schreibenden und seines "wirklichen" Lebens keineswegs gewährleistet wird.80 Das hier angesprochene Problem der Vermittlung von Wirklichkeit, d.h. die Frage nach der Wahrheit in autobiographischem Schrifttum, beschäftigt in der Folgezeit eine ganze Reihe von Arbeiten. Allgemein läßt sich - auch auf internationalen Rahmen bezogen - seit den fünfziger Jahren ein stetig anwachsendes Interesse an Gattimgskonstituenten der Autobiographik feststellen. Wenn Günter Niggl von einer Renaissance des literaturwissenschaftlichen Interesses an Zweck- und Gebrauchsformen spricht,81 so kann man ihm unter Berufung auf programmatische Schriften wie etwa Friedrich Sengles Vor-

is

Hermann Ulrich: Die Entwicklung der deutschen Selbstbiographie. In: M. Westphal, S.775; Marianne Beyer-Fröhlich: Die Entwicklung der deutschen Selbstzeugnisse. Leipzig 1930. 79 Hans Glagau: Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle. Marburg 1903. S.168. 80 Klaus Detlef Müller Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976 ( = Studien zur deutschen Literatur. Bd 46). S.15. 81

Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977. S.XI.

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schlüge zur Reform der literarischen Formenlehre zustimmen; Sengle postuliert die Erhebung aller rhetorischen und publizistischen Formen zum Gegenstand der Literaturwissenschaft. Durch die Außerachtlassung der Zweckformen wegen der bisherigen Beschränkung auf die Gattungsdreiheit der humanistischen Poetik fehlten systematische Kategorien u.a. für die Untersuchung der Autobiographik. Müller versteht dementsprechend jeden bisherigen Ansatz zur Erforschung der Gattung als "Pionierleistung im wissenschaftlichen Neuland".83 Neuere Arbeiten wollen diesem Zustand abhelfen; in ihnen werden Aspekte angesprochen, die für die Analyse der fSndeqahre von Bedeutung sind. Die Schrift Wayne Shumakers spielt eine besondere Rolle für die englische Forschung, da mit ihr erstmals zwischen Biographie und Autobiographie unterschieden wird; dabei legt der Autor großes Gewicht auf die Lesererwartungen und betont die Bedeutung der Perspektive des rückblickenden Ich, die mit dem Inhalt in enger Korrelation stehe.84 1971 veröffentlicht Philippe Lejeune die erste französische Gattungsgeschichte, in der er wie Shumaker rezeptionsästhetische Aspekte hervorhebt.85 Unabdingbar sei es für jeden Autobiographen, mit dem Leser eine Art von Vertrag zu schließen - zumeist in der Vorrede -, in dem er seine Intention auf Wahrhaftigkeit darlege.86 Indem Lejeune den spezifischen TextLeser-Bezug zur conditio sine qua non einer Autobiographie erklärt, macht er sich wohl um die Problematisierung eines bislang von der Forschung vernachlässigten Aspektes bemüht, das Resümee seiner späteren Schrift Le pacte autobiographique verabsolutiert jedoch diese Betrachtungsweise: L'histoire de l'autobiographie, ce serait donc, avant tout, celle de son mode de lecture: histoire comparative où l'on pourrait faire dialoguer les contrats de lecture proposés par les différents types de textes (...). Einen Versuch, Geschichte und Theorie der Autobiographie im Zusammenhang darzustellen, hat Bernd Neumann mit der Schrift Identität und Rollenzwang vorgelegt. Er geht von den Freudschen Instanzen Es, Ich und Überich aus, in deren Zusammenspiel sich Identität ausbilde; dies sei "Mittelpunkt der bürgerlichen, ihrem Wesen nach entwicklungsgeschichtlichen Autobiographie", die damit notwendig auf die Kindheits- und Jugenddarstellung beschränkt bleibe; mit Übernahme einer öffentlichen Funktion 82 Friedrich Sengle: Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre. Stuttgart, 2. Auflage 1969. S.12ff. 83 Müller, S.6. 84 Wayne Shumaker English Autobiography. Berkeley 1954. 85 Philippe Lejeune: L'autobiographie en France. Paris 1971 ( = L'autobiographie). 86 Ebd., S.25. 87 Ders.: Le pacte autobiographique. Paris 1975 ( = Le pacte). S.46. 88 Neumann, S.20f.

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müsse das bürgerliche Individuum eine Rolle übernehmen und könne nunmehr nur in Form von Memoiren als "Lebenserinnerungen des in die Gesellschaft integrierten, seine soziale Rolle ohne Vorbehalt spielenden Menschen" berichten, berichten.89 Autobiographie und Memoiren werden damit als bestimmten Lebensphasen entsprechende Ausdrucksformen angesehen; nur Goethe sei es aufgrund seiner besonderen historischen und sozialhistorischen Situation geglückt, eine reine Autobiographie mit der Darstellung bejahter Identität zu schreiben; nach ihm setze die Verfallsgeschichte der Gattung ein, die um 1870 ihren Endpunkt finde.90 Widersprüchlich ist die unterschiedliche Zuordnung der beiden Formen einerseits zu verschiedenen Lebensphasen, zum anderen zu bestimmten historischen Epochen. Für beide Ansätze kann man wohl eine Bestätigung finden: Tatsächlich beschränkt sich der Großteil der Autobiographen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts auf die Darstellung der frühen Persönlichkeitsentwicklung und bricht mit dem Eintritt ins öffentliche Leben ab, oder aber der Darstellungsmodus erfährt eine Veränderung, d.h. die Memoirenform wird bevorzugt.91 Andererseits kann man jedoch nicht ableugnen, daß auch im sogenannten bürgerlichen Zeitalter weiterhin Memoiren vertreten sind und nach dem von Neumann angesetzten Verfallsdatum der Gattung weiterhin Autobiographien entstehen. Müller, der die Blütezeit der Autobiographik wie Naumann datiert, begründet sie nicht mit der zeitgenössischen Ideologie des Individualismus, sondern mit dem Bedürfnis einer nicht an der Herrschaft beteiligten Klasse, ihren gesellschaftlichen Wert bestätigt zu sehen, und geht so weit, in der Autobiographie eine Ausdrucksform für Unterdrückte zu sehen.92 Wie für Neumann und Müller ist auch für Niggl Goethes Dichtung und Wahrheit Kulminationspunkt der Gattung: Am Anfang steht noch die Ungebrochenheit der Traditionen, am Ende eine freie Mischung, Kreuzung und Säkularisation der Typen, bis Goethes "Dichtimg und Wahrheit" alle bisherigen Ansätze und Versuche versammelt und zu einem ausgleichenden Höhepunkt der deutschen und europäischen Autobiographik führt. 93 Historische Voraussetzungen für die Kindeqahre werden später unter bestimmten Aspekten noch gesondert geklärt. Hier steht zunächst die Betrachtung des Schrifttums zur ästhetischen Funktion von Autobiographien an; sie ordnet Gusdorf der historischen über, an der Spitze der Hierarchie

89

Ebd., S.12.

90 Ebd., S.136. 91 Vgl. auch Shumaker, S.91; Lejeune: L'autobiographie. S.17. 92 Müller, S.170. 93 Niggl, S.170.

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jedoch siedelt er die anthropologische Komponente an, die in der Selbstschöpfung des Menschen durch ein Werk bestehe. Letztlich könne zwischen der Wahrheit eines Kunstwerks und der eines Lebens nicht unterschieden werden: "La vie, l'oeuvre, l'autobiographie apparaissent ainsi comme trois aspects d'une même affirmation."94 Noch einen Schritt weiter geht der Herausgeber der Memoiren von George Sand, der in fiktionalen Schriften u.U. einen höheren Authentizitätsgrad verwirklicht sieht als in autobiographischen: Quelle tentation de prêter à des héros de roman les pensées de derrière la tête, celles qu'on n'ose pas dire (...). Ainsi l'image qu'un auteur donne de lui-même dans le roman peut-elle être plus authentique, plus sincère que celle des mémoires, correspondances, carnets, etc.95 Hier liegt ein Fall umgekehrter Interpretation vor; wenn ein Vorgehen nach biographischer Methode das Werk aus der Persönlichkeit und den Lebensumständen des Autors erhellen soll, wird hier die Beleuchtung der Biographie aus den fiktionalen Schriften angestrebt. Zweifellos verarbeitet ein Autor in seinem Werk autobiographisches Material, und gerade bei Marie Ebner fällt - um nur ein Beispiel zu nennen der mit dem eigenen Lebensraum weitgehend identische Erzählraum ins Auge. AnHegen ist hier jedoch nicht die Untersuchung autobiographischer Spuren in den Schriften, sondern die Art und Weise der Selbstdarstellung in der eigentlichen Autobiographie. Um diese vom übrigen Werk abzugrenzen, sei auf die Begriffe Erlebnisund Bekenntnisdichtung hingewiesen. Wilpert spricht von Erlebnisdichtung, insofern das Erlebnis "eine Grundvoraussetzimg dichterischen Schaffens" ist; Dichtung kann Bekenntnis sein, wenn sie "Zeugnis ablegt über die individuelle Persönlichkeit eines Autors".96 Dabei handelt es sich jedoch um grundsätzlich Verschiedenes bei dem Impuls, der Veranlassung zu einem Werk wird und von einem Erlebnis getragen ist, und dem Unterfangen, eine wichtige Phase oder die Gesamtheit eines Lebens zu beschreiben. So kann durch die Scheidung von autobiographischem Material, das nur den Anstoß zur Gestaltung literarischer Werke gegeben hat, von solchem, das den eigentlichen Inhalt ausmacht, die Autobiographie als besonderes Phänomen isoliert werden.

94 95

Gusdorf, S.119. George Sand: Histoire de ma vie. Hg. Georges Lubin. Paris 1970. Préface. S.IX.

96

Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. StuttgartS1969. S.229ff., S.77.

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Alle Bemühungen um eine Eingrenzung des Gattungsbegriffs gegenüber Misch betonen die Unterschiede zu benachbarten Genres. 7 So wird die Autobiographie mit ihrer Tendenz auf Erfassen der Totalität eines Lebens vom Brief durch dessen bewußte Hinwendung zu einem anderen Menschen unterschieden. Auch liegt dem Brief in der Regel ursprünglich keine Publikationsabsicht zugrunde, und sein Umfang ermöglicht kaum eine umfassende Persönlichkeitsdarstellung. Reisebeschreibungen und Tatenberichte sind weitere Formen, die gemeinhin zum autobiographischen Schrifttum gezählt werden. 98 Wesentlich ist hier die Beschränkung auf eine kurze, von bestimmten Außenfaktoren bedingte Phase bzw. ein Einzelerlebnis. Philosophische Reflexion und literarisches Selbstporträt berücksichtigen zu wenig den historischen Aspekt. Es handelt sich zumeist um statische Analysen ohne notwendige chronologische Ordnung, die dem für die Autobiographie geforderten gegenseitigen Bezugsverhältnis von Innen- und Außenwelt nicht gerecht werden. Weiteres Konstituens der autobiographischen Gattung ist die rückschauende Wertung mit der permanenten Einordnung von Erlebnissen, die für die statische Analyse nicht typisch ist. Die Unterscheidung von Autobiographie und Memoiren bildet bei den Isolierungsversuchen des Genres meist einen der Hauptpunkte, wiewohl lange Zeit eine definitorische Scheidung nicht klar getroffen wurde und beide Begriffe oft synonym verwendet wurden. Dies änderte sich in den letzten zwanzig Jahren: Neumann spielt - wie schon erwähnt wurde - den Vergleich in seiner gesamten Abhandlung auf zwei Ebenen durch. Das Ich der Memoiren büßt demnach durch die stärkere Betonung der Außenwelt an Subjektivität ein. Die Erzählstruktur ist im Gegensatz zur Stringenz in der Autobiographie häufig lockerer gehalten, letztlich fehle der "eigentliche autobiographische Antrieb":99 In den Memoiren versucht der Verfasser selten, die Geschehnisse in einen inneren Sinnbezug zum Ich zu bringen, während der Autobiograph in Auswahl und Anordnung des Geschilderten teleologisch im Sinne einer inneren Zielgerichtetheit seines Seins verfährt. Bei der Abgrenzung des Tagebuchs von Uterarischen "Nachbar'-Formen wird häufig der Vergleich mit der Autobiographie als der ähnlichsten unter den verwandten Gattungen gezogen.100 Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, daß der Tagebuchschreiber gemeinhin unter dem unmittelbaren Eindruck des Erlebten seine Eindrücke bzw. ganz einfach die Fakten nieder97

Noch Wilpert folgt Misch, wenn er schreibt: "Je nach den Entstehungsbedingungen bevorzugt die Autobiographie die lockere Form des Tagebuchs, der Memoiren oder der architektonisch geschlossenen Gesamtdarstellung mit eigenem Weltbild." Ebd., S.59. 98 Aichinger, S.420. 99 Roy Pascal: Die Autobiographie. Stuttgart 1965. S.19. 100 So bei Boemer Tagebuch. Stuttgart 1978 ( = Sammlung Metzler Bd 85). S.23ff.

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schreibt. Dabei fehlen Charakteristika der autobiographischen Perspektive wie der Überblick über das bisher gelebte Leben, Interpretation der eigenen Entwicklung im Ganzen sowie die einheitliche Komposition.101 Während das Tagebuch nach Max Dessoir "die Linie des eigenen Lebens" Tag für Tag nachzeichnet, steht es bei der Autobiographie so, daß sie "vieles ausläßt, vorwegnimmt, nachholt, und alsdann (...) daß sie nicht den frischen Eindruck, sondern ein spätes Urteil wiedergibt."102 Dem Tagebuch fehlt mithin in der Regel nicht nur der Blick für den Zusammenhang des Gelebten, sondern auch die "ErzähT'-Perspektive ist eine grundsätzlich andere. Im Blick auf Zukünftiges ist der Tagebuch-Autor z.B. "wirklich" ahnungslos, während der Autobiograph bei der Wiedergabe einer frühen Lebensphase das darauf folgende Erleben und Geschehen "fiktiv" ahnungslos niederschreibt. Abschließend steht nun bei der Grenzbestimmung für die Autobiographie der Vergleich mit dem Roman an. Vor die Unmöglichkeit einer klaren Disjunktion sieht sich Georges May gestellt.103 Angesichts einiger Wortprägungen wie "fingierte Autobiographie", "autobiographischer Roman" "Semiautobiographie" usw., erschließt sich in der Tat eine verwirrende Vielzahl von Begriffen.104 Klärung kann die jeweils spezifische Ausprägung der Ich-Form und der dem Wort "Autobiographie" innewohnende Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit verschaffen. Das Wort "impliziert keinen wie immer gearteten Ich-Erzähler, sondern einen Autor als historische Persönlichkeit." 05 Dieser Bezug nach außen ist eine Struktureigentümlichkeit der Autobiographie. Der Roman ist anders angelegt: Selbst wenn sich Hinweise auf außersprachliche Gegebenheiten finden, sind "diese Bezüge für die ästhetische Wirkung der Dichtung irrelevant." Der traditionelle Roman bietet ein abgerundetes Bild, während die Autobiographie notwendig zum Verfasser hin offenbleiben muß. Die Sichtung der Fachliteratur ergibt somit - diachron wie synchron betrachtet - eine Vielzahl von Ansatzpunkten, unter denen bislang Autobiographien erforscht worden sind. Vor der nun anschließenden Rückschau auf zwei Sonderentwicklungen innerhalb der Autobiographik, die für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind, seien kurz die wichtigsten Ergebnisse beim heutigen Forschungsstand noch einmal zusammengefaßt: Bei einer Autobiographie handelt es sich um den Versuch, vom Standpunkt des Erinnernden Ich aus das Werden einer Persönlichkeit im Zusammenhang darzu101

Vgl. W. Grenzmann: Das Tagebuch als literarische Form. In: Wirkendes Wort. Jg.9.1959. S.84ff.

102

Max Dessoir Buch der Erinnerung, o.0.1946. S.3.

103

Georges May: L'autobiographie. Paris 1979. S.194.

104

Aichinger, S.426.

105

Ebd., S.427.

106

Ebd., S.428.

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stellen. Durch den vorgegebenen Stoff existieren Beschränkungen, die jedoch im schöpferischen Akt der - teleologischen und in dauerndem Wandel begriffenen - Selbstinterpretation relativiert werden. Damit hebt sich die Gattung einerseits vom ästhetischen Kunstwerk, das hinsichtlich seiner Form-Inhalt-Korrelation in sich geschlossen ist und eigenen Gesetzen gehorcht, ab wie auch andererseits von der reinen Tatsachenschilderung.

2. DIE HISTORISCHE ENTWICKLUNG DER AUTOBIOGRAPHIK BIS ZU DEN KINDERJAHREN

Die historische Entwicklung der gesamten Gattung kann hier natürlich nicht nachvollzogen werden. Gleichwohl sollen zwei Aspekte, denen bei Marie Ebners Schrift eine besondere Bedeutung zukommt, vor der genauen Textanalyse beleuchtet werden. Beide scheinen für heutige Verhältnisse nicht eigentlich auffällig zu sein; der Blick auf die Vorgeschichte dieser - man könnte sagen - Untergattungen wird ihre Eigenart vor Augen führen: Es handelt sich zum einen um die Entscheidung der Dichterin, nur die ersten vierzehn Jahre ihres Lebens zu schildern, sowie um die Tatsache, daß es eine Frau gewesen ist, die zu dieser Zeit ihre Biographie niedergeschrieben hat.

a. Die Autobiographie der Kindheit und Jugend

Historisch gesehen ein Sonderfall ist das Entstehen von Autobiographien, die Kindheit und Jugend nicht nur als kurze Einleitung einbeziehen, sondern allein diesen Lebensabschnitt beinhalten. Die Bedeutung der ersten Jahre eines Menschenlebens und seiner frühen Erfahrungen wird, solange man dem Kindesalter keinen Eigenwert beimißt und Kinder allenfalls als kleine Erwachsene ansieht, als entsprechend gering erachtet. Ein Wandel macht sich im 18. Jahrhundert bemerkbar, wenn sich im Zeichen beginnender Aufklärung pädagogisches und psychologisches Interesse an der prägenden Bedeutung von Eindrücken der frühen Kindheit manifestiert: Zwischen 1783 und 1793 gibt Karl Philipp Moritz, selbst Verfasser eines sehr berühmt ge-

219

1Π7 wordenen autobiographischen Romans , ein Magazin zur Erfahrungsseelenkunde heraus, in dem Probleme wie das Verhältnis von Anlage und Umwelt bei der Ausgestaltung der Persönlichkeit, die Entwicklung von Sprache und Denken sowie der Aufbau der Erinnerung diskutiert werden. Gleichzeitig mit dem Bekanntwerden der Confessions von Jean Jacques Rousseau in Deutschland fordert Moritz im Juni 1782 in einem Vorschlag zu diesem Magazin den Leser dazu auf, erstlich die Geschichte seines eigenen Werdens von seiner frühesten Kindheit an sich so getreu wie möglich entwerfen, auf die Erinnerungen aus den ersten Jahren der Kindheit aufmerksam sein, und nichts für unwichtig halten, was jemals einen starken Eindruck auf ihn gemacht hat, so daß die Erinnrung daran sich noch immer zwischen seine übrigen Gedanken dränge.108 Im Magazin selbst weitet er diese Gedanken auf das kausalpsychologische Moment aus: Die allerersten Eindrücke (...) machen doch gewissermaßen die Grundlage aller folgenden aus; sie mischen sich oft unmerklich unter unsre übrigen Ideen und geben denselben eine Richtimg, die sie sonst vielleicht nicht würden genommen haben.109 Dabei handelt es sich hier zunächst um eine einfache Ursachenkette. Mit Goethe erfährt die Kindheitsgeschichte in der Folgezeit eine weitergehende Bewertung: Der Organismusgedanke versteht in Bildern pflanzlichen Wachstums die Kindheit als Keim alles Folgenden. Dabei beinhaltet die Vorstellung der organischen Entfaltung nun, im Gegensatz zur bisherigen mechanischen Kausalkette, die neue Vorstellung eines teleologischen Formprinzips.110 Goethe spricht denn auch aus, der erste Teil von Dichtung und Wahrheit enthalte auch nicht das kleinste geringfügig Scheinende, was nicht künftig einmal nach seinem Geschlecht und Art in Blüte und Frucht hervortreten soll.111 Damit hat sich die Einschätzung des späten 18. Jahrhunderts dahingehend erweitert, daß Kindheit nicht mehr nur als Zeit der Weichenstellung für das 107

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Berlin 1785-90.

108

Mitgeteilt in Niggl, S.52.

109

Ebd.

110

Vgl. Günter Niggl: Fontanes "Meine Kindeijahre" und die Gattungstradition. In: Sprache und Bekenntnis. Sonderband des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs. H.Kunisch zum 70. Geburtstag. Berlin 1971. S.257ff.

111

Brief an Rochlitz vom 30.1.1812. Goethes Briefe Hg. K.R. Mandelkow. Bd 3. Hamburg 1965. S.174.

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spätere Leben, sondern gleichsam als Mikrokosmos angesehen wird, in dem alles Folgende schon enthalten, keimhaft angelegt ist. In diesem Sinne äußert sich auch Friedrich Hebbel in seinen Aufzeichnungen aus meinem Leben": Schon in der Kleinkinderschule finden sich alle Elemente beisammen, die 112 der reifere Mensch in potentirterem Maaße später in der Welt antrifft. Hebbel ist der Ansicht, daß die "primitiven Abdrücke der Dinge unzerstörbar" seien und "sich gegen alle späteren behaupten", so daß die Gleichung Kindheitsgeschichte = Lebensgeschichte aufgestellt werden könne.113 Auf die Präfiguration des späteren Lebens in den ersten Jahren kommt Theodor Fontane - Zeitgenosse der Ebner - im Vorwort zu seiner Autobiographie zu sprechen: Als es mir feststand, mein Leben zu beschreiben, stand es mir auch fest, daß ich bei meiner Vorliebe für Anekdotisches und mehr noch für eine viel Raum in Anspruch nehmende Kleinmalerei mich auf einen bestimmten Abschnitt meines Lebens zu beschränken haben würde. (...) Und so blieb denn nur noch die Frage, welchen Abschnitt ich zu bevorzugen hätte. Nach kurzem Schwanken entschied ich mich, meine Kinderjahre zu beschreiben, also "to begin with the beginning". Ein verstorbener Freund von mir (noch dazu Schulrat) pflegte Jungverheirateten Damen seiner Bekanntschaft den Rat zu geben, Aufzeichnungen über das erste Lebensjahr ihrer Kinder zu machen, in diesem ersten Lebensjahre "stecke der ganze Mensch". Ich habe diesen Satz bestätigt gefunden und wenn er mehr oder weniger auf Allgemeingültigkeit Anspruch hat, so darf vielleicht auch diese meine Kindheitsgeschichte als eine Lebensgeschichte gelten.114 Diese Ansicht vertritt auch Marie Ebner hinsichtlich ihrer - mit Fontanes Schrift titelgleichen - Kindeqahre\ in dem schon zitierten Brief an Rodenberg behauptet sie, zu Beginn ihres 14. Lebensjahres sei ihre ganze Zukunft schon vorgezeichnet gewesen, d.h. ihre Ehe mit Moritz Ebner und ihre Schriftstellerei, tragende Elemente ihres an äußeren Ereignissen armen Lebens sieht sie im Rückblick als zu diesem Zeitpunkt vorherbestimmt.115 Was zu Beginn der Kindheitsautobiographik als allgemeine Voraussetzung für die Beachtimg dieser frühen Lebensphase angesehen wird, greifen also noch über ein 112

Friedrich Hebbel: Aufzeichnungen aus meinem Leben (1846-1854). Sämtliche Werke. Bes. v. R.M. Werner. I. Abt. Bd 8. Berlin oJ. S.93.

113

Ebd.

114

Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Hg. W. Keitel. Bd 4. Darmstadt 1973. S.9.

115

Siehe S.173.

221

Jahrhundert später die einzelnen Verfasser bei der individuellen Begründung für ihr Unterfangen auf. Die Forschung beurteilt die Entwicklung dieser Sonderart autobiographischen Schrifttums folgendermaßen: Allgemein wird der erste Lebensabschnitt - so Hardach-Pinke/Hardach nach der Auswertung von Zeugnissen aus dem 18. und 19. Jahrhundert - als eine besonders glückliche Zeit angesehen, da sie noch fern von den Zwängen der Erwachsenenwelt liegt, ein Anspruch, der früher sicher nicht an eine Lebensphase gestellt wurde, die durch Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit gekennzeichnet ist.116 Für die im 19. Jahrhundert fortwährend steigende Tendenz, die Kinderzeit zum Inhalt der Selbstdarstellung zu wählen, werden sozialhistorische Gründe angegeben: Das Gefühl der politischen und gesellschaftlichen Machtlosigkeit des Bürgertums und die Verunsicherung, die der Wandel des täglichen Lebens unter dem Einfluß der beginnenden Industrialisierung mit sich brachte, führten zu einem literarischen Rückzug in die Utopie, das Märchen, den Traum und schließlich die Kindheit.1 Die Autoren deuten damit die Funktion der Kindheitsautobiographie als Evasionsmedium an, eine Ansicht, die in der Forschung nicht allein steht; auch Marianne Beyer-Fröhlich stellt eine Tendenz zur "Flucht nach hinten" im 19. Jahrhundert fest: In den Lebenszeugnissen tritt eine agressive Parteinahme für die Kindheits- und Jugendgeschichten der Verfasser, für die gelbe Postkutsche, für den Garten der Großeltern und das ländliche Pfarrhaus hervor. Kaum war etwas Weite in das politische und wirtschaftliche Leben gekommen, sehnte man sich schon wieder nach gemütvoller Enge. 118 Herbe Kritik an der Entwicklung des seiner Meinung nach beliebtesten Zweigs deutscher Autobiographik übt Westphal, der in "unendlicher Eintönigkeit" immer dasselbe Thema mit einer "denkbar geringsten Staffage von Personen" behandelt sieht: Die ganze Umwelt ist unglaublich philiströs, erlebnisarm, schabionisiert, typisch, ruhig, gemessen, untief, bürgerlich, rechtschaffen, wohlgeraten,

116

Deutsche Kindheiten. Autobiographische Zeugnisse 1700-1900. Hg. Irene Hardach-Pinke / Gerd Hardach. Kronberg i.T. 1978. S i l .

117

Ebd., S.56.

118

Beyer-Fröhlich, S.239.

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das Ganze gesehen von einer milden, wehmutvollen, der Sentimentalität nicht entbehrenden Weltanschauung (...).119 Marie Ebner ist sich der Gefahr, lediglich harmonisierte Idylle zu schildern, wohl bewußt gewesen, davon zeugt ihre Vorrede zu den Kinderfahren: Meine Kleinen, ihr kommt mir recht armselig vor mit eurem Geplauder von Puppen und Ammenmärchen. Mich beschäftigen andere Dinge als eure Geringfügigkeiten. (6,8-10) Hier kommen die Zweifel zum Ausdruck, die die Dichterin bei der Abfassung ihrer Schrift fast durchgängig begleitet haben; dabei spielt die Sorge, daß die Unbedeutendheit der eigenen Erfahrungen dem Leserinteresse zuwiderlaufen könnte, eine große Rolle. Dennoch hat Marie Ebner die Geschichte ihres "grünen Seelchens" veröffentlicht; im Hinblick auf das, was in der Autobiographie tatsächlich geschildert wird - die Anfänge einer jungen Dichterin -, kann die vorweg vorgenommene Reduktion auf eine harmlose Kinderwelt als Maßnahme verstanden werden, die Lesererwartungen zunächst künstlich herabzuschrauben, und darf nicht unbedingt völlig ernstgenommen werden. Das Vorhandensein von Kindheitsautobiographien, in denen tatsächlich die Idylle vorherrscht, kann auf der anderen Seite als Faktor, der die Dichterin in ihrem Vorhaben bestärkt, angesehen werden. Hier ist vor allem an die aufsehenerregenden Werke von Bogumil Goltz mit seinem Buch der Kindheit (1847) und von Wilhelm von Kügelgen mit den Jugenderinnerungen eines alten Mannes (1870) zu denken. In der heutigen Forschung wird übrigens die Kindheitsautobiographie wesentlich positiver beurteilt als früher; Georges May spricht sogar von einem "privilège du souvenir d'enfance et d'adolescence": Parmi les multiples thèmes autobiographiques qui se prêtent à un phénomène, le souvenir d'enfance et d'adolescence est sans doute celui qui s'y conforme le plus spontanément. L'être qui n'est pas encore complètement formé par son milieu et sa culture est, en effet, celui dont la puissance d'universalité est la plus élevée.120 Roy Pascal vertritt, noch weitergehend, den Standpunkt, daß die Autobiographie der Kindheit die reinste Form der Gattung überhaupt sei, da in ihr die Entwicklung des Individuums in der Auseinandersetzung mit der Umwelt besonders deutlich geschildert werde, denn das Kind nehme sich nur in dem Maße bewußt, in dem es sich seiner Umwelt bewußt werde: 121

119 Westphal, S.40. 120 May, S.107. 121 Pascal, S.104.

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Wenn der Charakter später besondere Konturen gewinnt, tritt die Verbesonderung des Individuums ein und mit ihr die Entsagung. (...) innerhalb des Rahmens der Kindheit selbst bietet sich der Erinnerung die Gelegenheit, jene wirkliche Übereinstimmung von Subjekt und Objekt, Vergangenheit und Gegenwart, geistiger Vorstellung und äußerem Vorgang zu schaffen, durch die eine gute Autobiographie entsteht.122 In der durch die meist extreme Subjektivität der Kindheitsbeschreibung gegebenen Identifikationsmöglichkeit für den Leser sieht Pascal den großen Vorteil der Schriften: Wie verschieden auch immer Kinder und Umstände ihrer Kindheit sein mögen, Art und Weise ihrer Auffassung und ihres Aufwachsens sind sich viel ähnlicher als im späteren Leben, so daß alle "Kindheiten" Nutzen aus der herkömmlichen Behandlung dieses Stoffes ziehen können.123 Bestimmte historische Voraussetzungen bilden also die Grundlage dafür, daß überhaupt Kindheitsautobiographien entstehen können. Die im 19. Jahrhundert aufkommende Tendenz, sich in Selbstzeugnissen auf die ersten Lebensjahre zu beschränken, wird einerseits unter Verweis auf das Bedürfnis nach Rückzug in die Idylle begründet, zum anderen als die reinste Darstellungsform einer Persönlichkeitsentwicklung, die die wechselseitige Bezogenheit von Ich und Welt nach Goetheschem Modell zu erfassen bestrebt ist, angesehen. Tatsache ist, daß Kindheitsautobiographien im 19. Jahrhundert großen Erfolg haben - Goltz und Kügelgen sind schon erwähnt worden. Ein weiterer Autor soll abschließend eingehender vorgestellt werden: 1892/93 verfaßt Theodor Fontane seine Erinnerungen, die den gleichen Zeitraum umfassen wie die Marie Ebners. Beide Autoren arbeiten damals an ihren Beiträgen für die Geschichte des Erstlingswerks, die ihre Entwicklung bis zur ersten Veröffentlichung schildern.1 Die unterschiedlichen Untertitel der beiden Kindeqahre weisen auf strukturelle Divergenzen hin; während Marie Ebner ihre Schrift als Biographische Skizzen bezeichnet, nennt Theodor Fontane die seine Autobiographischer Roman: "Für etwaige Zweifler also sei es ein Roman."125 Dies mutet sonderbar an angesichts der doppelten Intention, die aus seiner Einleitung hervorgeht; während er einerseits seine "Kindheitsgeschichte als eine Lebensgeschichte" gelten lassen will, versucht er zugleich einem weiteren Anspruch zu genügen:

122

Ebd., S.105

123

Ebd.

124

Die Geschichte des Erstlingswerks. Hg. Karl Emil Franzos. Berlin 1894.

125

Fontane, S.9.

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Es bleibt mir immer noch die Hoffnung, in diesen meinen Aufzeichnungen wenigstens etwas Zeitbildliches gegeben zu haben: das Bild einer kleinen Ostseestadt aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts und in ihr die Schilderung einer noch ganz von Réfugié-Traditionen erfüllten Französischen-Colonie-Familie, deren Träger und Repräsentanten meine beiden Eltern waren.126 Fontane sichert sich also nach mehreren Seiten hin ab; Zweifler an der Authentizität des Erinnerten verweist er auf den Romancharakter seines Werkes, zum anderen rechtfertigt er sein Unterfangen gerade mit dem Bemühen um Wiedergabe von Historie. Ein solches Vorgehen ist Marie Ebner fern. Sie überläßt es dem Leser, zwischen den Zeilen Zeitgeschichte herauszulesen. Dementsprechend unterschiedlich erweist sich die Binnenstruktur beider Werke. Fontane hält eine strenge Kapiteleinteilung durch, die verdeutlicht, wie er im Rückblick sein Leben nach einzelnen Erfahrungsbereichen aufteilt; in den ersten Kapiteln informiert er über seine Vorfahren sowie die allgemeinen Verhältnisse in seiner Heimatstadt (z.B. Kapitel 6: "Die Stadt; ihre Bewohner und ihre Honoratioren"), die letzten neun Kapitel beschreiben jeweils getrennt Lebensbereiche des Kindes und seiner Geschwister: "Wie wir in unserem Hause lebten", "Wie wir erzogen wurden" usw. Ein grundlegendes Bedürfnis nach Ordnung des Lebensstoffes macht sich hier bemerkbar; jedoch am Ende konstatiert Fontane: Einige Lücken wurden wohl zugestopft, aber alles blieb zufällig und ungeordnet, und das berühmte Wort vom "Stückwerk" traf, auf Lebenszeit, buchstäblich und in besonderer Hochgradigkeit bei mir zu. 127 Marie Ebner dagegen erzählt in loser Verknüpfung ihre Entwicklung und verzichtet auf eine Kapiteleinteilung; ihre Erinnerungen steuern einen Einschnitt in ihrem Werdegang an, der auf den Mikrokosmos-Charakter der Schrift verweist (121,1-7). Die Kinderzeit wird hier also als in sich geschlossene Einheit dargestellt, die den Eindruck von stringenter Entwicklung vermittelt. Dies ist der Dichterin in anderem Zusammenhang indirekt vorgeworfen worden, - damit kommt ein zweiter Sonderfall in der Entwicklung autobiographischen Schrifttums 2mm Tragen, der für die Kinderjahre relevant ist.

126 Ebd. 127 Ebd., S.177.

225

b. Autobiographien von Frauen Wenn eine Autobiographie sich von anderen literarischen Formen vor allem durch den vorgegebenen (Lebens-)Stoff unterscheidet, so findet dies - angesichts der durch die Jahrhunderte bestehenden Verschiedenheiten in Erziehung, Alltag und damit Wirklichkeitserfahrung bei Männern und Frauen natürlich seinen Niederschlag in einer solchen Gattung. Bis vor wenigen Jahren hat die Forschung das Phänomen Frauenautobiographik nicht berücksichtigt. Erst neuerlich sind Studien erschienen, in denen auch Marie Ebners Schrifttum einbezogen wird128: Goodman und Vogt stellen übereinstimmend das Fehlen weiblicher Selbstdarstellungen im engeren Sinne fest, das erst im Laufe des 19. Jahrhunderts sein Ende findet. Ansätze werden allenfalls bei den Mystikerinnen gesehen, jedoch handelt es sich bei deren Schriften strenggenommen nicht um Beschreibungen von Persönlichkeitsentwicklung, sondern um den Weg des Ich von der Welt hin zur imaginierten unio mystica mit dem Herrn.1 Der Tendenz zur Auflösung jeglichen Selbstbezugs entspricht dabei - so Vogt - die einfache literarische Verarbeitung; der biographische Stoff wird nicht reflektiert.130 Für die gleichzeitig mit den Schriften der Mystik aufkommende autobiographische Form der Familienchronik, die wie die religiösen Werke eine Vorstufe der Gattimg darstellt, gibt es nur Zeugnisse von Familienoberhäuptern, d.h. männlicher Autoren. In der Tradition der religiösen Bekenntnisschriften treten die pietistischen Selbstzeugnisse die Nachfolge der mystischen an. Auch hier finden sich wieder vereinzelt Texte aus weiblicher Hand, die jedoch bei der anschließenden Säkularisierung des Genres folgenlos bleiben: 131 Sobald der weltliche Beruf als Telos des Bekenntnisses die religiöse Orientierung ersetzt, sind solche "privaten" Äußerungen von Frauen - zumindest für eine Veröffentlichung - nicht mehr legitimiert. In der "großen" Epoche des Genres schreiben demnach Frauen keine Autobiographien mehr (d.h. es liegen keine Zeugnisse aus dieser Zeit vor).132 Wohl werden literari-

128 Kay Goodman: German Women and Autobiography in the 19th Century. Louise Aston, Fanny Lewald, Malwida von Meysenbug, and Marie von Ebner-Eschenbach. Diss. Wisconsin 1977 ( = Women); dies.: Die große Kunst, nach innen zu weinen. Autobiographien deutscher Frauen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Die Frau als Heldin und Autorin. Hg. W. Paulsen. München 1979. S.125ff. ( = Kunst); Marianne Vogt: Autobiographik bürgerlicher Frauen. Zur Geschichte weiblicher Selbstbewußtwerdung. Würzburg 1981. 129 Vogt, S.19f. 130 Ebd., S.23. 131 Beispiele sind Zeugnisse der Gräfin zu Stolberg und der Frau von Merlau-Petersen, siehe weiter bei Misch, Bd IV, S.27. 132 Goodman: Kunst, S.127.

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sehe Briefe, Tagebücher und Reiseberichte verfaßt, dabei handelt es sich jedoch nie um stringente Schilderungen eines Lebensweges.133 Für die schließlich doch einsetzende Beteiligung von Frauen an der Autobiographik sieht Goodman zwei Voraussetzungen als maßgeblich an: Das Vorhandensein weiblicher Modellpersonen und der "Aufstieg einer starken egalitären Bewegung" im 19. Jahrhundert haben offensichtlich den einer Autobiographie notwendig vorausgegangenen Selbstbewußtwerdungsprozeß gewährleistet.134 Modellfunktion kommt dabei mit Sicherheit etwa George Sand zu, deren Autobiographie 1854/55 in Paris erscheint und schon 1855 in deutscher Übersetzimg vorliegt, was auf ein äußerst reges Interesse der Öffentlichkeit schließen läßt. Auch Marie Ebner hat die Histoire de ma vie gelesen, das zeigt die Wahl des Mottos zum Gemeindeland ("Tout est l'histoire"), das der Schrift entnommen ist. Bei der Autorin der ersten deutschen Frauenautobiographie, Fanny Lewald, wird klar, wie groß die Bedeutung von Vorgängerinnen ist; sie schreibt in ihrer Selbstdarstellung über die Lektüre der posthum veröffentlichten Briefe Rahel Varnhagens: Es waren eine Offenbarung und eine Erlösung, die sich für mich durch die hinterlassenen Briefe dieser Frau vollzogen. (...) Was mir auch begegnet war, was ich Unbequemes, Peinliches, Schmerzliches zu ertragen und zu erleiden gehabt hatte, Rahel Lewin hatte alles gekannt, hatte das alles durchgemacht (...).135 Marie Ebner wiederum, die mit der älteren Schriftsteller-Kollegin korrespondiert, ist von Fanny Lewald sehr beeindruckt, davon zeugt ein Brief von 1880: Von Jugend an kenne und bewundere ich Sie, bin Ihren hellen Bahnen treulich gefolgt, in unerreichbarer Ferne sind Sie mir immer vorgeschwebt. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß bei einer solchen Einstellung Marie Ebner die sehr schnell bekannt gewordene Lebensgeschichte Fanny Lewaids gelesen haben wird. Mit Sicherheit trifft dies zu für die Erinnerungen der Malwida von Meysenbug, nach Goodman und Vogt die zweite deutsche Frauenautobiogra-

133 Zunächst die posthum veröffentlichten Schriften der Charlotte von Kalb, Elisabeth von der Recke und Luise Seidler, später die der Romantikerinnen. 134 Goodman: Kunst, S.128. 135 Fanny Lewald: Meine Lebensgeschichte. Hg. Gisela Brinker-Gabler. Frankfurt a.M. 1980 (Berlin 1861). S.175f. 136 Brief vom 17.5.1880. Zitiert nach: GroBheizog Carl Alexander und Fanny Lewald in ihren Briefen 1848-1889. Hg. Rudolf Göhler. Berlin 1932. Bd 1. S.XXVI.

227

1Ύ7

phie. Seit dem ersten Romaufenthalt Marie Ebners im Wmter 1898/99 stehen sich die beiden Schriftstellerinnen nahe. Wenige Tage, bevor Malwida von Meysenbug stirbt, schreibt die Ebner an ihre Nichte, Gräfin Marie Kinsky: Auch ich habe schweren Abschied von dieser Frau genommen. (...) In Löschna wollen wir zu ihrem Andenken ihre Memoiren einer Idealistin lesen. (Tb 1903) Der Brief stammt vom 3. April 1903. Wenn Marie Ebner die Erinnerungen der bewunderten Freundin im Sommer desselben Jahres liest, nimmt sie unmittelbar vor der Niederschrift ihrer eigenen Autobiographie Kenntnis von der bewegten Lebensgeschichte einer großen Zeitgenossin. Die Besonderheit der ΚίηάβήαΗτβ kann u.a. auch durch den Vergleich mit den Schriften der Vorgängerinnen aufscheinen. Dabei muß man davon ausgehen, daß vorgegebener "Stoff' und Motivation zur Niederschrift bei jenen ganz anders geartet sind: Fanny Lewald (geboren 1811) und Malwida von Meysenbug (geboren 1816) stehen von Jugend an in weitaus direkterer Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Leben als Marie Ebner: Beide sagen sich von ihren Familien los, um geplanten Zweckehen zu entgehen und sehen in ihrer Berufstätigkeit eine notwendige Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Ihre Erfahrungen, die mit den politischen Ereignissen der Jahrhundertmitte eng verknüpft sind, verarbeiten sie in Romanen, programmatischen Schriften und den Autobiographien. Sie verstehen sich selbst als Vorkämpferfiguren und vertreten dementsprechend in den Erinnerungen tendenziöse und didaktische Absichten. So schreibt Fanny Lewald in ihrem Tagebuch: Von meinem ersten kleinen Roman an, bis hin zu diesen gegenwärtigen Geständnissen über mich selbst habe ich es als meine höchste Aufgabe betrachtet, in meinen Arbeiten dichtend den Zwecken und Tendenzen zu dienen, welche mir Ideal und Religion sind, seit ich zu denken gelernt habe.1 Ahnlich äußert sich Malwida von Meysenbug in der Einleitung zu ihren Erinnerungen: Ich beschloß, diese Erinnerungen den glücklicheren Schwestern zu weihen, die, wenn der Tag gekommen sein wird, sich in der freien Luft eines anerkannten Rechts werden entwickeln können. Vielleicht können sie

137 Goodman: Kunst, S.128f.; Vogt, S.36ff. 138 Fanny Lewald: Gefühltes und Gedachtes. Das Tagebuch der Fanny Lewald (1838-1888). Hg. L. Geiger. Dresden/Leipzig 1900, S.33.

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diejenigen, welche noch zweifeln oder zögern, ermutigen, oder wenigstens den anderen ihr Glück noch fühlbarer machen.139 Goodman stellt die Kinderfahre Marie Ebners in eine Reihe mit diesen Schriften und versucht anhand dieses begrenzten Untersuchungsmaterials eine Tendenz von zunächst revolutionären Forderungen hin zur Reaktion aufzuzeigen.140 Sie macht Marie Ebner zum Vorwurf, die familiären Einwände gegen ihre dichterischen Ambitionen in keinen gesellschaftlichen Kontext gestellt zu haben: This autobiography is self-referential and subjective in the extreme. (...) Ebner-Eschenbach had lost her own positive self-image and disclaimes her particular experience as a woman.1 1 Tatsächlich verzichtet die Dichterin im Gegensatz zu Lewald und Meysenbug darauf, in Exkursen soziale und politische Verhältnisse ihrer Jugendzeit wiederzugeben und bleibt überwiegend der Perspektive des Erinnerten Ich treu; ihre Probleme schildert sie vor dem Hintergrund der individuellen familiären Situation und zieht im allgemeinen keine weitergehenderen Folgerungen aus ihren persönlichen Erlebnissen. Angesichts der von Goodman formulierten Kritik stellt sich die Frage, ob man Lebenszeugnisse auf ihren Wert als Tendenzschriften einer grundsätzlichen Beurteilung überhaupt unterwerfen darf oder ob die von Goethe beschriebene Haltung des Autobiographen indirekt nicht auch in einer subjektiv gehaltenen Schrift zum Ausdruck kommt: Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abspiegelt.142 Dieser Frage wird bei der genaueren Analyse der Kinderfahre noch nachzugehen sein; die vorangegangenen Betrachtungen haben zunächst ergeben, daß Marie Ebner als eine der ersten Frauen überhaupt mit ihrer Autobiographie an die Öffentlichkeit getreten ist; dabei kommt mit Sicherheit ihrer Kenntnis von Lebenszeugnissen anderer Frauen große Bedeutung zu, jedoch ist es verfehlt, angesichts der Unterschiede im biographischen Material wertende Vergleiche anzustellen. In Erzählungen und Aphorismen verdeutlicht die Dichterin durchaus Probleme wie die unzureichende Mädchenaus139 Malwida von Meysenbug: Memoiren einer Idealistin. Berlin/Leipzig 1904. Bd 1. S.XXIX. 140 Goodman: Women, S.253. 141 Ebd., S.2S4. 142 Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Goethes Werke in 14 Bänden. Hamburger Ausgabe. Bd IX. Hamburg 1967. S.9.

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bildung oder die Benachteiligung von Schriftstellerinnen; bei der Beurteilung ihrer Autobiographie soll hier jedoch von der Intention des Werkes selbst ausgegangen werden und ein von außen herangetragener Anspruch, wie ihn Goodman formuliert, hintanstehen. Fragen inhaltlicher und ästhetischer Art werden in der folgenden Analyse der Kinderfahre abgehandelt.

3. TEXTANALYSE

Wenn eine Autobiographie der in eine bestimmte Form gebrachte Lebensstoff des Verfassers ist, so kommt der Kraft der Erinnerung, je weiter die geschilderte Lebensphase zurückliegt, umso mehr Bedeutung zu; die Erinnerung ist jedoch dabei nur Mittel zum Zweck. Das Schreiben einer Autobiographie stellt - wie bereits ausgeführt wurde - als Selbstinterpretation einen schöpferischen Akt dar. Auswahl und Anordnung der Erlebnisse und Reflexionen sind nicht nur der Erinnerung anheimgestellt, sondern beruhen auf der bewußten Gestaltung dieses Lebensstoffes, der zumeist in der Rückschau einer teleologischen Orientierung unterworfen wird. Diese Aspekte rechtfertigen es, an eine Autobiographie hinsichtlich der Form-Inhalt-Korrelation Fragen zu stellen, die in der Literaturwissenschaft im allgemeinen der Untersuchung rein fiktionaler Texte vorbehalten sind.

a. Die Struktur Schon mit dem Untertitel gibt die Ebner einen wichtigen Hinweis auf die Gestaltung des Werkes: Biographische Skizzen. Damit enthebt sie sich gegenüber dem Leser der Notwendigkeit, formal eine Kohärenz des Erlebten wiederzugeben. Im für Franzos verfaßten Aufsatz Aus meinen Kinder- und Lehrfahren ist sie ähnlich verfahren, indem sie schon im Titel auf den partiellen Charakter des Dargestellten verweist. Beim "Pakt" mit dem Leser im Sinne Lejeunes im Vorwort der Kinderjahre spezifiziert die Dichterin die Voraussetzungen der Niederschrift: Mit einer Macht des Erinnerns, die nur das hohe Alter kennt, lebt die Kindheit vor mir auf. Aber nicht wie ein kräftig ausgeführtes Gemälde auf hellem Hintergrund, in einzelnen Bildern nur, die deutlich und scharf aus dem Dämmer schweben. (5,10-13) Marie Ebner räumt nun die Beeinflussung ihrer Erinnerungen durch die Phantasie ein und versichert zugleich dem Leser ihr Bemühen um eine 230

wahrheitsgetreue Darstellung: "Dieses Wesen ist treu geschildert, buchstäblich und im Geiste." (5,22) Dieser Leseransprache folgt eine zweite Vorrede, in die die anschließende Schilderung der Kinderjahre nahtlos übergeht. Die Dichterin gibt einen Einblick in ihre Situation bei Abschluß der Arbeit während eines Rom-Aufenthaltes, indem sie die Stadt mit ihrer historischen Größe von den Geringfügigkeiten ihrer eigenen Vergangenheit kontrastierend absetzt; nur in heimatlichen Gefilden, so bescheiden endet die zweite Vorrede, könne den Kinderfahren Interesse entgegengebracht werden. Unvermittelt setzt nun die Darstellung der Kinderzeit ein; die Geburt der Dichterin ist dabei nur beiläufig in Zusammenhang mit dem Schicksal ihrer Mutter erwähnt, und sogleich schließt sich eine ausführliche Charakterisierung der Großmutter an. Dieser Frau kommt in der Autobiographie insofern besondere Bedeutung zu, als sie zu Beginn als erste reale,14 das Leben des Mädchens bestimmende Person eingeführt wird, im Verlauf der Schilderungen immer wieder zur Erwähnung kommt und schließlich mit ihrem Tode am Ende der Kinderfahre sich über ihren Nachlaß, eine Bibliothek, eine neue zukunftsweisende Welt für die junge Dichterin erschließt. Die Erlebnisse des Kindes mit der Großmutter können somit inhaltlich als rahmengebende Elemente angesehen werden.144 Formal ist eine Binnenstruktur der Schrift durch Absätze gegeben; anders als Fontane nimmt Marie Ebner keine strikte Trennung zwischen kindlicher Sphäre und Umfeld, Reflexionen und Anekdoten vor. In den Briefen an Rodenberg ist von einer Kapiteleinteilung die Rede, Ansätze dazu kann man dem Skizzenmaterial entnehmen, in den drei Druckfassungen hingegen spricht nichts mehr für eine ursprünglich vorgesehene Kapiteleinteilung.1 Kay Goodman betrachtet die Struktur der Autobiographie, die locker an der Chronologie der kindlichen Entwicklung orientiert ist, als Ausdruck eines Bedürfnisses der Dichterin, nunmehr nur noch einer assoziativen Schreibweise zu folgen und zitiert einen Brief von Breuer vom 17. August 1902: Jetzt, lieber Freund, hätte ich einen so heißen Wunsch, mich gänzlich loszuschälen von dieser verdammten Literatur! Nichts mehr zu veröffentlichen! Nur noch aufschreiben, was mir durch den Kopf fährt, es denen mitteilen, die sich dafür interessieren für diese Durch-den-Kopf-Fahre-

143

Ihre Mutter hat Marie Ebner nur aus Erzählungen gekannt, da sie kurz nach ihrer Geburt starb.

144

Dazu später ausführlicher in Zusammenhang mit dem Muttermotiv, S.243f.

145

Siehe dazu S.134f., S.172f.

146

Mitgeteilt in Kann, S.49; vgl. Goodman: Women, S.217.

231

Bei der Verallgemeinerung solcher privaten Äußerungen bzw. der Bezugnahme auf ein konkretes Werk ist jedoch Vorsicht geboten; abgesehen davon, daß Unmutsbekundungen wie die obige oft aus einer konkreten Situation geboren sind und letztlich nur für diese gelten, ist bekannt, daß Marie Ebner gerade zur Abfassungszeit dieses Briefes an einem formal durchkomponierten Werk (Agave) gearbeitet und auch später weiterhin entsprechende Erzählungen geschrieben hat. Zudem stellt sich die Frage, ob nicht die anscheinend willkürliche Reihung von Erlebnissen und Gedanken, die nur der Assoziation verpflichtet sein mag, gerade die einer Autobiographie angemessene Form ist und damit die Art des Stoffes die Form vorgibt. Die Absätze markieren zumeist den Eintritt neuer Personen in die Welt des Kindes, die dadurch einschneidende Änderungen erfährt, wichtige Familienereignisse oder innere Erlebnisse, die die Realitätserfahrung beeinflussen. Überleitungen zwischen den einzelnen Absätzen schafft die Dichterin durch Wiederaufnahme eines Stichwortes oder kommentierende Zwischensätze; ein Beispiel für die erste Möglichkeit ist die Schilderung ihrer Furchtlosigkeit bei den Märchenerzählungen der Amme mit der anschließenden Charakterisierung des Verhältnisses zum Vater: O ich fürchte mich nicht - ich weiß nicht, wie das ist, sich fürchten; ich hab eine große Courage! Es war viel Geflunker bei dieser Behauptung. Ich wußte sehr gut, was Furcht sei, denn in der Furcht vor dem Papa waren meine Schwester und ich aufgewachsen. (13,12-16) Nach der ausführlichen Darstellung des Vaters leitet die Dichterin folgendermaßen zu den Ereignissen der Kinder zurück: Von diesem, in wenigen Zügen nur entworfenen Bilde eines Starken wende ich mich wieder den kleinen Erlebnissen seiner Kinder zu. (25,24f.) Im Laufe der Umarbeitungen bei den Druckfassungen ist Marie Ebner von dieser zweiten Möglichkeit eher abgekommen, indem sie Überleitungen ausgelassen hat (V 97,34). Diese Beobachtungen der Werkstruktur vertieft die folgende Analyse der Zeitverwendung.

b. Die Zeit

Die Erzählung der Kinderjahre setzt mit einer Situationsschilderung ein, die der kindlichen Realitätserfassungsweise entsprechend statisch ist. Dabei stellt Marie Ebner die Personen vor, die ihre ersten Lebensjahre begleiteten, ohne zunächst die Begrenztheit ihrer Präsenz zu bestimmen; wird somit zu Beginn ein gleichsam zeitloses Bild der Kindheit entworfen, so geschieht dies 232

aus der Perspektive des Erinnerten Ich, dem Zustände als nicht veränderlich erscheinen. Unterstützt wird dieser Eindruck durch die anfänglich fehlenden Daten; statt einer historischen Situierung, wie sie die meisten Autobiographien auch für die frühe Kindheit vorweisen, erwähnt Marie Ebner als Faktoren, die Zeitempfinden ausdrücken, den Wechsel der Jahreszeiten mit ihren immer wiederkehrenden Ereignissen sowie andere Begebenheiten, die das Kind als zeitlos gegeben ansieht: Hingegen erschien alljährlich im Herbste (...). (10,15) Ein anderes Ereignis wiederholte sich gleichfalls alljährlich, dieses aber im Frühjahr (...). (10,28f.) Das Leben des Kindes scheint unabänderlichen Regeln unterworfen zu sein; dies wird besonders deutlich bei der Beschreibimg des Verhältnisses zum Vater: Wir betraten immer nur in corpore die Zimmer Papas (...). Wenn wir in der Frühe (...). (16,37 / 17,17) Diese wenigen Belegstellen mögen als Beispiele für viele weitere genügen; der allgemeine Charakter der Erfahrung wird zusätzlich durch die häufige Verwendimg des unpersönlichen "man" verstärkt. Nur ein einziges Mal, jedoch auch da ohne Bezug zur historischen Zeit, gibt Marie Ebner einen Anhaltspunkt für die ersten Lebensjahre: Als meine Schwester ihre Wanderung ins sechste und ich die meine ins fünfte Lebensjahr zurückgelegt hatten, sollten wir eine Gouvernante bekommen. (25,26f.) Eine Jahresangabe findet sich auch hier nicht, wohl aber die Nennung eines bestimmten Alters, in dem das Kind beginnt, ein Bewußtsein von Zeitlichkeit zu entwickeln. Zwar hat die Dichterin auf den ersten Seiten tatsächlich einmal auf die historische Zeit verwiesen, jedoch geschieht dies in Zusammenhang mit der Schilderung der Vergangenheit des Vaters, die als erzählte Geschichte und damit als sekundär Erlebtes ausgewiesen ist (21,Iff.). Dem Bild des Vaters kommt überhaupt eine besondere Rolle zu; sein Leben wird ausnahmsweise sehr ausführlich geschildert, und damit integriert die Dichterin geschickt einen Überblick über die Familiengeschichte in die Autobiographie. Dies mag auch der Grund für die Verankerung in die historische Zeit sein. Davon abgesehen verbleibt die Schilderung der ersten Jahre jedoch durchgängig bei der dem zeitlichen Wandel entrückten Daseinsweise, wie sie der kindlichen Erfahrungswelt entspricht. Marie Ebner ist also bei der Zeitverwendung vom Empfinden des Erinnerten Ich ausgegangen, durch die Einhaltung der subjektiven Perspektive wird die Suggestivkraft des Erzählten gefördert. 233

Ein Wandel macht sich bei der Darstellung der Zeit ab dem zehnten Lebensjahre bemerkbar; während die ersten nenn Jahre - immerhin über zwei Drittel des behandelten Lebensabschnitts - als durchweg zeitentrückte Erfahrungen des Kindes im ewigen Kreislauf der Jahreszeiten und der immer wiederkehrenden Ereignisse ein Drittel der gesamten Autobiographie ausmachen, ist das bei der Schilderung der folgenden Jahre, d.h. von 1839 bis 1844, auffällig verändert durchgeführt; die Angaben zur historischen Zeit häufen sich: Im Frühjahr 1839 begleitete ein neuer Hausgenosse uns auf das Land (..·)· (43,21) Der kleine Onkel Moritz von damals stand jetzt - 1840 - im siebenundzwanzigsten Jahre (...). (63,10f.) Der Winter des Jahres 1841 war verflossen, ein stiller, fast trübseliger Winter. (66,8f.) Der Winter des Jahres 1842 brachte dem Burgtheater drei Ereignisse (.·.)· (80,9) Der Sommer des Jahres 1843 war der letzte, den unsere Großmutter Vockel noch mit uns in Zdißlawitz verlebte. (92,14f.) Diese Verankerung der Ereignisse in der historischen Zeit ist jedoch nicht der einzige Anhaltspunkt für die weitere Entwicklung des Geschehens; auch im folgenden bezieht sich Marie Ebner auf ihr jeweiliges Alter und erwähnt die Jahreszeiten als temporäre Einschnitte: Vom achten Geburtstage Fritzis an (...): (52,5) Als meine Schwester ihr zehntes und ich mein neuntes Jahr erreicht hatte (...). (57,18) Seit Anfang Mai (...). (69,36) Im Laufe des Sommers (...). (73,1) Man könnte dergleichen Beispiele noch mehren, diese mögen jedoch genügen, um zu verdeutlichen, daß von einem bestimmten Zeitpunkt an (1839) die Ereignisse in einen festen Rahmen gestellt sind. Die verschiedenen Arten von Zeitangaben sind dabei so kombiniert, daß sie sich jeweils aufeinander beziehen und damit der Eindruck einer fortwährenden Progression entsteht. Dies gilt für den äußeren Lebenslauf; Geschehnisse der inneren Entwicklung werden zeitlich nicht so genau fixiert, - es handelt sich hier vor allem um die Darstellung bestimmter Gedankengänge und psychischer Zustände der Heranwachsenden. Vorherrschend ist dabei die Verwendung des Adverbs "allmählich", das auf die Unbestimmtheit der Erinnerung an das psychische Erleben verweist; nur durch die Situierung der Schilderung in 234

den Zusammenhang gewinnt der Leser ungefähre zeitliche Anhaltspunkte (47,28f. / 56,23f.). Ein Sonderfall soll hier ebenfalls erwähnt werden; wenn die Dichterin im allgemeinen das Empfinden von Zeitlichkeit implizit durch zunächst fehlende, später einsetzende Verankerung durch Datums- und Altersangaben entsprechend dem kindlichen Erfassungsvermögen ausdrückt, kommt sie ein einziges Mal auch explizit auf das Zeiterleben aus der Perspektive des Kindes zu sprechen: Die Großmutter ist erkrankt, und die geplante Abreise auf das Land muß verschoben werden: "Nichts von Bedeutung", versicherte der Arzt, (...) "in vierzehn Tagen ist die alte Frau wieder gesund, und dann fahren Sie mit ihr, je eher, je besser, aufs Land!" In vierzehn Tagen! in vierzehn Tagen erst? - das ist ja so lang, nicht auszudenken, wie lang, das ist ja nicht zu erleben, das Ende dieser vierzehn Tage." (108,10-16) So wie hier im inneren Monolog kommt ansonsten das Zeitempfinden des Erinnerten Ich nicht mehr direkt zum Ausdruck. Bei der hier vorgenommenen Betrachtung der Strukturierung des Textes durch die Zeit ist es unumgänglich gewesen, die Verwendimg von Bezeichnungen, die bestimmte Abschnitte des Geschilderten markieren, in Zusammenhang mit der jeweiligen Perspektive des Erinnernden oder Erinnerten Ich zu sehen. Der Wechsel bei der Benutzung von Zeitbezeichnungen erklärt sich dabei zum einen durch die Darstellung des veränderten Bewußtseins der Heranwachsenden. Im ersten Drittel des Textes, in dem neun Jahre geschildert werden, wird durch die erwähnte Zeitverwendung kein stetiges Fortschreiten der Entwicklung, sondern ein statisches Bild der Kinderwelt suggeriert. Die folgenden zwei Drittel der Schrift, in denen die Phase vom zehnten bis zum vierzehnten Lebensjahr beschrieben wird, sind durch zahlreiche Daten markiert, die die einzelnen Ereignisse und Geschehnisse des inneren Werdens so miteinander verbinden, daß der Eindruck von zusammenhängender Progression entsteht. Für diese Strukturierung der Kinderfahre durch die Zeit sind zwei Faktoren verantwortlich; man muß zunächst bei einer Autobiographie vom Erinnerungsvermögen des Verfassers ausgehen, und dies besonders, wenn die Schilderung in der frühesten Kindheit einsetzt. Marie Ebner hat denn auch in der Vorrede, darauf wurde schon aufmerksam gemacht, 147 auf den bruchstückhaften Charakter dessen, was ihr von ihrer ältesten Vergangenheit geblieben ist, hingewiesen, und darin muß der eine Grund für die Statik des Beginns gesehen werden. Zum anderen macht sich hier das bewußte Einhalten einer Perspektive bemerkbar, die die Ereignisse in ihrer zeitlichen Folge und ihr Empfinden weitgehend an der Subjektivität des Erinnerten Ich

147

Siehe S.230.

235

festmacht. Das Kind sieht sich in seiner Welt in einem begrenzten Rahmen, der nur in Ausnahmefällen gesprengt wird: besonders augenfällig bei der Darstellung des Vaters, darüber hinaus vereinzelt bei anderen Personencharakterisierungen, deren Schicksalieweils bestimmte Themenkomplexe der Autobiographie veranschaulicht.1 Der Wechsel zwischen der Perspektive des Erinnernden und des Erinnerten Ich bewirkt ebenfalls Veränderungen in der Zeitstruktur, die die Kinderwelt von der der rückblickenden Erwachsenen trennen, weiterhin finden sich Betrachtungen der Schreibenden, die durch die Begegnung mit der Vergangenheit angeregt sind; dies wird bei der Untersuchung der Erzählweise noch erörtert werden.

c. Der Raum Hauptsächlich liegen zwei Schauplätze des Geschehens vor, die den durch den Wechsel zwischen Winteraufenthalt in Wien und Sommeraufenthalt in Zdißlawitz festgelegten Lebensbereichen der jungen Marie Ebner entsprechen. Raumbeschreibungen stellt die Dichterin dabei durchweg in den Zusammenhang einer bestimmten Situation oder Person, mit denen die Rückblickende Assoziationen verbindet. Weder Wien noch Zdißlawitz werden also einführend oder im Laufe der Schilderungen allgemein vorgestellt, um einen umfassenden Rahmen für das erzählte Geschehen zu bieten, sondern jeweils spezifische Einzelheiten des betreffenden Raumes werden zur Veranschaulichung der gerade anliegenden Situations- oder auch Personendarstellung angeführt. Bei der Beschreibung des Vaters beispielsweise fällt die sehr ausführliche Schilderung seines Arbeitszimmers auf, dessen Mobiliar mit anthropomorphisierenden Zügen versehen ist: (...) jeder Gegenstand darin hatte etwas Eigentümliches und erregte mein besonderes Interesse. Wie merkwürdig war schon der Lüster, der an vergoldeten Ketten von der Decke niederhing! Eine flache, mattgrüne, mit Arabesken aus Bronze geschmückte Schale. Aus ihr heraus streckten sich sechs magere, sehnsüchtige Arme und trugen in ihren Händen tulpenförmige kleine Urnen, aus denen vergilbte Wachskerzen emporragten. Einen sehr ernsten Eindruck machten die schwarzen Möbelgestelle, der umfangreiche, schwarze Schreibtisch und die Schwärze der ganzen Gesellschaft von Schränken und Etageren. (17,26ff.)

148

236

Dazu ausführlicher später S.240ff.

Auch bei der Beschreibung von Bildern und Radierungen in diesem Zimmer wird der Grundton des Ernsten und Traurigen im Bereich des Vaters betont; das Raumempfinden der Dichterin scheint somit geprägt durch die vorherrschende Atmosphäre, die dem Charakterbild des Vaters entspricht. Die Intensität des Eindruckes kommt in der Belebimg von Objekten zum Ausdruck; der Vater und sein Raum wirken also in gleicher Weise auf das Kind, und so ist die Beschreibung des Zimmers als Verstärkimg des Bildes der Person zu verstehen. Den Einfluß einer bestimmten Stimmung auf das Raumempfinden der jungen Dichterin zeigt auch eine weitere Passage, in der zunächst die einzige für sich stehende Beschreibung des Rabenhauses und seiner Umgebung vorzuliegen scheint; aber auch dabei handelt es sich nur um die Schilderung der Normalansicht als Grundlage für die folgende einer konkreten Situation, in der die Phantasie das Kind dies alles anders sehen läßt: An diesem einen Sonntags-, einem Frühlingsmorgen, aber erschimmerte alles, worauf meine Augen sich richteten, im Reflex des Glanzes, der mir die Seele erfüllte. (59,35ff.) Die Beschreibung der Außenwelt und die besondere Aufnahme durch das Kind leiten eine Keraszene der Kinderfahre ein: Marie Ebner gesteht ihrer Großmutter die Neuigkeit, daß sie "Poesien" mache, - die ablehnende Reaktion der verehrten Frau hat die innere Einstellung der jungen Dichterin in der Folgezeit grundlegend geprägt. Die Erlebnisintensität dieser Situation zeigt das Erinnerungsvermögen der Schreibenden, die sich äußere Einzelheiten und ihre besondere Wirkung ins Gedächtnis zurückzurufen vermag. Die Raumbeschreibung hat damit auch hier eine besondere Funktion; obendrein bietet die Dichterin dem Leser beiläufig eine Beschreibung der Außenwelt, geschickt integriert in die Schilderung einer konkreten Situation, die wiederum die starke Ich-Zentrierung des Werkes im Gegensatz zu anderen Autobiographien, bei denen das räumliche Umfeld getrennt von der Person vorgestellt wird, verdeutlicht.149 Der zweite in den Kinderfahren beschriebene Bereich ist die Natur rund um Zdißlawitz. Auch hier findet sich keine einführende Schilderung, sondern wiederum gleichsam beiläufig wird die Umgebung mit ihrer Wirkung auf das Kind im Rahmen der Erzählung vom alljährlichen Umzug zum Sommeraufenthalt gezeichnet (36,8ff.). Bei der Darstellung erster dichterischer Versuche zeichnet die Dichterin ein Bild vom Ort ihres "Schaffens" und bietet damit eine atmosphärische Einstimmung (49,18ff.). Im Gegensatz dazu scheint die Natur an anderer Stelle ein Eigengewicht zu gewinnen: Nur wenige Worte widmet Marie Ebner dem eigentlichen Erzählanlaß - dem verstorbenen Erzieher Just soll ein Denkmal gesetzt werden -, um so ausführli-

149

Belebung der Objektwelt findet sich auch bei der Schilderung der Bibliothek (112,23ff.).

237

cher zeichnet sie die Umgebung (99,37ff.). Auch dabei spielen Assoziationen, die bei ihr geweckt werden, eine große Rolle. Die Darstellung weist wiederum - anthropomorphisierende Züge auf. In der Brunnenszene, von der hier die Rede ist, wechselt die Dichterin von der Beschreibung ihrer konkreten Umgebung in die einer mythisch anmutenden Szenerie über. Formal macht sich dies durch den Tempuswechsel zum Präsens bemerkbar: Einige Schritte von dem Fußsteig entfernt, auf dem man vom Felde aus steilab zum Brünnlein gelangt, steht eine Buche... Du alte Königin, weißt du von dem munteren Zeug, das grünt und lebt und sich vermehrt und nichts verlangt, als seines Daseins froh zu werden zu deinen Füßen und unter deinem Schutze? (100,8-12) Hier und im weiteren Verlauf dieser Passage (bis 101,2) geht der eigentliche Erzählanlaß unter in der ausführlichen Darstellung des Baumes und dessen, was die Erinnerung bei der Dichterin auslöst. Damit wird eine Besonderheit der Ebnerschen Autobiographie und Prosa überhaupt gestreift, die immer wieder eine auffällige Pflanzen- und besonders Baummetaphorik vorweist. Anthropomorphisierung und indirekte Identifikation mit dem Baum findet sich beispielsweise bei der Schilderung der heimischen Lindenallee (17,Iff.). Ganz ähnlich ist die Darstellung ebendieser Allee in der autobiographischen Skizze Schattenleben: Die Fenster sehen auf eine vierfache Reihe uralter Linden. Einst bildeten sie eine undurchsichtige Wand, und ihre Wipfel überragten das Dach. Jetzt sind sie dürr und gestutzt, große Lücken haben sich im Laube gebildet, das morsche Geäst stöhnt im Winde, der Boden ist mit schwarzen, dürren Zweiglein bedeckt, Greisenkindern, die, spät geboren, früh schon abfallen. Sie führen einen kleinen Totentanz mit welken, raschelnden Blättern im Sande auf. 150 Neben diesem Stimmungsbild eines Herbstabends am Lebensabend der Dichterin hat sie ein weiteres Mal ihr eigenes Schicksal mit dem der Linden in Verbindung gesetzt: Da stehen wir, die alten Linden und ich. Sie in vier langen Reihen auf dem breiten Wege, ich auf der Rampe, die neben ihm herläuft. Da stehen wir und sehen einander an. Was ist aus uns geworden? Was aus mir, die so müd an euch vorüberschleicht, und was aus euch? Wißt ihr noch, Linden, daß ihr einst üppige grüne Gewänder trugt, die samtweich und seidig schimmernd an euch niederwallten und sich auf dem Rasen ausbreiteten wie Schleppen von Königsmänteln?

150 SW 4, S.490.

238

Wenn der Wind euer Laub durchrauschte, gab es ein Brausen wie von Orgelklängen, und ihr recktet und wiegtet euch voll Majestät in der gewaltigen Melodie. Und wenn leise Lüfte in eurer Blätterunendlichkeit spielten, da war's wie ein Traum von lieblichen Liedern, ein geheimnisvoll wortloser Gesang, der mein Kinderherz mit einer unaussprechlichen großen Seligkeit erfüllte, von der heute noch, wenn ich seiner gedenke, ein Reflex in mir erwachen kann. Nun braust und orgelt und singt ihr nicht mehr. Ihr stöhnt und knirscht, wenn der Sturm euch schüttelt; knisternd lösen sich dürre Zweige und Reislein von eurem Geäst und bedecken den Boden rings um eure einst kraftstrotzenden Stämme. Wie gespalten und zerklüftet sehen die aus, wie neigen einzelne von ihnen sich so müde zur Seite, voll Sehnsucht, an die Brust der Mutter Erde zu sinken. Mein grüner Dom, (...) was ist aus dir geworden?151 Dieses Beispiel verdeutlicht, was für die Baummetaphorik in den Kinderjahren ebenfalls gilt: Die Dichterin bedient sich poetischer Mittel und stellt Jugend und Alter symbolisch einander gegenüber. In diesem Zusammenhang muß auch die Beschreibung der Tassoeiche in der Vorrede erwähnt werden (6,14ff.). Der Rückblick auf die vergangene Größe Roms wird in der Schilderung des abschiednehmenden Tasso bei der Eiche konkretisiert; zur Abfassungszeit der Autobiographie sieht sich Marie Ebner nun selbst dem sterbenden Baum gegenüber, und die Stimmimg des eigenen Abschiednehmens ist unverkennbar. Es liegt hier ein Grenzbereich zwischen metaphorischer, Selbst- und Raumdarstellung vor und damit ein weiteres Beispiel für die Funktionalität in der Verwendimg des Raumes. In keinem Fall schildert also die Dichterin räumliche Gegebenheiten allein um der reinen Information willen, nie gibt sie ein nur anschauliches Bild der städtischen und ländlichen Umgebung ihrer frühen Jahre, sondern immer unterstreichen Beschreibungen der Außenwelt die Innenwelt bestimmter Personen oder symbolisieren ihr eigenes Wachsen und Werden bzw. ihre Selbsteinschätzung zur Abfassungszeit der Autobiographie. Für die Raumdarstellung kann somit wie für die Zeitverwendung eine eindeutige Zentrierung auf das Erinnernde oder Erinnerte Ich ausgemacht werden, allenfalls noch der Bezug auf relevante Personen, die aus der Perspektive der Schreibenden damals oder heute in Raum und Zeit gestellt sind. Ihnen ist das folgende Kapitel gewidmet.

151 SW 4, S.631f.

239

d. Die Personendarstellung

Einen großen Teil der Schilderung ihrer Kinderjahre hat die Dichterin den Menschen gewidmet, die ihr Werden begleiteten und beeinflußten, die Eindrücke hinterließen, deren Bedeutung aus der noch bestehenden Präsenz in der Erinnerungs- und Vorstellungswelt der Schreibenden deutlich wird. Dabei handelt es sich durchweg um Personen, mit denen das Mädchen in direktem Kontakt gestanden hat, und die Darstellung erfolgt vielfach aus der Perspektive des Erinnerten Ich. Von wenigen Ausnahmen abgesehen wird jeweils der in den Bereich der Kinderjahre fallende Zeitraum geschildert, dies entspricht der Zentrierimg der gesamten Autobiographie auf die Hauptfigur. Dementsprechend treten die Personen kaum in Interaktion, sondern werden jeweils in ihrer Relevanz für das Kind beschrieben. Familienangehörige, Erzieher und Lehrpersonen bilden den Umkreis, in den das Kind langsam hineinwächst und mit dem es sich auseinanderzusetzen beginnt. Allein den Schauspielern des Burgtheaters widmet die Dichterin darüber hinaus Raum in den Kindeqahren: auch ohne direkten Kontakt vermögen sie auf die theaterbegeisterte Heranwachsende einen ähnlich starken Einfluß auszuüben wie die Personen des privaten Umfeldes. Im Verlauf der Autobiographie erfahren die verschiedenen Gouvernanten und Lehrpersonen jeweils beim Eintritt in die Sphäre des Kindes, d.h. bei beginnender Einflußnahme auf dessen Entwicklung, eine Charakterisierung, die oftmals wertend ist; dabei wird die Wertung manchmal aus der Perspektive der Schreibenden relativiert, dies auch noch bei den Umarbeitungen der einzelnen Fassungen, wie die Textgeschichte gezeigt hat.152 Die Dichterin geht zumeist vom äußeren Erscheinungsbild aus, kommt dann auf den Charakter zu sprechen und veranschaulicht anschließend, wie sich die betreffende Person dem Kinde manifestierte. Sowohl innerhalb dieser Bereiche (Äußeres, Inneres, konkretisierende Aktion) als auch in deren gesamter Abfolge läßt sich ein Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen feststellen, der mit Beobachtungen anderer im Hinblick auf die Personendarstellung im poetischen Werk übereinstimmt. Die einzelnen Beschreibungen werden demnach verschiedentlich in die Erzählung eingebaut, und ihr Zeitpunkt ist in der Regel eng mit dem Handlungsablauf verknüpft, schließt entweder unmittelbar an das erstmalige Erwähnen des Erzählers an oder aber wird bis zum ersten Auftritt der Figur aufgespart. In keinem Fall so Alexandra Unterholzner - seien die einzelnen Beschreibungen wertneutral.153

152

Siehe S.195f.

153

Unterholzner, S.25f.

240

Im Verlauf der Kinderjahre sind die Personen zunehmend differenzierter gestaltet. Dies entspricht der sich entwickelnden Fähigkeit des Kindes, äußere und innere Eigenschaften einer Person immer besser wahrzunehmen. So werden die die frühen Jahre begleitenden Ammen und Kinderfrauen in relativ groben Zügen geschildert; wichtiger als Gestalt und Gesicht sind hier die Trachten in ihrer auffälligen Farbenpracht (10,6ff.). Das Wesen dieser Frauen wird nur indirekt veranschaulicht in Anekdoten, die ihre Bedeutimg für das Kind zeigen. Demgegenüber steht beispielsweise die äußerst differenzierte Darstellung der Marie Kittl, die erst später, als Marie Ebner in ungleich genauerer Weise Personen zu erfahren und zu analysieren versteht, in ihren Kreis tritt (67,41ff.). Man kann also feststellen, daß die Personenbeschreibung jeweils der Kinderperspektive angepaßt ist und sich den weiterentwickelten Erfassungsmöglichkeiten gemäß verändert. Problematisch ist auch hier wieder die Frage nach bewußtem oder unbewußtem Gestalten in dieser Form; das Basismaterial für die Personendarstellung hängt ja vom Erinnerungsvermögen der Dichterin ab, und für dessen entscheidende Bedeutimg bei der Ausgestaltung spricht zunächst auch die Tatsache, daß die Großmutter gleich zu Beginn durchaus sehr differenziert geschildert wird. Diese Frau hat die Kindeijahre bis zum Ende begleitet, daraus folgt, daß die von der Verfasserin in zunehmendem Alter feiner registrierten Züge der Frau im Nachhinein von ersten Eindrücken nicht mehr zu trennen sind. Spiegel für letztere können nur Personen sein, die die Familie früh verlassen haben. Diese Ausnahme darf jedoch nicht überbewertet werden, da der Person der Großmutter, wie schon erwähnt wurde, in der Autobiographie eine besondere Rolle zukommt.154 Letztlich kann wohl die Frage nach dem Anteil von Unbewußtem bei der Personendarstellung kaum beantwortet werden. So ist man gehalten, von der tatsächlichen Ausführung auszugehen, und darin zeigt sich deutlich die erwähnte Veränderung im Verlauf der Schilderungen. Großmutter, Vater und Geschwister sind die einzigen Personen, die die gesamte Kindheit Marie Ebners begleiten. Am Rande stehen Tante Helene und ihr Sohn, der "Vetter" Moritz, die nur episodenhaft erwähnt werden. Die Einführung von Moritz Ebner als Vetter ist ein weiteres Indiz für die Einhaltung der Kinderperspektive, denn nur eine einzige Stelle in der Autobiographie informiert den Leser darüber, daß dieser Moritz später der Ehemann Marie Ebners geworden ist, und selbst diese Erwähnung gibt keinen Aufschluß über das Verhältnis der beiden zueinander, sondern bezieht sich recht belanglos auf die gemeinsame Wohnung (73,Iff.). Die Bedeutung von Moritz bleibt in den "Kindeijahren" beschränkt auf die Beeinflussung der dichterischen Versuche des Mädchens (64,3ff.).

154

Siehe dazu S.231.

241

Die Geschwister erfahren zunächst keine sonderliche Erwähnung; sie sind Spielgefährten, Freudes- und Leidensgenossen, ihre Erfahrungswelt ist die der Dichterin; so stehen sie gleichsam als "alter ego", das keiner ausdrücklichen Charakterisierung bedarf. Dies ändert sich erst, als Marie beginnt, ihr 'Talent" zu entdecken und die Schwester Friederike als erste einer langen Reihe von Personen das Dichten ablehnt und damit Konflikte in der "kuriosen" Schwester hervorruft (48,40ff.). Ahnlich verhält es sich mit den Brüdern, die erst dann als anders empfunden werden, als sie den gemeinsamen Lebensraum verlassen, um ein Internat zu besuchen (76,2ff.). Auch hier herrscht die kindliche Sichtweise vor: Marie Ebner geht nicht auf das Internat als Bildungsinstitution ein, gibt nicht Erläuterungen zu den Unterschieden in Erziehung und Ausbildung bei Jungen und Mädchen, sondern beschränkt sich auf die Schilderung ihrer persönlichen Eindrücke beim Abschied der Brüder (76,17ff.). Abgesehen davon werden die Geschwister nie einzeln charakterisiert; sehr oft findet sich in den zahlreichen Anekdoten das "wir" der Geschwister als Zeichen für die Gemeinsamkeit in Erfahrungen und Reaktionen. Zu Beginn der Kinderjahre fällt bei der Personendarstellung eine Eigentümlichkeit auf, die ihren Grund im autobiographischen Charakter des Werkes hat; während normalerweise die Personen bei ihrem Eintritt in die Sphäre des Kindes geschildert werden, findet sich am Anfang gleich eine Vielzahl von Personenbeschreibungen. Da Marie Ebner ihre Geschichte mit der Geburt einsetzen läßt, versteht es sich , daß sie vor der Schilderung der eigenen Entwicklung zunächst das Umfeld vorstellt. Dabei werden die einzelnen aufeinander folgenden Personenbilder jeweils in Anekdoten veranschaulicht, diese wiederum zeigen ihren Einfluß auf die Welt des Kindes; die Erzählstruktur wird dabei durch den Wechsel zwischen Deskription und Erlebnisbericht aufgelockert. Wenn bisher festgestellt wurde, daß sich die Dichterin auf die direkt erlebte Zeit mit den jeweiligen Personen beschränkt, so lassen die davon abweichenden Darstellungen auf eine besondere Bedeutung der Betreffenden schließen. Hier ist vor allem die leibliche Mutter Marie Ebners zu nennen, die das Kind nie gekannt hat und um deren Tod es schon sehr früh weiß. Allein die erste Erwähnung der Frau in der Autobiographie zeigt, welche große Rolle sie im Leben des Kindes gespielt hat; nach der zweiten Vorrede schreibt die Dichterin: "Meine Schwester Friederike war vierzehn Monate, ich war vierzehn Tage alt, als unsere Mutter starb." (7,20f.) Ihre eigene Geburt erwähnt Marie Ebner also nur beiläufig und geht sofort anschließend auf die Bedeutung dieser nie gekannten Frau ein: "Dennoch hat eine deutliche Vorstellung von ihr uns durch das ganze Dasein begleitet." (7,21f.) Von Anfang an lebt damit das Kind mit einem Menschen, dessen Bild es verinnerlicht hat und der seine Phantasie beflügelt, davon zeugen zahlreiche Stellen in der Auto242

biographie, in denen vom "Bewußtsein ihrer Nähe" (8,13) die Rede ist, so etwa bei der Schilderung der ersten Beichte (53,33ff.). Die Schilderung dieser Beziehung zur unbekannten Mutter zeigt zweierlei; zum einen erweist sich, wie rege schon die Phantasiewelt der sehr jungen Marie Ebner gewesen ist, zum anderen wird damit gleich zu Beginn der Autobiographie eine Reihe von Mütterschicksalen eröffnet, die in den Kinderjahren eine besondere Rolle spielen. Im Anschluß an die Darstellung der leiblichen Mutter beschreibt die Dichterin das Schicksal ihrer Großmutter, die für die Entwicklung des jungen Talentes eine außerordentliche Bedeutung innehatte. Die Großmutter wird im Laufe der Autobiographie immer wieder erwähnt; bei ihr sitzt das Mädchen und spinnt sich in seine Märchenphantasien ein (38,27ff.), bei ihr sucht es Anerkennimg für erste dichterische Versuche und erlebt schmerzlich die Ablehnimg (60,28ff.). Bedeutsam ist der Tod der Großmutter am Ende der Autobiographie: Mit ihrem Weggang eröffnet sich in der hinterlassenen Bibliothek eine neue Welt für die junge Dichterin, die zunächst eine "bittere Zeit der Selbsterkenntnis" (114,9ff.) durchlebt, indem sie sich mit den Großen der Weltliteratur mißt, sich schließlich jedoch von dieser Depression erholt und zur Konzeption ihres ersten Dramas schreitet. So legt diejenige, die zu Lebzeiten durch moralische Kritik die poetischen Anfänge der werdenden Dichterin beinahe im Keime erstickt hätte, letztlich den Grundstein für deren weitere Entwicklung. Bei dieser Frau wie auch bei den beiden Stiefmüttern, die die Kindheit des Mädchens begleiten, wird immer wieder auf die Bedeutung der Mutterrolle hingewiesen; wie wichtig dieses Thema für die Dichterin ist, zeigt sich darin, daß sie bei der Schilderung einiger Frauenschicksale in diesem Zusammenhang über den Rahmen der ansonsten in den Κίηάβήαίιηη gewahrten Grenzen hinausgeht. Ergreifend wirkt auf das Kind ein Konzert der bislang gefürchteten Klavierlehrerin mit ihren beiden Söhnen (41,14ff.). Die Empfindung des Kindes ist so stark, daß es sich mit den Söhnen identifiziert; mehr noch, die Ahnung der schweren Krankheit des einen Sohnes macht diese Begegnung zum Schlüsselerlebnis: Und die Erinnerung an diesen ergreifend wehmütigen Anblick ist zum Ereignis geworden in meinem Leben. Sie hat dazu beigetragen, es auf die Tonart zu stimmen, in der es sich abspielen sollte. Ein Begriff war mir aufgegangen von dem Leiden, das in der Welt ist (...). Ganz unbestimmt noch, eben nur als leises Vorgefühl, war ein trotziges und selbstsüchtiges Mitleid in mir erwacht, ein Wille zum Leiden. Nicht weil die anderen etwas davon haben, sondern weil mein Leiden mir das ihre erleichtert. (43,llff.) Im Rückblick sieht die Dichterin dieses Erlebnis als wegweisend für ihr späteres Leben an; die Bedeutung des Mutterschicksals scheint auf, wenn in 243

direktem Anschluß an die Schilderung dieser Szene und ihrer Wirkung ein ähnlicher Fall folgt: Marie Ebner geht auf den frühen Tod des Erziehers Just ein und stellt in diesem Zusammenhang über die Situation seiner Mutter längere Betrachtungen an (99,19ff.) Ein weiteres Mal ist die Mutterschaft bei der Charakterisierung einer Lehrerin bestimmendes Element: Sie brauchte Beschäftigung und Zerstreuung, denn ach, der Himmel versagte ihr, die sich so schmerzlich danach sehnte, das Mutterglück. (84,2ff.) Auch bei der Darstellung der Tante Helene kommt die Dichterin auf das Mutter-Kind-Verhältnis zu sprechen: Man kann sich ein innigeres, schöneres Verhältnis nicht denken als das zwischen dieser Mutter und diesem Sohne. (63,14ff.) Nun lernte sie das Beste und Schönste kennen, was das Leben dem Weibe zu bieten hat. Ihr Kind wurde ihre Freude, ihr Licht. (62,16ff.) Die auffällige Betonung der Mütterschicksale in den Kinderfahren kann man in Beziehung setzen zu zwei Novellen, die unmittelbar nach Abschluß der Autobiographie entstanden sind und die unter dem Titel Die unbesiegbare Macht15 ebenfalls dieses Thema in den Vordergrund stellen. Die Darstellung der Mutterschaft als höchste Krönung im Leben einer Frau sei Marie Ebner als Kinderloser erst im Alter nicht mehr schwergefallen, so mutmaßt Alkemade.156 Dagegen spricht, daß die Dichterin auch früher schon oft diesen Stoff thematisierte; jedoch kann man vermuten, daß die Erinnerung an Schlüsselerlebnisse der frühen Kindheit ein besonderes Movens für die Niederschrift der Unbesiegbaren Macht gewesen sind. Durch die Zusammenschau vereinzelter Personenschilderungen hat sich ein von der eigentlichen Entwicklung des Kindes relativ unabhängiger Themenkomplex ergeben, - ein Beleg dafür, daß diese Autobiographie bei genauerer Analyse über das vordergründige Anliegen der Verfasserin hinaus Grundsätze und Einstellungen offenbart. Eingehender wird nun noch die Schilderung der Gouvernante Marie Kittl untersucht. Diese Frau hat für die dichterische Entwicklung des Kindes eine außerordentliche Bedeutung, da sie die Schreibversuche des Mädchens seit ihrem Eintritt in das Haus Dubsky fördert und somit der bislang Verkannten erstmals Anerkennung zukommen läßt. Bei der Darstellung wandelt sich die Perspektive der Erzählerin: Beginnt sie zunächst, das Einwirken Marie Kittls aus der Sicht des Kindes zu beschreiben, so schildert sie späterhin das wei155

Die unbesiegbare Macht. Zwei Erzählungen. Berlin 1905.

156

Alkemade, S.60.

244

tere Leben der Gouvernante nach deren Fortgang von der Familie vom Standpunkt des Erinnernden Ich. Begründet ist dieser Wandel wie der Vorblick auf den weiteren Lebensweg Marie Kittls überhaupt in der veränderten Bewertung der Person: Vom leuchtenden Vorbild der mütterlichen Freundin wird die Gouvernante nach und nach die bemitleidenswerte MöchtegernDichterin, der bei unzureichendem Talent der Erfolg versagt bleibt. Damit entwirft die Ebner hier ein indirektes Gegenbild zu ihrer eigenen Person; dies geht auch aus den allgemeinen Überlegungen über Begabung und Dichtung, die diese Schilderung begleiten, hervor (103,39ff.).157 Die Darstellung der übrigen Gouvernanten, Erzieher und Lehrpersonen erfolgt durchweg aus der Perspektive des Kindes; Kritik oder positive Wertung beziehen sich dabei auf die individuelle Situation, ein allgemeines Urteil über die Erziehungspraktiken eines adligen Haushaltes in der Mitte des 19. Jahrhunderts fällt die Dichterin nicht. Jedoch ist es klar, daß die Situation im Hause Dubsky durchaus typisch ist für die damaligen Verhältnisse, und somit kann diesem plastischen Bild eines Einzelfalles durchaus ein kulturhistorischer Wert beigemessen werden. Bei der Personendarstellung in der Autobiographie ist die Dichterin, darauf wurde schon verwiesen, ähnlich verfahren wie in ihren poetischen Werken. Von wenigen Ausnahmen abgesehen steht sie selbst nach der Einführung der Person in den konkretisierenden Anekdoten im Zentrum des Geschehens; damit wird auch hier die Fokalisierung der Autobiographie hin zum Erinnerten Ich deutlich.

e. Erzählweise und Sprachstil

ea. Erzählweise Fast selbstverständlich erscheint es, daß Marie Ebner ihre Erinnerungen in der Ich-Form schreibt; dabei sei auf abweichende Beispiele verwiesen, wie etwa Anton Reiser von Karl Philipp Moritz, der seine kaum verschlüsselte Lebensgeschichte in der Er-Form abgefaßt hat. Die Dichterin bedient sich jedoch fast durchgängig der Perspektive des Erinnernden oder des Erinnerten Ich, einige Male aber greift sie auch zur dritten Person. Hier ist etwa die Schilderung ihrer ersten Beichte zu nennen, bei der sie zunächst wie gewohnt mit der Ich-Form einsetzt; der Satz "Von dem unmittelbar Folgenden gibt mein Gedächtnis mir keine Rechenschaft" bereitet den Leser auf den Wechsel der Perspektive vor, der im nächsten Satz erfolgt (54,5f.). Es handelt sich dabei um die Schilderung einer Grenzsituation, die der Rück-

157

Siehe dazu S.257ff.

245

blickenden in ihrer Bedeutsamkeit wohl bewußt ist, die zugrundeliegende Motivation des Kindes ist ihr fremdgeworden; sie sieht und schreibt dementsprechend aus der Perspektive des Paters und spricht von sich selbst in der dritten Person. Die innere Distanz der Dichterin findet zudem ihren Niederschlag in der ironischen Bezeichnung ihres Unterfangens als "mißlungene Himmelfahrt" (54,29f.). Ein weiterer Beleg für die abweichende Verwendung der dritten Person findet sich bei der Schilderung einer Szene aus dem Leben des Großvaters, der als bedeutende Persönlichkeit, die mit Selbstzufriedenheit auf ihr Lebenswerk zurückblicken kann, dargestellt wird; kraß hebt die Dichterin ihr eigenes Tun vom Schaffen dieses Mannes ab und verwendet auch hier die dritte Person, womit die gewonnene Distanz zum Erinnerten Ich unterstrichen wird (49,29ff.). Durch Tempuswechsel erlangt die Ebner einige Male neue Betonimgswerte. Dies ist etwa der Fall bei der Schilderung innerer Reisen in Phantasiewelten, wo unvermittelt vom Präteritum ins Präsens übergegangen wird (38,22ff.); so geht sie auch vor bei Anekdoten, die durch die Verwendimg des Präsens hervorgehoben werden und eine Spannlingssteigerung erfahren (44,35ff.). Ein besonders deutliches Beispiel für die Benutzung von Präsensformen bietet die Beschreibung der jungen Dichterin bei der Beschäftigung mit ihrem ersten Dramenstoff; hier wechselt die Perspektive laufend zwischen Erinnerndem und Erinnertem Ich und entsprechend die Zeit zwischen Präsens und Präteritum (116,29ff.). Durch die Verwendung präsentischer Zeitformen verstärkt Marie Ebner die Wirkungsintensität von Anekdoten und Phantasien. Innerhalb der KinάβήίύΐΓβ kann dabei eine Veränderung konstatiert werden: Sind bei der Beschreibung der ersten Jahre vorwiegend handlungsreiche Begebenheiten, die sich der Erinnerung besonders einprägten, durch dieses Erzählmittel betont, so geht die Dichterin im Verlauf der Erinnerungen mehr und mehr dazu über, eine solche Art der Verlebendigung des Vergangenen bei inneren Vorgängen anzuwenden, was deren wachsender Relevanz entspricht. Zuweilen belegt die Ebner dokumentarisch genau die Quellen ihrer Schrift, wenn sie etwa auf die Memoiren ihres Mannes oder die Briefe von Marie Kittl verweist (91,37; 92,40ff.; 103,28ff.). Die Distanz der Dichterin zu ihrer Vergangenheit kommt bei der Schilderung ihrer Lektüre alter Briefe besonders deutlich zum Ausdruck: Wie die Melodie auch anhob, das Ende vom Lied dürfte doch immer gewesen sein: "Staune in mir ein Kind von außerordentlichen Gaben und Fähigkeiten an, das zu großen Dingen bestimmt ist." Wie aus einem Spiegel blickt dieses Wunderkind mir aus den Briefen meiner oft ratlosen Führerin entgegen. Ich sehe einen kleinen Affen, der sich vor Vergnügen

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darüber nicht kennt, daß seine Grimassen ernst genommen werden. (93,8ff.) Eine solche direkte Konfrontation der Schreibenden mit dem Erinnerten Ich findet sich jedoch nur selten. Häufiger unterbricht die Dichterin mit Betrachtungen über Vergangenheit und Gegenwart den Erzählfluß; dabei ist der Übergang zur aphoristischen Lebensweisheit oft fließend. Man kann hier mit Lämmert feststellen, daß "der Rückblick fast zwangsläufig mit zeitlosen Reflexionen, ja Sentenzen durchsetzt ist" und Lebenserinnerungen insofern häufig "Ausdruck der Lebensphilosophie einer Person bzw. des Erzählers" werden.158 Erzählerreflexion als Gespräch mit dem Leser findet sich in den Kindeqahren wohl selten im Verhältnis zu den zahlreichen Anekdoten, schafft aber dennoch gleichsam einen theoretischen Unterbau für das Werk, - über die Inhalte wird später noch zu sprechen sein. Kommentare und Gedankengänge können dabei ausgesprochen kurz gehalten sein - "Aber Höhe ist Wende" (17,5f.j -, zuweilen weiten sie sich jedoch zu seitenlangen Exkursen aus, wie z.B. die Gedanken über das Verhältnis von Eltern und Kindern gestern und heute (20,1-40). Damit geht die Dichterin über das individuelle Erleben hinaus und erhebt sich über den Standpunkt der Rückblickenden; neben der Ebene des Erinnerten und der des Erinnernden Ich eröffnet sich also eine dritte, die sich durch Betrachtungen allgemeiner Art ausweist. Es liegt also ein dauernder Wechsel zwischen Kinderperspektive und der der Rück- bzw. Überschauenden vor, der der Verlebendigung, Auflockerung und Vertiefung des Dargestellten dient; ihm entspricht der Wandel im Sprachgestus, der im folgenden untersucht wird.

eb. Sprachstil

Den unterschiedlichen Perspektiven entsprechend weist der Wortschatz der Κίηάβήαίιτβ mehrere Ebenen auf; Anekdoten aus der Welt des Kindes enthalten in direkter und indirekter Sprache häufig Kindervokabular ("der Papa", "die Mama") und die charakterisierenden Kurzreden der Personen Dialektwörter - "verdunnerte Kinder" - oder grammatisch fehlerhafte Sprache: Der Doktor hat ihr zur Ader gelassen. Und jetzt seien Sie still, sonst wird der Doktor auch Ihnen zur Ader lassen. (ll,17f.)

158 Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1970. S.137.

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Bestimmte Ausdrücke des familiären Umfeldes werden mit Anführungsstrichen versehen, um den heimischen Sprachgebrauch zu markieren, dies ist z.B. der Fall bei der "herrschaftlichen Tafel". Anführungsstriche tragen manchmal auch Begriffe, die erst durch diese Betonung die Distanz der Erzählerin zur damaligen Einstellung ironisch verdeutlichen, wenn sie etwa von ihrer "Literatur" und ihren "Poesien" spricht. Der Anteil der direkten Rede, die zur Verlebendigung des Dargestellten und zur Erhöhimg der Authentizitätswirkung dient, ist bei der Schilderung der ersten Lebensjahre besonders hoch;159 wie bei einer Erzählung hat auch hier der Redereichtum die Funktion, zu zeigen, daß die "Vorstellung menschlicher Reaktion (...) gegenüber der Kundgabe bloßer Aktionen und Begebenheiten" dominiert. Im Verlauf der Kinderfahre nimmt die Häufigkeit der direkten Reden ab, indirekte und vor allem innerer Monolog sind weiterhin stark vertreten; im übrigen aber geht die Dichterin weithin zum berichtenden Stil über, was auf eine Verlagerung des Erzählstoffes auf eine andere Ebene schließen läßt. Ein weniger krasser Stilwechsel bewirkt den Eindruck von kontinuierlicherer Entwicklung. Von dem Zeitpunkt an, da die "Poesien" mehr und mehr an Bedeutung gewinnen, sind einzelne Anekdoten für sich genommen nicht mehr so sehr konstitutiv als vielmehr das innere Werden des Kindes, dessen Reflexionen und Versuche auf dichterischem Gebiet geschildert werden. Die Bewegung im Erzählfluß, die anfangs durch den steten Übergang von Bericht zu Beschreibimg zu Anekdote zu Reflexion und umgekehrt entstanden ist, wird ruhiger. Es entsteht der Eindruck, als könne sich die Verfasserin mehr und mehr mit dem dargestellten Ich identisch fühlen und habe ihren Erzählstil entsprechend abgestimmt. Zwei Besonderheiten, deren häufiges Auftreten in einem Werk wie den Kinderfahren kaum verwundern wird, sollen im folgenden betrachtet werden; es handelt sich um Emphase und Ironie, wobei letzteres eine Art von Gegengewicht zu ersterem Stilmittel darstellt. Ironische Wendungen finden sich zunächst häufig bei der Schilderung von Kinderstreichen; so entsteht etwa eine Spannung durch die unangemessene Verwendung von Strafrechtsvokabular: "höhere Instanz (...) das standrechtliche Verfahren" (15,12ff.) Einen ähnlichen Effekt bewirkt der Vergleich mit historischen Ereignissen: Die spanische Armada war einst nicht siegesgewisser ausgezogen als wir zu unserer Unternehmung - und ihr Schicksal teilten wir. (28,15f.) Georges May bezeichnet die Ironie als Stilmittel in der Autobiographie als eine Art von freiwilliger Deformation, zu der viele Autoren griffen, um die

159

Lämmert: "Und gerade mit dem Mittel der direkten Rede erreicht das Erzählen den höchsten Grad ablaufgetreuer Wiedergabe des Geschehens." S.200.

160

Ebd., S.205.

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Erinnerung nicht mehr wiedererleben zu müssen.161 Bei Marie Ebner dient sie jedoch überwiegend der Auflockerung der Erzählung; es handelt sich bei den ironischen Passagen durchweg um die Schilderung kleiner Schelmenstücke, die das Kind wohl nicht als amüsant empfunden hat, deren Ironisierung für die Rückblickende aber naheliegt. Für diese Begründung der Wahl des Stilmittels spricht zudem, daß Ereignisse, deren Wiedererleben für die Dichterin mit Sicherheit unangenehm sein muß, dem vollen Ernst der damaligen Situation entsprechend wiedergegeben werden. Die im Verlauf der Kinderjahre sparsamer werdende Ironisierung des Geschehens zeugt von der Relevanz, die die Nöte und Sorgen der Heranwachsenden, sobald sie sich zunehmend mit ihrem Dichter-Schicksal auseinandersetzt, noch für die Rückblickende haben. Tatsächlich ist der Grundton der Erzählung der späteren Jahre, in denen Kritik der Umgebimg und Selbstzweifel der jungen Dichterin zu schaffen machen, durchaus anders gestimmt als die heitere Darstellung der ersten Zeit, so daß die Autobiographie mit dem Satz enden kann: "Ich hatte gedacht und gelitten - ich war kein Kind mehr." (121,7) Während eine dem Wandel des Inhaltes entsprechende Abnahme von ironischen Wendungen festgestellt werden kann, ist die Benutzung von emphatischen Ausdrücken im gesamten Werk konstant. Dabei sei erinnert an die Befunde aus der Textgeschichte, die zeigen, daß die Dichterin bei der Überarbeitung der ersten Druckfassung für die Buchausgabe zu einer Abschwächung allzu gefühlsgeprägter Sprache tendiert hat. In der Autobiographie weist Emphase als Stilmittel der besonderen Betonung auf die starke innere Anteilnahme des Erzählers am Dargestellten hin; in den Kindetfahren findet sie sich besonders häufig bei der Einführung von Personen: Sei gesegnet noch in deinem Grabe, in dem du seit langen Jahren ruhst, du brave Josefa Navratil, genannt Pepinka! (9,29f.) O welch ein Erzählertalent war unsere Anischa! (11,30) In der zweiten Hälfte des Werkes beziehen sich die emphatischen Wendungen überwiegend auf Empfindungen und Gemütsbewegungen des Kindes mit seinem Anspruch auf Anerkennung seines Talentes: Und ich - es mutete mich an wie ein Wunder -, ich verstand sie! Mir war's gegeben, mir, einem Kinde! (93,29ff.) Die Benutzung ironischer und emphatischer Wendungen, für die hier nur einige von sehr vielen Beispielen angeführt worden sind, offenbart die innere Distanz bzw. Anteilnahme der Dichterin gegenüber dem Geschilderten. Beide Phänomene verweisen auf die subjektive Perspektive der Autorin, sei

161

May, S.82f.

249

es die des Erinnernden oder die des Erinnerten Ich, und sind demnach ebenfalls als Zeichen für die Ich-Zentrierung der Autobiographie anzusehen. Wie hier zeichnet sich auch bei der Verwendung von superlativischen Ausdrücken im Verlauf der Textumarbeitungen das Bemühen der Dichterin um eine zunehmend gemäßigte Sprache ab.162 Dennoch manifestiert sich noch in der Endfassung eine solche Häufung von Belegstellen, daß man - im Blick auf die Verhältnisse in den poetischen Werken 3 - von einer Besonderheit autobiographischer Schreibweise sprechen kann. Die folgenden Beispiele sollen dies stellvertretend für viele verdeutlichen: Sie waren das Mißratenste, was je auf diesem Gebiete geleistet worden, aber die größten Meisterwerke hätten nicht freudiger empfangen werden können (...). (27,Iff.) Auch ihr war die auserlesene Schicksalsgunst zuteil geworden, für den schwersten Verlust den denkbar besten Ersatz zu finden - die hebreichste und gütigste Stiefmutter. (8,15ff.) Diese Superlative zeugen von dem Maßstab, den das Kind in Unwissenheit einer möglichen Relativierung an alle Personen und Begebenheiten anlegt. Anzeichen dafür sind auch die zahlreichen wertenden Adjektive, z.T. ausgefallene Wortprägungen im Bereich der Kindersprache wie "grauslich" und "wundergut" sowie die vielen Diminutivformen von Substantiven. Zuweilen geht die Dichterin unvermittelt innerhalb einer Anekdote von der gehobenen Gemeinsprache in eine poetisch ausgeformte über, und es zeigen sich Stilzüge, die schon andernorts als Charakteristika im Werk Marie Ebners bezeichnet worden sind:164 Alliteration und Doppelung von Satzgliedern: wir jauchzten und jubelten ihm zu. (14,31f.) Ganz anders arg und grausig als das Stöhnen des Laubes beim Wehen leiser Lüfte waren die schrillen Schmerzenslaute (...) wie ein Schluchzen, flüsterte es wie hastiges Flehen, glitt über die Fensterscheiben mit tastenden Fingern. (12,7ff.) In den Kindeqahren berichtet die Dichterin, wie beeindruckend Erzählungen von einem Farbenklavier für sie gewesen sind (102,31ff.). Kay Goodman sieht darin die biographische Grundlage für Synästhesie im Stil Marie Ebners gegeben und zitiert eine entsprechende Passage aus dem Zeitlosen Ta-

162

Vgl. die Ergebnisse S.192.

163

In der gängigen Sekundärliteratur ist dieser Stilzug für die poetischen Werke der Dichterin bislang nicht ausgemacht worden.

164

Baasner, S.336f.

250

gebuch.165 Ob eine solche Folgerung zulässig ist, kann angezweifelt werden, Tatsache aber ist, daß Goodman keine weiteren Werke der Dichterin hätte hinzuziehen müssen, denn in der Autobiographie selbst fmden sich Stellen, deren stilistischer Formung ein synästhetisches Konzept zugrundeliegt: (...) in den feurigen Himmel ragt die Kuppel von Sankt Peter, und durch die Lüfte gleiten, andachtweckend, auf tönenden Schwingen die silbernen Klänge ihrer Glocken... (6,7ff.) Heitere Melodien erklangen; manchmal glaubte man das silberne Lachen eines Kindes zu hören. Es hob sich hell ab von dämmriger Begleitung. Die Stimmen der Viola und der Violine schmiegten sich ihr an, trugen sie, blieben immer voll Hingebung dienend und Untertan, ob ihr tiefernster Gesang in breitem Strome flutete und brauste, ob er kristallklar dahinglitt mit seidiger Geschmeidigkeit. Es war traumhaft schön. Man konnte eine Landschaft vor sich hinzaubern unter grauem Himmel mit weitem Ausblick in die Ferne; alle Umrisse unbestimmt, die Farben ineinander verschmolzen. Aber verborgen in den Zweigen eines Baumes hatte sich ein Vogel - der sang. Sang Licht und Duft und Farbe in die graue Landschaft hinein... (41,40-42,7) Während sich in diesem Stilzug das Bemühen der Dichterin um eine poetisch ausgeformte Sprache in den Erinnerungen manifestiert, wie sie nur das Erinnernde Ich zu formulieren vermag, markieren andere sprachliche Eigentümlichkeiten die Vorstellungswelt des Kindes; dies ist der Fall bei den zahlreichen Vergleichen. Wegen deren Häufigkeit könne der "Gebrauch des Vergleichs als Stilzug angesehen werden" und Merkmal der poetischen Sprache der Dichterin überhaupt sein, da sich in ihm sprachliche Eigenschaften äußerten, "wie sie in keinem anderen Detail in so einheitlicher und konzentrierter Form auftreten" - so Alexandra Unterholzner.166 In den Kindeqahren erscheinen Vergleiche normalerweise in der Konstruktion mit "wie" oder sind durch qualifizierende Suffixe ausgewiesen; sie entstammen sehr oft dem Bereich der Natur - "trotzig wie ein Bock" (10,22), "Witze, die (...) unkrautmäßig wucherten" (15,27f.) -, oder es handelt sich um allgemein übliche Wendungen - "wie versteinert" (14,15), "wie aus der Pistole geschossen" (14,27). Zuweilen spricht aus den Vergleichen die Anschauungsweise des Kindes - "Er (...) nahm sich von weitem aus wie ein Zylinder mit einer kleinen Gurke darauf' (15,18) -, oder aber die poetische Überformung durch die Dichterin macht sich bemerkbar: "daß die Feder hinschwebte (...) wie durstige Schwalben spielend über dem Wasser schweben" (16,7f.).

165 · Goodman: Women, S.217. 166 Unterholzner, S.141f.

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Im Verlauf der Autobiographie ist eine Abnahme in der Verwendung von Vergleichen festzustellen, die auf den erwähnten Wechsel im Erzählstil - von anekdotenreicher Schilderung hin zu überwiegend reflektierenden Passagen, von konkretem hin zu abstrakterem Wortschatz - zurückzuführen ist. Auffällig ist das zahlreiche Auftreten dieses sprachlichen Mittels vor allem in dem Bereich der Schrift, wo die Kinderwelt aus der Perspektive des Erinnerten Ich geschildert wird. Über die Verwendimg von Metaphern ist schon andernorts gesprochen worden; die häufige Erwähnung von Pflanzen, besonders Bäumen, die das Werden des Kindes oder den Gegensatz von jung und alt symbolisieren, kann als Charakteristikum dichterischer Schreibweise, dem in der Autobiographie besondere Bedeutung zukommt, angesehen werden. Die Untersuchung stilistischer Eigentümlichkeiten kommt damit zu Ergebnissen, die den Charakteristika der Sprache in den poetischen Werken durchaus entsprechen; mehr als sonst allerdings benutzt die Dichterin emphatische und ironische Wendungen und verrät damit ihre besondere innere Anteilnahme am Geschilderten, dies gilt sowohl für die Ebene des Erinnerten wie für die des Erinnernden Ich. Vergleiche und Metaphern verdeutlichen in Vielzahl die Welt des Kindes und die der Rückblickenden, unterstreichen die Entwicklungsthematik und die allmähliche Verlagerung des thematischen Schwerpunktes von der Schilderung kindlicher Realitätserfahrung ganz allgemein hin zu beginnender Ausformung eines dichterischen Selbstbewußtseins.

f. Leitthemen Nach diesem Blick auf die sprachliche Ausgestaltung der Autobiographie soll im folgenden eine Untersuchung inhaltlicher Schwerpunkte der Schrift angestellt werden; dabei wird vorausgesetzt, daß sich anhand bestimmter immer wiederkehrender Begriffe auch in einem autobiographischen Werk über die reine Tatsachenschilderung hinausgehende Aussagen und Stellungnahmen des Verfassers für eine Interpretation anbieten. Bittrich spricht bei seiner Deutung von Marie Ebners Erzählung Unsühnbar von Leitwörtern, "die in äußerster Verknappung zentrale Probleme benennen und durch ihr Wiedererscheinen an Stellen, die auf die jeweilige Problematik bezogen sind, diese blitzartig erhellen."167 In den Kinderjahren liegt ein solcher Fall vor bei den Exkursen der Dichterin über Wiederholung und Grundton des Lebens; schon während der Abfassung ist - wie erwähnt - die Rede von der Vorherbestimmung des spä-

167

252

Bittrich, S.330.

1£Ö

teren Lebens. Entsprechendes kommt verschiedentlich im Verlauf des Textes selbst zum Ausdruck, wobei zunächst das individuelle Erleben geschildert wird: Und die Erinnerung an diesen ergreifend wehmütigen Augenblick ist zum Ereignis geworden in meinem Leben. Sie hat dazu beigetragen, es auf die Tonart zu stimmen, in der es sich abspielen sollte. (43,Uff.) Das Erleben von Leid und Mitleid wird hier als prägende Erfahrung bezeichnet, die das spätere Leben bestimmt; dies unterstreicht die Dichterin vor allem in Zusammenhang mit der Reaktion ihrer Umwelt auf die ersten eigenen "Poesien" immer wieder: Von dem Schmerz und dem Groll, den diese stumme Ablehnung mir verursachten, habe ich nie etwas verraten und wie oft sollte ich sie erleiden! (57,7ff.) Die Dichterin kommt über die individuelle Erfahrimg nun zu einer allgemeinen Aussage: Alles wiederholt sich im Leben. Der Grundton, auf den das Schicksal des Größten wie des Kleinsten gestimmt ist, kommt immer wieder hervor. (57,8ff.) Zur Begründung wird der Bogen zum persönlichen Schicksal zurückgeschlagen: Die stumme Ablehnung, die mein erstes poetisches Gestammel durch eine Getreueste und Geliebteste erfuhr, wurde meiner Schriftstellerei bis ins reifste Alter durch andere Vielgetreue und Vielgeliebte zuteil. (57,10ff.) Eine Lehrerin hintergeht die Kinder, und auch diesen Vorfall sieht die Dichterin im Rückblick als Schlüsselerlebnis an: Wie kann etwas in der Welt gewesen sein - um nichts? (...) In späteren Jahren habe ich das kleine Erlebnis in anderem Maßstab und in anderer Form sich an mir und um mich zahllose Male wiederholen gesehen. (85,21-27) Die Quintessenz dieser Betrachtungen drückt Marie Ebner sehr knapp an anderer Stelle aus: "Alles wiederholt sich im Leben, weil wir uns selbst immer wiederholen." (77,39) In diesen Aussagen, die die gesamte Autobiographie durchziehen, offenbart die Dichterin zum einen ihre Einstellung gegenüber frühkindlichen Erfahrungen überhaupt, d.h. sie sieht die Bedingtheit des Lebens durch prägende Ereignisse nicht nur für sich, sondern ganz 168

Siehe S.173f.

253

allgemein als gegeben an; auf der anderen Seite konkretisiert sie anhand verschiedener Beispiele, was sie Rodenberg gegenüber als Grund für die Beschränkung der Schrift auf die ersten vierzehn Jahre hingestellt hat. Von zentraler Bedeutung sind zwei weitere, inhaltlich eng verwandte Leitwörter, deren zahlreiche Belegstellen im Text zeigen, daß die Dichterin von den Kindertagen an eine poetische Berufung verspürt hat, bzw. im Nachhinein die Grundlagen ihres späteren Schaffens in den ersten Erlebnissen angelegt sieht: In sämtlichen Schilderungen, die sich auf die innere Entwicklung des Kindes beziehen, darüber hinaus jedoch auch in den meisten Anekdoten, deren Erzählanlaß zunächst allein im Unterhaltungswert zu liegen scheint, stehen die Begriffe "Phantasie" und "Vorstellungswelt" im Mittelpunkt. Hier spielt zunächst die dem Kind nur aus Erzählungen bekannt gewordene Mutter eine Rolle, deren Bild immer wieder heraufbeschworen wird: Man hatte uns die Überzeugimg beigebracht, daß sie vom Himmel aus über uns wache (...). Ich vergesse nie, mit welcher Zuversicht und mit welcher geheimnisvollen Glückseligkeit das Bewußtsein ihrer Nähe mich oft erfüllte. (8,10-14) Die Vorstellung von der Mutter gewinnt in der Selbstmord-Szene nach der ersten Beichte einen solchen Realitätsgehalt, daß das Kind sich bedenkenlos von der irdischen in deren Welt begeben zu können glaubt. (53,33ff.) Eine weitaus größere Bedeutimg kommt hier jedoch anderen "Welten" zu, die sich Marie Ebner von klein auf durch die Erzählungen ihrer Kinderfrau eröffnen: Wie verstand sie zu schildern, ihre Phantasiegebilde klar und lebendig hinzustellen, sie aufsteigen, vorüberschweben, entschwinden zu lassen. (...) Wir haben das Glück genossen, uns nach Herzenslust in einer Wunderwelt ergehen zu dürfen, sowohl als kleine wie später als größere Kinder. (ll,30ff.) Ausführlich beschreibt die Dichterin, wie sich die Märchen in der Phantasie der Kinder verselbständigen; Übergang zum Präsens und andere formale Mittel unterstreichen die Suggestivkraft des Erzählten (ll,36ff.). Sehr ausladend wird auch das Märchen von der "hlava" mit seiner besonderen Wirkung auf das Kind vorgestellt sowie detaillierte Beschreibungen von Gemälden, deren Inhalte sich in der kindlichen Vorstellungswelt zu Geschichten verdichten (12,18ff.). Eine geradezu magische Wirkung schreibt Marie Ebner den Werken ihrer ersten Lektüre zu: (...) eine Wünschelrute, die mich auf einen Wink in Sagenwelten versetzte, in dunkle, in sonnighelle, die ältesten Zeiten in rätselhafter Ferne vor mir auftauchen, mich die alten miterleben ließ. (37,9ff.) 254

Die Bedeutung manifestiert sich immer wieder auch sprachlich, wenn etwa das Märchen, dieses "reizumflossene Wesen" (37,23f.) anthropomorphisiert wird. Mit Bück auf die gewandelten Verhältnisse in der Zeit der Niederschrift erfährt das Fehlen von vorfabrizierter Kinderwelt eine positive Wertung: In vollster Freiheit waltete unsere Phantasie und wurde da schöpferisch, wo sie heute nur eine Nachempfinderin zu sein braucht. (37,40ff.) Eine Phase tiefer Niedergeschlagenheit beginnt, als sich Zweifel am Realitätsgehalt der sinnlich wahrnehmbaren Umgebung regen (47,20ff.). In der Folge und unter dem Druck belastender häuslicher Verhältnisse schafft das Kind in seiner Phantasie die gefürchteten Erzieher um und begegnet ihnen nun in der Realität ganz unbefangen, wodurch sich mannigfaltige Mißverständnisse ergeben (48,8ff.). Auch dies ist eine der Grunderfahrungen, die die Dichterin im späteren Leben immer wieder macht, - sie folgert ins Allgemeine: Über keines der Wesen, die ihre Existenz wirklich nur unserer Einbildungskraft verdanken, haben wir unumschränkte Macht. Wir können sie ins Leben rufen, sie aber nicht handeln lassen nach unserm bloßen Gefallen. Sind es Menschen, die den Namen verdienen, dann haben sie ihre eigenen Gesetze, müssen tun nach ihrer eigenen Natur und sich aus diesem Tun ihr Schicksal bereiten. (48,16ff.) In dieser Zeit nun, in der die reale Welt der jungen Marie Ebner zu einer Sinnestäuschung herabgesunken ist, schafft sie sich ein eigenes Phantasiereich und korrespondiert mit dessen Bewohnern (49,6ff.). Dies geschieht in aller Heimlichkeit; im Nachhinein sucht die Dichterin nach einer Erklärung: Vielleicht leitete mich dabei eine unbestimmte Angst vor einem Zweifel, einem Spott, der den Filigranbau meiner Träume erschüttert oder mir seinen Schimmer, wenn auch nur mit einem Hauch, getrübt hätte. (50,15ff.) Hier klingt erstmals das Motiv der Widerstände ihrer Umgebung gegen das poetische Schaffen des Mädchens an, das von nun an sämtliche weiteren Versuche auf diesem Gebiet begleitet. Die Kette der Schilderungen literarischer Betätigung wird im folgenden nur noch selten unterbrochen, - immer wieder und immer ausführlicher berichtet die Dichterin von ihrem Bemühen, Phantasien in Worte umzusetzen. Die Zweifel am Realitätsgehalt ihrer Umwelt legen sich langsam, und zugleich werden "die Bilder meiner erträumten Welt in der unerreichbaren Ferne immer undeutlicher." (56,25f.) Stattdessen beginnt sich eine "mütterliche Liebe" für eigene Verse und Prosa zu regen, die die junge Dichterin nun sorgsam aufschreibt. Bei der zu diesem Zeit255

punkt einsetzenden Suche nach Anerkennung findet Marie Ebner keinen Widerhall; so glaubt sie von ihrer Schwester, "daß eine dunkle Empfindung ihr verriet, Versemachen sei eine gefährliche Sache." (57,3f.) Nach einem Theaterbesuch kommt das Mädchen "völlig berauscht" nach Hause, - im Rückblick sieht die Dichterin auch hier ein Schlüsselerlebnis: "Die Richtung, in der meine Phantasie fortan ihre Flüge nehmen sollte, war bestimmt. Ich wurde unerschöpflich in der Erfindung von Theaterstücken." (57,24f.) Auch diese will aber niemand anhören. Wie schwer ihr dieser Zustand zu schaffen macht, schildert die Dichterin im folgenden: Längere Zeit half mir eine trotzige Resignation, über ihren Inhalt Schweigen zu bewahren. Ebensogut hätte ich aber eine Brut Singvögel mit mir herumtragen und sie bewegen können, stumm zu sein. (58,41ff.) Die Phantasie und das Bedürfnis, sie umzusetzen, werden als psychologische Kräfte hingestellt, denen sich das Mädchen nicht entziehen kann; die Ablehnung, die sie laufend von ihren nächsten Bezugspersonen erfährt, läßt sie immer mehr an der moralischen Rechtfertigung ihres Tuns zweifeln. Die Schwester wurde so traurig und brach endlich in so heiße Tränen aus, daß ich, gerührt und ergriffen, einen heroischen Vorsatz faßte und ihr versprach, nicht mehr davon zu reden, wenn "es" in meinem Kopf wieder anfangen würde zu dichten, auch nie mehr etwas aufzuschreiben und, wenn die Versuchung dazu mich anträte, innig zu beten um die Kraft, ihr zu widerstreben. (59,13ff.) Beruht hier noch die Bereitschaft, der Poesie zu entsagen, auf dem Wunsch, die Schwester nicht zu verletzen, so verinnerlicht die junge Dichterin bald darauf bei der Ablehnung durch die Großmutter deren Vorwürfe und beginnt nun, sich selbst Schuld zuzuweisen: Ach, wenn der Himmel sich meiner erbarmen und mich erlösen wollte von dieser Sündhaftigkeit, oder was es denn sein mochte. (...) ich wünschte mir ehrlich und heiß, bald zu sterben, um nicht noch mehr unwillkürliche Schuld auf mein Haupt zu laden. (61,17ff.) In der Folgezeit zieht sich das Kind im Bewußtsein eines über es verhängten Schicksals zurück und stilisiert die inneren Nöte. Hier kommen nun zwei zentrale Motivkreise zusammen: Der Wille zum Leid ist schon zuvor, in der Konzertszene, angeklungen: "Ganz unbestimmt noch, eben nur als leises Vorgefühl, war ein trotziges und selbstsüchtiges Mitleid in mir erwacht, ein Wille zum Leiden." (43,17ff.) Durch die Wiederaufnahme dieses Motivs schafft die Dichterin eine psychologische Grundstruktur als Basis für ihr Weiterleben:

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Woraus mir ein Vorwurf gemacht wurde, das war etwas Unentrinnbares und ohne mein Wissen und Wollen durch eine höchste, göttliche Macht über mich verhängt. Die Leiden, die ich dadurch erduldete, und leiden wollte ich ja! erschienen mir nicht wie gewöhnliche, sondern wie besonders schöne und erhabene, wie die eines Märtyrertums und aus diesem Bewußtsein schöpfte ich eine große Widerstandskraft (...). (61,31ff.) Unterstützung gewährt ihr Moritz Ebner, auf dessen Anraten hin sie beginnt, statt in französischer von nun an in deutscher Sprache zu denken und zu schreiben, - "Meine Einfälle wurden auf ihre Nationalität hin überprüft." (65,34f.) Wichtige Anregungen erfährt die junge Dichterin bald darauf durch die Lektüre bestimmter Werke, die richtungweisend für ihre Entwicklung werden; ihr Eindruck ist zeitweise so übermächtig, daß ihre ganze Vorstellungswelt davon eingenommen wird: "Seitdem ich im Besitze meines Schiller war, lebte ich nur in ihm." (77,33f.) Die Einwirkung wichtiger Bücher auf ihre Phantasie verdeutlicht Marie Ebner von nun an häufig; besonders prägnant wird dies gegen Ende der Kindeqahre, wo sie ihr Erleben in der großmütterlichen Bibliothek schildert: "Nur lernen mußte ich zuerst, alles kennenlernen, was es Schönes gab in diesen Büchern, die ich zu meiner Welt machen wollte." (114,20f.) Dies gipfelt in der Beschäftigung mit den Mémoires pour servir à l'histoire d'Anne d'Autriche, die der jungen Dichterin den Stoff für ihr erstes Drama bieten: Alles, was in mir lebte an Vergötterung des Schönen, an Verachtimg und Haß des Schlechten und Gemeinen und nicht zum mindesten an übermütigem Humor, (...) alles ließ sich da hineinschütten wie in eine eigens mir zu Lieb und Ehr geformte Schale. (116,24ff.) So schreibt sie über die Figur Richelieus: "Der Reichtum, den sie der Phantasie anbot, war unerschöpflich. Wo man antippte, gab's Funken." (117,14f.) Zum Schluß leuchtet das Stück vor ihr "im reinen Glanz eines Phantasiegebildes, an das die gestaltende Hand noch nicht gelegt wurde." (120,6f.) Hier ist nicht mehr die Rede von Einwänden der anderen gegen ihre Dichtungen; am Ende der Kindeqahre triumphiert die Macht der Phantasie und setzt damit einen positiven Schlußpunkt unter die Schilderung der inneren Entwicklung. Bei der hier vorgenommenen Lektüre der Autobiographie nach dem Leitwort "Phantasie" bzw. "Vorstellungswelt" hat sich eine Motivkette ergeben, die in der Zusammenschau als "roter Faden", d.h. als bestimmende Instanz für die sich ausgestaltende Individualität der jungen Dichterin erscheint. Ein damit eng verwandtes Thema spricht Marie Ebner mehrfach an, das schriftstellerische "Talent"; vor allem in der zweiten Hälfte des Werkes, wo die Erzählerreflexion zunimmt, häufen sich die Belegstellen. Zum einen wird 257

bei der Darstellung der erfolglosen Bestrebungen ihrer ehemaligen Gouvernante Marie Kittl ein Negativbild entworfen, das stellvertretend für die vielen stehen soll, mit denen sich die Dichterin im Laufe ihres Lebens konfrontiert gesehen hat; sie sagt über die Opfer eines "eingebildeten Schriftstellerberufes" (104,1): Ich kenne ihre Sehnsucht und weiß, daß sie ebenso unüberwindlich ist wie die der echten Begabung, mit der die ihre noch manche andere Ähnlichkeit und wahrscheinlich denselben Ursprung hat; aber sie leidet an Unzulänglichkeit. Denn nur von Unzulänglichkeit kann die Rede sein. Etwas Talent ist immer vorhanden, ohne Talent macht man gar nichts, nicht einmal etwas Miserables. Aber das vorhandene Fünkchen wird noch lange nicht genügen, ein Licht daran zu entzünden, das über den Tag hinausleuchten kann. (104,6-13) Die tragische Existenz des verhinderten Künstlers hat die Ebner mehrfach in ihren Werken dargestellt, so in den Novellen Der Spätgeborene und Agave169 - letztere ist unmittelbar vor der Niederschrift der Autobiographie entstanden - und in dem Gedicht Der Halbpoet: Es ist die allergrößte Pein, Ein Halbpoet geboren zu sein, Zu tragen in sich unerhellt Das Chaos einer ganzen Welt, Aus dessen Gären, dessen Ringen 170 Kein ganzes Leben will entspringen. Im Gedicht wie auch in der zitierten Passage aus den Kindeqahren geht die Dichterin gleichsam "ex negativo" auf das Thema ein; wie sich künstlerisches Talent tatsächlich äußert, darüber bleibt sie die Antwort schuldig. Bemerkenswert ist der Umstand, daß in der Darstellung des unglücklichen Strebens der Marie Kittl die Verfasserin selbst als Ratgeberin für die ihrer Meinung nach Irrende erscheint; trotz der mehrfachen Verweise auf Schwierigkeiten, die sich ihrem eigenen dichterischen Werdegang in den Weg stellen sollten, ist es offenbar keine Frage, daß sie sich selbst im Rückblick von Anfang an Talent zuschreibt. Dies wird auch deutlich, wenn sie andernorts ihre Klage über die ablehnende Haltung der Familie gegenüber ihren Ambitionen relativiert und letztlich für diese harte Schule dankbar ist: Sie ahnen nicht, wie oft mein Gedanke sie segnet. Selbst daß ich mich im Kampfe um ein höchstes Gut zu manchem Irrtum und mancher Übertreibung verleiten ließ, hat schlechte Früchte nicht getragen. Die Zeit heilte und half und wandte zum Guten, was sich anfangs als verfehlt dar169

SW1, S.lff.; SW 6, S.335ff.

170

SW 4, S.559.

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gestellt hatte. Je härter und widerwilliger der Boden war, in dem das Bäumchen meiner Kunst Wurzel schlagen mußte, desto fester stand es, und je grausamer die Mißerfolge gewesen sind, die jeden Schritt am Beginn meiner Laufbahn bezeichnet haben, desto enger schloß sich das Bündnis zwischen mir und meinem vielbestrittenen Talent. (92,5ff.) Im Rückblick sieht Marie Ebner die mannigfaltigen Widerstände als psychologisch wichtiges Movens für die Ausbildung eines eigenen Standpunktes an; auch hier kommt wieder die für autobiographisches Schreiben typische nachträgliche Sinngebung zum Ausdruck. Zuvor ist allgemein von der Situation des Jung-Dichters die Rede: Das Kind, das Talent in einer darstellenden Kunst besitzt, schickt man in eine Schule, in der sie gelehrt wird. Für das schriftstellerisch veranlagte Kind gibt es, Gott sei Lob und Dank! noch keine in Mauern eingeschlossene, mit Lehrsälen und Professoren ausgestattete Schule. Nur das Handwerk seiner Kunst könnte ihm beigebracht werden, und dieses lernt jeder am besten allein. Bücher, die vom Erlernbaren handeln, stehen ihm in Hülle und Fülle zur Verfügung; er mag aus jedem nehmen, was ihm entspricht und was er verwenden kann. Es wird nicht viel sein. (91,20ff.) Im folgenden greift die Dichterin noch weiter aus und äußert sich über Bedingungen poetischen Schaffens überhaupt: Jede Dichterindividualität, wenn sie auch nicht zu den großen gehört, hat von Natur aus ihr eigenes Gepräge und gibt es der Form, in der sie sich in oft schwerem Ringen auszugestalten sucht. Der Geist baut sich selbst ein Haus; was er von fremden Baumeistern lernen kann und soll, ist nur das Alphabet der Kunst. (91,27ff.) Zeitlose Reflexion und Sentenz sind schon im Vorhergehenden als Charakteristika autobiographischen Schrifttums bezeichnet worden, die auch in die Kinderjahre verschiedentlich Eingang gefunden haben.171 Bei der hier vorgenommenen Zusammenstellung von Passagen mit einem bestimmten Motivkern sind die theoretischen Erörterungen zum Thema "Talent" in ihrer Ausführlichkeit besonders prägnant. Auch sie verweisen auf das Anliegen der Verfasserin, in der Schrift vor allem das Ausgestalten dichterischer Individualität vorzuführen. Eine ganze Reihe von weiteren Betrachtungen der Dichterin läßt sich unter dem Aspekt der Bewertung des "Einst" und des "Jetzt" zusammenstellen. Alexandra Unterholzner entnimmt dem Gesamtwerk in ihrer Untersuchung eine uneingeschänkte Parteinahme Marie Ebners für die Werte der "guten alten Zeit", die auf Konservatismus und systemstabilisierende Haltung

171 Siehe S.247.

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hinweise. Inwiefern eine so weitgehende Folgerung berechtigt ist, darüber kann ein autobiographischer Text wie die Kinderfahre, wo sich in weniger verschlüsselter Form als im poetischen Werk zahlreiche Stellungnahmen der Dichterin ausfindig machen lassen, besonders gut Auskunft geben. Auf den ersten Bück scheint einiges für die obige These zu sprechen: Herbe Kritik an den modernen Sitten übt die Dichterin bei der Charakterisierung des Lebenswandels einer Gouvernante: Eine treue Anhängerin der Moral, die misere Modernen erfunden zu haben glauben, eine Dienerin der Pflicht "sich auszuleben". (31,10ff.) Ebenfalls im ethischen Bereich ist ein weiterer Kritikpunkt der Dichterin angesiedelt; selbstlose Hilfe, wie sie die Menschen früher den Cholerakranken zukommen ließen, vermißt sie bei ihren Zeitgenossen. Die damalige Unwissenheit über die "unsichtbaren Feinde" habe sie stark gemacht, - trotz der Begründimg dieses Verhaltens (Unwissenheit) verurteilt Marie Ebner die "feige Angst" in der Gegenwart (55,29ff.). Eine Art von Idealisierung findet sich bei der Beschreibung der kindlichen Lektüre: "Die jetzigen Kinder denken's nicht," wie kümmerlich die Hüllen gewesen sind, in denen unsere größten Reichtumsspender sich uns darstellten. (37,25ff.) Ein ähnliches Verhältnis von äußerer Armut und innerem Reichtum betont die Dichterin bei der Schilderung des Burgtheaters von damals. Der Schlichtheit in der Ausstattimg habe die vergleichsweise zurückhaltende Reaktion des Publikums entsprochen, dessen übersteigertes Gebaren in der Gegenwart auf einen inneren Mangel schließen lasse (81,16ff.). Bei der Schilderung des - später abgerissenen - Rabenhauses, in dem die Dichterin von Kindheit an gewohnt hat, manifestiert sich schon im Sprachstil ein Vorbehalt gegen die eingetretenen Veränderungen (73,llff.). Die Verwendung der Adjektive "wuchtig", "breit" und "mächtig" bei der Beschreibung des Gebäudes vermittelt den Eindruck von ehrwürdiger Solidität, an deren Stelle die moderne Zeit mit ihrem Pragmatismus das Schmucke, Schmale, Niedrige gesetzt habe, - die negative Bewertung wird durch die Formulierung "Heißt es" unterstrichen. Die Ruhe ist der Bewegung gewichen, das Gebäude "hinweggefegt", nun "rasseln" dort Automobile. Ahnlich manifestiert sich die Bewertung des "Einst" und des "Jetzt" stilistisch bei der Schilderung der Buche: Sie haben die Herrliche gefällt und auch die schlanken Bäume in ihrer Nähe und alles Gebüsch fortgeputzt, um mehr Platz zu schaffen für Rüben und Getreide. (100,38ff.) 172 Unterholzner, S.153; S.163.

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Das Nützlichkeitsdenken der neuen Zeit steht hier formal und inhaltlich in auffälligem Kontrast zur lyrischen Naturschilderung aus der Warte der Dichterin: Ich aber meide diese Stelle und habe sie nicht mehr betreten, seitdem die alte Riesin ihren noch grünen Wipfel, der wonneschauernd das erste Morgengrauen begrüßte, der feierlich den letzten Sonnenkuß empfing, zu Boden senken mußte. (100,42ff.) Die bisher angeführten Beispiele scheinen tatsächlich auf eine die vergangene Zeit sentimentalisch verklärende Haltung der Dichterin hinzuweisen. Dieser Eindruck relativiert sich jedoch, wenn man einen längeren Exkurs über das Verhältnis der Generationen zueinander damals und heute miteinbezieht; Marie Ebner schildert die unbedingte Subordination der Kinder unter die Vorstellungen des Vaters und kommt sodann auf die Verhältnisse in der Gegenwart zu sprechen: Einem jungen Menschen von heute muß es schwerfallen, unsere Empfindungsweise zu begreifen. Es gibt ja kaum etwas, das sich in einer Zeit, die ich zu überdenken vermag, so verändert hätte wie die Art des Verkehrs zwischen Eltern und Kindern. (20,llff.) Die anschließende Kritik an der gewandelten Situation richtet sich nicht nur an die Jugend, sondern auch an die Bereitwilligkeit der Alten, den ihnen angestammten Platz zu räumen: Heute ist das anders. Die Jugend steht obenan; sie wertet und entwertet. Das Alter sieht bewundernd oder grollend zu. Ich staune nur, wie rasch es abdiziert hat. Komisch ist fast die Eilfertigkeit, mit der es sich in die Ecke drückt, um dem vorbeibrausenden Zug der Jugend nur ja nicht im Wege zu sein. (20,24ff.) Nach diesen Ausführungen, die in der Tendenz den vorangegangenen Beispielen entsprechen, wartet Marie Ebner am Ende des Exkurses mit einer Art von Knalleffekt auf, der die Bewertung der Betrachtungen letztlich umkehrt: Es ist so, und je tiefer ins Greisenalter ich hineingerate, um so mehr Hochachtung bekomme ich vor dem, was i s t. (20,34ff.) Die Dichterin kritisiert mithin wohl die mit dem Wandel der Zeiten einhergegangenen Veränderungen im Verhalten der Menschen, stellt sich jedoch schließlich auf den Standpunkt, daß die Gegenwart nicht nur hingenommen, sondern sogar in ihrer Eigenart geachtet werden müsse. Diese Bereitschaft, sich den Realitäten der Jetzt-Zeit zu stellen, kommt auch noch einmal am Ende der ΚίηάβήαΗκ zum Ausdruck, wenn die Dichterin das "Damals" und das "Heute" in einem Bild veranschaulicht: 261

Ich möchte das Körbchen einer Blumenfrau von einst gar zu gern neben dem tragbaren Blumenmagazin einer ihrer Kolleginnen von heute stehen sehen! In dem einen kleine dunkle Urbilder der Lieblichkeit, des Segens, den sie ausströmen, unbewußt, in dem andern alle Farbenglut und Formenpracht südlicher Flora in Glanz und Reichtum prangend. Was hätten die einander zu sagen! Kulturgeschichte würden sie reden. (107,19ff.) Wohl schwingt auch hier der Kontrast zwischen früherer idyllischer Einfachheit und moderner blendender Vielfalt mit, letztlich werden jedoch beide wertfrei als Ausdruck der Kulturgeschichte nebeneinandergestellt. Das Resümee der Dichterin nach dem Exkurs über das Verhältnis der Generationen zueinander, dem längsten übrigens in der Schrift, fmdet sich gleich zu Beginn, das Bild mit der lyrischen Aufhebung der Gegensätze am Ende der Autobiographie, beide umklammern also die übrigen Vergleiche von "Einst" und "Jetzt", und insofern kommt ihnen eine besondere Bedeutung zu. So kann man sagen, daß sich wohl eine Tendenz zur Idealisierung des Vergangenen, die für viele Autobiographien gerade der Kindheit typisch ist, bemerkbar macht, bei der Gesamtbeurteilung aber muß das Bekenntnis der Dichterin zur Bejahimg ihrer Gegenwart ernstgenommen werden. Die Untersuchung von immer wiederkehrenden Begriffen hat damit zu Ergebnissen geführt, die zum einen die Leitlinie des Erzählten, die Darstellung einer Dichterkindheit, aufscheinen lassen, zum anderen Gedankengänge Marie Ebners über die Problematik künstlerischen Talentes offenbaren und ihr Verhältnis zu Vergangenheit und Gegenwart veranschaulichen. Im Zuge der Erinnerungsarbeit, die vor und während der Abfassung der Schrift vonstatten gegangen ist, werden diese Begriffe als Assoziationskeime für die Ausgestaltung des Textes eine große Rolle gespielt haben.

Exkurs Nachdem die Schilderung der inneren Entwicklung des Kindes und die Ausführungen der rückblickenden Dichterin über bestimmte Themenbereiche untersucht wurden, seien mm zwei Erzählkomplexe kurz beleuchtet, die - gleichsam als Nebenprodukt der Selbstdarstellung - Informationen zur Zeitgeschichte liefern. Ausführlich hat Marie Ebner das Burgtheater als "Bildungsschule ersten Ranges" geschildert und dabei eine kulturhistorische Skizze der damaligen Theatersituation in die Autobiographie eingefügt: Wichtige Inszenierungen, der Werdegang verschiedener Schauspieler und Schauspielerinnen sowie zentrale Theaterereignisse der Zeit um 1840 vermitteln ein plastisches Bild; Grund für diesen Exkurs ist wohl die Tatsache, daß das Theater der einzige 262

Bereich ist, der sich dem Mädchen außerhalb des familiären Rahmens eröffnet (78,20-82,9). Aufschlußreich sind die Kindeqahre auch für die Mädchenerziehung zu jener Zeit; angefangen bei Amme und Kinderfrau über Gouvernanten bis zu den Hauslehrern ergibt sich ein ganzes Panorama von Personen, denen die Erziehung der Kinder oblag. Dabei geht die Dichterin weder auf die allgemeinen Verhältnisse ein, noch nimmt sie Wertungen vor, wie dies Fanny Lewald und Malwida von Meysenbug getan haben; lediglich bei einem Blick auf die Kindheit Lessings stellt das Mädchen fest, wie wenig Bildungsmöglichkeiten ihm gegeben sind (114,27ff.). Dennoch liefert diese hermetische Darstellung der individuellen Situation allein durch die Schilderung der Fakten - dazu gehört auch die Skizzierung der Lebensumstände des damaligen Erziehungspersonals - wertvolle Informationen über die Verhältnisse eines großbürgerlich-adligen Haushaltes zu dieser Zeit. Die Autobiographie läßt sich mithin nicht nur als die Geschichte der Marie Ebner, sondern auch als Exempel für die Kindererziehung dieser Kreise um die Mitte des 19. Jahrhunderts lesen.

4. AUTOBIOGRAPHIE UND ERZÄHLUNG. EIN VERGLEICH

Nach der inhaltlichen und formalen Untersuchung der Kinderjahre stellt sich die Frage, inwieweit hier von einer spezifisch autobiographischen Schreibweise gesprochen werden kann. Auf die Parallelen und Unterschiede zum poetischen Werk ist bislang mehrfach hingewiesen worden; abschließend soll nun der Versuch unternommen werden, eine Erzählung der Dichterin, in der sie eine Episode aus ihrer Jugend thematisiert, mit der entsprechenden Darstellung in der Autobiographie zu vergleichen. Es handelt sich um das Werk Die erste Beichte, das Marie Ebner schon 1875, also Jahrzehnte vor den Κϊηάβή(ΰΐΓβη, publiziert hat und auf das sie in der Schrift eigens verweist, als sie ihre Großmutter charakterisiert: In der kleinen Erzählung "Die erste Beichte" habe ich eine Skizze von der herrlichen Frau entworfen. Die eigentümliche Art ist erwähnt, in der sie, die kaum je eine Besorgnis, geschweige denn eine Klage aussprach, Klagen aufnahm. (9,7ff.) 1 T\ In der Erzählung steht diese Figur im Vergleich zu den übrigen eher im Hintergrund; daß es sich hier auch von der Darstellung der Großmutter abgesehen um Erlebnisdichtung handelt, dafür sprechen nicht nur die übrigen

173 SW1, S.128ff.

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Personencharakterisierungen und der Handlungsablauf, - die Schilderung der Umgebung weist unverkennbar auf Zdißlawitz hin. Während die Erzählung mit der Vorstellung des Beichtpaters einsetzt, wird die Episode in den Kindeqahren als ein weiteres Beispiel für die "Unarten" des Kindes angeführt: Bald darauf sollte mein treuer Seelsorger noch weit Schlimmeres durch mich erfahren. (53,10f.) Daraufhin schildert die Dichterin sehr knapp gefaßt die Geschehnisse aus der Perspektive des Kindes, das sorglos der ersten Beichte entgegensieht und ebenso sorglos und selbstverständlich den Plan zum Selbstmord faßt: Aus dem brennenden Wunsch nach einem so herrlich erlösenden Tod keimte und reifte auch sehr bald der Entschluß, ihn herbeizuführen. (...) Ahnungen der Glückseligkeit erfüllten mich, kein Zweifel an der Vortrefflichkeit meiner Tat störte mich, kein Gedanke an den Abschied von den Meinen fiel mir aufs Herz... (53,27-38) Das Unternehmen wird begonnen, mißglückt, und "Merk's Tölpel" kommentiert der Pater gelassen die Beule auf der Stirn der verhinderten Selbstmörderin. Marie Ebner fährt im gleichen Stil fort, wenn sie von ihrer "mißlungenen Himmelfahrt" spricht, und geht zu weiteren Schilderungen über. Der Ton der ganzen Darstellung scheint zunächst auf eine große innere Distanz der Dichterin zu dem Geschehen hinzuweisen; in keiner Weise wird die Ungeheuerlichkeit dessen, was hier beinahe stattgefunden hätte, betont. Ebensowenig ist die Rede von irgendwelchen Folgen für das Kind, nur kurzfristig stellt sich bei ihm ein Schuldbewußtsein ein. Hier wird klar, daß nur die konsequente Einhaltung der Kinderperspektive eine solche Darstellung ermöglicht; maßgeblich ist weniger das Ereignis selbst, als vielmehr die Art und Weise des Erlebens aus der Warte des Erinnerten Ich. Ganz anders wird das Geschehen in der Erzählung dargestellt; die Charakterisierung des Kindes erfolgt aus der Sicht des Paters, dessen besonderer Schützling es von Geburt an gewesen ist und der in der vom Vater angeordneten Beichte eine Gefahr für dessen sensibles Seelenleben sieht. Vater und Priester erscheinen als Gegenspieler, die um das Wohl der ihnen Anbefohlenen auf ihre Art kämpfen. Dadurch kommt hier ein Aspekt zum Tragen, der in den Kinderjahren überhaupt keine Rolle spielt: Dem Vater mit seinen Erziehungsgrundsätzen wird die Schuld an dem Vorfall zugewiesen. In der Autobiographie ist allein die Reaktion des Kindes ausschlaggebend; in der Erzählung erfolgt dagegen eine doppelte Motivation. Das Bild des Vaters in der Erzählung weist bis hin zu Einzelheiten Übereinstimmungen mit der Charakterisierung in der Autobiographie auf, jedoch wird sein Verhalten unterschiedlich bewertet: In der Erzählung verurteilt die Dichterin die Art seiner Einflußnahme auf die Erziehung der Kinder, er 264

"wäre der letzte gewesen, der verstanden hätte", deren Tun zu steuern, ein Mann, der im bürgerlichen Leben "sein soldatisches und ziemlich gewalttätiges Wesen beibehalten" hatte.174 Am Ende der Erzählung kommt es zur Einsicht und Läuterung des negativen Helden. In der Autobiographie wird der Vater in der Tendenz ähnlich geschildert, jedoch sind die positiven Effekte seiner Erziehung für die Kinder betont; nicht er ist es, der sich läutert, sondern im Nachhinein erweist sich für die Dichterin seine Einstellung als gerechtfertigt. Dies geschieht nun nicht in Zusammenhang mit der Schilderung der ersten Beichte, wo es nur um das Erleben des Kindes geht, sondern bei der Vorstellung des Vaters am Anfang der Kinderjahre (13,14ff.). Die Unterschiede in der Konzeption beider Texte können, wenn man bei der Erzählung von einer Erlebnisdichtung ausgeht, nicht allein auf hier vorwaltende erzähltechnische Gründe - etwa die doppelte Motivation - zurückgeführt werden; denkbar ist zum einen, daß Marie Ebner in der Autobiographie um ein abgewogeneres Bild des Vaters bemüht ist, zum anderen aber auch, daß sich seit der Niederschrift der Ersten Beichte ihre Bewertimg der damaligen Vorgänge verändert hat. Abschließend noch einige Betrachtungen zur Charakterisierimg des Mädchens in der Erzählung im Vergleich zur Selbstdarstellung der Dichterin in der Autobiographie: In den Kinderjahren gibt es nirgends ein übergreifendes Selbstbild, das Wesen des Kindes wird jeweils in der konkretisierenden Aktion veranschaulicht. Dies entspricht dem Gang der Entwicklung, die als statischer Zustand nicht dargestellt werden kann. Ein anderes Vorgehen ist in der Erzählung möglich gewesen; aus der Perspektive des Paters wird das Werden des Kindes bis zum Beginn des eigentlichen Erzählgeschehens geschildert: Die Sorge um dieses Kind lag ihm schwer auf dem Herzen. Es war krank und schwächlich zur Welt gekommen. (...) Mit unsäglicher Mühe aufgezogen, erholte sich das kleine Mädchen allmählich und wurde nach und nach, wenn auch nicht so schön und blühend, doch so kräftig wie ihre ältere Schwester. Während sich diese jedoch zur Freude ihrer Umgebung entwickelte, schien die jüngere nur dazusein, um die Ihrigen ungeduldig zu machen und dem alten Gönner und Freund möglichst vielen Verdruß zu bereiten. Trotzdem blieb sie sein Liebling, und er ließ sich in dem Glauben nicht erschüttern, alle ihre Wunderlichkeiten und Schrullen seien nur ebenso viele in der Ausbildung begriffene Vorzüge. Vorläufig, da ein solches Resultat noch zu erwarten stand, litt er oft schmerzlich unter der unberechenbaren Gemütsart seines Täuflings. 174 SW1, S.130f. 265

Eines war gewiß, für diese Kleine gab es keine Mittelstraße; immer bewegte sie sich in dem oder jenem Äußersten. Tolle Lustigkeit oder tiefe Schwermut, stumpfe Gleichgültigkeit oder ein förmliches Sichauflösen in Liebe, Nichtbegreifen des Einfachsten und überraschendes Verständnis des Schwerfaßlichen, das wechselte ohne sichtbaren Übergang in ununterbrochener Reihenfolge bei ihr ab. Stets konnte man gewiß sein, ihre Aufmerksamkeit da nicht zu finden, wo man sie suchte, dafür stellten sich ihre Gedanken und ihre guten Vorsätze oft dort ein, wohin man 17S meinte sie erst lenken zu müssen. Die Züge des Charakters, die die Dichterin hier zeichnet, entsprechen weitgehend dem Selbstbild in der Autobiographie, jedoch kommt es dort - wie gesagt - zu keiner zusammenfassenden Darstellung. In der Erzählung mit ihrem dramatischen Verlauf ist alles zentriert auf die Schürzung des Knotens. Das Geschehen selbst erfährt eine doppelte Motivation; Grundlage sind die an den Beginn gestellten Charakterisierungen der Personen, wobei das Kind aus der Perspektive des Paters geschildert wird. In der Autobiographie steht dagegen das Erinnerte Ich im Mittelpunkt; innerer Monolog und erlebte Rede machen den größten Teil der Episode aus, die Wirkung auf andere spielt so gut wie keine Rolle. Damit bestätigen sich auch hier die bislang immanent gewonnenen Beobachtungen; trotz der durch Anekdoten und ReQexionen aufgelockerten Darstellung weist sich die Schrift durch die subjektive Perspektive der Rückblickenden formal und inhaltlich als Sonderfall aus, und zwar einerseits in Hinblick auf das übrige Werk Marie Ebners, als auch zum anderen im Vergleich mit den Selbstdarstellungen anderer Autoren.

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SW1, S.129f.

Marie von Ebner-Eschenbach

AUS MEINEN KINDER- UND LEHRJAHREN

I. TEXT

Marie von Ebner-Eschenbach

AUS MEINEN KINDER- UND LEHRJAHREN

Kritischer Text aufgrund des Abdrucks in: Die Geschichte des Erstlingswerks 1894 (KL2)

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Meine Erinnerungen an die frühe Kinderzeit sind nicht besonders lebhaft; ich weiß nur, daß ich ein sehr fröhliches Geschöpf gewesen bin und auch - tempi passati! - ein sehr wildes und unbändiges. Ich hatte eine um ein Jahr ältere Schwester, ein ernstes, braves, gewissenhaftes Kind, und zwei Brüder, der eine um drei, der andere um vier Jahre jünger als ich. 1835 kam noch ein Schwesterchen dazu, vom ersten Augenblick seines Lebens an das holdeste kleine Wesen, dessen ich mich entsinne. Fast zugleich mit der Freude, die wir zwei Großen an ihr hatten, trat der erste Schmerz in mein Leben. Ich sollte stricken und lesen lernen. Warum mir das als eine Schmach erschien, ist mir heute noch unerklärlich. Ich wehrte mich heftig und lange, doch wurde mein Widerstand endlich besiegt. Der Abscheu, den ich vor der Strickkunst empfand, endete mit der Herstellung von Strumpfbändern für meine geliebte Mama. Sie waren das Mißratenste, was je auf diesem Gebiete geleistet worden, aber die größten Meisterwerke hätten nicht freudiger empfangen werden können, als das scheußliche Paar. Mit welcher Zärtlichkeit schloß mich Mama in ihre Arme und wischte mir die Thränen ab, die ich vergoß, indem ich ihr das Zeichen meiner Unterwerfung auf den Schoß legte. Ich war glücklich und traurig, denn ein dumpfes Gefühl sagte mir, daß es nun vorbei sei mit meiner ungebundenen Freiheit und die Zeit gekommen, in der auch ich arbeiten und lernen mußte. Eines war mir so widerwärtig wie das andere, und wenn meine Lehrer mir sagten: "Wie kann man so schlecht lernen, wenn man so leicht lernt," geriet ich in Entrüstung. Leicht sollte mir das Lernen sein - mir - das Dasitzen über Büchern und Schiefertafeln, während draußen die Sonne schien, alles grünte und blühte, die glücklichen Vögel von Wipfel zu Wipfel flogen und meine kleinen Brüder im Garten spielten! Wenn durchaus gelernt werden mußte, ließ ich es mir in der Stadt eher gefallen. Wir hatten dort einen vorzüglichen Lehrer. Es ist nicht möglich, wohlwollender und gütiger zu sein, als er es gewesen, und dennoch gab es einen Menschen, den er täglich hundertmal verwünschte: den Erfinder der Stahlfeder. "Einsperren sollte man den Kerl!" rief er, "in Grund und Boden ruiniert er die Kalligraphie; wer mit Eisen schreibt, kriegt eine Hand von Eisen." - Eines Tages streckte er mir die Rechte über den Tisch entgegen: "Da, schlagen Sie ein und geloben: So wahr Sie ein ehrliches Kind sind, nie mit einer Stahlfeder zu schreiben." Ich gelobte und - ein Jahr später war mein guter Lehrer tot und ich kein ehrliches Kind mehr, sondern ein wortbrüchiges, und schrieb mit Stahlfedern. Wir erhielten nur solche, und wohl oder übel mußte ich mich zu ihrem Gebrauche bequemen. Die Gewissensqualen, die ich dabei erduldete, waren ganz entsetzlich. Zu jener Zeit brachten wir den größten Teil des Jahres in Zdislavic, dem Gute meines Vaters zu, kamen erst im Spätherbst nach Wien und zogen im Vorfrühling wieder aufs Land. Die Tage der Abfahrt, der Reise, der An271

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kunft waren befugte freie Tage für die Kinder. Wir wußten uns aber auch einige unbefugte zu erschwindeln. Sobald der erste für unsere Effekten bestimmte Koffer sich blicken ließ, waren auch schon misere Bücher und Theken hineingeschmuggelt, - unmöglich noch eine Lektion zu nehmen, alle Lehrgegenstände fehlten. Wir summten müßig im Hause umher, in der Küche, den Vorzimmern, krochen in die noch leerstehenden Kisten, verbargen uns im Stroh, genierten alle Welt und wurden fortgeschafft, wo wir uns zeigten; das alles war uns unbeschreiblich angenehm, am angenehmsten aber die Reise selbst. Heute legt man die Strecke in 6 Stunden zurück, damals brauchten wir anderthalb, wenn das Wetter schlecht war, auch wohl zwei Tage; ein Nachtlager gab es immer, und je länger wir unterwegs blieben, desto lieber war es uns. Die Postillone bekamen ein Extra-Trinkgeld "fürs Blasen" und gar herrlich schien uns, unter schmetternden Fanfaren über die Landstraße und durch die Ortschaften zu rollen. Die Ankunft in der Stadt war immerhin erfreulich wegen des alten Spielzeugs, das wir dort zurückgelassen hatten und wiederfanden. Nach der langen Trennung kam es uns vor wie neugeschenkt und trotz mancher Schadhaftigkeit schöner denn je. Aber was bedeutete dieses Wiedersehen mit den alten Bekannten aus Holz oder Blech im Vergleich zu dem mit den lebendigen Freunden, die uns bei einer Ankunft in Zdislavic erwarteten. War das ein Drängen im Schloßhof - wenn unsere drei Reisewagen vierspännig hereinfuhren; war das ein Willkommrufen und ein Händeschütteln und ein Versichern, man hätte die Stunde, die uns wiederbringen sollte, kaum erwarten können! Unter dem Thor, auf ihren Stock gestützt, stand eine alte Frau, "Urgroßmutter" wurde sie im Hause genannt; man rechnete ihr nach, sie sei weit über die neunzig. Unter unseren Großeltern schon hatte sie ihr halbhundertjähriges Dienstjubiläum gefeiert und lebte jetzt als Pensionärin im Schlosse. Ihr kleines, feines Gesicht war schneeweiß, weiß die zierlich gefältete Haube, die es umrahmte, weiß das über die Brust gekreuzte Tuch. Sie sprach fast nie; die weichen Schuhe, in denen sie einherhumpelte, machten ihren Gang unhörbar. Wir empfanden gewöhnlich einige Scheu vor ihr, doch kam diese im Freudenrausch der Heimkehr nicht zur Sprache. Die alte Frau erwiderte unsere Begrüßung scheinbar unbewegt, aber wir vernahmen das laute Klopfen ihres Herzens, wenn sie sich niederbeugte, um uns auf die Stirn zu küssen. Nicht minder herzlichen Willkomm, als die Menschen daheim, bot die traute heimische Natur: die Felder, die Wiesen, die blütenüberschneiten Bäume am Wegesrand, und im Garten jeder Strauch und jeder Halm. Kein schöneres Wiedersehen aber als das der doppelreihigen, breitästigen Lindenallee, unseres liebsten Spielplatzes an heißen Sommertagen - o wie herzlich wünschte ich oft ein Riese zu sein mit ungeheuren Armen, um alle diese Wipfel umfassen und an mein Herz drücken zu können. 272

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Im Frühling des Jahres 1837 wurde es sehr traurig bei uns. Unsere vielgeliebte Mama kränkelte und wir, die gewohnt waren, stundenlang um sie zu sein, durften jetzt nur morgens und abends für einen Augenblick zu ihr kommen. Eines Tages erwachte ich - meine Schwester saß aufrecht in ihrem Bette und sah gespannt ins Nebenzimmer, dessen Thür die Gouvernante, die dort eingetreten war, offen stehen gelassen hatte. "Schau," flüsterte meine Schwester mir zu, "schau, was sie gebracht haben... Eine Puppe, eine lebendige"... Und wirklich, eine fremde Frau hatte ein kleines wimmerndes Wesen hereingetragen, und beschäftigte sich nun damit, es in ein Deckchen zu hüllen. Wir sprangen aus den Betten und liefen zum Wickeltisch, auf dem das Kindchen lag, und wollten es küssen und herzen. Auch die Kleinen erwachten und umdrängten das Neugeborene. Unsere Tante trat ein, sie sah müde und überwacht aus. "Ist's vorbei?" fragte sie, und die Fremde antwortete "Noch nicht." "Haben Sie die Nottaufe gegeben?" "Ja wohl." Was ist das, die Nottaufe? und was soll vorbei sein? Keines von uns wußte es, und wie gern wir auch dahinter gekommen wären, lag uns doch noch viel mehr daran zu erfahren, wem das kleine Kind eigentlich gehöre? - "Mir," meinte ich. "Mir, weil ich die ältere bin," behauptete meine Schwester. Einige Stunden später war das kaum erwachte Leben erloschen, mitten unter uns vollzog sich das unheimliche Wunder des Todes. Der letzte Atemzug des Kindleins hatte unseren Streit geschlichtet, denn: "Jetzt," sagte man, "gehört es dem lieben Gott." Und bald darauf gehörte auch unsere Mama dem lieben Gott. "Er hat sie zu sich gerufen," sagte ihre Mutter mit der Ergebung einer Heiligen. - Ihre Ruhe täuschte uns über die Größe des Unglücks, das wir erfahren hatten. Unser Vater ließ uns zu sich bescheiden, und wir standen lange vor seiner Thür und wagten nicht anzuklopfen. Endlich kam er selbst heraus, der starke Mann war in Thränen aufgelöst, seine Stimme brach, als er mit uns sprechen wollte, und er weinte mit seinen Kindern wie ein Kind. Am selben Abend spielten wir in unseren Zimmern so vergnügt wie je. Plötzlich besann ich mich dessen, was geschehen war, und sagte zu meiner Schwester: "Jetzt ist diese beste Mama gestorben, wir werden sie nie wieder sehen, warum sind wir denn nicht traurig?" "Warte nur," erwiderte sie, "wenn erst die schwarzen Kleider kommen, werden wir schon traurig sein." Als wir einige Zeit später in Zdislavic eintrafen, hatten die Bäume und Sträucher schon abgeblüht und eine Nische mehr war in der Gruft zugemauert worden. Wir kannten diese Stätte des Friedens gar gut. Sie lag jenseits der Straße in einem schattigen Parke, den wir Kinder täglich besuchten. Meine Schwester und ich traten oft in den stillen kühlen Raum, um dort für unsere Mutter zu beten. Es war uns kein Geheimnis, daß die gütige Mama, die wir jetzt verloren hatten, wohl die rechte Mutter der drei jüngeren Ge273

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schwister gewesen, daß die unserige jedoch wenige Tage nach meiner Geburt gestorben war. Nun ruhten die beiden nebeneinander, und nun kamen auch die "Kleinen" mit uns in die Gruft und wir beteten zusammen für unsere Mama und für unsere unbekannte - wohl gekannte Mutter. Denn wir kannten sie, sie lebte für uns fort im Gedächtnis der Menschen. Die Diener sprachen von ihr, die Beamten, die Dorfleute, die Arbeiter im Garten. Ein alter Gehilfe nannte ihren Namen nie, ohne das Mützlein zu ziehen: "Das war eine Frau, Ihre Mutter!.. Gott hab' sie selig." Da wurde mir immer unendlich stolz und sehnsüchtig zu Mute: "Ich seh' ihr ähnlich, nicht wahr? Geh, sag ja!" - Er zwinkerte mit den Augen und schob die Unterlippe vor: "Ahnlich? Ahnlich schon, aber ganz anders." Es sollte sich niemand mit ihr vergleichen wollen, nicht einmal ihre eigene Tochter. - "Ja," fuhr er nach einer Pause fort, "blutige Köpfe hat's gegeben bei ihrem Begräbnis; geschlagen haben sie sich um die Ehre ihren Sarg zu tragen. - Das war eine Frau!" Ich glaube, daß meine Liebe zu den Bewohnern meiner engsten Heimat ihren Ursprung hat in der Dankbarkeit für die Anhänglichkeit und Treue, die sie meiner Mutter über das Grab hinaus bewahrten. Auch hatte ich ein Gefühl der Verwandtschaft mit ihnen, da ich ja in Zdislavic geboren war. Es beleidigte mich, wenn ein Tadel gegen sie ausgesprochen wurde; es kränkte mich, wenn man mit Härte gegen sie verfuhr. Und das geschah; die Aufseher bei der Fronarbeit auf dem Felde thaten es, besonders that's der Burggraf. So nannte man damals in Mähren den Ökonomiebeamten, zum Unterschied von dem die Amtsangelegenheiten führenden Verwalter. Er war ein ältlicher, großer, starker Mann und stand seiner Tüchtigkeit wegen sehr in Gnaden bei seinen Vorgesetzten. Unsere Gouvernante und die Frauen in der Kinderstube sprachen oft von ihm, mit Lachen oder mit Grauen, aber immer ganz leise, was mich in die Seele hinein verdroß. Dieser Burggraf schlug einmal in meiner Gegenwart einen alten Teichgräber so heftig mit dem Stocke, daß der Mann zusammenbrach. Bei diesem Anblick ergriff mich eine sinnlose Wut; was ich unter ihrem Einfluß gethan, ist mir nicht mehr erinnerlich, ich weiß nur, daß ich schrie und tobte und daß diese Scene mit einer Beschämung für mich endete. Der Burggraf, die Arbeiter lachten mich aus, sogar der Geprügelte lachte. Daß mein Groll gegen den Machthaber, von dem man Geschichten erzählte, die wir nicht hören durften, dadurch nicht vermindert wurde, ist begreiflich. Ich trug mich sehr ernstlich mit der Absicht, dem Burggrafen bei der nächsten Begegnung einen tüchtigen Puff zu geben. Die Gelegenheit, das Attentat auszuführen, bot sich wiederholt, doch zögerte ich so lange, bis etwas geschah, das meine streitbaren Empfindungen für einige Zeit bezähmte. Der ältere meiner Brüder hatte das sechste, der jüngere das fünfte Jahr erreicht. So wie uns gab auf dem Lande auch ihnen der sanftmüthige, harmlose Herr Verwalter Schreibunterricht. Während einer solchen Lehrstunde geschah's, daß unser kleiner Bruder plötzlich aufsprang, ehe sich's jemand 274

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versah, dem Herrn Verwalter eine Ohrfeige applizierte und im nächsten Augenblicke unter dem Tische verschwand. Herr Gott im Himmel!... Die That, die ich träumte, da war sie gethan allerdings mit der Steigerung vom Puff zur Ohrfeige und auf Kosten eines Unschuldigen. - Und dennoch - ich hatte meine Gedankensünde in lebendiger, wenn auch verzerrter Darstellung vor mir gesehen, das erschütterte mich und weckte meine Reue. Der junge Verbrecher mußte sofort ins Amtshaus, den Herrn Verwalter um Verzeihung zu bitten. Er sah steinunglücklich aus und kam uns auf seinem Bußgange noch kleiner und magerer als sonst vor, sein Bruder, sein getreuer Eckhart, führte ihn, und war womöglich noch zerknirschter als er. Sie boten einen kläglichen Anblick. In einer der nächsten Religionsstunden erklärte uns der Herr Localist die Bedeutimg des Gebotes "Du sollst nicht töten." "Das heißt nicht etwa," sagte er, "Du sollst deinen Nächsten nicht erschlagen oder erschießen, es heißt auch, Du sollst nicht die Hand erheben wider ihn, Du sollst gegen ihn nicht einmal einen bösen Gedanken hegen." Ich wurde rot wie ein Paradiesapfel und dankte Gott, daß mich niemand fragte warum. Einige Jahre vergingen. Mein Vater hatte sich wieder vermählt, die neue Mama feierte ihren Eintritt in unser Haus mit einer guten That. Sie entfernte die leichtsinnige Französin, der meine Schwester und ich anvertraut gewesen, und setzte eine erprobte deutsche Erzieherin an ihre Stelle. Eine für uns glücklichere Veränderung hätte nicht getroffen werden können, und diese blieb nicht die einzige. Mit der neuen Stiefmutter zog ein regerer Geist bei uns ein. Sie war eine schöne, liebenswürdige, sehr talentvolle Frau, ich zerfloß in Bewunderung der Bilder, die sie malte, der Lieder, die sie sang, besonders aber der Bücher, die sie uns vorlas. Das erste, welches ich durch sie kennen lernte, war Grüns "Letzter Ritter". Dieses edle Gedicht übte einen außerordentlichen Zauber auf mich aus, und wenn sein Inhalt sich mir auch nur zu einem verschwommenen Bilde gestaltete, die Verse drangen mir in die Seele mit klingendem Spiel und tönendem Schritt. Der mächtige Eindruck rief Reflexerscheinungen hervor, eine Reihe von Improvisationen entstand, die ich mit großem Entzücken und fürchterlicher Ausdauer vor mich her sang. Meine arme Schwester, die notgedrungen zuhören mußte, sagte manchmal: "Das hat keinen Sinn." Sie wird wohl recht gehabt haben. Der Anregung, die ich durch den "Letzten Ritter" empfing, folgte noch manche andere, doch verschwanden sie alle wie Schatten vor dem Eindruck, den die dramatische Kunst auf mich machte. Im Winter wurden wir, zu unserem nicht geringen Stolze, jeden zweiten Tag in das Burgtheater mitgenommen. Eine neue Welt ging mir auf, und doch war mir, als befände ich mich in meinem eigentlichen Element. Das Burgtheater war damals eine Bildungs275

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schule ersten Ranges, die Erfindung der Komtessen-Stücke noch nicht gemacht. Noch galt das Wort Julie Rettichs: "Das Klassische schadet nicht." Nein wahrlich, es schadet nicht, es läutert, es erbaut und begeistert. An manchem solchen Weiheabend saß ich auf dem Bänkchen im Hintergrund unserer Loge, der Kopf brannte mir, meine Wangen glühten, ein kalter Schauer nach dem andern lief mir über den Rücken und ich dachte: über kurz oder lang werden deine Stücke hier aufgeführt, und deine Worte werden von der Bühne wie Funken herunterprasseln. Das waren Stunden! jede von ihnen befestigte meine Überzeugung, daß ich bestimmt sei, der Shakespeare des XIX. Jahrhunderts zu werden. Schon hatte ich mir aus einem Papierbogen ein Büchlein gemacht, das ich immer in der Tasche trug, um jeden Gedanken festzuhalten, der mir etwa kommen würde; dieses Büchlein zeigte ich meiner Schwester, die es sehr bewunderte, weil die Blätter so schön weiß waren, was sie auch immer blieben. Überhaupt machte ich nicht lange ein Geheimnis aus meinen festen Hoffnungen auf die Unsterblichkeit, am wenigsten verbarg ich sie meiner Vertrauten, unserer ehemaligen Erzieherin. Sie hatte uns leider, von ihrer Familie zurückberufen, verlassen müssen, bewahrte uns aber trotz der Trennung ihre treue Freundschaft. Der Briefwechsel, den wir führten, war mir in einer wichtigen Werdezeit Stütze und Stab. Ich sprach von allem, was in mir vorging, ich berichtete jeden tollen Einfall, erfuhr oft verdienten Tadel und nahm ihn ohne Widerspruch hin. Einmal kam er so streng wie noch nie, in der Antwort auf einen Brief, den ich am Vorabend meines vierzehnten Geburtstages schrieb und in dem ich den Entschluß kundgegeben hatte, entweder nicht zu leben oder die größte Schriftstellerin aller Völker und Zeiten zu werden. Es giebt kein Pförtchen, das zu schriftstellerischem Ruhme führen kann, an das ich nicht gepocht hätte. Da entstand ein Epos aus der römischen Geschichte, es entstanden Lust- und Trauerspiele, Novellen und zahllose Gedichte. Von jeder neuen Schöpfung hatte ich in der Zeit ihres Werdens die beste Meinung und wurde auch gar oft durch Wohlmeinende darin unterstützt. Bei dem ersten Tadel, den ich aber erfuhr, waren Mut und Zuversicht verloren. Ich verwarf die alte und ging an eine neue Arbeit - w e n n man diesen unreifen und überhasteten Versuchen einen so ehrenvollen Namen geben dürfte. Bald nach meiner Verheiratung wurde die Ingenieur-Akademie, an der mein Mann (damals Hauptmann im Ingenieur-Corps) Professor der Naturwissenschaften war, nach Klosterbruck in Mähren versetzt. Zehn Jahre lebten wir dort, dreißig war ich alt geworden und hatte noch nichts zur Veröffentlichung gebracht als ein kleines Bändchen, das erheiternd wirken sollte. Es hat aber Niemand erheitert und Einen tief verstimmt - meinen armen Herrn Verleger.

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Meine Freunde, die Meinen, alle die mich liebten, hatten längst angefangen eine mehr oder minder lebhafte Opposition gegen meine fruchtlosen litterarischen Bestrebungen zu erheben. Ihr Glauben an mein Talent war nicht stark und konnte es nicht sein. Was hatte dieses Talent bisher geleistet? welche Früchte hatte es getragen außer den beiden herben: Enttäuschung und Demütigung? Ich schwieg fortan über mein stilles Treiben und widmete ihm nur noch die Stunden, auf die Niemand den geringsten Anspruch erhob. Aber erlöst war ich von der unglücklichen Liebe zur Schriftstellerei nicht, wenn es auch Stunden gab, in denen ich mich ihrer schämte. Im Winter 1860 schien plötzlich, was ich mein Schicksal nannte, sich freundlich gestalten zu wollen. Ich hatte Robertsons Geschichte Schottlands gelesen, und "Maria Stuart in Schottland", Schauspiel in fünf Aufzügen, geschrieben. Mein einziger Vertrauter und leider viel zu milder Kritiker, war jetzt mein ehemaliger Lehrer, Herr C. M. Böhm. Er hatte mich einst in grauer Vorzeit in den sogenannten deutschen Gegenständen unterrichtet, einigen meiner Freundinnen und mir Vorträge über Logik und Ästhetik gehalten, er besuchte auch jetzt noch das Haus seiner alten Schülerin, und kam regelmäßig an jedem Mittwoch zu uns zu Tische. Ihm übergab ich denn auch unter dem Siegel der Verschwiegenheit das Manuskript der "Maria Stuart" und erwartete mit namenloser Spannung sein Urteil. Ich war nicht zaghaft wie sonst; die Hoffnung auf ein Gelingen war nicht in dem Augenblick erloschen, in dem die Arbeit fertig dalag. Die Menschen, die drei Wochen lang, deutlich und lebendig vor mir gehandelt, gesündigt und gelitten hatten, wirkten noch mächtig auf mich ein, nachdem ihr Geschick erfüllt war. Sollten, mußten sie nicht auch auf andere wirken? Am nächsten Mittwoch hoffte ich Gewißheit darüber zu erhalten; aber mein guter, getreuer Freund ließ mich nicht so lange warten. Der folgende Morgen schon brachte mir einen Brief von ihm. Er war freudig überrascht, er hatte mir das nicht zugetraut, er fand mein Stück vortrefflich, und prophezeite einen glänzenden Erfolg. Nun begann für mich eine Zeit - wohl jedem, der eine solche einmal durchlebt hat! - Alle Seligkeit, mit der eine schöne Erwartung, ein festes Hoffen, ein Menschenherz erfüllen kann, habe ich damals genossen. Ein vollkommenes, ungetrübtes Glück, denn es blieb einzig und allein im Bereich der Phantasie. Die Außenwelt hielt ich von ihm fern, sie warf nicht einen Mißton, nicht einen Schatten hinein. "Maria Stuart in Schottland" von M. von Eschenbach wurde als Manuskript gedruckt, und an alle Bühnen Deutschlands versendet. Erst wenn Schreiben um Schreiben voll Zustimmung und Anerkennung eintreffen sollten, gedachte ich den Meinen zu verkünden: - Seht, seht, es ist doch etwas an meinem Talente, ich hab's doch zu etwas gebracht. 277

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Wir zogen auf das Land. Der Sommer verging. Jeden Morgen erwachte ich mit der wonnigen Zuversicht: Heute - jeden Abend ging ich mit der Hoffnung schlafen: Morgen kommt die Erfüllung, das langersehnte Glück. Am Nachmittage zur Stunde, in der der Postbote einzutreffen pflegte, litt es mich nicht mehr zu Hause, da ging ich ihm ein Stück Weges entgegen, um wenigstens den Anblick der großen, versperrten Ledertasche zu genießen, die er umgeschnallt trug. Aufgeschlossen wurde sie erst im Zimmer meines Vaters. Er hielt den Schlüssel zu dem Heiligtum in seiner Verwahrung. Meine schönen, rotwangigen Träume und Hoffnungen waren allmählich doch sehr bläßlich und nebelhaft geworden. Der graue Hintergrund, die Wirklichkeit fing an hindurch zu scheinen. Nicht e i n e Antwort, die nur irgendwie verheißend gelautet hätte, war gekommen auf alle meine nett konvertierten, von überaus höflichen Briefen an die Herren Theater-Direktoren begleiteten Sendungen. Ich hatte meine Nachmittags-Spaziergänge aufgegeben, und verbrachte die letzten hellen Tagesstunden mit meiner Stiefmutter. Sie arbeitete an einer Stickerei und ich las ihr vor. Einmal saßen wir allein im kleinen Salon in der Nähe des Fensters. Wenn ich den Blick von meinem Buche erhob und hinaussah, stand die uralte, riesige Linde vor mir, die der Wind unbarmherzig zerzauste und entlaubte. Zu tarnenden stoben und wirbelten ihre Blätter eine Weile in der Luft umher, und fielen dann vom Regen schwer zur Erde nieder. Und jedes von ihnen hatte gelebt sein eigenes, kleines Leben, und jedes hatte sich für das wichtigste Blatt am ganzen Baume gehalten. Wie dumm und arm waren sie - wie dumm und arm war ich gewesen. Das Buch, aus dem ich vorlas, hieß: "Die Makkabäer" und Otto Ludwig der Meister, der das herrliche Werk vollbracht hatte. Was Der konnte, mußte können, was Der war, mußte sein, wer sich ein Künstler und Dichter nennen wollte. Ich w a r nichts und ich k o n n t e nichts. Ich brachte nur Schattengebilde hervor im Vergleich zu diesen lebensvollen, von Kraft strotzenden Gestalten. Und dabei würde es wohl immer bleiben. Die Andern hatten Recht und meine Mißerfolge waren verdient. Meine Kehle schnürte sich zusammen, wie schwer war es im Vorlesen fortzufahren! Wie froh war ich, als ich durch den Diener unterbrochen wurde, der meiner Mutter ein Paket Briefe übergab. Ich fragte nicht einmal wie sonst mit heuchlerischer Ruhe und wüthend klopfendem Herzen: "Nichts für mich?" Mein Herz klopfte nicht, es zitterte nur. Ich preßte mein Gesicht in das Buch hinein, ich hätte mich mit seinem Geiste erfüllen, seinen Atem einsaugen mögen. "Da ist etwas für M. von Eschenbach: Bist Du das vielleicht?" fragte meine Mutter lachend und reichte mir über den Tisch ein bläuliches Kouvert mit dem Poststempel Karlsruhe. Ich seh' es heute noch, ich sehe jeden Zug 278

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der markigen, liegenden Schrift auf der Adresse. Der Brief war vier Seiten, vier eng beschriebene Seiten lang; sein Inhalt eine warme Begrüßung, ein herzliches Lob, der Schluß: Wir werden Ihr Stück mit derselben Liebe und Sorgfalt einstudieren, mit der wir Otto Ludwigs "Makkabäer" einstudiert haben. Die Unterschrift, Eduard Devrient. Welches gläubige Gemüt hätte dieses wunderbare Zusammentreffen nicht für eine Verheißung, eine göttliche Fügung gehalten? Ich war plötzlich wie aus tiefster Tiefe in die höchste Höhe versetzt. - Aber Höhe ist Wende. Nach der Aufführung meines Stückes zeigte mir ein Telegramm Devrients einen sehr ehrenvollen Erfolg an. Die nächsten Tage brachten eine lobende und eine tadelnde Kritik. In Karlsruhe erhielt sich das Drama durch Jahre auf dem Repertoire, doch wurde es von keiner anderen Bühne zur Darstellung angenommen; und so blieb denn mein aufkeimendes Selbstvertrauen für alle Zukunft erschüttert. Wer wüßte auch heute noch, daß eine "Maria Stuart in Schottland" von M. von Eschenbach existiert hat, wenn sich nicht im Nachlaß Otto Ludwigs eine ausführliche Besprechung des Stückes vorgefunden hätte? Der große Dichter hat dem "Herrn von Eschenbach" eine eingehende Betrachtung gewidmet. Er hat sich mit ihm beschäftigt, hat ihn beurteilt und verurteilt, unwillig, grimmig sogar. Er hat ihm jegliche dramatische Begabung abgesprochen, und ihm nur ein gewisses rhetorisches Talent zugestanden. Würde ich damals geahnt haben, daß Otto Ludwig von mir wußte, mir auch nur die geringste Beachtung schenkte, hingepilgert wäre ich zu ihm, hätte seinen Worten gelauscht, wie den Worten des Evangeliums, auf seinen Tadel geschworen und gewiß gesagt: Herr und Meister, ich habe mir zu viel zugetraut und will es nicht mehr thun. - Das wäre weniger bitter gewesen als durchzumachen, was ich noch durchmachen mußte, bis ich eines Tages die Geschichte meiner Bestrebungen und meiner Leiden in die bescheidenste Form brachte, in die der Erzählung. Da endlich trat die günstige Wendung in meiner Schriftsteller-Laufbahn ein. Der "Spätgeborene" errang, worauf ich bis dahin vergeblich gehofft hatte: einen ersten kleinen Erfolg. Der Lebenskampf eines jeden Menschen, der ernstlich und heiß nach zu hoch gesteckten Zielen strebt, ist ein schwerer. Was ihm zu seiner Erlösung am nötigsten wäre, erlangt er zuletzt - die Demut. Es dauert lang, ehe der Phantast, der meinte, nur auf dem Bergesgipfel werde er frei atmen können, sich zu dessen Füßen in einem Hüttlein einrichtet und darin seinen Frieden findet. In meiner Jugend war ich überzeugt, ich müsse eine große Dichterin werden, und jetzt ist mein Herz von Glück und Dank erfüllt, wenn es mir gelingt, eine lesbare Geschichte niederzuschreiben.

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Π. KRmSCHR APPARAT

1. EDITORISCHE HINWEISE Siglen: Die Handschrift und die Textzeugen von Aus meinen Kinder- und Lehrjahren werden mit Siglen bezeichnet, die im Quellen- und Literaturverzeichnis aufgeßhrt und mit bibliographischen Angaben versehen sind. Abkürzungen und Zeichen: V ()

{ } ( )

Variantenverzeichnis Stellenangabe der Nachweise aus Aus meinen Kinder- und Lehrjahren erfolgt unmittelbar nach den Zitaten in runden Klammern (Seiten, Zeilen) Tilgungen der Autorin in H1^ Hinzußgungen der Autorin in H1^

Wiedergabe des Textes: Der originale Fraktur-Text ist in Antiqua wiedergegeben.

2. ZUR GESTALTUNG DES APPARATES v i

Berücksichtigt werden die Handschrift und die beiden Druckfassungen (Η , KL1, KL2) sowie die Korrekturbogen für KL2 mit handschriftlichen Eintragungen der Autorin (KL2K). Gehäuft auftretende Veränderungen in der Orthographie, in der Lautgestalt und in der Inteqmnktion sind in Abschnitt 11,4 bei den Sammelvarianten aufgeßhrt, in Abschnitt 11,5 folgt das fortlaufende Varianten verzeichnis. 3. DIE HANDSCHRIFT Unter der Inventarisierung-Nummer 38.308 ist in der Wiener Stadtbibliothek ein Arbeitsbuch der Dichterin verzeichnet. Es enthält 30 Blätter, davon 28 Seiten beschrieben (8°). Jeweils auf den rechten Seiten, die von 1 bis 28 oben rechts eigenhändig paginiert sind, findet sich das Manuskript ßr die erste Dmckfassung der Erinnerungen, die unter dem Titel Aus den Kinderjahren im Jahre 1887 in der Deutschen Dichtung erschienen ist und dem kritischen Text bis 276,26 sowie 279,33-41 entspricht. Dieses Manuskript von Hand der Dichterin, in deutscher Schrift und mit Tinte geschrieben, wird hier mit H1^ bezeichnet. Interne Korrekturen sind im Variantenverzeichnis ausgewiesen.

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4. SAMMELVARIANTEN Zahlreiche Veränderungen, die die Dichterin bei der Überarbeitung der HandKT 1 schrift H für die erste Druckfassung KL bzw. auf deren Grundlage für die Λ

zweite Druckfassung KL vorgenommen hat, können in zusammenfassender Darstellung besser verdeutlicht werden als im fortlaufenden Variantenverzeichnis und sind deshalb aus diesem ausgesondert worden. Vermerkt wird jeweils die chronologisch früheste Fassung, von der aus die Variante gewählt wurde. a. Orthographische Varianten aa. Vokale und Konsonanten ITT 1 1. Bei Wörtern mit th wird in den meisten Fällen von Η auf KL das h gestrichen: Mißrathenste (271,13f.) / gerieth (271,23) / Theil (271,41) / Orthschaften (272,15) / blüthenüberschneiten (272,38f.) / Notthaufe (273,15 / 273,16) / Athemzug (273,21f.) / Muthe (274,9) / Wuth (274,30) / roth (275,18) / nothgedrungen (275,35) / nöthigsten (279,35) / Demuth (279,35) / athmen (279,36). Ein Sonderfall liegt vor bei sanftmüthige (274,41); diese Form tritt auf in H und KL , dagegen fehlt das h in KL . Bestehen bleibt th bis Kl? jedoch immer bei Thor, Thür, K That T sowie1 sämtliehen Formen des Verbes thun. Außerdem entfällt von H auf KL das h in Frohnarbeit (274,21). 2. Von H 1 0 ' auf KL1 wird ß am Wortende zu s verändert bei: Geheimniß (273,42 / 276,15) / Gedächtniß (274,5) / Begräbniß (274,13). 3. Bei thodt (271,36) und tödten (275,14) wird von H 1 ^ auf KL1 das d gestrichen. KT 1 4. Der Doppelvokalismus in Schooß (271,18) wird von H auf KL1 vereinfacht. VT

^

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ab. Fremdwörter Eine Angleichung an deutsche Schreibung und Lautung ist bei folgenden KI 1 Fremdwörtern vorgenommen worden: Von H auf KL wurde Lection zu Lektion (272,4), Postillione zu Postillone (272,13), saeculums zu Säkulums (273,37), applicirte zu applizierte (275,1), Comtessen-Stücke zu KomtessenStücke (276,1). 284

Umgekehrt erscheint ab KL1 statt der eingedeutschten Schreibweise Zdislawitz durchgängig die mährische Zdislavic. ac. Groß- und Kleinschreibung Kleinschreibung erfolgt bei substantivisch gebrauchten Indefinitpronomen, KT

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Tageszeitenadverbien und anderen Wendungen von H auf KL1 bei: Andere (271,21) / Alles (271,25 / 272,8) / Neunzig (272,28) / Morgens (273,3) / Abends (273,3) / Ältere (273,19) / Niemand (274,11 / 275,18) / Recht (275,36)/Allem (276,20). ad. Der Apostroph Der Apostroph fällt weg bei den Wendungen aufs (271,43), für's (272,13), in's (273,6) und vor dem Genitiv-s bei den Eigennamen Grün's (275,29) und RetKI 1 tich's (276,2) jeweils von H auf KL . Außerdem wird er gestrichen in der wörtlichen Rede von H 1 ^ auf KL1 bei Geh' (274,9) und sag" (274,9). b. Interpunktionsvarianten In das Sammelvariantenverzeichnis werden hier nur die Fälle von Komma-ErKL

gänzung und -Wegfall aufgenommen. An zahlreichen Belegstellen in H hat die Autorin zunächst kein Komma gesetzt, und dort liegt auch unter Berücksichtigung des damals nicht immer mit der heutigen Regelung übereinstimmenden Gebrauchs eine klare Vernachlässigung der Bestimmungen vor, - so werden etwa KL grundsätzlich eingeschobene Nebensätze in H nicht durch Kommata abgesetzt. In KL1 wird fehlendes Komma ergänzt nach: Kind (271,4) / Andere (271,5) / lernen (271,22) / Schiefertafeln (271,24) / möglich (271,28) / sein (271,29) / gewesen (271,29) / sind (271,34) / wortbrüchiges (271,37) / Gewissensqualen (271,39) / zu (271,42) / immer (272,12) / Schuhe (272,32) / humpelte (272,32) / Armen (272,42f.) / waren (273,2) / Nebenzimmer (273,6) / zu (273,8) / Wickeltisch (273,11) / Unglücks (273,26) / brach (273,30) / wollte (273,31) / dessen (273,33) / sie (273,35) / nebeneinander (274,2) / nie (274,7) / mich (274,19) / mich (274,20) / nur (274,31) / Absicht (274,36) / Gelegenheit (274,37) / auszuführen (274,37) / versah (275,1) / gewesen (275,22f.) / liebenswürdige (275,26) / trug (276,11) / bewunderte (276,13) / Briefwechsel 285

(276,19) / Allem (276,20) / lang (279,35) / meinte (279,36) / gelingt (279,41f.). In zwei Fällen tritt das Komma erst von KL1 auf KL2 hinzu: Herzens (272,36) / V-T 4 überzeugt (279,39). Getilgt wird dagegen das Komma von H auf KL an folgenden Stellen: eine, (271,3) / Freiheit, (271,20) / Welt, (272,7) / schöner, (272,19) / Blech, (272,20) / von dem, (274,23) / ihnen, (274,41). Weitere Interpunktionsveränderungen erscheinen im folgenden fortlaufenden Variantenverzeichnis. 5. FORTLAUFENDES VARIANTENVERZEICHNIS 271, 3 6 7

8 28 30 32 33 272, 7 12 13

passati! - ] passati! H 10 - KL1

If» dazu, vom ] dazu; {und es war} vom H entsinne. ] entsinne. Es war ein neues Glück sui seiner Wiege zu stehen, ihm zuzusehen wie es schlief und sein Erwachen, das wir durch unsere laute Bewunderung nur zu oft beschleunigten, mit Jubel zu begrüßen. H ^ KL1 T/1 der Freude bis hatten ] dieser {tiefempfundenen} Freude H ] dieser Freude KL1 gefallen. Wir ] gefallen, {als auf dem Lande. Meine Schwester} Wir H ^ hundertmal ] hundert Mal H 1 ^ Kalligraphie; ] Kalligraphie, H 1 ^ KI entgegen: ] entgegen H VT gemerten ] genirten H unterwegs ] unterweges H 1 ^ 1 Extra-Trinkgeld ]•extra Trinkgeld Kl 1 H ^

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immerhin ] allerdings H KL wir bis wiederfanden ] man dort zurückgelassen hatte und wiederfand H a KL1 19 bedeutete ] {war} (bedeutete) H 1 ^ 1 22 Schloßhof - wenn ] Schloßhof wenn τ/τ H ^ 22f. hereinfuhren; ] hereinfuhren, H 26 Frau, ] Frau. H 0 ' 30f. gefältete ] gefältelte H 1 ^ 32 nie; H^ • · ] nie 33 einige ] {ein wenig} (einige) HKI KT

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erwiderte ] erwi{e}derte H küssen. ] küssen. - H 1 ^

38 15 18 24 34

Natur: ] Natur, H 1 ^ wohl ] wol H ^ das Ideine Kind ] {es} (das kleine Kind) H Und ] Und {gar} H 1 ^ KI Schwester: ] Schwester H KT nie wieder ] nie mehr H

35 36

erwiderte ] {sagte} (erwiderte) H sein." ] sein." Absatz Ja, wir waren dumm vor fünfzig Jahren, ich glaube nicht daß die Kinder in der zweiten Hälfte des saeculums KT 1 eben so dumm sein können, wir wir gewesen sind. - H ] KL wie H KI , KL1 aber abweichend Säkulums und ebenso sowie Komma vor daß "Ja," fuhr ] "Ja, fuhr H 1 ^ Anhänglichkeit und Treue ] {Liebe} (Anhänglichkeit und Treue)H 1 ^ Auch bis verfuhr (274,20) ] {Es peinigte mich sehr zu sehen daß

12 16 171 19 33 36 40 42 6 7 11 Ili 13 29 39J

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KT

KT

mit ihnen rauh verfahren wurde} (Auch bis verfuhr) H wurde; ] wurde, H 1 ^ sogar bis lachte ] {am lautesten lachte} (sogar) der Geprügelte (lachte) H ^ KT der Absicht ] {dem Gedanken} (der Absicht) H Kï jüngere ] {zweite} (jüngere) Η 1 Während) Bei H 0 - K L KI 1 Lehrstunde ] Lection Η ] Lektion KL KT

verzerrter ] verzerre{nder}(ter) Η meine ] fehlt KL1 Eckhart ] Eckhar{d}t H 1 ^ Sie bis Anblick ] {Es war K ein T kläglicher Anblick} (Sie boten einen kläglichen Anblick) Η Localist ] Locale H 1 ^ KL1 "Letzter Ritter" ] "letzter Ritter" H 1 ^ ] Letzter "Ritter" Druckfehler KL2 doch bis mitgenommen (275,42) ] {aber das waren sie alle im Vergleich zu deijenigen, die ich} (doch schwanden sie alle wie Schatten vor dem Eindruck den ich) von der Bühne herab empf{angen sollte}(ing). Die Zeit war da, in welcherKIwir jeden zweiten Tag in das Burgtheater mitgenomen wurden Η im Winter bis Stolze ] Wir wurden nämlich, zu unserer nicht geringen Freude KL1 287

42 3

If Τ befände ich mich ] {träte ich} {befände ich mich) Η schadet bis begeistert ] schadet{e} nicht, es läutert{e}, es v i

erbaut{e} und begeisthert{e} Η KI 1 Shakespeare ] Shakspeare H KL XIX. ] 19. H 1 ^

9f. 10 11 vi ein Büchlein ] ein kleines Büchlein Η 19 If I 21 wir ] wir {miteinander} Η 24 13 Einfall ] {Gedanken}

• KI 1 Η 26 in dem ] in welchem H KL1 werden. ] werden. Absatz Thörichte Kindereien, aber sie trugen einen verderblichen Keim in sich; er ging auf und {bereitete} (schuf) mir in der Zukunft KT KIeine lange Reihe 1 von 1 Irrthümern und 27« Enttäuschungen. Η ] Η entspricht KL , KL aber Irrtümern 33f. Es giebt bis Erfolg (279,32) ] fehlt H 1 ^ KI KL1 1 34 zu hoch gesteckten ] unerreichbaren H KL 36 strebtBergesgipfel ] {ge}strebt ]{hat} H 1 ^ H v i KL-ι dem den Höhen 39 überzeugt, bis Dichterin ] überzeugt es müsse eine große DichteKI 1 KL 1 rm aus mir H

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] KL entspricht Η

, KL aber Komma nach

überzeugt vi von Glück und Dank ] mit glückseliger Dankbarkeit Η

III. TEXTGESCHICHTE

1. DIE ENTSTEHUNG DES WERKES

Während sich für den umfangreichen autobiographischen Haupttext Marie Ebners eine Fülle von Materialien zur Dokumentation der Entstehungsgeschichte ermitteln ließ, ist man bei der Untersuchung des Aufsatzes Aus meinen Kinder- und Lehrfahren im wesentlichen auf einen Briefwechsel der Dichterin mit Karl Emil Franzos, auf dessen Anregung hin die Schrift entstanden ist, beschränkt. Eine erste Fassimg ist 1887 in der Deutschen Dichtung erschienen, das geht aus einem Brief des Herausgebers dieses von 1886 bis 1904 existierenden Literaturperiodikums hervor.1 Am 27. Juli 1894 schreibt Franzos an Marie Ebner: Wie Sie auch aus eigener Erfahrung wissen, bin ich seit langen Jahren, schon seit Begründung der "Deutschen Dichtung" bemüht gewesen, unsere hervorragenden Dichter zur Aufzeichnung selbstbiographischer Mittheilungen anzuregen; auch Sie, hochverehrte Frau, hatten die Güte, dieser Anregung folgend 1887 den beiliegenden Aufsatz zu schreiben. (Brw 31) Es handelt sich hier um eine kurze Selbstdarstellung der Dichterin, die den gleichen Zeitraum wie die später entstandenen biographischen Skizzen Meine Kinderfahre umfaßt und die unter dem Titel Aus meinen Kinderfahren in der Deutschen Dichtung abgedruckt ist. Zu dieser Fassung (KL1) liegt in der Wiener Stadtbibliothek unter der Inventarisierungs-Nummer 38.308 ein vollständiges eigenhändiges Manuskript der Dichterin vor (H 1 ^). 2 In seinem Brief, den Franzos sieben Jahre später an die Verfasserin richtet, bittet er sie um eine Erweiterung dieses Selbstbildes: Seit 1890 habe ich die Frage an die Eingeladenen schärfer gefasst und sie gebeten, die "Geschichte ihres Erstlingswerks" niederzuschreiben. Aus diesen, in der "Deutschen Dichtung" seit 1886 erschienenen selbstbiographischen Aufsätzen, und zwar sowohl aus denen allgemeineren Wesens, zu denen der Ihrige gehört, wie aus den zuletzt geschriebenen über ein "Erstlingswerk" soll nun im Herbst d. J. in Buchform eine Auslese erscheinen. (BrW 31) Franzos nennt nun eine ganze Reihe von Dichtern, deren Einverständnis mit diesem Projekt ihm bereits zugegangen ist, und betont, wie sehr ihm an der Beteiligung der Ebner gelegen ist; eine Umarbeitung der bereits vorliegenden Fassung sei ohne viel Mühe möglich. Die bislang eingegangenen Dar1

Deutsche Dichtung. Hg. Karl Emil Franzos. Bd 3/4. Stuttgart 1887.

2

Siehe dazu Abschnitt II, 3.

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Stellungen zeigten, daß die Dichter die Aufgabe, je nach Individualität, sehr verschieden gefaßt hätten, "aber die Mehrzahl hat die Kinderjahre und das erste Auftreten des dichterischen Dranges geschildert". So könne der Aufsatz Marie Ebners bis knapp an den Schluß in der bisherigen Fassung belassen bleiben, zu ergänzen sei nur die Entstehungsgeschichte des ersten Werkes, - "Sie sehen, es ist die Arbeit weniger Stunden." (BrW 31) Schon vier Tage später, am 31. Juli 1894, antwortet Marie Ebner zustimmend: Die Ergänzung der Skizze, die Sie, verehrter Herr, wünschen, hoffe ich Ihnen bald schicken zu können. (BrW 32) Am 31. August kündigt die Dichterin die Fertigstellung des Aufsatzes an (BrW 33), am 3. Oktober hat sie die Korrekturen vorgenommen und sendet sie an den Herausgeber (BrW 34). Ende November ist das Buch wie geplant erschienen. Von Zdißlawitz aus bringt Marie Ebner ihre Zufriedenheit mit der Konzeption und Ausgestaltung zum Ausdruck: Die "Geschichte des Erstlingswerkes" macht mir große Freude, gestern habe ich das Vorwort und Ihren Beitrag gelesen mit dem größten Interesse und der wärmsten Zustimmung. Möge das Buch viele und nur wohlwollende Leser finden! (BrW 35) Damit erschöpfen sich die handschriftlichen Quellen, denen Hinweise für die Entstehung der beiden Fassungen des Aufsatzes zu entnehmen sind. Im Vorwort des Buches legt der Herausgeber Franzos ausführlich die Beweggründe für sein Unterfangen dar. Mit sehr vielen Schriftstellern habe er über die Möglichkeit der Darstellung des eigenen Werdeganges gesprochen, und ein jeder von ihnen habe zugegeben, an einen solchen Plan schon einmal gedacht zu haben; ausgeführt worden sei er letztlich jedoch nur von allzu wenigen.3 Hier nun sieht Franzos seine Aufgabe, Anstoß zu geben für die Niederschrift wenigstens eines Kapitels aus der Vita der anerkannten Dichter seiner Zeit; die Entscheidimg für die Schilderung der Entstehimg des Erstlings - damit ist das erste veröffentlichte Werk gemeint - begründet er wie folgt: Es war ja vielleicht nur eben die erste Schlacht und nicht der erste Sieg, noch weniger der schönste, den man davongetragen hat, und doch, welchem Dichter wird nicht die Zeit, wo er seinen Erstling schrieb, als ein Unvergeßliches, in seiner Art Einziges und Höchstes im Gemüte fortleben? (...) wie bezeichnend für des Dichters Wesen, geradezu der Schlüs-

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Die Geschichte des Erstlingswerks, S.VIf.

sel zu seinem Schaffen bleibt dies erste Buch, ob es nun ein Reden oder ein Stammeln ist.* Der denkende Leser verweile lange bei diesem Kapitel jeder Selbstbiographie, der Verfasser selbst, weil er da besonders viel zu sagen habe; die Geschichte des Erstlingswerks sei eines der längsten Kapitel in den meisten Dichterselbstdarstellungen und oft genug das interessanteste.5 Franzos ist es dabei ausdrücklich um die "innere" Geschichte des ersten Schaffens gegangen, an einen Anekdotenschatz aus dem Schriftstellerleben habe er nie gedacht. Dennoch ist für ihn maßgeblich ein durchaus äußeres Ereignis, das erste Erscheinen eines Werkes in der Öffentlichkeit; er begründet dies damit, daß letztlich die Herausbildung des dichterischen Talentes nicht wiedergegeben werden könne: Man wird nicht ein Talent, sondern man ist es; auch über der Entstehung des Dranges, dieses Talent zu bethätigen, hegt ein so dichter Schleier, daß ihn selbst das schärfste Auge im Rückblick nicht ganz durchdringen kann.6 Gerade darum aber hat sich Marie Ebner, wie man der Untersuchung der Kinderjahre entnehmen kann, hauptsächlich bemüht; das gesamte Werk ist geprägt von Hinweisen auf die Ausgestaltung der Phantasiewelt des Kindes, und nach und nach beginnt sich diese zu äußern, zu verselbständigen und sprachliche Formen anzunehmen. Das ist aber nur möglich gewesen, weil sich die Dichterin in der Autobiographie sehr viel ausführlicher hat darstellen können als in dem von Franzos gebotenen Rahmen. Im folgenden wird gezeigt werden, wie sie die lange Jahre zuvor gestellte Aufgabe bewältigt hat. Bemerkenswert ist hier jedenfalls, daß Franzos, der sich seiner Kenntnis zahlreicher Dichterautobiographien rühmt, von vornherein seine Zuflucht zu einem äußeren Fixpunkt in der Schriftstellerlaufbahn nimmt, da er offensichtlich nicht an die Möglichkeit glaubt, allgemein den inneren Werdegang darstellen zu können. Marie Ebner hat mit den Kinderjahren bewiesen, daß eine solche Schilderung machbar ist, einmal mehr wird hier die besondere Bedeutimg ihrer Art der Selbstdarstellung klar. Franzos führt im folgenden weitere Gründe an, um sein Vorhaben zu rechtfertigen: Erwog ich, welcher Fleiß und welche Fülle von Scharfsinn heute daran gewendet wird, um zu erkunden, unter welchen Einflüssen und Verhältnissen die Dichter des XVIII. Jahrhunderts ihre Erstlingswerke geschrieben, so glaubte ich mir durch mein Beginnen den Dank der Litteraturhi-

4 5 6

Ebd., S.VII. Ebd., S.VIII. Ebd., S.IX.

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storiker in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts zu verdienen; da dürfte sich ja wohl die Wissenschaft mit den Dichtern, die wir Ungelehrten jetzt lesen, beschäftigen.7 Damit hat er nun in der Tat, geht man von dem Nutzen des Aufsatzes für die vorliegende Untersuchung aus, nicht unrecht gehabt. Vor der weiteren Betrachtung der Ebnerschen Schrift sei ergänzt, daß die Dichterin als einzige Frau in der Reihe der Autobiographen Aufnahme gefunden hat. Die übrigen Aufsätze im Sammelband stammen von folgenden Autoren: Rudolf Baumbach, Felix Dahn, Georg Ebers, Ernst Eckstein, Theodor Fontane, Karl Emil Franzos, Ludwig Fulda, Paul Heyse, Hans Hopfen, Wilhelm Jensen, Hermann Lingg, Conrad Ferdinand Meyer, Ossip Schubin, Friedrich Spielhagen, Hermann Sudermann, Richard Voß, Ernst Wiehert und Julius Wolff. Franzos bietet damit eine durchaus repräsentative Auswahl derer, die in der damaligen Schriftsteller-Generation Rang und Namen haben; wenn hier Marie Ebner als einzige weibliche Autobiographin im gesamten deutschsprachigen Raum aufgenommen ist, so beweist dies zum einen ihre Popularität in der literarischen Öffentlichkeit jener Zeit, zum anderen drängt sich die Frage auf, inwieweit sie sich als Frau anderen Bedingungen als ihre schriftstellernden Kollegen ausgesetzt sehen könnte, inwieweit sie sich darüber äußert; dies wird später noch untersucht werden. Zunächst schließt sich die Betrachtung der einzelnen Fassungen ihres selbstbiographischen Aufsatzes in Hinblick auf die Auswahl des edierten Textes an.

2. GRÜNDE FÜR DIE WAHL DES EDIERTEN TEXTES

Folgende Textzeugen sind ermittelt worden: die Handschrift der Dichterin (H ) zur ersten Fassung, die in der Deutschen Dichtung erschienen ist, sodann dieser Abdruck selbst (KL1), desweiteren Korrekturbogen mit handschriftlichen Eintragungen Marie Ebners für die erweiterte zweite Fassung des Aufsatzes (KL ) und ebendiese Fassung, die in dem Sammelband von Franzos veröffentlicht worden ist (KL2). Das Problem der Autorisation ist schon andernorts erläutert worden, nach den dort erhobenen Forderungen können hier alle Textzeugen als autorisiert gelten.8 Was die Bedingungen für die Entscheidung zur maßgeblichen Fassung für die Edition angeht, ist ebenfalls im vorhergehenden ausführlich erörtert worden.9 Eine neue Situa7

Ebd., S.X.

8 9

Siehe S.190. Siehe S.197ff.

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tion liegt hier insofern vor, als Marie Ebner zu einer umfangreichen Umarbeitung aufgefordert worden ist, die sich in einer starken Erweiterung der letzten Fassung (KL2) niederschlägt. Verfolgt man die Textgeschichte von der Handschrift an, so fallen einige Tendenzen bei den vorgenommenen Veränderungen auf. Noch in der Handschrift ersetzt die Dichterin Verben und Substantive allgemeinen Inhalts durch wesentlich präziser gefaßte, so wird etwa "war" zu "bedeutete" (V 272,19), "sagte" zu "erwiderte" (V 273,35), "Liebe" zu "Anhänglichkeit und Treue" (V 274,16), "Gedanke" zu "Absicht" (V 274,36), "Gedanke" zu "Einfall" (V 276,21). Als Verbesserung im Sinne einer konsequenteren Sprachgestaltung kann der Ersatz von unpersönlichen Ausdrücken mit "es" und "man" angesehen werden; noch in H verändert die Dichterin "Es war ein kläglicher Anblick" in "Sie boten einen kläglichen Anblick" (V 275,11). Entsprechend ist sie bei der Umarbeitung von KL1 zu KL2 verfahren; so steht für das "man" in KL1 das "wir" der Geschwister in KL2 (V 272,17), statt "es müsse eine große Dichterin aus mir werden" in KL1 wird in KL geschrieben "ich müsse eine große Dichterin werden" (V 279,39). Die schwerfällige Formulierung "mit glückseliger Dankbarkeit erfüllt" in H 1 ^ wird in KL1 aufgelöst: "von Glück und Dankbarkeit erfüllt" (V 279,40). Darüber hinaus sind bei der Umarbeitimg von KL1 zu KL2 verschiedentlich kurze Passagen gestrichen worden. Wenn die Dichterin zu Beginn des Aufsatzes in sehr knapper Form sich und ihre Geschwister vorstellt, so beschreibt sie dabei zunächst relativ ausführlich das Verhältnis der Kinder zur jüngsten Schwester; diese Passage entfällt in KL , wodurch hier der Erzählvorgang wesentlich flüssiger gestaltet ist (V 271,7). Ebenfalls gestrichen wird von KL? auf KL2 ein Kurzkommentar der Dichterin zur Reaktion der Kinder auf den Tod der Mutter: Ja, wir waren dumm vor fünfzig Jahren, ich glaube nicht, daß die Kinder in der zweiten Hälfte des Säkulums ebenso dumm sein können wie wir gewesen sind. (V 273,36) Die Schilderung des Vorfalls selbst spricht schon für sich; in den weiteren Ausführungen dagegen herrscht ein Tonfall vor, der die Spannung zwischen dem Ereignis und seiner Wirkung auf die Kinder auflöst. Die Tilgung einer solchen Bewertung kann somit als eine Verbesserung angesehen werden. Während diese Eingriffe im stilistischen und erzähltechnischen Bereich vollzogen werden, kommt bei einer weiteren Veränderung die von Franzos angeregte Ausweitung des Aufsatzes zum Tragen. Nach der Schilderung ihrer ersten Schreibversuche zieht Marie Ebner in KL1 ein Resümee und spricht von "thörichten Kindereien", deren "verderblicher Keim" ihr jedoch eine lange Reihe von Irrtümern und Enttäuschungen bereitet habe (V 276,26). Statt dieser Passage tritt in KL2 die Beschreibimg der zahlreichen 295

vergeblichen Versuche bis hin zur ersten Veröffentlichung ein (V 276,27279,32). Der Tenor bleibt, dies wird deutlich an den in beiden Fassungen fast unveränderten Schlußworten; in KL2 nimmt die Dichterin jedoch eine feine Nuancierung vor, indem sie hier nicht mehr von "unerreichbaren", sondern von "zu hoch gesteckten Zielen" spricht (V 27933) und damit die zahlreichen Fehlschläge stärker auf ihrer Selbstverantwortung gründet. Wie schon der kritische Apparat gezeigt hat, ist der Text im Zuge der Umarbeitungen im Bereich der Orthographie und Interpunktion korrigiert und modernisiert worden.10 Hinzu kommen Veränderungen stilistischer und erzähltechnischer Art, die - wie erwähnt wurde - zu einer stringenteren Gestaltung des Erzählten führen. Schon diese Verbesserungen legen es nahe, für die Edition die letzte Fassung zu wählen. Ausschlaggebend ist bei dieser Fragestellung jedoch nicht zuletzt das Argument gewesen, daß durch die in KL vorgenommene Erweiterimg der Schrift eine Lebensphase Marie Ebners, die sie sonst nicht mehr geschildert hat, bei der Gesamtinterpretation ihres Selbstbildes mitberücksichtigt werden kann.

10 Siehe S.123ff.

296

IV. DEUTUNG

1. AUFSATZ UND AUTOBIOGRAPHIE IM VERGLEICH

Im Alter von 56 Jahren schreibt Marie Ebner die erste Fassung des Aufsatzes, und gleich zu Beginn bekennt sie sich - eine Art von Pakt mit dem Leser im Sinne Lejeunes11 - zu ihrer mangelnden Gedächtnisleistung (271,Iff.). Zwanzig Jahre später kommt sie im Vorwort der Kinderfahre wieder darauf zu sprechen und erklärt die gesteigerte Erinnerungsfähigkeit mit ihrem fortgeschrittenen Alter; damals habe sie Zukunft vor sich gesehen und dadurch sei der Blick auf die Vergangenheit verstellt gewesen (5,4 ff.). Wenn die Dichterin hier die Art ihres Rückblicks reflektiert, so liegt damit ein Akt potenzierter Selbstdeutung vor; die Aussage erlaubt Rückschlüsse nicht nur auf die Entstehungsbedingungen der Autobiographie, sondern auch auf die Situation zur Abfassungszeit des Aufsatzes. Wenn damals die Erinnerungen an die frühe Kinderzeit nicht besonders lebhaft sind, so ist den wenigen Ereignissen, die sie niederschreibt, eine besondere Bedeutung beizumessen. Dabei spielt jedoch ein äußerer Faktor eine gewichtige Rolle: Für den Aufsatz hat der Dichterin von vornherein ein so begrenzter Raum zur Verfügung gestanden, daß selbstverständlich auch in dieser Situation eine Auswahl dessen, was sich für die Niederschrift angeboten haben kann, getroffen worden ist. In der Autobiographie hat Marie Ebner einen Großteil des Aufsatzes, einige Passagen sogar wörtlich, übernommen; der Vergleich beider Schriften kann somit auch Informationen über die Arbeitsweise bei den Kinderfahren liefern. Zunächst soll kurz der Inhalt des Aufsatzes, insoweit er dem zeitlichen Rahmen der Autobiographie entspricht, skizziert werden. Am Anfang steht eine sehr knapp gefaßte Selbstcharakterisierung: ein fröhliches, wildes, unbändiges Geschöpf (271,2ff.); so spärlich diese Angaben auch sind, findet sich doch eine entsprechende allgemeine Selbstbeurteilung in der Autobiographie an keiner Stelle. Dort wird das Gesamtbild nach und nach aus den einzelnen Anekdoten und reflektierenden Passagen heraus entwickelt. Nach einer kurzen Vorstellung der Geschwister setzt sodann die Schilderung der ersten Lebensjahre ein; für den Teil, der dem Zeitraum der Kinderjahre entspricht, lassen sich drei Abschnitte ausmachen: Zunächst liefert die Dichterin eine allgemeine Situationsbeschreibimg; das Kind sieht sich mit ersten Pflichten konfrontiert, erlebt Mißerfolg und Bestätigung beim Lernen und Handarbeiten. Ausführlich wird die allsommerliche Fahrt aufs Land geschildert sowie das intensive Naturerleben des Mädchens (271,8 - 272,43).

11 Siehe dazu S.214.

299

Im Anschluß daran erzählt Marie Ebner von zwei Ereignissen, die ihre Erfahrungswelt in besonderer Weise beeinflußt haben werden: Das Kind erlebt den Tod der Stiefmutter und die Trauer der Angehörigen; die eigene Reaktion wird in einer Episode aus der Perspektive des Erinnerten Ich verdeutlicht. In diesem Zusammenhang kommt die Dichterin auf die Persönlichkeit ihrer Mutter zu sprechen, die sie selbst durch deren frühen Tod nicht gekannt hat; die Verehrung dieser Frau verbindet das Kind mit den Leuten auf dem Lande. Um das Verhältnis zu ihnen zu veranschaulichen, erzählt Marie Ebner nun von einem Vorfall, bei dem die ungerechte Behandlung eines Arbeiters sie empört und auf Abhilfe sinnen läßt. Später erkennt sie beschämt in der Religionsstunde, wie verfehlt ihre Rachegedanken gewesen sind (273,1-275,19). Diese Erzählkomplexe werden vom folgenden abgesetzt: "Einige Jahre vergingen." (275,20) Nun erst werden Einflußfaktoren für die dichterische Entwicklung erwähnt. Eine neue Stiefmutter bringt den Kindern ausgesuchte Literatur nahe, und unter ihrem Eindruck verfaßt das Mädchen eine Reihe von Improvisationen. Es beginnt zudem nun eine Zeit regelmäßiger Besuche im Burgtheater, die den Wunsch aufkommen lassen, als Dramatikerin Karriere zu machen. Unterstützung und Zurechtweisimg bei den ersten poetischen Versuchen findet das Kind bei der Gouvernante Mary Kittl (275,20276,26). In der ersten Fassung bewertet Marie Ebner ihr frühes Schaffen als "thörichte Kindereien" (V 276,26), die sich in der weiteren Zukunft in einer langen Reihe von Irrtümern und Enttäuschungen fortsetzen sollten; in der zweiten Fassung erzählt die Dichterin stattdessen von den zahlreichen Ansätzen zu verschiedenen Werken, bei denen sie oft von anderen wohlwollend unterstützt worden sei, bei der leisesten Kritik jedoch ihr Selbstvertrauen verloren und die Arbeit resigniert aufgegeben habe (276,27ff.). Vergleicht man nun den Inhalt der Autobiographie mit dem zeitlich entsprechenden Teil des Aufsatzes, so finden sich in letzterem kaum Passagen, die später keinen Eingang in die Kinderjahre gefunden haben. Dies ist der Fall bei der Szene, in der das Gerechtigkeitsgefühl des Kindes beschrieben wird (274,18ff.), und bei der anschließenden Schilderung seiner Erkenntnis, daß Selbstjustiz sündhaft sei (274,40ff.). Ausgangspunkt für diesen Erzählkomplex ist das Verhältnis des Kindes zu den "Landsleuten", das in der weitaus umfangreicheren Autobiographie nur sehr kurz gestreift wird (7,38ff.). Der Wegfall gerade dieser Episode kann so gedeutet werden, daß in den Kindeqahren letztlich nur die Beziehungen zu den engsten Bezugspersonen thematisiert werden, die die innere Entwicklung, d.h. die der Gedankenwelt und der Phantasie und damit die geistige Grundausstattung der kommenden Dichterin beeinflußt haben. Für diese Erklärung spricht auch die Auslassimg einer Personenbeschreibung in der Autobiographie. Die genrebildhafte Darstellung einer alten Frau, der die Kinder regelmäßig bei der Ankunft in Zdißlawitz begegnen, ist im Aufsatz Bestandteil eines Stim300

mungsbildes der ländlichen Atmosphäre; geschildert wird ihre Wirkung auf die Kinder als die eines Naturwesens, nicht eines Menschen, der handelt und in irgendeiner Weise Prozesse auslöst (272,26ff.). Diese Faktoren jedoch spielen in den Kinderfahren bei der Personendarstellung eine große Rolle; wenn also das Bild der alten Frau dort nicht wiederaufgenommen wird, kann vermutet werden, daß die Dichterin später um eine größere Stringenz in der Personenzeichnung bemüht ist. Von diesen Ausnahmen abgesehen aber findet sich der gesamte Inhalt des Aufsatzes, wenn auch in anderer Reihenfolge, in den Kinderfahren wieder; dabei hat Marie Ebner verschiedentlich ganze Passagen fast wortwörtlich übernommen, so etwa die Schilderung der Zdißlawitzer Landschaft (36,16ff. / 272,37ff.), das Gespräch über ihre verstorbene Mutter (7,40ff. / 274,5ff.) und die Beschreibung ihrer ersten Strickversuche (26,37ff./ 271,9ff.). Es sind dies Erzählpassagen sehr unterschiedlichen Charakters, und ihre Wiederverwendung beweist zunächst nur, daß der Dichterin neben der inhaltlichen Relevanz auch die erste formelle Ausgestaltung geeignet scheint, zu der ausführlicheren Darstellung ihres Werdegangs beizutragen. Die weiteren Erzählkomplexe im Aufsatz sind in der Autobiographie jeweils sehr viel breiter ausgestaltet; in der Regel findet sich in der früheren Schrift eine kurze exemplarische Anekdote, die in den Kinderjahren eingebettet ist in einen mit Kommentaren und Reflexionen versehenen Zusammenhang, der ihre Bedeutung für die innere Entwicklung des Mädchens vor Augen führt. Im Aufsatz läßt die Dichterin durch die einfache Tatsachenschilderung also die Fakten für sich sprechen, in der Autobiographie werden sie, der teleologischen Struktur dieser Schrift entsprechend, immer wieder auf die Leitlinie des Ganzen bezogen. Ein solches Vorgehen ist beim Aufsatz schon wegen des wesentlich geringeren Umfangs nicht möglich gewesen, jedoch hätte Marie Ebner dort anstelle der einzelnen Anekdoten durch eine mehr übergreifende Darstellung ihrer ersten Jahre Tendenzen in ihrem Werdegang verdeutlichen können. Denkbar ist, daß sie zur Abfassungszeit des Aufsatzes tatsächlich nur erst einzelne Geschehnisse ins Gedächtnis zurückzurufen vermag, die, nebeneinandergesetzt, ein mosaikartiges Bild ihrer Vergangenheit ergeben. In diesem Sinne hat sie sich - wie erwähnt - im Vorwort zur Autobiographie selbst geäußert. Zwanzig Jahre später ist sie dann in der Lage, die einzelnen Ereignisse in ihrer Abfolge und Konsequenz für ihre Entwicklung zu deuten; dies hält sie jedoch nicht davon ab, das damals Niedergeschriebene als eine Art von Versatzstücken in der Autobiographie wiederzuverwenden. Während bei den Kinderfahren die Durchführung verschiedener Themenstränge, deren wichtigster das Motiv der Phantasieentwicklung ist, festgestellt wurde, stehen im Aufsatz zunächst nur die einzelnen Anekdoten exemplarisch zur Veranschaulichung bestimmter Erlebnissphären des Kindes nebeneinander, und erst relativ spät werden Anregungen zu eigenem Schaf301

fen und erste Versuche selbst erwähnt; von diesem Zeitpunkt an bleibt Marie Ebner bei diesem Thema und führt verschiedene Faktoren für ihre dichterische Entwicklung und ihr Selbstverständnis an. Aufsatz und Autobiographie unterscheiden sich also nicht allein in der teleologischen Struktur des später entstandenen Textes ganz allgemein, sondern vor allem in der in den Kinde^ahren von Beginn an durchgeführten Entwicklungslinie des Leitthemas "Phantasie". Am Ende des ersten Teiles, der dem Zeitraum der Autobiographie entspricht, zieht die Dichterin im Aufsatz eine Art von Resümee, das im folgenden mit wertenden Selbstbetrachtungen an anderer Stelle verglichen werden soll; zunächst aber sei ein Blick auf die Schilderung eines weiteren Lebensabschnittes getan, die Marie Ebner auf die erwähnte Aufforderung von Franzos hin verfaßt hat.

2. DIE GESCHICHTE DES ERSTLINGSWERKS (KL2)

In der zweiten Hälfte der Schrift Aus meinen Kinder- und Lehqahren skizziert Marie Ebner kurz die Jahre bis 1860; dabei kommen außer einigen Angaben zur Veränderung ihrer Lebensumstände (Hochzeit, Umzug nach Mähren) (276,36ff.) nur solche Begebenheiten zur Sprache, die auf ihr weiteres dichterisches Schaffen Einfluß genommen haben. Von zahlreichen Versuchen in den verschiedensten poetischen Genres ist die Rede, kaum etwas wird vollendet, und nur eine kleine Schrift - gemeint sind die sechs Episteln Aus Franzensbad12 - wird veröffentlicht; ironisch distanziert berichtet die Dichterin von deren Mißerfolg (276,38ff.). Die Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen ruft nun die Kritik der Angehörigen hervor und rechtfertigt sie zugleich. Marie Ebner spricht hier in einer Art und Weise von ihrer "unglücklichen Liebe zur Schriftstellerei", die der Schilderung des Schicksals der Mary Kittl in den Kinde^ahren sehr ähnlich ist. Unvermittelt setzt darauf die Geschichte ihres ersten veröffentlichten Dramas ein (277,llff.); die Zuspräche eines Vertrauten läßt sie auf einen Erfolg hoffen, und wieder einmal - wie so oft in der Autobiographie beschrieben - bewegt sie sich in der Erwartimg langersehnten Ruhmes in einer Phantasiewelt (277,33ff.). Ausführlich beschreibt Marie Ebner nun ihre Situation zu der Zeit, in der sie auf eine Reaktion auf ihr Stück wartet, in der sie zwischen Hoffnung und Selbstzweifel schwankt; nicht das Drama selbst, nicht ihre Beweggründe zur Wahl gerade dieses Stoffes und auch nicht die inhaltliche Ausgestaltung 12 Marie von Ebner-Eschenbach. Aus Franzensbad. Sechs Episteln von keinem Propheten. Leipzig 1858.

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werden geschildert, wichtig an der Geschichte des Erstlings ist für die Dichterin vor allem die Darstellung der Phase, in der sie auf Bestätigung wartet. Das Drama ist als Werk eines "Herrn von Eschenbach" verschickt worden; Marie Ebner kommentiert diese Maßnahme, die auf Vorurteile der Adressaten gegenüber schriftstellernden Frauen schließen läßt, im Aufsatz nicht, andernorts jedoch hat sie sich explizit über diese Problematik geäußert; so kann man folgern, daß bei der Beurteilung des eigenen Werdegangs im Laufe der Zeit ein Wandel vonstatten gegangen ist.13 Nach der einzigen Inszenierung des Dramas in Karlsruhe fällt auch dieses der Vergessenheit anheim. Im Aufsatz berichtet Marie Ebner von einer weiteren Zeit, die durch Enttäuschungen geprägt ist; ihr Entschluß, sich nunmehr auf Erzählungen zu beschränken, wird als Selbstbescheidung und Einsicht in die Begrenztheit der eigenen Fähigkeiten dargestellt (279,27ff.). Diese abschätzige Bewertung ist durchaus - noch - zeittypisch; immer noch gilt das Drama als höchste Kunstform, und das vor allem in Österreich, wo auch noch nach der Jahrhundertwende Grillparzer Maßstäbe setzte. So ist der Schaffensweg Marie Ebners kein Einzelfall, auch viele andere haben erst über den Weg vom dramatischen Schaffen, das ihnen keinen Erfolg beschert hat, zur Erzählung gefunden, man denke etwa an Ferdinand von Saar. Mit der Erzählung Der Spätgeborene - bezeichnenderweise die Geschichte einer tragischen Künstlerexistenz - kann die Dichterin dann ihren ersten "kleinen" Erfolg verbuchen (279,30ff.). Auf den Ton demütiger Selbstbescheidung gestimmt ist das Schlußwort des Aufsatzes in beiden Fassungen (279,33ff.). Die rückschauende Bewertung aus der Perspektive des Erinnernden Ich ist also in der Zeit zwischen 1886 (KL1) und 1893 (KL2) unverändert geblieben.

3.WEITERE SELBSTZEUGNISSE

Ein Vergleich mit weiteren Selbstzeugnissen soll abschließend vollzogen werden. Der früheste Beleg autobiographischer Zeugnisse Marie Ebners, der im Zuge der Nachforschungen ausfindig gemacht werden konnte, ist ein handgeschriebener Entwurf eines Lebenslaufes:

13 Siehe dazu S.304.

303

28. Mai 1878 Biographische Daten (an die Herren Hohenhausen) Ich bin im Jahre 1830 auf dem väterlichen Gute in Mähren geboren und habe meine Mutter wenige Tage nach meiner Geburt verloren. Meine Erziehung und die meiner älteren Schwester wurde von unserer guten Großmutter und von unserer Tante, der Unterricht von einer französischen Gouvernante geleitet, und ich erinnere mich, als ganz kleines Mädchen in der Muttersprache dieser Dame gedichtet zu haben, setzte diese Versuche auch fort, nachdem sie unser Haus längst verlassen hatte. Erst später und nachdem ich mit den Werken einiger unserer großen Dichter bekannt geworden, verlor ich den Geschmack an französischen Versen und begann meine Gedanken in deutscher Sprache auszudrücken. In meinem achtzehnten Jahre verheiratete ich mich m. V. d. ... dann: Graf etc und nun erst konnte ich mich etwas ernstlicher mit der Förderimg meiner poetischen Bestrebungen beschäftigen. Meine Neigung wandte sich dem Drama zu. Das erste meiner Stücke, eine Tragödie: M. St. in S. fand in Eduard Devrient einen warmen Beschützer, und wurde an der Hofbühne zu Carlsruhe mit gutem Erfolg zur Darstellung gebracht. Es folgte eine Reihe v. anderen theils auf dem Hof - theils auf dem Stadttheater in Wien aufgeführten Stücken. Ich erlaube mir Ihnen zur fr. B. einige zuzusenden. Die vielfachen Schwierigkeiten und Hindernisse, die einer Frau auf diesem Gebiet des poetischen Schaffens entgegengesetzt wurden, brachten mich endlich dahin das Drama aufzugeben und nur noch Erzählungen zu schreiben; die kleinen Erfolge, die ich mir mit denselben errang, sind Früchte der Resignation.14 Die Resignation, die nun ihr Schaffen bestimmt, führt Marie Ebner bei diesem frühesten autobiographischen Zeugnis nicht auf die eigene Unzulänglichkeit, sondern auf Außenfaktoren zurück, auf die unberechtigte Ablehnimg seitens derer, die das Geschehen in der literarischen Szene bestimmen und Vorbehalte gegenüber schriftstellernden Frauen haben. Nur wenige Jahre später verfaßt die Dichterin einen weiteren Lebenslauf, und hier ist die Bewertung des eigenen Schaffens auf einen anderen Ton gestimmt; in ihrem Beitrag für die Besucher-Hefte des Schiller-Theaters aus dem Jahre 1884 schreibt sie: Zu Zdislavic in Mähren bin ich im Jahre 1830 zur Welt gekommen. Meine Mutter, die wenige Tage nach meiner Geburt starb, war die einzige Tochter des Freiherrn von Vockel, eines nach Österreich eingewanderten Sachsen, und von je her habe ich mir etwas darauf zu Gute gethan, daß auch deutsches Blut in meinen Adern fließt. Mein Vater, ein rascher, lebhafter Mann, der in seiner Jugend Soldat gewesen und infolge 14

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Notizbuch, S.2,1.N. 54.488 der Wiener Stadtbibliothek.

einer im letzten Feldzuge gegen Napoleon erlittenen Verwundung den Dienst hatte quittieren müssen, vermählte sich wieder, und zu der Schwester, die ich schon hatte, bekam ich noch zwei Schwestern und drei Brüder. Wir bildeten ein Fähnlein von sieben Aufrechten, die fest zusammenhielten und unter denen es drei Ehrgeizige gab - zwei meiner Brüder und mich. Sie gedachten die Welt, ich gedachte das deutsche Theater zu reformieren. Der Weihestunde, in welcher dieser Entschluß mir ganz klar wurde, weiß ich mich heute noch zu erinnern. Der Schauplatz derselben war der Fichtenhain, der in "Lotti die Uhrmacherin" geschildert ist, mein Alter dreizehn Jahre. Durch dreißig habe ich der Erfüllung meines Jugendtraumes mit zureichender Ausdauer und mit unzureichendem Talent nachgestrebt. Die wenigst mißlungenen unter meinen dramatischen Versuchen mögen sein: "Maria Stuart in Schottland", Trauerspiel in 5 Aufzügen (1860); "Marie Roland", Trauerspiel in 5 Aufzügen (1870); "Dr. Ritter", dramatisches Gedicht in 1 Aufzug (1872). Das Mißfallen, welches das Lustspiel "Das Waldfräulein" nach dessen Aufführung bei der Kritik erregte, heilte mich für immer von der Lust, für das Theater zu arbeiten. Ein Teil von dem, was ich damals erlitt, sprach ich in der Erzählung "Ein Spätgeborener" aus...15 Der Tenor dieser Selbstdarstellung stimmt mit den Ausführungen der Dichterin in den für Franzos verfaßten Aufsätzen überein; in dieser Zeit ist Marie Ebners Ruf als Erzählerin noch nicht so gefestigt wie einige Jahre später, als sie die Kinderfahre schreibt. Man kann hier eine Erklärung für die gewandelte Bewertung ihres Werdeganges sehen: Zu einem Zeitpunkt, da sich die großen Erfolge ihrer Erzählungen noch nicht eingestellt haben, macht ihr ihr Scheitern als Dramatikerin noch stark zu schaffen. Dabei schreibt sie zunächst die Schuld an dieser Situation denen zu, deren Vorurteil gegenüber schriftstellernden Frauen eine angemessene Behandlung immöglich mache. Einige Jahre später sieht sie den Grund für ihre Mißerfolge in ihrem "unzureichenden Talent" und wirft sich übersteigerte Selbsteinschätzung vor, die jahrzehntelang eine falsche Hoffnung genährt habe; in demütiger Selbstbescheidung habe sie schließlich ihren Fehler eingesehen. In den Kinderjahren ist wohl auch die Rede von hochfliegenden Plänen und späteren Fehlschlägen, das Schwergewicht liegt hier jedoch immer wieder in der Betonung der Schwierigkeiten, mit denen das zweifelsohne talentierte Kind in seiner unmittelbaren Umgebung zu kämpfen hat. Am Ende der Autobiographie ist eine wichtige Phase der inneren Entwicklung abgeschlossen; Marie Ebner spricht davon, daß nun an der Stelle dämmernder Träume sich ihre Sehnsüchte und Vorstellungen zu erfüllen beginnen (121,4ff.).

15 Schiller-Theater. Zwanglose Hefte für die Besucher des Schiller-Theaters. Heft 28. 1884. S.13.

305

Anders als in den früher geschriebenen autobiographischen Kurztexten kommt es am Schluß der Kindeqahre zu einem Ruhepunkt; erst im hohen Alter von 75 Jahren scheint die Dichterin damit imstande zu sein, sich selbstbewußt und versöhnlich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, zu einem Zeitpunkt, da sie allgemein als große Schriftstellerin angesehen wird. Jetzt erst ist Marie Ebner überhaupt in der Lage, eine Autobiographie zu verfassen. Die ΚϊηάβήαΗκ präsentieren sich also als Zeugnis einer Frau, die nach langem Kampf und spätem Erfolg im Rückblick die Grundlagen ihres dichterischen Werdeganges als richtunggebend erkennen und das Festhalten an ihren kindlichen Phantasien und Zukunftswünschen endlich bejahen kann und darf.

306

BIBLIOGRAPHIE

1. QUELLEN a. Textzeugen von Meine Kinderjahre Diese Textzeugen werden in der Text- und Wirkungsgeschichte näher charakterisiert. o H

Skizzenbuch mit handschriftlichen Textentwürfen zu Meine Kinderfahre, 43 Blätter mit 75 beschriebenen Seiten, paginiert, 8°, Inventar-Nummer (I.N.) der Wiener Stadtbibliothek (WrStB) 54.477

J

Meine Kinderfahre. Abdruck in vier Teilen in: Deutsche Rundschau. Hg. Julius Rodenberg, April bis Juli 1905

E 1K1 " 2 Korrekturbogen zu Ε 1 (I.N. 60.650 = Jb 81.437, I.N. 57.973 = Ja 80.191) E1

dass. 1. Auflage Berlin (Paetel) 1906 2



Teilhandschrift (3 Seiten) zu Ε 2 (I.N. 57.980 = Ja 80.199)

e2K1-2

Korrekturbogen zu Ε 2 (I.N. 57.972 = Ja 80.190, I.N. 57.971 = Ja 80.189)

E2

dass. 2. Auflage Berlin (Paetel) 1907

Weitere Ausgaben von Meine Kinderfahre werden in der Wirkungsgeschichte des Textes beschrieben. Die Wiener Stadtbibliothek verzeichnet außerdem unter I.N. 54.523 = Ja 79.213 "eigenhändige Studien zu 'Meine Kindeijahre', Briefkonzepte u.a., 4°, 48 Bl.". Diese Aufzeichnungen beziehen sich nicht auf die Autobiographie. b. Textzeugen vonyliw meinen Kinder- und Lehrfahren Diese Textzeugen werden in der Text- und Wirkungsgeschichte näher charakterisiert. H1^

Notizheft mit 28 Seiten, 8°, vollständiges Manuskript zu KL1 (I.N. 38.308)

KL 1

Aus meinen Kinderfahren, erschienen in: Deutsche Dichtung. Hg. Karl Emil Franzos. Heft 3/4. Stuttgart 1887.

KL 2K

Handschriftliche Korrekturen auf KL1 für KL2 (I.N. 38.308)

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Λ

KL

Aus meinen Kinder- und Lehrjahren. In: Die Geschichte des Erstlingswerks. Hg. Karl Emil Franzos. Berlin 1894. c. Sonstige Werke Marie von Ebner-Eschenbachs

Marie von Ebner-Eschenbach: Kritische Texte und Deutungen. Hrsg. v. Karl Konrad Polheim. Bonn: Bouvier. Bd 1: Unsühnbar. Kritisch hrsg. und gedeutet von Burkhard Bittrich. Bonn 1978. Zitiert als: Bittrich Bd 2: Bofena: Kritisch hrsg. und gedeutet von Kurt Binneberg. Bonn 1981. Binneberg Bd3: Das Gemeindekind. Kritisch hrsg. und gedeutet von Rainer Baasner. Bonn 1983. Baasner Alle anderen Werke Marie von Ebner-Eschenbachs werden zitiert nach SW 1-6: Sämtliche Werke in 6 Bänden, Berlin oJ. (1920). In dieser Ausgabe nicht enthalten sind: -

Aus Rom. An meine Freunde. In: Die Gartenlaube. Jg. 48. Leipzig 1900.

-

Aus Franzensbad. Sechs Episteln von keinem Propheten. Leipzig 1858.

-

Notizbuch mit handschriftlichem Lebenslauf Marie Ebners vom 28. Mai 1878, S.2 (I.N. 54.488).

-

Selbstverfaßter Lebenslauf der Marie Ebner. In: Schiller-Theater. Zwanglose Hefte für die Besucher des Schiller-Theaters. Heft 28.1884.

d. Briefe von und an Marie von Ebner-Eschenbach Von verschiedenen Briefwechseln Marie Ebners liegen gedruckte Ausgaben vor. Wo diese die zitierten Briefe nicht enthalten, wurden die Originale herangezogen. Sie wurden mit Siglen gekennzeichnet, die zugleich auf die Bibliothek verweisen, in deren Besitz sich der entsprechende Brief befindet. Gedruckte Briefausgaben: Alkemade, Mechthild: Briefwechsel Heyse-Ebner-Eschenbach. In: dies.: Die Lebens- und Weltanschauung der Freifrau Marie von EbnerEschenbach. Graz und Würzburg 1935. 310

Bettelheim, Anton: Marie von Ebner-Eschenbach und Julius Rodenberg. In: Deutsche Rundschau. Bd 184 (1920), S.6ff. Biilow, Marie von: Aus den Briefen einer Weimarerin. In: Die Frau. Jg. 17 (1909), S.662ff. Kann, Robert: Marie von Ebner-Eschenbach - Dr. Josef Breuer. Ein Briefwechsel 1889 -1916. Wien 1969. Kindermann, Heinz: Briefwechsel zwischen Ferdinand von Saar und Marie von Ebner-Eschenbach. Wien 1957.

Zitierte Orignalbriefe: Briefe aus dem Handschriftenarchiv der Wiener Stadtbibliothek (I.N. WrStb) an Marie von Ebner-Eschenbach: BrW 1 Moritz Necker am 18.8.1898 = I.N. 137.895 BrW 2 Justina Rodenberg am 2.4.1905 = I.N. 61.215 BrW 3 Marie Hirsch am 4.5.1905 = I.N. 60.821 BrW 4 Marie Gräfin Giech am 4.4.1905 = I.N. 154.686 BrW 5 Emilie Exner am 9.4.1905 = I.N. 60.700 BrW 6 Norbert Davidsohn am 14.5.1905 = I.N. 56.388 BrW 7 Julius Rodenberg am 12.9.1905 = I.N. 61.000 BrW 8 Marie Ebner an dens. am 14.9.1905 = I.N. 38.307 BrW 9 W. Jerusalem am 9.6.1905 = I.N. 56.500 BrW 10 August Sauer am 5.7.1905 = I.N. 60.819 BrW 11 Ferdinand Krähmer am 8.7.1905 = I.N. 61.979/1 Schreiben des Verlages Paetel an die Dichterin (WrStB I.N. Jb 138.012): BrW BrW BrW BrW BrW BrW BrW BrW BrW BrW BrW BrW BrW

12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

vom 26.7.1906 (Blatt 143) vom 8.8.1906 (Blatt 145) vom 14.8.1906 (Blatt 147) vom 24.8.1906 (Blatt 149) vom 24.10.1906 (Blatt 150) vom 10.11.1906 (Blatt 142) vom 28.12.1906 (Blatt 152) vom 29.1.1907 (Blatt 159) vom 20.7.1907 (Blatt 172) vom 16.8.1907 (Blatt 175) vom 22.8.1907 (Blatt 176) vom 28.8.1907 (Blatt 177) vom 28.10.1907 (Blatt 179) 311

BrW BrW BrW BrW BrW BrW

25 26 27 28 29 30

vom 18.1.1908 (Blatt 186) vom 3.5.1909 (Blatt 200) vom 2.9.1909 (Blatt 212) vom 18.1.1911 (Blatt 260) vom 20.2.1911 (Blatt 264) vom 2.6.1911 (Blatt 273)

Briefe von und an Karl Emil Franzos: BrW BrW BrW BrW BrW BrW

31 32 33 34 35 36

von Franzos am 27.7.1894 = I.N. 49.872 an Franzos vom 31.7.1894 = I.N. 38.278 an Franzos vom 31.8.1894 = I.N. 38.265 an Franzos vom 3.10.1894 = I.N. 38.270 an Franzos vom 24.11.1894 = I.N. 38.268 an Franzos vom 27.9.1895 = I.N. 38.285

Briefe aus dem Goethe- und Schiller-Archiv der Nationalen Forschungsund Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar: Schreiben Marie Ebners an Julius Rodenberg: BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei BrWei 312

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

vom 8.8.1903 vom 9.9.1903 vom 24.10.1903 vom 16.12.1903 vom 4.3.1904 vom 26.4.1904 vom 30.6.1904 vom 6.7.1904 vom 21.7.1904 vom 1.8.1904 vom 8.8.1904 vom 17.8.1904 vom 22.9.1904 vom 29.9.1904 vom 6.10.1904 vom 24.11.1904 vom 15.12.1904 vom 27.12.1904 vom 13.1.1905 vom 20.1.1905 vom 27.1.1905 vom 2.2.1905

-BrWei 23 BrWei 24 BrWei 25 BrWei 26 BrWei 27 BrWei 28 BrWei 29

vom 8.2.1905 vom 12.2.1905 vom 13.2.1905 vom 14.2.1905 vom 19.2.1905 vom 12.3.1905 vom 24.4.1905

Briefe an Marie von Ebner-Eschenbach von Nathalie von Milde (BrWei 3050) von Anfang 1903 bis Ende 1905; nicht einzeln zitiert. Weitere Briefe entstammen der Biographie Anton Bettelheims: Marie von Ebner-Eschenbachs Wirken und Vermächtnis. Berlin 1920. Der Autor hat nach eigenen Angaben diese Quellentexte aus den Unterlagen, die die Dichterin ihm überließ, abgeschrieben.

e. Tagebücher Erschienen ist im Rahmen der Edition Kritische Texte und Deutungen Band I: Tagebücher 1862-1869, krit. hrsg. u. kommentiert v. Karl Konrad Polheim unter Mitwirkung von Rainer Baasner, Tübingen 1989. Für die späteren Jahrgänge sind hier Mikrofilmkopien der Originalmanuskripte, die das Státní Archiv Brünn dem Herausgeber in Bonn überlassen hat, Grundlage. Es handelt sich bei den Tagebüchern um in Leder gebundene Notizkalender mit eingedrucktem Kalendarium und der Bezeichnung: "Merkbuch und Geschäftskalender". Vorhanden sind die Jahrgänge ab Ende 1862 bis 1909, davon fehlen die Jahrgänge 1868,1870,1879,1888,1892,1894f., 1900f., 1904, 1906f. Im Text sind die jeweiligen Jahrgänge mit der Signatur Tb und der betreffenden Jahreszahl in Klammern kenntlich gemacht. Weitere Tagebuchaufzeichnungen sind mitgeteilt in: Vesely, Jiri: Tagebücher legen Zeugnis ab. Unbekannte Tagebücher der Marie von Ebner-Eschenbach. In: Österreich in Geschichte und Literatur (ÖGL) Jg. 15 (1971), S.211ff.

f. Autobiographische Schriften anderer Autoren Fontane, Theodor von: Meine Kindeijahre. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. W. Keitel. Bd 4. Darmstadt 1973. Ders.: Von Zwanzig bis Dreißig. In: ebd. 313

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd 9. Hamburg 61967. Hebbel, Friedrich: Aufzeichnungen aus meinem Leben (1846-1854). Sämtliche Werke. Bes. v. R.M. Werner. I. Abt. Bd 8. Berlin o.J. Kügelgen, Wilhelm von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Berlin 1870. Lewald, Fanny: Gefühltes und Gedachtes. Das Tagebuch der Fanny Lewald (1838-1888). Hg. L. Geiger. Dresden/Leipzig 1900. Dies.: Meine Lebensgeschichte. Hg. Gisela Brinker-Gabler. Frankfurt/M. 1980 (Berlin 1861/62). Meysenbug, Malwida von: Memoiren einer Idealistin. Berlin/Leipzig 1904. Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Berlin 1785-90. Rousseau, Jean-Jacques: Les Confessions. Genf 1782/1789. Sand, George: Histoire de ma vie. Hg. G. Lubin. Paris 1970.

2. AUSGEWÄHLTE LITERATUR Aufgenommen sind nur Titel, die sich auf Marie von Ebner-Eschenbach und die autobiographischen Schriften beziehen. Sie werden in den Fußnoten in abgekürzter Form zitiert; die Abkürzungen sind in der Bibliographie verzeichnet. Aufgenommen in die Bibliographie ist auch die Forschungsliteratur zur Autobiographik. Alle weitere Literatur ist in den Fußnoten nachgewiesen. Aichinger, Ingrid: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk. In: Österreich in Geschichte und Literatur (ÖGL). Jg. 14 (1970), S.418ff. Aichinger Alkemade, Mechthild: Die Lebens- und Weltanschauung der Freifrau Marie von Ebner-Eschenbach. Mit 6 Tafelbeilagen und dem Briefwechsel Heyse und Ebner-Eschenbach. ( = Deutsche Quellen und Studien. Hg. W. Kosch. Bd 15). Graz und Würzburg 1935. Alkemade Anonymus: Rezension zu Meine Kindeqahre. Sonderabdruck aus: Deutsche Arbeit. Hrsg. i. A. d. Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen. Jg. V. 1905. Benesch, Kurt: Die Frau mit den hundert Schicksalen. Das Leben der Marie von Ebner-Eschenbach. Wien und München 1966. Benesch 314

Bettelheim, Anton: Marie von Ebner-Eschenbach. Biographische Blätter. Berlin 1900. Bettelheim: Biographische Blätter Ders.: Marie von Ebner-Eschenbachs Wirken und Vermächtnis. Berlin 1920. Bettelheim: Vermächtnis Beyer-Fröhlich, Marianne: Die besten deutschen Selbstbiographien. Leipzig 1923. Beyer-Fröhlich Fink, Heidelinde: Studien zur Ethik Marie von Ebner-Eschenbachs. Entsagung, Resignation und Opfer in den Erzählungen der Dichterin. Diss. (Masch.) Graz 1964. Fink Fussenegger, Gertrud: Marie von Ebner-Eschenbach oder der gute Mensch von Zdisslawitz. Ein Vortrag. München 1967 (= Schriftenreihe der Künstlergilde. Bd 9). Fussenegger Gerber, Gertrud: Wesen und Wandlung der Frau in den Erzählungen Marie von Ebner-Eschenbachs. Diss. (Masch.) Göttingen 1945. Gerber Geserick, Ingeborg: Gesellschaftskritik und -erziehung im Werk der Marie von Ebner-Eschenbach. Diss. (Masch.) Potsdam 1955. Geserick Glagau, Hans: Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle. Marburg 1903. Glagau Goodman, Kay: German Women and Autobiography in the 19th Century: Louise Aston, Fanny Lewald, Malwida von Meysenbug, and Marie von Ebner-Eschenbach. Diss. Wisconsin 1977. Goodman: Women Dies.: Die große Kunst, nach innen zu weinen. Autobiographien deutscher Frauen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Die Frau als Heldin und Autorin. Hg. W. Paulsen. München 1979. S.125ff. Goodman: Kunst Grenzmann, W.: Das Tagebuch als literarische Form. In: Wirkendes Wort (9) 1959. S.84ff. Grenzmann Grundner, Maria: Marie von Ebner-Eschenbach. Wechselbeziehungen zwischen Leben, Werk und Umwelt der Dichterin. Diss. (Masch.) Graz 1971. Grundner Gusdorf, Georges: Conditions et limites de l'autobiographie. In: Festgabe für F. Neubert. Formen der Selbstdarstellung. Berlin 1956. S.105ff. Gusdorf Handel-Mazzetti, Enrika von: Marie von Ebner-Eschenbach: Meine Kindeijahre. In: Augsburger Nachrichten. Nr.206. 6.9.1910.

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Kindheiten, Deutsche. Autobiographische Zeugnisse 1700-1900. Hg. Irene Hardach-Pinke/Gerd Hardach. Kronberg 1978. Klaiber, Theodor: Die deutsche Selbstbiographie. Stuttgart 1921.

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Mahrholz, Werner: Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus. Berlin 1919. Mahrholz May, Georges: L'autobiographie. Paris 1979.

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Misch, Georg: Geschichte der Autobiographie. Bd I. Bern 1949f. Bd II-IV. Frankfurt am Main 1955-1969. Misch Müller, Klaus-Detlef: Autobiographie und Roman. Studie zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. ( = Studien zur deutschen Literatur. Bd 46) Tübingen 1976. Müller Necker, Moritz: Marie von Ebner-Eschenbach. Nach ihren Werken geschildert. Leipzig und Berlin 1900. Necker Ders.: Rezension zu Meine Κίηάβήαίικ. In: Die Zeit. Nr. 1510. 6.12.1906. Neumann, Bernd: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt am Main 1970. Neumann Niggl, Günter: Fontanes 'Meine Kindeijahre' und die Gattungstradition. In: Sprache und Bekenntnis. 1971. S.257-279. (= Sonderband des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs. H. Kunisch zum 70. Geburtstag). Niggl: Fontane Ders.: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977. Niggl: Geschichte Offergeid, Käthe: Marie von Ebner-Eschenbach. Untersuchungen über ihre Erzählungstechnik. Diss. Münster 1917. Offergeid Pascal, Roy: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1965. Pascal Reuter, Gabriele: Marie von Ebner-Eschenbach. Berlin und Leipzig 1905 (=Die Dichtung Bd. 19). Dies.: Rezension zu Meine Kindeijahre. In: Der Tag. Berlin 1907. Nr. 179. 10.4.1907. 316

Segebrecht, W.: Autobiographie und Dichtung. Eine Studie zum Werk E.T.A. Hoffmanns. Berlin 1967 (= Germanistische Abhandlungen 19). Segebrecht Shumaker, Wayne: English Autobiography. Berkeley 1954.

Shumaker

Unterholzner, Alexandra: Marie von Ebner-Eschenbach. Eine Analyse der Form und Rezeption ihres Werkes. Diss. (Masch.) Innsbruck 1979. Unterholzner Vogt, Marianne: Autobiographik bürgerlicher Frauen. Zur Geschichte weiblicher Selbstbewußtwerdung. Würzburg 1981. Vogt Wallach, Heinz: Studien zur Persönlichkeit Marie von Ebner Eschenbachs. Diss. (Masch.) Wien 1950. Wallach Wuthenow, Ralph-Rainer: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert. München 1974. Wuthenow

317